Historiker und Archivar im Dienste Preußens: Festschrift für Jürgen Kloosterhuis [1 ed.] 9783428547166, 9783428147168

Dass ausgewiesene Archivare neben ihrer beruflichen Haupttätigkeit – dem Betreuen, Erschließen, Verwalten und Zugänglich

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Historiker und Archivar im Dienste Preußens: Festschrift für Jürgen Kloosterhuis [1 ed.]
 9783428547166, 9783428147168

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Historiker und Archivar im Dienste Preußens Festschrift für Jürgen Kloosterhuis

Herausgegeben von Hans-Christof Kraus und Frank-Lothar Kroll

Duncker & Humblot . Berlin

Historiker und Archivar im Dienste Preußens Festschrift für Jürgen Kloosterhuis

Dr.s Elisabeth und Jürgen Kloosterhuis

Historiker und Archivar im Dienste Preußens Festschrift für Jürgen Kloosterhuis

Herausgegeben von Hans-Christof Kraus und Frank-Lothar Kroll

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: BGZ Druckzentrum GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-14716-8 (Print) ISBN 978-3-428-54716-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84716-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Hermann Parzinger Zum Geleit – Grußwort zum 65. Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Frank-Lothar Kroll Archivar und Historiker. Jürgen Kloosterhuis als Geschichtsschreiber des Hohenzollernstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Brandenburg, Preußen und Deutschland Wolfgang Neugebauer Historische Anmerkungen über das Fußnotenmachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Peter Baumgart Die Oranische Erbschaft in der Politik Friedrichs III./I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Frank Göse Die Städtepolitik König Friedrich Wilhelms I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Helmut Börsch-Supan Nichtdeutsche Maler in Berliner Ausstellungen und Privatsammlungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Bärbel Holtz Gustav Adolph von Tzschoppe – ein Lebensbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Samuel Wittwer Ein Ehebruch, ein Kamelritt und ein Kronleuchter, oder: Das diplomatische Nachspiel der orientalischen Reise des Prinzen Albrecht von Preußen 1843 . . . 141 Paul Widmer Bismarck und die Neuenburger Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Winfried Baumgart Heinrich VII. Prinz Reuß. Ein Elitediplomat unter Bismarck und Caprivi im Briefwechsel 1871 – 1894 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Hans-Christof Kraus Ein Königsberger Historiker: Otto Krauske (1859 – 1930) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

VI

Inhaltsverzeichnis

Werner Vogel Die Stiftung Brandenburg. Geschichte, Aufgaben, Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . 245

II. Westfalen und die preußischen Westprovinzen Hans-Joachim Behr Kleinstaatliches Militärwesen in Westfalen. Reichskontingent und Garnison der Grafschaft Rietberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Leopold Schütte 1761 in der Grafschaft Mark. Aus den Papieren des Emmanuel de Croy¨ . . . . . . 285 Wilfried Reininghaus Ein „Historisches Taschenbuch“ für Minden-Ravensberg 1767/68. Die Entwicklung der amtlichen preußischen Statistik im 18. Jahrhundert aus regionaler Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

III. Militär und Politik Hendrik Thoß Militär und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Bernhard R. Kroener Wissenstransfer als Waffe. Französische militärische Aufklärung in Preußen 1763 – 1792. Annäherung an einen schwierigen Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Manfred und Ursula Wolf Villeneuve an Napoleon. Ein fiktiver Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Kurt Düwell Edgar Stern-Rubarths Kritik an der deutschen Propaganda im Ersten Weltkrieg 393

IV. Studentengeschichte Matthias Stickler Studentisches Verbindungswesen an der Universität Königsberg im 19. und frühen 20. Jahrhundert – Anmerkungen zu einem wenig beachteten Thema . . . 409 Harald Lönnecker „Dem deutschen Vaterland und der Deutschen Burschenschaft zu dienen sind Selbstverständlichkeiten, die keiner besonderen Erwähnung bedürfen!“. Archivare, Bibliothekare und eine Standesorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427

Inhaltsverzeichnis

VII

V. Archivwesen und Archivwissenschaft Ludwig Biewer Ein Fürst als Heraldiker – Herzog Ernst Bogislaw von Croy (1620 – 1684) . . . . 461 Michael Hochedlinger Fridericus Rex in Wien. Die „Aktenbeuten“ von Landeshut und Glatz (1760) im Österreichischen Staatsarchiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Klaus Neitmann Geschichtsverein und Historische Kommission, Archivinventarisation und Landesgeschichtsforschung: die Metamorphose des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg um 1900. Eine kommentierte Quellenedition . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Martin Munke Vom Kriegseinsatz zur Friedensforschung? Johannes Papritz und die Restaurationsbemühungen um die Publikationsstelle Berlin-Dahlem in Coburg (1945 bis 1947) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Eckart Henning Von der Fahne gegangen! Rückblick auf meine Dienstzeit im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 1970 – 1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Ulrike Höroldt Die Gründung der Archivberatungsstelle der preußischen Provinz Sachsen im Spannungsfeld staatlicher und kommunalpolitischer Interessen . . . . . . . . . . . . . 593 Angelika Menne-Haritz Provenienz und Emergenz. Moderne Konzepte in der Archivwissenschaft Adolf Brennekes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 Mario H. Müller Schriftenverzeichnis Jürgen Kloosterhuis 1972 – 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Die Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657

Zum Geleit – Grußwort zum 65. Geburtstag Von Hermann Parzinger, Berlin Friedrich Wilhelm I., dem seine Leidenschaft für das Militär den Beinamen „der Soldatenkönig“ eintrug, war ein ausgesprochen sparsamer König. Gleich nach seiner Regierungsübernahme 1713 schlug er einen drastischen Sparkurs ein. Er strich Etats und begrenzte Ausgaben auf die Einnahmen. Wenn es allerdings um sein Leibgarderegiment ging, landläufig bezeichnet als „Potsdamer Riesengarde“ oder einfach die „Langen Kerls“, war der König weder knauserig noch zimperlich. Mindestens 6 Fuß, also knapp 1,90 m, mussten sie groß sein – angesichts der damals üblichen Körpergrößen ein nicht zu unterschätzendes Maß. Friedrich Wilhelm I. „beschaffte“ sie sich aus allen Teilen der Welt, entweder gegen Geld und Land – so trat er 1720 an Holland Kolonien und Stützpunkte ab und legte noch einmal 7650 Taler darauf, um 12 außerordentlich große Afrikaner für seine Garde zu erhalten – oder gegebenenfalls auch mit Gewalt: Festgehalten sind einige Fälle von Menschenraub, bei denen Friedrich Wilhelms Anwerber geeignete Kandidaten mit Hilfe organisierter Banden auf preußisches Gebiet lockten oder sogar verschleppten. Viele preußische junge Männer flohen wegen ihrer Körpergröße aus dem Land, um dem Dienst in Potsdam zu entkommen. Wer sich aber freiwillig rekrutieren ließ, oder zumindest im Nachhinein mit seinem Schicksal abfand, der führte kein schlechtes Leben als „Paradesoldat“. Sold und Handgeld lagen deutlich über dem Lohn der gewöhnlichen Soldaten, und der König sorgte für das Wohlergehen seiner „Langen Kerls“. Auch auf Jürgen Kloosterhuis hätten Friedrich Wilhelms Anwerber sicherlich ein Auge geworfen, denn Gardemaß hat der passionierte Militärhistoriker ohne Zweifel. Allerdings hat er seinen Dienst bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz freiwillig angetreten, als er zum Direktor des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz berufen wurde: vormals am Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv Münster tätig, ist der gebürtige Coburger dem Ruf der Anwerber der Stiftung Preußischer Kulturbesitz 1996 gefolgt und nicht etwa außer Landes geflohen. Ein Glücksfall für das Archiv, das mit dem Historiker und Germanisten Kloosterhuis seinem Ruf als das „Gedächtnis Preußens“ mehr als gerecht werden konnte. Die Ursprünge des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz reichen zurück bis weit in die Zeit vor Friedrich Wilhelm I., nämlich ins 13. Jahrhundert. Es ist damit unbestritten die älteste, vielleicht auch die ehrwürdigste Einrichtung der Stiftung. Unter den deutschen Staatsarchiven hat es eine besondere Stellung, denn es ist ein „Staatsarchiv ohne Staat“, das die Überlieferung Preußens verwahrt und er-

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Hermann Parzinger

schließt, so wie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz als Ganzes die ehemaligen Sammlungen des Preußischen Staates bewahrt und erforscht. Jürgen Kloosterhuis ist dort Herr über rund 38.000 laufende Meter Archivalien, über Urkunden, Akten, Amtsbücher, Karten und andere Aufzeichnungsmedien – diese Bestände beinhalten etwa 800 Jahre (brandenburg-)preußischer Geschichte. Die Erschließung dieser umfangreichen Bestände, Nachlässe und Sammlungen ist neben dem Bestandserhalt nicht nur ein wesentliches Anliegen, sondern auch ein großes Verdienst von Jürgen Kloosterhuis. Das Archivmaterial für Wissenschaftler, aber auch für interessierte Laien zugänglich zu machen, ist dem gelernten Archivar seit dem Beginn seiner Amtszeit wichtig gewesen. „Geheim“ sind die Akten nämlich nicht, wie die Inschrift „Preußisches Geheimes Staatsarchiv“ über dem 1924 eröffneten Archivgebäude in Berlin-Dahlem vermuten lassen könnte – im Gegenteil: Nutzerinnen und Nutzer können in großen Leseräumen uneingeschränkt die Akten des preußischen Staates auswerten. Bereits jetzt ist etwa ein Viertel des im Archiv verwahrten Materials bequem online zu recherchieren, und kontinuierlich sollen weitere Findmittel im Internet zur Verfügung gestellt werden. Nicht nur die Zufriedenheit der Recherchierenden treibt Jürgen Kloosterhuis an, die Digitalisierung von Akten weiter voranzubringen, sondern auch das Wohl der Akten. Seit seinem Amtsantritt bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist er nie müde geworden zu betonen, dass jeder Transport der Akten in Aluminiumkisten zwischen dem Außenlager im Westhafen in Berlin und Dahlem an der Substanz des Materials zehrt – aber auch jedes Umblättern oder Kopieren. Schonender für das brüchige Papier ist da ohne Zweifel die Arbeit am digitalisierten Material am Bildschirm. Auch die Verfilmung der wichtigsten Stücke hat er vorangetrieben, denn den Filmstreifen wird eine Haltbarkeit von etwa 150 Jahren zugeschrieben. Der Archivar denkt an dieser Stelle direkt in die Zukunft – denn wer weiß heute schon, ob angesichts der rasanten technischen Entwicklung eine nur digital aufgenommene Kopie von den kommenden Generationen überhaupt noch gelesen werden kann. Jürgen Kloosterhuis hat sich seit seinem Amtsantritt beim Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz also nie nur als Wissensbewahrer, sondern immer auch als Wissensvermittler verstanden. Nicht nur die zahlreichen Forschungsdienstleistungen, die das Archiv für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anbietet, gehören zu seiner Idee der Vermittlung von Wissen, sondern auch seine zahlreichen Publikationen. Sie richten sich aber nicht nur an die Fachwelt, sondern immer auch an ein breites Publikum. In ihnen hat er seine verschiedenen Disziplinen verbunden. Als herausragendes Beispiel muss an dieser Stelle auf seine Zusammenschau von Militär- und Kunstgeschichte in der Monographie „Menzel militaris. Sein ,Armeewerk‘ und das ,Leuthen‘-Bild im militärhistorischen Kontext“ verwiesen werden, das in diesem Jahr erschienen ist und nicht nur vom Fachpublikum, sondern auch von begeisterten Feuilletonisten glänzend besprochen wurde. In seiner Arbeit zeigt er sich dementsprechend als überzeugter „Historiker-Archivar“, der die Erschließung und die Erforschung der Quellen immer in untrennbarem Zusammenhang sieht.

Zum Geleit

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Ein wichtiges Anliegen in diesem Sinne ist ihm als Direktor immer die Vermittlung seiner Forschungsergebnisse und der Arbeit des Archivs an das Fachkollegium, aber auch an die breite Öffentlichkeit. Archivführungen, Vorträge, Ausstellungen beispielsweise eben zu den „Langen Kerls“ im Jahr 2005 oder zum „Kriegsgericht in Köpenick“ im Jahr 2011 haben dafür gesorgt, dass das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz unter seiner Leitung nicht nur in Berlin-Dahlem, sondern auch darüber hinaus zu einer Institution geworden ist, die als Forschungseinrichtung, aber auch als Ort des Wissens und der Wissensvermittlung aus der Forschungslandschaft Deutschlands nicht wegzudenken ist. Das Interesse am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz nimmt eben nicht, wie es der Bundesrechnungshof noch 1995 prognostiziert hatte, mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum untergegangenen Staat Preußen stetig und deutlich ab. Die stets vollen Forschungs- und Lesesäle beweisen das Gegenteil. Gleichzeitig „boomt“ die preußische Geschichte wie kaum jemals zuvor. Dies alles ist nur durch die Politik der Erschließung und Zugänglichmachung der im Archiv gelagerten Bestände, die Jürgen Kloosterhuis konsequent betreibt, möglich geworden. Den gewaltigen historischen Wissensspeicher in Dahlem hat Jürgen Kloosterhuis so seit 1996 mit Fingerspitzengefühl modernisiert, aber auch mit preußischem Pflichtbewusstsein zusammengehalten. Vom preußischen König Friedrich Wilhelm I. ist überliefert, dass er schon morgens früh zwischen drei und fünf mit Ärmelschonern am Schreibtisch saß und sich durch seine Akten arbeitete. Ähnlich mag Jürgen Kloosterhuis auf seine Mitarbeiter wirken – im Haus kennt man nur zu gut sein Bonmot vom „bösen Wort Urlaub“. Mit preußischem Verständnis von den Pflichten eines Beamten sieht er sich 24 Stunden am Tag im Dienst – im Dienst der preußischen Geschichte, die eben aus Geschichten besteht. Er hat sie im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz nicht nur entdeckt, sondern auch gehoben, bewahrt und zugänglich gemacht. Und natürlich kann er auch erklären, warum Friedrich Wilhelm I. eigentlich so begeistert von seinen „Langen Kerls“ war. Außergewöhnlich lange Arme, wie sie diese großgewachsenen Männer vorweisen konnten, hatten in Kombination mit einer möglichst langläufigen Vorladefeuerwaffe eine besonders große Reichweite. In diesem Sinne ist Jürgen Kloosterhuis zu seinem Geburtstag nicht nur zu wünschen, dass er seine besondere Reichweite in der Preußenforschung und -geschichtsschreibung noch lange genießen kann. Ich hoffe auch, dass er mit langem Arm und langem Atem das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz weiterhin sicher durch die Schlachten der täglich anstehenden Aufgaben führen kann.

Archivar und Historiker. Jürgen Kloosterhuis als Geschichtsschreiber des Hohenzollernstaates Von Frank-Lothar Kroll, Chemnitz I. Dass ausgewiesene Archivare neben ihrer beruflichen Haupttätigkeit – dem Betreuen, Erschließen, Verwalten und Zugänglichmachen von Akten, Dokumenten und anderen Überbleibseln geschichtlichen Lebens – als produktive Autoren forschungsrelevanter Fachpublikationen in ansehnlichem Umfang und beträchtlicher Zahl hervortreten, zählt ebenso zu den traditionellen Selbstverständlichkeiten der historischen Zunft, wie es im aktuellen Forschungs-, Wissenschafts- und Lehrbetrieb mehr und mehr zu einer Rarität geworden ist. Angesichts vielfältiger Beanspruchungen und neuartiger Herausforderungen, die dem Archivarberuf in wachsendem Umfang begegnen, scheint ein publizistischer Aktionsradius, wie ihn der für die Preußenforschung wohl bedeutendste unmittelbare Amtsvorgänger des Jubilars, Reinhold Koser (1852 – 1914), in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg noch souverän ausgemessen hatte1, heute kaum mehr möglich. Das Lebenswerk von Jürgen Kloosterhuis, zu dessen 65. Geburtstag diese Festschrift erscheint, steht ganz in den Traditionen solcher forschenden, schreibenden und lehrenden Archivare, deren vornehmste Repräsentanten stets mehr und Umfassenderes erstrebten, als die reibungslose Abwicklung aktenbezogener Benutzerwünsche. Auf allen Stationen seines von Oberfranken über Westfalen bis an die Spree führenden Lebensweges hat sich der Jubilar immer wieder stark von den historischen Gegebenheiten seiner jeweiligen Umgebung inspirieren lassen und die daraus resultierende lokale und regionale Verbundenheit durch viele spätere Veröffentlichungen zum Ausdruck gebracht: der Coburger Absolvent des Humanistischen Gymnasiums Casimirianum war federführend beteiligt, als dieser erlauchten, 1605 von Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg (1564 – 1633) gegründeten Studieranstalt anlässlich ihres vierhundertsten Stiftungsfestes eine stattliche Dokumentation gewidmet

1 Zur Bedeutung Kosers vgl. in diesem Zusammenhang Eckart Henning, Der erste Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive, Reinhold Koser (1852 – 1914). (1979), wiederabgedruckt in: Ders., Archivalien und Archivare Preußens. Ausgewählte Aufsätze, mit einem Geleitwort von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2013, 133 – 163.

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Frank-Lothar Kroll

wurde2 ; den Freiburger Corpsstudenten beschäftigten mehrfach Fragen und Probleme „seiner“ Studentenverbindung Neoborussia;3 der Münsteraner Archivar trat mit akribisch gefertigten Bestandsübersichten, Quellenverzeichnissen und Katalogen hervor4; und der Berliner Archivdirektor publizierte (und publiziert weiterhin) umfangreiche Schriften unterschiedlichen Formats, um die reichhaltigen Materialien des für die Geschichte des preußischen Gesamtstaates zweifellos wichtigsten deutschen Archivs sachgerecht zu präsentieren5. Herkunft und Heimat des Jubilars weisen in den oberfränkischen Raum, dort wurde Jürgen Kloosterhuis, fünf Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, am 4. März 1950 in Coburg geboren. Es mag dem thüringisch-pommerschen Erbteil seiner Eltern zu danken sein, dass er, bei aller Verbundenheit mit seiner Geburtsstadt – auf den Schulbesuch des Casimirianum wurde bereits verwiesen –, in Haltung, Mentalität und Gesinnung doch nur sehr bedingt typisch „fränkische“ Züge widerspiegelt. Er erinnert oft und gerne an seine Jugendjahre in Franken, doch ihn leiten keine Rückkehrsehnsüchte dorthin zurück. Bleibendere Bindungen verknüpfen ihn hingegen bis heute mit seinem Studienort. An der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg studierte er von 1969 bis 1974 – mit zweisemestriger Unterbrechung durch einen Aufenthalt an der Wiener Alma Mater – die Fächer Geschichte, Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft und wurde dort, nach Absolvierung seines Ersten Staatsexamens (1975), auf Grund einer von Gottfried Schramm betreuten Dissertation zur deutschen Auswärtigen Kulturpolitik in der Spätzeit des Wilhelminischen Kaiserreichs 1981 promoviert6. Das thematische Umfeld der Doktorschrift ist von 2 Vgl. Casimirianum – Casimiriana. Festgabe der Schülerverbindung Casimiriana zu Coburg zum 400. Schul-Stiftungsfest des Gymnasiums Casimirianum zu Coburg, hrsg. vom Altherrenverband der Casimiriana zu Coburg e. V., Coburg 2005. 3 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Zwischen Corps und Progress. Stichdaten zur Geschichte der Landsmannschaft im CC Neoborussia Halle zu Freiburg von 1849 bis 1872, Münster 1990; ders. (Hrsg.), Neupreußen-Mensuren 1849 – 1999. Festgabe zum 150. Stiftungsfest der Landsmannschaft im CC Neoborussia Halle zu Freiburg, Berlin 1999; ders. (Hrsg.), Neupreußen-Stiftungsfeste 1849 – 2009. Eine Bildergeschichte. Festgabe zum 160. Stiftungsfest der Landsmannschaft im CC Neoborussia Halle zu Freiburg, Berlin 2009. 4 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Die Bestände des Nordrhein-Westfälischen Staatsarchivs Münster. Kurzübersicht. Erweiterte Neubearbeitung, 2. Aufl. Münster 1984; 3. Aufl. ebd. 1990; Kleve-Märkische Regierung, Landessachen. Findbuch, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Bd. 1: Sachtitelverzeichnung; Bd. 2: Spezialverzeichnung, Index und Konkordanz, Münster 1985 – 1986; Index Märkische Register, Landessachen. Findbuch, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Münster 1995. 5 Vgl. Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Aus der Arbeit des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1996; ders., Bestandsgruppen-Analyse Generaldirektorium, Berlin 2008; ders., Adlers Fittiche. Wandlungen eines Wappenvogels. Dokumentation einer Präsentation des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (zusammen mit Christiane Brandt-Salloum, Rita Klauschenz und Christian Schwarzbach), Berlin 2008; ders. (Hrsg.), Tektonik des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz. Bearbeitet von Rita Klauschenz, Sven Kriese und Mathis Leibetseder, Berlin 2011. 6 Jürgen Kloosterhuis, „Friedliche Imperialisten“. Deutsche Auslandsvereine und auswärtige Kulturpolitik 1906 – 1918, 2 Bde, Bern/Frankfurt am Main 1993.

Archivar und Historiker

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ihm in der Folgezeit nicht mehr eingehender bearbeitet worden7, wohingegen die Zugehörigkeit zur landsmannschaftlichen Studentenverbindung der Freiburger Neoborussen bis heute einen prägenden Bestandteil sowohl in der praktischen Lebensführung als auch im wissenschaftlichen Selbstverständnis des Jubilars bildet. Jürgen Kloosterhuis war ein leidenschaftlich engagierter Freiburger Corpsstudent, und er hat sich die Liebe zum studentischen Brauchtum mit all seinen historischen Facetten und zeitlosen Unzeitgemäßheiten über die Jahre hinweg bis heute bewahrt. Während der Arbeit an der Dissertation, und weit vor deren Abschluss, reifte in Jürgen Kloosterhuis die Entscheidung zum Eintritt in den Höheren Archivdienst. Nach einer kurzen Anstellung beim Bundesarchiv/Militärarchiv in Freiburg absolvierte er ab 1978 als Staatsarchivreferendar die entsprechende Ausbildung an der Archivschule Marburg und am Staatsarchiv Detmold, die er 1980 durch die Archivarische Staatsprüfung erfolgreich abschloss. Danach sehen wir ihn für die folgenden fünfzehn Jahre in wechselnden Dienststellungen am Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv Münster, zunächst als Archivassessor, danach als Staatsarchivrat, zuletzt als Oberstaatsarchivrat. Auch sein Wirken als Dozent und Lehrbeauftragter für Aktenkunde an der Archivschule Marburg fällt vorzugsweise in diese Münsteraner Zeit. Den entscheidenden Wechsel brachte 1996 die Berufung zum Direktor des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz. Dort, in den Räumen des 1874 in seiner heutigen Form etablierten und seit 1924 in Berlin-Dahlem untergebrachten Hauses8, hat sich Jürgen Kloosterhuis in nunmehr fast zwanzigjährigem Wirken der Aufgabe gestellt, dem archivarisch überlieferten Erbe des Hohenzollernstaates angemessene Wege in die Öffentlichkeit zu bahnen. Als Zentralarchiv für die Akten sämtlicher obersten zivilen Behörden des preußischen Staates war dieses Haus seit der Auflösung Preußens durch Beschluss des Alliierten Kontrollrats 1947 von einem lebenden zu einem historischen Archiv geworden. Dass es gleichwohl keine bloße Verwahranstalt erloschenen Dokumentenlebens geblieben, sondern – unter dem Dach der 1957 gegründeten Stiftung Preußischer Kulturbesitz – zu einer veritablen Forschungseinrichtung für brandenburgische und preußische Geschichte geworden ist, verdankt sich zu einem guten Teil diesem unermüdlichen Wirken. Schon 1990 hatte Jürgen Kloosterhuis durch den Eintritt in den Wissenschaftlichen Beirat der Stiftung Preußen-Museum Nordrhein-Westfalen, der die Tätigkeit 7 Vgl. hier lediglich Jürgen Kloosterhuis, Deutsche auswärtige Kulturpolitik und ihre Trägergruppen vor dem Ersten Weltkrieg (dargestellt am Beispiel des „Deutsch-Chinesischen Verbandes“), in: Kurt Düwell/Werner Link (Hrsg.), Deutsche auswärtige Kulturpolitik seit 1871. Geschichte und Struktur. Referate und Diskussionen eines interdisziplinären Symposions, Köln/Wien 1981, 7 – 36. 8 Dazu instruktiv Eckart Henning, 50 Jahre Geheimes Staatsarchiv – 100 Jahre seit seiner Vereinigung mit dem Ministerialarchiv (1874 – 1924 – 1974). (1974), wiederabgedruckt in: Ders., Archivalien und Archivare Preußens (wie Anm. 1), 87 – 103; vgl. auch den Beitrag von Eckart Henning, Von der Fahne gegangen! Rückblick auf meine Dienstzeit im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 1970 – 1983, in diesem Band, 577 ff.

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entsprechender Einrichtungen in Minden und Wesel begleitet, eine größere Nähe zu „preußischer“ Thematik gesucht und bekundet, die dann im Umfeld der Berufung nach Berlin organisatorisch durch Kooptation in die maßgeblich mit Preußen befassten Gelehrtenvereinigungen bestärkt und vertieft wurde: 1995 in die Arbeitsgemeinschaft für Preußische Geschichte, 1996 in die Preußische Historische Kommission (als deren Zweiter Vorsitzender er seitdem amtiert), 1997 in die Historische Kommission zu Berlin (dort zugleich als Leiter des Forschungsbereichs „Preußen“). So verbinden ihn von seinem Berliner Archivsitz aus vielfältige Kontakte mit führenden wissenschaftlichen Vereinigungen, deren Aktivitäten von der fachlichen und archivarischen Kompetenz ihres Mitglieds Jürgen Kloosterhuis profitieren und immer wieder wesentliche Impulse erhalten. Dem Unterzeichnenden als Vorsitzenden der Preußischen Historischen Kommission ist keine Sitzung unseres Gremiums bekannt, die Jürgen Kloosterhuis jemals versäumt hätte, und deren Verlauf nicht von seinen stets zielführenden Bemerkungen und Einwendungen, seinem administrativen Geschick und seinen fachlichen Ratschlägen profitiert hätte. Andernorts dürfte es ähnlich zugehen – so im Rahmen seines Engagements als Mitglied der Historischen Kommission für Westfalen (seit 1992), des mit Fragen der Heraldik und Genealogie beschäftigten Vereins Der Herold (seit 1996), der Historischen Kommission für die Erforschung der Freimaurerei (ebenfalls seit 1996) und der Kommission für Militärgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (seit 2001). Dass er sich nach Antritt des Berliner Direktorenpostens sogleich für die akademische Lehre in die Pflicht nehmen ließ – zunächst als Lehrbeauftragter für Historische Hilfswissenschaften der Neuzeit an der Freien Universität Berlin, danach zugleich zeitweise (von 1999 bis 2005) an der Fachhochschule Potsdam –, demonstriert nicht nur die äußere Verbundenheit mit der neuen Wahlheimat, sondern spiegelt auch sein pädagogisches Bemühen um Weitergabe und Vermittlung archivarischen Wissens an junge Adepten der Wissenschaft wider. Funktion und Folge dieser Bemühungen war die Ernennung zum Honorarprofessor für Neuere Geschichte und Historische Hilfswissenschaften am Friedrich Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin im Jahr 2004. Lebensweg und wissenschaftliches Werk des Jubilars – soviel dürfte den bisherigen Darlegungen mittlerweile zu entnehmen sein – bilden eine eng miteinander verschränkte und aufeinander bezogene Einheit. Den verschiedenen Stationen seines Wirkens entsprechen unterschiedliche Themenfelder seines Forschens, die sich auf fünf große Arbeitsbereiche erstrecken und die Binnengliederung dieser Festschrift bestimmen. II. An Umfang und Gewicht ragen hier zunächst – erstens – die zahlreichen Untersuchungen zur preußischen Geschichte, speziell des 18. Jahrhunderts, hervor. Im Mittelpunkt dieser Arbeiten steht, oftmals unausgesprochen, doch im Hintergrund stets präsent, die vom Jubilar sehr geschätzte Persönlichkeit Friedrich Wilhelms I. (1688 – 1740). Jürgen Kloosterhuis hat keine Scheu, diesen roi sergeant – abweichend von vielen landläufig-schablonenhaften Deutungen – vorbehaltlos als den

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größten inneren König Preußens anzuerkennen9. Wie dieser charakterlich schwierige, in seiner Persönlichkeitsstruktur nicht leicht zu fassende Monarch sein hoch verschuldetes, international wenig geachtetes, territorial nur locker zusammengehaltenes Land in einem siebenundzwanzigjährigen entsagungsvollen Aufbauwerk unter Anspannung aller Kräfte zu einem wohlgeordneten Staatswesen formte, das durch eine gut funktionierende Verwaltung, eine florierende Wirtschaft, solide Finanzen und eine eindrucksvolle Armee europaweit von sich reden machte10 – dies quellennah aufzuspüren und für den heutigen Betrachter nachvollziehbar zu machen, ist zweifellos eines der vornehmlichsten Anliegen des Jubilars. Der eindrucksvollen königlichen Erfolgsbilanz lag bekanntlich eine Regierungspraxis zugrunde, gemäß derer der rastlos tätige Herrscher alle wichtigen Zweige der Staatsverwaltung kontrollierend und dirigierend von seiner königlichen Amtsstube aus zu überschauen bestrebt war. Er traf seine Entscheidungen höchstpersönlich „aus dem Kabinett“ heraus, danach wurden sie in Form von Anweisungen oder Verfügungen – Kabinettsordren oder Kabinettsdekreten – in praktisches Regierungshandeln umgesetzt11. Vielfach erfolgten solche königlichen Willensäußerungen in Form eigenhändiger Marginalien, mit denen der Herrscher die ihm von wenigen vertrauten Kabinettssekretären täglich vorgelegten Berichte und Eingaben im Befehlston versah. Jürgen Kloosterhuis hat solche von ihm als „Marginal-Dekrete“ bezeichneten Randverfügungen erstmals zusammenhängend ediert und aus deren Interpretation weitreichende Rückschlüsse auf die Wesenszüge „dieses bemerkenswerten Mannes“ gezogen12. Aus solcher Perpektive tritt an die Stelle „eines unkultivierten, jähzornigen […] und am Ende pathologischen Tyrannen“13, als den ihn die lange Zeit tonangebenden Lebenserinnerungen seiner Tochter Wilhelmine (1709 – 1758), spätere Markgräfin von Brandenburg-Bayreuth, der Nachwelt zu präsentieren beliebten14, ein zwar misstrauischer, doch im Grunde gutmütiger, humorvoller, zudem keines9 Zur Einschätzung dieses Monarchen durch die aktuelle Forschung vgl. repräsentativ Peter Baumgart, Friedrich Wilhelm I. (1713 – 1740), in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., 4. Aufl. München 2009, 134 – 159, 328 – 330; zum Ganzen jetzt auch ders., Brandenburg-Preußen unter dem Ancien régime. Ausgewählte Abhandlungen, hrsg. von Frank-Lothar Kroll, Berlin 2009. 10 Darüber zuletzt zusammenfassend Frank-Lothar Kroll, Die Hohenzollern, München 2008, 45 – 55. 11 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Kabinetts-Minüten, in: Klaus Dettmer/Werner Breunig (Hrsg.), Es wächst zusammen, was zusammengehört. Beiträge zum Wissenschaftlichen Kolloquium zu Ehren von Jürgen Wetzel am 25. November 2003 im Landesarchiv Berlin, Berlin 2004, 25 – 62. 12 Jürgen Kloosterhuis, Marginal-Dekrete. Schlaglichter auf die Kabinettsregierung Friedrich Wilhelms I., in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N. F. 21 (2010), 219 – 272, hier 220; vgl. ferner ders. (Hrsg.), Annäherungen an Friedrich Wilhelm I. Eine Lesestunde im Schloss Königs Wusterhausen, Berlin 2011, 19 – 60. 13 J. Kloosterhuis, Marginal-Dekrete (Anm. 12), 236. 14 Vgl. Wilhelmine von Bayreuth, Eine preußische Königstochter. Glanz und Elend am Hofe des Soldatenkönigs. Aus dem Französischen übersetzt von Annette Kolb, neu hrsg. von Ingeborg Weber-Kellermann, Frankfurt am Main 1981.

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wegs bildungsfeindlicher Souverän, der Leistung forderte und Können belohnte, ein sparsamer Haushalter voller Sachkenntnis, Lösungskompetenz und Entschlusskraft, dessen religiös fundiertes Arbeitsethos in täglicher Bewährung nicht der Befriedigung subjektiven Ehrgeizes diente, sondern stets das Wohl von Staat und Volk im Blick hatte – so wie er dieses Wohl verstand. Der König erscheint dabei, nach Ausweis der Akten, als „zentraler Impulsgeber“15 in fast allen Bereichen des mit der Regierungsübrnahme 1713 eingeleiteten Reformwerks. Die neuste Forschung hat das von Jürgen Kloosterhuis aus akribischem Aktenstudium gewonnene Charakterprofil des Monarchen einmal mehr bestätigt16. Seinen bisher zweifellos wichtigsten Beitrag zur „Preußen“-Thematik hat Jürgen Kloosterhuis 2006 mit der Monographie Katte. Ordre und Kriegsartikel vorgelegt, die 2011 in zweiter Auflage erschienen ist17. Hier wird, in aktenkundlicher und archivwissenschaftlicher Analyse, aus militärhistorischer Perspektive eine neue, quellenkritisch gestützte Interpretation des vermeintlichen Justizmordes an dem sechsundzwanzigjährigen Gardekürassierleutnant Hans Hermann von Katte (1704 – 1730) vorgelegt, der den spektakulären Fluchtversuch des preußischen Thronfolgers im August 1730 konspirativ mitgetragen hatte und dafür nach persönlicher Intervention Friedrich Wilhelms I. mit dem Tod bestraft worden war. Kattetragödie und Kronprinzenkonflikt weiten sich unter der Feder ihres Interpreten zu einem „Königsdrama“18, denn Friedrich Wilhelm I. sah in Kattes Handeln zunächst und vor allem das „Desertionskomplott“19 eines Offiziers der königlichen Garde, der den persönlichen Fahnen- und Treueeid gegenüber seinem königlichen Regimentschef gebrochen hatte20. Die preußischen Kriegsartikel gaben dieser von Jürgen Kloosterhuis dem König zugebilligten Sichtweise Recht21, Kattes Handeln erfüllte den Straftatbestand des Hochverrats, und dieses Vergehen konnte, zumal von einem Angehörigen des noblen und exklusiven Regiments Gens d’armes, nur durch den Tod gesühnt werden. Doch Jürgen Kloosterhuis geht im Bemühen um eine angemessene Beurteilung der Handlungsweise „seines“ Königs noch einen Schritt weiter: Selbst ein auf den ersten Blick vielleicht angemessen erscheinender (und objektiv zweifellos möglich gewesener) herrscherlicher Gnadenspruch schied in der gegebenen Situation subjektiv 15

J. Kloosterhuis, Marginal-Dekrete (Anm. 12), 228. Vgl. zusammenfassend Wolfgang Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit. Politik und Staatsbildung im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. I: Das 17. und 18. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 2009, 113 – 407, hier 256 ff.; vgl. auch den Beitrag von Frank Göse, Die Städtepolitik König Friedrich Wilhelms I., in diesem Band, 63 ff. 17 Jürgen Kloosterhuis, Katte. Ordre und Kriegsartikel. Aktenanalytische und militärhistorische Aspekte einer „facheusen“ Geschichte (2006), 2., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin 2011; vgl. auch ders./Lothar Lambacher (Hrsg.), Kriegsgericht in Köpenick! Anno 1730: Kronprinz – Katte – Königswort [Ausstellungskatalog], Berlin 2011. 18 So J. Kloosterhuis, Katte (Anm. 17), 12. 19 Ebd., 42, 60, 70, 74. 20 Vgl. ebd., 42 ff., 73 ff. 21 Vgl. ebd., 59 ff. 16

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aus. Denn der von Katte mitgetragene Fluchtversuch des Thronfolgers war bekanntlich in ein weiträumiges politisches „Intrigengestrüpp“22 verwoben, dessen Verästelungen dem Leutnant Katte ebenso verborgen blieben wie sie den König aufs höchste beunruhigen mussten: Verband sich Friedrichs Flucht, zumindest in den Augen seines Vaters, doch mit jenen mehr oder weniger ernsthaft erwogenen Plänen der englischen und französischen Diplomatie, den unbequem gewordenen habsburgfreundlichen „Soldatenkönig“ mittels Förderung einer Adelsrevolte unter Führung seines frankophilen Sohnes unschädlich zu machen. Dies aber gefährdete das gesamte, seit 1713 betriebene königliche Aufbauwerk in seinem Grundbestand, ein mutmaßlich konspirativer Einfluss des Auslands verlieh dem Verbrechen der Desertion eine „staatserschütternde Dimension“.23 Dass aber ausgerechnet ein junger vielversprechender Gardeoffizier als Repräsentant der neuen, vom König selbst beförderten spezifisch preußischen Regimentskultur in diesen ganzen Komplex prominent verwickelt war, zwang den zutiefst verunsicherten und von Selbstzweifeln geplagten Monarchen in diesem Fall geradezu zum Verzicht auf die Gewährung von Gnade und Milde24. Eine weitere Monographie zur Preußenforschung, die der Jubilar in Buchform vorgelegt hat, speist sich, obwohl eigentlich ein Thema aus dem mittleren und späteren 19. Jahrhundert behandelnd, gleichfalls aus Bezugnahmen auf die politisch-militärische Struktur der vorangegangenen Epoche, auf die Zeit der Krisen und Kriege Friedrichs des Großen zumal. Vorderhand geht es dabei um Adolph von Menzel (1815 – 1905), den „premiere peintre du Zopp prussien“, und um die kunst- und kulturpolitischen Rahmenbedingungen seines Schaffens im kaiserlichen Deutschland.25 Doch das eigentliche Erkenntnisinteresse richtet sich hierbei nicht auf kunst- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte, es gilt vielmehr quellenkundlichen, heeresgeschichtlichen und militärhistorischen Zusammenhängen. Die Interpretation nimmt ihren Ausgang von Menzels „Armeewerk“, an dem der Künstler zwischen 1842 und 1857 gearbeitet hatte, und das in kleiner Auflage 436 Zeichnungen und Lithographien auf 168 Blättern in drei umfänglichen Prachtbänden präsentierte. Die Bilderfolge bestach durch genaueste Wiedergabe der friderizianischen Uniformen, Waffen und Ausrüstungsgegenstände, wie Jürgen Kloosterhuis in seiner „gnadenlos pedantischen Bestandsaufnahme“26 im Rückgriff auf zahlreiche heereskundliche Einzelheiten präzise und kenntnisreich zu beschreiben weiß. 22

Ebd., 83. Ebd., 78. 24 Zusätzliche Brisanz erhielt das Verschwörungsszenario durch die einander entgegengesetzten Eheprojekte, die der König und seine Gemahlin für den Thronfolger und dessen Schwester Wilhelmine jeweils ins Auge gefasst hatten: Friedrich Wilhelm I. wünschte eine dynastische Verbindung mit Parteigängern der Habsburger im Reich, Sophie Dorothea (1687 – 1757) favorisierte demgegenüber Heiratskandidaten aus dem Lager der Westmächte. 25 Jürgen Kloosterhuis, Menzel militaris. Sein „Armeewerk“ und das „Leuthen“-Bild im militärhistorischen Quellenkontext, Berlin 2015. 26 Ebd., 22. 23

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Von Menzels dadurch erworbenem Wissen profitierten vor allem seine großen Gemälde Friedrich und die Seinen bei Hochkirch und Friedrich der Große im Kreis seiner Generale vor der Schlacht von Leuthen. Die Bildidee beider Werke – das letztere blieb unvollendet – folgt in ihrer wirklichkeitsnahen und unheroischen Gestaltungsfreude der Menzelschen Konzeption eines „Volkskönigs“, also eines Herrschers, der mit und in seinem Volk lebt. Geschult an den Figurenzeichnungen des „Armeewerkes“, verband Menzel den roi connetable mit dessen Generalen, Unteroffizieren und einfachen Mannschaften zu einer einheitlichen Konzeption, um die Wechselbeziehung zwischen Friedrich und „seinen“ Regimentern zu betonen. So entstand „ein idealisiertes Wunsch- und Gegenbild zur politisch-sozialen Gegenwart des Vormärz und der Reaktionsjahre“27. Konsequenterweise wurde die Arbeit am halbfertigen Leuthen-Bild, dessen Analyse und Interpretation im Mittelpunkt des Buches stehen, von Menzel in dem Moment abgebrochen und auch nicht wieder aufgenommen, als nach vollzogener Nationalstaatsgründung genau diese Konzeption eines „Volkskönigs“ unmodern, ja inopportun wurde. Denn nun verlangte der Publikumsgeschmack nicht mehr nach einem mit seinen Truppen im Kriegsgetümmel stehenden Schlachtenlenker, sondern nach einem der Nation siegreich voranstürmenden Reichseiniger. Diesen neuen geschichts- und kulturpolitischen Gegebenheiten hatte ein auftragsgebundener Künstler wie Menzel Rechnung zu tragen. III. Der Begriff der „preußischen Regimentskultur“ in der von Jürgen Kloosterhuis entwickelten Prägung verweist auf das zweite maßgebliche Forschungsfeld des Jubilars: die (preußische) Militärgeschichte. Man wird nicht fehlgehen, in diesem Segment das Herzstück seines bisherigen Schaffens zu erblicken – einen Themenbereich, dem er in zahlreichen wegweisenden Aufsätzen, Buchpublikationen und Quelleneditionen Gestalt und Profil zu verleihen gewusst hat. Kein zeitgenössischer Historiker vermag hier mit vergleichbarer Detailkenntnis aufzuwarten, und niemand bindet das in akribischer Aktenanalyse mühevoll gewonnene Faktenwissen über den „Altpreußischen Kommiß“28 müheloser in die großen Zusammenhänge der So-

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Ebd., 120. So der Titel eines Reihenwerkes des Arztes und Militärhistorikers Hans Bleckwenn (1912 – 1990), dem Jürgen Kloosterhuis maßgebliche Impulse für seine eigenen Forschungen verdankt; vgl. Hans Bleckwenn (Hrsg.), Das Altpreussische Heer: Erscheinungsbild und Wesen, 18 Bde., Osnabrück 1973 – 1987; vgl. ferner ders., Urkunden und Kommentare zur Entwicklung der altpreußischen Uniform als Erscheinungsbild und gesellschaftliche Manifestation, Osnabrück 1971; ders., Unter dem Preußenadler. Das brandenburg-preußische Heer 1640 – 1807, München 1978; ders., Zum Militärwesen des Ancien Régime. Drei grundlegende Aufsätze, neugedruckt zu Ehren des Verfassers anlässlich seines 75. Geburtstages am 15. Dezember 1987, Osnabrück 1987; ders., Altpreußische Offizierporträts. Studien aus dem Nachlaß. Mit Miniaturen von Bodo Koch. Im Auftrage des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard R. Kroener und Joachim Niemeyer, Osnabrück 2000. 28

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zial-, Wirtschafts- und Politischen Geschichte Preußens unter dem Ancien Régime ein – als der Jubilar Jürgen Kloosterhuis. Seine 2003 vorgelegte Quellenedition zu den Potsdamer „Langen Kerls“ – das waren die Angehörigen der seit 1717 aufgestellten Gardeformation, welche als persönliches Regiment Friedrich Wilhelms I. die Funktion einer repräsentativen Mustertruppe versah29 – vermittelte umfassende und in dieser Form erstmalige Einblicke in das „Innenleben“ eines exponierten soldatischen Verbandes – von der alltäglichen Organisation des Dienstbetriebs über die Modalitäten der Rekrutierung und des Exerzierens, der Gesundheitspflege und der Militärseelsorge, bis hin zum Familienleben und zu den Lesegewohnheiten der Soldaten und Offiziere30. Als Quintessenz aus der Fülle des zusammengetragenen Quellenmaterials schält sich dabei jenes Phänomen heraus, für das Jürgen Kloosterhuis den erwähnten Begriff der „Regimentskultur“ geprägt hat. Damit ist eine spezifisch „preußische“ Haltung umschrieben, die sich „aus eigendisziplinierter Lebensweise, kompetenzstolzer Militärmentalität und religiös verankerten Kriegerwertvorstellungen“ zusammensetzte31, in produktiver Wechselbeziehung zu den Lebenswelten ihrer zivilen Umgebung stand und überdies auch dem einfachen Soldaten eine von sklavengleichem Gehorsam durchaus entfernte Position zubilligte, die es „im Rahmen des zeitgenössisch Möglichen menschlich zu respektieren und militärisch zu pflegen galt“32.

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Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Legendäre „lange Kerls“. Quellen zur Regimentskultur der Königsgrenadiere Friedrich Wilhelms I., 1713 – 1740, Berlin 2003; vgl. auch ders., „Lange Kerls“ aus aller Welt. Klischees und Konturen des Königsregiments, 1713 – 1740, in: Friedhild den Toom (Hrsg.), Königliche Visionen. Potsdam. Eine Stadt in der Mitte Europas, Potsdam 2003, 99 – 113. 30 Einen seiner schönsten, differenziertesten und forschungsrelevantesten Aufsätze widmete der Jubilar, in Erweiterung seiner für das 18. Jahrhundert gewonnenen regimentskulturellen Detailkenntnisse, der Geschichte der brandenburgisch-preußischen Gardetruppen – im Umkreis der Residenzen Berlin und Potsdam – vom Zeitpunkt ihrer frühesten historisch nachweisbaren Verortung im späten 15. Jahrhundert bis zu ihrem äußerlich glanzvollsten Erscheinungsbild an der Schwelle des 20. Jahrhunderts; vgl. Jürgen Kloosterhuis, „Donnerwetter, wir sind Kerle“. Glanz und Elend der Garden in Brandenburg-Preußen 1476 bis 1914, in: Ders./Wolfgang Ribbe/Uwe Schaper (Hrsg.), Schloss: Macht und Kultur. Entwicklung und Funktion Brandenburg-Preußischer Residenzen, Berlin 2012, 179 – 209. Dabei vermochte der Jubilar das vielfach geläufige Vorurteil, es handle sich bei dieser Garde-Formation um eine von adligen Offizieren dominierte, ausschließlich an Renommierzwecken orientierte, kastengleich von allen anderen Gesellschaftsschichten abgesonderte Elitetruppe, überzeugend zu korrigieren: Vor 1914 versammelten die preußischen Garderegimenter vielmehr die „besten Soldaten der ganzen Armee“ (ebd., 208), geführt von einem überwiegend bürgerlichen Offiziercorps, das sich durch Experimentierfreude ebenso auszeichnete wie es durch einen prinzipiell zukunftsoffen-modernistischen Habitus hervortrat. 31 So Jürgen Kloosterhuis, Kritik vor der Krise. „Gedanken über militärische Gegenstände“ zweier preußischer Generale vor und nach dem Siebenjährigen Krieg, in: Ders./Sönke Neitzel (Hrsg.), Krise, Reformen – und Militär. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, Berlin 2009, 129 – 278, hier 136. 32 Ebd.

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Eine mittlerweile kaum mehr überschaubare Fülle von Spezialstudien aus der Feder des Jubilars hat den von ihm präsentierten „regimentskulturellen“ Ansatz erprobt, verfeinert und weiterentwickelt. Entsprechende Analysen und Interpretationen galten dabei – wie könnte dies anders sein! – vor allem der im Offiziercorps versammelten militärischen Führungselite33, hier unter besonderer Berücksichtigung der traditionsstiftenden und indentitätsfördernden Funktionen regimentsbezogener Offizierporträts34. Doch auch die Perspektive des „gemeinen Mannes“, der die Modalitäten der Regimentskultur und der Militärsozialisation nicht „von oben“ erlebte, sondern ihnen als einfacher Dienstpflichtiger in passivem Gewährenlassen überantwortet war, sind vom Jubilar mehrfach eingehend in Betracht gezogen worden. Dem wohl bekanntesten „Musterdeserteur“ des altpreußischen Heeres – Ulrich Bräker (1735 – 1798), der sich 1755 im schweizerischen Schaffhausen für den preußischen Militärdienst einwerben ließ, im Folgejahr eilends desertierte, nach Ausweis seiner Tagebücher jedoch zeitlebens stolz darauf blieb, in der Armee Friedrichs des Großen gedient zu haben – widmete Jürgen Kloosterhuis 2004 eine seiner tiefschürfendsten Detailstudien35. Darin präsentierte er uns das Schicksal des „armen Mannes im Tockenburg“ als beredtes Beispiel für eine gerade durch die mentalitätsverändernde Sogwirkung regimentskultureller Prägungen von überlieferten ständischen Bindungen sich emanzipierende Soldatenkarriere. Von hier aus gelangte Jürgen Kloosterhuis dann beinahe zwangsläufig zu neuen Antworten auf die seit jeher heftig diskutierte Frage nach der Militarisierung Preußens im Ancien Régime. Seine mit größter Akribie aus stupender Quellenkenntnis gefertigten Studien insbesondere zum Kantonsystem, das seit 1733 die Modalitäten der Rekrutenaushebung in Preußen regelte, vermochten die lange Zeit dominierende Sichtweise des Berliner Wirtschafts- und Sozialhistorikers Otto Büsch (1928 – 1994) überzeugend zu widerlegen. Büsch hatte in einer weithin kritiklos hingenommenen Untersuchung 1962 für den preußischen Osten einen engen Zusammenhang zwischen der Gutsherrschaft und dem Militärsystem postuliert, insofern der Gutsherr seine Bauern in den allermeisten Fällen zugleich als deren Regimentskommandeur befehligte, Gutswirtschaft und Kompaniewirtschaft mithin räumlich strikt aufeinan33

Vgl. z. B. Jürgen Kloosterhuis, Officiers, Cadets et Mousquetaires: Réfugiés in kurbrandenburgischen Diensten. Ein Beitrag zur Geschichte des Regiments de Varenne; zugleich zu den westfälischen Wurzeln des späteren Ersten Garderegiments zu Fuß, n: Zeitschrift für Heereskunde 59 (1995), 128 – 136; ders., Ordre, Liste und Porträt. Identitätsstiftung und Traditionsbildung im preußischen Offizierkorps des 18. Jahrhunderts im Spiegel seiner Schrift- und Bildquellen, in: Hitotsubashi Journal of Law and Politics 39 (2011), 3 – 29. 34 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Le vrai portrait d’un officier prussien. Militärische Kostümkunde als Historische Hilfswissenschaft bei der Interpretation preußischer Offizierporträts des 18. Jahrhundert, in: Rolf Wirtgen (Hrsg.), Das preußische Offizierkorps 1701 – 1806. Uniformierung – Bewaffnung – Ausrüstung, Katalog zur Sonderausstellung der Wehrtechnischen Studiensammlung, Koblenz 2004, 53 – 66. 35 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Donner, Blitz und Bräker. Der Soldatendienst des „armen Mannes im Tockenburg“ aus der Sicht des preußischen Militärsystems, in: Alfred Messerli/ Adolf Muschg (Hrsg.), Schreibsucht. Autobiografische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735 – 1789), Göttingen 2004, 129 – 187.

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der bezogen waren, was zu einer weitgehenden Militarisierung der Sozialstrukturen in Ostelbien geführt habe – wohingegen im Westen der Monarchie, in Brandenburg und zumal im preußischen Westfalen, die dort vorherrschenden grundherrlichen Agrarverhältnisse den Bewohnern einen „Freikauf“ von der Militärdienstpflicht erlaubten und damit ein weitaus weniger drückendes Sozialleben ermöglichten36. Jürgen Kloosterhuis widerlegte diese „Sozialmilitarisierungsthese“37, indem er quellenkritisch nachwies, dass die von Büsch vollmundig postulierte Kongruenz von Offiziersherkunft und Regimentsstandort im preußischen Gesamtheer des 18. Jahrhunderts nur für etwa ein Viertel der Kompaniechefs zutraf, und dass – umgekehrt – ebenfalls nur etwa ein Viertel der Kantonisten eines Regiments den Adelsgütern der jeweiligen Umgebung zuzuordnen war – im preußischen Westen stammte sogar nur weit weniger als ein Fünftel der Offiziersstelleninhaber aus der Region, in der ihr Regiment garnisonierte. Hinzu kam, dass sich die staatlich geregelte militärische Aushebungspraxis gerade in den von Otto Büsch an den Pranger gestellten ostelbischen Gebieten der Monarchie durch eine ausgesprochene Flexibilität im Umgang mit regionalen Wirtschaftsinteressen empfahl und bei der zahlenmäßigen Rekrutenaustarierung Rücksicht nahm auf die oft labile ökonomische Situation vieler ostpreußischer Agrarbetriebe. Vergleichbare Befunde zeitigte der Blick auf die westfälischen Territorien Preußens38, sodass sich die Auslassungen von Otto Büsch bei Jürgen Kloosterhuis in ihr Gegenteil kehren: Statt einer Militarisierung des Sozialgefüges, im Sinne einer Durchdringung der Gesellschaft mit militärischen Verhaltensformen, kam es im Preußen des Ancien Régime vielmehr zu einer „Sozialisierung des Militärsystems“39, die durchaus mentalitätsverändernde Wirkungen entfaltete. Bot doch die spezifisch preußische „Militärsozialisation“40 mit ihrer Disziplinierung des Sozialverhaltens der einfachen Soldaten im und durch den staatlich dirigierten Armeedienst gerade für die unteren Bevölkerungsschichten mannigfache Möglichkeiten, sich von alten, ständisch gebundenen Abhängigkeiten zu befreien, neuartige Erfahrungen zu sammeln und kenntnisbasiertes Selbstbewusstsein zu akkumulieren. So gesehen, besaß solcher Armeedienst auch eine emanzipatorische Komponente. Gesellschaftlicher Strukturwandel wurde durch das altpreußische Mi36 Vgl. Otto Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen, Berlin 1962; erweiterte Neuaufl. unter dem thesenhaft zugespitzten Titel: Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713 – 1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1981. 37 Ebd., 84. 38 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Zwischen Aufruhr und Akzeptanz. Zur Ausformung und Einbettung des Kantonsystems in die Wirtschafts- und Sozialstrukturen des preußischen Westfalen, in: Bernhard R. Kroener/Ralf Pröve (Hrsg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn/München/Wien/Zürich 1996, 167 – 190. 39 J. Kloosterhuis, Kantonsystems und Regimentskultur. Katalysatoren des preußischen Militärsozialisationsprozesses im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Oppenheim-Vorlesungen zur Geschichte Preußens an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2014, 77 – 39, bes. 90, 95. 40 Ebd., 100, 101.

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litärsystem nicht behindert, sondern befördert. Ein unlängst vorgelegtes voluminöses Verzeichnis der wichtigsten Archivquellen zur preußischen Militärsozialisation im 18. Jahrhundert bestätigt noch einmal die Vertrautheit des Jubilars mit diesem Themenfeld41. IV. Die neuartigen Einsichten und weiterführenden Erkenntnisse zum preußischen Militärwesen des 18. Jahrhunderts verdankte Jürgen Kloosterhuis nicht zuletzt seiner intensiven Beschäftigung mit der Geschichte und Kultur Westfalens, dem dritten großen Forschungsfeld des Jubilars. Sein Interesse an dieser Landschaft erwuchs, wie erinnerlich, der langjährigen Tätigkeit im Münsteraner Staatsarchiv. Dort oblag ihm, unter anderem, die Betreuung der Dokumenten- und Aktenbestände der Grafschaft Mark, die 1609, zusammen mit dem Herzogtum Kleve, infolge friedlich durchgesetzter und heiratspolitisch abgesicherter Erbanspruche an Kurbrandenburg gefallen war. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts waren dann bekanntlich noch weitere Erwerbungen am Niederrhein und in Westfalen hinzugekommen – so 1648 Minden, Moers (mit Krefeld) und Lingen, 1707 Tecklenburg, 1713 Geldern –, bevor dann schließlich auf dem Wiener Kongress 1815 die gesamte Provinz Westfalen (mit dem Hauptort Münster) dem Hohenzollernstaat zugesprochen wurde. In einem Beitrag zum „Jubiläumsjahr“ 2009 hat Jürgen Kloosterhuis die historische Entwicklung der brandenburgisch-preußischen Präsenz am Niederrhein und in Westfalen überblickshaft skizziert42 und dabei besonders darauf verwiesen, in welch starkem Ausmaß die räumliche Entfernung dieser Territorien von der Berliner Zentrale Eigenständigkeitsgefühl und Selbstbewusstsein der regionalen politischen Führungsschichten beförderte43, längst bevor sich der Schwerpunkt des hohenzollernschen Staatsinteresses mit der friderizianischen Eroberung Schlesiens seit 1740 nach Osten zu verlagern begann und die westlichen Besitzungen Preußens infolge

41 Vgl. Jürgen Kloosterhuis/Bernhard R. Kroener/Klaus Neitmann/Ralf Pröve (Hrsg.), Militär und Gesellschaft in Preußen. Quellen zur Militärsozialisation 1713 – 1806. Archivalien in Berlin, Dessau und Leipzig, bearbeitet von Peter Bahl/Claudia Nowak/Ralf Pröve, 3 Teile in 4 Bänden, Berlin 2015. 42 Jürgen Kloosterhuis, Preußen, Rheinland und Westfalen. Leitlinien einer Wechselbeziehung, in: Stephan Sensen/Eckhard Trox (Hrsg.), Wir sind Preußen. Die preußischen Kerngebiete in Nordrhein-Westfalen 1609 – 2009, Essen 2009, 5 – 9; ähnlich bereits ders., Freundschaften – Heiraten – Erbschaften. Die Brandenburger als Landesherren am Niederrhein und in Westfalen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Brandenburg, Rheinland, Westfalen. Historische Dokumente einer wechselseitigen Beziehung. Düsseldorf / Potsdam 1993, 33 – 39. 43 Auch im Blick auf die preußische „Spätzeit“ Westfalens hat der Jubilar – schon sehr früh – den Stellenwert landschaftlicher Selbstverwaltung im Spannungsfeld von Regionalismus und gesamtstaatlicher Integration erkundet; vgl. Jürgen Kloosterhuis, Kommunalwirtschaft des Provinzialverbandes Westfalen. Kanalbauten von 1893 bis 1906 als Mittel westfälischer Integrationspolitik, in: Karl Teppe (Hrsg.), Selbstverwaltungsprinzip und Herrschaftsordnung. Bilanz und Perspektiven landschaftlicher Selbstverwaltung in Westfalen, Münster 1987, 189 – 208.

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ihrer relativen Randlage eine zeitweise deutlich nachgeordnete Bedeutung gewannen44. Aus dem vertrauten Umgang mit den im Münsteraner Archiv verwahrten Quellenschätzen entstand eine Fülle materialreicher Untersuchungen, die erneut militärhistorischen Problemen und Themenstellungen vornehmlich des 18. Jahrhunderts galten und damit den vom Jubilar für den preußischen Gesamtstaat vorgetragenen Forschungsansatz aus regionaler Perspektive stützten und ergänzten. Eine in diesem Umfeld entstandene zweibändige Aktenedition, vorrangig aus den Beständen der kleve-märkischen Regierung schöpfend45, vermittelte Einsichten in die rege Wechselbeziehung zwischen „Regimentskultur“ und ziviler Lebenswelt ebenso wie in die mannigfachen, keineswegs hermetisch voneinander abgeschotteten Sozialkontakte der einfachen Soldaten mit Unteroffizieren und höheren Chargen innerhalb eines Regimentsverbands. All das konturierte im Blick auf dessen „Innenleben“ „[…] einerseits einen in sich geschlossenen Sozialkörper in Uniform, der andererseits untereinander und nach außen stark vernetzt war“.46 Ergänzende Detailstudien vermochten darüber hinaus die Modalitäten des preußischen Militärsystems und der Werbepraxis in der Grafschaft Mark zu erhellen47 oder widmeten sich dem uns nun schon geläufigen „Herzensthema“ des Jubilars – der „Regimentskultur“ und ihrem quellenmäßig erfassbaren Niederschlag im Brennspiegel einzelner Truppenformationen48. Einen weiteren Schwerpunkt seiner westfälischen Forschungsinteressen bildete die Beschäftigung mit dem Verwaltungshandeln in der Grafschaft Mark – jenem seit dem späten 14. Jahrhundert im Nordwesten des Reiches zu einer ansehnlichen Landesherrschaft herangewachsenen Territorium, das im Gefolge des von 1609 bis 1614 geführten Jülich-Klevischen Erbfolgestreites an Brandenburg gefallen 44 Dazu eingehend Horst Carl, Okkupation und Regionalismus. Die preußischen Westprovinzen im Siebenjährigen Krieg, Mainz 1993, bes. 21 ff., 417 – 421. 45 Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Bauern, Bürger und Soldaten. Quellen zur Sozialisation des Militärsystems im preußischen Westfalen, 1713 – 1803, Bd. 1: Regesten; Bd. 2: Listen, Münster 1992. 46 J. Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur (Anm. 39), 82. 47 Vgl. etwa Jürgen Kloosterhuis, Von Wesel nach Breslau und Minden. Fridericianische Militärpolitik an der Peripherie im Zusammenhang preußischer Staatsraison, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century. Transactions of the Ninth International Congress on the Enlightenment, Oxford 1996, 1379 – 1383; ders., Zwischen Garbeck und Lobositz. Ein westfälisch-märkischer Beitrag zur militärischen Sozial- und Ereignisgeschichte zur Zeit Friedrichs des Großen, in: Märker 45 (1996), 84 – 97; ders., Porträts, Patente – und Probleme. Ein westfälisch-märkischer Beitrag zur militärischen Quellenkunde der preußischen Armee zwischen 1713 und 1806, in: Ebd. 51 (2002), 61 – 73. 48 Vgl. z. B. Jürgen Kloosterhuis, Leichte Kavallerie „von besonderer Art“. Das Regiment Chevau-Légers (27. Regiment Chasseurs à Cheval) unter dem Regiment des Herzogs Prosper Louis von Arenberg, in: Franz-Josef Heyen/Hans-Joachim Behr (Hrsg.), Die Arenberger. Geschichte einer europäischen Dynastie, Bd. 2: Die Arenberger in Westfalen und im Emsland, Koblenz 1990, 77 – 94; ders., Zum Beispiel Nummer Neun. Das Hamm-Soester Regiment zu Fuß und sein Platz in einer neuen preußischen Militärgeschichte, in: Norbert Wex (Hrsg.), Soester Schau-Plätze. Historische Orte neu erinnert, Soest 2006, 207 – 218.

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war. Die an prosperierenden Ackerbürgerstädten reiche Region hatte schon zuvor, nach der verwaltungsmäßigen Zusammenlegung von Mark und Kleve (1461), und erst recht seit der Heiratsverbindung der Herzöge von Kleve-Mark mit den Herzögen von Jülich-Berg und Ravenstein 1511, reichhaltiges Aktenschriftgut produziert, das in Form und Inhalt von Jürgen Kloosterhuis mehrfach durch behördengeschichtliche49, politikgeschichtliche50 und aktenkundliche Untersuchungen51 minutiös erschlossen worden ist. Im Spiegel der Akten erscheinen dabei die Alltagsgeschäfte einer frühneuzeitlichen Landesverwaltung mit all ihren großen und kleinen Problemlagen: Ämtervergabe und Pfandgeschäfte, landesherrliche Finanznöte und Mitwirkungsforderungen der Landstände, Bestrebungen zur Rationalisierung der Verwaltung und zur Stabilisierung von Herrschaft, Rechtsprechung und Ökonomie – all das waren die der klevischen Fürstenkanzlei des 16. Jahrhunderts zur Entscheidungsfindung aufgegebenen Themen, und Jürgen Kloosterhuis hat sie aus zahlreichen Urkunden, Briefen und Amtsschreiben für den heutigen Leser erschlossen. Aufsätze und Dokumentationen zur Lokalverwaltung wichtiger Ortschaften der Region – von Lippstadt52, Gladbeck53, Iserlohn54 und Herbede55 bis zu Senden56, Soest57 und 49

Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Fürsten, Räte, Untertanen. Die Grafschaft Mark, ihre lokale Verwaltungsorganisation und die Regierung zu Kleve, in: Märker 35 (1986), 3 – 25, 76 – 87, 104 – 117, 147 – 164; ders./Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Das „Taschenbuch Romberg“. Die Grafschaft Mark in der preußischen Statistik des Jahres 1804, Münster 2001; vgl. auch den Beitrag von Wilfried Reininghaus, Ein „Historisches Taschenbuch“ für Minden-Ravensberg 1767/68. Die Entwicklung der amtlichen preußischen Statistiken im 18. Jahrhundert aus regionaler Perspektive, in diesem Band, 307 ff. 50 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, „Terra et dominio comitis de Marka“. Die Auswirkungen der Schlacht bei Worringen auf die Grafschaft Mark, in: Werner Schäfke (Hrsg.), Der Name der Freiheit 1288 – 1988. Aspekte Kölner Geschichte von Worringen bis heute, Köln 1988, 267 – 274; ders., Köln, Mark und St. Pankratius. Die politischen Beziehungen zwischen den Kölner Erzbischöfen und den Grafen von der Mark aus sakraler Sicht, in: Ferdinand Seibt/Gudrun Gleba/Heinrich Theodor Grütter/Herbert Lorenz/Jürgen Müller/Ludger Tewes (Hrsg.), Vergessene Zeiten. Mittelalter im Ruhrgebiet, Bd. 2, Essen 1990, 44 – 50. 51 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Fürsten, Drosten, Amtsplakate. Untersuchungen zum „Klevischen Kanzleigebrauch“ des 16. Jahrhunderts, besonders am Beispiel Lünener Amtmannsbestallungen, in: Märker 41 (1992), 51 – 63, 112 – 126, 169 – 178; ders., Der „Klevische Kanzleigebrauch“. Beiträge zur Aktenkunde einer Fürstenkanzlei des 16. Jahrhunderts, in: Archiv für Diplomatik 40 (1994), 253 – 334. 52 Jürgen Kloosterhuis, Vom Schnittpunkt ins Abseits. Die Samtstadt Lippstadt im Spiegel der kleve-märkischen und älteren brandenburg-preußischen Überlieferung, in: Archivpflege in Westfalen und Lippe 23 (1985), 147 – 164. 53 Jürgen Kloosterhuis, Leibeigenschaft und Marktwirtschaft. Archivalien und Dokumente zur Gladbecker Geschichte aus dem Staatsarchiv Münster, Gladbeck 1985. 54 Jürgen Kloosterhuis, Iserlohn im Spiegel der Märkischen Register, in: Märker 36 (1987), 225 – 242. 55 Jürgen Kloosterhuis, Fürsten, Vögte, Hofesleute. Das Eigengericht Herbede im Rahmen der märkischen Lokalverwaltung, in: Bruno J. Sobottka (Hrsg.), Haus Herbede in Witten. Umfeld, Denkmal, Bedeutung, Witten 1988, 117 – 179. 56 Jürgen Kloosterhuis, Schwarz-Weiß-Grüne Landgemeinden. Senden und seine Verwaltung in der preußischen Provinz Westfalen, 1815 – 1914, in: Werner Frese/Christian Wermert

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Lüdenscheid58 – brechen diese Forschungsinteressen bis auf die Ebene der Stadtgeschichts- und Stadtteilforschung herunter. Die „westfälischen Bezüglichkeiten“ des Jubilars bündeln sich in seiner großen, 1994 gemeinsam mit Hans-Joachim Behr im Auftrag des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens herausgegebenen Jubiläumsschrift anlässlich der 150. Wiederkehr des Todestages Ludwig Freiherr Vinckes (1774 – 1844), der ab 1815 für fast dreißig Jahre lang die Geschicke der neugeschaffenen preußischen Provinz Westfalen als dessen erster Beamter und Oberpräsident maßgeblich bestimmte59. Durchdrungen „von einem preußisch-protestantisch geprägten Westfalenbewußtsein“, zugleich einem „Ethos des Dienstes und der Pflichterfüllung“ folgend60, bot dieser dem Kreis der Staatserneuerer um den Reichsfreiherrn Karl vom Stein (1757 – 1831) entstammende Verwaltungspraktiker für Jürgen Kloosterhuis das Musterbild eines unermüdlich aktiven Reformers – darin haltungsmäßig übrigens dem roi sergeant nicht unähnlich –, der die Belange „seiner“ Provinz Westfalen mit den Interessen des Gesamtstaates Preußen harmonisch zu verbinden suchte und auf diese Weise nicht nur die Integration der (seit 1815) neupreußischen Gebiete in den hohenzollernschen Staatsverband beförderte, sondern auch von Münster aus Impulse auf die Berliner Zentrale ausgeübt und die dortige Entwicklung mit beeinflusst hat. Das galt vor allem für sein Bemühen um Rücksichtnahme auf den katholischen Bevölkerungsteil in Westfalen – hier fand Vincke auch in anderen Regionen Preußens mancherlei Beachtung und Anerkennung –, doch auch etwa für die von ihm eingeleiteten (und durch theoretisch-programmatische Überlegungen gestützten) Maßnahmen zur infrastrukturellen, sozioökonomischen und industriell-gewerblichen Modernisierung der Region zwischen Weser und Rhein. Aus erneut intimer Aktenkenntnis wies Jürgen Kloosterhuis in diesem Rahmen detailliert nach61, auf welche Weise die frühe, von 1798 bis 1803 währende Amtszeit des „jungen“ Vincke als Landrat im östlichen Teil des (seit 1648) preußischen Fürstentums Minden seine spätere Karriere als oberster preußisch-westfälischer Verwaltungschef in persönlich-privater Hinsicht prägte und präformierte, und wie stark Vincke seinerseits schon da-

(Hrsg.), Senden. Eine Geschichte der Gemeinde Senden mit Bösensell, Ottmarsbocholt, Venne, Senden 1992, 395 – 454. 57 Jürgen Kloosterhuis, Soest und das Réfugié-Regiment de Varenne, 1686 – 1702, in: Ellen Widder (Hrsg.), Soest – Geschichte der Stadt, Bd. 3: Zwischen Bürgerstolz und Fürstenstaat – Soest in der frühen Neuzeit, Soest 1995, 883 – 904. 58 Jürgen Kloosterhuis, Lüdenscheid aus Cöllner Perspektive, in: Der Reidemeister 181 (2010), 1493 – 1498. 59 Vgl. Hans-Joachim Behr/Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Ludwig Freiherr Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen, Münster 1994. 60 Beide Zitate ebd., 1. 61 Jürgen Kloosterhuis, „Westfaleneid“ und „Peines de Coeur“ – Vorgaben für Vinckes Landratsamt, in: Ebd., 19 – 34.

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mals, in seinem Handeln als junger Landrat, zwischen staatlichem Herrschaftsanspruch und lokaler Interessenwahrung zu vermitteln bestrebt war62. V. Den zweifellos anregendsten Beitrag aus dem vierten, diesmal studenten- und korporationsgeschichtlichen Forschungs- und Interessenfeld des Jubilars markiert ein 1998 erschienener, vielbeachteter und kontrovers diskutierter Beitrag zur politischen Verortung der deutschen „Schlagenden“ Studentenverbindungen (also der Burschenschaften, Corps, Landsmannschaften und Turnerschaften) im 19. und 20. Jahrhundert63. Darin diagnostizierte Jürgen Kloosterhuis – „absichtsvoll provokant“ und in „scharf genug geschliffene[r] These“64 zwei grundsätzlich verschiedene Verhaltensmuster in der Beziehung der Korporierten zur jeweils vorherrschenden Ordnung: eine „staatsvisionäre“, die, in Konfrontation zu den bestehenden politischen Verhältnissen, nach deren Überwindung zu Gunsten einer vermeintlich besseren Zukunftswelt strebte – und eine „staatsreale“, der an einer loyalen Einbindung in die existierende politische Wirklichkeit gelegen war. In diesem „zweipoligen System“65 erblickte Jürgen Kloosterhuis einen dem deutschen studentischen Verbindungswesen von Anfang an inhärenten Dualismus; die Korporationen, so sein Befund, beriefen (und berufen sich weiterhin) aufs „Vaterland“, „doch verstanden die einen [vornehmlich die Landsmannschaften und Turnerschaften] darunter den fest vorgegebenen Staat, die anderen aber [besonders die Burschenschaften] eine nach den eigenen Volksvorstellungen variabel definierbare Größe – die Staatsnation oder die Volksnation“66. Die einen orientierten sich an einem teilweise schwärmerisch überhöhten Volksbegriff und standen in latent revolutionärer Ablehnung zur bestehenden Ordnung, die anderen akzeptierten die Realität, waren gesellschaftskonform und zum Dienst am Gemeinwesen bereit – „zur nützliche[n] Thätigkeit in meinem Vaterlande“, wie es der auch hier zum Beispiel genommene Ludwig Freiherr Vincke schon 1794 als Erlanger Student und Mitbegründer des landsmannschaftlich ausgerichteten Westphälischen Kränzchens in seinem Tagebuch festhielt67. Ihre Brisanz gewann diese vom Jubilar herausgestellte „Polarität“ dadurch, dass er die Entwicklungslinien in ihrer historischen Gegenstrebigkeit ins 20. Jahrhundert und bis in 62

Die von Jürgen Kloosterhuis damals (1994) vorrangig ausgewerteten Archivalien, allen voran Vinckes umfängliche Tagebucheintragungen, sind mittlerweile teilweise veröffentlicht worden – allerdings (noch) nicht jene aus den für die Mindener Landratszeit relevanten Jahren. 63 Jürgen Kloosterhuis, „Vivat et res publica“. Staats- und volksloyale Verhaltensmuster bei waffenstudentischen Korporationstypen, in: Harm-Hinrich Brandt/Matthias Stickler (Hrsg.), „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens, Würzburg 1998, 249 – 271. 64 Ebd., 249. 65 Ebd., 259. 66 Ebd., 260. 67 Tagebucheintragung Vinckes vom 7. Februar 1794; Zitat ebd., 256 f.

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die eigene Gegenwart hinein verlängerte. Im Bismarckreich eindeutig dem staatsloyalen Standpunkt verpflichtet, schwenkte die überwiegende Mehrheit der aus dem für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieg 1918 zurückgekehrten Waffenstudenten alsbald zum „volksloyalen“ Verhaltensmuster um und verwarf den neuen, republikanisch verfassten und territorial verstümmelten Staat – was ihr bekanntlich nichts anderes einbrachte als „Gleichschaltung“ und Zwangsauflösung ihrer Verbände durch den neuen, „völkischen“ Staat der Nationalsozialisten. Im Verlauf der 1950er Jahre dann wieder zunehmend „staatsloyal“, bewährten sich die Waffenstudenten in dieser Haltung während der Turbulenzen seit den 1968er Jahren, und – so das Schlussplädoyer des Jubilars im Blick auf vereinzelte neuere Bestrebungen und Tendenzen mancher Burschenschaften – es „sollte ihnen gut anstehen, unbeirrt staatsloyal zu bleiben und nicht […] volksloyal zu oszillieren“68. Dass in dieser Perspektive die Burschenschaften geradezu als „Archetypus moderner Studentenbewegung“69 erschienen, die radikal-revolutionären „Demagogen“ vom Schlage Karl Ludwig Sands (1795 – 1820) und Karl Follens (1796 – 1840) folglich in die Nähe eines Rudi Dutschke (1940 – 1979) und Fritz Teufel (1943 – 2010) gerieten, und diese allesamt wiederum Strukturverwandtschaften sowohl mit den „völkischen“ Republikgegnern vor 1933 als auch mit vereinzelt rechtslastigen Befürwortern einer Überwindung der parlamentarisch-demokratischen Gegenwartsordnung aufwiesen – diese allerdings sehr zugespitzte Schlussfolgerung, die man in letzter Konsequenz aus dem Interpretationsansatz von Jürgen Kloosterhuis ableiten könnte, (was der Jubilar selbst nicht explizit tut), dürfte verständlicherweise nicht bei allen Vertretern des etablierten Waffenstudententums auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Abseits und jenseits von solchen gegenwartsaktuellen Zuspitzungen, die für den Jubilar freilich auch im Blick auf andere Themenbereiche nicht ganz untypisch sind70, kreisen seine Beiträge zur Korporationsgeschichte zumeist um die Hallenser Studentenschaft. Das studentische Leben an dieser 1694 als vierter brandenburgischpreußischen Landesuniversität – nach Frankfurt an der Oder (1504), Königsberg (1544) und Duisburg (1654) – gegründeten, stark vom Geist des Pietismus geprägten 68

Ebd., 271. Ebd., 254. 70 So bei Jürgen Kloosterhuis, Victoria im Preußenjahr, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 38 (2001), 323 – 352. Hier wird die für lange Zeit geläufige Deutung zurückgewiesen, es habe in Preußen ab 1858 eine in der Person der aus England stammenden Prinzessin Victoria (1840 – 1901), Gattin des preußischen Thronfolgers Friedrich Wilhelm (1831 – 1888), verkörperte „britisch-parlamentarische“ Alternative zum monarchisch-konstitutionellen Regierungssystem gegeben. – In einem anderen Beitrag (ders., „Der alte und der junge König“. Warnungen vor einem „Preußen-Film“, in: Ebd. 42 [2005], 245 – 264), weist der Jubilar am Beispiel des 1935 produzierten „Fridericus-Rex-Films“ Der alte und der junge König mit deutlichen, sich auf profunde Aktenkenntnis stützenden Worten darauf hin, wie stark das (vom Jubilar neu entdeckte) Filmdrehbuch, immerhin aus der Feder Rolf Lauckners (1887 – 1954) und Thea von Harbous (1888 – 1954), durch den Regisseur Hans Steinhoff (1882 – 1945) im Sinne einer eilfertigen Anpassung an den seit 1933 opportun erscheinenden Gedanken des „Führerprinzips“ umgedeutet und verfälscht wurde. 69

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Lehr- und Studienanstalt hat ihn immer wieder aus den verschiedensten Blickwinkeln heraus beschäftigt, und man wird in Jürgen Kloosterhuis mittlerweile einen der besten Kenner der Geschichte dieser Alma Mater erblicken dürfen. Sein Augenmerk galt hier den frühen Formen landsmannschaftlicher Zusammenschlüsse jugendlicher Adepten im „Zeitalter der Empfindsamkeit“, vornehmlich (und sicher nicht zufällig) aus Westfalen71 ebenso wie den internen, in Comment und Mensurwesen manifesten Modalitäten korporationsstudentischen Lebens72, doch auch etwa Problemen der nicht immer reibungslos funktionierenden Integration der Korporierten in das sie umgebende städtische Gesellschaftsgefüge. Im Spannungsfeld von Adelsstolz und Bürgerfleiß, Unterschichtenbewusstsein und studentischem Renommiergehabe konnte diese Einbindung harmonisch verlaufen73, aber sie konnte, etwa an der sozialen Schnittstelle von Hörsälen, Fechtböden, Gaststätten und Freudenhäusern, auch durch Tumult und Krawall zeitweise gefährdet sein74. Den für die Forschung vielleicht wichtigsten Beitrag aus diesem Themenfeld legte der Jubilar mit einem voluminösen Inventar vor, das 2011 und 2013 in zwei Bänden des vom Verein für Corpsstudentische Geschichtsforschung (seit 1955/56) herausgegebenen Jahrbuchs Einst und Jetzt erschienen ist75. Es verzeichnet universitäts-, studenten- und korporationsgeschichtlich relevante Überlieferungen „seines“ Berliner Archivs und umfasst den Zeitraum vom Ancien Régime bis zur „Gleichschaltung“ des gesamten Studenten- und Universitätswesens durch die Nationalsozialisten 1934. Berücksichtigt werden dabei alle Akten und Unterlagen, die im Rah71

Vgl. Jürgen Kloosterhuis, „Symbolum: Grün, Schwarz, Weiß“. Quellen zur Geschichte der Guestphalen-Kränzchen in Halle und Erlangen, in: 200 Jahre Corps Guestphalia Halle zu Münster, Münster 1989, 95 – 153, sowie ders., Westfalen – Preußen – Guestphalia. Die Beamten- und Pfarrerfamilien des preußischen Westfalen als gemeinschaftsbildende Faktoren der ersten Guestphalen-Kränzchen, in: Ebd., 37 – 58. 72 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Burschencomment und Mensurverbot. Quellen zur Geschichte des studentischen Fechtens an der Universität zu Halle a. Saale, in: Einst und Jetzt 47 (2002), 137 – 166, und ders., Pudel und Partien. Studentisches Fechten und staatliches Mensurverbot im korporationsgeschichtlichen Wandel, untersucht am Beispiel der Hallenser Neoborussia von 1849 bis 1936, in: Hermann-Josef Rupieper (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 1502 – 2002, Halle (Saale) 2002, 340 – 376. 73 Vgl. z. B. Jürgen Kloosterhuis, Entzifferung von „Couleur-Hieroglyphen“. Zur korporationsgeschichtlichen Auswertung eines Stammbuchs und eines Bilderalbums aus dem Umkreis der Hallenser Neoborussia, ca. 1855/56, in: Einst und Jetzt 43 (1998), 105 – 134. 74 Vgl. z. B. Jürgen Kloosterhuis, Generalmarsch! Die Straßenschlacht zwischen Hallenser Korporationsstudenten und Arbeitern beim Rektoratswechsel 1862, in: Einst und Jetzt 47 (2002), 167 – 173. 75 Jürgen Kloosterhuis, Vivant membra quaelibet! Quellen zur Studenten- und Korporationsgeschichte im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, unter besonderer Berücksichtigung der Universitäten zu Halle a. S., Erlangen und Breslau, I. Teil: Burschenfreiheit und Staatsraison bis 1806, in: Einst und Jetzt 56 (2011), 29 – 84, ders., Vivant membra quaelibet! Quellen zur Studenten- und Korporationsgeschichte im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, unter besonderer Berücksichtigung der Universitäten und Technischen Hochschulen Halle a. S., Breslau und Danzig, II. Teil: Studenten zwischen Volk und Staat, 1808 – 1934, in: Ebd. 58 (2013), 159 – 556.

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men der Universitätsaufsicht seitens der obersten zentralen preußischen Regierungsbehörden, Ministerien und nachgeordneten staatlichen Einrichtungen in den Provinzen für sämtliche auf preußischem Territorium existierende Universitäten und Technische Hochschulen jeweils entstanden sind, wobei erneut ein besonderer Schwerpunkt auf die Universität Halle an der Saale gelegt ist. Jedenfalls steht damit künftigen Forschungen ein Instrumentarium zur Verfügung, das nicht nur den studentischen Alltag in den „preußischen Musenstädten“76 mit seinen zahlreichen Geselligkeitsformen „zwischen Burschenfreiheit und Staatsraison“77 weiter aufzuhellen, sondern auch die Universitäts- und Wissenschaftspolitik der preußischen Kultusverwaltung vor allem des 19. Jahrhunderts in ihren teils restriktiv-disziplinierenden, teils innovativ-modernisierenden Akzentsetzungen präziser freizulegen vermag. VI. Das an Hinweisen zu ungehobenen Aktenschätzen geradezu überbordende studenten- und korporationsgeschichtliche Quellenverzeichnis berührt bereits einen fünften und letzten großen Themenkomplex, den Jürgen Kloosterhuis in seinem bisherigen wissenschaftlichen Werk vorzugsweise bearbeitet hat, und der zurücklenkt auf sein genuines Berufsfeld: das Archivwesen. Zahlreiche Studien hierzu sind unmittelbare Resultate seines Selbstverständnisses als „Archivar und Historiker“. Stets hat er nachdrücklichen Wert auf diese begriffliche Doppelung gelegt und in seinem Wirken die sich daraus ergebenden Verpflichtungen gewissenhaft zu erfüllen versucht. Einer seiner wissenschaftsgeschichtlich aufschlussreichsten Beiträge zeichnet die allmähliche Herausformung dieses spezifischen Berufsprofils nach und verfolgt den von mancherlei Hemmnissen begleiteten Weg zur Anerkennung der „Kompetenz des Archivars als quellenkundlich besonders qualifiziertem Historiker“ im Rahmen der preußischen Archivpolitik des 19. Jahrhunderts78. Eingespannt zwischen die gegenläufigen Interessen von „Provinz“ und „Zentrale“, den Erfordernissen regionaler Überlieferungspflege ebenso verpflichtet wie den Ansprüchen gesamtstaatlicher Integration, vermochten viele führende Vertreter des preußischen Archivdienstes lange Zeit nicht einzusehen, dass die Aufgaben der Wissenschaft und diejenigen der Archivverwaltung durchaus identisch waren und sind. Tatsächlich mochte es vom Olymp des Direktorenpostens weitaus verlockender scheinen, den individuellen Arbeitsschwerpunkt ganz auf die Forschung zu verlagern, anstatt von den vermeintlichen Niederungen des Archivalltags behelligt zu werden. Erst als Heinrich von Sybel (1817 – 1895) – als einer der unmittelbaren Amtsvorgänger

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Ebd. (2011), 33. Ebd., 30. 78 Jürgen Kloosterhuis, Edition – Integration – Legitimation. Politische Implikationen der archivischen Entwicklung in Preußen, 1803 – 1924, in: Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, 83 – 113, hier 105. 77

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das Jubilars – 1875 die Leitung des Geheimen Staatsarchivs übernahm, war der Weg zur Anerkennung der beruflichen Doppelpraxis geebnet. Ganz aus der Praxis erwachsen und für die Praxis geschrieben ist die 1999 allerdings nur in Aufsatzform vorgelegte Aktenkunde des Jubilars – ein Leitfaden für Studenten, Archivare und Historiker, der in stark komprimierter Form, oftmals bloß stichwortartig, das gesamte behördlich-landesherrliche Verwaltungsschrifttum neuzeitlicher Herkunft, von den ersten Anfängen in der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zum Ende der monarchischen Zeit 1918, mit einem Schwerpunkt auf den Hervorbringungen des Ancien Régime, kategorisiert und begrifflich erfasst, zuordnet und beschreibt79. Dabei entspricht es dem „doppelten“ Selbstverständnis des Jubilars, dass er den Anwendungsbereich seines Kompendiums am Schnittpunkt zwischen historischer Hilfswissenschaft und archivwissenschaftlicher Grundlagendisziplin verortet. Andere der archivarischen Berufspraxis des Jubilars entstammende Studien gelten Spezialfragen der Erschließung, Bewertung und Verzeichnung von Archivalien80, Problemen und Perspektiven der Edition und Publikation von Archivschriftgut81 oder dem Erscheinungsbild frühneuzeitlicher „Amtsbücher“, in denen Jürgen Kloosterhuis eine eigenständige, zwischen der (früheren) Urkunde und der (späteren) Akte zu positionierende Überlieferungsform erblickt82. Dass bei alledem immer wieder die Bestände „seines“ Berliner Hauses und dessen Geschichte monographisch in 79

Jürgen Kloosterhuis, Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium, in: Archiv für Diplomatik 45 (1999) 401 – 500. – Selbstverständlich basiert diese „im Zusammenhang des hilfswissenschaftlichen Unterrichts […] an der Archivschule in Marburg […] und […] durch universitäre Übungen in Berlin“ entstandene Arbeit auf einschlägigen Vorgängerwerken. Sie setzt jedoch insofern eigene Akzente, als sie die Erkenntnisse der beiden bis dahin für den preußisch-ostdeutschen (Hans Otto Meissner, Aktenkunde. Ein Handbuch für den Archivbenutzer, Berlin 1935) bzw. den sächsisch-mitteldeutschen Raum (Gerhard Schmid, Aktenkunde des Staates. Lehrbriefe mit Beispielsammlung, 2 Teile, als Manuskript gedruckt, Potsdam 1959) maßgeblichen Handbücher zusammenzuführen sucht. 80 Vgl. z. B. Jürgen Kloosterhuis, Im Spannungsfeld von Form und Inhalt. Herkömmliche Erschließung von Archivalien in der Bundesrepublik Deutschland, in: Archivpflege in Westfalen und Lippe 21 (1984), 11 – 15; ders., Akteneditionen und Bewertungsfragen, in: Andrea Wettmann (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung. Beiträge eines archivwissenschaftlichen Kolloquiums, Marburg 1994, 159 – 179. 81 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Wege zum Archivgut „zwischen Königsberg und Kleve“. Neuzeitliche Aktenpublikationen in gesamtpreußischer Perspektive, in: Zwischen Tradition und Innovation. Strategien für die Lösung archivischer Aufgaben am Beginn des 21. Jahrhunderts, Düsseldorf 2002, 45 – 61. 82 So Jürgen Kloosterhuis, Strukturen und Materien spätmittelalterlicher Amtsbücher im Spiegel von Ordensfolianten, in: Ders./Bernhart Jähnig (Hrsg.), Preußens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren, Marburg 2006, 85 – 121, bes. 91, 98; vgl. ferner bereits ders., Mittelalterliche Amtsbücher: Strukturen und Materien. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium, in: Friedrich Beck/Eckart Henning (Hrsg.), Die archivalischen Quellen. Eine Einführung in ihre Benutzung, 3. Aufl. Weimar 2003, 53 – 73.

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den Blick rücken,83 versteht sich bei einem gelehrten Praktiker wie Jürgen Kloosterhuis beinahe von selbst. VII. Ein resümierender Blick auf das bisherige Schaffen und Wirken des Jubilars offenbart ein außerordentlich umfangreiches Oeuvre, dessen breitgefächerte Palette, bei aller Farbigkeit und Fülle, doch von einigen Leitthemen grundiert wird, die im Vorangegangenen vorgestellt wurden. Dabei ist deutlich geworden, in welch starkem Ausmaß der Hohenzollernstaat seinen Forscherfleiß beflügelt und die verschiedenen Richtungen seines Denkens und Fragens gebündelt und zusammengeführt hat. Wie manch andere Historiker vor und mit ihm, etwa Walther Hubatsch (1915 – 1984) in Bonn84 oder Hans-Joachim Schoeps (1909 – 1980) in Erlangen85, hat auch Jürgen Kloosterhuis in der Auseinandersetzung mit diesem Staat – seinen führenden Repräsentanten ebenso wie seinen prägenden Strukturen und Baugesetzlichkeiten – Respekt vor vielen damit verbundenen Leistungen und Verständnis für manche daraus resultierende Versäumnisse gewonnen86. Dabei erhalten nahezu alle vom Jubilar vorgelegten Forschungsbeiträge ihre Überzeugungskraft durch einen immensen quellengestützten Detailreichtum. Immer wieder hat Jürgen Kloosterhuis – in durchaus programmatischer Absicht – das „Veto-Recht der Quellen“87 eingefordert und gegenüber unpräzisen, fehlerhaften oder verfälschenden Deutungen der historischen Lebenswirklichkeit ins Feld ge-

83 Vgl. z. B. Jürgen Kloosterhuis, Von der Repositurenvielfalt zur Archiveinheit. Die Etappen der Tektonierung des Geheimen Staatsarchivs, mit Anhang: Die Tektonik des Geheimen Staatsarchivs, in: Ders. (Hrsg.), Archivarbeit für Preußen. Symposion der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs preußischer Kulturbesitz aus Anlass der 400. Wiederkehr der Begründung seiner archivischen Tradition, Berlin 2000, 47 – 257; ders., Der Schlüssel zum Geheimen. Die Tektonik-Geschichte des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, in: Ders. (Hrsg.), Streifzug durch Brandenburg-Preußen. Archivarische Beiträge zur kulturellen Bildungsarbeit im Wissenschaftsjahr 2010, Berlin 2011, 461 – 495; ferner Melle Klinkenborg, Geschichte des Geheimen Staatsarchivs vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, hrsg. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2011. 84 Vgl. Frank-Lothar Kroll, Walther Hubatsch und die preußische Geschichte, in: HansChristof Kraus (Hrsg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und nach 1945, Berlin 2013, 435 – 461. 85 Vgl. eingehend Frank-Lothar Kroll, Geschichtswissenschaft in politischer Absicht. Hans-Joachim Schoeps und Preußen, Berlin 2010, bes. 11 ff., 70 ff. 86 Für den Zusammenhang Frank-Lothar Kroll, Sehnsüchte nach Preußen? Preußenbild und Preußendiskurs nach 1945 (2000), wiederabgedruckt in: Ders., Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates, Paderborn/München/Wien/Zürich 2001, 241 – 251; ders., Zur Aktualität Preußens. Der Hohenzollernstaat in der neueren deutschen Geschichtsschreibung, in: Ders./Gustavo Corni/Christiane Liermann (Hrsg.), Italien und Preußen. Dialog der Historiographien, Tübingen 2005, 17 – 23. 87 J. Kloosterhuis, Kantonsystem und Regimentskultur (Anm. 39), 84; ders., Katte (Anm. 17), 93.

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Frank-Lothar Kroll

führt. Wohlfeile psychoanalytische Zerrbilder gerieten dabei ebenso ins Visier88 wie polemische Geschichtsklitterungen fachferner Dilettanten vom Schlage eines Werner Hegemann (1881 – 1936)89, dessen absurde Forderung, aus dem längst erloschenen historischen Aktenstaub „ewige Tatsachen herauszufischen, die für den Deutschen von heute noch Wert haben“90, im Milieu radikaler Preußenkritiker91 immer noch ernsthaft diskutiert wird. Solchen Zumutungen weiß der Jubilar sachkundig zu begegnen, und er vermag dabei die Leser seiner Abhandlungen und die Zuhörerschaft seiner Vorträge nicht selten durch sprachliche Eleganz, ein subtiles Stilgefühl, manchmal gar mit einem augenzwinkernden Humor92 zu erfreuen. Jürgen Kloosterhuis hat sein gelegentlich – verhalten, aber vernehmlich – geäußertes „Bekenntnis zu Preußen“ nicht blind und mit „borussischer Passion“93 ins Blaue hinein heraustrompetet, sondern, konsequent historisierend, an ganz präzise definierte Leistungen, Einstellungen und Gesinnungen gebunden, an ein wertebezogenes Koordinatensystem, dessen Eckpunkte von der Trias „Glaube“, „Maß“ und „Resistenz“ markiert werden94. Jede dieser drei Leitgrößen steht jeweils für sich, ist jedoch mit den beiden anderen durch komplexe Wechselbeziehungen eng verflochten95. „Glaube“ meint in dieser Perspektive eine grundsätzlich religiöse Verankerung allen weltlichen Handelns, verbunden mit dem Leitbild der Toleranz gegenüber Andersgläubigen und Andersdenkenden, dem Ideal der Duldung von Fremden, Ausländern und Verfolgten – wenn denn die neu ins Land gekommenen Untertanen 88

Vgl. J. Kloosterhuis, Katte (Anm. 17), 82. Vgl. ebd., 9, Anm. 9. 90 Werner Hegemann, Das Jugendbuch vom großen König, oder Kronprinz Friederichs [sic!] Kampf um die Freiheit, Hellerau 1930, XXII. 91 Etwa bei Agnieszka Pufelska, „Der Gegner meines Gegners ist mein Freund“. Zur Wahrnehmung Friedrichs in Russland und Polen im 18. Jahrhundert, in: Bernd Sösemann/ Gregor Vogt-Spira (Hrsg.), Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, Stuttgart 2012, 271 – 284. 92 So z. B. Jürgen Kloosterhuis, Pater Bruns. Von Potsdam ins Paradies, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 64 (2013), 159 – 164. Dieser schmale Text beruht auf einem launigen Vortrag, den der Jubilar 2012 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam anlässlich der Buchvorstellung der Memoiren des katholischen preußischen Militärseelsorgers Raymundus Bruns (1706 – 1780) gehalten hat. 93 So Jürgen Kloosterhuis, Schwarz-Weiße Spurensuche. Preußisches in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in: Barbara Schneider-Kempf/Klaus-Peter Schuster/Klaus G. Saur (Hrsg.), Wissenschaft und Kultur in Bibliotheken, Museen und Archiven. Klaus-Dieter Lehmann zum 65. Geburtstag, München 2005, 433 – 442, hier 435. 94 Vgl. Jürgen Kloosterhuis, Platz für Preußen. Polemische Gedanken über den Wilhelmplatz und seine Generalsdenkmäler, in: Wolfgang Voigt/Kurt Wernicke (Hrsg.), Stadtgeschichte im Fokus von Kultur- und Sozialgeschichte. Festschrift für Laurenz Demps, Berlin 2006, 85 – 105, hier 102. 95 Zu entsprechenden Werthaltungen und Einstellungen vgl. in diesem Zusammenhang Frank-Lothar Kroll: Preußische Tugenden – Zwischen Staatsräson und Idealismus, in: Politische Studien 52, Nr. 377 (Mai/Juni 2001), 9 – 18, sowie ders., Militär, Politik und Kultur. Das Janusgesicht Preußens, in: Ders./Bernd Heidenreich (Hrsg.), Macht- oder Kulturstaat? Preußen ohne Legende, Berlin 2002, 9 – 18. 89

Archivar und Historiker

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bereit und willens waren, sich in Dienst und Pflicht nehmen zu lassen und an der gemeinsamen Wohlfahrt des Landes mitzuwirken; „Maß“ empfiehlt sich aus solcher Sicht nicht nur durch Bescheidung in Stunden des Triumphes und der Erfolge, sondern durch die Fähigkeit zum Interessenausgleich, auch und gerade in Fragen der Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit; „Resistenz“ schließlich verknüpft den Willen zu Eigensinn und Widerstand, im zivilen Bereich wie im militärischen Milieu gleichermaßen, mit der Fähigkeit zu Anpassung und Flexibilität, mit „Innovationsbereitschaft und Reformfreude von Eliten, die den Staat evolutionär […] von oben her zu erneuern vermochten“.96 Aus dieser Eigenschaft resultierte die mehrfach unter Beweis gestellte Modernisierungskraft Preußens, die das Land, zumal nach den großen Umbrüchen von 1713 und 1806, zum Erstaunen vieler Zeitgenossen, in einen rasanten Erneuerungsprozess eintreten ließ und sich im gesamteuropäischen Vergleichsmaßstab als fortschrittlich, zukunftsoffen und vielfach vorbildhaft erwies. In der so umrisshaft skizzierten „preußischen Eigenart“97 könnte sich der Jubilar vielleicht wiedererkennen, und auch seine Kollegen und Weggefährten, die Autoren dieser Festschrift, mögen ihm gelegentlich manchen dieser „preußischen“ Charakterzüge zubilligen. Andere Eigenheiten seines Wesens wiederum verweisen eher auf Lebenseinstellungen, die gerne für Bewohner seiner ehemaligen Wahlheimat Westfalen in Anspruch genommen werden: Prinzipientreue und Beharrlichkeit, Redlichkeit und Arbeitsfreude, Zurückhaltung und Zuverlässigkeit, Bodenständigkeit, Gemütstiefe und ein verhaltener Humor. Jürgen Kloosterhuis, der Archivar und Historiker des Hohenzollernstaates – wer ist er also? Ein westfälischer Preuße? Ein preußischer Westfale? Das sagt er uns nicht! Doch vielleicht hat er ungewollt und unbewusst, an einer eher abgelegenen Stelle seines weitverzweigten Oeuvres, einen versteckten Hinweis zur Beantwortung dieser Frage gegeben. In der Konstituzion der Westfälischen Gesellschaft in Erlangen von 1794, welche die aus Westfalen stammenden Studenten – unter ihnen auch den jungen Ludwig Freiherrn Vincke – in der damals zu Preußen gehörenden mittelfränkischen Universitätsstadt zusammenführen wollte, lesen wir bei der Angabe des „Zweck[s] dieser Vereinigung […]“ eine Art Lebensmaxime, in der wir Jürgen Kloosterhuis wiederfinden – und er selbst sich hoffentlich auch. „Wir wollen“, so heißt es da, „auf eine vernünftige Weise vergnügt sein […] und daher die Überzeugung […] lebendig erhalten, daß [der Mensch] nicht bloß für sich selbst da ist, sondern ein Mitglied der großen menschlichen Gesellschaft, zu deren Wohl einen wenn auch nur kleinen Beitrag zu leisten der Zweck seines Daseyns ist; [eingedenk,] daß er ein Vaterland hat, dessen Wohl er zunächst sein Bestreben seyn lassen soll.“98

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J. Kloosterhuis, Platz für Preußen (Anm. 94), 97. Ebd., 94. 98 Zitat nach J. Kloosterhuis, „Vivat et res publica“ (Anm. 63), 257. 97

I. Brandenburg, Preußen und Deutschland

Historische Anmerkungen über das Fußnotenmachen Von Wolfgang Neugebauer, Berlin I. Vor wenigen Jahren hätte niemand vorhergesagt, daß einmal die Frage, ob Fußnoten mit ausreichender Präzision gesetzt worden sind, sogar politische Brisanz erlangen würde1. Wird das Problem, wie wissenschaftliche Befunde und Beweise in den verschiedenen Fachkulturen formuliert werden, mit Kollegen aus den Naturwissenschaften, der Medizin oder der Mathematik diskutiert, begegnet den Vertretern aus den Geistes- und den Sozialwissenschaften bisweilen der Vorhalt, ihre Argumente erweckten den Eindruck, zumindest aber den Beigeschmack der Apologetik. Dieses Bild mag auf den ersten Blick dann entstehen, wenn auf die gerade im 19. Jahrhundert alles andere als einheitlichen oder gesicherten Standards und Usancen hingewiesen wird, die für die Techniken galten, mit denen Forschungsergebnisse formuliert und präsentiert worden sind. Denn im Gegensatz etwa zur immer ausgefeilteren Editionstechnik2 verlief gerade die Geschichte der geisteswissenschaftlichen Fußnote alles andere als linear. Ihre Entwicklung ist integraler Teil der Wissenschafts-, ja vielleicht auch der politischen Geschichte, und erst sehr spät haben sich Normen entwickelt, die heute – im Zeichen sozialwissenschaftlicher Einflüsse aus den USA – wieder in Frage gestellt werden. Im folgenden wird die Praxis in den Geschichtswissenschaften während des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt stehen, die Frage also, wie in historischen Disziplinen Forschungsbefunde in der Formulierung und Darstellung nachgewiesen und belegt worden sind, wobei – ich berühre das hier nur kurz – trotz einer gewissen, in der Literatur bemerkten „semantischen Unschärfe“ von einem weiteren Fußnotenbegriff ausgegangen wird. Zwischen den Belegen auf der jeweiligen Seite oder am Ende eines Bandes, gege1

Bei diesem Text handelt es sich um ein erweitertes und mit Fußnoten ausgebautes Referat, das der Verfasser als Mitglied der Interdisziplinären Arbeitsgruppe „Zitat und Paraphrase“ in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vorgetragen hat. Sehr schnell wurde in der Diskussion deutlich, daß – jenseits vordergründiger Aktualität – das Thema wie eine Sonde in je verschiedene Wissenschaftskulturen genutzt werden kann. – Das Manuskript wurde abgeschlossen im April 2014. 2 Exemplarisch Lothar Gall/Rudolf Schieffer (Hrsg.), Quelleneditionen und kein Ende? Symposium der Monumenta Germaniae Historica und der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 22./23. Mai 1998 (Historische Zeitschrift. Beihefte [Neue Folge], Bd. 28), München 1999, bes. (zur Tradition der Monumenta) 11 ff.

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benenfalls auch separat, wird hier nicht differenziert, es genügt pragmatisch das „Minimum zeichenmäßiger Texttrennung“, von dem Peter Rieß in seiner klassischen Abhandlung gesprochen hat3. Interessieren soll – gemäß der Fragestellung nach wissenschaftlicher Originalität und Seriosität – die Beweis- oder Beglaubigungsfußnote4, nicht die kommentierende (oder die taktierende)5, diejenige also, die „Träger wissenschaftlicher Informationen, aber nicht wissenschaftlicher Betrachtung“ ist6. Es liegt in der Natur der Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, daß dabei im folgenden insbesondere solche Belegformen interessieren, die „Primärquellen“ identifizieren, daneben sodann natürlich die Sekundärliteratur7. Anthony Grafton hat diese primär auf die „technischen Praktiken des Berufsstandes“8 zurückgeführt. Das ist richtig, aber doch viel zu eng, und wenn Grafton später bemerkt, daß Fußnoten nicht nur in stilistischer Hinsicht, sondern auch „in[!] ihren Produktionsbedingungen“ variierten, so bleibt dies zu sehr im Allgemeinen, Unverbindlichen9. Die wissenschaftsgeschichtlichen und wissenschaftspolitischen Bedingungen, die den Zugang zur Quellenüberlieferung bestimmten, wurden bislang nicht nur unterschätzt, sie wurden vollständig übersehen. Die Verwissenschaftlichung der Historie als einer quellenbezogenen Disziplin erzwingt es, die Welt der Quellen, professionell verwahrt in den Archiven und Sammlungen, in unsere Betrachtung als konstituierendes Element während der Fachgenese im 19. Jahrhundert einzubeziehen.

3 Peter Rieß, Vorstudien zu einer Theorie der Fußnote, Berlin/New York 1983/84, 4 Anm. 10, und im Sinne eines weiten Arbeitsbegriffs 10 f.; zur Begrifflichkeit ferner die klassische, aus einem 1906 vor Bibliothekaren gehaltenen Vortrag hervorgegangene Skizze von Adolf Harnack, Über Anmerkungen in Büchern, in: ders., Aus Wissenschaft und Leben, 1. Bd., Gießen 1911, 148 – 162, hier 150 – 152, mit einer Typologie von nicht weniger als 14 Gebrauchsformen, nicht inbegriffen die „Parenthese im Text“ (S. 153); wichtig ferner Jürgen Kaestner, Anmerkungen in Büchern. Grundstrukturen und Hauptentwicklungslinien, dargestellt an ausgewählten literarischen und wissenschaftlichen Texten, in: Bibliothek – Forschung und Praxis 8 (1984), 203 – 226, hier 204 f., zu Terminologie und Begriffsgeschichte. 4 A. Harnack, Anmerkungen (Anm. 3), 160 f. 5 Siehe die ebenso realistische wie köstliche Typologie (aus juristisch-ironischer Sicht) bei P. Rieß, Vorstudien (Anm. 3), 6. 6 A.a.O., 3. 7 Anthony Grafton, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, München 2 1998, 16 f., ferner 33, und 227 mit der Funktions-Metapher des Gesprächs, das nur durch dieses Instrument zwischen Autor und Leser konstituiert werde; zur „Belegverbindung“ als der „Art, wie eine bestimmte Textpassage mit einem dazugehörigen Beleg in der Fußnote verbunden wird“ P. Rieß, Vorstudien (Anm. 3), 20; allgemeiner Wolfgang Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus, zuerst 1982, wieder in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, 58 – 91, hier 84. 8 A. Grafton, Ursprünge (Anm. 7), 17. 9 A.a.O., 26.

Historische Anmerkungen über das Fußnotenmachen

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II. Soviel freilich bleibt richtig: „Das Erscheinen von Fußnoten – und verwandter Mittel wie dokumentarischer oder kritischer Appendices – trennt die moderne Geschichtsschreibung von der traditionellen“, gemeint etwa derjenigen der Antike. In – so noch einmal Grafton – „irgend einer Weise“ hatten dann die „Geschichtswerke“ diejenige „Doppelform“ angenommen, die die Parallelität von darstellendem Text und belegendem (Quellen-)Apparat biete, einem Apparat, in dem nicht nur die Beweismittel angegeben werden, sondern in dem auch begründet wird, warum diesem und nicht jenem Dokument der Vorrang größtmöglicher Werthaltigkeit zukomme10, Geschichtswissenschaft also als „wissenschaftliche Behandlung des empirischen Materials“, als Forschung in dem Sinne praktiziert werde, daß „Temporalität und Kausalität“ im Mittelpunkte stehen, wie dies seit der Aufklärung Praxis geworden ist11. Die Anmerkung von der Hand des Autors gilt als Innovation der Renaissance, seit der Anmerkungen den Bezug zu Quellen als ein Instrument mit Beglaubigungsqualität herstellen12. Schriften zur Jurisprudenz und zur Theologie gingen dabei voran. Das 17. Jahrhundert habe dann die endgültige Etablierung der Fußnote (im heutigen formalen Verständnis) gebracht, und zeitlich parallel tauche – so wird von bibliothekswissenschaftlicher Seite aus argumentiert – im Deutschen erstmals „das Wort Plagiat“ auf, im 17. und im 18. Jahrhundert, wobei auf Thomasius verwiesen wird13. Berühmt sind die Anmerkungen in Edward Gibbons erstmals seit 1776 erschienener mehrbändigen Darstellung über den „Verfall und Untergang des römischen Imperiums“14, die in den ersten beiden Bänden der ersten 10

A.a.O., 35. W. Hardtwig, Verwissenschaftlichung (Anm. 7), 70, 77; zum Fehlen von Fußnoten in der antiken Geschichtsschreibung der klassische Essay aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Michael Bernays, Zur Lehre von den Citaten und Noten, zuerst 1892, wieder in: ders., Schriften zur Kritik und Literaturgeschichte, 4. Bd., Berlin 1899, 253 – 347, hier 323. 12 So schon A. Harnack, Anmerkungen (Anm. 3), 154 – 156, auch in Abgrenzung zu den antiken Scholien; mit Verweis auf die Praxis seit Petrarca siehe Horst Rüdiger, Die Wiederentdeckung der antiken Literatur im Zeitalter der Renaissance, in: Herbert Hunger u. a., Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel, München 21975, 511 – 580, hier 549 f., auch zum Unterschied zwischen Zitat und Plagiat, der seit Petrarca gemacht werde; mit technischen Details (Zitierprobleme bei Papyrusrollen) J. Kaestner, Anmerkungen (Anm. 3), 206 f., mit weiteren Details für die Entwicklung seit dem Hochmittelalter und zur Praxis der Marginalnoten besonders im 16. Jahrhundert, nach S. 209 traten „die ersten Anmerkungen […] in theologischen und juristischen Schriften auf“. 13 J. Kaestner, Anmerkungen (Anm. 3), 212, 214, mit Verweis auf eine Schrift aus dem Jahre 1673. 14 Jetzt leicht greifbar in der Ausgabe Edward Gibbon, Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen, 5 Bde., aus dem Englischen von Michael Walter, München 2003, dazu der Kommentarband wie Anm. 15; dazu schon M. Bernays, Lehre (Anm. 11), 303 – 310; Anthony Grafton, The Footnote from Thou to Ranke, in: History and Theory 33 (1994), Nr. 4, 53 – 76, hier 54, 63; vgl. noch Karl Christ, Von Gibbon bis Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, Darmstadt 1972, 8 – 25, bes. 14. 11

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Wolfgang Neugebauer

Auflage noch am Ende der Bücher gedruckt worden waren15. Sie betrafen, rund 8.000 an der Zahl, primär Quellenverweise, sie sollten die Authentizität der Darstellung verbürgen und die gelehrte Forschungsleistung Gibbons, studierter Kaufmannssohn aus niederadligem Hause16, bezeugen. Er bot „erzählende Geschichte“ auf der Basis von Quellenarbeit, die freilich im Lichte der Fachentwicklung des 19. Jahrhunderts hinsichtlich ihres Standards an Quellenkritik doch noch als „vorwissenschaftlich“ eingestuft werden muß, noch ohne die erst nach seiner Zeit entwickelten Prinzipien der Quellenprüfung einschließlich der Frage, ob die jeweilige Tradition auf ältere Vorlagen zurückgeht17. Das alles kann für unsere Zwecke nur angedeutet werden, und es kann auf sich auch deshalb beruhen, weil die Entwicklungslinie von Gibbon zu Leopold Ranke18 keine direkte ist. Und das aus zwei Gründen. Der erste liegt in der Überschneidungszone von Geschichtsforschung und ästhetischer Literatur, also dem Anspruch, daß die historische Darstellung nicht nur Information zu sein habe, sondern – zumal im Falle zusammenhängender biographischer oder epochenchronologischer „Erzählung“ – auch ein Produkt mit künstlerischer Qualität. Der zweite Grund liegt in den Quellen selbst, genauer: im Quellenzugang und in der Quellenstruktur, die immer wichtiger wird im Zuge der Verwissenschaftlichung, der Quellenkritik und der Erschließung immer weiterer Traditionen und Überlieferungen. Schon Gibbon selbst hatte sich dem Vorwurf ausgesetzt gesehen, daß die große Zahl und die beträchtliche Länge seiner Fußnoten für den Leser eine Unterbrechung des „Genusses“ bedeute19. Die ältere, im 18. Jahrhundert noch lebendige Tradition der (historiographischen) Rhetorik stand quer zum Streben nach Annäherung an das Wahrheitspostulat, nach überindividuell akzeptierbaren und rezipierbaren Resultaten, nach Systembildung und wissenschaftlicher Autonomie20. Als der im Jahre 1810 an die junge Berliner Universität berufene Professor der Geschichtswissenschaft Friedrich Rühs21 im Folgejahr seinen „Entwurf einer Propädeutik des histo15

Wilfried Nippel, Der Historiker des Römischen Reiches: Edward Gibbon (1737 – 1794), in: Edward Gibbon. Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen, Bd. 6, hrsg. v. Walter Kumpmann, München 2003, 7 – 102, mit dem interessanten Kapitel 81 – 88: „Die Fußnoten als Subtext“, 81 f. zu gegen Gibbon erhobenen Plagiatsvorwürfen. 16 K. Christ, Von Gibbon (Anm. 14), 9 f. 17 Nach W. Nippel, Historiker (Anm. 15), 35, 73. 18 Zur Entwicklungslinie von Pierre Bayle über Gibbon zu Justus Möser und Leopold von Ranke: A. Grafton, Ursprünge (Anm. 7), 221, bei Ranke dann die Fußnote als Element dramatischer Forschung. 19 M. Bernays, Lehre (Anm. 11), 312 f. (Hume). 20 In diesem Sinne W. Hardtwig, Verwissenschaftlichung (Anm. 7), 59 – 62. 21 Zu ihm mit weiteren Angaben zu Quellen und Literatur Wolfgang Neugebauer, Traditionen und Programme. Preußische Geschichte an der Universität Unter den Linden, in: Oppenheim-Vorlesungen zur Geschichte Preußens an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. dems., Berlin 2014, 9 – 26, hier 11 – 13.

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rischen Studiums“22 erscheinen ließ, in dem er auch einige knappe und allgemeine Bemerkungen über „das Citiren“ machte, tat er dies in einem Kapitel „Von der historischen Darstellung oder der historischen Kunst“, und er bemühte sich, die Historie von der „Kunst […] wie Poesie und Musik“ oder Beredsamkeit dadurch abzugrenzen, daß er sie an die Kategorie der Kausalität, d. h. der Ursachen geschichtlicher Vorgänge knüpfte23. Nur sehr allgemeine Ratschläge zu der Art, wie Quellen nachgewiesen werden sollten, hat Rühs gegeben24. Rühs versuchte damit geradezu, die Anbringung von Fußnoten zu rechtfertigen, denn selbstverständlich war diese Praxis keinesfalls. „Gegen das Citiren hat man verschiedene Einwendungen gemacht, die aber durchaus nicht Stich halten“, so leitete er seine Forderung ein, „Citate“ mit „Beweiskraft“ zu belegen25. Friedrich Christoph Dahlmann, politischer Professor und einer der Gründungsväter unserer Disziplin, hat 1840 im „Vorwort“ zum ersten Bande seiner dänischen Geschichte die Last des Anmerkungsmachens und -gebens beklagt: „Die Notennoth schleppt Einem wie die Erbsünde nach. Gleichwohl habe ich nicht für das Nachschlagen geschrieben, ich wünsche mir Leser“26. Die Diskussion, ob Nachweise als Anmerkungen an den Schluß der Bände verbannt werden sollten27, so wie es – aus „künstlerischen Gründen“ – Adam Smith und einhundert Jahre später der englische Soziologe Herbert Spencer praktizierten, war ein Symptom für das ungelöste Problem28. Barthold Georg Niebuhr sehnte sich am Ende seines Lebens danach, „eine ganz erzählende Geschichte der Römer zu schreiben, ohne Untersuchung, Erweis und Gelehrsamkeit, wie man sie vor 1800 geschrieben haben würde“29. Ja, selbst für Leopold Ranke ist nachgewiesen worden, daß er sich – trotz allen Quellenzaubers – schwer getan hat mit der Technik der Fußnoten. Bei Ranke, bei dem die „rhetorische Fundamentalstruktur der Aufklärungshistorie […] einer ästhetischen gewichen 22 Friedrich Rühs, Entwurf einer Propädeutik des historischen Studiums, Berlin 1811. Neu hrsg. und eingel. von Hans Schleier/Dirk Fleischer (Wissen und Kritik, Bd. 7), Waltrop 1997, 248 – 260, obiges Zitat 248. 23 A.a.O., 253 f. 24 A.a.O., 257 f. (Reinheit, Klarheit, Kürze, Würde, Lebhaftigkeit). 25 A.a.O., 258. 26 F[riedrich] C[hristoph] Dahlmann, Geschichte von Dänemark, 1. Bd., Hamburg 1840, VIII, im „Vorwort“, ein Band, der gleichwohl durch dichte Anmerkungen und starke Belege zum Text gekennzeichnet ist. 27 Näheres bei M. Bernays, Lehre (Anm. 11), 314. 28 A.a.O., 322 f. (Smith); zur Nachweistechnik vgl. Paul Kellermann, Herbert Spencer, in: Klassiker des soziologischen Denkens, 1. Bd., hrsg. v. Dirk Käsler, München 1976, 159 – 200, 466 – 475, 186 f.: „Im Text selbst setzte er keinen Quellenhinweis, sondern fügte zum Schluß der jeweiligen Bände eine Aufzählung von Stichworten nach einzelnen Paragraphen seiner Schriften an“. 29 Das (schon von Grafton zitierte) Schreiben Niebuhrs vom 17. November 1830 (an den preußischen Kronprinzen), nach archivalischem Fundort und älterem Druck mitgeteilt in: Barthold Georg Niebuhr, Briefe aus Bonn (Juli bis Dezember 1830) (Briefe, Neue Folge 1816 – 1830, hrsg. von Eduard Vischer, Bd. 4), Bern/München 1984, 117; vgl. A. Grafton, Ursprünge (Anm. 7), 83, Ranke: 225.

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ist“ (Daniel Fulda)30, ging es um das Problem, die Forschungsqualität seiner Schriften, die Verwissenschaftlichung der Historie und die Ästhetisierung der Texte31 kompatibel zu halten. „Ranke wurden die Anmerkungen demnach also aufgenötigt“, und er hat gerne die ausführliche Analyse der jeweiligen themenspezifischen Quellen in lange Anhänge ausgelagert32. Was ist hier die These? Zum einen, daß die Forderung nach künstlerischer Qualität der aus Forschung hervorgegangenen Texte – Rühs sprach 1811 trocken von der Forderung nach „ganze[r] Wirkung“33 – in Spannung stand zu den Notwendigkeiten präziser Beweisführung, so daß – Niebuhr bezeugte es – daraus zum anderen die Neigung hervorging, wieder zur fußnotenlosen Publikation zurückzukehren. Johann Gustav Droysen distanzierte sich in seiner Historik von der Dominanz der Ästhetik34; ihm ging es um die „untersuchende Darstellung“ und darum, die „Evidenz des Materials herzustellen“, d. h. Probleme mit gezielter Fragestellung zur Lösung zu bringen35, aber in seiner Historik gibt es eindringliche Ausführungen zu den verschiedenen Typen historiographischer Texte; präzise (oder auch weniger präzise) Anleitungen über das Fußnotenmachen gibt es bei einem Johann Gustav Droysen (natürlich) nicht. Das besagt Grundsätzliches für das Thema von Zitat und Paraphrase in den textbezogenen Disziplinen (zur Zeit des wissenschaftlichen Historismus). Das Postulat der wissenschaftlichen Ästhetik, des „Genusses“ harter Forschungsergebnisse, verweist konkret auf die Wirkung wissenschaftskultureller Kontexte: in diesem Falle auf die Erwartungshaltung eines kaufstarken und lesebereiten (bildungs-)bürgerlichen Publikums; dies erklärt die „ästhetische Fußnotensperre“ in der Epoche der Verwissenschaftlichung an den Quellen. Diese Erwartungen konstruierten Fußnotentechniken mit. Der Erwartungshorizont je verschiedener, disziplinspezifischer Rezipienten verweist auf wissenschaftsexogene Faktoren für die Herausbildung wissenschaftlicher (Zitier-)Standards im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die wissenschaftsendogenen Kausalitäten werden uns sogleich beschäftigen.

30 Aus germanistischer Perspektive Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760 – 1860 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts, Vol. 7), Berlin/New York 1996, 406, zum Begriff der Ästhetik 408 f. (Anm. 23: „Steigerung des Forschungsbezuges“). 31 D. Fulda, a.a.O., 410; vgl. ferner aus der reichen Literatur zu Ranke Rudolf Vierhaus, Leopold von Ranke. Geschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Kunst, in: Historische Zeitschrift 244 (1987), 285 – 298, hier 291 – 294, 292: „Sprachkunstwerk“. 32 A. Grafton, Ursprünge (Anm. 7), 86. 33 F. Rühs, Entwurf (Anm. 22), 259. 34 D. Fulda, Wissenschaft (Anm. 30), 414 f. 35 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methode der Geschichte, hrsg. von Rudolf Hübner, ND der 7. Aufl., Darmstadt 1974, 276 f., 279: „Problemstellung“, Differenz zur Kunst: 284 und 33 ff.: die „historische Frage“; zu den verschiedenen Arten der Darstellung: 143.

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„Auch große Gelehrte gibt es, welche die Anmerkungen hassen und kaum jemals Gebrauch von ihnen machen; aber bedeutender ist die Zahl der Gelehrten, die den Leser mit Anmerkungen überschütten“36, so schreibt Adolf Harnack um 1900, und das, ohne ein Werturteil über den einen oder den anderen Gelehrtentypus damit zu verbinden. Möglicherweise – ich sage das, wie man wohl erkennen kann, mit leicht „fußnotenneurotischer“ Ader37 – unterscheiden sich gerade im Jahrhundert der Verwissenschaftlichung der Historie gute und weniger gute Fachgenossen nicht an dem Kriterium dichter Apparate von Belegen. III. Aber warum? Die, wenn es so paraphrasiert werden darf: ästhetische Fußnotensperre war das eine, Sperren beim Quellenzugang das zweite, in seiner Wirkung (bei gegenwärtigem Forschungsstand) noch nicht zu gewichtende Moment. Dies letztere wurde aber bislang von der (Wissenschafts-)Geschichte, auch derjenigen der Fußnote, übersehen. Bekannt ist, daß erst im Laufe des 19. Jahrhunderts Archive zu Orten der Wissenschaft geworden sind, was gelegentlichen Gebrauch zu historiographischen Zwecken in früheren Jahrhunderten nicht ausgeschlossen hat38. Die berühmte Öffnung des vatikanischen Archivs war nur das prominenteste, und zudem war es ein recht spätes Beispiel für die Wandlung der Archive als Teil der älteren Arkanwelten hinein in die wissenschaftliche Publizität39. Im Prozeß der Verwissenschaftlichung der Historie stand die systematische Erschließung der archivalischen Quellenüberlieferung im Mittelpunkt, sei es für Studien, für Darstellungen oder für Editionen. Deshalb hatte der – sagen wir zunächst: – Umgang mit den schriftlichen „Überresten“ Bedeutung für die Formen, in denen die Informationsgrundlagen nachgewiesen werden konnten. Freilich, trotz eines in letzter Zeit verstärkten Interesses der Forschung, zumal der Archivwissenschaft, an dem Problem, wann und wie die Archive für die wissenschaftliche 36

A. Harnack, Anmerkungen (Anm. 3), 149; vgl. auch J. Kaestner, Anmerkungen (Anm. 3), 216. 37 Im Sinne der juristischen Pathologie bei P. Rieß, Vorstudien (Anm. 3), 16. 38 Zum Ganzen: Dietmar Schenk, „Aufheben, was nicht vergessen werden darf“. Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt, Stuttgart 2013, 91, zur Öffnung im 19. Jahrhundert 100 ff.; jüngst Michael Hochedlinger, Österreichische Archivgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Papierzeitalters (Historische Hilfswissenschaften, Bd. 5), Wien/Köln/Weimar, 421 – 423; zu den wissenschaftlichen Arbeitsbedingungen in europäischen Archiven zur Mitte und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit illustrativen Beispielen Herbert Butterfield, Man on his Past. The Study of the History of Historical Scholarship, Cambridge 2 1969, 80 ff., und die wichtige Studie von Peter Wiegand, Etappen, Motive und Rechtsgrundlagen der Nutzbarmachung staatlicher Archive. Das Beispiel des sächsischen Hauptstaatsarchivs 1834 – 1945, in: Archivalische Zeitschrift 91 (2009), 9 – 54, hier 12, 53: „Schwellenzeit der Archivbenutzung“ 1870 – 1900. 39 Owen Chadwick, Catholicism and History. The Opening of the Vatican Archives, Cambridge usw. 1978, 95.

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Benutzung geöffnet wurden40, gilt dieses Thema tatsächlich als eine Terra incognita, zumal dann, wenn jenseits von Erlassen und ersten Archivordnungen nach der Praxis gefragt wird, die gerade für unser Thema von großem Interesse ist41. Erst wenn dazu der Forschungsstand verändert worden ist, wird beurteilt werden können, ob zur Mitte des 19. Jahrhunderts der Archivzugang in Frankreich und in England tatsächlich liberaler gehandhabt worden ist als in den Staaten Mitteleuropas42. Im Preußen des Vormärz gab es auf ministerieller Ebene sehr wohl die Einsicht, daß das Staatsarchiv seine Schätze den „Gelehrten“ öffnen solle. Im Sommer 1832 wandte sich der Außen- an den Minister des Königlichen Hauses mit einer diesbezüglichen Demarche: „Es erscheint mir in jeder Hinsicht wünschenswerth, daß die bisher in nur allzu hohem Grade Statt gefundene Unzugänglichkeit des Geh. Archivs [,] über welche das gelehrte Publicum sich nicht ohne Grund beklagt hat, aufhöre, damit die in demselben ruhenden Schätze in Zukunft für die Wissenschaft mehr ausgebeutet werden können. Dies würde“, so ließ der Außenminister wissen, „namentlich ein großer Gewinn für die vaterländische Geschichtsforschung seyn, für die, wie bekannt, das Geh. Archiv unerschöpfliche Materialien enthält, welche indeß bis jetzt nur sparsam benutzt worden sind“43. Die Auflagen, unter denen der 40

Z. B. die Langzeitstudie von Michael Scholz, „… dem Besuche der Liebhaber zu öffnen“. Zur Geschichte der öffentlichen Archivnutzung, vor allem in Preußen und der DDR, in: Aus der brandenburgischen Archivalienkunde. Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des Brandenburgischen Landeshauptarchivs (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Bd. 40), hrsg. v. Klaus Neitmann, Berlin 2003, 19 – 43, bes. 24 – 27; sehr zu Recht wurde am bayerischen Beispiel darauf hingewiesen, daß die „Benützerakten […] eine hochinteressante Quelle“ seien, und dies gilt allemal auch in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht, vgl. Gerhard Hetzer, Spannungsfelder und Schnittstellen. Die staatlichen Archive im Königreich Bayern zwischen Verwaltung, Politik und Wissenschaft, in: Peter Wiegand/Jürgen Rainer Wolf/Maria Rita Sagstetter (Red.), Archivische Facharbeit in historischer Perspektive, hrsg. v. Sächsischen Staatsarchiv, (Dresden 2010), 55 – 66, hier 62; als ein Beispiel für den wissenschaftlichen Wert von Benutzerakten für eine Gelehrtenbiographie vgl. Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze (1861 – 1940), in: Das Kaiserreich. Portrait einer Epoche in Biographien, hrsg. v. Michael Fröhlich, Darmstadt 2001, 286 – 298, hier 295 Anm. 2. 41 Vgl. auch P. Wiegand, Etappen (Anm. 38), 10 f. („Unübersichtlich ist vor allem die ältere Entwicklung des praktischen Archivbenutzungsrechts“). 42 So freilich Ernst Schulin, Zeitgeschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert, zuerst 1971, wieder in: ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, 65 – 96, 245 – 252, hier 71. 43 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), III. HA, Abt. III, Nr. 18211 (Akten des Auswärtigen Amtes „betreffend: die an das Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten übergegangene Mitaufsicht über das Geheime Staatsarchiv“, Bd. 1: 1823 – 1844), hier: Konzept des Anschreibens, das der Außenminister an den Minister des Königlichen Hauses, Wittgenstein, am 18. August 1832 richtete und eine Empfehlung für den (Juristen) Lancizolle aussprach; zu den Zugangs- und Arbeitsbedingungen knapp, aber mit Hinweis auf weitere Lit. Wolfgang Neugebauer, Preußen in der Historiographie. Epochen und Forschungsprobleme der preußischen Geschichte, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 1, hrsg. v. dems., Berlin/New York 2009/2010, 3 – 109, hier 35 f.

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Zugang zu den im Königlichen Schloß befindlichen Archivräumen gewährt wurde, betrafen nun aber gerade die Art und Weise, wie zentrale Quellenbestände benutzt, nicht aber zitiert werden durften. Leopold Ranke, seit über anderthalb Jahrzehnten Professor an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, war im Sommer des Jahres 1841 (ohne daß er sich darum beworben oder irgend bemüht hätte) zum „Historiographen des Preußischen Staats“ berufen worden, eine Ehrenstellung, die außer einem kleinen jährlichen Zusatzsalair den Charme besaß, daß er sich aus den königlichen Archiven Urkunden und Akten „mitteilen“ lassen durfte44. Nicht lange danach, und nach einer europäischen Archivreise, wollte Ranke von den neuen Berliner Forschungsmöglichkeiten Gebrauch machen, um sich „die zu einer Geschichte König Friedrichs des Großen dienlichen Materialien“ aus dem Staats- und dem (noch geheimeren) Kabinettsarchiv vorlegen zu lassen. Ranke erhielt Zugang, freilich unter den „von den Herrn Chefs festgesetzten Modalitäten“; sie wurden mit dem Professor besprochen, und dieser versicherte, sie einzuhalten. Selbstverständlich konnte die Benutzung der Dokumente nur in den Archivräumen oder im „Bürozimmer“ des Hausministeriums stattfinden. Alle seine angefertigten Auszüge hatte Ranke dem „Archivcuratorium zur Bestimmung darüber, ob nicht das eine oder das andere Excerpt oder Abschrift von der Publication ausgeschlossen werden müße, vorzulegen“. Sodann hatte der Staatshistoriograph zu versichern, „daß er zu seiner Zeit u[nd] nachdem er diese Abschriften u[nd] Auszüge bei dem von ihm herauszugebendem Werke benützt haben werde, er solche insgesamt und ohne Ausnahme in das Archiv zurückliefern wolle, damit nicht solche Sachen, die er selbst nicht benützen haben wollen, in Privatbesitz verbleiben“45. Das hatte Ranke mit Handschlag zu bekräftigen. Und dann schob – geschickt inszeniert oder auch nicht – der Archivdirektor Georg Wilhelm von Raumer46 noch 44 Mit allen weiteren Belegen und Nachweis des einschlägigen Aktenmaterials: Wolfgang Neugebauer, Die preußischen Staatshistoriographen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts (Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge, Beiheft 8), hrsg. v. dems., Berlin 2006, 17 – 60, hier 41 – 46 und die Edition von Rankes Antwort an den König nach der Ernennung zum amtlichen Historiographen 59 f. (26. August 1841). 45 Das Protokoll, vollzogenes Mundum, eighd. gez. von Ranke und dem Archivdirektor (Georg Wilhelm von) Raumer: GStA PK, I. HA, Rep. 100, Nr. 1720, „verhandelt Berlin am 1. April 1844“, daraus folgende Zitate. Das Stück wird im Anhang vollständig ediert. – Zum damaligen Archivpersonal (in der Quelle ist von einem im Staatskalender nicht auftauchenden Archivkuratorium die Rede) vgl.: Handbuch über den Königlich Preussischen Hof und Staat für das Jahr 1845, Berlin o. J., 63. 46 Zu ihm jetzt (mit Nachweis der Quellen und weiterer Literatur) Klaus Neitmann, Georg Wilhelm von Raumer (1800 – 1856). Preußischer Staatsarchivar und brandenburgischer Landeshistoriker, in: Lebensbilder brandenburgischer Archivare und Historiker (Brandenburgische Historische Studien, Bd. 16), hrsg. v. Friedrich Beck/Klaus Neitmann, Berlin 2013, 40 – 49, hier 40; Paul Kehr, Ein Jahrhundert preußischer Archivverwaltung. Rede, gehalten gelegentlich der Wiedereröffnung des Geheimen Staatsarchivs in seinem neuen Heim zu Berlin-

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etwas ganz entscheidendes nach: „Der unterzeichnete Director der Archive fand sich noch veranlaßt, den Herrn Professor Ranke zu ersuchen, daß er in dem herauszugebenden Druckwerke nicht überall“ (unterstrichen:) „speziell anführen möge, daß dies oder jenes aus einer im hiesigen Archiv beruhenden Quelle herrühre, indem hierdurch allerhand weitere Nachfragen veranlaßt werden könnten, welche besser vermieden würden. Herr Professor Ranke erklärte, dies beachten zu wollen“, so heißt es im Protokoll, datiert vom 1. April 184447. Ranke durfte benutzen, aber es war ihm nicht gestattet, genau mit Angabe des Fundortes zu zitieren und identifizierende, die „Belegverbindung“48 herstellende Fußnoten zu setzen. Das Werk, von dem am 1. April 1844 die Rede war, erschien in drei Bänden 1847/48 unter dem Titel „Neun Bücher Preußischer Geschichte“ und in erweiterter Form sodann in den 1870er Jahren49. Die Fußnotentechnik des Staatshistoriographen folgt präzise den per Handschlag gesicherten Vorgaben, und nur auf diesem Hintergrund wird Rankes Verfahren überhaupt erst verständlich. Wesentliche Quellen und zentrale Dokumente, die Ranke aus preußischen Archiven erstmals bekannt geworden sind, erwähnt und nutzt er50, ohne sie nachzuweisen51. Das, was bis dahin an Quellen längst bekannt war, wird identifizierbar und nachprüfbar in Fußnoten zitiert, aber gerade der innovative, derjenige Teil der eigenen Arbeit, der auf bis dahin nie geöffneten Archivbeständen beruht, bleibt im Halbdunkel des nicht nachprüfbaren Zitats oder der Paraphrase. Das gilt für die erst 1920 im Volltext publizierten politischen Testamente Friedrichs des Großen, die Ranke früh

Dahlem, am 26. März 1924, in: Archivalische Zeitschrift, 3. Folge, 2. Bd., 35 (1925), 3 – 21, hier 9, auch zu Raumers durchaus beachtlichen Forschungen und Editionen. 47 GStA PK, I. HA, Rep. 100, Nr. 1720. 48 Vgl. die Formulierung von P. Rieß oben in Anm. 7. 49 Mit weiteren Nachweisen W. Neugebauer, Preußen in der Historiographie (Anm. 43), 22 – 24; zunächst: Leopold Ranke, Neun Bücher Preußischer Geschichte, 3 Bde., Berlin 1847/ 48, die im folgenden exemplarisch betrachteten Passagen in Bd. 3, 401 ff. („Administration und Armee“, 18. Jahrhundert). 50 Vgl. die in Anm. 49 zitierte Stelle der Erstauflage, die wiederkehrt in der seit 1874 mehrmals gedruckten Fassung Leopold von Ranke, Zwölf Bücher Preussischer Geschichte, 3. Bd., hrsg. von Georg Küntzel, München 1930, 283 – 313; in den Auflagen der 1870er Jahre gab Ranke dann berühmte Quellenstücke, die er erstmals veröffentlichte, als „Analekten“ bei, so z. B. das politische Testament des Großen Kurfürsten von 1667, das 1847 noch fehlt, dann aber gedruckt ist in Leopold von Ranke, Zwölf Bücher Preußischer Geschichte, 1. und 2. Bd. (Leopold von Ranke’s Sämmtliche Werke, 25. und 26. Bd.), Leipzig 1874, 499 – 517. 51 L. Ranke, Zwölf Bücher Preussischer Geschichte (Anm. 50), in der Küntzel-Ausgabe: 3. Bd., 283 f; zum späteren Editionsstand mit Nachweis der Akten: Acta Borussica. Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hrsg. von der Königlichen Akademie der Wissenschaften. (Reihe:) Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, 7. Bd., bearb. von G[ustav] Schmoller und O[tto] Hintze, Berlin 1904 (ND Frankfurt a. M. 1986/87), 552 – 839; zur Zeit von Rankes Aktenbenutzung muß dieser Bestand also im „Ministerialarchiv“ in der Berliner Klosterstraße gelegen haben.

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kannte52, wie für die großen, programmatisch interessanten Behördeninstruktionen gleichermaßen, während – fast eine Kuriosität – bei mehr illustrierenden Akten zur Berliner Wirtschaftspraxis zwar nicht eine Signatur, aber immerhin der Titel der Akte angegeben wird, nach dem das Stück hätte gesucht werden können53. Noch heute kann in vielen Fällen das betreffende Archiv – nach 1848/49 muß das nun separate Hausarchiv bedacht werden – nur erahnt werden54. Auch dabei war Ranke wohl schulbildend, so wie er wirkte (nicht nur) in ganz Europa. Man hat – ich darf einen respektarmen ausländischen Kollegen zitieren – gemeint, daß Quellensammlungen und Aktenbände in Archiven auf Ranke gewirkt hätten „wie Klee auf ein Schwein“55, aber einen Hinweis auf die Lage der Wiesen, auf denen er graste, durfte er nicht geben und gab er nicht. Dabei hat er, wenn auch in noch etwas „divinatorisch“-unsystematischer Technik, große Aktenmassen in europäischen Archiven perlustriert und abschreiben lassen56. Die restriktiven, aber prägenden Bedingungen haben sich nur sehr langsam gelockert. Noch um 1870 galt – ausdrücklich auch für Ranke –, daß Aktenauszüge (nach Gebrauch) grundsätzlich in das Geheime Staatsarchiv zurückgelegt werden müßten57. Die „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“, die Ranke seit 1839 mehrbändig erscheinen ließ, schöpfte zunächst auch aus einer Aktenserie, die er in Frankfurt am Main benutzen konnte, ferner aus Archiven in Weimar, Dresden, Berlin und Dessau, Quellen, die zum Teil schon von älteren Reichshistorikern benutzt worden waren. Das Frankfurter Material konnte er präziser zitieren58, auch ganze Passagen dabei 52

L. Ranke, Neun Bücher (Anm. 49), 3. Bd. 402 f., vgl. ders., Zwölf Bücher Preussischer Geschichte (Anm. 50), 3. Bd., 303 Anm. 1. 53 Beispiel: L. Ranke, Zwölf Bücher Preussischer Geschichte (Anm. 50), 3. Bd., 289 Anm. 2. 54 Etwa a.a.O., 313 Anm. 1 (Zuarbeiten zu den Schriften Friedrichs, 1747). 55 A. Grafton, Ursprünge (Anm. 7), 49 f. 56 Zu Rankes Archivtechnik (aus eigener Anschauung und mit deutlicher Kritik) Ottokar Lorenz, Leopold von Ranke. Die Generationenlehre und der Geschichtsunterricht (Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben kritisch erörtert, 2. Teil), Berlin 1891, 47, 49 f; noch immer unersetzt Hans F. Helmolt, Leopold von Rankes Leben und Wirken. Nach den Quellen dargestellt, Leipzig 1921, 66 f., 82, 122, 134 (zu den 1870er Jahren) und zu Rankes letzter Archivarbeit (1871 für die Erweiterung seiner Preußischen Geschichte); vgl. noch sehr interessant Erika Weinzierl-Fischer, Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv und die Geschichtswissenschaft 1848 – 1867, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 16 (1963), 251 – 280, zu Ranke in Wien in den 1860er Jahren 269 f.; modern, aber nicht weiterführend: Philipp Müller, Ranke in the Lobby of the Archive: Metaphors and Conditions of Historical Research, in: Unsettling History. Archiving and Narrating in History, hrsg. v. Sebastian Jobs/Alf Lüdtke, Frankfurt a. M. 2010, 109 – 125, bes. 117 ff. mit altbekannten Zitaten. 57 Die Stücke aus der Zeit um 1870 in der Akte: GStA PK, I. HA, Rep. 178 (M), V Benutzung, 4a Vol. 11; zum Ganzen noch Helga Fiechtner, Die Öffnung des Preußischen Geheimen Staatsarchivs für die wissenschaftliche Forschung im 19. Jahrhundert. Abschlußarbeit für die Staatsprüfung zum Diplomarchivar am Institut für Archivwissenschaft in Potsdam, (Potsdam) 1958, 14, 20. 58 Vgl. die vorzügliche Ausgabe: Leopold von Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, 6 Bde. (Gesamtausgabe der deutschen Akademie), München 1925/26, vgl.

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mitteilen. Aber eine Untersuchung von Rankes Zitiertechnik zeigt, daß nur knapp zehn Prozent seiner im Reformationswerk gegebenen Fußnoten auf Archivquellen verweisen59. Ganz gewiß war das, was wir dank glücklicher Quellenlage für die Arbeitsbedingungen Rankes in Berlin feststellen konnten, kein Lokalspezifikum, sondern eher epochentypisch in der Zeit der Verwissenschaftlichung der Historie. In Wien, dessen Archive im 19. Jahrhundert europäische Bedeutung und Weite besaßen, war schon durch die Stellung als Haus- und Staatsarchiv Diskretion selbstverständliche (Benutzer-)Pflicht60. Auch hier scheint es keine generelle Bestimmung gegeben zu haben, die ein präzises Zitieren der Quellen verhinderte. In den 1850er Jahren, das wissen wir, ist dort von ministerieller Seite die Benutzungsgenehmigung nur unter der Bedingung erteilt worden, „bei der Publikation die ,Bezugsquelle‘ nicht anzugeben“61. Dies war nirgends generell festgesetzt; ganz offenbar waren es, wie in diesem Falle, gerade (politisch) sensible Themen, bei denen ein – sagen wir: – Nachweisverbot verhängt wurde. In den alten Benutzerakten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs findet man immer wieder, fallweise, „Verbote, gewisse Akten korrekt zu zitieren“, „aber eine generelle Vorschrift diesbezüglich existierte nicht. Dies wurde wohl eher häufig mündlich mitgeteilt“62. In Österreich war es zudem lange üblich, dem Benutzer nicht das ganze Aktenkonvolut, die eigentliche Archiveinheit vorzulegen, sondern aus ihm nur einzelne Stücke (aus dem gewachsenen Zusammenhang heraus) zu geben, so daß also „keine ganzen Faszikel benützt werden durften“. Die Wirkung war die gleiche wie im Falle Berlins. „Diese Benützungspolitik erklärt“, so schreibt der Wiener Historikerarchivar Michael Hochedlinger, „warum in fast allen frühen Publikationen nachvollziehbare Quellenangaben fehlen“63. Dies gilt für Darstellungen und Editionen gleichermaßen. Sogar die Archivdirektoren der zweiten Jahrhunderthälfte haben sich diesem (bis zum Verzicht auf jede „Belegverbindung“ gehenden) Anmerkungsstil unterworfen, Bd. 1, 5*, 78 Anm. 1 (ungenau betr. „Berliner Archiv“), 85, 87, für die Frankfurter Bände: 88 Anm. 1, freilich sind die Frankfurter Fußnoten nicht immer so genau (85 Anm. 2); Paul Joachimsen, Einleitung des Herausgebers, in: A.a.O., Bd. 6, V-CXVII, bes. V ff., XXIX, LXVI. 59 Mit Nachweisen von Literatur: A. Grafton, Ursprünge (Anm. 7), 70, 73 – 75. 60 Siehe die Aktenmitteilung bei Weinzierl-Fischer, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (Anm. 56), 268 Anm. 145a. 61 A.a.O., 258. 62 Freundliche Mitteilung von Herrn Archivdirektor Mag. Thomas Just vom 14. April 2014, dem ich herzlich danke. Das Bayerische Hauptstaatsarchiv in München hat auf meine Anfragen nach der älteren Benutzungs- und Zitierpraxis nicht geantwortet. 63 So M. Hochedlinger, Österreichische Archivgeschichte (Anm. 38), 423; wichtig zu den Benutzungsusancen Ludwig Bittner, Einleitung. Die geschichtliche Entwicklung des archivalischen Besitzstandes und der Einrichtungen des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, in: ders., Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Aufgebaut auf der Geschichte des Archivs und seiner Bestände (Inventare österreichischer staatlicher Archive, V, 4), 1. Bd., Wien 1936, 7*–202*, hier 168*–170* und 179*, erst unter Arneth seien dann nach und nach auch „geschlossene Faszikel“ vorgelegt worden.

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und dieser Befund läßt erste Schlüsse auf den Verbreitungsgrad dieser Praxis zu. Alfred Ritter von Arneth, erst Vizedirektor, dann Direktor am Wiener Staatsarchiv und zu entscheidenden Epochen als Abgeordneter auch politisch aktiv64, verdient um die wissenschaftliche Öffnung der österreichischen Archive, hat sich selbst in seinen nach wie vor unverzichtbaren, da aus dem Archivmaterial geschöpften Publikationen strikt an den Stil der Ranke-Zeit gehalten. Nehmen wir seine zehnbändige „Geschichte Maria Theresias“, die er als Privatarbeit vor Eintritt in die Archivfunktion begann65. In diesem Werk66, dem Band für Band hunderte, zuletzt (Bd. 10) 1156 Endnoten beigegeben sind, wird die Fülle des von der Forschung (erstmals) erschlossenen handschriftlichen Materials auszitiert – aber es wird nicht „mit Belegverbindung“67 nachgewiesen. Die Quellenstücke werden benannt, auch datiert; schon die Fassung, ob Konzept oder Mundum oder Ausfertigung, wird nicht angegeben, so daß der Nutzer, der die Quelle selbst aufsuchen wollte, nicht einmal einen Hinweis auf den Liegeort, ob in dem Bestand des Ausstellers (Konzept) oder im Archiv der Empfängerregistratur (Ausfertigung), erfährt. Bisweilen ersetzt nur der Name des Ausstellers die Typologie des Aktenstücks, nur das Datum, aber keine Bestands- (resp. Repositur-)Angabe macht den Liegeort des Dokuments erahnbar. Hier und da findet sich an einem Quellenzitat der Anmerkungsnachweis „Archiv des Ministeriums des Innern“68 oder es wird auf die ungarischen „Diatalakten“69 verwiesen, aber selbst die Vermutung, Arneth habe damit den großen Bestand der Akten der in Wien nutzbaren Unterlagen der Ungarischen Hofkanzlei gemeint, hilft ja nicht weiter. Kein Zweifel: Arneths Werk (und sein wissenschaftliches Lebenswerk erst recht) ist in Darstellung und Quellennähe nie wieder erreicht worden und von forschungspraktischer Relevanz bis heute. Die Gesamtinterpretation hat sich gewandelt, ohne das Werk zu makulieren. Aber Arneths Archivbelege (nicht seine präziseren Literaturnoten) sind keine Quellennachweise, sondern bestenfalls Quellenhinweise; sie vermitteln in etwa einen Eindruck von dem, woraus er schöpfte; sie beweisen nichts. 64

Zu Arneth vgl. Franz Hutner, Biographien der Archivbeamten seit 1749, in: L. Bittner, Gesamtinventar (Anm. 63), 1 – 166, hier 6 – 11, bes. 7 ff.; M. Hochedlinger, Österreichische Archivgeschichte (Anm. 38), 423; ders., Das k.k. „Geheime Hausarchiv“, in: Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 44), hrsg. v. Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer, München 2004, 33 – 44, hier 40. 65 Alfred Ritter von Arneth, Aus meinem Leben, 2. Bd., Stuttgart 1893, 76 f.; vgl. dazu noch Adam Wandruszka, Maria Theresia: Die große Kaiserin (Persönlichkeit und Geschichte, Bd. 110), Göttingen/Zürich/Frankfurt a. M. (1980), 76 f.; vgl. zur Stellung Arneths im Archiv Alphons Lhotsky, Österreichische Historiographie (Österreich Archiv), Wien 1962, 191. 66 Alfred Ritter von Arneth, Geschichte Maria Theresia’s, 10 Bde., Wien 1863 – 1879. 67 Im Sinne von P. Rieß, Vorstudien (Anm. 3), 20. 68 Alfred Ritter von Arneth, Geschichte Maria Theresia’s, 4. Bd., Wien 1870, 45 mit Anm. 36 auf 511, weitere Beispiele ebda.; oder Bd. 10, Wien 1879, 783, 801 – als Exempel, die beliebig vermehrt werden könnten. 69 Ebda., 4. Bd., 525 Anm. 232, Akten der „königl. ungarischen Hofkanzlei“: Anm. 228.

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Dies gilt nicht nur für Ritter von Arneth, es gilt für einen im Zeitalter der Verwissenschaftlichung ganz üblichen Standard, neben dem zeitlich parallel „modernere“ Zitiertechniken entstehen, vor allem, wenn nahe an rechtswissenschaftlichen Materien und Methoden etwa verfassungsgeschichtliche Forschungen aus gedruckter Überlieferung präsentiert werden70. Sogar Archivdirektoren, nah am Material in jeder Hinsicht, waren Teil derjenigen Wissenschaftskultur ihrer Zeit, deren Logik sich erst dann erschließt, wenn nicht jüngere, gar heutige Maßstäbe ex post vorausgesetzt werden. Nehmen wir Arneths Berliner Kollegen und „kleindeutschen“ Antipoden, den Historiker und Archivdirektor Heinrich von Sybel. Ihm hatte Bismarck im Jahre 1881 höchstpersönlich die „Bestände der Staatsarchive sowie der Registratur des Auswärtigen Amtes geöffnet“, anfänglich mit dem Ziel, eine Aktenedition zur preußischen Geschichte der Jahre 1850 bis 1870 zu schaffen71. Als daraus dann das Opus einer siebenbändigen, ebenso tendenziösen wie erstmals archivalienbasierten Gesamtdarstellung der Einigungsjahrzehnte wurde, blieb auch Sybel die amtliche Vorzensur nicht erspart, und an keiner Stelle weist er die von ihm geöffneten Aktenbestände präzise aus; in den extrem wenigen Anmerkungen verfährt er so, wie es Arneth tat. Als ihm dann für die sensiblen letzten beiden Bände, die zum Jahre 1870 Auskunft geben sollten, die amtlichen Akten entzogen wurden, war er umso mehr darauf verwiesen, seine Kenntnis des amtlichen Materials zu verschleiern72. Heinrich von Treitschke, der große laute Mann des historiographischen Nationalliberalismus, folgte nach jahrzehntelanger Archivarbeit ebenso der Technik des Dissimulierens73. 70 Ein Beispiel von vielen: Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Bd., Kiel 1875, 74 ff. (mittelalterliches Lehnswesen). 71 Konzept zum Erlaß Bismarcks an den Direktor der Staatsarchive vom 19. März 1881 (gez. Bismarck), in: GStA PK, I. HA, Rep. 178, XIV Publikationen, Nr. 45; daß es dabei ursprünglich nicht um den Plan zu einer umfassenden Darstellung, sondern um eine Edition ging, geht aus den Stücken dieser Akte hervor; vgl. noch Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Vornehmlich nach den preußischen Staatsacten, 1. Bd., 4., rev. Aufl., München/Leipzig 1892, IX f., mit weiteren Details; zur Vorzensur vgl. Johanna Weiser, Geschichte der preußischen Archiverwaltung und ihrer Leiter. Von den Anfängen unter Staatskanzler Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1945 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 7), Köln/Weimar/Wien 2000, 68; mit weiterer Lit. W. Neugebauer, Preußen in der Historiographie (Anm. 43), 29. 72 Zu allen Details Rudolf Morsey, Geschichtsschreibung und amtliche Zensur. Zum Problem der Aktenveröffentlichung über die spanische Thronkandidatur der Hohenzollern, in: Historische Zeitschrift 184 (1957), 555 – 572, hier 567 f. 73 Zum Beispiel Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 2. Tl., Leipzig 31886, für die Zeit vor 1819, ein Band und eine Thematik, für die besonders intensive Aktenarbeit nachgewiesen werden könnte, die ja auch erklärt, daß selbst bei ganz modernen und sozialwissenschaftlich-fortschrittlichen Gesellschaftshistorikern des 20. Jahrhunderts das Werk Treitschkes (dessen Quellenkenntnis heute schwerlich erreicht wird) konsultiert und (mehr oder weniger widerwillig) zitiert wird. Daß Treitschke höchstselbst seine Kraft (und seine Physis) am Archivtisch verbrauchte, und das über Jahrzehnte, läßt sich zeigen. Für die Frühzeit Wolfgang Neugebauer, Gustav Schmoller, Otto Hintze und die

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Inwieweit diese Vertreter der quellengestützten Verwissenschaftlichung der Historie ihre Spielräume nutzten, ist im einzelnen noch unbekannt. Die Vorlage und Revision der Exzerpte durch die Archivare war in den Archiven, auch in Bayern und Sachsen, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts üblich74. Dann blieb, wenn geschnitten wurde, nur, aus dem Gedächtnis zu zitieren oder zu dissimulieren, wie dies verschiedentlich (und nicht nur bei Sybel) bezeugt ist75. Präzise und differenzierte Fußnotenbelege waren dann (in mehrfacher Hinsicht) ausgeschlossen. Und ein Weiteres kam hinzu, ein entscheidendes Moment, um Quellenbestände zitierbar und wissenschaftliche Aussagen auf dieser Basis nachprüfbar zu machen. Es bedurfte einerseits der Zugänglichkeit der Findmittel, der Repertorien für die einzelnen Bestände, um das isolierte Stück (etwa wenn paketierte Akten ohne die Aktenschürze mit der Liegenummer zur Vorlage kamen) doch zitabel zu machen und um den tektonischen Kontext, den Zusammenhang des einzelnen Konvolutes innerhalb des Gesamtbestandes, transparent werden zu lassen. In Österreich oder auch in Sachsen wurde den Forschern noch im frühen 20. Jahrhundert die Einsicht in die Findmittel verweigert76. Das sollte ausgesprochenermaßen „verhindern, dass Benutzer über Dinge publizierten, für die keine Erlaubnis erteilt sei oder Informationen über den Archivbestand an Dritte“ weitergaben77. Arbeit an den Acta Borussica, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 48 (1997), 152 – 202, hier 158; für die Spätzeit (um 1890) Friedrich Meinecke, Autobiographische Schriften, hrsg. von Eberhard Kessel, Stuttgart 1969, 83 („Treitschke las seine Akten mit Emotion …“). 74 In Preußen wurde die Exzerptrevision 1876 abgeschafft, H. Fiechtner, Öffnung (Anm. 57), 47, der Text des Erlasses XXI; Jürgen Kloosterhuis, Edition – Integration – Legitimation. Politische Implikationen der archivischen Entwicklung in Preußen, 1803 bis 1824, in: Das Thema „Preußen“ (Anm. 44), 82 – 113, hier 104; Bayern: H. Fiechtner, Öffnung (Anm. 57), 62; Sachsen: Peter Wiegand, Auf dem Weg zum „Jedermannsrecht“. Zur normativen Entwicklung der wissenschaftlichen Archivbenutzung in Deutschland bis 1945, in: Facharbeit (Anm. 40), 103 – 112, hier 109. 75 Allgemein D. Schenk, Aufheben (Anm. 38), 104; Beispiele für die Notwendigkeit, ohne Notizen zu produzieren: das Verbot an den um die Geschichte der preußischen Handwerkspolitik verdienten Moritz Meyer, im Jahre 1890: GStA PK, VI. HA, NL Schmoller, Nr. 222; oder im berühmten Falle Max Lehmanns im Streit um den Ausbruch des Siebenjährigen Krieges: Waltraut Reichel, Studien zur Wandlung von Max Lehmanns preußisch-deutschem Geschichtsbild (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 34), Göttingen/Berlin/ Frankfurt a. M (1963), 80. 76 M. Hochedlinger, Archivgeschichte (Anm. 38), 423; P. Wiegand, Auf dem Weg (Anm. 74), 105; Bayern: G. Hetzer, Spannungsfelder (Anm. 40), 62 f.; für Preußen s. M. Scholz, Besuche (Anm. 40), 24 f. 77 P. Wiegand, Etappen (Anm. 38), 30, 39, 42, das Zitat 43. – Die Information von Wissenschaftlern untereinander (auch bei massiven Differenzen zwischen ihnen, etwa in politischer Hinsicht) war der einzige Ausweg, wenn archivseitig Informationen (über oder die Akten selbst) verweigert wurden. Im Falle des Göttinger, dann Berner Historikers Alfred Stern sehe ich weniger politische Motive für seine langjährigen Probleme, Akten über die preußische Reformzeit benutzen zu können, als die sehr selbstbezogene Entscheidungspraxis des ebenso liberalen wie antisemitischen Archivars und Historikers Max Lehmann (vgl. W. Neugebauer, Preußen in der Historiographie [Anm. 43], 53 – 57), der in Stern offenbar einen

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Voraussetzung dafür, mittels belegkräftiger Fußnoten analytische oder „erzählende“ Texte auf die Quellenüberlieferung zu beziehen, war, daß die vor allem archivischen Handschriftenbestände, oft hunderte, seit dem 19. Jahrhundert tausende Archivmeter messend, überhaupt zitabel strukturiert waren, d. h. daß der archivische Rationalisierungsprozeß weit genug vorangeschritten war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tobte in Europa der archivarische Kampf um die künftige Logik der Archivtektonik zwischen Pertinenz- und Provenienzprinzip. Ersteres wollte (in mehrteiligen Archiven) alles Schriftgut, gleich welcher Herkunft, nach Sachbetreffen, nach Pertinenzen ordnen, Bestände also auflösen und nach thematischen Gesichtspunkten mischen, womit alle gewachsenen, aber informationshaltigen Zusammenhänge aufgelöst wurden78, im Extrem bis zum einzelnen (aus dem Zusammenhang herausgerissenen) Aktenblatt79. In Preußen und von hier aus weiKonkurrenten auf diesem Arbeitsfeld mit allen, mit archivischen und politischen Argumenten von der Auswertung zentraler Aktenbestände (I, Rep. 77!) abzuhalten versuchte. Die Beliebigkeit der gebrauchten Gründe verweist auf den wirklichen Hintergrund, vgl. alles Weitere in den Akten: GStA PK, I. HA, Rep. 178 (M), Abt. V, Nr. 6, Lit. S, Vol. 1 und 2, aus den Jahren 1878 – 1883). – Übrigens hat es zu dieser Zeit (trotz Antisemitismusstreits) Kontakt zwischen Stern und Heinrich von Treitschke gegeben, die Informationen über die benutzten Bestände ausgetauscht haben (ein eighd., ungedruckter Brief Treitschkes an Stern, dat. Berlin[,] 2. Oktober 1881, Hohenzollernstr. 8, im Besitz des Verf., in dem in sehr eigentümlicher Weise auch Lehmann charakterisiert wird); zu Stern vgl. mit anderer Tendenz H. Fiechtner, Öffnung (Anm. 57), 51 – 53; J. Weiser, Geschichte (Anm. 71), 67; zur Person die Informationen bei Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Faches bis 1970, 2., erg. Aufl., Frankfurt a. M. usw. 1987, 578; zur linksliberalen Tendenz Sterns Andreas Biefang, Der Streit um Treitschkes „Deutsche Geschichte“ 1882/83. Zur Spaltung des Nationalliberalismus und der Etablierung eines national-konservativen Geschichtsbildes, in: Historische Zeitschrift 262 (1996), 381 – 422, hier 407 mit Anm. 50; E. Schulin, Zeitgeschichtsschreibung (Anm. 42), 89. 78 Aus der (für Nichtarchivare) kaum noch überschaubaren Literatur Johannes Papritz, Archivwissenschaft, Bd. 3: Archivische Ordnungslehre, 1. Teil, Marburg 1976, Pertinenz: 1 – 8, auch zu den mit dem Pertinenzprinzip verbundenen (Ordnungs-)Problemen, Nationalarchiv Paris: 3; vgl. Werner Paravicini, Das Nationalarchiv in Paris. Ein Führer zu den Beständen aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit (Dokumentation Westeuropa, Bd. 4), München usw. 1980, 64 f. u. ö.; Hans Kaiser, Das Provenienzprinzip im französischen Archivwesen, in: Archivstudien. Zum siebzigsten Geburtstage von Woldemar Lippert, hrsg. v. Hans Beschorner, Dresden 1931, 125 – 130, bes. 127 ff.; zur in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht entschiedenen Praxis in Preußen J. Kloosterhuis, Edition (Anm. 74), 93; Berent Schwineköper, Zur Geschichte des Provenienzprinzips, in: Forschungen aus mitteldeutschen Archiven. Zum 60. Geburtstag von Hellmut Kretzschmar, hrsg. von der Staatlichen Archivverwaltung im Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten (Schriftenreihe der Staatlichen Archivverwaltung, Bd. 3), Berlin 1953, 48 – 65, hier 49, 63; Bodo Uhl, Die Bedeutung des Provenienzprinzips für Archivwissenschaft und Geschichtsforschung, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 61 (1998) 97 – 122, hier 161. 79 Ein extremes Beispiel: das nach dem Alphabet der Adelsnamen gegliederte „Adelsarchiv“ im Staatsarchiv Königsberg: GStA PK, XX. HA, Adelsarchiv, z. B. die Nr. 20, Bd. IX (v. Auerswald), Nr. 264, Bd. 7 (Dohna), Nr. 605, Bd. 1 und 2 (von Korff); zur Anlage dieses Bestandes (Mülverstedt!) Kurt Forstreuter, Das Preußische Staatsarchiv in Königsberg. Ein

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terwirkend über Europa hinaus fiel (1881) die Entscheidung für das Provenienzprinzip80, das die alte, beim Bestandsbildner erwachsene (Registratur-)Struktur der Bände und Faszikelgruppen intakt ließ und somit dem Benutzer das Instrument in die Hand gab, in der Logik historisch, organisch entstandener „Provenienzen“ gezielt zu recherchieren – und zu zitieren. Das Pertinenzprinzip bedeutet für die Wissenschaftspraxis, daß das nach Sachbetreffen eingeordnete Aktenstück eine Sackgasse ist, da alt-benachbarte Quellenzusammenhänge beseitigt sind; in Frankreich hat dieses Ordnungsprinzip starken Einfluß ausgeübt. Das Provenienzprinzip stärkte den Benutzer (auch gegenüber dem zumal im 19. Jahrhundert eigene wissenschaftliche Wege gehenden Archivar81). Mit der Einführung des Provenienzprinzips und einer festen Repositurenordnung mit gesicherter Tektonik war nun jede Urkunde, jeder Aktenband und jedes Blatt eindeutig zitabel82. IV. Nach alledem ist nun nicht nur feststellbar, sondern auch erklärlich, warum in den archivgestützten Wissenschaften die praktizierten Zitierstandards so lange differierten, wie es Harnack um 1910 drastisch bezeugte83. In den gängigen Lehrbüchern und Einführungen in die historische Methode gibt es bisweilen Kapitel zur Darstellungstechnik84, wie vorher schon bei Droysen85, aber die heute üblichen86 geschichtlicher Rückblick mit einer Übersicht seiner Bestände (Veröffentlichungen der niedersächsischen Archivverwaltung, Heft 3), Göttingen 1955, 61 f. 80 J. Papritz, Archivwissenschaft (Anm. 78), 8 – 16; zur Durchsetzung in Preußen, zunächst am Geheimen Staatsarchiv, Jürgen Kloosterhuis, Eine archivische Revolution. Quellen zur Einführung und Anwendung des Provenienzprinzips im Preußischen Geheimen Staatsarchiv und in den Staatsarchiven in den preußischen Provinzen, 1881 – 1907, in: Archivarbeit für Preußen. Symposion der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz aus Anlass der 400. Wiederkehr der Begründung seiner archivischen Tradition (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Arbeitsberichte 2), hrsg. v. dems., Berlin 2000, 423 – 440, bes. 23 – 439; Klaus Neitmann, Ein unbekannter Entwurf Max Lehmanns von 1884 zur Einführung des Provenienzprinzips in den preußischen Archiven, in: Archivalische Zeitschrift 91 (2009), 59 – 108, hier 59 f. zum Regulativ von 1881, diese Quelle in: Bestimmungen aus dem Geschäftsbereich der K. Preußischen Archivverwaltung (Mitteilungen der K. Preußischen Archivverwaltung, Bd. 10), Berlin 1908, 16 – 20; gut jetzt B. Uhl, Bedeutung (Anm. 78), 98; internationale Ausweitung: B. Schwineköper, Zur Geschichte (Anm. 78), 63 f.; J. Weiser, Geschichte (Anm. 71), 78 f.; zur weiteren Genese der neuen Archivlogik vgl. das Kapitel „Der Werdegang des Herkunftsprinzips im 19. Jh. (französisches Fonds-, niederländisches Registratur- u. preußisches ,Archivkörper‘-Prinzip)“, bei Adolf Brenneke, Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäischen Archivwesens, bearb. von Wolfgang Leesch, Leipzig 1953, 61 – 89. 81 Vom Typus Max Lehmann, vgl. Anm. 77; allgemein P. Wiegand, Etappen (Anm. 38), 28 f. 82 Wie mir Herr Archivdirektor Just (Anm. 62) für die österreichischen Archive bestätigt. 83 Siehe oben bei Anm. 36. 84 Jedenfalls bei Ernst Bernheim, Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der

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Zitierregeln fehlen noch. Erst die „Einführung“ des Wiener Historikers Wilhelm Bauer schuf (1. Aufl. 1921, 2. Aufl. 1928)87, wenn auch noch ohne ausladendes Regelwerk, Abhilfe. Erst langsam zeigt sich eine Konvergenz in der Praxis, und bei manchen Gelehrten von unbestreitbarem Rang, wie etwa Otto Hintze oder Max Weber, stehen beide Praktiken, die fußnotenlose und die anmerkungsdichte, unverbunden nebeneinander88. Vielleicht hat gerade die fußnotenverliebte, von der Rechtsgeschichte und von juristischen Methoden geprägte Historiographie (Typus: Georg Waitz, Georg von Below) zur Konvergenz in der Praxis beigetragen89. Sehe ich richtig, so kam erste Hilfe aber aus der Theologie; mit Adolf Harnacks 1911 erstmals gedruckten „Zehn Geboten für Schriftsteller, die mit Anmerkungen umgehen“90.

Geschichte, (hier benutzt in der) 3. und 4. Aufl., Leipzig 1903, 721 – 741, zu „Darstellung“, „Disposition“ und „Anforderungen der Ästhetik“ – aber nichts zu Fußnoten; ebenso ders., Einleitung in die Geschichtswissenschaft (Sammlung Göschen), 3. Aufl. Berlin/Leipzig 1926, im § 6 „Darstellung“, 178 ff.; einen analogen Befund gibt für unsere Fragestellung Gustav Wolf, Einführung in das Studium der neueren Geschichte, Berlin 1910. 85 Siehe oben Anm. 35. 86 Beispiele: Peter Borowsky/Barbara Vogel/Heide Wunder, Einführung in die Geschichtswissenschaft I: Grundprobleme, Arbeitsorganisation, Hilfsmittel (Studienbücher moderne Geschichte, Bd. 1), Opladen 41980, 100, 188 ff; Erwin Faber/Immanuel Geiss, Arbeitsbuch zum Geschichtsstudium. Einführung in die Praxis wissenschaftlicher Arbeit, Wiesbaden 31996, 166 ff. 87 Wilhelm Bauer, Einführung in das Studium der Geschichte, ND der 2. Aufl. [1928], Frankfurt a. M. 1961, 340 – 356: „XI. Die stilistischen Ausdrucksmittel der Geschichtswissenschaft“, knapp zu Anmerkungen und Zitaten, 343 f. (Zitat = ^ Beleg); zum Verfasser vgl. Martin Scheutz, Wilhelm Bauer (1877 – 1953). Ein Wiener Neuzeithistoriker mit vielen Gesichtern. „Deutschland ist kein ganzes Deutschland, wenn es nicht die Donau, wenn es Wien nicht besitzt“, in: Österreichische Historiker 1900 – 1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftlichen Portraits, (Bd. 1), hrsg. v. Karel Hruza, Wien/Köln/Weimar 2008, 247 – 281, bes. 269. 88 Beispiele: Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen, 3 Bde., 2. bzw. 3. Aufl., hrsg. von Gerhard Oestreich, Göttingen 1962 – 1970, etwa Bd. 1, 1 – 29 (1903), 504 – 529 (1896) Anmerkungen ganz ähnlich wie Jahrzehnte zuvor bei Arneth. 89 Vgl. oben Anm. 70; allgemein für den Prozeß um 1900 Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900 – 1970 (Ordnungssysteme, Bd. 16), München 2005, 94 f., auf die ausgeprägte juristische Fußnotenpraxis weist außerdem hin A. Grafton, Ursprünge (Anm. 7), 37, 41; auch P. Rieß, Vorstudien (wie Anm. 3), 3. Die Entwicklung der Standards, die „Konvergenz“ in der Praxis ist also ein Prozeß der Praxis, wobei dem akademischen Unterricht eine große Bedeutung zugekommen sein wird; vgl. J. Kaestner, Anmerkungen (Anm. 3), 220 (besonders: bei Identifikation der Quellen). 90 A. Harnack, Anmerkungen (Anm. 3), 161 f.; dazu J. Kaestner, Anmerkungen (Anm. 3), 219.

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ANHANG Protokoll, Berlin 1. April 1844 Vollzogenes Mundum, eighd. gez. Ranke, Raumer91. GStA PK I. HA, Rep. 100, Nr. 1720 A rc h i v z u g a n g L e o p o l d R a n k e s . Ve re i d i g u n g. Nachdem die hohen Herrn Chefs des geheimen Staatsarchivs unter den in der Verfügung vom 16. v. M. ausgedrückten Bedingungen92 genehmigt haben, daß dem Herrn Professor Ranke, welcher als Historiograph des preußischen Staats noch nicht beeidigt ist, die zu einer Geschichte König Friedrichs des Großen dienlichen Materialien des geheimen Staats- u[nd] Cabinetsarchivs durch den Director desselben vorgelegt werden sollten, hatte sich heute der Professor Ranke im Dienstzimmer des Ministers de[s]93 Königlichen Hauses eingefunden. Nachdem die von den Herrn Chefs festgesetzten Modalitäten mit dem Herrn Professor Ranke nochmals besprochen waren erklärte derselbe, daß er sich diesen ihm gestellten Bedingungen unterwerfe, namentlich verspreche er hierdurch 1. daß er im Allgemeinen mit den ihm vorzulegenden theils ungehefteten Archivalien ordnungsmäßig umgehen und jedes Stück an seinem Orte so liegen lassen wolle, daß die in den einzelnen Paketen u. Convoluten beobachtete Folgeordnung nicht gestört werde. 2. Daß er ohne erlangte besondere Genehmigung kein Stück oder Packet heraus nehmen wolle, um es außerhalb der bestimmte Locale, nemlich entweder des geheimen Staatsarchivs oder des Bürozimmers des Kön[iglichen] Hausministerii zu benutzen. 3. Daß er alle und jede von ihm aus den vorzulegenden Archivalien zu machenden Auszüge u. Abschriften ohne alle Ausnahme von Zeit zu Zeit dem hohen Archivcuratorium zur Bestimmung darüber, ob nicht das eine oder das andere Excerpt oder Abschrift von der Publication ausgeschlossen werden müße, vorlegen wolle endlich 4. daß er zu seiner Zeit u. nachdem er diese Abschriften u[nd] Auszüge bei dem von ihn herauszugebenden Werke benutzt haben werde, er solche ingesammt und ohne Ausnahme in das Archiv zurückliefern wolle, damit nicht solche Sachen, die er selbst nicht benutzen haben wollen, im Privatbesitz verbleiben. Der Herr Professor Ranke erklärte, alle diese Bedingungen treulich erfüllen zu wollen und er hat dieses mittelst Handschlages bekräftigt. Demgemäß soll mit Vorlegung der zur Einsicht gewünschten Archivalien vorgeschritten werden. Der unterzeichnete Director der Archive fand sich noch veranlaßt, den Herrn Professor Ranke zu ersuchen daß er in dem herauszugebenden Druckwerke nicht überall s p e c i e l l anführen möge, daß dies oder jenes aus94 einer im hiesigen Archiv beruhenden Quelle her91

Vgl. oben Anm. 46. Nicht bei diesen Akten. 93 So! Die folgenden Worte korrigiert aus „der auswärtigen Ang.“; das „der“ ist irrigerweise unverändert geblieben. 94 Korrigiert aus „auf“. 92

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rühre, indem hierdurch allerhand weitere Anfragen veranlaßt werden könnten, welche beßer vermieden würden. Herr Professor Ranke erklärte, dies beachten zu wollen. Demnach ist dieses vorgelesen, genehmigt u. unterschrieben.95

95 Bei diesem Stück liegt a.a.O. ein Zettel mit dem Vermerk: „conf. Acta betr. die Benutzung des geheimen StaatsArchivs durch den Professor Ranke Archivwesen Nr. 145a“ – Diese Akte ist offenbar nicht erhalten (Auskunft zum Zeitpunkt der Benutzung).

Die Oranische Erbschaft in der Politik Friedrichs III./I. Von Peter Baumgart, Würzburg Der Erwerb der preußischen Königswürde und die Durchsetzung ihrer Anerkennung bei den deutschen Reichsständen wie den europäischen Mächten blieb die allen anderen Zielen übergeordnete außenpolitische Leitidee während der 25jährigen Regierung des Kurfürsten und Königs Friedrich III./I. (1688 – 1713). Der ungeliebte Nachfolger des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm und Sohn aus dessen Ehe mit der Prinzessin Louise Henriette von Nassau-Oranien verfocht diesen Leitgedanken ungeachtet seiner schwachen körperlichen Konstitution und starken Abhängigkeit von wechselnden Beratern mit erstaunlicher Zielstrebigkeit und seltener Beharrlichkeit. Gegen alle äußeren und inneren Widerstände, die bis in die eigene Familie, bis zu seiner welfischen Gemahlin Sophie Charlotte (1668 – 1705) und zum Kurprinzen Friedrich Wilhelm reichten, vermochte er seine Selbstkrönung in Königsberg als „König in Preußen“ durchzusetzen1. Mächtige Zeittendenzen ebenso wie die politische Mächtekonstellation in Europa um 1700 mussten sein Streben nach der Krone außerordentlich befördern. Tatkräftig unterstützt von seinen Hauptberatern im eigens dafür eingerichteten „Dignitätsconseil“, dem zweiten „Premierminister“ Kolbe von Wartenberg und dem sachkundigen „Staatssekretär“ Heinrich Rüdiger (von) Ilgen, gelang es Friedrich in langen zähen Verhandlungen seines Wiener Gesandten Bartholdi Kaiser Leopold I. (1657 – 1705) für sein Kronprojekt zu gewinnen2. Die vertragliche Basis für eine kaiserliche „Agnostizierung“ anstelle der von Wien bevorzugten „Creierung“ der Königserhebung im seit dem Frieden von Oliva (1660) von Polen lehnsunabhängigen Herzogtum Preußen, mithin außerhalb des Reiches, bot der nachträglich so genannte Krontraktat vom 16. November 17003. Dieser war seiner Substanz nach eine Erneuerung des geheimen väterlichen Defensivbündnisses von 1686 mit dem Hause Österreich zur Unterstützung der österreichischen Ansprüche auf das zwischen den Habsburgern in 1 Dazu zusammenfassend und mit der älteren Literatur Peter Baumgart, Die preußische Königskrönung von 1701, das Reich und die europäische Politik (1987), jetzt in: Brandenburg-Preußen unter dem Ancien régime. Ausgewählte Abhandlungen, hrsg. v. Frank-Lothar Kroll, Berlin 2009, 224 – 245; zuletzt noch, zur Thematik wenig einschlägig, Susan Richter, The Prussian Royal Coronation – A Usurpation of Ceremonial?, in: Ritual Dynamics and the Science of Ritual III, hrsg. v. Axel Michaels, Wiesbaden 2010, 561 – 573. 2 Vgl. P. Baumgart, Königskrönung (Anm. 1), 227 f., 230 ff. 3 Abdruck des Vertrages bei Theodor von Moerner (Bearb.), Kurbrandenburgs Staatsverträge von 1601 bis 1700, Berlin 1867 (Neudruck 1965), Nr. 443.

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Wien und den Bourbonen strittige, aber in Kürze beim Aussterben der Madrider Linie zu erwartende gewaltige spanische Erbe in Europa wie in Übersee. Im Falle eines militärischen Konflikts sollte ein brandenburgisches Truppenkontingent von 8000 Mann gegen Subsidienzahlungen zur Hilfe für den Kaiser mobilisiert werden4. Dem Vertragswerk des Hohenzollern mit Kaiser Leopold I. war ein Separatartikel5 angefügt, der unmittelbar auf die Oranische Erbschaft zielte, die der Kurfürst/ König, wie sich alsbald zeigen sollte, kaum minder beharrlich anstrebte als die preußische Königskrone. Friedrich erbat darin für sich die kaiserliche Unterstützung beim Anfall der Oranischen Erbschaft im Falle des Ablebens seines oranischen Vetters Wilhelm III., des englischen Königs und niederländischen Statthalters: „Für den Fall, da der jetzige König von Engelland [Wilhelm III.], ohne Hinterlassung ehelicher Leibeserben und descendenten versterben sollte“, begehre er [Friedrich], „dass Ihre Kayserl. Majest. eveniente casu Ihro [Hoheit] auch zu Behauptung solches ihres Erbrechts die hilffliche hand böthen“. Kaiserliche Hilfestellung erwartete der Kurfürst insbesondere beim Erwerb der auf Reichsboden gelegenen Grafschaften Lingen und Moers, außerdem für die „unter spanischer Bottmäßigkeit situierten Orangischen Güttern“, sofern die brandenburgischen Ansprüche darauf zu Recht beständen. Daran allerdings zweifelte Friedrich nicht, denn er besäße „ein unstrittiges ius succedendi“ an Wilhelms III. „sämtlichen Erblanden, gütern und gantzen verlassenschaft“. Der Hohenzoller hielt also die Oranische Erbschaft6 für wichtig genug, um sie auch im Rahmen seines Lieblingsprojektes zu verfolgen und nach Kräften zu fördern. Er sah sie im Kontext seines ehrgeizigen Strebens nach Standeserhöhung als Sprungbrett zu womöglich noch höheren Zielen7. Er gedachte den Kronerwerb mit dem Oranischen Erbe zu einem groß angelegten „Dessein“ zu verbinden, in dem letztlich die preußische Königswürde mit der Statthalterschaft in den Niederlanden und womög4

Ebd., Nr. 286: Geheime Defensivallianz vom 22. 3. 1686. Konzept bzw. Abschrift des Vertrages vom 16. November 1700 im GStAPK I. HA GR, Rep. 11 Auswärtige Beziehungen, Staatsverträge Nr. 509: Articulus separatus primus (vgl. Anm. 3). 6 Dazu neben der älteren Monographie von Georg Drechsler, Der Streit um die Oranische Erbschaft zwischen König Friedrich I. von Preußen und dem Hause Nassau-Diez und sein Einfluss auf die preußische Politik (1702 – 1732), Leipzig 1913, jetzt Peter Baumgart, König Friedrich I. von Preussen und die Oranische Erbschaft (1702 – 1732), in: Nassau-Diez und die Niederlande. Dynastie und Oranierstadt Diez in der Neuzeit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau, 82), in Verbindung mit Simon Groenveld hrsg. v. Friedhelm Jürgensmeier, Wiesbaden 2012, 134 – 151. – In einzelnen Beiträgen des Sammelbandes aus Anlass des 300. Todestages von Johann Wilhelm Friso 2011 mit Tagung in Schloss Oranienstein-Diez finden sich wiederholt knappe Hinweise auf den Erbschaftsstreit, so namentlich bei Simon Groenveld, Diez, die Niederlande und Leeuwarden (16. bis frühes 18. Jahrhundert), in: ebd., 17 ff., hier 37 f. 7 Dazu Carl Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. König in Preußen. Eine Biographie. Bd. 1, Hamburg 1941 (u. ö.), 76 f. – Die Torso gebliebene Biographie bleibt trotz neuerer biographischer Versuche grundlegend auch für den ersten preußischen König, bes. das Kapitel „Der Staat des ersten Königs“ (ebd., 111 ff.). 5

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lich sogar mit der englischen Krone zu einem hohenzollernschen Herrschaftskomplex verbunden werden sollte. Eine derart ehrgeizige Konzeption überstieg zwar die Möglichkeiten eines brandenburgischen Kurfürsten bei weitem, sie ließ sich in der rauhen Realität des europäischen Mächtesystems nicht verwirklichen und musste daher politische Utopie bleiben, aber als solche ist sie für den gesteigerten Herrschaftswillen des ersten preußischen Königs doch sehr bezeichnend. Die Oranische Erbschaft galt Friedrich jedenfalls als ein wichtiges Instrument für Brandenburg-Preußens weiteren Aufstieg in den kleinen Kreis der europäischen Königreiche. Er verfolgte sie mit kaum minder großer Ambition und Konsequenz als das Königsberger Kronprojekt – wie im Folgenden näher zu zeigen sein wird. Friedrichs Zuversicht, der erste und nächste Erbe Wilhelms III. von Oranien zu sein, war nicht unbegründet. Er stützte sich auf das Testament des Großvaters mütterlicherseits Friedrich Heinrich von Oranien (1584 – 1647)8. Dieser hatte in der Nachfolge seines Vaters Wilhelm I., des „Schweigers“, und dann des älteren kinderlosen Bruders Moritz das Amt des Statthalters der Niederlande ab 1625 inne und als erster Oranier gemeinsam mit seiner Frau Amalia, einer geborenen Gräfin von Solms-Braunfels, in Den Haag eine glanzvolle, auch international anerkannte Hofhaltung etabliert9 und seinem Sohn Wilhelm II. (1626 – 1650) wie seinen vier Töchtern zu hochrangigen Eheverbindungen mit dem englischen Könighaus wie mit deutschen Fürstenhäusern verholfen. Friedrich Heinrichs älteste Tochter Louise Henriette (1627 – 1667) heiratete 1646 den Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg10. In ihrem Ehevertrag (Artikel 4)11 war festgehalten, dass der Braut alle ihre Rechte auf ihr väterliches oder mütterliches Erbe erhalten bleiben sollten. Friedrich Heinrichs Testament12 bestimmte dann im Zuge einer Fideikommissregelung des gesamten oranischen Besitzes für 8 Charakteristik Friedrich Heinrichs bei Horst Lademacher, Geschichte der Niederlande, Darmstadt 1983, 109 ff. 9 Wies Erkelens, Der statthalterliche Hof Friedrich Heinrichs und der Amalia von Solms, in: Onder den Oranje boom. Niederländische Kunst und Kultur im 17. und 18. Jahrhundert an deutschen Fürstenhöfen. Katalogband, hrsg. v. der Stadt Krefeld, der Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg und der Stichting Paleis Het Loo, München 1999, 107 – 130. 10 Ältere Biographie von Toni Saring, Louise Henriette Kurfürstin von Brandenburg 1627 – 1667, die Gemahlin des Großen Kurfürsten, Göttingen 1941; daneben jetzt Ulrike Hammer, Kurfürstin Louise Henriette. Eine Oranierin als Mittlerin zwischen den Niederlanden und Brandenburg-Preußen, Münster 2001. – Unter zahlreichen Biographien nach wie vor Ernst Opgenoorth, Der Große Kurfürst von Brandenburg. Eine politische Biographie, 2 Bde., Göttingen 1971 – 1978. 11 Bernard Woelderink, Ehevertrag vom 7. 12. 1646, in: Onder den Oranje boom (Anm. 9), 211. 12 Zum Testament Susanne Rütten, Die oranische Erbschaft – Friedrich I. als „Prinz von Oranien“, in: Onder den Oranje boom (Anm. 9), 421: „Einander widersprechende Testamente verschiedener Generationen“.

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den Fall des Ausbleibens männlicher Erben die Nachkommen seiner ältesten Tochter Louise Henriette als erbberechtigt. Diese Regelung zugunsten seiner Mutter musste in der Tat Friedrich von Hohenzollern als verbliebenen zweiten Sohn aus ihrer Ehe mit Kurfürst Friedrich Wilhelm als nächst berechtigten Erben ansehen. Er verließ sich bis zuletzt darauf, dass dieses Testament des Oraniers Friedrich Heinrich nach wie vor Gültigkeit besitze. Es blieb ihm jedoch verborgen, dass dieses großväterliche Testament mit demjenigen Wilhelms III. kollidierte, das der englische Monarch und niederländische Statthalter bereits 1695 nach dem Tode seiner Frau, der Königin Mary Stuart (II.) verfasst hatte und bis zu seinem Tod sorgfältig unter Verschluss hielt. Darin bestimmte Wilhelm III. überraschend den damals gerade achtjährigen Johann Wilhelm Friso13 aus der friesischen Linie des Hauses Nassau zu seinem Universalerben. Friso, der 1687 in Dessau geboren wurde, der Geburtsstadt seiner Mutter Henriette Amalie14, einer Prinzessin aus der Dessauer Linie des verzweigten Hauses Anhalt, war der Sohn des Fürsten Heinrich Casimir II. von Nassau-Diez, der als Erbstatthalter der Provinz Friesland in Leeuwarden residierte; er geriet dabei wiederholt in Konflikt mit dem älteren sehr viel mächtigeren Onkel Wilhelm III., der ihn nur als „le pauvre prince de Nassau“ betrachtete15. Nach dem frühen Tod des Vaters 1696 wurde Friso, den zunächst Hauslehrer unterrichteten und der anschließend als gerade Zwölfjähriger an der nahen Hochschule in Franecker, später in Utrecht studierte, zwar sogleich zum friesischen Statthalter bestellt, aber die Generalstaaten setzten die resolute Witwe Henriette Amalie als Vormund bis zur Volljährigkeit Frisos (1707) ein. Im Jahr darauf konnte er außerdem die Statthalterwürde in der benachbarten Nordprovinz Groningen erwerben. Die testamentarische Entscheidung des Generalkapitäns und Statthalters der niederländischen Union zugunsten des wenig profilierten jungen friesischen Statthalters und Fürsten aus der Nebenlinie von Nassau-Diez, die den verwandten und zudem verbündeten Hohenzollern unberücksichtigt ließ, ihn geradezu brüskierte, musste bei Friedrich in Berlin nicht nur herbe Enttäuschung auslösen, sondern veranlasste den Preußenkönig dazu, mit allen politischen wie rechtlichen Mitteln zu versuchen, das Testament des Oraniers zu revidieren.

13 Zur Biographie jetzt der Tagungsbeitrag von Sytze van der Veen, Johann Wilhelm Friso (1687 – 1711) und sein Groninger Favorit Johann Wilhelm von Ripperda (1682 – 1737), in: Nassau-Diez und die Niederlande (Anm. 6), 118 – 133; neuerdings F. J. A. Jagtenberg, Het korte leven van Johan Willem Friso 1687 – 1711, Amsterdam 2011. 14 Klaus Eiler, Fürstin Henriette Amalie von Nassau-Diez und ihre Töchter, in: NassauDiez und die Niederlande (Anm. 6), 171 – 186. 15 S. Groenveld, Diez (Anm. 6), 35; auch Yme Kuiper, Zwischen Republik und Fürstentum. Amtscharisma und militärisches Selbstbildnis Heinrich Casimirs II., in: Nassau-Diez und die Niederlande (Anm. 6), 99 – 117.

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Am 19. März 1702 starb nicht ganz unerwartet Wilhelm III. kinderlos im Londoner Kensington-Palast16. Für die Testamentseröffnung erbat der Brandenburger die Teilnahme seines Londoner Gesandten. Allerdings wartete er die Testamentseröffnung nicht einfach ab, vielmehr hatte er schon lange im Vorhinein immer wieder seine Gesandten am Hofe von St. James’ sowie bei den niederländischen Generalstaaten im Haag beauftragt, wegen eines etwaigen Testaments seines Vetters zu recherchieren und zu berichten, denn es gab wiederholt Spekulationen über den möglichen Inhalt, die Friedrich in Aufregung versetzten und zu hektischen diplomatischen Aktionen veranlassten. Außerdem hatte er über die Jahre Vorsorge getroffen, die ihm und seinem Hause tatsächlich oder vermeintlich zustehenden Schlösser und Ländereien zu übernehmen, denn im Ernstfall wollte er rasch von ihnen Besitz ergreifen und so vollendete Tatsachen schaffen. Bereits 1697, fünf Jahre vor dem Ableben Wilhelms, wies Friedrich seinen außerordentlichen Gesandten in London mit einer geheimen Nebeninstruktion17 an, sich nach dem Gesundheitszustand des englischen Monarchen und seinem privaten Güterbesitz zu erkundigen; vordringlich aber sollte er in Erfahrung bringen, ob Wilhelm ein Testament gemacht habe, „wer darin zum Erben eingesetzet und ob von der Disposition des Testaments von Friedrich Heinrich darin abgegangen“ sei. Aus sicherer Quelle wisse er, dass Wilhelm ein Testament abfassen und ihn (Friedrich) „zum unico haerede“ einsetzen wollte. Die Angelegenheit sei „von der höchsten consequentz vor uns und unser Churfürstl. Hauß“ und daher „der comportanteste punct“ der ganzen diplomatischen Mission in London. Schon 1688 war davon die Rede: Nach einem Bericht des Geheimen Rates Paul von Fuchs18 an den Kurfürsten hatte ihm ein Günstling Wilhelms III., der Herr von Bentinck, Earl of Portland, vertraulich mitgeteilt, dass der englische Monarch vor seiner Abreise „ein testament nach dem fuss des großväterlichen [des Prinzen Friedrich Heinrich] in faveur E. CH. D. machen wolten, ehe Sie aus dem Lande nacher Engelland giengen und daß solches gar gewiß geschehen würde“. Ganz ähnlich lautete der Tenor einer sekreten Nebeninstruktion für den Freiherrn von Canitz im Haag 1698, die Friedrich selbst und Paul von Fuchs unterschrieben und gesiegelt hatten19. Indessen konnte der Gesandte über die Abfassung des Wilhelminischen Testaments „bishero eben nichts gewisses erfahren“. Auch der ständige Gesandte bei den Generalstaaten, Herr von Schmettau, vermochte Näheres über das Testament nicht zu ermitteln, außer „daß selbiges uns favorable sey“. Er erhielt den Auftrag, „Reflexionen auf[zu]setzen“,

16 Dazu die Gesandtschaftsberichte aus London, s. unten (bei Anm. 37); von den zahlreichen Biographien nur Stephen A. Baxter, William III, London 1966; vgl. auch Wies Erkelens, Statthalter-König Wilhelm III., in: Onder den Oranje boom (Anm. 9), 401 f.; außerdem Wouter Troost, Wilhelm III, the Statholder-King. A Political Biography (engl. Übers.), Aldershot 2005. 17 GStAPK I. HA GR, Rep. 64 Oranische Erbschaft Nr. 11. 18 Ebd., Rep. 64 I Oranische Erbschaft Nr. 10: Extrakt des Gutachtens vom 27. Juli 1688. 19 Ebd., Rep. 64 Oranische Erbschaft Nr. 11.

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wie den konkurrierenden Häusern von Nassau, Siegen und Diez zu begegnen sei, „wenn sie etwas praetendiren wollten“. Der Auftrag20 an den Burggrafen Christoph zu Dohna aus dem ostpreußischen Grafengeschlecht von Ende 1698 lautete, er möge während seiner Mission in England ermitteln, ob das großväterliche Testament Friedrich Heinrichs auch gegenüber den letztwilligen Verfügungen seiner älteren, vor ihm verstorbenen Brüder Philipp Wilhelm und Moritz „genugsam gesichert seyen“. Er sollte zudem darauf achten, dass die oranischen Güter unterschiedlichen Rechtsstatus besäßen (Allodial- und Lehnsgüter) und nach den verschiedenen Rechten der einzelnen niederländischen Provinzen behandelt werden müssten. Falls wider Erwarten Wilhelm III. doch ein vom großväterlichen abweichendes Testament verfasst und damit das Sukzessionsrecht geändert habe, möge Dohna herausfinden, „durch was vor raisons und fundamenta man solches destruiren könne“; er solle weiterhin versuchen, einen „königlichen Bedienten“ zu gewinnen, der bereit sei, das Oranische Archiv oder jedenfalls Stücke daraus auszuliefern, außerdem ermitteln, ob es konkrete Vorbereitungen für den Eintritt des Erbfalls gäbe. Sondieren könne er schließlich auch, ob es nicht leichter sei, mit den einzelnen Provinzen als mit den Generalstaaten (dem „Staat“) über die Erbschaft zu verhandeln. Diese Instruktion für Dohna war also schon ganz darauf abgestellt, als stünde der Erbfall unmittelbar bevor. Indessen begnügte sich Friedrich nicht damit, durch seine Diplomaten derartige Erkundigungen einzuholen, vielmehr traf er ganz reale Vorbereitungen, um die beanspruchten Güter bei Eintritt des Erbfalls in Besitz zu nehmen. Bereits 1690 stellte er Vollmachten für eine derartige Besitzergreifung der Grafschaft Lingen an der Ems aus21, die zwar nur vorübergehend unter oranischer Oberhoheit stand, dann aber im Frieden zu Münster 1648 dem Hause zugesprochen wurde. Der Kurfürst rechtfertigte sein Vorgehen mit der uns bereits bekannten Begründung, „dass alle dero eigenen Güter und Herrschaften wegen unserer hochgeb[orenen] Frau Mutter und laut errichteten Fideicommissi auf uns […] fallen“. Eine ähnliche undatierte, aber von ihm selbst und seinem damaligen Premierminister Eberhard von Danckelman unterschriebene Vollmacht ist auch für die Inbesitznahme der Grafschaft Moers überliefert22, die ab 1597 durch den Grafen Moritz in Etappen unter oranische Herrschaft gelangt war. Beide konfessionell stark gemischten Grafschaften hat Friedrich dann sofort nach Eintritt des Erbfalls besetzen lassen, ohne eine vertragliche Regelung abzuwarten.

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Vollmacht und sekrete Nebeninstruktion vom 9./19. November, ebd. Vollmacht vom 20. Juni 1690 für einen Herrn von Dumpfelves(?), ebd., Rep. 64 I Oranische Erbschaft Nr. 10. Zu den beiden Grafschaften neuerdings Rudolfine Freiin von Oer, Oranien-Nassau und die Grafschaft Lingen. In: Oranien-Nassau, die Niederlande und das Reich. Beiträge zur Geschichte einer Dynastie, hrsg. v. Horst Lademacher, Münster 1995, 209 – 221. 22 Undatierte, aber unterschriebene und gesiegelte Vollmacht (Friedrich und Danckelman), GStAPK I. HA GR, Rep. 64 Nr. 11. 21

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Zur Rechtfertigung seiner Vorgehensweise hieß es in einer Denkschrift vom Juli 169923: Selbst wenn das königliche Testament als Erben Friedrich einsetze, dürfe er „dabey nicht stille stehen“, besonders „wegen concurrierenden vielen praetendenten“. Vielmehr müsse er im Todesfall sofort „der hinterbliebenen Güther so viel wie möglich“ in „wirklichen“ Besitz nehmen und ihn dann behaupten, denn die Konkurrenten würden bereits „alle dero kräfte“ anspannen und Vorbereitungen treffen, um in den Besitz der Güter zu gelangen, etwa indem sie sich die zuständigen niederländischen Magistrate durch Geschenke geneigt machten. Die Bestechungen zugänglichen Magistrate ließen sich nicht durch höhere Rechtsansprüche (potioris iuris) beeindrucken, sondern würden die Partei bevorzugen, „welche dero gunst vorhin wird erworben haben“. Der Kurfürst möge daher im Vorhinein Bevollmächtigte bestellen, die kraft ihrer Vollmacht Besitzergreifungen vornehmen könnten. Für Stadt und Grafschaft Lingen sei dies wohl „bereits sufficiente“ geschehen, in der Provinz Holland könne der Gesandte im Haag die Aktion vorbereiten; in der Provinz Seeland hingegen komme es vorrangig darauf an, die Gunst der Magistrate zu gewinnen; die Grafschaft Moers könne von der Regierung in Cleve oder von dortigen Drosten übernommen werden etc. Im übrigen gelte es, einflussreiche Persönlichkeiten unter den jetzigen Räten „bei dem Hoffe von Holland“ zu finden, die das brandenburgische Vorgehen unterstützten, etwa den bei Wilhelm einflussreichen Grafen von der Schulenburg. Bereits auf einer im Juli 1695 einberufenen Konferenz24 wurde die Problematik der Besitznahme von oranischen Gütern und Schlössern erörtert und wohl schon damals wurden noch undatierte, aber vom Kurfürsten unterschriebene Vollmachten für die Besitzergreifungskommission ausgefertigt. Dem kurbrandenburgischen Gesandten im Haag, dem Baron von Schmettau, kam dabei eine Schlüsselrolle zu. Alle diese teils sehr konkreten Vorbereitungen Friedrichs für den Eventualfall wie die bisweilen hektischen Aktivitäten seiner Diplomaten an den Höfen von St. James’ wie im Haag verdeutlichen zur Genüge, mit welcher Entschlossenheit und Intensität der Kurfürst seine Pläne verfolgte. Es wird deutlich, dass die Oranische Erbschaft für ihn keine Nebensache war, sondern zusammen mit der preußischen Königswürde mehr und mehr in das Zentrum seiner außenpolitischen Ziele rückte, zumal sie ihm als Basis für einen weiteren Aufstieg im Kreise der europäischen Mächte dienen sollte. Um sein Ziel zu erreichen, musste er allerdings das Wohlwollen und die Unterstützung des Oraniers Wilhelm besitzen und darüber hinaus nach dessen Tod das Einverständnis der niederländischen Generalstaaten zu erlangen suchen. Es zeigte sich, dass weder der Statthalter-König noch die Generalstaaten für die Pläne des Hohenzollern zu gewinnen waren, und zwar vorrangig aus politischen Erwägungen. 23 „Überlegungen“ vom Juli 1699, ebd., Rep. 64 Nr. 22: Kurfürst Friedrich als „der nächste Blutsverwandte“ Wilhelms zweifele zwar nicht, dass dieser „zu Folge mehr mahls wiederhohlten Zusage“ ihm „bei dero letzten Willen sothanen Antheil der Verlassenschaft zuwenden“ werde, aber… 24 Beratungen am 17. Juli 1695, ebd., Rep. 64 Nr. 11.

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Am Beginn ihrer Regierung ließen sich die persönlich-politischen Beziehungen zwischen den beiden verwandten Fürsten in London und Berlin durchaus günstig an, wie schon zuvor zwischen dem jungen Wilhelm und dem Großen Kurfürsten von Brandenburg als seinem Mitvormund ein ungetrübtes Verhältnis bestanden hatte25. Bereits lange vor dem Regierungswechsel 1688 entwickelte sich ein freundlich-kordialer Briefwechsel zwischen Wilhelm und Friedrich26, der sich im Laufe des ereignisreichen Jahres der „Glorious Revolution“ dann intensivierte, als der Oranier seine Invasion in England vorbereitete, um dort mit dem Einverständnis der Whigs wie der Tories seinen Schwiegervater, den mit Ludwig XIV. von Frankreich verbündeten katholischen Stuartkönig Jakob II. zu stürzen27. Beide Fürsten versicherten sich fortdauernder Freundschaft; politische Konsultationen und Beratungen über die militärische Zusammenarbeit zwischen Wilhelms Vertrautem Bentinck und dem Geheimrat von Fuchs fanden wiederholt in Berlin statt und der Oranier unterrichtete den Brandenburger außerdem über die geheimen Vorbereitungen seiner Invasion in England, die sich wegen ungünstiger Wetterlage bis in den November 1688 verzögerte. Aber bereits Anfang 1689 zeigten sich erste politische Unstimmigkeiten, als der Oranier die Absicht Friedrichs kritisierte28, trotz der Bedrohung des Reiches wie der Niederlande durch den französischen König im Westen für längere Zeit ins ferne Herzogtum Preußen zu reisen. Vorrangig außenpolitische Differenzen mit dem Brandenburger wie dessen ehrgeizige Kronerwerbspläne, aber ebenso Rücksicht auf die Stimmungslage in den Niederlanden selbst, die einen Ausländer schwerlich als künftigen Statthalter akzeptieren wollten, veranlassten dann wohl den Oranier 1695 zur Abfassung seines geheimen Testaments zugunsten des jungen Friso von NassauFriesland29. Unklare Nachrichten über dieses Testament, die nach Berlin drangen, alarmierten den Kurfürsten. Er beauftragte seinen Residenten im Haag, Bondely, „das äußerste zu tun“, um eine Übertragung der Statthalterwürde auf den Prinzen Friso zu verhindern. Bondely konnte daraufhin nur berichten30, dass die vom Oranier angestrebte Lösung 25 W. Erkelens, Statthalter-König (Anm. 16); ausführlicher E. Opgenoorth, Der Große Kurfürst (Anm. 10), Bd. 1, 226 ff. 26 Briefwechsel Wilhelms (III.) mit dem Kurprinzen/Kurfürsten Friedrich ab 1685 (selektiv) im GStAPK I. HA GR, Rep. 64 I Nr. 10. 27 Zum Faktischen nach wie vor informativ Kurt Kluxen, Geschichte Englands, Stuttgart 1968, hier 365 ff. 28 Wilhelm III. an Friedrich, St. James’ 1./11. Januar 1689 (Anm. 26). 29 Wilhelm III. bevorzugte seinen Patensohn Friso, der ihn häufiger besuchte und mit dessen Vater Heinrich Casimir von Nassau-Diez und Statthalter von Friesland er sich kurz vor dessen Tod (1696) ausgesöhnt hatte, wohl vor allem aus politischen Gründen. Er wollte eine preußische Festsetzung in den Niederlanden jedenfalls verhindern, ebenso die Generalstaaten. Deshalb ließ er seinen Vetter und durchaus loyalen Bündnispartner im beginnenden Spanischen Erbfolgekrieg bewusst im Unklaren über die Erbregelung. 30 Bericht bei C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. (Anm. 7), 77 f.

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der Statthalterfrage wohl noch offen sei. Es gebe unter den sieben Provinzen sowohl entschiedene Gegner wie Befürworter einer Statthalterschaft des benachbarten, zudem religionsverwandten Hauses Brandenburg; dieses sei militärisch stark genug, die Republik zu schützen. Bondely empfahl, dass der Kurfürst seinen Kurprinzen Friedrich Wilhelm zu König Wilhelm und auf eine Rundreise durch die Niederlande schicke. Dadurch könne er dem Eindruck entgegenwirken, den Friso durch seine Besuche bei dem Monarchen und Taufpaten offenbar gemacht und so dessen Wohlwollen und Zuneigung erlangt habe. Tatsächlich kam diese Reise des gerade zwölfjährigen Friedrich Wilhelm im Spätsommer 1700 eher gegen den Widerstand des Kurfürsten zustande31, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie in das Erziehungskonzept seiner welfischen Mutter Sophie Charlotte passte, die dann auch, scheinbar zufällig, zusammen mit ihrer Mutter Sophie von Hannover zu der Reisegesellschaft stieß, die unter der Leitung des kurprinzlichen Hofmeisters Alexander Graf zu Dohna stand. Dessen Instruktion32 enthielt neben einem genauen Reiseplan auch hochpolitische Aufträge: Er sollte dem Monarchen die kurbrandenburgische Position in der akuten Spanischen Erbfolge wie im gerade eröffneten Nordischen Krieg erläutern, er sollte außerdem versuchen, Wilhelms in Berlin bekannte Reserve gegenüber dem preußischen Krönungstraktat, der in Wien kurz vor dem Abschluss stand (November 1700), zu überwinden, jedoch die Oranische Erbschaft keinesfalls ansprechen, obschon gerade sie der eigentliche Zweck der „Bildungsreise“ des Kurprinzen war. In seinen Geheimberichten33 an den Kurfürsten schilderte Graf Dohna die wiederholten Begegnungen des jungen Friedrich Wilhelm mit dem gerade fünfzigjährigen, aber bereits stark gealterten Statthalter-König auf den verschiedenen Schlössern Wilhelms (Dieren, Het Loo etc.) sowie bei der Jagd. Sie waren von Bewunderung des Kurprinzen für den gefeierten europäischen Staatsmann und Schöpfer der antiludovizianischen Koalition, vor allem für den ruhmreichen Militär und Feldherrn Wilhelm geprägt, während der Monarch nicht mit Komplimenten und Lob für den Heranwachsenden sparte, den er als bevorzugten Ehrengast behandelte. Aber in den politischen Kernfragen, über die er mit Graf Dohna in separater Audienz sprach, blieb Wilhelm ganz unnachgiebig. Er bezeichnete Friedrichs Lieblingsprojekt, in das dieser seinen Verwandten exklusiv eingeweiht hatte, die „dignité Royale“, als mit „beaucoup d’ inconveniens et nul avantage réel“ behaftet, wovor er seinen Verwandten und Freund Friedrich nur warnen könne. 31 Ebd., dazu Carl Hinrichs, Die Bildungsreise des jungen Friedrich Wilhelm I. in die Niederlande und die preußischen Absichten auf die Statthalterschaft im Jahre 1700, in: FBPG 49 (1937), 39 – 56. 32 Instruktion für den Grafen Dohna vom 22. August 1700 im GStAPK I. HA GR, Rep. 11 Auswärtige Beziehungen Nr. 1828; ebd. die Berichte Dohnas von den Stationen der Reise sowie abschließend ein „Mémoire secretissime qui contient ma négation secrète en Holland […]“. 33 Ebd.; dazu C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. (Anm. 7), 80 ff.; Audienz am 14. September in Het Loo: „L’ audiance que j’ eus du Roy Mardi matin“ (ebd.).

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Weisungsgemäß sprach Dohna weder die Oranische Erbschaft noch die Statthalterschaft an. In seinem Abschlussbericht musste er daher, obschon verklausuliert, eingestehen, hinsichtlich des kurfürstlichen Projekts wenig oder nichts erreicht zu haben, wenngleich der junge Friedrich Wilhelm alles ihm Mögliche getan habe, um das Herz des Königs zu gewinnen. Die für die Bildung des Kurprinzen ertragreiche und wichtige Reise hatte in der Frage der Oranischen Erbschaft und der mit ihr verknüpften Statthalterschaft keinen Fortschritt gebracht34. Die politischen Differenzen zwischen dem Brandenburger und dem Oranier blieben bestehen. Aus der Sicht Wilhelms III. bedeutete Friedrichs Beharren auf dem Krönungsprojekt mit der daraus resultierenden engeren Bindung des Kurfürsten an den habsburgischen Kaiser sowie den daraus entstehenden Kosten vor allem eine Schwächung des wichtigen Bündnispartners in der von ihm geschmiedeten großen Koalition gegen Ludwig XIV. von Frankreich, die die französische Hegemonie in Europa zugunsten eines Gleichgewichtssystems beenden wollte. Dabei hatte er auch den konfessionellen Aspekt im Auge, zumal in den Niederlanden die Nachricht verbreitet wurde, der künftige König in Preußen habe dem Wiener Hof religiöse Konzessionen machen müssen, was Friedrich jedoch strikt zurückwies. Jedenfalls verübelte der Oranier seinem Verwandten die politische Annäherung an das streng katholische Kaiserhaus. Sie trug mit dazu bei, dass der Habsburger die Teilungspläne der Seemächte für das spanische Erbe ablehnen konnte und sich dann nur notgedrungen angesichts der direkten Bedrohung durch Ludwig XIV. zum Bündnis mit den protestantischen Seemächten bereitfand. Auch unter dem positiven Eindruck von der holländischen Reise des preußischen Thronfolgers dachte Wilhelm III. offenbar nicht daran, sein Testament etwa zugunsten des preußischen Verwandten zu ändern oder die Nachfolge in der Statthalterschaft von sich aus neu zu regeln, zumal er dabei mit starken Widerständen bei den Generalstaaten rechnen musste. Dort gab es ohnehin eine prinzipiell statthalterfeindliche Opposition mit der mächtigen Stadt Amsterdam an der Spitze; das Amt war ja schon einmal gänzlich abgeschafft und nur unter dem Eindruck der französischen Invasion erneuert und für Wilhelm ab 1672 mit nahezu diktatorischen Vollmachten ausgestattet worden35. Für die republikanischen Generalstaaten musste überdies die Vorstellung unerträglich sein, dass ein souveräner, quasi absolutistisch regierender Monarch aus dem Reich den umfangreichen Allodial- und Lehnsbesitz oder die Schlösser der Nassau-Oranier im Lande kontrollieren sollte.

34 Der von Dohna in die Verhandlungen eingeweihte Kurprinz Friedrich Wilhelm zeigte diesem gegenüber Bereitschaft, das Oranische Erbe mit dem Nassauer Friso zu teilen, Friso solle seinen „gerechten Anteil“ bekommen. Dazu C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. (Anm. 7), 82. 35 Vgl. H. Lademacher, Geschichte der Niederlande (Anm. 8), 152 ff.; dazu auch Olaf Mörke, Stattholder oder Staetholder? Die Funktion des Hauses Oranien und seines Hofes in der politischen Kultur der Republik der Vereinigten Niederlande im 17. Jahrhundert, Münster 1997.

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Sie waren daher von vornherein bereit, die Ansprüche des friesischen Erbstatthalters aus dem Hause Nassau-Diez zu unterstützen und für den noch minderjährigen Johann Wilhelm Friso einzutreten, zumal sie ohnehin neben den Dynasten die Vormundschaft ausübten36. Sie konnten sich dabei auf das Testament des Oraniers von 1695 berufen, wodurch die Bestimmungen der großväterlichen Verfügung hinfällig werden mussten. Wenn Wilhelm, der ja Taufpate Frisos war, während der kurzen ihm noch verbleibenden Lebensspanne auf eine Regelung der Statthalterschaft verzichtete, so tat er dies kaum aus Rücksicht auf seinen preußischen Vetter als vielmehr mit Blick auf die ablehnende Position der Generalstaaten, vielleicht aber auch aus gesundheitlichen Gründen, bei nachlassendem politischen Gestaltungswillen. Seit langem berichtete die preußische Gesandtschaft in London über den labilen Gesundheitszustand des Königs; sie war instruiert, so rasch wie möglich die Nachricht vom Ableben Wilhelms nach Berlin zu übermitteln37. In einem Expressbericht des Gesandten im Haag vom 23. März 1702 war noch von der „gefährlichen Unpäßlichkeit“ des englischen Monarchen frühmorgens die Rede; sie veranlasste den Herrn von Schmettau dazu, seinen Vertrauensmann Graf Schulenburg aufzusuchen, damit er seine Unterlagen mit den Originalen im königlichen Archiv vergliche; vom selben Datum stammt dann der knappe Bericht „von I. K. M. [ …] tödlichem Hintritt“ am 19. März, der jedoch erst am 27. März in Berlin präsentiert wurde. Eine ausführliche Nachricht vom Tode Wilhelms lieferte fast gleichzeitig der Gesandte von Spanheim in London38 ; er schilderte auch seine Bemühungen, bei der Eröffnung der Papiere des Verstorbenen im Kensington-Palast zugegen zu sein, die nach englischem Recht oder aus Gewohnheit an die Nachfolgerin Queen Anne fielen, während die königlichen Gemächer vom Chamberlain (Chambellan) versiegelt wurden. Ein neues Testament fand sich dabei nicht, wohl aber hinterließ der König einen Berg an Schulden. Unterdessen hatte Baron von Schmettau im Haag versucht, den Ratspensionär Anthonie Heinsius zu erreichen, um ihm die Rechtsauffassung seines Monarchen zum Oranischen Erbe zu erläutern39. Er übergab dabei ein vorbereitetes „Memorial“ (in Druckfassung) mit der Begründung des königlichen Erbanspruchs. Bei Heinsius stieß er auf freundliche, aber bestimmte Zurückhaltung. Solange das Testament nicht eröffnet war, blieb alles in der Schwebe; die Repräsentanten der Generalstaaten mussten Vorsicht üben, um einen wichtigen Verbündeten nicht zu verprellen. Der Gesandte von Schmettau merkte aber rasch, dass er in der holländischen Kapitale nicht viel erreichen konnte. Er empfahl daher seinem Monarchen, doch möglichst rasch ins 36

S. Rütten, Erbschaft (Anm. 12), 421. Wie Anm. 17: GStAPK I. HA GR, Rep. 64 Oranische Erbschaft Nr. 11, Nr. 12: Bericht Schmettaus aus dem Haag vom 23. 3. 1702 (teilweise chiffriert). 38 Ebd., Nr. 12; den Schlüssel zur Kassette hatte Wilhelm dem Lord Albemarle übergeben. 39 Ebd., Bericht Schmettaus an König Friedrich I. vom 24. März 1702; ebd., gedrucktes Memorial als Beilage. – Heinsius zeigte sich dabei „bien informé du fondement de nos prétensions, dont on n’avait point parlé du vivant du roy“, auch über die Natur eines Fideikommisses; über das etwaige Testament Wilhelms wisse er nichts („dont je ne savais rien“). 37

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benachbarte Herzogtum Cleve zu kommen, um von dort aus selbst in die zu erwartende Erbauseinandersetzung eingreifen zu können. Tatsächlich reiste Friedrich I. sofort voller Erwartungen in Begleitung seiner außenpolitischen Chefberater Wartenberg, Ilgen und Fuchs an den Niederrhein und begab sich in die Festung Wesel, wo ein einsatzbereites eigenes Truppenkontingent stand40. Inzwischen hatten nämlich die Franzosen nicht nur die niederländische Festungsbarriere im Süden („Brabanter Linie“), sondern auch linksrheinische Teile von Cleve, das spanische Oberquartier Geldern und die kurkölnischen Festungen besetzt, sie bedrohten die Alliierten so auch von Osten her. Noch vor Friedrichs Ankunft und vor der Eröffnung des Testaments ergriffen seine Bevollmächtigten gemäß ihren Instruktionen von oranischen Territorien und einigen Schlössern Besitz, jedenfalls soweit sie auf altem Reichsboden lagen. Der General von Heyden besetzte die beiden kleinen Reichsgrafschaften Lingen und Moers41 mit zusammen nur 17 Quadratmeilen, aber in günstiger Lage zu preußischem Streubesitz am Niederrhein. Moers, wo eine niederländische Besatzung in der starken Residenzfestung erst noch belagert werden musste, und ebenso die Grafschaft Lingen blieben unter preußischer Herrschaft, obwohl sich bei der Eröffnung von Wilhelms Testament ergab, dass der Oranier den nassau-friesischen Verwandten Johann Wilhelm Friso zu seinem Universalerben eingesetzt und diese Entscheidung später nicht mehr revidiert hatte. Die Durchführung des Testaments lag in den Händen der Generalstaaten, die das forsche Vorgehen Friedrichs natürlich verurteilten. Aber sie verspürten den militärischen Druck des Preußenkönigs an ihren Grenzen42, dem der am Niederrhein operierende französische Oberbefehlshaber weitreichende Avancen bei einem Übertritt auf die französische Seite machte, u. a. auf Kurköln und das Bistum Lüttich, während die Generalstaaten auf die militärische Unterstützung des preußischen Verbündeten im Spanischen Erbfolgekrieg angewiesen blieben. Sicherlich wollten sie wie schon Wilhelm verhindern, dass sich der preußische König in den Niederlanden festsetzte und die Oranische Erbschaft als Basis für seine weitergehenden Pläne benutzte, zumal zum oranischen Allodialbesitz nicht nur einige Schlösser, sondern auch wichtige Festungen (Breda, Grave, Gertruydenberg etc.) sowie beachtliche Herrschaftskomplexe (Büren, Diesen, Leerdam) und Städte (Vlissingen, Eindhoven, Willemsstad) gehörten. Friedrich gab jedoch seine Ansprüche nicht preis. Er hielt sie, wie wir wissen, für wohlbegründet und durch das Testament des Großvaters mütterlicherseits für gut abgesichert. Als die Generalstaaten gegen die Besetzung von Moers und Lingen pro40

Genaueres bei C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. (Anm. 7), 175 f. Bericht des Generals von Heyden u. a., Wesel 25. März 1702 über die Besitzergreifung Lingens gemäß Instruktion nach der Nachricht vom Tode Wilhelms III., in: GStAPK I. HA GR, Rep. 64 Oranische Erbschaft Nr. 12; ebd. Bericht aus Cleve vom 28. März für Moers. Zu den Grafschaften oben, Anm. 21. 42 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. (Anm. 7), 175 f. 41

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testierten, wandte er sich an das Reichskammergericht43, um seinen Anspruch bestätigen zu lassen, weil durch den Tod des englischen Königs dessen „gantze Verlassenschaft auf Uns als Ihren eintzigen und wahren Universal Erben decolliret worden“ sei. Er bat zugleich darum, seinen bisher geführten Titel um die zur oranischen Erbschaft gehörenden Länder erweitern zu dürfen. Nachdem seine Truppen die kurkölnische Festung Kaiserswerth eingenommen hatten, reiste er, politisch-militärisch gestärkt, in den Haag, um dort seine Ansprüche geltend zu machen. Die französische Bedrohung der eigenen Kernlande zwang das statthalterlose Regiment der Republik zu Konzessionen an den ungeduldig fordernden Bundesgenossen. Aber die Verhandlungen kamen nur wenig voran. Friedrichs Drängen beeindruckte die Vertreter der Generalstaaten kaum: So wenig sie sich von den mächtigen Königen Frankreichs und Spaniens einschüchtern ließen, wollten sie dem preußischen König nachgeben. Drohungen, berichtete Herr von Schmettau44, seien in einer freien Republik nicht so üblich wie in Monarchien, wo man es gewohnt sei, „despotiquement“ regiert zu werden. Zudem fand Ratspensionär Heinsius in der Person des englischen Oberkommandierenden, John Churchill, des Herzogs von Marlborough, der anstelle des Oraniers alsbald die Führungsrolle in der großen Koalition übernahm, einen Partner, der es verstand, die antifranzösische Allianz wieder zu festigen und zugleich König Friedrich auf Dauer in sie einzubinden45. Bei den Verhandlungen mit dem Preußenkönig beharrten die Generalstaaten auf ihren Positionen: Während sie scheinbar einen Vergleich mit dem Hause NassauFriesland vermittelten, veranlassten sie Henriette Amalie von Anhalt-Dessau46, die Mutter des minderjährigen Friso, für eine definitive Erbregelung die Volljährigkeit des Prinzen abzuwarten. In der Zwischenzeit übernahmen sie die Verwaltung aller in ihrem Einflussbereich liegenden oranischen Güter. Daher waren vorerst nur vorläufige Regelungen über die persönliche Hinterlassenschaft Wilhelms und die Nutzung seiner Schlösser, den Schmuck und die Gemälde dort etc. möglich47. Die Vergleichsverhandlungen gerieten aber ins Stocken, als die resolute Friso-Mutter den Erbstreit vor den obersten Gerichtshof der Niederlande brachte. Da dieser den souveränen Preußenkönig vor sein Forum zitieren wollte, brach Friedrich voller Entrüstung über eine derartige „Anmaßung“ die Verhandlungen ab48.

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Schreiben an das Reichskammergericht, Cölln/Spree 31. März 1702, in: GStAPK I. HA GR, Rep. 64 Oranische Erbschaft Nr. 12. 44 Bericht des Barons von Schmettau vom 3. 7. 1703, ebd., zitiert bei G. Drechsler, Streit um die Oranische Erbschaft (Anm. 6), 37, 40 f. 45 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. (Anm. 7), 176 f.: „Das Oberkommando Marlboroughs gab der Kriegführung auf den niederländischen Kriegsschauplätzen sogleich Nerv und Zusammenhang […]“. 46 Vgl. K. Eiler, Fürstin Henriette Amalie (Anm. 14). 47 Knappe Zusammenfassung bei S. Rütten, Erbschaft (Anm. 12), 421 f., Aufzählung der Schlösser etc. 48 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. (Anm. 7), 176.

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Erst nach mehrjähriger Unterbrechung konnten sie 1711 mit einiger Aussicht auf einen Kompromiss wieder aufgenommen werden, nachdem Friso inzwischen volljährig geworden war. Nun verhinderte aber der plötzliche Tod des friesischen Statthalters und Universalerben eine Einigung mit König Friedrich49. Auf der Anreise zum Treffen im Haag ertrank Friso am 14. Juli 1711 bei dem Versuch, den Holland-Diep im Sturm zu überqueren. Er wurde dennoch durch seinen noch ungeborenen Sohn Wilhelm (IV.) (November 1711 – 1751) zum Ahnherrn der bis heute in den Niederlanden die Monarchie verkörpernden Dynastie der Nassau-Oranier aus der Linie Diez. Friedrich I. musste unverrichteter Dinge aus dem Haag abreisen, während Frisos Witwe, Marie Louise von Hessen-Kassel, eine Tochter des Landgrafen Karl und Mutter des präsumptiven Nachfolgers Wilhelm, und ebenso dessen Großmutter Henriette Amalie es ablehnten, weiter über die definitive Regelung des Oraniererbes zu verhandeln, darin nachhaltig unterstützt von den Generalstaaten, die eine Vormundschaft über den künftigen Statthalter übernahmen. So blieb es bis zur Volljährigkeit Wilhelms bei den provisorischen Interimslösungen von 1702 und 1711, die ganz im Interesse der niederländischen Republik und der Nassau-Oranier lagen, während der Preußenkönig seine großen Erwartungen und Pläne, die er mit dem Oraniererbe zeit seiner Regierung verbunden hatte, begraben musste. Ihm blieben trotz hohen persönlich Engagements und erheblicher Aufwendungen nur einige Schlösser in den Niederlanden und kleine Gebietserwerbungen im Westen, die den dortigen Streubesitz Brandenburg-Preußens arrondieren konnten. Erst dreißig Jahre nach dem Erbfall, im Mai 1732, mithin während der Regierungszeit König Friedrich Wilhelms I. (1713 – 1740) kam das Vertragswerk zustande50, das die Oranische Erbschaft definitiv „freundschaftlich“ und verbindlich für alle Nachfolger beider Dynastien regelte. Danach sollten die in den heutigen niederländisch-belgischen Gebieten gelegenen Territorien, Güter und Schlösser an die Diezer Linie des Hauses Nassau fallen, hingegen die übrigen auf Reichsgebiet oder französischem Boden liegenden Besitzungen, namentlich die bereits 1702 von Preußen okkupierten Grafschaften Lingen und Moers, den Hohenzollern verbleiben, nebst einigen oranischen Schlössern samt Inventar. Titel und Wappen eines „Prinzen von Oranien“ konnten fortan gleichberechtigt sowohl von den Oraniern als auch den Hohenzollern verwendet werden, wobei allerdings das in Südfrankreich gelegene Fürstentum Orange, von dem das gesamte Erbe seinen Namen hatte, als französisches Kronlehen bereits 1713 im Frieden von Utrecht im Einvernehmen mit Preußen der französischen Krone zugesprochen worden war, desgleichen die Güter in Lothringen. 49

Vgl. zuletzt S. Groenveld, Diez (Anm. 6), 36 f.; auch S. v. d. Veen, Johann Wilhelm Friso (Anm. 6), bes. 124 ff., 130 f. (eher populär). 50 Kopie des Vertrages im GStAPK I. HA GR, Rep. 11 Auswärtige Beziehungen Staatsverträge Nr. 529: Unterhändlerurkunde, Berlin 19. 5. 1732. Geheime Zusatzbestimmungen betrafen sowohl strittige Finanzregelungen wie die Zusage preußischer Unterstützung im Falle von Ansprüchen anderer Zweige des Hauses Nassau auf das Erbe.

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Es wird deutlich geworden sein und war wohl schon den Zeitgenossen im frühen 18. Jahrhundert bewusst, dass der erst 1732 in der zweiten Generation durch einen Kompromiss zwischen den beteiligten Dynastien beigelegte Konflikt um die Oranische Erbschaft nicht lediglich eine der für das Zeitalter typischen und häufigen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Fürstenhäusern war, sondern eine weit darüber hinaus reichende mächtepolitische Dimension besaß, die das labile europäische Staatengefüge um 1700 nachhaltig berührte. Der vom Kurfürsten-König Friedrich während seiner gesamten Regierungszeit mit erstaunlicher Energie und Beharrlichkeit verfochtene „Grand Dessein“, die gegen zähe Widerstände erlangte Standeserhöhung Brandenburg-Preußens mit Hilfe der Oranischen Erbschaft durch weiteren Territorial- und Prestigegewinn zu festigen und auszubauen und dadurch zugleich die Stellung seines Landes unter den europäischen Monarchien zu erhöhen, stieß, wie sich zeigte, an deutliche Grenzen, die ihm als Person wie seinem jungen Staatswesen aufgrund seiner begrenzten Ressourcen wie als Glied des Reiches gesetzt blieben. Friedrichs hochfliegende Absichten mussten sich den realen Machtverhältnissen in Europa und im Reich fügen, sie blieben utopisch. Gleichwohl können sie aber dazu beitragen, das lange Zeit durch die abschätzige Charakteristik seines Enkels Friedrichs II. verdunkelte Urteil der Historiographie über die Persönlichkeit und politische Bedeutung des ersten Königs in Preußen zu erhellen und zu revidieren.

Die Städtepolitik König Friedrich Wilhelms I. Von Frank Göse, Potsdam Das Bild des „größten inneren Königs“ in Preußen gewann seine Konturen neben den Bemühungen Friedrich Wilhelms I. um eine Zentralisierung der Verwaltung sowie um die flächendeckende Peuplierung, einen ausgeglichenen Haushalt und die Hebung der Wirtschaftskraft in nicht unbeträchtlichem Maße auch durch seine städtepolitischen Entscheidungen. Vor allem die in Verbindung mit der Etablierung der Magistratsverfassung in den 1720er Jahren stehenden Maßnahmen demonstrierten besonders eingängig die Vorstellung eines „allgegenwärtigen“ und „allzuständigen“ Monarchen. Eingebettet wurde dies in die in den Status einer „Meistererzählung“ erhobene „Aufstiegs“-Geschichte des brandenburgisch-preußischen Staates. Das in der Historiographie lange Zeit übermächtige Paradigma der frühmodernen Staatsbildung leistete einer Interpretationsrichtung Vorschub, nach der die Kommunen in immer stärkerem Maße unter den Druck des „absolutistischen“ Staates geraten seien und somit zunehmend eigene Handlungsspielräume preisgeben mussten. Letztlich hätten diese Veränderungen aber – so wurde rechtfertigend argumentiert – auch den Interessen eines großen Teils des städtischen Bürgertums selbst entsprochen, weil durch das dirigistische Eingreifen der Krone der „Augiasstall der oligarchischen Stadtverwaltung“ ausgemistet worden sei.1 In Anlehnung an Gustav Schmollers Positionen wurde zudem die Auffassung vertreten, dass „der Eingriff des Staates eher zu spät als zu früh eingesetzt hat, zum Schaden des Staates, vor allem auch zum Schaden der Städte selbst“.2 Die marxistische Stadtgeschichtsschreibung neigte ebenfalls zu einer „überwiegend positive[n] Bewertung der Liquidierung städtischer Autonomie durch die Territorialstaaten“, so dass in der Rückschau selbstkritisch die „fehlende Auseinandersetzung mit dem Etatismus in unserem Geschichtsbild“ beklagt wurde.3 Dennoch fanden immer wieder Stimmen Gehör, die vor Überspitzungen und Fehleinschätzungen warnten: Zum einen führte man gegen die eben wiedergegebenen Konstruktionen das Argument ins Feld, dass die städtischen Reformen bei weitem nicht die von der borussischen Forschung unterstellten raschen und nachhaltigen Ver1 Gustav Schmoller, Die soziale Frage. Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf, München 1918, 553. 2 Erich Botzenhart, Die Entwicklung der preußischen Stadtverfassungen im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Kommunalwissenschaft 2 (1935), 129 – 157, hier 132. 3 Helga Schultz, Forschungen und Fortschritte zur Stadtgeschichte der Neuzeit in der DDR (von der Mitte des 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts), in: Stadtgeschichtsforschung. Aspekte, Tendenzen, Perspektiven, hrsg. v. Fritz Mayrhofer (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 12), Linz 1993, 109 – 120, hier 110.

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änderungen bewirkt hätten.4 Im Prinzip galt auch für diesen Politik-Bereich die allenthalben für das Verwaltungshandeln frühneuzeitlicher Staaten erkannte und in den letzten beiden Jahrzehnten hinreichend beschriebene begrenzte Reichweite administrativer Durchdringung.5 Die „strukturbildende Bedeutung“, die die Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. für die Geschichte des altpreußischen Staates besessen hatte, ist gewiss unbestritten.6 Dennoch konnten Monarch und führende Amtsträgerschaft bei der Implementierung von Normen angesichts der bislang nur partiell überwundenen Rückständigkeit dieses Staatswesens sowie seiner durchweg angespannten Ressourcenlage auch nach 1713 allenfalls sektoral und unter steter Rücksichtnahme auf die regionalen Differenzierungen Erfolge verzeichnen.7 Zum anderen bestand mitunter aber die Neigung, in Auseinandersetzung mit allzu apologetischen Sichtweisen auf die Geschichte der preußischen Städte des 18. Jahrhunderts über das Ziel hinauszuschießen. Gerade für die Kommunen der erst relativ spät in den Verband des gesamtpreußischen Staates integrierten Territorien tendierte man zuweilen dazu, deren Entwicklung in ihrer „preußischen Zeit“ als eine Verlustgeschichte zu interpretieren. Aber je mehr die Tendenz obwaltete, diese Phase der Geschichte etwa der niederrheinischen, westfälischen oder pommerschen Kommunen als eine Zeit des „Niederganges“ und der „Fürstenwillkür“ anzusehen, desto stärker zeigte man sich bemüht, die davorliegende Epoche im Sinne einer Vorgeschichte „demokratischer Freiheiten“ zu idealisieren. Diese Sicht zeichnete indes nicht nur einen Teil der Stadt-Historiographie der zweiten Hälfte des 19. und des 20. Jahrhunderts aus, sondern war schon in den zeitgenössischen Debatten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts angelegt.8 Von daher erklären sich im Übrigen die nachvoll4 Vgl. zu dieser relativierenden Sicht hier nur Gerd Heinrich, Staatsaufsicht und Stadtfreiheit in Brandenburg-Preußen unter dem Absolutismus (1660 – 1806), in: Die Städte Mitteleuropas im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Wilhelm Rausch (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 5), Linz 1981, 155 – 172 sowie in deutlicher Kritik an Schmollers Positionen die in der älteren historischen Zunft kaum rezipierte Arbeit von Wilhelm Gundlach, Friedrich Wilhelm I. und die Bestellung der städtischen Beamten. Ein Beitrag zur Geschichte der preußischen Verwaltung (Bausteine zur preußischen Geschichte N.F. 1), Jena 1906. 5 Vgl. hierzu den einschlägigen Aufsatz von Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 647 – 663. 6 Wolfgang Neugebauer, Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit. Politik und Staatsbildung im 17. und 18. Jahrhundert, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 1: Das 17. und 18. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, hrsg. v. dems., Berlin/New York 2009, 113 – 407, hier 246. 7 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Zur Staatsbildung Brandenburg-Preußens. Thesen zu einem historischen Typus, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 49 (1998), 183 – 194. 8 Vgl. dazu Klaus Schreiner, Die Stadt des Mittelalters als Faktor bürgerlicher Identitätsbildung. Zur Gegenwärtigkeit des mittelalterlichen Stadtbürgertums im historisch-politischen Bewußtsein des 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, in: Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150 – 1650. Ausstellungskatalog der Landesausstellung Niedersachsen 1985, Bd. 4: Aufsätze, hrsg. v. Cord Meckseper, Stuttgart/Bad Cannstatt 1985, 517 – 541; Helga Schultz, Die kommunale Selbstverwaltung in der publizistischen Debatte zwischen 1770 und 1830, in: Die Wiederkehr des Stadtbürgers. Städtereformen im

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ziehbaren Bemühungen Gustav Schmollers, gegen solche Wertungen zu argumentieren, nach denen die Landesherrschaft angeblich im 18. Jahrhundert „in brutaler Generalisierungs- und Reglementierungssucht das städtische Leben als solches vollständig ertötet habe“.9 Die eben wiedergegebenen Etikettierungen entsprachen zugleich solchen Interpretationen, die in dem zwischen der mittelalterlichen Blütezeit und den Urbanisierungstendenzen des 19. Jahrhunderts liegenden Zeitraum eine Epoche „der Stagnation und des Abstiegs“ glaubten sehen zu können.10 Zwar scheinen bei einem besonders auf die Institutionengeschichte ausgerichteten Blick die Spielräume der Stadtmagistrate seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert in der Tat eingeengt worden zu sein. Doch konnte eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen diese Sichtweise – im Übrigen nicht nur für die Kommunen der brandenburgisch-preußischen Territorien – revidieren: „Als Niederlage oder gar Verfall des Städtewesens ist die Integration in den modernen Staat“ demnach „nicht zu bewerten“.11 Solche Korrekturen stehen im Zusammenhang mit der Kritik am lange Zeit die Deutungshoheit beanspruchenden Modernisierungsparadigma. Denn der Grad des „Modernerwerdens“ frühneuzeitlicher Gesellschaften – zumal innerhalb solcher Reichsterritorien wie BrandenburgPreußen – wurde lange Zeit vor allem vor dem Hintergrund der Staatsbildung mit ihrer Tendenz zur Herrschaftszentrierung bestimmt.12 Bisherige Deutungsmuster krankten des Weiteren daran, in der brandenburgischpreußischen Stadtgeschichte des sogenannten „absolutistischen“ Zeitalters, also etwa von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, im Sinne eines „Nullsummen-Spiels“ eine kontinuierlich waltende Antinomie zwischen regulierend-reformierender Staatsverwaltung einerseits und konservativ beharrendem Stadtbürgertum andererseits sehen zu wollen. Dahinter stand die gerade auch von G. Schmoller vertretene Annahme, dass die im Mittelalter so hochgelobten städtischen Freiheiten ein nicht mehr zeitgemäßes Exklusivrecht dargestellt hätten, denn: „Die absolute Aueuropäischen Vergleich 1750 bis 1850, hrsg. v. Brigitte Meier/Helga Schultz, Berlin 1994, 137 – 154. 9 Gustav Schmoller, Deutsches Städtewesen in älterer Zeit (Bonner staatswissenschaftliche Untersuchungen 5), Bonn/Leipzig 1922, 231. 10 Franklin Kopitzsch, Die Sozialgeschichte der deutschen Aufklärung als Forschungsaufgabe, in: Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, hrsg. v. dems. (Nymphenburger Texte zur Wissenschaft 24), München 1976, 11 – 169, hier 29. 11 Heinz Schilling, Die Stadt in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 24), München 1993, 46. 12 Vgl. jüngst pointiert dazu Luise Schorn-Schütte, Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit. Studienhandbuch 1500 – 1789 (UTB 8414), Paderborn 2009, 343 – 346; mit direktem städtegeschichtlichen Bezug: Wolfgang Mager, Genossenschaft, Republikanismus und konsensgestütztes Ratsregiment. Zur Konzeptionalisierung der politischen Ordnung in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Stadt, in: Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie – Res Publica-Verständnis – konsensgestützte Gesellschaft, hrsg. v. Luise Schorn-Schütte (Historische Zeitschrift Beih. N.F. 39), München 2004, 13 – 122.

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tonomie ist nur möglich, wo staatliche Anarchie herrscht.“13 Mit anderen Worten: Der Preis für die „Segnungen“ des immer präsenter werdenden Staates war die Einsicht in die Überlebtheit alter, nun nicht mehr in die neue Zeit passender autonomer Spielräume und Privilegien. Unterstellt wurde häufig bei diesen Konstruktionen, dass sich die Kommunen und ihre Führungsschichten in einer passiven, ja fast schon wörtlich zu nehmenden erleidenden Position gegenüber dem sich wachsender administrativer Effizienz erfreuenden Staat befunden hätten. Grund genug also, sich angesichts dieser Narrative, Deutungsmuster und mitunter klischeehaften Vorstellungen dem Thema erneut zuzuwenden, was hier natürlich nur in kursorischer Form erfolgen kann. Nach einer knappen Umschau auf die Städtelandschaft in den brandenburgisch-preußischen Territorien, die zugleich die Situation in den Kommunen vor der Regierungsübernahme Friedrich Wilhelms I. beleuchten möchte, sollen davon ausgehend die innere Kohärenz, Reichweite und Folgen der städtepolitischen Maßnahmen dieses Königs analysiert werden. I. Die auf dem Gebiet des altpreußischen Staates liegenden Städtelandschaften wiesen eine recht heterogene Struktur auf, wenn man Traditionen, innere Verfassung, Differenziertheit des Gewerbes oder die regionale Ausrichtung der wirtschaftlichen Aktivitäten im Blick hat. Die Städtedichte in den preußischen Provinzen war höchst unterschiedlich entwickelt – eine Konstellation, die im Übrigen dem König stets bewusst war. In seiner 1722 verfassten „Instruktion“ an seinen Nachfolger monierte Friedrich Wilhelm I. zum Beispiel mit Blick auf die (ost-)preußische Provinz die vorgefundenen Gegebenheiten: „An diesen lande fehlets an kleine stette, die mein Succeßor in Littauen Neue anlegen mus, und in die Preussische stette Keine Manifacturen sein“. Dagegen bot die differenzierte und vor allem gewerbereichere Städtelandschaft im Herzogtum Magdeburg aus der Sicht des Königs ein wesentlich positiveres Bild.14 Der übergroßen Zahl der Städte stand um 1700 das Privileg der freien Ratswahl zu, nur in wenigen Kommunen beanspruchte die Landesherrschaft dieses Recht.15 Die Bezeichnungen für die führenden kommunalen Organe differierten, so in den klevischen Städten, wo noch in brandenburgisch-preußischer Zeit die Dokumente mit „Schöffen und Rat“ unterzeichnet wurden.16 Unterschiede fielen auch mit Blick auf die Partizipation von Teilen der Bürgerschaft an den Ratswahlen ins Ge13

G. Schmoller, Deutsches Städtewesen (Anm. 9), 235. Die politischen Testamente der Hohenzollern, bearb. v. Richard Dietrich (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz 20), Köln/Weimar/Wien 1986, 228 und 230. 15 So etwa in acht klevischen Städten. Vgl. Ilse Barleben, Die Entwicklung der städtischen Selbstverwaltung im Herzogtum Kleve während der Reform Friedrich Wilhelms I. (Rheinisches Archiv. Veröffentlichungen des Instituts für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn 18), Inaug.-Diss. Bonn 1931, 38. 16 Ebd., 35 f. 14

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wicht, dies sogar innerhalb derselben Provinzen: In einigen Städten der Grafschaft Mark waren zum Beispiel die Zünfte an der Wahl der Magistrate beteiligt, während in den anderen – vornehmlich kleineren – Kommunen ihnen dieses Recht nicht zugestanden wurde.17 In dem zum Herzogtum Magdeburg gehörenden Halle (Saale) waren die Innungen sogar zeitweise im Rat vertreten.18 In den meisten Städten rekrutierten sich die Magistrate über Kooptation aus der Gruppe der ratsfähigen Familien. Wenn ein Ratsherr in der Regel für ein Jahr in sein Amt gewählt wurde, hatte er de facto auf Grund des Rotations-Prinzips das Amt auf Lebenszeit inne. Eine Neubesetzung erfolgte in der Regel nur bei Wegzug, Krankheit oder Tod des Ratsangehörigen. Das Niveau der Bürokratisierung bot kein einheitliches Bild, sowohl was die persönliche Qualifikation der Ratsmitglieder als auch die Organisation der Verwaltung anbelangte. Innerhalb der Magistrate einiger Städte, so zum Beispiel im preußischen Königsberg, konnte man schon lange vor 1713 eine recht weitgehende Ressortaufteilung beobachten, während in anderen Kommunen eine solche Geschäftsverteilung fehlte.19 Richtet man den Blick auf die Rolle der Städte innerhalb der landständischen Gremien, überwog in der älteren Forschung die zu Beginn wiedergegebene abschätzige Bewertung: Die als „ständisch-korporativ“ typologisierte städtische Selbstverwaltung galt als „rückständiges, entartetes Stück der alten ständisch-territorialen Staatsordnung“.20 In dem Maße, wie die ständischen Artikulationsformen des frühen 18. Jahrhunderts als vernachlässigbare Größe angesehen wurden, wies man den städtischen Deputierten in den landständischen Gremien fast nur eine Statistenrolle zu. Diese Sichtweise ist im Lichte einer in den letzten Jahrzehnten sehr intensiv betriebenen Ständeforschung nicht mehr aufrechtzuerhalten.21 Auch wenn die Forschung die Aufmerksamkeit in den mittleren und östlichen Provinzen auf Grund ihres größeren politischen und wirtschaftlichen Gewichts vor allem den adligen Landständen geschenkt hat, konnten die städtischen Vertreter durchaus ein Mitspracherecht in den Ständegremien behalten. Zuweilen forderte der Monarch persönlich die Anwesenheit von Repräsentanten der Städte auf den landschaftlichen Zusammenkünften.22 17 Vgl. Wilfried Reininghaus, Zünfte, Städte und Staat in der Grafschaft Mark. Einleitung und Regesten von Texten des 14. bis 19. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 22/A/7), Münster 1989, 45 f. 18 Vgl. G. Schmoller, Deutsches Städtewesen (Anm. 9), 268 f. 19 Vgl. E. Botzenhart (Anm. 2), 138. 20 Otto Hintze, Staat und Gesellschaft unter dem ersten König, in: Gesammelte Abhandlungen, Bd. 3: Geist und Epochen der preußischen Geschichte, Leipzig 1943, 313 – 418, hier 408 f. 21 Genannt seien hier repräsentativ nur: Ständetum und Staatsbildung in BrandenburgPreußen. Ergebnisse einer internationalen Fachtagung, hrsg. v. Peter Baumgart (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 55), Berlin 1983; Wolfgang Neugebauer, Das alte Preußen – Aspekte der neuesten Forschung, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), 463 – 482. 22 So zum Beispiel die für 1733 und 1734 bezeugte Präsenz von „Städte Directores“ auf den neumärkischen Landtagen. Vgl. Wolfgang Neugebauer, Die neumärkischen Stände im

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Die Mehrheit der Kommunen in den ostelbischen Landschaften (Kur- und Neumark Brandenburg, Pommern23, Preußen) gehörte der Gruppe der Kleinstädte an, häufig mit weniger als 500 Einwohnern.24 Bürger- und Häuserzahl waren nach den damaligen statistischen Erhebungen zumeist identisch, was darauf hindeutet, dass Mietsverhältnisse bis auf solche größeren Städte wie Berlin oder Frankfurt an der Oder noch die Ausnahme bildeten.25 Die Bevölkerung differenzierte sich in „Bürger“ und „Einwohner“. An den Erwerb des – zumeist erblichen – Bürgerrechts war eine Reihe von Bedingungen geknüpft: Das Treuegelöbnis gegenüber Landesherrn und Stadt, die Zahlung eines Bürgergeldes26 an die Stadtkämmerei sowie die sogenannte „ehrliche“ Geburt. Innerhalb der mit dem Bürgerrecht ausgestatteten Einwohnerschaft wurde zumeist in „Groß“- und „Kleinbürger“ differenziert. Erstere verfügten über vergleichsweise größeren Grundbesitz (in den Ackerbürgerstädten der ostelbischen Städte über sogenannte „kontribuable Hufen“); aus dieser Gruppe rekrutierten sich mitunter auch die Ratsfamilien.27 Nicht alle Einwohner in den Städten verfügten indes über das Bürgerrecht, sondern mussten als „Schutzverwandte“ oder „Inwohner“ mit einem minderen Rechtsstatus vorliebnehmen. Je größer die Stadt und je differenzierter ihre Gewerbestruktur ausfiel, desto geringer war der Anteil der das volle Bürgerrecht genießenden Einwohner an der Gesamtbevölkerung und desto größer fiel dementsprechend auch der Anteil der kein oder nur ein beschränktes Bürgerrecht genießenden Einwohner aus.28 Das Bürgerrecht bot die VorLichte ihrer Tätigkeit, in: Neumärkische Stände (Rep. 23 B) (Quellen, Findbücher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 9), Frankfurt a.M. u. a. 2000, XVII–LXXVI, hier XLVII. 23 Vgl. Otto Vanselow, Zur Geschichte der pommerschen Städte unter der Regierung Friedrich Wilhelms I., in: Baltische Studien N.F. 7 (1903), 89 – 161. 24 Vgl. den tabellarischen Überblick bei G. Schmoller, Deutsches Städtewesen (Anm. 9), 272 – 286. 25 Vgl. Otto Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preußen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin 1905, 167. 26 Hier bestanden in Abhängigkeit von der Größe der Kommunen und ihrer Sozialstruktur große Unterschiede in der Höhe des Bürgergeldes. Die Vermögenslage der in Frage kommenden Kandidaten wurde berücksichtigt. So hatten z. B. in Wesel die Großbürger 100 Tlr. und die Kleinbürger 10 Tlr. für den Erwerb des Bürgerrechts zu entrichten. Vgl. I. Barleben (Anm. 15), 6. In der kurmärkischen Stadt Mittenwalde betrug das Bürgergeld laut der Kämmereirechnung von 1727 hingegen nur 4 Tlr. Vgl. Brandenburgisches Landeshauptarchiv [BLHA], Rep. 8 Mittenwalde, Nr. 307, unpag. 27 Über die zuweilen scharfen Auseinandersetzungen zwischen diesen Gruppen vgl. am Beispiel einiger brandenburgischer Mediatstädte: Frank Göse, „Der Satan ist an diesem Ort recht los!“ Vergleichende Betrachtungen zu Widerständigkeit und Handlungsspielräumen in domanialen und adligen Mediatstädten der Kur- und Neumark Brandenburg (1650 – 1770), in: Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland (16.–18. Jahrhundert), hrsg. v. Thomas Rudert/Hartmut Zückert (Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft 1), Köln/Weimar/Wien 2001, 313 – 352, hier 333 f. 28 Vgl. hierzu die Angaben für die kurmärkischen Verhältnisse etwa im Städtebuch Brandenburg und Berlin, hrsg. v. Evamaria Engel/Lieselott Enders/Gerd Heinrich/Winfried Schich (Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte 2), Stuttgart 2000 .

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aussetzung für die Mitgliedschaft in einer Zunft bzw. Gilde, für eine Wahl in städtische Ämter und gewährte einen Anspruch auf städtische Gerichtsstandschaft. In einigen Kommunen, wie in Berlin, genossen nur die als „Großbürger“ bezeichneten Einwohner das volle Bürgerrecht, während die „Kleinbürger“ zurückstanden. Zu den Pflichten zählte hingegen die Beteiligung an den öffentlichen Lasten und Diensten der Kommune, wenngleich die bis ins frühe 18. Jahrhundert geforderte und aus dem Mittelalter herrührende Wehrpflicht im Zuge der Etablierung des altpreußischen Militärsystems allmählich verblasste. Die in solchen Territorien wie der Mark Brandenburg lange währende Friedenszeit im sogenannten „langen 16. Jahrhundert“ hatte dazu geführt, dass diese Bürgeraufgebote kaum noch den Anforderungen genügten, was häufig mit einem „Ende des städtischen Kriegswesens“ gleichgesetzt wurde.29 Eine nachhaltige Veränderung erfuhr die interne Struktur der Einwohnerschaft in jenen Kommunen, in die seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert auf Dauer Garnisonen gesetzt worden waren.30 Allerdings liegen – außer zu solchen bedeutenden Städten wie Berlin, Frankfurt an der Oder und Magdeburg – nur wenige Studien zu den vielen mittleren und kleinen Garnisonstädten vor, so dass unsere Kenntnisse über das Verhältnis von Militär- und Zivilbevölkerung nach wie vor recht lückenhaft bleiben. Zwar sah schon die ältere Forschung einen Zusammenhang zwischen der wachsenden Zahl von Garnisonen in den Provinzen und den Veränderungen der verfassungsgeschichtlichen Stellung der Kommunen: Aus der Sicht Otto Hintzes war das stehende Heer, jenes „große Schwungrad für die Bewegung der größeren zusammengesetzten Staatsmaschine […] auch der Motor für die Reform der städtischen Verwaltung geworden“.31 Allerdings blieben solche Bewertungen häufig im Ungefähren und auf normative Quellen gestützt. Durchaus resultierte eine Reihe von Auseinandersetzungen in den Garnisonstädten aus den unklaren Kompetenzen in der Rechtsprechung oder der Konkurrenz des städtischen Handwerks mit den sich ein Zubrot verdienenden „Freiwächtern“ unter den Soldaten. Eine latente Konfliktsituation zwischen Garnison und Stadtbevölkerung zu konstruieren, hieße indes nur eindimensionalen Interpretationen das Wort zu reden. So bescheinigte zum Beispiel der Prenzlauer Magistrat dem in der Stadt garnisonierenden Regiment Markgraf Heinrich im Mai 1722 ausdrücklich, dass „wir uns gar nicht über dieselben zu beschweren, vielmehr dero gutes Commando zu rühmen haben“.32 Und eine neuere Studie zu dem im Havelland 29 Otto Tschirch, Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg an der Havel. Festschrift zur Tausendjahrfeier der Stadt 1928/29, Bd. 2, Brandenburg 1928, 61. 30 Für die brandenburgische „Zentralprovinz“ vgl. hierzu die für diese Thematik von Otto Büsch erarbeitete Karte: Garnisonen und Garnisonsorte in Brandenburg 1640 – 1806 (Historischer Handatlas für Brandenburg und Berlin, Liefg. 17), Berlin 1967. 31 Otto Hintze, Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. 6.1: Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II., Berlin 1901, 240. 32 Zit. nach: Martin Winter, Untertanengeist durch Militärpflicht? Das preußische Kantonsystem in brandenburgischen Städten im 18. Jahrhundert (Studien zur Regionalgeschichte 20), Bielefeld 2005, 81.

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liegenden Rathenow konstatiert, dass die Klagen der dortigen Bürger „sich nie prinzipiell gegen das Einquartierungssystem, sondern nur gegen bestimmte Missstände“ richteten.33 Zudem verweisen jüngere Forschungen auf der Grundlage vieler Quellenbelege zu Recht darauf, dass die Einquartierung der Soldaten in der „guten Bürgerstube“ tendenziell zu einer „Verbürgerlichung“ der Soldaten führen konnte, während dem Konstrukt einer sogenannten „Militarisierung“ der städtischen Gesellschaft während des Ancien Régime Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zugrunde gelegt worden sind.34 Demnach erscheint es durchaus denkbar, dass „der Militärdienst in der städtischen Garnison den Soldaten neben dem Drill und dem Exerzieren durchaus Zeit ließ zur Rezeption bestimmter urbaner Lebensformen, Gewohnheiten und Moden“.35 Einen besonderen Glanz mussten die städtischen Reformen Friedrich Wilhelms I. aus der Sicht der Nachlebenden sicherlich gewinnen, wenn die Missstände in den Städten vor 1713 in besonders grellen Farben gezeichnet wurden.36 Die Hauptkritik entzündete sich neben den bekannten Vorhaltungen gegenüber den oft überzeichneten Mängeln der Regierungspraxis des ersten preußischen Königs vor allem an der Amtsführung der städtischen Magistrate. Zu unterscheiden ist allerdings zwischen solchen Konfliktfeldern, die schon seit langem in der tradierten innerstädtischen Verfassungsstruktur angelegt waren, und jenen zeitbedingten Entwicklungen, die sich aus der schlechten wirtschaftlich-finanziellen Gesamtsituation in den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg ableiteten. Unübersehbar hatte sich in den zurückliegenden beiden Jahrhunderten die Tendenz zur Etablierung eines obrigkeitlichen Rats-Regiments gezeigt.37 Nach diesem Verständnis übten die Magistrate ihre Herrschaft im Auftrage des Kurfürsten als „untere Obrigkeit“ aus.38 Solche generell für 33

Carmen Winkel, Militär und Gesellschaft im 18. Jahrhundert – Die Garnisonstadt Rathenow 1733 – 1806, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 57 (2006), 84 – 108, hier 91. 34 Vgl. hierzu nur Ralf Pröve, Der Soldat in der ,guten Bürgerstube‘. Das frühneuzeitliche Einquartierungssystem und die sozioökonomischen Folgen, in: Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Paderborn 1996, hrsg. v. dems./Bernhard R. Kroener, 191 – 217. 35 Holger Th. Gräf, Militarisierung der Stadt oder Urbanisierung des Militärs? Ein Beitrag zur Militärgeschichte der frühen Neuzeit aus stadtgeschichtlicher Perspektive, in: Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer modernen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Ralf Pröve, Köln/Weimar/Wien 1997, 89 – 108, hier 100. 36 Vgl. in diesem Sinne: G. Schmoller, Deutsches Städtewesen (Anm. 9), passim; O. Hintze, Staat (Anm. 20), 409. 37 Anders lagen die Verhältnisse natürlich in den Mediatstädten, in denen diese Funktion der adlige Stadtherr bzw. landesherrliche Amtmann übernommen hatte. Vgl. dazu: Frank Göse, Zwischen adliger Herrschaft und städtischer Freiheit. Zur Geschichte kurmärkischer adliger Mediatstädte in der Frühen Neuzeit, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 47 (1996), 55 – 85. 38 Evamaria Engel, Die Stadtgemeinde im brandenburgischen Gebiet, in: Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa. Ein struktureller Vergleich, hrsg. v. Peter Blickle (Historische Zeitschrift Beih. N.F. 13), München 1991, 333 – 358, hier 349.

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die Kommunen des Alten Reiches seit dem 16. Jahrhundert auszumachenden Oligarchisierungstendenzen innerhalb der Stadträte sowie eine immer weiter eingeschränkte Partizipation der nicht zum Rat gehörenden Bürgerschaft an der Stadtpolitik ließen sich ebenso auf die hier interessierenden Städtelandschaften übertragen.39 Vor allem in den größeren Kommunen Brandenburg-Preußens mussten die Einwohner im Laufe der Zeit wahrnehmen, dass sich das Selbstverständnis ihrer Stadträte zunehmend von der Vorstellung entfernte, als Repräsentanten eines dem Gemeinwesen verpflichteten Gremiums zu agieren. Mit zunehmendem Unwillen reagierte man auf die „Vetternwirtschaft“ der Magistrate, die ein ständig wiederkehrendes Motiv in den zeitgenössischen Monita jener Zeit darstellte. In der Tat war in vielen Kommunen ein Großteil der Ratsmitglieder untereinander verwandt.40 Im altmärkischen Salzwedel galten nach einer Erhebung aus dem Jahre 1712 sogar neun der insgesamt zehn Ratsherren als miteinander verschwägert.41 Allerdings entwickelte sich schon vor dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. – teilweise in den Magistraten selbst – ein gewisses Unbehagen gegenüber diesem Missstand, um den Kritikern künftig keine allzu große Angriffsfläche mehr zu bieten. So wurde zwar im brandenburgischen Pritzwalk im März 1712 vermerkt, dass zwei „Consules“ miteinander verschwägert waren. Damit nun aber „dieser affinität halber es keinen Vorwurf und verdacht setzen möchte, haben sich die letztere vor geschehener Wahl schriftlich erklähret, daß sie in denen Consultationibus et Deliberationibus ihre Vota suspendiren und so lange die affinität stehet, keine praetendiren wollen“.42 Zu Klagen führte des Weiteren die fehlende Professionalität der Amtsausübung der Ratsmitglieder. Dies wurde aber zwangsläufig in dem Moment in immer geringerem Maße toleriert, als sich Unfähigkeit mit hochfahrendem Auftreten einiger Ratsangehöriger paarte. Dieses selbstherrliche Agieren fand gelegentlich in einer ausgeprägten Titelsucht seinen Niederschlag: „Es ist, ich weiß nicht was vor eine Einbildung, daß sie da alle gerne Consules heißen wollen, ohne nachzudenken, daß sie dadurch sich selbst mitsamt den ganzen Magistrat nur zum Gespött machen“, klagte etwa ein kurmärkischer Steuerrat.43 Auch in den mittleren und kleinen Städten waren solche Entwicklungen zu beobachten. Unumwunden sollen zum Beispiel einige Magistratsmitglieder der südlich Berlins gelegenen Stadt Mittenwalde im Jahre 1702 ihren Kritikern aus der Bürgerschaft entgegnet haben: „Wir haben zu Rathhau-

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Vgl. allgemein dazu: Kersten Krüger, Die deutsche Stadt im 16. Jahrhundert. Eine Skizze ihrer Entwicklung, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 2 (1975), 31 – 47, hier 42 – 45; H. Schilling, Die Stadt (Anm. 11), 48. 40 In Bielefeld betraf dies vor 1718 etwa die Hälfte der Magistratsangehörigen. Vgl. Reinhard Vogelsang, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, 2., verb. Aufl., Bielefeld 1989, 135. 41 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin [GStA PK], I. HA, Rep. 21, Nr. 161, unpag. 42 Ebd. 43 Zit. nach: W. Gundlach (Anm. 4), 9.

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se Macht, Recht und Unrecht zu machen, wie wir wollen“.44 Eine solche Haltung sprach auch aus der Auffassung des Magistrates der uckermärkischen Hauptstadt Prenzlau, wonach es angesichts der umstrittenen Besetzung der Kämmerer-Stelle im Ermessen des Rates liege, „was sie im Collegio für eine Person an des Eltesten stelle“.45 Vor allem die immer weitere Kompetenzen an sich ziehenden Bürgermeister verfügten in den meisten Magistraten über eine recht starke Stellung, die nicht selten dazu genutzt wurde, sich finanzielle Vorteile bei Gebührenerhebungen oder Verpachtungen zu verschaffen.46 Darauf wurde nicht zuletzt die zu häufigen Klagen Veranlassung gebende Neigung einiger Bürgermeister zurückgeführt, dass sie mit den anderen Ratsmitgliedern „nicht communiciren“ wollten.47 Das Unbehagen an diesem Hineinwachsen des Rates, resp. des Bürgermeisters in eine quasi-obrigkeitliche Stellung ließ das Bedürfnis schon in den spätmittelalterlichen Stadtgemeinden wachsen, ein gewisses Gegengewicht in Gestalt von Bürgervertretungen zu etablieren. Diese Verordneten bzw. Deputierten konnten in der Tat ein wichtiges Korrektiv gegenüber der erstarkten Position des Rates bilden. Die „Hinzuziehung von über die Ratskreise hinausgehenden Teilen der Stadtgemeinde“ bildete – wenn auch nicht kontinuierlich – „eine politische Größe“.48 Allerdings weisen die Verhältnisse in den Jahrzehnten vor dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. in den brandenburgisch-preußischen Städten kein einheitliches Bild auf. Wie auch in anderen deutschen Städtelandschaften gab es „für das Zustandekommen solcher Bürgerausschüsse […] keine festgelegten Regeln“.49 Häufig entstanden solche Vertretungen im Umfeld von Unruhen, und ihre Existenz ist nicht durchgängig nachweisbar. Im altmärkischen Stendal ist zum Beispiel seit dem frühen 17. Jahrhundert eine sogenannte „Beisprache“ belegt, die vornehmlich zur Meinungsbildung innerhalb der Bürger abgehalten wurde. Der Rat hatte aber die Legitimität dieses Gremiums stets bestritten.50 In Brandenburg an der Havel war zwar 1644 den Bürgern zugestanden worden, eine „Bürgersprache“ abzuhalten, doch soll deren Spielraum zunehmend eingeschränkt worden sein. Der Bürgerschaft hatte der Rat 1694 entgegengehalten: „Die ganze Gemeinde zu berufen, sei nicht mehr gebräuchlich“.51 Doch selbst in den Kommunen, in denen solche Bürgerschaftsvertretungen noch halbwegs regelmäßig zusammenkamen, bot dies nicht unbedingt die Gewähr dafür, dass diese auch eine wirksame Kontrollfunktion gegenüber dem Magistrat ausüben konnten. Im kurmärkischen Mittenwalde jedenfalls hegte man 1702 daran berechtigte Zweifel, 44

GStA PK, I. HA, Rep. 21, Nr. 98 Mittenwalde, unpag. GStA PK, I. HA, Rep. 21, Nr. 116c, Bl. 25. 46 Vgl. am Beispiel der hinterpommerschen Städte: O. Vanselow (Anm. 23), 99. 47 Zit. nach: I. Barleben (Anm. 15), 72. 48 E. Engel (Anm. 38), 339. 49 Ulrich Rosseaux, Städte in der Frühen Neuzeit (Geschichte kompakt), Darmstadt 2006, 45

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50 Vgl. Ludwig Götze, Urkundliche Geschichte der Stadt Stendal, Neudruck der 1. Aufl., Stendal 1929, 387. 51 O. Tschirch (Anm. 29), 159.

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was in einem heute nur schwer zu deutenden Wortspiel seinen Ausdruck fand: So nehme der dortige Magistrat zwar „zum Schein nach ihrem Willen 6 Verordnete an“, jedoch „lassen dieselbe des Raths heimlichkeiten verschwehren, aber der Stadt Nutzen verschweren sie“. Daraus leiteten die Supplikanten die Bitte ab, vier Bürger zu Verordneten zu wählen, damit der Rat „fernerhin nicht mehr wie bis dato ärger als ein vor das thor stehender grimmiger Feindt mit uns verfahren“ können.52 Allerdings ist nicht zu übersehen, dass es sich bei der Kritik der Bürgerschaft an der Amtsführung der Magistrate um kein durchgängiges Motiv handelte. Vielmehr wurde diese vor allem dann artikuliert, wenn die Situation innerhalb der betreffenden Kommune durch eine angespannte Ressourcenlage charakterisiert war. Ansonsten – auch dies hat man sich immer zu vergegenwärtigen – wurde die quasi-obrigkeitliche Stellung des Magistrates „auf der Grundlage eines nie angezweifelten Ordnungskonzeptes“ akzeptiert.53 Nicht das „Ob“, sondern allenfalls das „Wie“ der Ausübung ratsherrlicher Autorität stand zur Diskussion. Ein in den Gravamina der Bürgerschaften schon seit langem immer wieder zur Sprache gebrachter Kritikpunkt stellte die schlechte Haushaltspolitik der Magistrate dar.54 Die Ursachen für die desolate pekuniäre Situation in den Kommunen waren indes vielschichtig und sind nur zum Teil in einem unsoliden Finanzgebaren der Stadträte zu suchen. Man muss die strukturellen Rahmenbedingungen von individuellem Fehlverhalten unterscheiden. Zum ersten Bereich zählt die infolge des Dreißigjährigen Krieges, zum Teil aber schon davor angehäufte und bis zum frühen 18. Jahrhundert nur geringfügig abgetragene Schuldenlast der Städte. Zudem waren in der Zwischenzeit neue Belastungen hinzugekommen, für die nicht zuletzt der stärker als zuvor eine rigide Ressourcen-Abschöpfungspolitik betreibende Staat verantwortlich zeichnete. Der wachsende Militäretat sowie die für den intensiv betriebenen Rückkauf bzw. Neuerwerb von Domänenbesitz und den gezielten Ausbau der Berlin-Potsdamer Residenzlandschaft benötigten finanziellen Mittel trieben die Steuerforderungen in bislang ungeahnte Höhen – und dies vor dem Hintergrund von Kapitalarmut und einer langlebigen Agrardepression!55 Allzu offensichtlich stand „die seit dem späten 17. Jahrhundert sich entfaltende Blüte der Berliner Residenzlandschaft in einem scharfen Gegensatz zu der verbreiteten Armut in den Landstädten

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GStA PK, I. HA, Rep. 21, Nr. 98 Mittenwalde, unpag. W. Mager (Anm. 12), 95. 54 Übergreifend dazu bei G. Schmoller, Deutsches Städtewesen (Anm. 9), 253 f.; zu den westfälischen Kommunen vgl. Thomas Vormbaum, Autonomie, Zentralismus und Selbstverwaltung. Die westfälische Kommunalverfassung und ihre Anwendung in Hamm vom Ausgang der altpreußischen Zeit bis zur Einführung der Revidierten Städteordnung (1700 – 1835), in: 750 Jahre Stadt Hamm, hrsg. v. Herbert Zink, Hamm 1976, 255 – 292, hier 259. 55 Vgl. hierzu das Zahlenmaterial bei Adolph Friedrich Riedel, Der brandenburgischpreußische Staatshaushalt in den letzten beiden Jahrhunderten, Berlin 1866, passim. 53

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der Mark“.56 Diese misslichen Zustände brachte man zuweilen auch von Seiten der städtischen Repräsentanten zur Sprache: So wurde zum Beispiel durch den Stendaler Magistrat sehr pointiert der Anteil der Landesherrschaft an der schlechten Situation der Städte herausgestellt: „Nachdem aber von der gnädigen Herrschaft denen Städten eine Impositio nach der anderen angemuthet, die vorhin und anfangs nur voluntariae et temporarirae gewesen, so haben sich auch die Schulden bey den Städten angesponnen(?) und von Jahren zu Jahren in mehr und mehr incrementa geschöpfet.“57 Im Lichte dieser längerfristigen Kontinuitäten innerhalb der städtischen Finanzpolitik wird man sich die Frage vorlegen müssen, warum die Landesherrschaft mit dem Beginn der Regierungszeit König Friedrich Wilhelms I. – so die gängige Sichtweise – einen solchen akuten Handlungsbedarf für Veränderungen gesehen hatte. Zum einen wurde dies mit dem Herrschaftsstil des neuen Königs erklärt, der in der Tat andere Nuancen in die alltägliche Regierungspraxis eingeführt hatte.58 Die in Einzelstudien vorgenommene Auswertung der Quellen zeigt zum anderen jedoch auch, dass die Anstöße zur Beseitigung dieser Missstände und zu den regulierenden Aktivitäten oftmals von den Kommunen selbst ausgegangen waren. Und solche Initiativen sind zudem schon geraume Zeit vor 1713 zu bemerken!59 Dies wurde zwar gelegentlich durch die ältere Forschung zur Kenntnis genommen, allerdings wies man diesen Bemühungen nur marginalen Wert zu, die allenfalls Ausnahmecharakter getragen hätten. Und selbst da, so wurde einschränkend formuliert, wo schon vor 1713 „Reglements existierten, waren sie noch weit entfernt, strikt befolgt zu werden. […] Erst die die unerbittliche Hand Friedrich Wilhelms I.“ hätte „definitiv aufgeräumt“.60 Dies verweist zugleich darauf, dass es von Seiten der zentralen Verwaltungsbehörden noch erhebliche Reserven mit Blick auf Effizienz und Professionalität gab. Dabei hat man zunächst und vor allem das geringe Personaltableau der Verwaltung im Blick zu behalten. Der schon des Öfteren als „Konstruktionsfehler der preußischen Staatsorganisation“ monierte Gegensatz zwischen Kommissariatsund Kammeradministration musste sich zwangsläufig in der Städtepolitik widerspiegeln.61 Während die Kommissariatsverwaltung, der auch die für die Städteaufsicht 56 Peter-Michael Hahn, Fürstliche Territorialhoheit und lokale Adelsgewalt. Die herrschaftliche Durchdringung des ländlichen Raumes zwischen Elbe und Aller (1300 – 1700) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 72), Berlin/New York 1989, 239. 57 GStA PK, I. HA, Rep. 21, Nr. 1a, Fasz. 1, Bl. 246. 58 Vgl. hierzu zusammenfassend Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, Bd. 1: Anfänge, Landesstaat und monarchische Autokratie bis 1740 (Kohlhammer-Urban-Taschenbücher 573), Stuttgart 1996, 199 – 207; Peter Baumgart, Friedrich Wilhelm I. (1713 – 1740), in: Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., hrsg. v. Frank-Lothar Kroll, München 2000, 134 – 159. 59 Vgl. dazu mit vielen Belegen für den kurbrandenburgischen Fall Frank Göse, Zwischen beanspruchter Selbstverwaltung und landesherrlicher Reglementierung. Die brandenburgischen Städte um 1700, in: Im Schatten der Krone. Die Mark Brandenburg um 1700, hrsg. v. dems. (Brandenburgische historische Studien 11), Potsdam 2002, 99 – 142. 60 G. Schmoller, Deutsches Städtewesen (Anm. 9), 271 f. 61 W. Neugebauer, Brandenburg-Preußen (Anm. 6), 266.

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zuständigen Steuerkommissare bzw. Steuerräte unterstanden, die Gewerbeförderung als eines ihrer wichtigen Anliegen betrachtete, konterkarierte die Prioritätensetzung der Kammeradministration (Amtskammern) zuweilen diese Ansätze. Mit der 1723 erfolgten Bildung der Kriegs- und Domänenkammern hoffte man künftig diese Reibungsverluste zu reduzieren. II. Damit treten nunmehr die städtepolitischen Reformen Friedrich Wilhelms I. selbst in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen. Als Ansatzpunkt für das staatliche Eingreifen galt, wie erwähnt, vornehmlich die desolate Finanzsituation der städtischen Haushalte. Dem König war vor allem daran gelegen, dass die Städte Überschüsse erzielten und sich künftig auf eigene Einnahmen stützen konnten. Doch auch auf diesem Terrain war schon während der Regierungszeit Friedrichs III./I. wichtige Vorarbeit geleistet worden.62 Die Sensibilität gegenüber dem kritisierten Finanzgebaren der Magistrate war schon seit längerem innerhalb der Bürgerschaft geweckt. Es ist bereits erwähnt worden, dass es fast immer finanzielle Angelegenheiten waren, die zu innerstädtischen Auseinandersetzungen geführt hatten. Der Landesherrschaft war also nicht nur aus fiskalischen Motiven heraus an einer Stabilisierung der Finanzverhältnisse in den Kommunen gelegen, sondern auf Grund unliebsamer Erfahrungen auch deshalb, um den innerstädtischen Frieden zu wahren. Um solchen ungünstigen Entwicklungen vorzubeugen bzw. möglichst zeitig über solche im Bilde zu sein, bemühte sich die landesherrliche Verwaltung um genauere und regelmäßiger eingehende Informationen über Bevölkerungszahl, Gewerbedifferenzierung und Steuereinnahmen in den Städten. Schon im frühen 17. Jahrhundert wurden in der Kurmark Visitationen der Rathäuser angeordnet, um „dadurch den Zustand derselben und wie darin mit Einnahmen und Ausgaben, Steuern, Abtragung der Schulden […] verfahren“, zu ermitteln.63 Die Quellen belegen aber zugleich die großen administrativen Probleme bei der Umsetzung dieser Visitationen. Die Zeit des Dreißigjährigen Krieges führte solche Bemühungen ohnehin ad absurdum, so dass erst in den letzten Lebensjahren des Großen Kurfürsten und vor allem während der Regierungszeit Friedrichs III./I. wieder begonnen worden war, sich ein genaueres Bild zu verschaffen und Zählungen der Untertanen und Feuerstellen vorzunehmen, auch wenn diese Bemühungen immer noch recht unausgereift blieben.64 Neben feststehenden Posten wie den Zinsen von Kapitalien und Gewinnen aus den der Stadt gehörenden Grundstücken setzten sich die Einnahmen der städtischen Kämmereien vor allem aus unbeständigen Zahlungseingängen zusammen. Laut den überlieferten Grund- und 62 Für die Westprovinzen vgl. Dieter Stievermann, Preußen und die Städte der westfälischen Grafschaft Mark im 18. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 31 (1981), 5 – 33, hier 8; für die Mark Brandenburg: F. Göse, Zwischen beanspruchter Selbstverwaltung (Anm. 59). 63 GStA PK, I. HA, Rep. 21, Nr. 161, unpag. (zum 7. Januar 1603). 64 Kein geringerer als G.W. Leibniz fungierte hierbei als „Spiritus Rector“ einer professionalisierten statistischen Erhebung im Jahre 1700. Vgl. O. Behre (Anm. 25), 163 f.

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Lagerbüchern handelte es sich um die Bürgergelder (abhängig von der Anzahl der gewährten Bürgerrechte), Standgebühren auf den Märkten (abhängig von der Zahl der den jeweiligen Markttag frequentierenden Händler) und verschiedene Ziese-Einnahmen (abhängig vom Umfang der verkauften Waren).65 Gerade in diesen Bereichen hoffte man langfristig auf eine Steigerung der Einkünfte. Von daher erschien es nur folgerichtig, dass im Rahmen der Städtepolitik Friedrich Wilhelms I. besonderer Wert auf Maßnahmen zur Gewerbeförderung und Peuplierung gelegt wurde. Diese Anstrengungen sollten zudem möglichst alle Städte des Staates einschließen.66 Im Unterschied zu seinem Großvater, Kurfürst Friedrich Wilhelm, während dessen Regierungszeit Zuwachsraten vor allem innerhalb der Residenzlandschaft zu verzeichnen waren, bemühte sich König Friedrich Wilhelm I. darum, seine Reformen flächendeckend umzusetzen, freilich auch in nivellierender Absicht. Dabei wurde zumindest versucht, „die Proportionen zwischen Berlin und den sonstigen Städten“ im Auge zu behalten.67 Die weiter blickenden Beamten des Generaldirektoriums waren sich dabei durchaus der Bedeutung der kleineren Städte bewusst; man denke in diesem Zusammenhang etwa an die planmäßige Ausweitung des Textilgewerbes auf diese Städtegruppe.68 Natürlich ließen sich innerhalb dieser Städte-„Förderpolitik“ Friedrich Wilhelms I. Prioritätensetzungen ausmachen. So galt es zum Beispiel die von ihm gleich zu Regierungsbeginn als Hauptresidenz auserkorene Stadt Potsdam auch finanziell in die Lage zu versetzen, diese neuen Aufgaben zu erfüllen. Aus diesem Grunde wurde in Potsdam eine Kämmerei eingerichtet, zu deren Grundfinanzierung die anderen brandenburgischen Kommunen eine Zwangsabgabe zu entrichten hatten.69 An diese Vorarbeiten anknüpfend wurden dann vor allem im Umfeld der umfassenden Verwaltungsreform zu Beginn der 1720er Jahre flächendeckende statistische Erhebungen vorgenommen, die noch mit den Unvollkommenheiten des gerade erst zu Ende gehenden vorstatistischen Zeitalters behaftet waren.70 Dabei gewannen die 65 Vgl. hierzu am Beispiel der kurmärkischen Stadt Beelitz die Aufstellungen in der Akte GStA PK, II. HA, Abt. 14, Tit. CVIIIa, Nr. 8, Bl. 4 – 6. 66 Vgl. dazu die Quellenedition von Rudolph Stadelmann, Friedrich Wilhelm I. in seiner Thätigkeit für die Landescultur Preußens (Publikationen aus den k. preußischen Staatsarchiven 2), Leipzig 1878. Den neueren Forschungsstand resümiert Wolfgang Neugebauer, Brandenburg-Preußen (Anm. 6), bes. 285 – 297. 67 Gerd Heinrich, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1981, 243. 68 Dies betraf zum Beispiel die Neumark, in der sich eine „große Exportindustrie“ entwickeln konnte. In der Kurmark partizipierten neben der Residenzlandschaft auch Mediatstädte wie Wilsnack, Lenzen und Storkow an dieser Entwicklung. Vgl. Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die einzelnen Gebiete der Verwaltung, Bd. 5: Die Wollindustrie in Preußen unter Friedrich Wilhelm I. Darstellung mit Aktenbeilagen, bearb. v. Carl Hinrichs, Berlin 1933, 118 f. 69 Vgl. Heinrich Wagener, Wie Potsdam eine Kämmerei erhielt, in: Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde 12 (1875), 170 – 198. 70 Jüngst zu diesem Themenkreis übergreifend: Joachim P. Heinz, Vom Nutzen und Nachteil der Statistik in vor-statistischer Zeit, in: Landes-, Regional- und Mikrogeschichte.

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Städtetabellen mit möglichst detaillierten Angaben über die Einwohner- und Häuserzahl, Gewerbeverteilung, das Steueraufkommen (Akzise) sowie die Finanzsituation der Kommunen (Activa und Passiva) eine besondere Bedeutung.71 Wie diese Versuche einer statistischen Erfassung von den Betroffenen mental wahrgenommen wurden, lässt sich nur indirekt aus den Quellen erschließen. In Dramburg (Neumark) schien jedenfalls in dieser Zeit nach Auffassung des Stadtchronisten überhaupt „zum ersten Male eine Zählung der Einwohner vorgenommen [worden] zu sein“.72 Durch hinhaltende Manöver versuchten die Magistrate sich anfangs der für sie ungewohnten Registrierung zu entziehen, was langfristig kaum erfolgreich sein konnte. In diese regulierenden Bemühungen ordneten sich auch Vorhaben ein, die eine „Combinirung“ von solchen Kommunen anstrebten, die unmittelbar aneinander grenzten, dennoch aber seit dem Mittelalter in einem Konkurrenzverhältnis zueinander gestanden hatten. Den Hintergrund dafür bot abermals die schwierige finanzielle Lage, in der sich die Haushalte der betreffenden Städte befanden und die man durch ihre Zusammenlegung zu verbessern hoffte. Erste Vorstöße in Richtung einer Vereinigung der Kommunen hatte es bereits unter dem alten König gegeben. Erinnert sei insbesondere daran, dass schon in den Jahren 1707 – 1709 die Vereinigung der Magistrate der Schwesterstädte Berlin, Cölln, Friedrichswerder, Friedrichstadt und Dorotheenstadt vollzogen worden war.73 In den ersten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms I. wurden dann mit der Zusammenlegung der Alt- und Neustädte von Salzwedel 171374, Brandenburg (Havel) 171575 und Königsberg (Preußen)76 diese Anstöße

Perspektiven für die Pfalz und ihre Nachbargebiete, hrsg. v. Joachim P. Heinz/Frank Konersmann (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Speyer 112), Speyer 2014, 73 – 96. 71 Vgl. O. Behre (Anm. 25), 171 – 177. 72 Paul van Niessen, Geschichte der Stadt Dramburg. Festschrift zur Jubelfeier ihres sechshundertjährigen Bestehens, Dramburg 1897, 216. 73 Vgl. Karl Schrader, Die Verwaltung Berlins von der Residenzstadt des Kurfürsten Friedrich Wilhelm bis zur Reichshauptstadt. Phil. Diss. Berlin 1963, 26 – 59; Felix Escher, Die brandenburgisch-preußische Residenz und Hauptstadt Berlin im 17. und 18. Jahrhundert, in: Geschichte Berlins, Bd. 1: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, hrsg. v. Wolfgang Ribbe, München 1988, 341 – 403. 74 Vgl. Steffen Langusch, Sie waren zwei und wurden eins – Das 18. Jahrhundert als Salzwedels Jahrhundert der Einheit, in: Beiträge zur Regional- und Landeskultur SachsenAnhalts 25 (2003), 176 – 190; Lieselott Enders, Die Altmark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft in der Frühneuzeit (Ende des 15. bis Anfang des 19. Jahrhunderts) (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 56), Berlin 2008, 1063 f. und 1103 – 1105. 75 Vgl. jüngst aus übergreifend-vergleichender Perspektive dazu: Udo Geiseler, Die Vereinigung der Städte Alt- und Neustadt Brandenburg 1715. Ein Beitrag zur Städtepolitik König Friedrich Wilhelms I., in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 60 (2009), 119 – 138.

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aufgegriffen und weitergeführt. Dass in den genannten Orten zumeist nur geringer Widerstand gegen diese doch recht gravierenden Veränderungen artikuliert wurde, spricht dafür, dass die mit der „Combinirung“ beabsichtigten Effekte (Einsparungen77, Zurückdrängung der Ratsoligarchie) durchaus den Interessen eines großen Teils der Bürgerschaft entsprachen. Angesichts der eingangs geschilderten Kritikpunkte an den innerstädtischen Verhältnissen erschien es nicht verwunderlich, dass ein wichtiges Augenmerk auf die künftige personelle Zusammensetzung der Magistrate gelegt wurde. Im Juli 1718 erging eine königliche Verordnung an das General-Kriegskommissariat wegen einer „vorzunehmende[n] Untersuchung und bessere[n] Besetzung der Rathäuser mit tüchtigen Persohnen“. Die Amtsträger sollten über „Tüchtigkeit, Fleiß und Aufführung aller und jeder RathsGlieder überall genaue und pflichtmäßige Erkundigung einziehen“. Als Konsequenz daraus würden dann zu Beginn des kommenden Jahres die unfähigen Magistrats-Mitglieder entlassen und durch „geschicktere Leuthe, die den Städten gehörig vorstehen und dienen können“, ersetzt werden. Zugleich wäre dabei zu erwägen, „ob nicht an einigen Orthen der Magistrat auf wenige Persohnen füglich reduziert werden könne“.78 In der Tat galt neben der kontinuierlichen Arbeit der nun nicht mehr jährlich wechselnden Räte die Verminderung der Zahl der Ratsverwandten als die entscheidende Neuerung der Städtereform Friedrich Wilhelms I. Jedoch muss berücksichtigt werden, dass sich in einigen Städten schon lange zuvor die Einsicht verstärkt hatte, die personelle Größe der Magistrate zu vermindern. Im altmärkischen Tangermünde war zum Beispiel „schon 1693 verordnet worden, das nur 2 Bürgermeister, ein beständiger Kämmerer, 2 Rahtspersonen und ein Stadtschreiber im Magistrat sein sollte“.79 An frühere Vorstöße konnte die Landesherrschaft auch im Bemühen um einen Professionalisierungsschub anknüpfen. In der genannten königlichen Verordnung wurde ausdrücklich auf jene Praxis verwiesen, „gleich wie vorhin zu Unseres Seel. General Commissarii des von Danckelmann Zeiten geschehen ist“.80 In einigen bedeutenderen Städten war es nämlich schon seit langem üblich, dass ein Teil der Ratsverwandten, mitunter sogar die Bürgermeister selbst, andere Funktionen wahrnahmen. In Stendal und Salzwedel amtierten einige Magistratsmitglieder als Assessoren bzw. Advokaten am Altmärkischen Quartalgericht; weiterhin sind Fälle über76 Vgl. Fritz Gause, Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, Bd. 2: Von der Königskrönung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, 2., erg. Aufl., Köln/Weimar/Wien 1996, 65 – 88. 77 Dass solch ein Motiv aufscheint, wird an der vom König vorgenommenen radikalen Abschaffung eines ganzen Magistratskollegiums deutlich, als er Charlottenburg in ein Dorf verwandeln ließ. Vgl. W. Gundlach (Anm. 4), 68 f. 78 GStA PK, I. HA, Rep. 21, Nr. 161, unpag. 79 Johann Christoph Bekmann/Bernhard Ludwig Bekmann: Historische Beschreibung der Chur und Mark Brandenburg …, Berlin 1753, Zweiter Band, 5. Theil, I. Buch, 6. Kapitel, 35. 80 GStA PK, I. HA, Rep. 21, Nr. 161, unpag. Gemeint ist der unter Friedrich III./I. amtierende Generalkriegskommissar Daniel Ludolph v. Danckelman (1648 – 1709).

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liefert, bei denen Bürgermeister bzw. Ratsverwandte eine Karriere als Regierungsund Steuerräte in Angriff nahmen, damit also in landesherrliche Dienste wechselten. Ebenso bekleideten nicht wenige Magistratsangehörige zugleich Ämter als AkziseEinnehmer, Postmeister oder Salzfaktoren.81 Über den Gardelegener Magistrat wusste Bekmann gar zu berichten, es sei „merkwürdig, daß selbiger allezeit mit Literatis, gelehrten leuten versehen gewesen, man auch keinen leichtlich in den Raht genommen, der nicht zuvor auf einer Hohenschule gewesen und studirt gehabt hätte“.82 Solche Belege vergegenwärtigen, dass es eine unzulässige Verallgemeinerung darstellen würde, wollte man flächendeckend den Magistraten vor den nach 1713 eingeleiteten Reformen Bildungsferne vorwerfen. So schienen schon nach Auffassung der älteren Forschung in den pommerschen Städten die „Persönlichkeiten der Ratsmitglieder an sich […] im ganzen und großen zu den tüchtigeren Elementen der Städte gehört zu haben“.83 Zu denken geben muss ferner die Tatsache, dass der König bei der Neubesetzung der nunmehr verkleinerten Ratskollegien in den Städten seiner westlichen Provinzen zum überwiegenden Teil auf den Kreis der bisherigen Ratspersonen zurückgriff.84 Zugleich deuten die im Ganzen doch recht offenen und schon lange zu beobachtenden Übergänge zwischen städtischen Ämtern und landesherrlichen Chargen an, dass die früher recht scharf akzentuierte „Verbeamtung“ bzw. „Verstaatung“ der Magistrate im Zuge der Städtereformen Friedrich Wilhelms I. bereits auf Voraussetzungen aufbauen konnte. Diese Ämterkumulationen und Mobilitätskanäle wecken zugleich die Sensibilität dafür, dass man es mit gewachsenen Loyalitäten zu tun hatte und dass das den Magistraten nach 1713 attestierte größere Entgegenkommen gegenüber den Bürokratisierungstendenzen nicht mit einem plötzlich erwachten „Untertanengeist“ der Ratsangehörigen zu erklären ist. Einen weiteren Ansatzpunkt für landesherrliche Interventionen boten die Verhältnisse im Handwerk, die in starkem Maße durch die Zunft-Traditionen geprägt waren.85 Auch hier kann von einer Gemengelage zwischen fürstlichen Wünschen nach stärkeren Eingriffsmöglichkeiten und der Kritik eines Teils der Stadtbevölkerung an den in ihren Augen verkrusteten gewerberechtlichen Strukturen ausgegangen werden. Die Kritik entzündete sich an einer ganzen Reihe von „Handwerksmissbräuchen“, zu denen die Bemühungen einer Abschließung der Zünfte durch Zugangserschwernisse ebenso zählten wie die sogenannten „blauen Montage“ oder die mitunter tumultartigen Verläufe der „Morgensprachen“ oder die Korruptionen bei den Meis-

81 Weitere Belege dazu für die altmärkischen und Prignitzer Städte bei I. C. Bekmann/B. L. Bekmann (Anm. 79). 82 Ebd., 4. Kapitel, 45. 83 O. Vanselow (Anm. 23), 101. 84 Vgl. D. Stievermann (Anm. 62), 10. 85 Vgl. hierzu: Wilfried Reininghaus, Stadt und Handwerk. Eine Einführung in Forschungsprobleme und Forschungsfragen, in: Stadt und Handwerk in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. v. Karl Heinrich Kaufhold/Wilfried Reininghaus (Städteforschung A/54), Köln/ Weimar/Wien 2000, 1 – 19, hier 7 f.

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ter-Aufnahmen.86 Die Magistrate trachteten deshalb aus nachvollziehbaren Gründen nach einer größeren Einflussnahme, so zum Beispiel, wenn sich „der Rat einen eigenen Eindruck von dem Bewerber“ auf eine Meisterstelle verschaffen wollte.87 Im Interesse der Städte lagen vor allem Verbote von Preisabsprachen, verbindliche Festlegungen von Taxen oder die Vermeidung von „Pfusch“. Das Unbehagen eines Teils der Bevölkerung der Kommunen in der Grafschaft Mark „gegen schädliche innovationes, Verträge und Verbündnisse der Zünfte“ wurde von Seiten der Landesherrschaft (in Gestalt der klevischen Regierung) genutzt, um eigene gewerbepolitische Interessen zu verfolgen.88 Ihr ging es vor allem darum, den von ihr geförderten Produktionszweigen wie der Leineweberei oder dem Eisengewerbe möglichst optimale Rahmenbedingungen zu verschaffen. Besonders die mitunter rigide Haltung der Zünfte gegen ausländische „Manufacturiers“, die angesichts vieler unbesetzter Stellen dringend benötigt wurden, war der landesherrlichen Verwaltung ein Dorn im Auge.89 Nicht zu vergessen sind die Bemühungen auf städtebaulichem Gebiet. Der Wunsch Friedrich Wilhelms I., die Städte mit neuen Häusern zu füllen, erklärte sich vornehmlich aus bevölkerungspolitischen und fiskalischen Motiven und stand in der Tradition seiner beiden Vorgänger. Zwar richtete sich dabei die Aufmerksamkeit vor allem auf solche bedeutenden Kommunen wie Berlin oder Potsdam,90 jedoch ruhte das Auge des Königs und des Generaldirektoriums auch auf der Entwicklung in den kleineren Kommunen. 1721 ordnete der Monarch an, dass den Bebauern wüster Stellen im neumärkischen Dramburg aus der Akzisekasse ein Teil der Baufreiheitsgelder zur Verfügung gestellt werden sollte.91 In der westfälischen Grafschaft Mark wurden nach einer Reihe von Stadtbränden Pläne zur Verbesserung der Stadtstruktur diskutiert. In diesem Umfeld bot sich zugleich eine Möglichkeit, die Katastrophenhilfe und -vorbeugung zu optimieren. Doch hielt sich die Freizügigkeit des Königs in Grenzen und war finanziellen Erwägungen untergeordnet. Als die lokalen Behörden zum Beispiel in dem 17 Jahre zuvor durch einen Brand fast völlig zerstörten pommerschen Köslin 1735 den Bau einer Wasserleitung zum besseren Feuerschutz in Erwägung zogen, reagierte der König ablehnend: „Was Ihr von dem dort fehlenden Wasser schreibet, So bin ich gewiß, daß Wasser genug da ist, wenn nur deshalb gehörige Anstalt gemacht wird, welches gar füglich ohne kostbahre Wasserleitung, die doch vielleicht den gehofften Effect nicht thun würde, geschehen kann.“ Es belegt 86 Vgl. hierzu: G. Schmoller, Deutsches Städtewesen (Anm. 9); Dietmar Peitsch, Zunftgesetzgebung und Zunftverwaltung Brandenburg-Preußens in der frühen Neuzeit (Europäische Hochschulschriften 2/442), Frankfurt a.M. u. a. 1985, 60 – 71; Helga Schultz, Das ehrbare Handwerk. Zunftleben im alten Berlin zur Zeit des Absolutismus, Weimar 1993. 87 D. Peitsch (Anm. 86), 69. 88 W. Reininghaus, Zünfte (Anm. 17), 29. 89 Vgl. ebd., 32. 90 Vgl.: Geschichte der Stadt Potsdam, hrsg. v. Julius Haeckel, Potsdam 1912; F. Escher (Anm. 73). 91 Vgl. P. v. Niessen (Anm. 72), 217.

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zugleich die eigentlichen Prioritätensetzungen Friedrich Wilhelms, als er sein Schreiben mit der Bemerkung schloss: „Daß übrigens bey dem Regiment noch mehrere schöne Recruten ankommen, vernehme sehr gern.“92 Und dies in einer Stadt, in der eines der wenigen Standdenkmäler dieses Königs, in diesem Fall von Johann Georg Glume geschaffen, kurz zuvor errichtet worden war – in Würdigung seines Beitrages für den Wiederaufbau der Stadt! Des Weiteren gilt es einschränkend festzuhalten, dass solchen stadtplanerischen Aktivitäten kein „Masterplan“ zugrunde lag. Vielmehr wurde in solchen Fällen zumeist ad hoc reagiert, ohne dass „ein einheitliches Konzept der preußischen Behörden für die Wiederaufbauten erkennbar“ gewesen wäre.93 Dahinter stand das Bemühen, zum einen die die Brandausbreitung begünstigende enge Bebauung in den Kommunen aufzulösen und zum anderen eine städtebauliche Konzeption durchzusetzen, die stärker den zeitgeistigen Vorstellungen exakter linearer Grundrisse und großzügigerer Bebauungen entsprach. Solche Entwicklungen kennzeichnen nicht zur die Berliner und Potsdamer Residenz. Ähnliche Bemühungen, die sich auf ein „eindrucksvolles, harmonisches Bild geschlossener Giebelreihungen“ oder auf die „durchgängig gleich hohe Anordnung der Hauptgesimse aller Häuser“ richteten, können in den 1720er und 30er Jahren auch in einer der für Magdeburg repräsentativsten Straßen, dem Breiten Weg, ausgemacht werden.94 In Garnisonstädten wie Magdeburg, in denen solche mit weitgehenden Kompetenzen ausgestattete und sich enger Kontakte zum König erfreuende Gouverneure wie Leopold von AnhaltDessau agierten, konnten derartige Pläne vergleichsweise leicht durchgesetzt werden. Dagegen hielten sich weitreichende Wirkungen, die sich aus der militärischen Präsenz in der Stadt ergaben, in Halle (Saale) in Grenzen. Sowohl mit Blick auf die Bau- und Infrastruktur als auch „in sozioökonomischer Hinsicht“ seien von der Garnison „keine Impulse“ ausgegangen.95 III. Entgegen dem kolportierten Urteil war die Städtereform König Friedrich Wilhelms I. weder „beim Regierungsantritt Friedrichs II. in der Hauptsache abgeschlos92

GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 12, Bl. 26 (zum 13. Juli 1735). Thomas Spohn, „Sollen recht ordentlich bauen sonder Resoniren. F[riedrich] W[ilhelm]“. Hausbau und Stadtplanung unter preußischem Einfluß, dargelegt am Wiederaufbau der märkischen Städte und Flecken im 18. Jahrhundert, T. 1, in: Der Märker. Landeskundliche Zeitschrift für den Bereich der ehem. Grafschaft Mark und den Märkischen Kreis 39 (1990), 191 – 206, hier 200. 94 Thomas Topfstedt, Stadtentwicklung und Architektur vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Magdeburg. Die Geschichte der Stadt 805 – 2005, hrsg. v. Matthias Puhle/Peter Petsch, Dössel (Saalkreis) 2005, 479 – 492, hier 486. 95 Werner Freitag/Michael Hecht, Verlassene Residenz und Konsumentenstadt an der preußischen Peripherie (1680 – 1806), in: Geschichte der Stadt Halle, Bd. 1: Halle im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Werner Freitag/Andreas Ranft, Halle (Saale) 2006, 405 – 429, hier 422. 93

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sen“, noch gab es eine Reform der städtischen Verwaltung „aus einem Guss“.96 Vielmehr handelte es sich um eine Vielzahl von Verordnungen, deren Wirkungsbereich sich zumeist auf einzelne Provinzen bzw. Kommunen beschränkte, was sinnfällig den regionalistischen Charakter der preußischen Monarchie widerspiegelt. Zudem wurden die Reformen „nicht im Wege einer einheitlichen, umfassenden Gesetzgebung, sondern […] mittelst der Einzelverordnung“ umgesetzt.97 Das wichtigste Instrument der unmittelbar auf die einzelnen Kommunen bezogenen Reformen stellten die „Rathäuslichen Reglements“ dar, in denen möglichst detailliert die künftige Verwaltungspraxis vorgezeichnet werden sollte.98 Diese standen in einer langen Tradition landesherrlicher Interventionspolitik gegenüber den Städten. Deshalb sollte bedacht werden, dass es sich aus der Sicht der Stadtgesellschaften um wahrlich keine allzu einschneidende Neuerung handelte. Vielmehr gilt es im Blick zu behalten, dass solche bis in das Spätmittelalter zurückreichenden Einflussnahmen nicht generell als Eingriff in die tradierte Stadtverfassung wahrgenommen wurden, zumal diese nur fallweise und anlassgebunden auftraten. Einen wichtigen Eckpunkt dieser Reform bildete der Wegfall des jährlichen Ratswechsels, d. h. die durch Kooptation in das Gremium gelangten Ratsmitglieder blieben nunmehr bis zu ihrem durch Tod, Krankheit oder Wegzug bedingten Ausscheiden im Amt. Nach dem für Prenzlau 1732 eingeführten Reglement, das dann bis zu den preußischen Städtereformen des frühen 19. Jahrhunderts in Kraft bleiben sollte, bestand der Magistrat aus elf Mitgliedern, die – basierend auf Personalvorschlägen seitens der Stadt – vom König bestätigt werden mussten.99 Dabei wäre „mit Beiseitsetzung alles Privat-Interesse, Freundschaft oder Verwandtschaft dahin zu sehen, daß gewissenhafte, arbeitsame, tüchtige […] Personen erwählt“ würden. Der regierende Bürgermeister, der sogenannte „Consul perpetuus“, übte zugleich die Funktion des Stadtrichters aus. Weitere Bestimmungen zielten auf eine differenzierte Ressortzuweisung, auf die Stärkung der Rolle des Ersten Bürgermeisters als „Consul dirigens“ und ermahnten die Ratsherren zu größerer Zuverlässigkeit in der täglichen Wahrnehmung der Amtsgeschäfte. Letztlich hatten diese Reglements also eine größere Professionalisierung der Arbeit in den Magistraten im Blick. Dem entsprach, dass zunehmend studierte Juristen auf Positionen in den Magistraten rückten. In den Klein- und Mittelstädten, die in der Regel solche juristisch geschulten Amtsträger nicht aus ihren eigenen Reihen rekrutieren konnten, führte dies dazu, dass damit zugleich der Anteil Auswärtiger unter den Magistratsangehörigen anwuchs.100 96

O. Hintze, Einleitende Darstellung (Anm. 31), 240. W. Gundlach (Anm. 4), 4. 98 G. Schmoller, Deutsches Städtewesen (Anm. 9). 99 Siehe die Belege auch zum Folgenden aus: Frank Göse, Prenzlau in der Zeit des „Absolutismus“ (1648 bis 1806), in: Geschichte der Stadt Prenzlau, hrsg. v. Klaus Neitmann (Einzelveröffentlichungen der Brandenburgischen Historischen Kommission e.V. 16), Horb am Neckar 2009, 140 – 184, hier 170 f. 100 In den Prenzlauer Magistrat wurden zum Beispiel 1715 Ernst Rudolph Thulemeyer aus Minden, im Jahre 1716 Valentin Mirdelius aus Ulm und August Soldener aus dem thüringischen Nordhausen berufen; vgl. ebd., 170. Belege für weitere brandenburgische Kommunen 97

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Aber auch gegenüber der Umsetzung dieser Bestimmungen sollte die gleiche Zurückhaltung geübt werden, wie dies aus wohlerwogenen Motiven heraus gegenüber allen normativen Quellen üblich geworden ist. Bekanntlich ließ sich Friedrich Wilhelm I. in seinen Personalentscheidungen nicht nur von professionellen Erwägungen der in Betracht gezogenen Kandidaten für eine Charge leiten – so auch bei der Besetzung städtischer Ämter. Ämterkauf war während seiner Regierungszeit eine verbreitete Praxis.101 Zwar orientierte der König auf eine Verbindung von Qualifikation und Höchstgebot einer Geldsumme für die königliche „Rekrutencasse“, doch boten offenbar gerade die städtischen Verhältnisse die Gelegenheit für zusätzliche Einnahmen. Nur so erklärt sich, dass der König entgegen seiner ansonsten auf Einsparungen gerichteten Intentionen in einigen „Rathäuslichen Reglements“ die Möglichkeit eröffnete, „einen oder mehr Supernumerarii [überzählige Ratsmitglieder – F.G.] in das Kollegium zu setzen“.102 Der mitunter entstehende Eindruck der stringenten Anlage und des gleichförmigen Duktus dieser Reglements mag auch darauf zurückzuführen sein, dass man sich nicht selten Vorbilder aus anderen Kommunen bediente. So galten etwa der mit der Untersuchung der städtischen Verhältnisse in Königsberg (Pr.) beauftragten Kommission die Reglements in Berlin, Stettin und Kolberg als Vorlage. Dazu wurden Akten aus den genannten Städten angefordert.103 Doch sollte der Eindruck, den die aus der Sicht der Nachlebenden so planvolle, rasche und flächendeckende Einführung der „Rathäuslichen Reglements“ zuweilen vermittelt, nicht darüber hinwegtäuschen, dass es diese Ansätze schon vor 1713 gegeben hatte. Einzelne solcher Verordnungen waren bereits während der Regierungszeit Kurfürst Friedrich Wilhelms erlassen worden, bevor dann unter seinem Nachfolger ab den 1690er Jahren immer mehr Städte „Reglements“ erhielten.104 In Berlin konnte mit dem Edikt von 1709 „ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur umfassenden Aufsicht des Staates“ gegangen werden.105 Noch weiter zurück weist das Beispiel der 30 Kilometer nordöstlich Magdeburgs liegenden Stadt Burg: In dieser Kommune, die erst 1680 dem brandenburgisch-preußischen Staat angegliedert worden war, wurde

bei Udo Geiseler, König Friedrich II. und die Städte Brandenburgs, in: Friedrich der Große und die Mark Brandenburg. Herrschaftspraxis in der Provinz, hrsg. v. Frank Göse (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte 7), Berlin 2012, 84 – 103, hier 88 f. 101 Vgl. übergreifend zur Praxis des Ämterkaufs in Brandenburg-Preußen: Horst Möller, Ämterkäuflichkeit in Brandenburg-Preußen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ämterkäuflichkeit. Aspekte sozialer Mobilität im europäischen Vergleich (17. und 18. Jahrhundert), hrsg. v. Klaus Malettke (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 26), Berlin 1980, 156 – 176; Hans Martin Sieg, Staatsdienst, Staatsdenken und Dienstgesinnung in Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhundert (1713 – 1806). Studien zum Verständnis des Absolutismus (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 103), Berlin/New York 2003, 39 f. 102 W. Gundlach (Anm. 4), 6. 103 Vgl. F. Gause (Anm. 76), 71. 104 Vgl. F. Göse, Selbstverwaltung (Anm. 59), 116 – 118. 105 K. Schrader (Anm. 73), 46.

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schon im Jahre 1696 ein solches „Rathäusliches Reglement“ eingeführt.106 Vorausgegangen war dem eine gründliche Untersuchung, die den Ausfall von Einkünften der städtischen Kämmerei und eine unordentliche Finanzverwaltung ans Licht gebracht hatte. Es deutet zudem die Rigidität an, mit der die Landesherrschaft die mit dem Reglement angestrebten Reformen umzusetzen gedachte, wenn der damalige Kurfürst Friedrich III. die Forderung erhob, dass „es vielleicht […] einiger militairischen beyhulffe bedörffen möchte, damit Commissarii unsere habende Jura mit desto mehrerem nachdruck beobachten können“.107 Offenbar waren die damals eingeleiteten Veränderungen recht nachhaltig, denn als Friedrich Wilhelm I. in seinem ersten Regierungsjahr den Befehl erlassen hatte, eine Untersuchung des „Rathäuslichen Wesens“ in einigen magdeburgischen Kommunen vorzunehmen, konnten ihm die mit der Erhebung beauftragten Kommissare berichten, dass „es der verfertigung eines Neuen Reglements nicht bedürffe, indem das Rathäusl. Wesen zu Burg sich in einer gar guten Verfassung befinde“.108 Der ansonsten eher misstrauische König fand sich mit dieser Antwort ab und versah das Schreiben mit der Marginalie: „So hat es dabey sein bewenden“.109 Angesichts der oben geschilderten Verhältnisse vor 1713 erscheint es naheliegend, dass ein wichtiger Ansatzpunkt, wenn nicht gar das Hauptmotiv des Königs und des Generaldirektoriums innerhalb des städtischen Reformwerkes in der Sanierung der kommunalen Finanzen lag. Die Kämmerei-Etats sollten von überflüssigen Ausgaben – darunter fielen auch die kritisierten Vergünstigungen für Magistratsmitglieder – entlastet und künftig kalkulierbarer gestaltet werden. Durch eine Reihe von Erhebungen versuchte der König erst einmal einen Überblick über die finanziellen Verhältnisse der Kommunen zu erhalten. Die Untersuchungen offenbarten zwar einen nach wie vor hohen Schuldenstand der städtischen Haushalte, vermittelten jedoch kein durchgehend pessimistisches Bild. Der 1716 von der Kommission vorgelegte Bericht stellte zum Beispiel der Berliner „städtischen Finanzverwaltung ein gutes Zeugnis aus“, offenbar eine Folge der schon in den letzten Regierungsjahren seines Vorgängers zu beobachtenden besonderen Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse in dieser Residenzstadt.110 Anders fiel hingegen der Befund zu den Städten des Herzogtums Magdeburg aus. Nach Kenntnisnahme der aus diesem Territorium eingegangenen Daten monierte Friedrich Wilhelm I. 1722, „daß auf dem ganzen 106

Vgl. GStA PK, II. HA, Abt. 15, Tit. CIV, Sect. II, Nr. 1, Bl. 3 – 5. Ebd., Bl. 51. Dies zeigt allerdings sinnfällig, in welcher Weise die ältere Stadtgeschichtsschreibung, teilweise entgegen den selbst präsentierten Quellenbefunden, der vorgegebenen Gesamtbewertung der Epoche verpflichtet war. So rühmte zwar der Verfasser einer Burger Stadtgeschichte des 19. Jahrhunderts Friedrich III./I. als „vornehmste[n] Wohlthäter der Gemeinde“, um dann an anderer Stelle die abschätzigen Urteile über den ersten preußischen König zu übernehmen und die Zäsur von 1713 auch für die Geschichte der Stadt Burg scharf zu akzentuieren. Gustav Fritz, Chronik von Burg. Aus Urkunden, handschriftlichen Notizen und andern Quellen bearbeitet, Burg 1851, 141 und 156 f. 108 GStA PK, II. HA, Abt. 15, Tit. CIV, Sect. II, Nr. 1, Bl. 144. 109 Ebd., Bl. 159. 110 F. Escher (Anm. 73), 374. 107

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Magdeburgischen Lande und sonderlich den Städten Magdeburg und Halle noch große Schulden hafften“.111 Den Spitzenreiter stellte Halle (Saale) mit einem Schuldenstand von fast 3,7 Mill. Tlr.; in der Altstadt Magdeburg beliefen sich die Verbindlichkeiten auf 230.161 Tlr.112 Auf Grund solcher Erfahrungen lag es nahe, dass man die Magistrate und die für das Städtewesen zuständigen Amtsträger zur größeren Sorgfalt, modern gesprochen zu mehr Haushaltsdisziplin anhielt. Dies schloss Forderungen nach einer größeren finanziellen Rücklagenbildung ein. Immer wieder fanden sich zu diesem Thema entsprechende Ermahnungen an die Stadtmagistrate. Dabei handelte es sich nicht auf die Gesamtheit der Kommunen abzielende Verordnungen, sondern um Kabinetts-Ordren an einzelne Städte, offenbar als unmittelbare Reaktion auf Berichte über deren finanzielle Situation. So sollte zum Beispiel der Potsdamer Magistrat bei der Etatfestsetzung seiner Kämmerei künftig Vorkehrungen für Notfälle treffen. Der König finde „nöhtig, daß bey der hiesigen […] Cämmerey ein gewisser Fonds ausfündig gemacht werde, dadurch die nöhtigen Ausgaben bey derselben können bestritten werden“.113 Und im April 1735 wurden auch die klevischen Kommunen aufgefordert, mehr Obacht auf die Bildung von finanziellen Rücklagen in ihren Kämmereien zu legen.114 Den entscheidenden institutionellen Hintergrund, um diesen Teil der Reform wirkungsvoll anzugehen, bildete die Durchsetzung des Akzise-Systems. In einigen Städten der brandenburgischen Kernlandschaft schon in den 1660er Jahren eingeführt, begann der eigentliche Siegeszug dieser Steuerform jedoch erst während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I.115 Bei kleineren Städten, die in einer Grauzone zwischen Dorf, Flecken oder Stadt lagen, bildeten die zu erwartenden AkziseErträge den Gradmesser dafür, ob diese Orte ihre städtische Qualität behalten oder nunmehr erst erwerben sollten. Im altmärkischen Apenburg ordnete der König deshalb im Jahre 1719 ein Probejahr an, um zu prüfen, ob sich die Einführung der Akzise in dieser Mediatstadt überhaupt lohnen würde.116 Ebenso wurde mit Blick auf acht Orte in Minden-Ravensberg in einer Denkschrift vom 27. März 1722 anheim gestellt, „ob es S. K. M. Interesse profitabler sei, wenn selbige Dörfer bleiben, oder ob sie nach der jüngsthin gemachten Verfassung, da sie zu Städten ernennet und gemachet

111

GStA PK, II. HA, Abt. 15, Tit. CLXXIII, Nr. 2, Bl. 2. Vgl. ebd., Bl. 5 und 11. 113 GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 7, Bl. 108 (zum 31. Januar 1733). 114 Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 11, Bl. 222 f. 115 Als Überblick nach wie vor unverzichtbar: Willy A. Boelcke, „Die sanftmütige Accise“. Zur Bedeutung und Problematik der „indirekten Verbrauchsbesteuerung“ in der Finanzwirtschaft der deutschen Territorialstaaten während der frühen Neuzeit, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 21 (1972), 93 – 139. Dass die Durchsetzung der Akzise in den westlichen Provinzen in den 1660er und 70er Jahren nicht gelungen war, belegt zugleich den beschränkten politischen Spielraum des Staates. Vgl. W. Reininghaus, Zünfte (Anm. 17), 30. 116 Vgl. BLHA, Rep. 2, S 2504, unpag. 112

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sind, mehr gewinnen“.117 Der König ordnete daraufhin an, dass die zur Einrichtung der Domänen eingesetzte Kommission untersuchen solle, „wo der meiste Profit sei, und ob die Domainencommission sich getraue, ohn der Unterthanen Bedruckung ein ansehnliche(re)s Plus als die Acciscommission davon herauszubringen“.118 Und im Falle des im Norden der Kurmark liegenden Rheinsbergs – damals noch eine adlige Mediatstadt – machte im Jahre 1714 erst ein übereifriger Amtsträger die Behörden darauf aufmerksam, dass in dieser Kommune bisher noch keine Akzise eingeführt worden sei, in der Hoffnung, dort selbst das Amt des Akzise-Einnehmers und Bürgermeisters bekleiden zu dürfen. Dennoch waren der König und die Zentralverwaltung eher dazu bereit, auf die Interessen der adligen Stadtherren Rücksicht zu nehmen: Auf das Begehren des Amtsträgers wurde entgegnet, dass es „was hartes seyn [würde], den neuen Einnehmer sofort zum Bürgermeister zu abtendiren“, da damit gegen die übliche Praxis in den Adelsstädten verstoßen werden würde, wo dem Stadtherrn die „Bestellung und Confirmation der Bürgermeister“ obliege.119 Allerdings wurde in jenen Landschaften, in denen die neuen Steuerformen eingeführt werden konnten, zugleich ein Teil der ehemals den Kommunen direkt zugute kommenden Abgaben aufgehoben oder reduziert. In der Mark Brandenburg verblieb zum Beispiel das von den Ständen verwaltete, aber unter Aufsicht eines landesherrlichen Amtsträgers stehende sogenannte Städtegeld, das ebenso wie der Hufen- und Giebelschoss und das sogenannte Neue Biergeld „für außerordentliche staatliche Finanzbedürfnisse in Anspruch genommen wurde“.120 Des Weiteren konnten die Stadtkämmereien auf Einnahmen aus den Bürgergeldern bzw. auf die von den kommunalen Liegenschaften oder von den Stadt-Feldmarken eingezogenen Gelder zurückgreifen.121 In jenen mitunter als „Ackerbürgerstädte“ etikettierten Kommunen gelang es, durch den Getreideverkauf beträchtliche Einnahmen zu erzielen.122 Des Weiteren wurde ein geringerer Teil der Akzise-Einnahmen in die städtischen Haushalte transferiert. Diese Gelder benötigte man vor allem, um die für die Kommunen anfallenden Kosten im Rahmen der Daseinsvorsorge und für Infrastrukturmaßnahmen (Straßenpflasterung; Feuerschutz; Brunneninstandhaltung etc.) zu bestreiten.

117 Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. 3, bearb. v. Gustav Schmoller u. a., 401. 118 Zit. nach: Wilhelm Stolze, Zur Geschichte der Gründung des Generaldirektoriums, in: FBPG 21 (1908), 225 – 237, hier 231. 119 Zit. nach: F. Göse, Zwischen adliger Herrschaft (Anm. 37), 83. 120 O. Hintze, Einleitende Darstellung (Anm. 31), 349. Die jährlichen Einnahmen beliefen sich am Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. auf etwa 80.000 Tlr. 121 Vgl. Das Archiv der Brandenburgischen Provinzialverwaltung, Bd. 1: Das kurmärkische Ständearchiv, hrsg. v. Melle Klinkenborg, Strausberg 1920; D. Stievermann (Anm. 62), 11. 122 Am Beispiel der Kämmereirechnungen der Stadt Mittenwalde vgl. BLHA, Rep. 8 Mittenwalde, Nr. 307, unpag.

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Die Akziseverwaltung bildete die entscheidende landesherrliche Einflussmöglichkeit gegenüber den Städten, die kaum zu unterschätzen ist. Der König, der bekanntlich nicht nur im Rahmen der Städtepolitik zur „unmittelbaren Intervention“ neigte, war sich der Bedeutung dieses Instruments stets bewusst – eine Einschätzung, die nicht nur für das engere zeitliche Umfeld der Reformen zu treffen ist.123 Auch in den folgenden Jahren, so zum Beispiel im Februar 1733, wies Friedrich Wilhelm I. das Generaldirektorium an, „daß jemand auf die Städte umhergesandt werden solte, um das Accise Wesen gründlich zu untersuchen“.124 Für diesen Amtsträger sollte eine „ausführliche Instruction“ erarbeitet werden, die diesen vor allem auf die gründliche Bestandsaufnahme über die Einwohnerzahlen sowie nach Anzahl der Handwerker und Differenzierung der verschiedenen Gewerbezweige vorzubereiten hätte. Eine weitere Möglichkeit, die finanzielle Schieflage der kommunalen Haushalte in den Griff zu bekommen, wurde darin gesehen, sich zunächst einen Überblick über den Landbesitz der Städte zu verschaffen. Dabei erscheinen die Ähnlichkeiten zum Vorgehen der Krone auf dem Gebiet des Domänenwesens mehr als offensichtlich.125 Auch der städtische Grundbesitz nicht weniger Kommunen hatte sich in den zurückliegenden Jahrzehnten in Gestalt von Verpachtungen oder wiederkäuflichen Veräußerungen erheblich reduziert. Nicht von ungefähr bestand eine der ersten städtepolitischen Anordnungen des neuen Königs vom 30. Mai 1713 darin, zu veranlassen, dass „die veräußerten Stadtgüter untersucht und wieder zu dem Patrimonio gezogen werden sollten“.126 Damit verbunden war eine künftig strenger kontrollierte Berichtspflicht gegenüber dem zuständigen Steuerrat über Verpachtungen und andere Veräußerungen städtischen Besitzes. Eine am Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. für die kurmärkischen Kreise vorgelegte Bestandsaufnahme bot hingegen ein ambivalentes Bild. Während in den meisten altmärkischen Kommunen offenbar keine Kämmerei-Güter mehr dem städtischen Zugriff entfremdet waren, veranlassten die Verhältnisse in den anderen kurbrandenburgischen Städten zu Nachfragen: Dabei trat zu Tage, dass einzelne Feldstücke, Vorwerke oder Krüge noch immer nicht in das Eigentum der Kommunen zurückgekehrt waren. Die Aufstellungen machten aber zugleich recht deutlich, dass eine systematische Erfassung erschwert wurde durch die zum Teil sehr lange zurückreichenden Grundstücksübertragungen bzw. Finanztransaktionen. Repräsentativ sei nur ein Fall in der im Südwesten der Kurmark gelegenen kleinen Immediatstadt Treuenbrietzen angeführt: Hier war 1639 das der Stadt gehörende Dorf Brachwitz an den Berliner Ratskämmerer Christoph Friesen wiederkäuflich veräußert worden; nach Ablauf der Wiederkaufsfrist waren die Erben in einen „weitläufigen Process“ mit der Stadt geraten. Schließlich sei das Dorf dann an den Kurfürsten verkauft und 123

W. Neugebauer, Hohenzollern (Anm. 58), 200. GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 7, Bl. 113. 125 Vgl. H. Oelrichs, Die Domainen-Verwaltung des Preußischen Staates, Breslau 1883; Gustav Schmoller, Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte, Berlin 1921. 126 Zit. nach: I. Barleben (Anm. 15), 56. 124

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an das Amt Saarmund geschlagen worden.127 Der Treuenbrietzener Magistrat hätte „sich zwar alle Mühe gegeben, sich genau zu informiren, quo titulo die Unterthanen solche Äcker besäßen, man hätte aber nicht dahinter kommen können, indem die Besitzer mit der Sprache nicht heraus gewolt“. Man knüpfte Erwartungen an den Erwerb solcher Stücke, die ganz im Sinne der königlichen Absichten lagen: Demnach „sey dieses eine Sache von großer Consideration, denn wenn die Stadt diesen Acker zu reluiren befugt, könne daraus ein ansehnlich Vorwerck und in sonderheit eine schöne Holländerey von mölckend Kühen angelegt werden“.128 Vergleicht man die finanziellen Verhältnisse in den Kommunen vor und nach den Reformen, schlagen der allmähliche Abbau der Schulden und die bessere Kalkulierbarkeit der städtischen Finanzen – auch infolge der Einführung sogenannter „Lagerbücher“ – zu Gunsten der Städte aus. Dagegen ist der finanzielle Handlungsspielraum der Stadträte im Ganzen geringer und die steuerliche Belastung der einzelnen Bürger größer geworden.129 Neben Anordnungen, die sich als allgemeine Vorschriften bzw. Handlungsanweisungen für das Agieren der Magistrate verstanden, waren punktuelle Eingriffe – teilweise direkt vom König ausgehend – an der Tagesordnung, die das neu eingeforderte „staatliche“ Aufsichtsrecht im Alltag sehr fühlbar machten. So wurden, um nur zwei Fälle aus dem Quellenmaterial herauszugreifen, die Stettiner „Alterleute“ am 31. Dezember 1732 harsch angegangen, die Serviszahlungen so wie gefordert aufzubringen.130 Und nachdem der König „bemercket, daß in dero Residentzien Städten Berlin, die Gassen nicht reinlich genug gehalten werden“, folgten im März 1735 bis ins Detail gehende Anweisungen, wie dieser Missstand abgestellt werden sollte.131 Kreditgeschäfte wurden den städtischen Magistraten künftig untersagt, denn in diesen sah man nicht zu Unrecht eine der Hauptursachen für die große Verschuldung nicht weniger städtischer Haushalte in der Vergangenheit. Das hier zum Ausdruck kommende Misstrauen gegenüber den Magistraten drückt sich in solchen Forderungen aus, wonach die Berichte über Bebauungen von „wüsten Stellen“ und ledigstehenden Häusern künftig „immediate von den SteuerRäthen und Commissariis locorum, nicht aber von den Magistraten zu fordern“ seien.132 Allerdings sei nochmals in Erinnerung gerufen, dass von einem recht langen Zeitraum auszugehen ist, in dem sich diese Veränderungen durchsetzen konnten. Die sich in den Quellen widerspiegelnden Zustände zeigen, dass selbst die vor persönlichen Drohungen nicht zurückschreckenden Befehle und Anweisungen des Königs in ihrer 127

GStA PK, II. HA, Abt. 14, Tit. CII, Nr. 8, Bl. 7. Ebd., Bl. 9. 129 Vgl. exemplarisch die tabellarische Aufstellung für die westfälischen Städte bei D. Stievermann (Anm. 62), 13 f. 130 GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 7, Bl. 89. 131 GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 11, Bl. 156. Diese Anweisungen schlossen die Vorgabe der Anzahl der Straßenkarren bzw. den genauen Einsatz der Straßenmeister ein. 132 GStA PK, II. HA, Abt. 17, Tit. VI, Nr. 1, Bl. 13. 128

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Wirkung häufig verpufften. Sowohl strukturelle Schwächen wie eine unzureichende Kompetenzabgrenzung der Ämterchargen als auch Trägheit und Resistenz in der individuellen Amtsausübung bildeten einen schwer zu durchbrechenden Wall. Die Berichte über die Stadtgüter und städtischen Gläubiger sind in einigen Provinzen erst nach mehrmaliger Anforderung eingesandt worden, und Steuerhinterziehungen blieben an der Tagesordnung.133 Ungeachtet vieler Anzeichen von wirtschaftlicher Belebung blieb die Bilanz auch auf diesem Terrain durchwachsen. Trotz der Reformierung des Rates sei zum Beispiel in der Entwicklung der kurmärkischen Stadt Kyritz „um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein neuer Tiefstand erreicht“ worden. Die Bürgerschaft wäre laut einem Ratsprotokoll „dergestalt in Abfall ihrer Nahrung gekommen, daß sie nicht einmal mehr die Gelder für die Armen aufbringen konnte“.134 Vor allem die in den grenznahen Regionen liegenden Kommunen bekamen die Folgen der rigideren Wirtschaftspolitik Friedrich Wilhelms I. zu spüren, die den länderübergreifenden Handel erheblich reduzierte. In der Regel wurden solche einseitigen protektionistischen Maßnahmen mit Reaktionen des benachbarten Territoriums beantwortet, die Verkaufsverbote brandenburgischer Händler beinhalten konnten. Als zum Beispiel im Jahre 1722 die Verarbeitung mecklenburgischer Wolle in der Kurmark verboten worden war, zeichnete sich recht schnell ab, dass es vor allem die an der Grenze zu den mecklenburgischen Herzogtümern gelegenen brandenburgischen Städte waren, denen Nachteile aus der protektionistischen Wirtschaftspolitik erwuchsen. Recht ernüchternd musste es auf den König gewirkt haben, als ihm im September 1722 die Berichte der Steuerräte über die Lage dieser Kommunen vorgelegt wurde. Die Frage, ob die „dortigen Lande und Städte mehr von den Mecklenburgern oder mehr von den preußischen Untertanen und deren Handlungen profitierten“, wurde einhellig dahingehend beantwortet, dass die Vorteile eines florierenden brandenburgisch-mecklenburgischen Handels auf preußischer Seite liegen würden.135 Demgegenüber wirkten die verfassungspolitischen Veränderungen nachhaltiger, auch wenn mit diesen – wie gezeigt – nicht erst nach 1713 begonnen worden war. Die Magistrate wurden in nicht wenigen Fällen verkleinert und rekrutierten sich künftig aus dauerhaft angestellten, besoldeten und stärker von der landesherrlichen Verwaltung kontrollierten Personen. Das Vorschlagsrecht der Kommunen blieb zwar nomi-

133

Vgl. I. Barleben (Anm. 15), 59. – Ein sehr negatives Bild hatte der König über die Verhältnisse in Minden gewonnen. Vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 5, Bl. 19 f. (zum 8. Juli 1735). 134 Zit. nach: Hans Gressel, Die Stadt Kyritz. Entwicklung, Verfassung und Wirtschaft bis zur Städteordnung 1808/09, Berlin 1939, 54. 135 Zit. nach: Hugo Rachel, Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die einzelnen Gebiete der Verwaltung. Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Preußens, Bd. 2.1: 1713 – 1740, Berlin 1922, 537 f. Der Wittstocker und der Perleberger Magistrat machten sogar keinen Hehl daraus, dass ihre Bürger „lieber die märkischen als die mecklenburgischen Märkte entbehren“ würden. Ebd., 539.

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nell noch erhalten, allerdings sei dieses „sehr häufig nicht beachtet worden“.136 Schließlich war dem Monarchen daran gelegen, seine eigenen Leute in die Magistrate zu lancieren, vor allem mit Blick auf die Charge des regierenden Bürgermeisters, des „Consul dirigens“. Vor diesem Hintergrund konnte es passieren, dass sich ein seit längerem amtierender Bürgermeister von einem zum anderen Tag ins zweite Glied gerückt sah. Eine solche Erfahrung musste der seit 1691 als Bürgermeister im uckermärkischen Strasburg amtierende J. Chr. Mauritius machen, dem 1719 Thomas Hering aus Ruppin als „Consul dirigens“ vor die Nase gesetzt worden sei. Der König entgegnete ihm auf seine Vorhaltungen, dass er es nicht als „Beschimpfung auffassen“ solle, „er bleibe der zweite Mann“.137 Die Bemühungen des Königs, künftig dem regierenden Bürgermeister als „Consul dirigens“ eine herausgehobene Stellung zuzuweisen, stieß allerdings in einigen Kommunen auf Widerstand, sah man darin doch eine Verletzung der alten Stadtverfassung. So wandte sich der Hallenser Magistrat 1718 vehement gegen die Einführung der neuen Position eines Oberbürgermeisters. Auch hier versuchte der König die aufgebrachten Ratsherren zu beschwichtigen, dass es sich dabei nur um eine Titulatur handele.138 Die Stärkung der Autorität und die engere Bindung eines herausgehobenen Mitgliedes des Magistrates an die Landesverwaltung lässt sich auch auf unliebsame Erfahrungen des Monarchen zurückführen. Im Besonderen hatte sich der König in der Vergangenheit daran gestört, dass die Rats-Mitglieder den von den Zentral- und Mittelbehörden vorangetriebenen Veränderungen durch subtile Formen der Resistenz entgegengearbeitet hatten. Noch 1718 musste er gewärtigen, dass „denen von Unsern Rathäuslichen Commissarien und Steuerräthen zum Besten des Publici gemachten guten Veranstaltungen von einigen Rathsmembris, wo nicht öffentl. widersprochen, doch heimlich contreciamirt“ werde. Letztlich sei damit der Konsens innerhalb der Kommunen gefährdet, weil durch eine solche Amtsführung der Magistrate „die Bürgerschaft zu vieler Widersetzlichkeit angereitzet“ werde.139 In der Tat kam und kommt nun der Amtsführung dieses „Commissarius loci“, dessen Wirksamkeit der König in dem eben wiedergegebenen Statement durch das intransigente Auftreten einiger Ratsmitglieder gefährdet sah, eine entscheidende Stellung für die Gesamtinterpretation der königlichen Städtepolitik zu. Die Steuerräte, die ursprünglich als Steuerkommissare nur für die Kontrolle des Akzisesystems zuständig gewesen waren, hatten die Magistrate vor allem mit Blick auf die Ausübung des „Policey-Wesens“ (Armenwesen; Bauvorhaben; Infrastruktur; Marktgeschehen)

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O. Hintze, Einleitende Darstellung (Anm. 31), 242. Lieselott Enders, Die Uckermark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 28), Weimar 1992, 460. 138 Vgl. W. Freitag/M. Hecht (Anm. 95), 409. 139 GStA PK, I. HA, Rep. 21, Nr. 161, unpag. 137

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und das Finanzgebaren zu kontrollieren.140 Im Verantwortungsbereich dieser Amtsträger lagen jeweils sechs bis zwölf Städte. In solchen Kommunen, in denen Kriegsund Domänenkammern ihren Sitz hatten und die demzufolge als eine Art von „Provinz-Hauptorten“ angesehen wurden wie Berlin, Halle (Saale), Königsberg oder Stettin, agierten sogenannte Stadtpräsidenten in Personalunion als Kriegs- und Domänenrat, als der für die betreffende Stadt zuständige Steuerrat und mitunter – wie in Halle (Saale) – sogar als Oberbürgermeister.141 Vor dem Hintergrund dieser weitgespannten Aufgaben erwartete man von den Amtsträgern umfassende Kenntnisse etwa in der Preis- oder Gewerbepolitik ebenso wie bei der Anwerbung von Kolonisten oder über das Feuerversicherungswesen.142 In diesem Zusammenhang übten sie die Disziplinaraufsicht über die Magistratsangehörigen, inklusive die Akzisebeamten aus. Dies geschah auf eine mitunter sehr direkte Weise, denn während ihrer in der Regel zwei Mal pro Jahr durchgeführten Visitationen in „ihren“ Städten nahmen die Steuerräte an den Sitzungen der Magistrate teil.143 Allerdings müssen ältere Vorstellungen dahingehend korrigiert werden, wonach es sich bei diesen Amtsträgern lediglich um „Vollstrecker“ des landesherrlichen Willens, also um das „Urbild eines rein bürokratischen Beamten“ gehandelt hätte.144 Diese Sicht wurde vor allem bestärkt durch die Annahme, dass durch die Gewinnung von Offizieren und Unteroffizieren „in die oberen und unteren Stufen der Verwaltung Männer [gelangten], die in der Schule der preußischen Armee ganz mit dem Geist des neuen Staates erfüllt worden waren“.145 Demzufolge hat man den Steuerräten eine Neigung zu einer aus dem militärischen Milieu herrührenden Schroffheit attestieren wollen. Ohne zu bestreiten, dass etlichen Steuerräten ein solches Auftreten durchaus eigen war, gilt es zunächst festzuhalten, dass es sich in der Regel um einen vergleichsweise gut qualifizierten Amtsträgertypus handelte. Die Zahl der Steuerräte, die ein (zumeist juristisches) Studium absolviert hatten, nahm in den folgenden Jahrzehnten kontinuierlich zu. Und es 140 Vgl. dazu: O. Hintze, Einleitende Darstellung (Anm. 31), 248 – 254; Wolfgang Neugebauer, Zur neueren Deutung der preußischen Verwaltung im 17. und 18. Jahrhundert in vergleichender Sicht, in: Moderne Preußische Geschichte 1648 – 1947. Eine Anthologie, hrsg. v. dems./Otto Büsch, Bd. 2 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin. Forschungen zur preußischen Geschichte 52), Berlin/New York 1981, 541 – 597, hier 548 f. 141 Die Verschmelzung des Oberbürgermeisteramtes mit dem des Stadtpräsidenten und Steuerrates erfolgte hier 1729. Vgl. W. Freitag/M. Hecht (Anm. 95), 409. 142 Vgl. Rolf Straubel, Adlige und bürgerliche Beamte in der friderizianischen Justiz- und Finanzverwaltung. Ausgewählte Aspekte eines sozialen Umschichtungsprozesses und seiner Hintergründe (1740 – 1806) (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 59), Berlin 2010, 175. 143 Mitunter übernahmen sie dann sogar den Vorsitz der Versammlung, wie zum Beispiel für Brandenburg an der Havel nachgewiesen. Vgl. U. Geiseler, König Friedrich II. (Anm. 100), 92. 144 Zit. nach: Otto Hintze, Der österreichische und der preußische Beamtenstaat im 17. und 18. Jahrhundert (1901), in: ders., Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1: Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. v. Gerhard Oestreich, 2., erw. Aufl., Göttingen 1962, 321 – 358, hier 352. 145 E. Botzenhart (Anm. 2), 141.

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ist durchaus zutreffend, dass nicht wenige Steuerräte zuvor auf eine militärische Karriere zurückblicken konnten – eine Tendenz, die sich während der Regierungszeit Friedrichs des Großen noch verstärken sollte.146 Allerdings musste dies nicht gegen ihre Eignung für das Amt sprechen, wie mitunter in abschätziger Diktion unterstellt worden ist. Zu bedenken ist, dass sie zumeist nur eine vergleichsweise kurze Zeit in der Armee gedient hatten. Zudem hatten diese Männer in der Armee häufig Chargen als Auditeure oder Regiments-Quartiermeister bekleidet – mithin also Ämter, die deren Inhabern zu einem Erfahrungswissen verhalfen, das ihnen später als Steuerrat oder als Kriegs- und Domänenrat durchaus von Nutzen sein konnte.147 Indirekt deutet sich der große Respekt vor den Steuerräten auch aus der Negation an: So erörterten zum Beispiel die neumärkischen (adligen) Landräte auf ihrer Zusammenkunft am 26. Januar 1716, „wie zu verhindern sei, daß Steuerräte … in der ,Creuß Versammlung‘ erscheinen“.148 Das in den Quellen zuweilen belegte Eintreten dieser Amtsträger für die Kommunen ihres Wirkungsbereiches mag diesen eigenartig erscheinenden Wunsch erklären. Des Weiteren zeigen viele Belege ein von der Vorstellung eines gewissermaßen von militärischem Gehorsam geprägten landesherrlichen „Willensvollstreckers“ doch erheblich abweichendes Amtsverständnis. Auch innerhalb dieser Amtsträgergruppe gab es Erscheinungen von Nepotismus und Patronage. Der in der Magdeburgischen Kriegs- und Domänenkammer wirkende Rat Grote beschwerte sich darüber, dass der Steuerrat Rudloff „bey der Stadt Magdeburg als Commissarius loci beybehalten werden möchte, abgestattet auch von seinem Schwieger Vater, dem Kriegsrath Witten selbst mit unterschrieben worden“.149 Dagegen verstand es der aus Herford stammende und im Jahre 1719 zum Steuerrat für die in derselben Provinz liegenden Städte Ravensberg und Tecklenburg ernannte Alexander Kindermann nicht, diese für ihn vorteilhafte Situation, „als Amtsträger der Zentralverwaltung über genaue Orts-

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Vgl. R. Straubel, Adlige (Anm. 142), 173. Beide biographischen Voraussetzungen erfüllte etwa: Johann Ernst Crüger (1700–?), der ab 1719 an der Universität Halle Jura studiert und danach als Auditeur im Militär gedient hatte; nach einigen Jahren als Akzise- und Zollinspektor im ostpreußischen Memel wurde er – vermittelt über die Bekanntschaft mit dem ostfriesischen Kammerpräsidenten D. Lentz – als Steuerrat in das – seit 1744 zu Preußen gehörende – ostfriesische Emden eingesetzt. In eine ähnliche Richtung verlief die Karriere des in der Prignitz zum Steuerrat bestellten Friedrich Anton Ludwig Gause (1709 – 1758): Auch dieser hatte zunächst in Halle ein Jura-Studium aufgenommen, bevor er dann einige Jahre als Auditeur in einem Infanterie-Regiment diente. Daniel Friedrich Hindersinn (1704 – 1780) hatte in Königsberg Jura studiert, dann acht Jahre als Auditeur in einem Kürassier-Regiment gedient, bevor er von 1736 bis 1749 als Steuerrat im ostpreußischen Barthen amtierte. Vgl. Rolf Straubel, Biographisches Handbuch der preußischen Verwaltungs- und Justizbeamten 1740 – 1806/15, T. 1 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 85; Einzelveröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 7), München 2009, 185, 295 f. und 422. 148 W. Neugebauer, Die neumärkischen Stände (Anm. 22), XLVI. 149 GStA PK, II. HA, Abt. 15, Tit. VII, Nr. 2, Bl. 32. 147

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kenntnis und über Beziehungen zur lokalen Elite zu verfügen“, für sich zu nutzen.150 Die Karriereverläufe dieser Amtsträger, über die man inzwischen dank der verdienstvollen Forschungen von Rolf Straubel mehr weiß, deuten das Bestehen von Netzwerken an, deren Verbindungen sowohl in die höheren Behörden als auch in die Kommunen selbst wiesen. Von daher erscheint die Verlegenheit verständlich, die aus dem Schreiben der Minden-Ravensbergischen Kriegs- und Domänenkammer anlässlich der an diese ergangenen Aufforderung im Oktober 1736 sprach, über die Amtsführung der Steuerräte dieser Provinz zu berichten. Die Räte zeigten sich nach eigenem Bekunden fast überfordert, „wenn wir von denen SteuerRäthen, welche zumahlen auf Unseren gethanen Vorschlag mit bestellet worden, einen solchen Bericht immediate erstatten sollen“.151 Zum einen dürfte sich diese zögerliche Reaktion mit der Unlust der Räte erklären, über ihre Amtskollegen zu berichten. Hier deutet sich jenes grundsätzliche Problem effizienter Kontrollmechanismen mit Blick auf die vom Militär übernommenen „Konduitenlisten“ an.152 Zum anderen schien dieses Zaudern aber auch auf kritische Vorhaltungen zurückzuführen sein, die noch nicht allzu lange zurücklagen. Ein Jahr zuvor hatte der König angesichts der bemängelten Verhältnisse im Policey-Wesen im Minden’schen Kreis die zuständigen Steuerräte, „welche entweder ignoranten oder betrügliche Leuthe seyn müssen“, für diese Misere verantwortlich gemacht.153 Friedrich Wilhelm I. sah diese in seinen Augen bestehenden Unzulänglichkeiten durchaus und verlieh seinem Unmut in der klassischen Diktion seiner Kabinetts-Ordren und Marginalien Ausdruck. Des Öfteren stößt man darin auf das königliche Unbehagen über einen Steuerrat, der „seine Devoir nicht thut“.154 Noch mehr als anderthalb Jahrzehnte nach dem Beginn seiner Städtereform beklagte Friedrich Wilhelm I. im Juni 1737 das nach wie vor zu geringe Engagement der Steuerräte. Mit den Berliner Verhältnissen sei er noch halbwegs zufrieden, „allein in anderen, fürnehmlich kleinen Städten fehlt es sonderlich an zulänglichen vigilance, umb die Defraudationes zu verhindern“. Der Hauptgrund für diesen Mangel stand für ihn fest und entbehrte ungeachtet der diesem Monarchen eigenen notorischen Ungeduld durchaus nicht einer realen Grundlage: „Wann die Steuer-Räthe sich behörig applicirten und besser tummelten, auf die Wirthschafft und Vorkehrung der Bürger recht Aufsicht hätten, theils ihre Zeit anders zubrächten,um mit denen Accise- auch Magistrats-Bedienten 150

Nicolas Rügge, Im Dienst von Stadt und Staat. Der Rat der Stadt Herford und die preußische Zentralverwaltung im 18. Jahrhundert (Bürgertum. Studien zur Zivilgesellschaft 15), Göttingen 2000, 266. 151 GStA PK II. HA, Abt. 17, Tit. VI, Nr. 1, Bl. 22. 152 Die Wirksamkeit solcher Listen zur Beurteilung von Militärpersonen und Amtsträgern hatte schon der Minister von Happe bezweifelt: „Ich glaube aber nicht, daß es von Nutzen sein wird, und wird es damit gehen, wie bei denen Regimentern; denn man aus diesen Listen keinen rechten Charakter von denen Personen bekommen kann, weil diejenigen, so dergleichen einsenden, mehrenteils passioniret seind und ihre besonderen Absichten haben“. Zit. nach: H. M. Sieg (Anm. 101), 47. 153 GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 12, Bl. 19 (zum 8. Juli 1735). 154 GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 5, Bl. 15 (zum 26. Januar 1731).

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sich nicht so familiarisirten und sich dadurch außer Stand setzten, mit Nachdruck zu unserem Dienst das nöthige zu veranlassen […], würde alles nicht so schläfrich, sondern mit mehr accuratesse ins Werck gerichtet werden.“155 Dieses kritisierte „Familiarisieren“ war dem König also nicht verborgen geblieben und führte zu seinem Unbehagen, wurde damit doch ein entscheidender Ansatz seiner Reformbestrebungen unterminiert. Um diesem Übelstand entgegenzuwirken, forderte der König, dass die Steuer-Räthe nach Ablauf einiger Jahre „translocirt“ werden sollen.156 Doch der auf den ersten Blick plausibel anmutende Ausweg, durch eine regelmäßige Versetzung der „Commissarii loci“ in andere Steuerratsbezirke – Schmoller geht von einer durchschnittlich sechsjährigen Amtsdauer eines Steuerrates aus157 – das Knüpfen zu enger Verbindungen zu den Magistratsfamilien zu erschweren, erwies sich nur partiell als erfolgversprechend. Die Magdeburgische Kriegs- und Domänenkammer brachte das Problem in ihrer Entgegnung auf diesen königlichen Befehl auf den Punkt: „Es kombt bey diesen Städten viel darauf an, daß der Commissarius eine vollkommene connoissance von solchen Städten und zugleich die routine habe“. Diesem Argument, das auf die durch einen längeren Aufenthalt in ihrem Zuständigkeitsbereich gewonnene Kompetenz der Steuerräte anspielte, konnte sich der König nicht entziehen, so dass er in der Marginalie nur vermerkte: „ist hier bekandt und können bleiben“.158 Uns begegnet also eine Konstellation, die aus übergreifender Perspektive ein zentrales Problem brandenburgisch-preußischer Verfassungs- bzw. Verwaltungsgeschichte aufzeigt: Angesichts der nur rudimentären personellen Ausstattung der Verwaltung und der notorischen Ressourcenknappheit war die Landesherrschaft auf der mittleren und unteren Verwaltungsebene schlichtweg auf die Mithilfe, vor allem auf die Kenntnisse der betreffenden Amtsträger vor Ort angewiesen. Gerade die Ständegeschichtsforschung hat den Blick dafür geschärft, dass eine halbwegs effizient organisierte Herrschaftspraxis die Kooperation mit den eben nicht als reine Sachwalter landesherrlicher Interessen zu qualifizierenden Autoritäten auf unterer Ebene nötig machte. Dies stellte aber eine Gratwanderung dar: Zum einen erachtete es der König als nötig, dass – so wie im Falle des kurmärkischen Kriegs- und Domänenkammerpräsidenten von der Osten – ein Amtsträger die „unter seiner Direction stehenden Ämter und Städte recht kennen lerne und zugleich an jedem Orte observire, was annoch zu verbessern“.159 Zum anderen sollte und durfte aber die Nähe zu den Repräsentanten des Adels und der Bürgerschaft der von ihm zu verwaltenden Landschaften nicht zu weit gehen. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Beobachtung dann auch als zutreffend, dass der Steuerrat „nicht nur als Repräsentant der königlichen Gewalt auf[trat];

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GStA PK, II. HA, Abt. 15, Tit. VII, Nr. 2, Bl. 51. Ebd. 157 Vgl. G. Schmoller, Deutsches Städtewesen (Anm. 9), 413. 158 GStA PK, II. HA, Abt. 15, Tit. VII, Nr. 2, Bl. 54. 159 GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 7, Bl. 104 (zum 24. Januar 1733). 156

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er machte sich vielmehr, je länger [er] im Amte war, häufig genug die Interessen der ihm unterstellten Städte zu eigen“.160 Der König reflektierte diese Widersprüchlichkeit im Übrigen selbst und verlieh seinem Ärger in seiner unnachahmlich-galligen Art in unzähligen Marginalien und Kabinettsordren Ausdruck. Ihm war durchaus bewusst, dass das von ihm geknüpfte vergleichsweise engmaschige Netz an Kontroll- und Disziplinarmaßnahmen gegenüber der Amtsträgerschaft dennoch recht durchlässig geblieben war.161 Immer wieder wurde deshalb versucht über einzelne Verordnungen die erkannten Lücken zu schließen. Am 1. Dezember 1735 hielt der König das Generaldirektorium zum Beispiel dazu an, dass „die Dirigirende Ministres, wenn Sie in denen Provinzien auch nur in ihren privat Angelegenheiten verreisen […], die bemerckte Unrichtigkeiten dem Collegio anzeigen und solche redressiren mögen“.162 Doch konnten solche und viele andere Initiativen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesamtlage unbefriedigend blieb: In einer Ordre vom 28. August 1738 zog der König eine recht ernüchternde Bilanz über die seit 25 Jahren betriebenen Reformen in der Verwaltung. Dem Generaldirektorium machte er darin Vorhaltungen, dass es seine Kontrollfunktion gegenüber den Mittelbehörden – den Kriegs- und Domänenkammern – vernachlässigen und ihm Missstände verheimlichen würde.163 Besonders wurde dabei der „Verfall der Kleinen Städte“ – in diesem Fall in den westlichen Provinzen – gerügt, „weil die commissarii locorum ihr Devoir nicht thun, und solche Schelmen, wie Wilcke, noch mehr darunter stecken, die hier oder dort ihre patronen haben, und deshalb vertuschet werden müßen“.164 Exemplarisch wird das Unbehagen des Monarchen über die immer noch funktionierenden Netzwerke zwischen Amtsträgern und einflussreichen Personen in den Kommunen angesprochen. Diese Interventionen machen jedoch zugleich deutlich, dass der König zuweilen selbst zum unberechenbaren Faktor im institutionellen Gefüge werden konnte. G. Schmoller gewann diesen eher kontraproduktiv wirkenden landesherrlichen Eingriffen noch etwas ab, wenn er – mit heute fast schon zynisch klingendem Unterton – resümierte: „Sie hielten die Beamtenmaschine in Atem, sie hielten das Bewußtsein der stetigen Kontrolle wach“.165 IV. Unsere bisherigen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass die reglementierenden Eingriffe der Krone in die Stadtverfassung in ihrem zäsurbildenden Charakter nicht überschätzt werden sollten. Dies findet seine Begründung auch 160

G. Heinrich, Staatsaufsicht (Anm. 4), 165. Vgl. dazu: W. Neugebauer, Neuere Deutung (Anm. 140), 577. 162 GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 12, Bl. 277. 163 Vgl. Bruno Reuter, König Friedrich Wilhelm I. und das General-Directorium, in: Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde 12 (1875), 724 – 749, hier 743 – 749. 164 Zit. nach: ebd., 747. 165 G. Schmoller, Deutsches Städtewesen (Anm. 9), 398. 161

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aus der Betrachtung der Partizipationsspielräume in den Städten nach 1713, dem nun im Folgenden unsere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. Nach älterer Lesart wurde ja häufig der Eindruck vermittelt, dass sich die Einflussmöglichkeiten der Bürgerschaft im Zuge der auf eine stärkere Einbindung der Städte in den Staat gerichteten Reformbemühungen reduziert hätten oder gänzlich beseitigt worden wären. Zunächst muss konstatiert werden, dass in der übergroßen Mehrheit der Kommunen die Bürgerschaftsvertretungen im 18. Jahrhundert erhalten blieben. Damit fand eine lange zurückreichende Tradition, wenn auch unter veränderten Bedingungen, ihre Fortsetzung. Die Dreigliedrigkeit der Stadtgemeinde (Rat – Gemeinde – Gewerke) bildete noch im 18. Jahrhundert ein Strukturmerkmal städtischer Verfassungswirklichkeit, wenngleich es stets temporäre Gewichtsverlagerungen und regionale Diversifizierungen gegeben hatte.166 Gleich ob es sich bei solchen Bürgerausschüssen oder Verordneten-Versammlungen um Gremien handelte, die eine juristisch verankerte oder auch nur beanspruchte Partizipation an der Stadtverwaltung wahrnehmen konnten, bildeten diese im 18. Jahrhundert ein Strukturmerkmal in den Stadtverfassungen. Auch innerhalb der im ausgehenden 17. und im frühen 18. Jahrhundert in den preußischen Gesamtstaat integrierten Territorien wurde die Existenz dieser Ausschüsse durch die neue Landesherrschaft rechtlich sanktioniert. In Halle (Saale) sollten zum Beispiel laut der durch Kurfürst Friedrich Wilhelm erneuerten Regimentsordnung von 1687 „die Innungs- und Gemeinheitsmeister als gemeine Stadttribuni“ ein Auge auf das Finanzgebaren des Rates haben.167 In den nach dem Stockholmer Vertrag von 1720 an den preußischen Staat gelangten Gebieten des südlichen Vorpommerns konnten in einigen Kommunen, wie zum Beispiel in Anklam und Stettin, die aus schwedischer Zeit stammenden Bürgerausschüsse in Gestalt von „Achtmänner“-Kollegien weiter agieren.168 Natürlich verband die Landesherrschaft mit der Akzeptanz solcher Gremien andere Absichten als die Bürgerschaft, und dies schon geraume Zeit vor Beginn der Städtereform Friedrich Wilhelms I. In dem 1691 von seinem Vorgänger, Kurfürst Friedrich III., für Havelberg erlassenen „Ratsreglement“ wurde der Magistrat verpflichtet, die acht Stadtverordneten „zu allen Konsultationen in Stadt- und Polizeisachen“ heranzuziehen und „mit ihrer Einwilligung das für die Stadt und Bürgerschaft Nötige [zu] tun“; in Pritzwalk wurde gar erst im Zusammenhang des 1690 eingeführten „Ratsreglements“ die Verfassungsinstitution der Stadtverordneten geschaffen.169 Vor allem die Stadtviertel und die in der jeweiligen Kommune angesessenen Gewerke boten einen institutionellen Rahmen für Einflussmöglichkeiten der Bürger auf die Magistratspolitik. Es erscheint zweifelhaft, ob sich die Kompetenzen 166

Vgl. E. Engel (Anm. 38), 339 f. G. Schmoller, Deutsches Städtewesen (Anm. 9), 269. 168 Vgl. O. Vanselow (Anm. 23), 115 f. 169 Lieselott Enders, Die Prignitz. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 38), Berlin 2000, 801 und 818. 167

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der Verordneten nur auf die informelle Weitergabe von Anordnungen des Magistrats unter der Bürgerschaft beschränkten und diese deshalb nur auf die Rolle als „verlängerter Arm des Magistrats“ reduziert werden können.170 Ein solches Amtsverständnis lag freilich auch im Interesse der Landesherrschaft, dennoch existieren Belege dafür, dass die Stadtverordneten trotz der normativen Zuschreibung ihrer Kompetenzen durchaus als wirkliche Interessenvertreter eines Teils der Bürgerschaft agieren konnten und nicht nur als exekutives Hilfsorgan bzw. Informationsbeschaffer des Magistrats. In den Prignitzer Kommunen Perleberg und Pritzwalk waren es die Vertreter der Gewerke, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Eigenmächtigkeiten des Rates ahndeten und – statt über offene Widersetzlichkeit – über die Einsendung von Gravamina an den Landesherrn auf dem institutionellem Weg ihr Recht einzufordern versuchten.171 Laut dem 1724 für das ostpreußische Königsberg erlassenen „Rathäuslichen Reglement“ verfügte die Bürgerschaft über ein Gremium, dessen Zusammensetzung sowohl die Gliederung nach Stadtvierteln als auch bezogen auf die Sozialstruktur (Kaufleute, Mälzenbräuer, Kleinbürger) widerspiegelte. Diesem Ausschuss wurde vom Stadtkämmerer die jährliche Rechnungslegung zur Kenntnis gebracht, dem auch das Recht zustand, Monita vorzubringen.172 In abgeschwächter Form konnten in Stettin die Vertreter der Kaufmannschaft und der Hauptgewerke an der Rechnungslegung des Magistrates mitwirken. Ihnen wurde diese zur Prüfung, jedoch nicht zur endgültigen Revision und Entlastung vorgelegt.173 Deutlich werden dabei die Kontinuitäten zu solchen Gremien des Spätmittelalters bzw. des 16. Jahrhunderts. So zum Beispiel standen im hinterpommerschen Köslin die Viertelsmänner, die 1739 per königlicher Verordnung als Beratungsgremium des Magistrates fungieren sollten, in der Tradition des seit dem frühen 16. Jahrhundert nachgewiesenen „Zwölfmännerkollegiums“. In Kolberg, in dem sich die Bürgervertretungen im 16. und frühen 17. Jahrhundert immer wieder heftige Auseinandersetzungen mit der Landesherrschaft (dem Bischof von Kammin) geliefert hatten, zog sich eine direkte Linie von den Bürgerausschüssen jener Zeit zu dem Kollegium der „Fünfzehnmän-

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So etwa mit Blick auf das preußische Königsberg. Dort hatten die Stadtverordneten dem Magistrat zu assistieren bei der Visitation der Feuerstellen und öffentlichen Brunnen sowie bei der Kontrolle der Maße und Gewichte; vgl. E. Botzenhart (Anm. 2), 143. 171 Vgl. Lieselott Enders, Kommunikation in märkischen Provinzstädten der Frühneuzeit, in: Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Fs Karl Czok, hrsg. v. Helmut Bräuer/Elke Schlenkrich, Leipzig 2001, 239 – 262, hier 254 – 256. 172 Vgl. F. Gause (Anm. 76), 79. 173 Vgl. Städtebuch Hinterpommern, hrsg. v. Peter Johanek/Franz-Josef Post (Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte 3.2), Stuttgart 2003, 263. – Auch für andere hinterpommersche Städte sind Aktivitäten solcher Bürgervertretungen mit ähnlicher Struktur zu beobachten. Vgl. hierzu mit mehreren Belegen: O. Vanselow (Anm. 23), 116. In Bütow rekrutierten sich die acht „Stadtältesten“ aus der Kaufmannschaft und den führenden Gewerken der Stadt, während in Naugard die „Viertelsmänner“ nach ihrem Wohnort innerhalb der Kommune bestimmt wurden. In Regenwalde agierten Vertreter der Stadtviertel und Gewerke. Vgl. Städtebuch Hinterpommern (Anm. 175), 30, 159 und 200.

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ner“, die bis zur Städtereform von 1808 ihren Einfluss behalten sollten.174 Und in den kurmärkischen Städten Perleberg und Wittstock konnten die Vertreter der Bürgerschaft ein wirkliches „Mitsprache- und Kontrollrecht“ längerfristig gegenüber dem Rat behaupten.175 In eine ähnliche Richtung deutet der Befund, als sich im Jahre 1732 die vier Stadtverordneten des an der mecklenburgischen Grenze liegenden Städtchens Lychen mit einer Eingabe an den König wandten.176 Des Weiteren finden sich in einigen Städten auch Mischformen bürgerschaftlicher Partizipation, d. h. sowohl die jeweiligen Viergewerke als auch die anderen Gewerbezweige stellten Verordnete für die Bürgervertretungen. Die Vielgestaltigkeit der stadtverfassungsgeschichtlichen Praxis entzieht sich also verallgemeinernden Zuordnungen. Vor diesem Hintergrund dürfte die Einschätzung, dass die Bürgerschaft durch die oligarchisch regierenden Magistrate in der Vergangenheit „ganz bei Seite gedrängt worden“ wäre, zu apodiktisch ausfallen, gleichwohl dies durchaus versucht worden war.177 Ein solches Urteil erscheint letztlich zu sehr dem konstruierten SchwarzWeiß-Bild der Zeit vor und nach den Städtereformen verpflichtet. Vielmehr bestätigt sich durch neue Detailforschungen die seinerzeit von Gerd Heinrich getroffene Aussage, dass sich das „Institut der vereidigten Stadtverordneten […] häufig als Kristallisationspunkt bürgerschaftlicher Freiheiten bewährt“ hätte.178 Und im Übrigen kann dieses Urteil selbst auf die von Heinrich abschätzig als „Verfassungskloake“179 beschriebenen Mediatstädte übertragen werden. Aus landesherrlicher Perspektive sah man zudem in dem Wirken dieser Verordneten-Gremien gewisse Chancen, im Sinne einer Effizienzsteigerung den Magistrat zu unterstützen, „damit alles und jedes mit so viel mehr Eifer beobachtet werde“.180 Zugleich stand dem König damit eine zusätzliche Kontrollmöglichkeit der Stadträte zur Verfügung, so dass dies immer wieder Eingang in die Verordnungen zur Reformierung der Stadtverfassungen fand. Im pommerschen Greifenhagen wurde zum Beispiel den 14 „Altermännern“ der dort beheimateten Gewerke per königlicher Verordnung eine „mitberatende Stellung in außerordentlichen Fällen zugewiesen“.181 Es scheint sogar, als wären in nicht wenigen Kommunen erst im Zusammenhang mit der Einführung der „Ratsreglements“ die rechtlichen Grundlagen dieser mitunter in einer juristischen Grauzone liegenden Bürgervertretungen klarer formuliert worden. Im Umfeld der Erarbeitung eines „Ratsreglements“ für das altmärkische Stendal war 174 Vgl. R. Stoewer, Geschichte der Stadt Kolberg, Kolberg 1927. Lediglich die Zahl wurde in den 1780er Jahren auf zehn herabgesetzt. 175 L. Enders, Prignitz (Anm. 169), 821. 176 Vgl. L. Enders, Uckermark (Anm. 137), 562. 177 O. Hintze, Einleitende Darstellung (Anm. 31), 242. 178 G. Heinrich, Staatsaufsicht (Anm. 4), 164. 179 Ebd., 166; gegen diese Beurteilung mit entsprechenden Belegen: F. Göse, Zwischen adliger Herrschaft (Anm. 37), passim. 180 Laut den Instruktionen von 1714 – 1716; zit. nach: I. Barleben (Anm. 15), 97. 181 Städtebuch Hinterpommern (Anm. 173), 81.

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es der mit der Untersuchung der dortigen Verhältnisse beauftragte KommissariatsFiskal Nikolaus Conrad Breuning, der den Vertretern der Bürgerschaft einen vergleichsweise großen Anteil am Stadtregiment zugestehen wollte. Jener „Ausschuss sollte namens der Bürgerschaft mit dem Rat verhandeln und beschließen“. Diese damit intendierte „kommunale Mitsprache- und Kontrollfunktion“ ist also „nicht etwa zurückgedrängt, sondern eher noch angehoben“ worden.182 Ebenso wie die personelle Ausstattung der Magistrate sollte auch die zahlenmäßige Größe der Ausschüsse eingeschränkt werden. In Herford schmolz dieses Gremium „zu einer sechsköpfigen Gruppe von Gemeinheitsvorstehern zusammen“.183 In Duisburg wurde die alte Bürgervertretung, die sogenannten „Sechzehner“, 1717 zwar aufgelöst, jedoch traten an deren Stelle vier „Stadtverordnete“.184 Diese für die kleve-märkischen Verhältnisse bis dahin unbekannte Amtsbezeichnung stammte aus den brandenburgischen Kernlanden der Hohenzollernmonarchie und deutet das Bestreben der Krone an, nach und nach in den einzelnen Landesteilen ähnliche Verhältnisse zu schaffen. Es handelte sich dabei aber um Bürger, die von den zuständigen landesherrlichen Beamten ernannt bzw. „verordnet“ worden waren. Hinter dem Bemühen der Landesherrschaft, vor allem Vertreter der in den Kommunen beheimateten Gewerke partiell in die städtische Verwaltung (beratend) mit einzubinden, wird man indes auch die Absicht des Königs vermuten können, eine stärkere Kontrolle auf die organisatorischen Strukturen der Zünfte und Gilden auszuüben. Dass auf diesem Gebiet erheblicher Reformbedarf existiert hatte, ist bereits im Zusammenhang der Beschreibung der städtischen Verhältnisse vor 1713 deutlich geworden. Vor dem Hintergrund der bekanntlich gerade von Preußen maßgeblich vorangetriebenen Reichshandwerker-Ordnung von 1731 sollten die Zünfte in ihrer Selbständigkeit beschränkt und einer gewerbepolizeilichen Aufsicht des Staates unterstellt werden.185 Abgesehen davon, dass es schon vor 1713 wichtige Vorstöße gegeben hatte186, sollte man sich vor Überzeichnungen hüten. Wohl wurde nunmehr das „Beisitzer“-Amt auf den Zunftversammlungen geschaffen, womit zumindest der Anspruch einer gewissen obrigkeitlichen Kontrolle des Zunftgebarens, besonders mit Blick auf die Schlichtung interner Streitigkeiten, verbunden war. Die Möglichkeit, ihre Konflikte mittels ihrer eigenen Gerichtsbarkeit zu lösen, blieb den Zunftmitgliedern aber auch künftig unbenommen. Allerdings hatten diese ein Mitspracherecht der Beisitzer zu respektieren, die zugleich eine Aufsichtsfunktion gegenüber den Gewerks-Kassen ausübten. Somit erscheint das resümierende Urteil berechtigt, wonach der Landesherr zwar „das Zunftrecht mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln 182

L. Enders, Altmark (Anm. 74), 1099 f. N. Rügge (Anm. 150), 289. 184 I. Barleben (Anm. 15), 94. 185 Vgl. hierzu: O. Hintze, Einleitende Darstellung (Anm. 31), 36; D. Peitsch (Anm. 86), 116 – 122. 186 Vgl. Moritz Meyer, Geschichte der preußischen Handwerkerpolitik, Bd. 1, Glashütten 1972, 109 (ND der Ausgabe von 1888). 183

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weitgehend aushöhlen, […] aber nicht völlig beseitigen und die Zünfte aufheben“ konnte.187 Und auch in den kleinen Städten führten die Maßnahmen Friedrich Wilhelms I. keineswegs dazu, dass sich die Bürgerschaft durch den nunmehr in seiner „obrigkeitlichen“ Autorität so gestärkten Magistrat hätte mundtot machen lassen. Im uckermärkischen Strasburg klagte der Rat über eine „rüde, obstinate und ungehorsahme Bürgerschafft […], die die Ratsdiener […] nicht allein mit losen Worten anfahren, zu schlagen drauen, sondern auch woll gar beym Kopff kriegen, auch bei Zitation nicht zum Rathaus zu kommen“.188 Letztlich wusste sich der Magistrat nur dadurch zu helfen, indem er die Ansiedlung ehemaliger Soldaten vorantrieb, die ihm im Notfall bei der Durchführung von Pfändungen und Exekutionen beistehen sollten.189 V. Welches Bild bleibt also von der Städtereform Friedrich Wilhelms I.? Zur „Haben“-Seite zählen gewiss die erreichten – und langfristig wirkenden – Veränderungen, die zu einer stärkeren Einbindung der Städte in die landesherrliche Verwaltungsstruktur führten. Ein Professionalisierungsschub ist ebenso zu konstatieren wie die effizientere Führung der städtischen Haushalte. Es ist andererseits aber auch eindeutig, dass die allzu „etatistische Sicht der älteren Forschung […] den absolutistischen Staatszugriff in die Städte hinein etwas überschätzt“ haben dürfte.190 Auch der mitunter rigide Zug in den Reformen des neuen Königs kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass vieles von diesen Neuerungen schon unter seinem Vorgänger angelegt war, so dass beträchtliche personelle und organisatorische Kontinuitäten ins Auge fallen. Zudem hat eine nicht nur die institutionellen, sondern auch informellen Prozesse in den Blick nehmende Analyse deutlich gemacht, dass in „der Stadt des 18. Jahrhunderts […] Teile der bürgerlichen Elite nicht Opfer“, sondern zugleich „notwendiger Träger der landesherrlichen Politik“ waren, das städtische Bürgertum also nicht auf die Rolle eines passiven Objektes beschränkt werden kann.191 Die nach 1740 von den Städterepräsentanten unternommenen Versuche, einigen Neuerungen des alten Königs etwas die Schärfe zu nehmen und Handlungsspielraum zurückzugewinnen, lassen sich in diesem Sinne interpretieren.192

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D. Peitsch (Anm. 86), 145. Zit. nach: L. Enders, Uckermark (Anm. 137), 561 f. 189 Vgl. weitere Beispiele für die widerständige Haltung der Bürger in kleinen Mediatstädten in F. Göse, Zwischen adliger Herrschaft (Anm. 37). 190 W. Neugebauer, Brandenburg-Preußen (Anm. 6), 277. 191 N. Rügge (Anm. 150), 13. 192 Vgl. in diesem Sinne die anlässlich des Thronwechsels von 1740 eingereichten Gravamina: Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die 188

Die Städtepolitik König Friedrich Wilhelms I.

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Die am Beispiel der Städtereform gewonnenen Einzelbefunde verdichten sich zu einer grundsätzlichen Beobachtung, die für das Gesamtverständnis der Regierungspraxis im Ancien Régime – und im Übrigen darüber hinaus – schon des Öfteren thematisiert worden ist: Das Bemühen der Krone um administrative Durchdringung und Herrschaftszentrierung ihrer Territorien ist zwar in den Quellen als Grundtendenz immer wieder greifbar, allerdings traten stets die Grenzen deutlich hervor. Aus dem Erfordernis, Vollzugsgewalt an nachfolgende Behörden zu delegieren, entstanden „Gestaltungsräume, die aus der Verwaltung nicht nur einen funktionierenden Apparat, sondern ein kreativ handelndes Subsystem machten“.193 Dass Verwaltungen „immer auch eine informelle Dimension“ haben, hatte die Krone – trotz vieler Anstrengungen, solche Effekte zu reduzieren – stets zu berücksichtigen.194 Ungeachtet der fraglos effizienter gewordenen Einbindung der städtischen Magistrate in die Staatsverwaltung lassen sich die Verfassungsverhältnisse in den brandenburgisch-preußischen Kommunen auch noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Begriff der „beauftragten Selbstverwaltung“ beschreiben.195 Damit wird dem zweifellos vorhandenen, wenn auch enger gewordenen Gestaltungsraum der Magistrate und der städtischen Bevölkerung Rechnung getragen. Die während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. erzielten Veränderungen stellten also eine Zwischenstufe auf einem sehr langen, von retardierenden Momenten nicht freien Prozess dar, so dass sich „häufig eine Symbiose staatlich-zentralistischer und kommunal-regionaler Elemente“ herausbildeten, „die zwar nicht mehr mit den fragmentierten Verhältnissen des Mittelalters gleichzusetzen ist, aber auch noch nicht mit den modernstaatlichen des 19. Jahrhunderts“.196

Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. 6.2, bearb. v. Gustav Schmoller/Otto Hintze, Berlin 1901, 73. 193 Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800 – 1848, Frankfurt a.M./New York 2005, 14. 194 Birgit Emich, Die Formalisierung des Informellen. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Der wiederkehrende Leviathan. Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit, hrsg. v. Peter Eich u. a. (Akademie-Konferenzen 4), Heidelberg 2011, 81 – 95, hier 83. 195 Luise Schorn-Schütte, Von der autonomen zur beauftragten Selbstverwaltung. Die Integration der deutschen Stadt in den Territorialstaat am Beispiel der Verwaltungsgeschichte von Osnabrück und Göttingen in der frühen Neuzeit, in: Osnabrücker Mitteilungen 82 (1976), 29 – 59 [wieder abgedruckt in: dies., Perspectum. Ausgewählte Aufsätze zur Frühen Neuzeit und Historiographiegeschichte anlässlich ihres 65. Geburtstages, hrsg. v. Anja Kürbis/Holger Kürbis/Markus Friedrich (Historische Zeitschrift Beih. N.F. 61), München 2014, 24 – 60]. 196 Heinz Schilling, Stadt und frühmoderner Territorialstaat. Stadtrepublikanismus versus Fürstensouveränität. Die politische Kultur des deutschen Stadtbürgertums in der Konfrontation mit dem frühmodernen Staatsprinzip, in: Recht, Verfassung und Verwaltung in der frühneuzeitlichen Stadt, hrsg. v. Michael Stolleis (Städteforschung A/31), Köln/Wien 1991, 19 – 39, hier 21.

Nichtdeutsche Maler in Berliner Ausstellungen und Privatsammlungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Von Helmut Börsch-Supan, Berlin Archiven und Museen gemeinsam ist ihre Aufgabe, den Menschen als erweitertes Gedächtnis zu dienen. Kunstmuseen befördern überdies die ästhetische Bildung, aber ihre Möglichkeiten, Zeugnisse der Vergangenheit zu bewahren, sind viel beschränkter als die der Archive, und sie sind vom wechselnden Zeitgeschmack abhängig, der nur zu oft das, was ihm nicht mehr entspricht, dem Untergang preisgibt. Oft sind es heute die für den Kunstbetrieb unentbehrlichen Jubiläen, die den Anstoß geben, sich an Vergangenes zu erinnern und Kunstwerke hervorzuholen, die sonst in den Depotgrüften der Museen ruhen. So war 2011 der 150. Jahrestag der Schenkung von 262 Gemälden des 19. Jahrhunderts durch den Bankier Joachim Heinrich Wilhelm Wagener an König Wilhelm I. von Preußen der Anlaß, diese bedeutende Berliner Privatsammlung, die den Grundstock der 1876 eröffneten Nationalgalerie bildete, einmal auszustellen1. 56 Gemälde gingen im Zweiten Weltkrieg verloren, von denen 50 im Katalog in schwarzweiß abgebildet werden konnten. Von sechs Bildern fehlen Vorlagen. Das Erhaltene ist in guten Farbabbildungen reproduziert. Was dem Publikum vorgeführt wurde, war eine weitgehend vergessene Welt, denn im Katalog der ausgestellten Werke der Nationalgalerie von 2001 sind lediglich 25 Gemälde aus dem Bestand Wageners aufgeführt2. Nur mit zwei Gemälden von den Belgiern Edouard de Bièfve und Louis Gallait, deren riesige Historienbilder um 1840 ungeheures Aufsehen erregten, sind hier ausländische Maler aus der Sammlung Wagener vertreten, obgleich mehr als ein Sechstel des Bestandes von belgischen, holländischen, französischen, italienischen, schweizerischen und englischen Malern stammt. Die Namen dieser einst bekannten Künstler sagen dem heutigen Publikum kaum noch etwas, und sie begegnen allenfalls noch im Kunsthandel, der alles auf den Markt bringt, was sich verkaufen läßt und ungewollt eine Bildungsarbeit betreibt, die eigentlich die Aufgabe der Museen ist. 1

Ausstellungskatalog: Die Sammlung des Bankiers Wagener. Die Gründung der Nationalgalerie, Leipzig 2011. 2 Nationalgalerie Berlin. Das XIX. Jahrhundert. Katalog der ausgestellten Werke, Berlin 2001.

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Die 27 ausländischen Bilder, davon 19 französische, im Katalog von 2001 sind – mit Ausnahme der beiden belgischen – Zeugnisse eines ganz anderen Geschmacks. Sie sind Wegmarken an der großen, über den Impressionismus auf die Moderne zuführenden Hauptstraße. Sackgassen und Nebenstraßen, so wichtig sie einmal waren, fallen der Vergessenheit anheim. Für das 19. Jahrhundert gilt nicht, was für frühere Zeiten selbstverständlich ist, daß alles in den Blick genommen wird. Die Ausstellung der Sammlung Wagener regt an, nach anderen Berliner Privatsammlungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den in ihnen enthaltenen Werken ausländischer Maler zu fragen. Außer der Sammlung Wagener ist, wenn auch sehr geschmälert, nur noch die jetzt in Posen bewahrte Sammlung des Grafen Athanasius Raczyn´ski mit Werken alter und neuerer Kunst erhalten3. Das erste Bild, das Wagener erwarb, war Karl Friedrich Schinkels „Gotische Kirche auf einem Felsen am Meer“ von 1815, das also im Jahr des endgültigen Sieges über Napoleon und vielleicht im Auftrag Wageners entstand. Damals war der 33jährige Teilhaber der väterlichen Bank Anhalt und Wagener geworden. Im Lauf der zwanziger Jahre mehrten sich die Ankäufe, so daß von einem systematischen Aufbau einer Sammlung gesprochen werden kann. Ihre Besonderheit bestand darin, daß sie ausschließlich zeitgenössische Malerei enthielt und sich dabei zunächst auf Deutschland beschränkte. Erst seit 1838 und verstärkt seit der zweiten Hälfte der 1840er Jahre wandte sich Wagener auch nichtdeutschen Malern zu. Sein Motiv des Sammelns blieb ein patriotisches, auf Volksbildung gerichtetes. Das gilt auch für den sechs Jahre jüngeren polnischen, seit 1830 in preußischen Diensten tätigen Grafen Raczyn´ski, der seit 1830 alte und neue Gemälde aus verschiedenen europäischen Ländern sammelte. Beredtes Zeugnis für diesen von Deutschland ausgehenden, doch die Landesgrenzen überspringenden Blick ist seine 1836 – 1841 gleichzeitig in französischer und deutscher Sprache erschienene „Geschichte der neueren deutschen Kunst“, die durch einen Folioband mit 38 Tafeln ergänzt wurde4. Für seine Sammlung ließ er an seinem Posener Palais 1828/1829 nach Schinkels Entwurf einen Galerieanbau errichten, überführte sie aber als Folge der polnischen Unruhen von 1830/31 nach Berlin, wo er seit 1836 dauerhaft wohnte5. In Johann Daniel Friedrich Rumpfs Werk „Berlin und Potsdam. Beschreibung aller Merkwürdigkeiten dieser Städte und Umgebungen“, das 1823 in einer vierten Auflage erschien, war die Sammlung Wageners noch nicht in einem Abschnitt über

3 Ausstellungskatalog Sammlung Graf Raczyn´ski. Malerei der Spätromantik aus dem Nationalmuseum Poznan, München/Berlin/Kiel 1992/93. 4 Athanasius Graf Raczyn´ski, Geschichte der neueren deutschen Kunst. Aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Heinrich von der Hagen, 3 Bde., Berlin 1836 – 1841. 5 Eva Börsch-Supan, Karl Friedrich Schinkel Lebenswerk. Die Provinzen Ost- und Westpreußen und Großherzogtum Posen, München/Berlin 2003, 143 – 145, Abb. 101.

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die „vorzüglichsten“ Kunstsammlungen Berlins aufgeführt. Von den 17 genannten enthielten nur neun auch Gemälde6. Johann Gottfried Schadow, der in seinen Erinnerungen von 1849 „Kunst-Werke und Kunst-Ansichten“ einige Bemerkungen über Kunstsammlungen und Kunsthandel macht, notierte bei Gelegenheit seiner Arbeiten für das Palais Dönhoff 1791: „Bis dahin mogte Berlin wohl keine bedeutende Privatsammlung von Kunstwerken besitzen. Der Graf Dönhof hatte die Maler Rafael Mengs, Pompeo Battony, den Bildhauer Cavaceppi und den spanischen Gesandten Azarra persönlich gekannt und war durch diese in den Besitz ausgewählter Kunstwerke gekommen. Sein Benehmen mit Künstlern war nobel und ihm zu dienen eine Freude“7. Rumpf erwähnt die Sammlung noch. An anderer Stelle nennt Schadow als bemerkenswert die Sammlung des Barons Keith, die ebenfalls bei Rumpf noch aufgeführt ist, sowie die des Johann Wilhelm Meil und des Veitel Ephraim8. Friedrich Nicolai vermittelt in seiner „Beschreibung der Residenzstädte Berlin und Potsdam“ ein wesentlich umfassenderes und durchaus imponierendes Bild von den Berliner Privatsammlungen der spätfriderizianischen Zeit9. Hier sind 28 Gemäldesammlungen mehr oder weniger ausführlich behandelt. Kaum eine von ihnen hatte jedoch einen längeren Bestand und zeitgenössische in- und ausländische Maler waren nur ausnahmsweise einer Erwähnung wert. Als Sammlung zeitgenössischer Gemälde nennt Nicolai in Schloß Friedrichsfelde die des Herzogs Biron von Kurland10. Auch Schadow hebt sie im Anschluß an eine Bemerkung über die Orientierungen an französischer und italienischer Mode hervor: „Dies wird angeführt, um bemerklich zu machen, daß für Sammler noch nichts vorhanden war von lebenden Malern, es wäre denn als Ausnahme anzuführen, dass der Herzog von Curland in Friedrichsfelde eine Anzahl Landschaften von Philipp Hackert in Rom besass.“11 Unter dem seit 1797 regierenden König Friedrich Wilhelm III. änderten sich die Verhältnisse von Grund auf. Er forderte alsbald die lebenden Künstler seines Landes auf, sich mit patriotischen Themen zu beschäftigen, und stellte den Ankauf gelungener Werke in Aussicht12. Die 1786 reformierte Kunstakademie bildete 6 Daniel Friedrich Rumpf, Berlin und Potsdam. Beschreibung aller Merkwürdigkeiten dieser Städte und Umgebungen, Bd. 2, 4. Aufl. Berlin 1823, 142: Gebr. Arnous, Herz, Beer, Gräfin Dönhoff, Stadtrat Friedländer, Generalin Helwig, Direktor Reichert, General Major Rühle von Lilienstern, Kaufmann Kampe, Rektor Weitsch. 7 Johann Gottfried Schadow, Kunst-Werke und Kunst-Ansichten [1849]. Kommentierte Neuausgabe, hrsg. von Götz Eckardt, Berlin 1987, 56 f. 8 Ebd., XXV, 351, 433 f. 9 Friedrich Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam […] [1786], Neudruck Berlin 1968, 833 – 849. 10 Ebd., 1057 f. 11 J. G. Schadow, Kunst-Werke (Anm. 7), 101. 12 Helmut Börsch-Supan, Vaterländische Kunst zu Beginn der Regierungszeit Friedrich Wilhelms III., in: Aurora, Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 1977, 155 – 160.

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immer mehr Künstler aus, deren Lebensunterhalt gesichert werden mußte. Aber in den im Abstand von zwei Jahren veranstalteten Ausstellungen waren auch Künstler aus anderen deutschen Staaten und sogar aus anderen europäischen Ländern willkommen, weil sie zu einem anspornenden Vergleich anregten13. Der Sieg über Napoleon bewirkte Veränderungen in vielen Bereichen, so auch im Kunstleben, was sich deutlich aus den Katalogen der Akademie-Ausstellungen ablesen läßt. Seit der ersten Nachkriegs-Ausstellung 1816 stieg in den folgenden zwei Jahrzehnten die Zahl der gezeigten Werke kontinuierlich von 432 auf 1683, also nahezu das Vierfache an. Kunstvereine wurden, zuerst seit 1818 im Südwesten und Süden Deutschlands, gegründet, um in breiteren Schichten für den Kauf von Kunstwerken zur allgemeinen Hebung des Geschmacks zu werben. In Preußen erfolgte die erste Vereinsgründung 1825 in Berlin. Es schlossen sich Gründungen in Halberstadt (1828), Düsseldorf (1829), Münster (1831), Königsberg (1832), Breslau (1833), Stettin, Potsdam, Magdeburg und Halle (1834) sowie Posen (1835) an. Alle diese Vereine veranstalteten regelmäßig Ausstellungen, besaßen den Ehrgeiz viel Gutes zu zeigen und boten allen Künstlern die Beteiligung an. Das erforderte Transporte von Kunstwerken in einem vorher nicht gekannten Ausmaß14. Die Ankäufe des Königshauses wirkten als Vorbild. Daß Friedrich Wilhelm III. sich 1814 in Paris von François Gérard ganzfigurig porträtieren ließ, daß dieses Werk vielfältig kopiert wurde und als Muster für andere Staatsporträts galt, zeigt seine Aufgeschlossenheit für Leistungen des ferneren Auslandes, ja sogar des besiegten Frankreich15. Carle Vernet malte 1822 im Auftrag des Königs die „Weihe der preußischen Fahnen auf dem Marsfeld 1814“16, und 1828 lieferte der Pariser Landschaftsmaler Louis Etienne Watelet zwei Ansichten von St. Germain en Laye, „davon die erstere durch die im Mittelgrunde abgebildete Brücke, welche der Feldmarschall Blücher im Feldzuge von 1815 mit einem Theil der Preußischen Armee passirte, geschichtlich merkwürdig ist“17. Die Bilder Watelets hatten zunächst also einen patriotischen Bezug, im Unterschied zu den 1836 und 1838 vom König erworbenen. Aber auch in rein künstlerischer Hinsicht wurden sie bewundert. Carl Seidel rühmt sie in der Besprechung der Ausstellung von 1828: „Die beiden Landschaften sind unter so vielem Herrlichen bei weitem die vorzüglichsten 13

Helmut Börsch-Supan (Hrsg.), Die Kataloge der Berliner Akademie-Ausstellungen 1786 – 1850, 3 Bde., Berlin 1971. 14 Helmut Börsch-Supan, Die Deutsche Malerei von Anton Graff bis Hans von Marées, München 1988, 254 ff., 504 f. 15 Verschollen. Rainer Schoch, Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts (Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts, 23), München 1975, 94 ff., Abb. 92. Außerdem besaß der König von Gérard eine Fassung der großen Komposition „Ossian zur Harfe singend, um ihn die Geister der von ihm besungenen Helden“ und ein Porträt König Karls X. von Frankreich. Beide Bilder sind ebenfalls verschollen. 16 Schloss Charlottenburg. 17 Verschollen lt. Katalog von 1828: H. Börsch-Supan, Die Kataloge (Anm. 11), Nr. 1074 a, b.

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der ganzen Ausstellung. In der täuschenden Darstellung des Lichtes besteht das höchste Verdienst des Watelet, der sich in der Schule des Bertin anzureihen scheint.“18 Der Maler wurde 1832 zum Mitglied der Akademie ernannt, eine Ehre, die vor ihm 1827 von den Franzosen den Malern François Baron Gérard, Louis Hersent und François Marius Granet zuteil geworden war. 1834, 1836, 1838 und 1839 waren von Watelet weitere Arbeiten auf den Ausstellungen zu sehen, insgesamt fünf Gemälde und drei Aquarelle. Zwei 1836 und 1838 gezeigte Bilder erwarb der König. Zehn Gemälde befanden sich in Berliner Privatsammlungen. Bis auf ein in der Sammlung Raczyn´ski bewahrtes Aquarell sind alle diese Werke verschollen19. An Beliebtheit wurde Watelet später durch den virtuosen Marinemaler Théodore Gudin übertroffen, der 1837 Akademiemitglied wurde und von dem sich 1856 mindestens 14 Gemälde in Berliner Sammlungen befanden, drei im Besitz des Königs und elf bei Privatpersonen. Auf der Akademie-Ausstellung von 1836 zeigte er nicht weniger als fünf Gemälde und auf den folgenden 1838 und 1839 je drei. Die 1838 gezeigten Bilder stammten sämtlich aus dem Besitz des Kunsthändlers und Verlegers Louis Friedrich Sachse, der um diese Zeit in Berlin die führende Rolle in der Erschließung eines Marktes für nichtdeutsche, insbesondere französische Maler spielte. Sachse, 1798 als Nachkomme von Hugenotten geboren und damit empfänglich für französische Kultur, war 1819 Privatsekretär Wilhelm von Humboldts geworden und hatte damit Zugang zur obersten Schicht der Gebildeten in Berlin gewonnen20. 1820 schloß er sich einer geheimen Gruppe polnischer Studenten „Pánta Koiná“, die einen Umsturz plante, an, wurde im Februar 1821 verhaftet und zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. 1824 wurde er begnadigt. Da ihm eine wissenschaftliche Karriere verbaut war, bildete er sich 1827 in Paris und in München bei Alois Senefelder zum Lithographen aus. Nach seiner Rückkehr nach Berlin im folgenden Jahr gründete er hier eine eigene lithographische Anstalt. Er wurde der erste Förderer Menzels. Wie aus einem Bericht von Sachses Freund Adolf Schöll im „Museum“ vom 2. Februar 1835 hervorgeht, hat jener von einer Reise nach Paris 1834 „eine mäßige Anzahl kleinerer Oelbilder und ein bedeutendes Portefeuille farbiger Handzeichnungen der jetzt berühmtesten Künstler“ mitgebracht und in seinen Räumen ausgestellt. 19 Maler werden genannt und einzelne Werke hervorgehoben21. Mit far18 Carl Seidel, Critische Andeutungen über die diesjährige Kunstausstellung, in: ders., Die Schönen Künste in Berlin im Jahre 1828, Berlin 1828, 245. 19 „Waldlandschaft“, 1824: Ausstellungskatalog Sammlung Graf Raczyn´ski (Anm. 3), Nr. 58. 20 Guido Joseph Kern, Louis Friederich Sachse, der Begründer des Berliner Kunsthandels. Ein Beitrag zur Geschichte der neueren Berliner Kunst und Kultur, in: Zeitschrift des Vereins für die Geschichte Berlins 51 (1934), 1 – 12; Gisold Lammel, Adolph Menzel und seine Kreise, Dresden/Basel, 1993, 92 – 96. 21 [Adolf Schöll], Französische Oel- und Aquarell-Bilder, in: Museum 3 (1835), 43. Genannt werden Horace Vernet, Louis Etienne Watelet, Eugène Isabey, Henri Scheffer, Camille

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bigen „Handzeichnungen“ sind Aquarelle gemeint, die sich leicht transportieren ließen sowie mehr und mehr geschätzt und gesammelt wurden. Am 4. Mai 1835 heißt es im „Museum“, Sachse habe „vor einiger Zeit wiederum eine bedeutende Lieferung von Gegenständen dieser Art empfangen und uns hierdurch eine noch erweiterte Einsicht, sowohl in den Charakter der neueren französischen Kunst überhaupt, als auch in die von ihnen so eigenthümliche und glückliche Weise ausgebildete Aquarell-Malerei gegeben“22. Damit regte er Berliner Künstler an, ihrerseits Aquarelle zu liefern, die er dem Pariser Publikum vorstellen wollte. Im Frühjahr 1835 war diese Sammlung auf „einige dreißig Blätter“ von 16 namentlich genannten Malern angewachsen. Er nahm sie auf der vom 10. Juni bis zum 11. Juli 1835 unternommenen Reise nach Paris über Hamburg, Le Havre und Rouen mit, auf der ihn sein gleichaltriger Freund Carl Blechen und der Kupferstecher und Radierer Eduard Eichens begleiteten23. In Paris besuchte er zahlreiche Maler, worüber er in einem Tagebuch Auskunft gibt. Das „Kunstblatt“ vom 17. November 1835 berichtete darüber: „Der hiesige Kunsthändler Herr Sachse hatte den löblichen Einfall, auf seine letzte Reise nach Paris eine Anzahl Aquarelle hiesiger Künstler mitzunehmen. Diese, nebst einigen von Düsseldorfern, waren auf der Frühjahrsausstellung hier zu sehen. Meisterhaft war darunter ein Blatt von Prof. Krüger, welchem auch Horace Vernet Bewunderung zollte. Einem von Professor Blechen, das er gleichfalls hervorhob, konnte das nicht minder prophezeit werden. In der Sicherheit der Technik und in dem, was man vorzugsweise das Geistreiche des Vortrags nennen mag, ist vielleicht Blechen am meisten unter den hiesigen Künstlern in seiner eigenen Art den Franzosen verwandt.“24 Das wichtigste Ergebnis dieser Reise war indessen der Auftritt von 31 französischen Malern mit 47 Gemälden und Aquarellen auf der Berliner Akademie-Ausstellung von 1836, der mit 1683 Katalognummern bisher größten und erst 1844 überbotenen. 1832 und 1834 war nur jeweils ein Franzose mit je zwei Bildern vertreten. Das Berliner Publikum war jedoch schon länger mit einer an Frankreich orientierten Malerei durch die Künstler aus der preußischen Exklave Neufchâtel vertraut. Schadow bemerkte von ihnen, sie „tragen zwar die Spuren der französi-

Roqueplan, Alexandre Gabriel Decamps, Adrien Dauzats, Alfred Johannot, Alexandre Evariste Fragonard, Eugène Devéria, Joseph Beaume, François Grenier, Jules Duval de Camus, Auguste Massé, Hippolyte Bellangé, Jean François Jaime, Jules Coignet, Georges Viard und André Giroux. Schadows Urteil ist skeptisch (J. G. Schadow, Kunst-Werke [Anm. 7], 272): „Die französischen Künstler geben ihren Arbeiten in diesem Genre einen Effect, welcher für den ersten Blick anziehend ist. Eine nähere Betrachtung, die jedoch nur den Kennern eigen ist, zeigt die Schwäche der meisten dieser Blätter.“ 22 N. N., Deutsche Aquarell-Bilder, in: Museum 3 (1835), 139 f. 23 Reisetagebuch Sachses. Zitiert nach [Paul Ortwin Rave], Karl Blechen. Leben, Würdigungen, Werk, Berlin 1940, 38 – 40. 24 Kunstblatt 16/1835, 381.

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schen Schule, aber die Künstler wurden als zu unseren Landsleuten gehörend gezählt25. Die Kritik nahm den Beitrag der Franzosen mit Anerkennung auf. Eine ausführliche Besprechung erschien 1836 im „Museum“26. Im „Kunstblatt“ von 1837 heißt es: „Ein unausgesetzter Verkehr und Austausch zwischen der deutschen und französischen Malerschule ist durchaus wünschenswert. Die schwächste Seite der modernen Bilder ist fast immer der Mangel an innerer Güte“27. Und drei Jahre später ist an gleicher Stelle zu lesen: „Gewiß ist es für die deutsche Kunst im allgemeinen und für die Malerei im Besonderen von ersprießlichem Einflusse gewesen, daß französische Meisterwerke bei uns leichtern Eingang und gerechte Anerkennung erlangten.“28 Begeistert äußerte sich Menzel in einem Brief an Carl Heinrich Arnold in Kassel vom 29. Dezember 1836 nach einer Distanzierung von den damals gepriesenen Düsseldorfern, in denen er nur eine Vorstufe künftiger Entwicklung sah: „Der wirklich geistvolle und gediegene Materialismus der jetzigen Franzosen (derer die die Schule repräsentieren und zum Theil geschaffen haben) eines Gudin, Roqueplan, Coignet, zum Theil Watelet, Le Poittevin werden hier eine Revolution hervorbringen, in welcher diejenigen, die da glauben, Buntmalen sei brillant, und geschmiert geistreich gemalt, untergehen werden, was nicht schaden kann, und die kräftig genug sind sie zu überstehen, werden gewiß besser daraus hervorgehen. Sind auch die Franzosen in gewisser ästhetischer Hinsicht (im Allgemeinen) einseitig zu nennen, so sind wirs (nur im andern Extrem) ebenfalls, und ich und viele andere hoffen, der in uns übergehende Eindruck ihrer Werke wird uns aus unserer Einseitigkeit herausreißen. Wir sollen und wollen keine Franzosen werden, aber respektvoll das viele gute in ihnen anerkennen und uns eine Lehre sein lassen […] Schadow, Hübner, Sohn, Stielke, Plüddemann, Schirmer und der Tross von da, sind dießmal ganz weggefallen, ihr Deficit trat desto greller heraus, je mehr man Gelegenheit hatte die Meisterwerke derer Coignet, Gudin, Poittevin, Aurelio und Leopold Robert damit zu vergleichen. Diese sind mit einer so brillanten, und doch soliden Meisterschaft gemalt, in der Wirkung so schön und kräftig, auch in Composition, wenigstens größtentheils, vortrefflich. Die Bilder von andern, als eines Boulanger, Debon, Dedreux, Baume [Beaume], u.s.w. sind wenigstens größten25

J. G. Schadow, Kunst-Werke (Anm. 7), 221. Bericht über die Berliner Kunst-Ausstellung, in: Museum 4 (1836), 305 – 419. 27 Berlin im Januar 1837. Nachträgliches über die Kunstausstellung 1836, in: Kunstblatt 13/1837, 61. 28 [Adolf Schöll], Bemerkungen veranlaßt durch die Kunstausstellung 1839, in: Kunstblatt 21/1840, 34; 1839 fand in Berlin im Hôtel de Russie eine „Ausstellung von allen Pariser Malerschulen und den berühmtesten Meistern“, die ein Kunsthändler J. Kuhr veranlaßt hatte, statt, wie das Kunstblatt 20/1839, 236, berichtet. Sachse war also nicht der einzige Berliner Kunsthändler, der sich damals für die modernen Franzosen einsetzte. Zur Kunsthandlung Kuhr siehe Leopold von Zedlitz, Neustes Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam […], Berlin 1834 (unveränderter Nachdruck Berlin 1979), 403. 26

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theils wenig mehr, als Renommagen der Pinselfertigkeit; man kann von ihnen lernen, wie mans nicht machen muß.“29 Menzels Urteil über die Franzosen ist also durchaus differenziert. Er selbst, damals 21jährig, stellte 1836 erstmals ein Gemälde „Die Schachspieler“ aus. Zu der Konkurrenz der Franzosen kam die der übrigen Nichtdeutschen hinzu, der acht Holländer, der vier Schweizer, der je zwei Belgier, Italiener, Engländer und Balten sowie der vier Österreicher, Polen, Schweden und Norweger mit insgesamt 34 Gemälden. Das macht verständlich, daß für die enorm anwachsende Zahl der einheimischen Künstler der Austausch mit dem Ausland mit Existenzängsten verbunden war. Von den 1303 im Jahr 1836 ausgestellten Gemälden waren im Katalog 444 als verkäuflich bezeichnet, aber nur 93 wurden verkauft, darunter acht von Ausländern.30 Von den 37 als verkäuflich bezeichneten französischen Bildern fanden nur vier einen Käufer. Das wird ein Grund dafür gewesen sein, daß in den folgenden Ausstellungen weit weniger Franzosen vertreten waren. 1838 waren es noch 26 französische Maler, die die Ausstellung belebten. Acht von ihnen waren in Leihgaben von Sachse gegenwärtig, der damit sein Interesse an dem Spektrum französischer Malerei bekundete. 16 hatten offenbar aus Paris verkäufliche Werke geschickt. Das Jahr 1838 war der Höhepunkt von Sachses Engagement bei der Akademie-Ausstellung durch Gewährung von Leihgaben, was auch mit Werbung für seinen Kunsthandel verbunden war. Er lieh 24 Werke, davon außer elf von den acht Franzosen auch sieben von italienischen, holländischen, belgischen und englischen Malern. 1836 hatte er neun Gemälde geliehen, darunter drei von Holländern. Nach 1838 hat er sich nur noch gelegentlich an den Ausstellungen beteiligt. Seinen Einsatz für die ausländischen Maler konzentrierte er seit 1853 auf den in diesem Jahr eingerichteten „internationalen Kunstsalon“, eine permanente Ausstellung. Außer Sachse schickte in nennenswertem Umfang noch von den Kunsthändlern Gottfried Lüderitz zwischen 1834 und 1844 Gemälde auf die Ausstellungen, insgesamt 24, darunter 1838 fünf Gemälde von drei Holländern. Eine tabellarische Übersicht über die Werke nichtdeutscher Ausländer in den zwölf Ausstellungen von 1830 bis 1850 vermittelt einen Eindruck von den stürmischen Bewegungen im Berliner Kunstleben und dem wechselnden Interesse der verschiedenen Nationen an der Stadt. Die Ausstellung des Jahres 1850 bezeichnet einen dramatischen Absturz in verschiedener Hinsicht, wohl die Folge der Revolution von 184831 und des Todes von Johann Gottfried Schadow, des Direktors der Akademie seit 1815, am 21. Januar 1850. 29 Claude Keisch/Marie Ursula Riemann-Reyher (Hrsg.), Adolph Menzel Briefe, 4 Bde., Berlin/München 2009, hier Bd. 1, Nr. 17, 88 ff. 30 Verzeichnis der in der Kunst-Ausstellung Berlin 1836 verkauften Gegenstände, in: Museum 6 (1837), 23 f. 31 Die Ausstellung von 1848 mit 1733 Katalognummern sollte am 9. April, also kurz nach Ausbruch der März-Revolution, eröffnet werden. Die Vorbereitungen der Ausstellung waren damals bereits abgeschlossen.

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Einige Besonderheiten der Entwicklung des Berliner Kunstlebens sind aus dieser Übersicht sogleich abzulesen. Mit dem Beginn der dreißiger Jahre steigerte sich das allgemeine Interesse an zeitgenössischer Malerei. Das führte dazu, daß man 1839 ebenfalls eine Ausstellung veranstaltete. Bald jedoch kehrte man zum Zweijahresrhythmus zurück. Es überrascht, daß die Sympathie für die Belgier – die im Zuge ihrer 1831 erkämpften Unabhängigkeit von Holland eine eigene sehr vitale, staatlich geförderte Kunstschule hervorbrachten, die die Franzosen überflügelte –, die 1836, 1838 und 1839 besonders groß war, 1844 und 1846 noch einmal aufflammte, dann aber fast erlosch. Die Blüte der dänischen Malerei in ihrem „Goldenen Zeitalter“ wurde nicht wahrgenommen, ebenso wenig das, was in Wien geschah, obgleich die Erinnerung an die Heilige Allianz noch gepflegt wurde. Nur ein Gemälde des österreichischen Hauptmeisters Ferdinand Georg Waldmüller aus der Sammlung Wagener wurde 1846 ausgestellt. Die relativ starke Präsenz der Schweizer ist dadurch zu erklären, daß das Fürstentum Neufchâtel eine preußische Exklave war und dort lebende Künstler eine Verbindung nach Berlin suchten. Die Hälfte der 34 ausstellenden Schweizer Maler stammte aus dem Fürstentum, unter ihnen als berühmtester Leopold Robert. Als 1848 eine Revolution mit dem Ziel der Loslösung von Preußen stattfand, war dieses Interesse bereits erloschen. Im Ganzen zeichnet sich die Unstetigkeit von Moden ab. Nach der Jahrhundertmitte ging die Teilnahme der Ausländer rapide zurück. Theodor Fontane konnte in einer Besprechung der Ausstellung von 1860 bemerken, „daß unsere Ausstellung von Jahr zu Jahr lokaler d. h. mehr eine bloß berlinische wird; höchstens dehnt sie sich nach Osten hin aus und Breslau, Stettin, Danzig und Königsberg (besonders das letztere) stellen ihr Kontingent.“32 Ungefähr parallel zu der Entwicklung im Ausstellungswesen verlief die im Bereich des Kunstsammelns, wenngleich hier genaue Angaben zur Geschichte einzelner Sammlungen nur ausnahmsweise vorliegen. Über die Zunahme von privaten Kunstsammlungen zwischen 1823 und dem folgenden Jahrzehnt gibt das „Neueste Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam“ von 1834 eine – freilich recht unvollständige – Auskunft33. 19 sind genannt, davon zwölf, bei denen auch Gemälde hervorgehoben sind. Es fehlen z. B. die Sammlung Raczyn´ski und die große des Verlegers, Buchhändlers und auch als Kunsthändler sich betätigenden Georg Andreas Reimer im Sackenschen Palais, bei deren beiden Versteigerungen 1842 zusammen 1540 Gemälde ganz überwiegend alter Meister und nicht weniger als 31

32

Theodor Fontane, Die Berliner Kunstausstellung [1860], in: Theodor Fontane, Werke, Schriften, Briefe, Abteilung III, 5. Bd., München 1986, 459. Zu dem Ausstellungsbetrieb in Königsberg, auch mit vielen nichtdeutschen Gemälden, siehe Rudolf Meyer-Bremen (Hrsg.), Die Ausstellung des Königsberger Kunstvereins im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2005. 33 L. v. Zedlitz, Neuestes Conversations-Handbuch (Anm. 28), 399 f.

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Gemälde von Caspar David Friedrich angeboten wurden. 1834 und 1836 gab Reimer zwölf bzw. vier Gemälde seiner Sammlung auf die Ausstellung34. Seit 1832 wurden in den Katalogen Namen von Besitzern angegeben, wenn es sich nicht um die ausstellenden Künstler handelte. 1832 waren es 25 und in der folgenden Ausstellung 1834 bereits 38. Die Absicht dieser Regelung scheint die gewesen zu sein, zur Werbung für den Kauf von Kunstwerken ihre Eignung als ein Mittel zur Hebung sozialen Prestiges deutlich zu machen. Unklar bleibt in den meisten Fällen, ob es sich um vereinzelten Besitz oder schon um Sammlungen handelt. Deutlich wird jedenfalls, wie weit verbreitet das Interesse an zeitgenössischer, allerdings ganz überwiegend deutscher Kunst war. Über die Fülle des in der Mitte des Jahrhunderts in Berlin Vorhandenen berichtet ausführlich, wenn auch nicht erschöpfend, der zweite Band von Max Schaslers Werk „Berlin’s Kunstschätze“ von 185635. In dieser zu wenig bekannten Arbeit des fleißigen Kunstgelehrten und Kritikers sind außer dem königlichen Gemäldebesitz und dem der Akademie die Bestände der drei öffentlich zugänglichen Sammlungen des Grafen Raczyn´ski, des Bankiers Wagener und des Kaufmanns Louis Ravené sowie 53 nicht zugängliche Privatsammlungen sehr unterschiedlichen Umfangs katalogisiert. Manche Bestände mit nur wenigen Gemälden, etwa der von Carl Wilhelm Gropius mit lediglich sechs, sind als Sammlung aufgeführt, weil noch Aquarelle und Zeichnungen hinzukamen, im Falle von Gropius sein großer Bestand an Schinkels Entwürfen für Theaterdekorationen. Unterschiedlich ist auch die Zusammensetzung der Sammlungen. Manche enthalten nur alte Meister, andere, insgesamt 19, darunter die von Wagener und Ravené, nur neuere Maler, die restlichen sowohl ältere als auch neuere Meister. Private Bildnisse sind nicht aufgenommen. Zu diesen Privatsammlungen kommen 37 weitere, die nur summarisch charakterisiert sind. Bei einigen sind manchmal einzelne Werke hervorgehoben. Die weitaus meisten dieser Sammlungen mit neuerer Kunst, insgesamt 26, enthielten auch Gemälde ausländischer Maler. Das ist insofern bemerkenswert, als die Förderung einer nationalen Kunst das Anliegen nicht nur des Königs, sondern auch der sich in Kunstvereinen zusammenschließenden Bürger war. Daß Friedrich Wilhelm III. seine Schlösser mit Werken seiner Landeskinder durch Ankäufe auf den Kunstausstellungen füllte, war etwas Neues gegenüber der Praxis seiner Vorgänger. Die Reform der Kunstakademie 1786 gab die entscheidenden Impulse für eine Förderung der einheimischen Künstler. Bei relativ beschränkten Mitteln war der König darauf bedacht, relativ viele Künstler durch Ankäufe für mäßige Preise zu unterstützen, statt große Summen für das wenige Überragende auszugeben. Dies ist kritisiert worden. 34 Helmut Börsch-Supan/Karl Wilhelm Jähnig, Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, München 1973, 132. 35 Max Schasler, Berlin’s Kunstschätze, Berlin 1856, C. Die öffentlichen Galerien und Kunstsammlungen, 153 – 312; D. Die nicht öffentlichen Privat-Galerien und Kunstsammlungen, 313 – 456.

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Rund 1700 neuere Gemälde hat Schasler in seinem Werk mit Künstlernamen und Titel aufgeführt. Davon stammen 251, also etwa 14,8 % von 137 Malern aus zwölf Ländern außerhalb Deutschlands und zwar 53 aus Frankreich, 32 aus Belgien, 20 aus Holland, vier aus Italien, sechs aus der Schweiz, fünf aus Österreich, je drei aus Polen und Norwegen, je zwei aus England und Schweden sowie je einer aus Rußland und Dänemark. Dieser Bestand erlaubt Rückschlüsse auf den Geschmack der Sammler, den Kulturaustausch über Grenzen hinweg, den Fluß der Informationen, aber auch auf Mängel in der Verständigung. All das ist eingebunden in eine Entwicklung, die zunächst als ein rapides quantitatives Wachstum sowohl bei der Zahl der Künstler als auch beim Kunst kaufenden Publikum gesehen werden muß. Zwar stieg zugleich die Zahl der Einwohner Berlins an, von 246.000 im Jahr 1831, wie das „Neueste Conversations-Handbuch für Berlin und Potsdam“ von Leopold Freiherr von Zedlitz angibt, auf 427.000 im Jahr 1850, proportional stärker jedoch wucherte der Kunstbetrieb36. Daß die Franzosen mit 53 Malern die größte Gruppe bilden, verwundert angesichts der traditionell engen Bindung Preußens an Frankreich nicht. Der militärische Konflikt in napoleonischer Zeit hat dem nur geringen Abbruch getan. Paris mit seiner Akademie und dem Louvre blieb nach Rom für einen Künstler, der sich durch einen Auslandsaufenthalt weiterbilden wollte, die wichtigste Stadt37. Eher überrascht die große Zahl der belgischen Maler in den Privatsammlungen, wogegen die drittgrößte Gruppe, die der Holländer, nur aus 17 Malern besteht. Der starke, von der Regierung beförderte patriotische Impuls der belgischen Maler, die an die große Zeit unter Rubens anknüpfen wollten, weckte in Berlin Sympathien. Ähnlich wie in Düsseldorf, wo die von Wilhelm Schadow geleitete Akademie große Hoffnungen auf eine neue Kunstblüte weckte, sah man auch in Belgien einen viel verheißenden Aufschwung. In Holland dagegen tat man sich mit einer Wiederbelebung der Malerei des „Goldenen Zeitalters“ schwerer. Der Kreis der ausländischen Maler in den Privatsammlungen deckt sich zu einem großen Teil mit dem der in Berlin ausstellenden. Dabei handelt es sich hier wie dort nur um einen mehr oder weniger schmalen, auch durch Zufälle bedingten Ausschnitt der wirklichen künstlerischen Leistung dieser Länder. Die Belgier zeigten relativ viel von ihrer Malerei, die Engländer fast gar nichts. Die Reise der beiden im Auftrag des Staates gemalten großen Hauptwerke von Louis Gallait und Edouard de Bièfve „Abdankung Karls V.“ und „Kompromiß des niederländischen Adels“ in mehrere Städte Europas sollte dem Ansehen der jungen belgischen Malerschule dienen. Das war eine Ausnahme. Der Wunsch, die nach Berlin geschickten Werke zu verkaufen, stand sicher zumeist im Vordergrund. Das bestimmte die Wahl des Motivs und des Formates. Landschaften, Seestücke und Genrebilder wurden bevorzugt. Religiöse Themen waren weniger zum Verkauf geeignet. Werke, 36

L. v. Zedlitz, Conversations-Handbuch (Anm. 28), 162 – 166. Wolfgang Becker, Paris und die deutsche Malerei 1750 – 1840 (Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, 10), München 1971. 37

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die nicht verkauft werden konnten, wanderten oft weiter zu Ausstellungen in anderen Städten. Es scheint, als habe die Anregung Louis Sachses, sich den nichtdeutschen zeitgenössischen Malern, vor allem den Franzosen, zuzuwenden, Wirkung auf die weltoffene Messe- und Universitätsstadt Leipzig und auf Dresden ausgeübt. Wie ein Echo auf die Berliner Ausstellung von 1836 mutet in Dresden drei Jahre später das plötzliche und ganz einmalige Auftreten von 29 Franzosen, von denen die meisten 1836 auch in Berlin ausgestellt hatten, drei Engländern und einem Polen auf der Akademieausstellung an38. Allerdings scheinen nur recht vereinzelt Bilder von Ausländern in Dresdner Privatsammlungen dieser Zeit gekommen zu sein. Einen Einblick in die Verhältnisse gibt die größtenteils aus dem Privatbesitz Dresdens zusammengestellte „Kunst-Ausstellung zum Besten der Tiedge-Stiftung“ von 1842 mit 518 Katalognummern39. Hier schlägt sich – ganz im Gegensatz zu Berlin – die traditionelle Beziehung zu Wien in zehn Bildern nieder, während keine belgischen, nur vier niederländische und sieben französische Bilder, von denen fünf aus der Leipziger Sammlung Adolph Heinrich Schletters stammten, zu sehen waren. Schletter war der Inhaber einer französischen Seidenhandlung und hatte von daher ein Auge für die Kultur des Nachbarlandes40. Zunächst hatte er seit etwa 1820 alte Meister gesammelt, sich seit den dreißiger Jahren jedoch ganz auf die französischen Maler und hier besonders auf die neueren konzentriert. Er vermachte seine Sammlung 1853 dem Museum der bildenden Künste in Leipzig, 97 Gemälde, davon 43 französische, und scheint mit dieser Tat ein Vorbild für den Konsul Wagener und seine Schenkung von 1861 gewesen zu sein. Auch die 1871 in das Leipziger Museum gelangte Sammlung von Friedrich August Schumann mit 45 Gemälden bestand etwa zur Hälfte aus Werken von Ausländern, jedoch mit Bevorzugung der Belgier und Holländer. Es ist bezeichnend, daß unter den ersten drei Gemälden, die der 1831 gegründete Leipziger Kunstverein 1837 für den Aufbau einer städtischen Gemäldesammlung erwarb, sich ein Gemälde von Eugène Lepoittevin „Fischer bergen ein Wrack“ befand. Viel stärker als die Nationalgalerie in Berlin war das Leipziger Museum, das ganz aus bürgerlichem Engagement heraus entstand und wesentlich durch Schenkungen wuchs, international ausgerichtet. Noch stärker waren diese Kräfte bei der Hamburger Kunsthalle. Sie führten zu einem planlosen

38 Marianne Prause (Hrsg.), Die Kataloge der Dresdner Akademie-Ausstellungen 1801 – 1850, 2 Bde., Berlin 1975. 39 Ebd., Bd. 1, 1842 A. 40 Karl-Heinz Mehnert/Inge Stuhr, Bürgerliche Sammler des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Ausstellungskatalog Merkur und die Musen. Schätze der Weltkultur aus Leipzig, Wien 1989/ 90, 213 – 217; Dieter Gleisberg, Das Museum der bildenden Künste, in: ebd., 281 – 221; Katalog der Sammlungen von Kartons, Aquarellen, Bildhauerwerken und Gemälden des Museums der bildenden Künste in Leipzig, Leipzig 1909; Herwig Guratzsch (Hrsg.), Museum der bildenden Künste Leipzig. Katalog der Gemälde, Leipzig 1995.

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Wuchern, dem nur durch kluges Steuern des weitsichtigen Museumsdirektors Alfred Lichtwark begegnet werden konnte41. Man spricht von vergessenen, nicht von verdrängten Künstlern. Vergessen ist entschuldbar, wenn bei einer Überfülle von Künstlern, die nach Wahrnehmung und Anerkennung verlangt haben, im Museum eine Auswahl nach Gesichtspunkten der künstlerischen Qualität oder des dokumentarischen Wertes getroffen werden muß42. Auch Archive können nicht alles speichern. Verdrängung ist jedoch ein aggressiver Akt, der zumeist mit der Vernichtung endet und irreversibel ist. Das ist gewöhnlich eine sanftere Art des Bildersturmes. Die ästhetische Verurteilung kann dann kaum noch revidiert werden. Kunstgeschichtsschreibung bedarf jedoch der Möglichkeit, einmal gefällte Geschmacksurteile korrigieren zu können. Lebende Künstler mit einem Markt im Hintergrund führen einen harten Konkurrenzkampf um das Überleben in der erinnerten Geschichte. Hans F. Schweers Bände „Gemälde in deutschen Museen. Katalog der ausgestellten und depotgelagerten Werke“ verdeutlichen, wie sehr heute Zeitgenössisches das im 19. Jahrhundert Zeitgenössische verdrängt hat und es überwuchert43. Interessiert an einer Revision sind nur geschichtlich Denkende, nicht die auf Fortschritt in festgelegten Gleisen Fixierten, die den Museumsbetrieb heute mehr denn je bestimmen.

41 Eva Maria Krafft/Carl-Wolfgang Schümann, Katalog der Meister des 19. Jahrhunderts in der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1969. Die Kunsthalle besitzt trotz mancher Abgaben die umfangreichste Sammlung englischer Malerei des 19. Jahrhunderts auf dem Kontinent, wovon jedoch nur sehr wenige Werke ausgestellt sind. Von 10540 Gemälden, die der Katalog insgesamt verzeichnet, stammen 370, das sind 3,1 % von Ausländern: 115 von Franzosen, 68 von Engländern, 38 von Holländern, 26 von Belgiern, 24 von Österreichern, 20 von Dänen und der Rest von Angehörigen anderer Nationen. Hierbei fällt ins Gewicht, daß sehr viele Hamburger Lokalkünstler mit einer relativ großen Zahl von Werken vertreten sind. 42 Joachim Busse, Internationales Handbuch aller Maler und Bildhauer des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1977, der fast nur europäische Künstler berücksichtigt, verzeichnet 89063 Namen. 43 Hans F. Schweer, Gemälde in deutschen Museen. Katalog der ausgestellten und depotgelagerten Werke, München/New Providence/London/Paris 1994.

Gustav Adolph von Tzschoppe – ein Lebensbild Von Bärbel Holtz, Berlin I. „Tzschoppe ist ohne Zweifel der mächtigste und wichtigste Mann im ganzen preußischen Staate.“1

Ende des 19. Jahrhunderts bedachte ihn die Allgemeine Deutsche Biographie mit einem Beitrag, worin er von seiner Profession her als „preußischer Bureaukrat“ bezeichnet wird2. In der von der Deutschen Nationalbibliothek angelegten „Gemeinsamen Normdatei“ (GND) ist er mit den Berufen „Archivar, Zensor, Ministerialrat“ ausgewiesen3. – Also ein Archivar war Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts der „mächtigste und wichtigste Mann“ im preußischen Staat? Welch’ ein Auftakt zu einem Festschrift-Beitrag für den heutigen Direktor des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz! Aber es folgt mehr als nur ein Wermutstropfen: So kennen heute lediglich Insider der preußischen Geschichte überhaupt noch Tzschoppes Namen. Außerdem hat man ihn zu Lebzeiten am wenigsten in seiner beruflichen Tätigkeit als Archivar wahrgenommen. Obendrein ist es ein überaus misslicher Ruhm, den ihm Zeitgenossen da zugeschrieben hatten. Weil er nach dem Amnestieerlass vom Sommer 18404 sich von seinen Opfern verfolgt gefühlt und darüber wahnsinnig geworden sein soll, wählt der Schriftsteller und Publizist Ernst Dronke bereits 1846 Tzschoppes

1

Der Schriftsteller Theodor Mundt (wohl Ende 1836) an seinen Freund, den Schriftsteller und Theaterkritiker Gustav Kühne, der in Leipzig die „Zeitung für die elegante Welt“ redigierte, zit. nach Johannes Proelß, Das junge Deutschland. Ein Buch deutscher Geistesgeschichte, Stuttgart 1892, 639. – Der Brief nicht in den 1886 veröffentlichten Briefen Mundts bei: Feodor Wehl, Das Junge Deutschland. Ein kleiner Beitrag zur Literaturgeschichte unserer Zeit, Hamburg 1886. – Zum „jungdeutschen“ Mundt aus der Fülle der Literatur exemplarisch Hubertus Fischer, Theodor Mundt 1848, in: JGMOD 47 (2001), 137 – 192 (mit weiterer Literatur). 2 Hermann v. Petersdorff, Tzschoppe, in: ADB, Bd. 39, Leipzig 1895, 66 – 68. 3 https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&cqlMode=true&query=idn% 3D117440302 (Zugriff: 5. 9. 2014). 4 Friedrich Wilhelm IV., der nach dem Tod seines Vaters am 7. Juni 1840 auf den Thron gekommen war, hat wenig später, am 10. August, eine Generalamnestie für politische Vergehen erlassen, unter die auch verfolgte und auch noch in den 1830er Jahren verurteilte „Demagogen“ fielen. Die bekanntesten Rehabilitierungen waren die von Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn.

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Leben und Tod zur Vorlage einer Novelle5. Für die „schlesischen Lebensbilder“, die ihn 1901 nur mit einigen Daten vorstellen, war er „ein strenger Verfolger allen Demagogentums und als solcher sehr gehaßt und schließlich wurde er selbst von Verfolgungswahn befallen, der seinem Leben ein frühzeitiges Ende setzte.“6 Das Interesse war geweckt, um sich auf eine Spurensuche zu begeben und diesen zweifelhaften einstigen Prominenten Preußens unter Mithilfe seiner Zeitgenossen mehr in das historische Gedächtnis zurückzuholen, auch weil über ihn trotz eines kleinen Nachlasses keine neuere Studie existiert7. II. Gustav Adolph Tzschoppe war, wie viele seiner späteren Amtskollegen, kein gebürtiger Preuße. Er stammte nicht aus sonderlich begüterten, aber gebildeten Verhältnissen. Sein Vater Johann Michael Tzschoppe war Subrektor des Görlitzer Gymnasiums und Mitglied der Königlich Sächsischen Oberlausitzschen Gesellschaft der Wissenschaften. Die lutherisch geprägte Kleinstadt – im Jahr 1781 lebten 7.100 Einwohner in Görlitz8 – gehörte zum damaligen Kurfürstentum Sachsen. Johann Michael kam nicht aus Görlitz, sondern war im oberlausitzschen Kaltwasser auf die Welt gekommen und in Nieder- und Mittelhorka aufgewachsen9. Der dortige Pfarrer hatte den begabten Bauernsohn gefördert, so dass dieser 1771 auf das Gymnasium nach Görlitz wechseln konnte, wo Rektor und Pastor Baumeister ihm den frühverstorbenen Vater ersetzte. Nach vier Jahren Studium an der Universität Leipzig war Johann Michael Tzschoppe seit 1784 zunächst zwei Jahre als Hauslehrer der Söhne des kursächsischen Hof- und Justizrats Senfft von Pilsach in Dresden, dann als solcher auch in anderen Familien tätig. Dies gab ihm „nicht nur die schönste Gelegenheit seinen Geist auszubilden, seine Sprachkennnisse, besonders in neuern Sprachen, zu ver5 Ernst Dronke, Polizei-Geschichten, Leipzig 1846, Kapitel „Das Unvermeidliche“, 153 – 200, bes. 163 ff. – Dronke, später ein Weggefährte von Karl Marx und Friedrich Engels, war promovierter Jurist und wegen seiner sozialkritischen Schriften selbst in Konflikt mit der preußischen Justiz geraten. 6 Schlesische Lebensbilder. Ein Gedenkbuch hervorragender, in Schlesien geborener Männer und Frauen aus der Zeit von 1180 bis zur Gegenwart, zusammengestellt und hrsg. v. Karl Gustav Heinrich Berner, Leipzig 1901, 173. 7 Der Nachlass ist im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin Dahlem (GStA PK), VI. HA, Nl Tzschoppe, überliefert. H. v. Petersdorff, Tzschoppe (Anm. 2), hat ihn für seine Skizze in der ADB teilweise benutzt, was an einigen, dort nicht nachgewiesenen Quellenzitaten erkennbar ist. – Alle hier im folgenden angeführten Akten beziehen sich auf dieses Archiv. 8 http://de.wikipedia.org/wiki/Einwohnerentwicklung_von_Görlitz (Zugriff: 11. 1. 2015). 9 Johann Michael Tzschoppe wurde am 25. März 1758 in Kaltwasser als Sohn des Vogtes und späteren Bauern George Tzschoppe (gest. 1781) und dessen Frau Elisabeth (geb. Heinrich, dann verwitwete Tzschoppe, 1782: Gäbel) geboren. Nach dem Tod seiner Frau noch im ersten Ehejahr heiratete Johann Michael T. dann 1792 die Witwe Christiane Friederike Straphinus (geb. Crudelius, gest. 26. Juni 1830). Sie hatten vier gemeinsame Kinder, von denen drei das Erwachsenenalter erreichten.

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mehren und einen großen Schatz von Welt- und Menschenkenntniß einzusammeln; sondern er wurde auch gewissermaßen gezwungen, da er sich fast immer in den besten Gesellschaften befand, seinen Geschmack auszubilden und sein Äußeres immer mehr zu verfeinern.“10 In jenen Jahren hatte er sich auch durch Übersetzungen schwieriger französischer Schriften und mit einem Andachtsbuch „vorteilhaft bekannt gemacht“11, so dass er sehr bald eine Lehrerstelle in Bautzen und nur sieben Monate später die des Subrektors am traditionsreichen Görlitzer Gymnasium12 einnehmen konnte, wo er vor allem Französisch, Latein und Deutsch unterrichtete. Darüber hinaus verfügte er über Kenntnisse der italienischen und englischen Sprache, interessierte sich für Geschichte und Geographie, gab in der ersten Klasse auch Mathematik und hatte in diesen Bereichen einige kleine wissenschaftliche Schriften verfasst13. Zeitgenossen attestierten ihm wahres Christentum, erlebbar in seiner Bescheidenheit, Freundlichkeit, Aufrichtigkeit, Wohltätigkeit, Nachsicht und Versöhnlichkeit, seinem Ehr- und Pflichtgefühl sowie seiner Geduld im Leiden. Er brachte die „Armenbibliothek“ der Schule in Ordnung, unterstützte „selbst arme Schüler mit Tischen“ und erwarb sich durch seinen Unterricht am „weiblichen Bildungsinstitute für Töchter gebildeter Eltern sehr große Verdienste“14. All diese intellektuellen und charakterlichen Prägungen sollten auch im Familienleben der Tzschoppes spürbar werden. III. Gustav Adolph Tzschoppe erblickt am 22. August 1794 in Görlitz das Licht der Welt und ist der einzige Sohn seiner Eltern. Diese erziehen ihre drei Kinder ganz im Geiste des Christentums und wahrer Frömmigkeit und legen gleichermaßen auf deren gute Ausbildung wie charakterliche Ausprägung großen Wert. Als der Vater stirbt, ist Tzschoppe gerade einmal zwölf Jahre und Schüler am väterlichen Gymnasium. Äußerungen über sein Elternhaus und seine Kindheit sind nicht bekannt. 10 Johann Gotthelf Neumann, Etwas zum Andenken und zur Würdigung des am 5. März 1808 entschlafenen Herrn Johann Michael Tzschoppe, wohlverdienten Subrektors am hiesigen Gymnasium und Mitglieds der Königl. Sächs. Oberlausitzschen Gesellschaft der Wissenschaften, Görlitz (1808), 9. 11 Ebd., 10. 12 Die Schulweihe als evangelische Lateinschule in Räumlichkeiten des Franziskanerklosters soll am 22. Juni 1565 erfolgt sein, erster Rektor war mit Petrus Vicentius ein Freund Philipp Melanchthons, vgl. Richard Jecht, Geschichte der Stadt Görlitz, Bd. 1.2, Görlitz 1934, 437. – Über seine Amtseinführung in Görlitz die 16-seitige Schrift: Zur Anzeige der feyerlichen Installation Herrn Johann Michael Tzschoppe als Subrector des Gymnasiums und Desselben Antritts-Rede den 2ten May 1791 […], Görlitz (1791). 13 Auch über das Görlitzer Gymnasium veröffentlichte er kleinere Abhandlungen: Johann Michael Tzschoppe, Versuch einer Geschichte des Schul- und Erziehungswesens zu Görlitz, Görlitz o. J., 31 S., wo sich der Hinweis auf eine bereits 1795 von ihm veröffentlichte Schrift findet und die Schulmeister, Scholaster bzw. Rektoren seit 1565 alphabetisch aufgeführt sind. 14 Über Subrektor Tzschoppes Leben und Wirken vgl. die 34-seitige Gedenkschrift, verfasst von dem eng mit ihm verbundenen „Schüler, Freund und College[n]“ J. G. Neumann, Etwas zum Andenken (Anm. 10), 3 und passim, die Zitate ebd., 23 und 24.

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Freunde der Familie wünschen bei dem frühen Tod des Vaters, dass „sein einziger Sohn […] die gute Hoffnung, die sein Vater und auch die übrigen Lehrer von ihm haben“, erfülle: „Möge er in die Fußstapfen seines verklärten Vaters treten, mit aller Kraft sich den Wissenschaften widmen, die Verführer aller Art von sich entfernt halten und so dereinst der Welt einen Mann geben, der nicht nur viel Gutes wirke, sondern auch seiner Mutter im Alter zum Troste und zur Unterstützung gereiche; so wie seinem Vater Ehre mache.“15 Wie einst sein Vater geht Tzschoppe nach erfolgreichem Schulabschluss nach Leipzig, wo er seit Ostern 1812 Rechtswissenschaften studiert und Mitglied des Corps Lusatia wird16. Dort entsteht die langjährige Freundschaft mit Stenzel, der auch Gustav Adolf heißt und ebenfalls Sohn eines Konrektors ist. Stenzel beschreibt den Freund für jene Tage als „heiter und leichtlebig“. Tzschoppe weiß in Leipzig „das Leben anakreontisch zu genießen […], dem Unglück den Rücken zu drehen […] und doch mit scharfem Verstande, um in der Wissenschaft Ausgezeichnetes leisten zu können.“ Wie muss er sich später in seinem ganzen Wesen verändert haben! Den Kommilitonen ist er trotz seines schnellen Aufbrausens ein „gern gesehener Gesellschafter“. Stenzel meint, bereits damals bei Tzschoppe „Scharfsinn, […] Gleichgültigkeit gegen fremdes Leiden [sowie] Zeichen von Selbstsucht“ bemerkt zu haben – jene Eigenschaften, die aus dem lebenslustigen Leipziger Studenten nur wenig später den „zu so trauriger Berühmtheit gelangten Gehilfen der preußischen ,Demagogenverfolger‘“ werden lassen17. Mit dem Krieg gegen Napoleon unterbricht Tzschoppe sein Studium und kehrt vorerst ins heimatliche Görlitz zurück. Eine Beteiligung an den Befreiungskriegen, in denen das Königreich Sachsen18 auf der Seite Napoleons kämpft, ist nicht bekannt, vielmehr soll er sich um eine Anstellung im subalternen Dienst bemüht haben19. Im Jahre 1815, als seine Vaterstadt infolge des Wiener Kongresses der preußischen Provinz Schlesien angeschlossen wurde, setzt er sein Studium fort: nunmehr in Breslau, also an einer preußischen Universität. Damit wendet sich Tzschoppe vom „Kriegsverlierer“ Sachsen ab. Vermutlich erhofft er sich von einem preußischen Universitätsabschluss eine verlässlichere Karriere, die mit dem Auskultatorexamen im Mai 1816 den in Preußen üblichen Anfang nimmt. Tzschoppe geht nach Berlin, wo er zeitlebens in preußischen Diensten tätig ist. Nachdem er ein dreiviertel Jahr am Stadtgericht den Justizdienst kennengelernt hat, entschließt er sich zum Wechsel in die Verwaltung. Durch Vermittlung von Oberpräsident Georg Christian v. Heydebreck und Kriegsrat Friedrich v. Coelln – Tzschoppe absolviert gerade seine Dienstpflicht beim Garde-Schützen-Bataillon – wird er Ende 1817 in den Verwaltungsdienst übernommen und dies gleich an heraus15

Ebd., 28. Kösener Corpslisten 1960 (1961), 3, 64. 17 Karl Gustav Wilhelm Stenzel, Gustav Adolf Harald Stenzels Leben, Gotha 1897, 38 f. 18 Das Kurfürstentum Sachsen war 1806 von Napoleon zum Königreich erhoben worden. 19 H. v. Petersdorff, Tzschoppe (Anm. 2), 66. 16

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ragender Stelle. Er kommt als Hilfsexpedient in das Büro von Staatskanzler Karl August Fürst v. Hardenberg, wo er sich schnell unentbehrlich machen kann. Schon im Sommer 1818 bescheinigt man dem Neuling einen solchen Fleiß, „daß man ihn dereinst zu den ausgezeichneten Dienern des Staats zählen werde“.20 Hardenberg sieht das wohl ähnlich und nimmt ihn als einen seiner Begleiter mit zum Aachener Kongress. Ebenfalls in diesem Jahr überbringt er im Auftrag von Christian Rother, dem Direktor des Schatzministeriums, ein Schulddokument über 5.000.000 £ St., die Hauptobligation über die englische Anleihe, nach London21. In Berlin trifft er erneut auf seinen Studienfreund Stenzel, der sich dort 1817 als Privatdozent niedergelassen hat. Beide wohnen sogar ein Vierteljahr zusammen und Stenzel bemerkt, daß Tzschoppe „nie etwas von seiner amtlichen Thätigkeit, von seinen Kollegen oder Vorgesetzten“ erzählt22. Ihrer Freundschaft, die später auf anderer Grundlage wieder aufleben wird, tut dies keinen Abbruch. Auch die nächste Stufe in seiner beruflichen Laufbahn nimmt Tzschoppe mit Bravour. Drei Jahre nach seiner Auskultatorprüfung besteht er am 24. April 1819 das zweite Examen und wird zum Regierungsrat ernannt. Nach Aussagen der zuständigen Prüfungskommission für höhere Verwaltungsbeamte zeugen seine hierfür vorgelegten Arbeiten von einer „tüchtigen classischen Bildung“, guten historischen Kenntnissen, gesundem Urteilsvermögen und einer guten Gesinnung23. Damit erwirbt Tzschoppe genau in jener Zeit den Abschluss für den höheren Verwaltungsdienst, als im Deutschen Bund ein schärferes Vorgehen gegen die national und demokratisch gesinnten Kräfte einsetzt. Die im Sommer 1819 verabschiedeten Karlsbader Beschlüsse liefern die Grundlage für die sogenannten Demagogenverfolgungen vor allem an den Universitäten und die Einführung der völligen Vorzensur in Preußen. Und er – Tzschoppe – ist in dieser Zeit in der politischen Schaltzentrale Preußens angestellt und hat unmittelbaren Kontakt zum Staatskanzler und zu Ministern. Diese Konstellation im politischen persönlichen Umfeld sollte prägend für seine gesamte berufliche Laufbahn werden. Wie nach Aachen nimmt Hardenberg in den folgenden Jahren Tzschoppe auch auf die Monarchenkongresse von Troppau, Laibach und Verona mit und stattet ihn dort mit weiteren Missionen aus. In ihrer Korrespondenz schlägt der Staatskanzler einen vertrauten, ja freundschaftlichen Ton an, wenn er Ende 1820 aus Troppau schreibt: „Ich hoffe, mein lieber Tzschoppe, daß Sie Ihre Reise zur siebenhügelichen Welt“ gut zurückgelegt haben. „Ich stelle mir lebhaft vor, wie Sie dort die Freude genießen, den klassischen Boden zu betreten, während wir im Troppauer Koth waden [sic!] und die ächt ästhetischen Vorstellungen eines Ignatz Schuster bewundern. Ganz der Ihre Har-

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So Christian Rother am 30. Juni 1818, zit. nach ebd., 67. Vgl. seine Reisekostenabrechnung vom 29. Januar 1819 in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 2, n. f. 22 K. G. W. Stenzel, Stenzels Leben (Anm. 17), 39. 23 Seine Prüfungsunterlagen in: I. HA Rep. 125, Nr. 5114. 21

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denberg.“24 Und Tzschoppe seinerseits kann gegenüber dem Staatskanzler seine klassische Bildung, auf die der Vater einst so viel Wert gelegt hatte, anbringen. Seine Reisebeschreibungen von Neapel und Rom, wo er sich Ende 1820 in Hardenbergs Auftrag aufhält, zeugen von guter Beobachtungsgabe und einem Gespür für mitteilenswerte Wahrnehmungen. So beschreibt er nicht nur seinen Aufstieg auf den gerade ausbrechenden Vesuv, sondern auch die Stimmungslage in der Bevölkerung Neapels: „Die Oesterreicher, vorzugsweise Tedeschi genannt, werden überall gehaßt. Dagegen ist man den Preußen, die man für ein den Deutschen fremdes, Constitutionen liebendes Volk hält, geneigt. Zu dieser Ansicht trägt ohne Zweifel auch der Umstand bei, daß auf den Theatern des schaulustigen Neapels Friedrich der Große sehr oft und zwar immer als der edelste Herrscher erscheint.“ Und er beendet den Brief mit einer sehr persönlich gehaltenen, nicht formal gemeinten Geste: „Euer Durchlaucht verdanke ich Alles. Ich erkenne dieß mit jedem Tage deutlicher und zolle Euer Durchlaucht dafür täglich den innigsten Dank.“25 Tatsächlich stellt Hardenberg, der sich von Tzschoppes Fähigkeiten schnell überzeugt zeigte, entscheidende Weichen, die auch über den Tod des Staatskanzlers hinaus für die Laufbahn seines Mitarbeiters richtungsweisend bleiben. Ausweislich seines Nachlasses begleitet Tzschoppe den Staatskanzler nicht nur zu den Fürstenkongressen, sondern wird von ihm zwischen 1818 und 1822 auch zur Erledigung verschiedenster Verwaltungsinhalte hinzugezogen. So beauftragt ihn Hardenberg mit der Ausarbeitung von Denkschriften, in denen die Verhandlungen des preußischen Staates mit der „Königlich Preußisch Patentierten Dampfschiffahrts-Gesellschaft“ eine solide Argumentation erhalten sollen. Tzschoppe rekonstruiert 1822 die komplexen Abläufe zur Erteilung des Patents im Oktober 1815 an den Engländer John Humphrey, die Verhältnisse der 1817 gebildeten Aktiengesellschaft und die Hintergründe der Klage des Sohnes John Barnet Humphrey gegen den königlichen Fiskus auf Entschädigung. Er macht auf Unzulänglichkeiten aufmerksam und entwickelt Vorschläge, um die von der Dampfschiffahrts-Gesellschaft sowie von Humphrey erhobenen Ansprüche beseitigen zu helfen26. Es handelt sich immerhin um die Gesellschaft, in der die Engländer auf einer eigenen Werft in Pichelsdorf bei Spandau die „Prinzessin Charlotte von Preußen“ bauten und damit das erste Dampfschiff auf Havel und Spree brachten27. Weitere Schiffe folgen, aber das Unternehmen übernimmt sich finanziell und kann trotz Einigung mit dem preußischen Fiskus nicht fortbestehen. Neben diesem diffizilen finanztechni24

Hardenberg (Troppau) an Tzschoppe (Rom) am 12. Dezember 1820, in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 3, Bl. 6. – Ignaz Schuster war ein populärer österreichischer Schauspieler und Komponist des Alt-Wiener Volkstheaters. 25 Tzschoppe (Rom) an Hardenberg (Troppau) am 29. Dezember 1820, in: Ebd., Bl. 7 – 10, die Zitate Bl. 8v und 9v. 26 Vgl. Tzschoppes Denkschriften und Voten vom April bis August 1822, in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 1, Bl. 60 – 117v. 27 Hans Rindt/Heinz Trost, Dampfschiffahrt auf Elbe und Oder, den Berliner- und Märkischen Wasserstraßen 1816 – 1945, 2. verb. Aufl., Hamburg (1984), 26.

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schen Problem handelt Tzschoppe 1820 außerdem im Auftrag von Rother mit dem Leipziger Bankhaus Frege & Comp. erfolgreich ein Abkommen über ein Darlehensund Staats-Schuld-Schein-Umsetzungs-Geschäft in Höhe von 800.000 Talern aus. Beinahe könnte man meinen, die Finanzen sind sein berufliches Haupteinsatzgebiet28. Hardenberg, der offensichtlich schnell Vertrauen zu dem noch jungen Mitarbeiter – Tzschoppe ist als 23-Jähriger in das Umfeld des Staatskanzlers getreten – gefasst hat, betraut ihn mit weiteren Aufgaben aus dem Metier von Staatswirtschaft und 28 Rother ist jetzt Präsident der Hauptverwaltung der Staatsschulden und Chef der Seehandlung, die Materialien in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 4.

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Staatsfinanzen. Im Sommer 1821 entwirft er eine Kabinettsordre zum landschaftlichen Kreditsystem in Posen29. Ein Jahr später beruft ihn Hardenberg in die Kommission, die sich der Ausführung der mit Rom ausgehandelten Bulle De salute animarum zuwenden und zentrale Problempunkte wie die Besoldung der Bischöfe und den Unterhalt von Domkapiteln und Seminarien klären soll. In der Kommission sind verschiedene Behörden vertreten: die Generalkontrolle mit Philipp v. Ladenberg und Friedrich Sigismund v. Grunenthal, das Kultusministerium mit Johann Heinrich Schmedding, der wohl nicht teilgenommen hat, und Friedrich Ferdinand Leopold v. Seydewitz, das Finanzministerium mit Ludwig Kühne und das Staatskanzleramt eben mit Gustav Adolph Tzschoppe, der damit zum Verhandlungspartner von Ministerialräten wird. Hardenberg entsendet ihn zu den dort stattfindenden Beratungen, ermächtigt ihn pauschal zur Aktenvorlage und drängt zu möglichst baldigen „gutachtlichen Äußerungen“30. Inwieweit Tzschoppe, der sich Zeit seines Lebens gegenüber der katholischen Kirche sehr distanziert positioniert, die Arbeit der Kommission sichtlich mit voranbringt, muss hier offen bleiben. Mittlerweile aber ist der Regierungsrat Tzschoppe dem Staatskanzler offensichtlich unentbehrlich und so etwas wie ein allseits verwendbarer Mitarbeiter geworden. Schon Ende März 1822 hat ihn Friedrich Wilhelm III., sicher auf Empfehlung Hardenbergs, in die „Commission wegen Errichtung des Berliner Museums“ berufen. Damit wird er also „Kollege“ von Kabinettsrat Daniel Ludwig Albrecht (Leiter des Geheimen Zivilkabinetts des Königs), Generalmajor Karl Ernst Job Wilhelm v. Witzleben (Chef des Militärkabinetts und enger Vertrauter des Königs), Hofrat Aloys Hirt und dem Geheimen Oberbaurat Karl Friedrich Schinkel31. Das ist für 29 Tzschoppe an Hardenberg am 21. Juni 1821, in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 3, Bl. 17. – Zum Gegenstand der Kabinettsordre vgl. auch die Regierungssitzungen am 7. und 14. Juni 1820 bei Christina Rathgeber, Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817 bis 1934/38. 19. März 1817 bis 30. Dezember 1829 (Acta Borussica N. F., Reihe 1,1), Hildesheim u. a. 2001, 67 f. 30 Hardenbergs Berufungsschreiben vom 28. Juni 1822 für Tzschoppes Mitgliedschaft in der Kommission in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 5, n. f. – Zu den staatskirchlichen Verhältnissen der katholischen Kirche in Deutschland nach 1815 mit Erläuterung der Bulle Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Zentrumspartei, Bd. 1, Köln 1928, 91 – 117. 31 Die Kabinettsordre an Hardenberg vom 27. März 1822 zur Konstituierung der Kommission sowie seine Mitteilung an Tzschoppe vom 29. März, in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 7, Bl. 3 – 4v. – Zur Zusammensetzung der Kommission auch Bärbel Holtz, „Sie werden sich ein neues Verdienst um die Kunst […] erwerben“. Der Kunstaktivist Hirt als erfolgloser Vereinsgründer, in: Aloys Hirt. Kulturmanagement im frühen 19. Jahrhundert, hrsg. v. Astrid Fendt/Claudia Sedlarz/Jürgen Zimmer, Berlin/München 2014, 273 – 293, bes. 284 f.; zur Arbeit der Kommission aus kunsthistorischer und museumspolitischer Perspektive, wobei Tzschoppes Mitarbeit keine Rolle spielt, vor allem Christoph Martin Vogtherr, Das Königliche Museum zu Berlin. Planungen und Konzeption des ersten Berliner Kunstmuseums, in: Jahrbuch der Berliner Museen 39 (1997), Beiheft, bes. 98 f. mit Erwähnung des Immediatberichts vom 10. Juli; Elsa van Wezel, Die Konzeptionen des Alten und Neuen Museums zu Berlin und das sich wandelnde historische Bewusstsein“, in: Jahrbuch der Berliner Museen, N. F. 43 (2001), Beiheft, bes. 54 – 56.

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den jungen Beamten ein ausgesprochen hochkarätiger Kreis, denn es sind allesamt Personen, die direkt, auch täglich mit dem König verkehren. Expertenwissen über Kunst, Architektur, Standortwahl oder Ausstellungskonzeption, womit sich die Kommission vornehmlich befassen soll, kann Tzschoppe nicht vorweisen. Er zeichnet vor allem als Mann Hardenbergs im Gremium für die Berichte an den König verantwortlich. So versichert ihm „ganz ergebenst und freundschaftlichst der Ihrige Schinkel“, dass er für Tzschoppe „zu jeder Stunde zu Befehl stehe, um mit [ihm] über die Art des Berichts zu sprechen oder hin und wieder Auskunft zu geben.“32 Tzschoppes Konzept für den ersten Immediatbericht vom 10. Juli 1822, unterzeichnet von Albrecht, Witzleben, Schinkel und Hirt, hat sich erhalten. Seine Kommissionsmaterialien brechen Ende Februar 1823 ab, was sich vermutlich aus dem Tod Hardenbergs im November 1822 und der Auflösung des Staatskanzleramts erklärt. IV. Aber Tzschoppe wird seit 1818 durch Hardenberg auch mit Aufgaben betraut, die seine „Berufe“ als Ministerialrat, Zensor und Archivar gut abbilden und in denen er – anders als in der Museumskommission – mit eigenen Ideen und Vorschlägen aufwarten kann. Jene drei Berufe umfassen mehr oder weniger konkret Aufgabenfelder, die ihn nahezu sein gesamtes Arbeitsleben beschäftigen. Die Berufsbezeichnung „Ministerialrat“ fasst zunächst seine verschiedenen Anstellungsverhältnisse in preußischen Zentralbehörden zusammen: Nach Auflösung des Staatskanzleramts, wo er seit 1818 tätig war, wird er per Kabinettsordre vom 29. April 1823 dem Staatsministerium unterstellt, seit 2. Mai 1823 ist er zugleich in Archivangelegenheiten dem Haus- und dem Außenminister zugeordnet – beides im Range eines Geheimen Regierungs- und Vortragenden Rats33. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besteht zwischen der Archivverwaltung und dem Hausministerium ein enger Konnex, da die leitenden Mitarbeiter der Archive zugleich und hauptamtlich Direktoren bzw. Vortragende Räte im Hausministerium sind, so dass Initiativen in Archivangelegenheiten im wesentlichen von diesem Ministerium ausgehen. Im Jahre 1832 wird Tzschoppe zum Geheimen Oberregierungsrat, 1833 zum Direktor des Geheimen Staats- und Kabinettsarchivs und 1837 zum Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat und Direktor im Hausministerium ernannt. Das war ein beachtlicher Aufstieg für den Görlitzer Lehrersohn, der 1836 mit seiner Nobilitierung weiteren Glanz erhält. 32 Schinkel an Tzschoppe am 7. Juli 1822, in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 7, Bl. 10 – 10v, das Zitat Bl. 10v; ebd. das oben erwähnte Konzept, Bl. 17 – 24 sowie eine ebenfalls von Tzschoppe entworfene Kabinettsordre an Hardenberg, Bl. 13 – 15. 33 Vgl. Johanna Weiser, Geschichte der Preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter. Von den Anfängen unter Staatskanzler von Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1845 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 7), Weimar/Wien 2000, 21. – Seine Ernennung zum Vortragenden Rat erfolgt per Kabinettsordre vom 2. April 1822, in: I. HA Rep. 74, H XX Nr. 15 Bd. 2, n. f.

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Gustav Adolf Tzschoppe hat seinen Platz im preußischen Staat gefunden und es ist ein gänzlich anderer, als sich sein Vater für den Sohn gewünscht hätte. Zeitumstände, dienstliche Netzwerke und persönliche Prägungen führen Tzschoppe auf andere Wege und lassen ihn nicht, wie bereits erwähnt, „in die Fußstapfen seines verklärten Vaters treten [und] mit aller Kraft sich den Wissenschaften widmen.“ Mit denen kommt er stets nur punktuell in Berührung, worauf noch zurückzukommen sein wird. Vielmehr ist er ein erfolgreicher preußischer Staatsbeamter und gilt als eine der Symbolfiguren für bedingungslose Unterdrückung jeglicher Freiheitsbestrebungen im preußischen Vormärz. Im Bunde mit dem restaurativen Wilhelm Fürst von Wittgenstein34 und dem als „Liberalen-Fresser“ titulierten Karl Albert v. Kamptz35 gelangt er bald nach den Karlsbader Beschlüssen zu jener fragwürdigen Berühmtheit, die sich auf seinen Eifer bei den sogenannten Demagogenverfolgungen gründet und die bis heute sein Persönlichkeitsprofil prägt. Diese Lebensphase hat sein Studienfreund Stenzel, der inzwischen einem Ruf an die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau gefolgt war, nur aus der Ferne wahrgenommen. „Aber Stenzel hat ihm seine alte Freundschaft bewahrt, auch als er erfahren mußte, welche von der seinigen weit abweichende und von ihm stets offen verurteilte Richtung der Freund eingeschlagen hatte.“36 Gemeint ist Tzschoppes Wirken in der „Immediat-Kommission zur Ermittlung hochverräterischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe“, in die er Anfang Oktober 1819 als enger Mitarbeiter Hardenbergs und ausgebildeter Jurist berufen wird37. Gleichzeitig ist er im August 1819 in die im Juni gebildete MinisterialUntersuchungs-Kommission nachgerückt, aber er ist zu dieser Zeit nicht der Vertreter Preußens in der Mainzer Zentraluntersuchungskommission, wie immer wieder zu

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Zu Wittgenstein (1770 – 1851), ebenfalls kein gebürtiger Preuße, seit 1814 Polizei- und seit 1819 Hausminister und enger Vertrauter Friedrich Wilhelms III. vgl. Hans Branig, Fürst Wittgenstein. Ein preußischer Staatsmann der Restaurationszeit (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 17), Köln 1981. 35 Kamptz (1769 – 1849) stammte aus dem Herzogtum Mecklenburg und ist also in der alten Reichstradition sozialisiert worden. Der ausgebildete Jurist trat 1804 in preußische Dienste, war seit 1812 im Innenministerium tätig, wurde 1817 Mitglied des Staatsrats, Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat und Direktor des von Friedrich v. Schuckmann geleiteten Polizeiministeriums. Wichtige weitere Karrierestufen v. Kamptz’ waren die 1822 gleichzeitig ausgeübte Direktion der Unterrichtsabteilung des Kultusministeriums, der 1824 ihm verliehene Titel eines Wirklichen Geheimen Rats (Exzellenz) sowie sein 1825 erfolgter Wechsel als Direktor ins Justizministerium. 1830 wurde er zunächst interimistisch, 1832 dann für zehn Jahre Justizminister. 36 K. G. W. Stenzel, Stenzels Leben (Anm. 17), 39. 37 Die Kabinettsordre zur Einrichtung und personellen Besetzung der Kommission vom 1. Oktober 1819, gedruckt in: Hans v. Müller, Hoffmanns Ende. Briefe, Urkunden, Verhandlungen aus den Monaten Januar bis Oktober 1822, Leipzig 1909, 113 f.; dazu auch Wolfram Siemann, Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung. Die Anfänge der politischen Polizei 1806 – 1866 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 14), Berlin 1985, 184 f.

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lesen ist38. In der Immediat-Kommission offenbart sich erstmals sein fanatischer Eifer gegen freiheitlich, national und demokratisch gesinnte Kräfte. Schon im Januar 1820 avanciert Tzschoppe „zur tragenden Inquisitionsfigur“39. Das Wirken der preußischen Kommission, vor allem das Vorgehen von Ministerialdirektor Kamptz, hat der ebenfalls in die Kommission berufene Kammergerichtsrat und Schriftsteller E. T. A. Hoffmann in seinem schon 1822 erschienenen Kunstmärchen „Meister Floh“ als Parodie verarbeitet. Hoffmann-Forscher Müller kommt auch auf Tzschoppe zu sprechen, als er die realen Hintergründe des Märchens erläutert und konstatiert, dass es sich beim „Meister Floh“ „nur um eine E p i s o d e eines langen erbitterten Kampfes zwischen zwei Gruppen handelt, eines Kampfes der auf beiden Seiten mit allen Mitteln geführt wird. Auf der einen Seite stehen die Freunde einer unbefangenen Justiz und eines Vertrauensverhältnisses zwischen Volk und Regierung; in unserem Falle die Ostpreußen Hoffmann und Hippel, der Pommer Woldermann und der Berliner Kircheisen; alle als Untertanen Friedrichs des Großen geboren; auf der anderen Seite sehen wir nur geborene Nichtpreußen, nämlich Kamptz und Schuckmann, die beiden humorlosen Starrköpfe aus Mecklenburg, und (mehrere Stufen tiefer) Tzschoppe und Pückler, die beiden eiskalten Streber aus der sächsischen Oberlausitz, von ehrlosen Subjekten wie dem englisch-hannoverschen Klindworth nicht zu reden. Von den persönlichen Beratern des Königs stand der alt und unselbständig gewordene Hardenberg leider zur zweiten, der prächtige Witzleben unbedingt zur ersten Partei.“40 Durch Müller wissen wir auch, dass die Mitglieder und somit auch Tzschoppe für die Arbeit in der Kommission Diäten erhielten41. Die prominentesten Fälle verfolgter „Demagogen“ in Preußen um 1820 sind die Professoren Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Martin Leberecht de Wette (beide Berlin) und Ernst Moritz Arndt (Bonn), auch Turnvater Friedrich Ludwig Jahn und der Verleger Georg Andreas Reimer. Die Kommission wirkt aber nicht nur nach außen, sondern richtet sich auch gegen eigene Mitglieder (die Kammergerichtsräte E. T. A. Hoffmann, Th. F. Kuhlmeyer und W. v. Gerlach) und gegen Beamte, die eher ihrer Überzeugung als ihrem Arbeitsauftrag Folge leisten. Damit unzufrieden, beauftragt Wittgenstein 1822 das Kommissionsmitglied Tzschoppe, eine Denkschrift über die Möglichkeiten der Versetzung von Beamten auszuarbeiten, um bei der Durchführung der Karlsbader Beschlüsse sich solcher in seinen Augen unzuverlässigen Staatsdiener zu entledigen. Tzschoppe liefert Anfang September42 mit seinem Memorandum konkrete Vorschläge, welche Ministerialbeamten neben den bei38 Zu Tzschoppes Nachrücken vgl. W. Siemann, Deutschlands Ruhe (Anm. 37), 182 – 185. – Der Vertreter Preußens in der Mainzer Kommission war Johann Bogislaw Grano. Tzschoppe wirkte in der Bundesuntersuchungskommission erst seit Mitte der 1830er Jahre mit. 39 Ebd., 187. 40 H. v. Müller, Hoffmanns Ende (Anm. 37), IX f. 41 Ebd., 328. 42 Denkschrift vom 9. September 1822, in: BPH, Rep. 192, Nl Wittgenstein, VII B Nr. 7, Bl. 1 – 12; dazu bereits Max Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 2/1, Halle 1910, 173 f.; H. Branig, Fürst Wittgenstein (Anm. 34), 130 f.

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den Kammergerichtsräten43 Kuhlmeyer und Gerlach aus ihren Ämtern zu entfernen seien. Hardenberg hatte Tzschoppe bereits Ende 1821 aufgetragen, „seine Gedanken vertraulich aufzusetzen und mir mitzutheilen, wie die Massregeln zur Entfernung gewißer Leute zu nehmen seyn möchten. […] Er hat den anliegenden Aufsatz verfertigt“, wie Hardenberg am Silvestertag 1821 an Wittgenstein schreibt, „der nur für uns allein bestimmt ist“.44 Dieser hat den Aufsatz „mit großem Interesse und mit einem Gefühl der Achtung und Bewunderung für den Verfaßer gelesen; er enthält nichts als Wahrheiten, die ich jeden Augenblick zu unterschreiben bereit bin. Es wäre sehr zu wünschen, daß seine Vorschläge zur Ausführung kommen“.45 Tzschoppes Zuarbeit beginnt also weit vor seinem bekannten Memorandum vom September 1822. Spätestens mit jenem Aufsatz von Ende 1821 hat er sich bei Wittgenstein als verlässlicher Partner, manche sagen als „diensteifrigstes Werkzeug“46, für die „Demagogenverfolgungen“ empfohlen. Für beide beginnt damit ein zwanzig Jahre währendes Bündnis im Vorgehen gegen liberale und demokratische Kräfte. Nach Tzschoppes Tod 1842 verteidigt Wittgenstein, der um die öffentliche Kritik an dessen charakterlichen Eigenschaften weiß und wohl auch eine gewisse Distanz demonstrieren will, seinen Bündnispartner: „Menschliche Schwächen des Verewigten will ich nicht in Abrede stellen, und daß mir solche aus wahrer Teilnahme für denselben recht vielen Kummer und Sorgen gemacht und mir auch manche Verdrießlichkeiten und Unbequemlichkeiten zugezogen haben. Er war, diese Schwachheiten aber abgerechnet, ein höchst rechtlicher Mann und ein ausgezeichneter treuer Staatsdiener.“47 Nach zwei Jahren Kommissionsarbeit vertraut Tzschoppe im Februar 1822 seinem Förderer und Vorgesetzten Hardenberg seine Erfahrungen und Vorstellungen zum Kampf gegen die „inneren Feinde“ Preußens an. In einem Brief schildert er dem von Berlin abwesenden Staatskanzler einen Eklat bei einem „SubscriptionsBall“ des Grafen Brühl, bei dem der Berliner Universitätsrichter von drei Studenten attackiert worden war. Nicht allein wegen dieses Zwischenfalls steht für Tzschoppe fest, dass „die Opposition gegen die in Folge der Carlsbader Conferenzen gefaßten Beschlüsse und gegen die Persönlichkeit des zeitigen Universitätsrichters von Neuem erwacht“ ist. Die einstigen, von Tzschoppe mit Eifer verfolgten Mitglieder der Burschenschaft „rücken […] immer zahlreicher in den Staatsdienst ein […]. Es 43 Den „pflichtvergessenen, höchst unzuverlässigen und selbst gefährlichen Staatsbeamten“ Hoffmann (Schuckmann) konnte die Kommission nicht mehr belangen; er war am 25. Juni 1822 an einem Nervenleiden in Berlin verstorben. 44 Hardenberg an Wittgenstein am 31. Dezember 1821, in: Hans Branig, Briefwechsel des Fürsten Karl August von Hardenberg mit dem Fürsten Wilhelm Ludwig von Sayn-Wittgenstein 1806 – 1822. Edition aus dem Nachlaß Wittgenstein (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 9), Köln 1972, 300. 45 Wittgenstein an Hardenberg am 5. Januar 1822, in: Ebd., 302 f. 46 H. v. Petersdorff, Tzschoppe (Anm. 2), 67. 47 Wittgenstein an den Rechtsgelehrten und Professor an der Berliner Universität August Wilhelm Heffter am 7. Juni 1843, zit. nach H. Branig, Fürst Wittgenstein (Anm. 34), 150.

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kommt hinzu, daß, wie sich bei den jetzigen Untersuchungen ergiebt, die eifrigsten Mitglieder der jetzigen burschenschaftlichen Verbindungen am nachdrücklichsten mit öffentlichen und namentlich königlichen Unterstützungen versehen werden und daß sie, die früher zur Untersuchung gezogenen Individuen, vorzugsweise in die Schullehrer-Seminarien befördert worden sind. Dann würden Sr. Majestät nur übrig bleiben, sich an die Spitze der Demagogen zu stellen und die Rolle zu spielen, welche dem Könige schon von Görres im Rheinischen Merkure angewiesen wurde: Deutschlands erster Jakobiner zu seyn.“48 Die Immediat-Untersuchungs-Kommission stellt im Oktober 1828 ihre Arbeit ein. Tzschoppe wird für seine dort geleistete Arbeit mit einer neuen Aufgabe belohnt: Er wird 1830 wenige Monate nach der Pariser Julirevolution als Vortragender Rat ins Innenministerium zur Bearbeitung der Geschäfte der allgemeinen Sicherheits-Polizei herangezogen, weil man einen „brauchbaren und zuverlässigen Beamten, der nicht anderweitig mit Geschäften überhäuft ist“, benötigt. Friedrich Wilhelm III. beruft ihn auf Vorschlag von Innenminister Gustav v. Brenn und zeigt sich davon überzeugt, dass Tzschoppe damit dem in ihn „gesetzte[n] Vertrauen gern entsprechen und auch in diesem Fache erneuerte Proben Ihrer Mir bekannten Brauchbarkeit und Zweckmäßigkeit geben“ werde49. V. Irgendwann in diesen Jahren hat Tzschoppe auch geheiratet und eine Familie gegründet. Es ist nicht viel mehr bekannt über sein Privatleben, als dass er einen Sohn hat, der später ebenfalls in den preußischen Verwaltungsdienst geht50. Er muss ein guter Gastgeber sein, wie ein Zeitgenosse berichtet, und dies ist eine der wenigen Stimmen, die sich äußerst wohlwollend über Tzschoppe äußert: der Komponist Carl Loewe51, der sich 1826/27 in Berlin aufhält, um dort seine Oper „Rudolph, der deutsche Herr“52 aufführen zu lassen. Tzschoppe war in diesen Jahren, wohl

48 Tzschoppe an Hardenberg am 26. Februar 1822, in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 3, Bl. 30 – 36, die Zitat Bl. 31v und 34v–35. 49 So die Kabinettsordre (Abschrift) an Tzschoppe vom 26. Oktober 1830, in: VI. HA, Nl Immanuel v. Kamptz, Nr. 28, n. f. 50 Der Sohn Karl Christian August v. Tzschoppe (1827 – 1893) beginnt seine Laufbahn 1852 als Regierungsreferendar in Breslau. 1854 wechselt er als Assessor an die Regierung zu Merseburg, kehrt zwei Jahre danach nach Breslau zurück. 1866 wird er zum Regierungsrat und 1872 zum Vertreter des Landdrosten Stade ernannt. 1873/74 kurzzeitig im preußischen Innenministerium tätig, wechselt er 1874 als Oberregierungsrat nach Münster, 1881 nach Erfurt. Vgl. I. HA Rep. 125, Nr. 5115 und I. HA Rep. 77, Nr. 2639. 51 Carl Loewe (1796 – 1860) hatte 1820 bei Carl Friedrich Zelter an der Singakademie seine Prüfung als Kirchen- und Schulmusiker absolviert und ist dann nach Stettin gegangen, wo er über 40 Jahre als Kantor, Organist, Gymnasiallehrer und vor allem als städtischer Musikdirektor wirkte. In der Musikgeschichte hat er vor allem einen Platz als Balladenkomponist. 52 Oper in drei Akten (1825) von Carl Loewe, Text von Vocke. – Alle seine fünf Opern blieben unaufgeführt und ungedruckt, vgl. Wilhelm Pfannkuch, Loewe, in: NDB, Bd. 15, 84 f.

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als Vertrauter von Hausminister Wittgenstein, Mitglied des Theaterkuratoriums53 und insofern ein wichtiger Anlaufpunkt für Loewe, um sein Werk in Berlin zur Aufführung bringen zu können. Der Komponist berichtet seiner Frau voller Wärme über die Besuche im Hause Tzschoppe, die „sehr vortreffliche, liebe Leute“54 sind. Durch Loewes Briefe lernen wir nicht nur eine positive Seite, sondern auch noch einen ganz anderen, bislang kaum wahrgenommenen Wirkungskreis Tzschoppes – den der Musik – kennen, weshalb er hier etwas ausführlicher zu Wort kommt: „Tzschoppe ist selbst nicht musikalisch, liebt aber die Musik sehr, dass er nicht satt damit zu machen war. Ich fing an, ihnen den Plan meiner Oper mitzutheilen. […] Tzschoppe hält meine Oper für ein Meisterstück in jeder Beziehung, behauptet jedoch, dass die Dialoge abgekürzt werden müssten, weil sie für die Oper, als solche, das Interesse des Publikums zu sehr in Anspruch nähmen, und daher zu sehr für sich werbend, dramatisch gefallen und die Musik nicht obenan stehen lassen würden. Habe ich es Dir nicht auch gesagt? Wie viel Einfluss Tzschoppe hat, weiss ich nicht zu sagen. Er ist Curator der Bühne. Er lässt die Gehälter auszahlen, honorirt die Dichter und Componisten, und von ihm muss sich Jeder Urlaub holen. Er war ganz der Mann, zu empfehlen, anzuregen und zuzureden. Viel gewonnen! Und er interessirt sich jetzt noch mehr für mein Werk: er hat mich überdem sehr lieb gewonnen, so dass ich in ihm meinen Freund erkennen kann. Die Musik-Direction hat freilich die Hauptentscheidung. […] Genug, es sind kleine Aussichten vorhanden, wenn auch nur kleine, aber doch welche. Man wird doch auf mich und meine Arbeiten aufmerksam.“

Einen Tag später berichtet Loewe weiter, dass alle wichtigen Leute wegen des Sommers nicht in Berlin weilen: der General-Intendant der Königlichen Schauspiele Carl Graf von Brühl55, Hofrat Johann Friedrich Esperstedt und General-Musikdirektor Gaspare Spontini. „Tzschoppe will von Allem benachrichtigt werden; vielleicht dass er den Text selbst an Esperstedt einhändigt und empfiehlt.“ Und als Resümee seiner Tage in Berlin schreibt er an seine Frau: „Im Ganzen ist es mir hier sehr gut ergangen, besonders durch die wohlwollende Aufnahme, die ich bei Tzschoppe gefunden habe. Er ist ein kleiner, blonder, liebenswürdiger und gescheidter Mann, und hat ein Söhnchen von 8 Wochen, da läuft er alle Viertelstunden hin und besieht es.“

Tzschoppe bleibt nur wenige Jahre im Theaterkuratorium. Der 1828 zum General-Intendanten ernannte Wilhelm Graf v. Redern legt offensichtlich keinen Wert auf seinen längeren Verbleib im Kuratorium. Das Verhältnis zwischen beiden ist nicht das beste. Redern sieht sich „theils offenen, theils versteckten Angriffen ausgesetzt“,

53 Mitglieder waren außerdem Wilhelm Graf v. Redern und der Geheime Oberfinanzrat Carl Wilhelm Salomon Semler. 54 Dr. Carl Loewe’s Selbstbiographie. Für die Öffentlichkeit bearbeitet von C[arl] H[ermann] Bitter, Berlin 1870, 107; das folgende Zitat ebd., 107 – 110. 55 Mit ihm pflegt Tzschoppe eine Korrespondenz, vgl. VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 14, die für die Jahre 1824 bis 1837 überliefert ist.

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die er auf Tzschoppe zurückführt56. Anders als Loewe sieht Redern in Tzschoppe zwar den „pfiffigen Sachsen“, der „bald die einflußreichste, aber vielfach nachtheiligste Person um den Fürsten Wittgenstein“57 und für Redern „keine sehr anmutende Persönlichkeit“ ist. Zusammengefasst beschreibt er ihn als „klein, auf sein Äußeres eitel, noch mehr auf seine Fähigkeiten und in seinem Dienstwillen zu allem bereit.“ Bei den Auseinandersetzungen um die Autoren des „Jungen Deutschlands“ ab Mitte der dreißiger Jahre werden sich Redern und Tzschoppe erneut gegenüberstehen. VI. Mit seiner Übernahme in das Innenministerium im Jahre 1830 kann Tzschoppe die Verfolgung von politisch unliebsamen Personen auf breiterer Basis fortsetzen. Er wird eine der tragenden Personen der politischen Polizei Preußens, die mit der am 23. Juli 1833 gebildeten zweiten Ministerialkommission eine neue institutionalisierte Grundlegung erfuhr58. Ihre Tätigkeit auch im Zusammenspiel mit anderen Behörden ist nun wesentlich effizienter als Anfang der zwanziger Jahre gestaltet, so dass die Verfolgungen eine größere Durchschlagskraft erzielen. Mit ihrem Vorgehen wird der Staatspolizei ein stärkerer Einfluss als der Justiz ermöglicht. Tzschoppe ist in der Kommission – übrigens nebenamtlich – für den „Vortrag und die Bearbeitung der Geschäfte“59 zuständig. Bei ihm laufen alle Fäden der politischen Verfolgungen, der zweiten Welle von „Demagogenverfolgungen“, zusammen. Ihm liegen alle Vorgänge vor, er führt Gespräche mit den ins Blickfeld der Kommission geratenen Personen und veranlasst nicht selten das weitere Vorgehen gegen diese. Er ist der „ständig laufende Motor“ der Ministerialkommission, deren andere Mitglieder tatsächlich alle Minister waren. Tzschoppes eifriges Wirken bei diesen Verfolgungen im Zusammenspiel mit einer weiteren Funktion in der zentralen Zensurverwaltung war es, das ihm 1836/37 den seltsamen Ruf einbringt, „der mächtigste und wichtigste 56 Friedrich Wilhelm von Redern, Unter drei Königen. Lebenserinnerungen eines preußischen Oberstkämmerers und Generalintendanten. Aufgezeichnet von Georg Horn, bearb. und eingel. v. Sabine Giesbrecht (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 5), Weimar/Wien 2003, 173. 57 Ebd., 47; das nachfolgende Zitat, ebd., 104. 58 Zum Aufbau einer Geheimpolizei in Preußen generell W. Siemann, Deutschlands Ruhe (Anm. 37), 174 – 196, zu Tzschoppes diesbezüglichem Wirken nach 1830 bes. 190 – 196. – Aus dem Innenministerium ist Tzschoppe auf eigenen Wunsch wegen seiner anderen dienstlichen Verpflichtungen im November 1832 wieder ausgetreten; die Kabinettsordre (Abschrift) an ihn vom 11. November 1832, in: VI. HA, Nl Immanuel v. Kamptz, Nr. 28, n. f., mit der Friedrich Wilhelm III. an Tzschoppe die Erwartung ausspricht, dass „Sie auch ferner mit Ihrer Sach- und Personenkenntnis auf Erfordern den Polizei-Minister unterstützen u. sich in einzelnen, erheblichen Fällen den Arbeiten nicht entziehen werden“. 59 W. Siemann, Deutschlands Ruhe (Anm. 37), 191. – Ebenfalls in die Kommission berufen werden Innenminister Brenn sowie die beiden Justizminister Mühler und Kamptz; zusätzlich hinzugezogen werden konnten Kabinettschef Lottum, Außenminister Ancillon und Hausminister Wittgenstein (ebd.).

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Mann im ganzen preußischen Staate“60 zu sein. Jedenfalls reicht in dieser Zeit sein Auftauchen am Fenster seiner Wohnung aus, um eine Sympathiekundgebung von Berliner Studenten für ihren Professor Eduard Gans, der sich für die Göttinger Sieben eingesetzt hatte, zugleich zu einer Demonstration gegen den „Demagogenverfolger“ Tzschoppe werden zu lassen61. Tzschoppe wird zum personellen Anlaufpunkt für Autoren, die bei den Berliner Zentralbehörden selbst um die Veröffentlichung ihrer Schriften vorstellig werden. So schildert uns Theodor Mundt, dass im Herbst 1837 Karl Gutzkows „Besuche bei den Herren von Tzschoppe und von Rochow […] günstig ausgefallen [sind], man hat ihn freundlicher aufgenommen, als er sich denken konnte und ihm gesagt, daß ,seine Zukunft davon abhänge, wie er sich in der Gegenwart zeige‘.“62 Mundt selbst wird ebenfalls bei Tzschoppe vorstellig. Gegenüber seinem Freund Kühne spricht er von Tzschoppe als der zentralen Person der Verfolgungspraxis der preußischen Regierung: „Mit ihn habe ich mich jetzt beschäftigen müssen, eine lange Audienz bei ihm gehabt, ihm lange Briefe geschrieben. Er war sehr offen, zeigte mir, wie weit meine Sache war, und las mir den Gesetzesparagraphen vor, wonach ich wegen Aufnahme des Artikels Kalisch [im „Zodiakus“] und einiger anderer Sachen zwei Jahre Festungshaft zu erwarten habe. Jetzt stehe ich so mit Tzschoppe, daß er die Sache nicht in die Hände der Justiz geben will und er hofft, daß es dann auch kein Anderer thun wird! – Erhebe Dich durch Zorn und Trauer und sei bis aufs äußerste vorsichtig. Ich habe jetzt erst Alles, was uns droht, an der Quelle kennen gelernt. Tzschoppe hat alle unsere Briefe gelesen. Er will das ganze junge Deutschland verderben. “63

Gemeint ist die gleichnamige literarische Bewegung von meist jüngeren Autoren, die nach 1830 durch liberales Engagement und Emanzipation von sozialen und kirchlichen Bindungen in ihrer Publizistik auffallen, sich aber nicht als eine Bewegung verstehen und nur sehr lose oder gar nicht miteinander in Verbindung stehen. In Preußen verbietet eine Verfügung vom 14. November 1835, als deren Schöpfer

60

Th. Mundt lt. J. Proelß, Das junge Deutschland (Anm. 1), 639. Vgl. hierzu M. Lenz, Geschichte der Universität (Anm. 42), 497, wohl nach H. v. Petersdorff, Tzschoppe (Anm. 2), 67. – Die Kundgebung fand am 22. März 1838 statt, worüber Tzschoppe notiert: „Vivat an Gans und die Goettinger Professoren. Mir von einer Stimme ein Pereat. Fehler der Polizei.“ VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 8, S. 84. 62 Brief Mundts an Ferdinand Gustav Kühne (Berlin, Ende Oktober 1837), in: Karl Gutzkow. Erinnerungen, Berichte und Urteile seiner Zeitgenossen. Eine Dokumentation, hrsg. v. Wolfgang Rasch, Berlin 2011, 88. – Gutzkow stand bereits im März 1836 in Korrespondenz mit Tzschoppe, vgl. ebd., 78. 63 Mundt an Kühne zit. nach J. Proelß, Das junge Deutschland (Anm. 1), 639 (dort die Hervorhebungen). – Aus der umfänglichen Literatur über das „Junge Deutschland“ vgl. neben J. Proelß (Anm. 1) exemplarisch Heinrich Hubert Houben, Jungdeutscher Sturm und Drang. Ergebnisse und Studien, Leipzig 1911; Walter Hömberg, Zeitgeist und Ideenschmuggel. Die Kommunikationsstrategie des Jungen Deutschland, Stuttgart 1975; Helmut Koopmann, Das Junge Deutschland. Eine Einführung, Darmstadt 1993 (mit weiterer Literatur). 61

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Tzschoppe gilt64, alle erschienenen und in Zukunft erscheinenden Schriften einiger Autoren; der Deutsche Bundestag zieht am 10. Dezember 1835 nach. Zu den „Jungdeutschen“ rechnet man Heinrich Heine, Karl Gutzkow, Heinrich Laube, Ludolf Wienbarg und Theodor Mundt, in einem weiteren Sinne auch Adolf Glaßbrenner, Gustav Kühne und Max Waldau. Auch der Schriftsteller Laube kennt Tzschoppe aus früherem Erleben und sieht in ihm den eigentlichen Drahtzieher für dieses bundespolitische „Gruppenverbot“65. Für ihn verwendet sich bei Tzschoppe kein geringerer als der aus Österreich stammende Historiker Joseph v. Hormayr66. Es sind entfernte verwandtschaftliche Beziehungen seiner zweiten Frau, die Hormayr dazu bewegen. Als Anlass für eine Korrespondenz mit Tzschoppe wählt er ein gemeinsames wissenschaftliches Interesse. Hormayr, zu der Zeit bayerischer Gesandter in Hannover, lässt im September 1837 dem „Hochwohlgeborenen Geheimrath“ in Berlin einige seiner wissenschaftlichen Schriften zukommen und erweist ihm seine Verehrung für die von ihm herausgegebene Urkundensammlung, auf die noch einzugehen ist. In nachfolgenden Briefen setzt er sich mehrfach für Laube ein, den er „persönlich nicht kennt“, einen „Weltverbesserer“ nennt und für den er „keineswegs Sympathien“ hegt67. Tzschoppe, der Hormayr sehr bald mitteilt, dass er für Laube nichts tun könne, erkennt aber an der Fortsetzung der Korrespondenz ein preußisches Interesse, als Hormayr sich auch wegen der „Kölner Wirren“ als Kritiker des katholischen Klerus erweist. Der Kölner Erzbischof Klemens August Freiherr von Droste-Vischering war über die strittige Kindererziehung in gemischt konfessionellen Ehen mit der preußischen Regierung in Konflikt geraten und im November 1837 auf die Festung Minden weggeführt worden. Hormayr lehnt – ungefragt gegenüber Tzschoppe – das Auftreten des katholischen Klerus in Deutschland nach 1815 ab, weil er darin für einzelne 64 H. Branig, Fürst Wittgenstein (Anm. 34), 177. – Das Verbot wird wenig später als Pflicht zur Rezensur abgemildert, vgl. die Zirkularverfügung vom 16. Februar 1836, gedr. in: Bärbel Holtz, Preußens Zensurpraxis 1819 bis 1848 in Quellen (Acta Borussica N. F., Reihe 2,6), Berlin 2015, 471 f. 65 Proelß zitiert Laubes Sicht auf Tzschoppe: „Dieser kleine schlesische Landsmann mit dem kleinen Mardergesicht und Blick, der ihm schon einmal als Großinquisitor entgegengetreten war, dessen politischer Verfolgungseifer ihn schon einmal so schwer getroffen, nur er konnte die Stricke geflochten haben, die ihn jetzt mit den andern Vier zusammenkoppelt.“ J. Proelß, Das junge Deutschland (Anm. 1), 638. 66 Joseph v. Hormayr (1781/82 – 1848) war Führer des Alpenbundes, bereitete 1809 den Tiroler Aufstand unter Andreas Hofer mit vor und war jahrelang der Verfolgung Metternichs ausgesetzt. 1816 indes ernannte ihn Kaiser Franz I. zum Historiographen des Reichs. 1827 ging er nach München und widmete sich unter anderem der Urkundenforschung. Seit 1832 vertrat er Bayern diplomatisch in Hannover, dann in Bremen. Seit 1847 war er in München Vorstand des allgemeinen Reichsarchivs. Neben anderen zahlreichen Mitgliedschaften nahm ihn 1829 die Preußische Akademie der Wissenschaften als korrespondierendes Mitglied auf. Als Historiker wurde er durch Urkundenforschung sowie mit seinen Schriften über den österreichischen Freiheitskampf bekannt; einige seiner Arbeiten bereiteten den Weg für ein kleindeutsches Geschichtsbild mit vor. 67 Die Briefe Hormayrs an Tzschoppe von 1837/38 in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 17, n. f.

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Bundesstaaten die Gefahr sieht, unter das „Joch eines Rudels fanatischer Pfaffen zu gerathen, welche das Dummsein und das Dummmachen für den Giebel der Staatskunst achten und gar zu gerne mit Fürstenfingern ihre alten Kastanien wieder aus dem Feuer holen.“68 Umso mehr begrüßt er den energischen Schritt Preußens gegen den Kölner Erzbischof und ermuntert Berlin zu einem gleichen Vorgehen gegen die bayerische Berichterstattung darüber: „Daß die neue Würzburger Zeitung, redigiert von einem hergelaufenen Abentheurer, Dr. Zander, sich unterfangen durfte, Preußen so zu schmähen, und in Polen, Posen und am Rhein geradehin Aufruhr zu predigen, ist eine schmäliche Erscheinung und mich wundert es, wenn Ihr Ministerium nicht auf die eklatante Genugthuung dringt. Ich bin in Wien 1802 – 1810 und in München 1828 – 1830 im Ministerium des Äußeren Referent von Rom gewesen, habe somit die Maulwurfsgänge jener Clique hinlänglich kennen gelernt und daß sie vor nichts erschrecken, um zu ihrem Zweck zu gelangen.“ Diese für Preußen politisch nützlichen Äußerungen leitet Tzschoppe in Berlin weiter, vermutlich an Wittgenstein, denn „die Äußerungen eines Katholiken in dieser Weise dürften von hohem Interesse seyn; es kommt hinzu, daß der Freiherr von Hormayr ein hochgestellter, bairischer Beamter und ein gelehrter Historiker ist“.69 Und dieser liefert auf Nachfrage aus Berlin bereitwillig weitere Informationen über den Redakteur der Würzburger Zeitung70. Kritisch gegenüber der preußischen Politik zeigt sich Hormayr allerdings in der Zensurfrage. So schreibt er unumwunden, „daß einige der neuern Censurnormen mich theilnehmend betrübt haben als den wärmsten Anhänger des engen Bundes zwischen der gesammten deutschen Intelligenz und Preußen, ihrem Hort“.71 Mit dieser Äußerung gegenüber Tzschoppe trägt Hormayr sein Mißfallen faktisch in der Zentrale der preußischen Zensurpraxis jener Zeit vor. VII. Tzschoppe ist nämlich, und hier kommt seine zweite Berufsbezeichnung „Zensor“ in den Blick, seit 1830 auch Mitglied im Ober-Censur-Collegium. Dieses Gremium war nach den Karlsbader Beschlüssen Ende 1819 in Berlin eingerichtet wor-

68

Zitat.

Hormayr an Tzschoppe am 11. Dezember 1837, in: ebd. – Dort auch das nachfolgende

69 Tzschoppes Brief vom 14. Dezember 1837 beginnt mit „Euer Durchlaucht“, was auf Wittgenstein als Adressaten schließen lässt, in: ebd. 70 Ernst Zander „ist ein hergelaufener Abentheurer, ursprünglich Jude, darauf Protestant, jetzt wüthender Römling […]“, schreibt Hormayr am 31. Dezember, in: ebd. – Zu ihm und zu einer weiteren bayerischen Zeitung vgl. Michaela Breil, Die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ und die Pressepolitik Bayerns. Ein Verlagsunternehmen zwischen 1815 und 1848, Tübingen 1996, 90 f. und passim. 71 Hormayr an Tzschoppe am 11. Dezember 1837, in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 17, n. f.

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den72. Es hat aber im Laufe der zwanziger Jahre die Erwartungen nie erfüllen können73. Nach der Pariser Julirevolution gibt es Versuche, die Tätigkeit des Kollegiums auch durch personelle Verstärkung neu zu beleben, und in diesem Kontext tritt Tzschoppe 1830 in die zentrale Zensurbehörde ein. Tatsächlich erweist er sich in den dreißiger Jahren als das eifrigste Mitglied des Ober-Censur-Collegiums, wo er gleichzeitig mit seinem Arbeitsauftrag im Innenministerium wirksam wird. Mit dieser Ämterunion wird Tzschoppe zum Aushängeschild der polizeilichen und zensurpolitischen Verfolgung unliebsamer Kräfte in Preußen. Nachdem im Juli 1833 der Präsident des Kollegiums Karl Georg v. Raumer verstorben war, fungiert er aufgrund seines Eifers faktisch als Vorsitzender des Gremiums, auch weil ein neuer Präsident nie eingesetzt wird74. In einem anderen Bereich indessen beerbt Tzschoppe tatsächlich den verstorbenen Raumer. Noch im Jahr 1833 wird er mit Kabinettsordre vom 9. August, und das erklärt seinen dritten Beruf „Archivar“, zum „Direktor des Geheimen Staats- und Kabinettsarchivs und der gesamten Archivverwaltung“75 ernannt. Diese Stelle bekleidet er, wie sein Vorgänger, lediglich im Nebenamt, hauptamtlich ist Tzschoppe zuletzt seit 1837 als Direktor der 1. Abteilung des Hausministeriums tätig gewesen76. Die Amtsausübung als Chef der preußischen Archivverwaltung im Nebenamt lässt plausibel erscheinen, warum es auch in den dreißiger Jahren nicht gelingt, „eine fruchtbare Verbindung zwischen den Archiven und der Forschung auf zentraler Ebene herzustellen“.77 Abgesehen von Tzschoppes starkem Interesse an der Tagespolitik und seiner hauptamtlichen Beschäftigung im Innenministerium setzt auch Wittgensteins Haltung zur Archivverwaltung, die ihm untersteht, enge Grenzen. Der Hausminister hängt unverändert der 1821 von Raumer geäußerten Auffassung an, wonach „Archive als Waffenarsenale zur Verteidigung der Ansprüche und Intentionen der Krone ausschließlich staatsrechtlichen Zwecken zu dienen hatten“. 72 Die Kabinettsordre an Staatskanzler Hardenberg vom 25. November 1819 sowie weitere Dokumente aus dem Wirken des Ober-Censur-Collegiums gedr. in: B. Holtz, Preußens Zensurpraxis (Anm. 64), 184 und passim. 73 Vgl. hierzu Bärbel Holtz, „Eine mit Intelligenz ausgerüstete wirksame Behörde“. Preußens zentrale Zensurbehörden im Vormärz, in: Zensur im 19. Jahrhundert. Das literarische Leben aus Sicht seiner Überwacher, hrsg. v. Bernd Kortländer/Enno Stahl, Bielefeld 2012, 153 – 176. 74 Immer wieder trifft man in der Literatur auf Tzschoppe als „Vorsitzenden“ oder „Direktor“ des Ober-Censur-Collegiums, so bei F. W. v. Redern, Unter drei Königen (Anm. 56), 47, Anm. 209, was er aber zu keinem Zeitpunkt war. 75 Der Personalvorschlag stammte vom verstorbenen Direktor Raumer, vgl. Georg Wilhelm v. Raumer, Geschichte des Geheimen Staats- und Cabinets-Archivs zu Berlin bis zum Jahre 1820, hrsg. v. Eckart Henning (zuerst: 1976), in: ders., Archivalien und Archivare Preußens. Ausgewählte Aufsätze. Mit einem Geleitwort von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2013, 24 – 79, das Zitat 25. 76 Eckart Henning, Der erste Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive Reinhold Koser (1852 – 1914), (zuerst: 1979), in: ders., Archivalien und Archivare (Anm. 75), 134. 77 J. Weiser, Geschichte der preußischen Archivverwaltung (Anm. 33), 27; ebd. das nachfolgende Zitat.

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Schon Anfang der zwanziger Jahre hat sich Tzschoppe mit Aufbau und Arbeit der Archive in Preußen intensiv beschäftigt. Im Auftrag von Hardenberg sitzt er seit Ende 1820 an einer Denkschrift „über die Archive und deren neue Organisation nach Euer Durchlaucht großem Plane“78, die er im April 1821 abschließen kann. Er hat vor allem die Archivangelegenheiten der Provinzen beleuchtet, für Hardenberg die von dort eingegangenen Berichte aufbereitet und er begeistert sich für die in preußischen Besitz übergegangenen Urkundenschätze. Zugleich beklagt Tzschoppe aber auch Unordnung und fehlende Möglichkeiten der Unterbringung sowie unsachgemäße Behandlung von Archivgut, ja es ist vom desolaten Zustand der Archive und Registraturen die Rede79. Darauf hin orientiert man auf eine allgemeine Aufnahme der provinziellen Bestände, wodurch Tzschoppe „Ordnung in die Archive zu bringen“ gedenkt, um keine weiteren Verluste zu verursachen. Außerdem will man durch Anlegung „einfacher Repertorien“ für alle Archive und durch Ergänzung oder Revision bereits vorhandener Bestandsverzeichnisse einen vollständigen Überblick erhalten. So beginnt man in den frühen zwanziger Jahren unter Hardenbergs Leitung, in Preußen eine Ordnung und Verzeichnung der Archive in die Wege zu leiten, auch Bestände zu ergänzen, wofür Tzschoppe konkrete Vorschläge entwickelt. Er regt an, ähnlich wie die Franzosen die Archive „des nahen Auslandes“ systematisch zu erforschen und dort von Urkunden, die sich auf die preußischen Provinzen und den Staat insgesamt beziehen, Abschriften anzufertigen. Damit will man die Quellenbasis für die sich entwickelnde Landesgeschichtsforschung erweitern. Der Tod Hardenbergs bringt die Visionen und Pläne ins Stocken. Seit 1823 leitet Karl Georg v. Raumer das Geheime Staats- und Kabinettsarchiv und Tzschoppe wird ihm, wie oben bereits ausgeführt, als Vortragender Rat an die Seite gestellt – beide im Nebenamt. Im Kontext seiner Arbeit in der preußischen Archivverwaltung kommt Tzschoppe mit Kaiser- und Königsurkunden in Berührung und begeistert sich seitdem für diese Quellenart. VIII. Wendet sich Tzschoppe selbst der Geschichte und ihren Quellen zu, steht immer auch eigenes Interesse dahinter. So verfasst er 1827 in seinen „Mußestunden“ eine geschichtliche Darstellung der seit der Reformation erfolgten Übertritte von Personen aus deutschen reichsständischen Geschlechtern von der evangelischen zur katho78

15. 79

Tzschoppe an Hardenberg am 14. April 1821, in: VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 3, Bl. 14 –

Zu allem sowie zum folgenden auf der Grundlage von Reinhold Koser, Die Neuordnung des preußischen Archivwesens durch den Staatskanzler Fürsten von Hardenberg (Mitteilungen, 7), Leipzig 1904, hier wiedergegeben nach: J. Weiser, Geschichte der preußischen Archivverwaltung (Anm. 33), 10 f. und passim. – Zu den Konflikten, die zwischen den Berliner Zentralisierungsplänen und provinzialer Archivpragmatik am Beispiel der Provinz Westfalen auftraten, vgl. Jürgen Kloosterhuis, Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts (FBPG N. F., Beiheft 8), hrsg. v. Wolfgang Neugebauer, Berlin 2006, 83 – 113, hier 86 – 90.

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lischen Konfession, die er publizieren möchte. Die Informationen dazu hat er aus dem Archiv bezogen. Für die beabsichtigte Veröffentlichung muss er also die Genehmigung bei den übergeordneten Dienstherren, dem Hausminister Wittgenstein und dem Außenministers Bernstorff, beantragen. Tzschoppe, der aus seiner Distanz zur katholischen Kirche nie ein Hehl macht, hat mit der Schrift ein Thema aufgegriffen, dass auf höherer Ebene Bedenken hervorruft. Beide Minister erkennen zwar den „ausgezeichneten Fleisse“ des Verfassers an, untersagen jedoch die Veröffentlichung, weil Tzschoppes Schrift „Erbitterungen in kirchlichen Angelegenheiten herbeiführen und auch dem Königlich Sächsischen Hause nicht angenehm seyn würde“.80 Es bleibt auch ein gewisser Geschmack des Denunzierens, den diese Schrift hervorrufen würde. Eine andere wissenschaftliche Aktivität führt ihn zeitweilig wieder etwas näher mit seinem Studienfreund Stenzel zusammen. Stenzel81, der neben seiner Professur an der Breslauer Universität seit 1821 zugleich der Archivar des schlesischen Provinzialarchivs ist, hat eine Quellensammlung über schlesische Städte vorbereitet, wofür ihm Tzschoppe aufgrund seiner dienstlichen Stellung „eine Beihilfe vom Ministerium“82 verschaffen konnte. Aber sein Einsatz sollte nicht ohne Eigennutz sein, für den Ministerialrat bietet sich nämlich damit endlich die Gelegenheit, auch zu einer Publikation auf dem Gebiet der Geschichte – seinen Vater hätte es gefreut – zu kommen. Die finanzielle Unterstützung für Stenzels schlesische Quellensammlung verknüpft Tzschoppe mit dem Anliegen, einige Quellen zur Oberlausitz beizusteuern und auf dem Titelblatt als Erster genannt zu werden. Es sind nur wenige Stücke, die Tzschoppe dem Werk beifügt, aber Stenzel hat sich auf die ungerechtfertigte Reihung ihrer Namen auf dem Titel eingelassen, „was ihm später verdrießlich“83 wird. Danach gefragt, warum er die Sammlung gemeinsam mit Tzschoppe herausgeben hat, antwortet Stenzel freimütig: „Wenn ich die Mittel zur Herausgabe eines wissenschaftlichen Werkes von niemand anders bekommen könnte, würde ich selbst vom Teufel das Geld dazu annehmen!“84

80

Außenminister Bernstorff (Konzept Raumer) nach vorheriger Verständigung mit Wittgenstein am 21. Januar 1828 an Tzschoppe (abgesandt am 13. März), in: I. HA Rep. 100, Nr. 143, n. f. – Tzschoppe muss wohl im Auftrag von Kabinettschef Lottum im Spätherbst 1829 auch einen Aufsatz „Über die Berliner katholische Gemeinde“ verfasst haben, VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 8, S. 17. 81 Zu Stenzels Platz in der Historiographie vgl. Wolfgang Neugebauer, Preußen in der Historiographie. Epochen und Forschungsprobleme der Preußischen Geschichte, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 1: Das 17. und 18. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, hrsg. von dems. unter Mitarbeit von Frank Kleinehagenbrock, Berlin 2009, hier 21 (mit weiterer Literatur). 82 Die im Weiteren erwähnten Vorgänge und Umstände um die Herausgabe der Urkundensammlung geschildert bei K. G. W. Stenzel, Stenzels Leben (Anm. 17), 40 f. sowie 236 – 241. 83 Ebd., 239. 84 Ebd., 42.

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Zunächst aber fühlt er sich dem einflussreichen Studienfreund verpflichtet, wurde doch durch ihn seine Laufbahn als Provinzialarchivar Schlesiens gefördert. Auch die Ernennung zum „Geheimen Archivrat“ hat Stenzel ihm zu verdanken. Und so erscheint 1832 die umfängliche Urkundensammlung mit der umgedrehten Namensreihung auf dem Titelblatt, womit die wissenschaftlichen Anteile beider Autoren völlig falsch wiedergegeben sind85. Das unterscheidet Tzschoppe von seinem einstigen Vorgesetzten und jetzigen Justizminister für die Gesetzrevision Karl v. Kamptz, der großes Interesse an der Wissenschaft aufbringt. Dieser verfasst nicht nur rechtshistorische Untersuchungen zur mecklenburgischen und brandenburg-preußischen Rechtsgeschichte, sondern gibt im Kontext seines Ministeramts eine Sammlung der Provinzial- und statuarischen Rechte in der preußischen Monarchie heraus, mit denen er sich auch literarisch auseinandersetzt. Tzschoppe erhofft sich von der „Autorenschaft“ an Stenzels opulenter Urkundensammlung neben der üblichen wissenschaftlichen Reputation noch einen anderen Effekt: Er möchte gern Präsident der Oberlausitzschen Gesellschaft der Wissenschaften, der schon sein Vater angehörte, werden. Das vertraut er seinem Freund Stenzel an86. Aber dies kommt nicht zustande. Dennoch steht er mit Stenzel weiterhin in Briefkontakt und ist ihm wohlgesonnen, ja soll ihn mitunter auch vor Unvorsichtigkeiten gewarnt haben. Stenzel wiederum wird von einigen mit Distanz behandelt, weil er als Freund des Demagogenverfolgers bekannt ist. Die Freundschaft zwischen beiden, von der mehr oder weniger beide profitierten, hält wohl bis zum Tod. Tatsächlich verfolgt Tzschoppe indes noch ein eigenes wissenschaftliches Projekt. Er beabsichtigt, das Leben des Königs nachzuzeichnen. Tzschoppe gilt als großer Verehrer Friedrich Wilhelms III., wobei nicht bekannt ist, ob er jemals mit ihm persönlich zusammengetroffen ist. Der König jedenfalls scheint keine große Meinung von seinem Verehrer und eifrigen Beamten gehabt zu haben. Als 1835 sein langjähriger Kabinettsrat Daniel Ludwig Albrecht, der seit der Reformzeit zum engsten Umfeld Friedrich Wilhelms III. zählt, stirbt, wird Tzschoppe von Wittgenstein als Nachfolger empfohlen. Daraufhin sagte „Friedrich Wilhelm III. […] kein Wort, maß den Fürsten mit großen Blicken und ging aus dem Zimmer. Nachher hat der Fürst vom Könige noch manches über diesen Vorschlag hören müssen.“87 Als Grundlage seines historisch-wissenschaftlichen Projekts verfasst Tzschoppe „Annalen Königs Friedrich Wilhelms III. Maj.“ für die Jahre von 1797 bis 1823. Es ist nicht bekannt, ob dies ein Auftragswerk ist oder ob dazu eine persönliche Verständigung zwischen dem Autor und dem Dargestellten zustande gekommen ist. Eine

85

Gustav Adolf Tzschoppe/Gustav Adolf Stenzel, Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Einführung und Verbreitung deutscher Kolonisten und Rechte in Schlesien und der Oberlausitz, Hamburg 1832 (Umfang XVI und 656 S.). 86 K. G. W. Stenzel, Stenzels Leben (Anm. 17), 41. 87 F. W. v. Redern, Unter drei Königen (Anm. 56), 104.

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Korrespondenz dazu war nicht auffindbar. Immerhin hat der König an den Annalen wenige eigenhändige Marginalien angebracht88. Als Friedrich Wilhelm III. Anfang Juni 1840 stirbt, vermerkt Tzschoppe in seinen „Chronlogischen Notizen“: „Kein König ist bisher gestorben, welcher von seinem Volke so geliebt und so betrauert worden wäre.“89 IX. Sein Sohn und Nachfolger auf den Thron hat für Tzschoppe keine Verwendung. Unter der Regierung Friedrich Wilhelms IV. schwindet der Einfluss von Wittgenstein, Kamptz und auch Tzschoppe. Als Vorzeichen dafür kann ein Theaterabend im Königlichen Schauspielhaus zu Berlin gelten. Es war der letzte Lebensmonat von Friedrich Wilhelm III., als dort vor „vollem Hause, vor dem Könige, dem Kronprinzen, unter lebhaftem Beifall“ Karl Gutzkows Trauerspiel „Richard Savage“ gegeben wird. „Der Minister von Rochow und Herr von Tzschoppe“, notiert Varnhagen von Ense am 4. Mai 1840 in sein Tagebuch, „haben alles aufgeboten, um die Aufführung zu hintertreiben, oder wenigstens den Namen des Verfassers, als eines Mitgliedes des jungen Deutschlands, streichen zu lassen; aber beim Theater walten andere Mächte […]. So erlebt denn das junge Deutschland in Gutzkow hier jetzt einen Glanz und Sieg, den sich vor vier Jahren niemand träumen ließ.“ Im Publikum sitzen auch der König und der Kronprinz und verfolgen die Vorstellung, die „unter lebhaftem Beifall“ endet90. Der neue König macht aus seiner Abneigung gegen Tzschoppe keinen Hehl, was auch schnell bekannt wird. Aber auch noch im Jahr des Thronwechsels gilt Tzschoppe als ein hochrangiger Beamter, dessen Einfluss gefürchtet wird. So ist er weiterhin Direktor des Geheimen Staats- und Kabinettsarchivs und der gesamten Archivverwaltung und entscheidet über die Freigabe oder Verweigerung von Archivalien zur wissenschaftlichen Bearbeitung und Publikation. Selbst Alexander v. Humboldt, der Ende 1840 dem Ausschuss zur Herausgabe der Werke Friedrichs II. 88 BPH, Rep. 49, F Nr. 23. Tzschoppe vermerkte: „Original-Entwurf mit Allerhöchst eigenhändigen Bemerkungen“, was den Rückschluss auf Marginalien des Königs erklärt. – Ebd., Nr. 24 enthält eine Reinschrift der Annalen auch in Tzschoppes Handschrift. – Für die Jahre 1827 bis 1840 sind von ihm gefertigte „Chronologische Notizen“ überliefert, die vor allem Ereignisse der Politik und Diplomatie auch außerhalb Preußens und bei Hofe und nur wenige persönliche Mitteilungen, wie beispielsweise den Tod der Mutter, enthalten; vgl. VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 8. 89 VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 8, S. 120. – Ebenfalls dort beschreibt Tzschoppe, dass er am Sterbetag des Königs in seiner Eigenschaft als Direktor des Hausministeriums zum Protokollieren von Materialien in das Palais gerufen worden war, dort auch „die Leiche“ sah und „das Gesicht nicht entstellt, aber ungemein verändert [fand].“ VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 8, S. 111 f. – Tzschoppes Notizen brechen im September 1840 mit einer Bemerkung über die ständepolitische Erklärung Friedrich Wilhelms IV. an die preußischen Stände ab. 90 Tagebücher von K. A. Varnhagen von Ense, Bd. 1, Leipzig 1861, 174.

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beitritt, betrachtet als „das Schwierigste der Sache […] das Verhältnis des Königs zu F. Wittg[enstein] und dessen Tschop[pe]“.91 Tzschoppe erlebt die von Friedrich Wilhelm IV. erlassene Amnestie, die Einladung des Königs an die Brüder Grimm, sich in Preußen niederzulassen und die erste Zensurlockerung im Dezember 1841, wonach die preußische Presse kritisch, aber wohlwollend über Mißstände in der preußischen Verwaltung berichten solle92. Das alles muss ihm wie eine fremde Welt erscheinen, das ist nicht mehr „sein“ Preußen. Im Sommer 1841 kommt es noch einmal zu einer für ihn erfreulichen Begegnung. Während eines Aufenthaltes in Wien erhält er die Nachricht, „daß der Herr Fürst von Metternich mich, als einen alten Bekannten gern sehen würde“.93 In dessen Villa hat er am 6. Juli ein längeres Gespräch mit dem österreichischen Staatskanzler über die Situation in Preußen und Deutschland, wobei Metternich die Politik Friedrich Wilhelms IV. auch mit sorgenvoller Aufmerksamkeit beobachtet. Diese dreiviertel Stunde im Sommer 1841 bei Metternich, während er in Preußen mittlerweile quasi marginalisiert ist, zählt Tzschoppe „zu den ehrenvollsten Erinnerungen meines Lebens“94. Viel Zeit verbleibt ihm nicht mehr. Vielleicht auch deshalb bringt er das AnnalenProjekt nicht zu Ende. Ein von Wittgenstein 1841 erstelltes Psychogramm spricht über „Gedächtnisstörungen“, seine „beleidigte Eitelkeit“ nach öffentlichen Kränkungen, so dass zuletzt „ein wirklich kranker Seelenzustand“ eingetreten sei95. Gustav Adolph v. Tzschoppe stirbt am 16. September 1842 in Berlin.

91

Alexander v. Humboldt an August Böckh am 1. Dezember 1840, in: Alexander vom Humboldt – August Böckh. Briefwechsel (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 33), hrsg. v. Romy Werther unter Mitarbeit mit Eberhard Knobloch, Berlin 2011, 94 f. – Zur Ausgabe der Werke Friedrichs II. vgl. W. Neugebauer, Preußen in der Historiographie (Anm. 81), 20 f. (mit weiterer Literatur). 92 Kabinettsordre vom 10. Dezember 1841, gedr. in: B. Holtz, Preußens Zensurpraxis (Anm. 64), 652 f., dazu ebd. 69 – 71 und 82. 93 VI. HA, Nl Tzschoppe, Nr. 10, n. f. 94 Aufzeichnung Tzschoppes von seiner Begegnung mit Metternich, wohl vom 10. Juli 1841, in: ebd. 95 Wittgenstein an Tzschoppes Schwager am 3. Mai 1841, in: BPH, Rep. 192, II, 1, 7, zit. nach W. Siemann, Deutschlands Ruhe (Anm. 37), 196.

Ein Ehebruch, ein Kamelritt und ein Kronleuchter, oder: Das diplomatische Nachspiel der orientalischen Reise des Prinzen Albrecht von Preußen 1843 Von Samuel Wittwer, Potsdam Was haben ein Ehebruch, ein Kamelritt und ein Kronleuchter gemeinsam? Die Lösung liegt in einer geradezu schillernden Akte des Preußischen Geheimen Staatsarchivs in Berlin Dahlem verborgen. Ihr Titel „Die aus Anlass der Reise der Königl. Hoheit des Prinzen Albrecht von Preußen nach Egypten und Syrien ertheilten Orden und Geschenke“1 lässt kaum erahnen, was für politische Verwicklungen und menschliche Begierden sich in ihren 287 Folioseiten verbergen. Wie so oft wirft auch dieses scheinbar „trockene“ Aktenbündel beim Lesen ein buntes Licht auf historische Ereignisse und lässt neue Zusammenhänge erkennen. Die Rahmengeschichte zu dieser Akte beginnt im Sommer 1842 in Berlin. Im August brach eine Gruppe aus Wissenschaftlern und Hilfskräften um Richard Lepsius zu einer der wichtigsten Ägypten-Expeditionen ihrer Zeit auf, die letztlich die moderne Ägyptologie begründen sollte2. Besonders Alexander von Humboldt hatte sich beim preußischen König für das prestigeträchtige Vorhaben eingesetzt. Lepsius, der das Werk des zehn Jahre zuvor verstorbenen, französischen Forschers Jean-François Champollion weiterführte und dem der endgültige Durchbruch bei der Entzifferung der Hieroglyphen gelang, sollte so am Nil seine Studien vertiefen und auch weitere Exponate für das sich in Berlin gerade in Gründung befindende ägyptische Museum beschaffen. Dies obwohl der Zeitpunkt politisch gesehen nicht ganz so günstig war, hatte doch Preußen kurz zuvor durch den Viermächtevertrag vom 15. Juli 1840 zusammen mit Russland, Österreich und Großbritannien im Rahmen der Orientkrise dafür gesorgt, dass der ägyptische Vize-König Muhammad Ali das seit 1831 von ihm besetzte Heilige Land wieder räumen und seinen Traum eines vom Osmanischen Reich unabhängigen Ägypten aufgeben musste. Seine Allianz mit Frankreich war somit an derselben Koalition gescheitert, die schon 1814 Napoleon zu Fall gebracht hatte. Und Friedrich Wilhelm IV. konnte damit gleich zu Beginn seiner Regentschaft an einem außenpolitischen Erfolg teilhaben.

1

GStA PK, III HA, Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten, I Nr. 12686. Zur Expedition vgl. Dietrich Wildung, Preußen am Nil, Berlin 2002; Carl Richard Lepsius/Christina Hanus, Wegbereiter der Ägyptologie. Carl Richard Lepsius 1810 – 1884, Berlin 2010. 2

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Anders in seiner Familie. Denn ungefähr zur gleichen Zeit als der Aufbruch der Expedition in Berlin ein neues Interesse an Ägypten hervorrief, teilte ihm sein jüngster Bruder, Prinz Albrecht, mit, dass er sich von seiner Frau trennen werde. Seit der Hochzeit mit seiner Cousine Prinzessin Marianne von Oranien 1830 hatte sich das Paar mehr und mehr auseinander gelebt. Während sich der Prinz als Folge seiner Leidenschaft für Militär oft fern von Berlin aufhielt, wurden schon um 1840 erste Gerüchte über ein Verhältnis seiner Gattin zu ihrem Leibkutscher laut. Als in der Folge auch Albrecht unverhohlen der Tochter eines Generals den Hof machte, drohte die Situation zu eskalieren. Prinzessin Marianne bot ihrem Mann an, die Ehe noch pro forma zu erhalten, er aber musste sich seinem königlichen Bruder erklären und wünschte die Auflösung der Ehe. Ob es wirklich dazu kam, dass der Prinz beim Versuch, seine Frau in flagranti zu erwischen, einen Wachsoldaten tödlich verletzte, sei hier dahingestellt3. Jedenfalls riet Friedrich Wilhelm IV. angesichts dieser inzwischen stadtbekannten Ehekrise seinem Bruder, Berlin für einige Monate zu verlassen. Angeregt durch die aufkeimende Ägyptenbegeisterung begann der Prinz noch im Herbst 1842 eine Reise ins Land der Pharaonen und ins Heilige Land zu planen. Die Zeitungen hatten berichtet, wie am 15. Oktober die Lepsius-Expedition auf der Cheops-Pyramide zu Ehren des Geburtstags des Königs die preußische Fahne gehisst und anschließen über dem Eingang eine von Lepsius entworfene Inschrift zu Ehren Friedrich Wilhelms VI. eingemeißelt hatte – in Hieroglyphen natürlich. Zwei Quellen zur Ägyptenreise des Prinzen Albrecht waren bisher bekannt: einerseits die kurzen Erwähnungen im Reisetagebuch von Georg Erbkam, der Lepsius begleitete4, andererseits ein prächtiges Skizzenbuch „Album der Orientalischen Reise vom Februar–August 1843“ mit Texten der beiden Reisebegleiter Major von Cler und Leutnant Charles Reclam, einem Freund Albrechts, sowie mit Zeichnungen, die nach der Rückkehr Johannes Rabe auf Basis der Skizzen der beiden ausgeführte5. Die eingangs erwähnte Akte im Geheimen Staatsarchiv vermag nun die bisherigen Kenntnisse entscheidend zu ergänzen. Mit seiner kleinen Gefolgschaft schiffte sich der Prinz in Genua ein und erreichte am 25. Februar 1843 Alexandria. Mit von der Partie und im Skizzenbuch in Wort und Bild dargestellt waren neben den beiden Offizieren von Cler und Reclam: Sekretär 3 Gorch Pieken/Cornelia Kruse, Preußisches Liebesglück. Eine deutsche Familie aus Afrika, 2. Aufl. Berlin 2012, 12 – 17, hier auch die Erwähnung der tödlichen Verletzung, die auf mündlicher Überlieferung in der Familie Sabac el Cher beruht. 4 Georg Gustav Erbkam, Tagebuch meiner egyptischen Reise (1842 – 1845). Dauerleihgabe an das altägyptische Wörterbuch in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, transkribiert von Elke Freier, online unter: www.bbaw.de/telota/ressourcen/reisetage bucher-von-georg-gustav-erbkam. 5 Die Bleistift-Zeichnungen und Aquarelle sind jeweils mit den Initialen oder dem Namen Rabes und dem Hinweis, ob sie nach Reclam oder v. Cler ausgeführt wurden, signiert. Das „Album der Orientalischen Reise vom Februar-August 1843“ befindet sich heute in der Bibliothek des Deutschen Historischen Museums, Inv. Nr. Do 2001/28.

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Strömer, die beiden Lakaien Deubner und Scharnack, ein Koch namens Schwimmer und der Jäger Otto. Vor Ort kamen noch der „Dragoman Ibrahim“ sowie ein kleiner nubischer Junge dazu, der mit größter Wahrscheinlichkeit ein Geschenk Muhammad Alis war, das er dem preußischen Prinzen Anfang März im Rahmen der ersten Audienz in der Zitadelle von Kairo gemacht hatte. Der Junge machte später als August Albrecht Sabac El Cher Karriere im preußischen Militär6. Noch bevor das königliche Gefolge die Gruppe um Lepsius, die sich zu dieser Zeit ebenfalls in Kairo aufhielt, traf, reiste sie den Nil aufwärts in Richtung Assiut, der damaligen Hauptstadt Oberägyptens, die nach Einschätzung der Verfasser des Albums „so wie alle orientalischen Städte besser in der Entfernung als in der Nähe“ aussah7. Überhaupt scheint der erste Eindruck des Reiches der Pharaonen nicht den Erwartungen einer märchenhaft pittoresken Landschaft entsprochen zu haben. So fanden die Reisenden „die Ufer des unteren Nils weniger schön als […] erwartet“ und in Anbetracht der Hitze und des vielen Sandes erschien ihnen „das Elend der Bewohner […] unbeschreiblich“8. In Assiut schließlich erreichte die Stimmung bei der Besichtigung der Gräber oberhalb der Stadt einen Tiefpunkt: „Vor den Eingängen liegen eine Menge auseinandergerissener Mumien und halber Leichname. Es macht unserem Jahrhundert eben keine Ehre, dass diese Leichen welche Jahrtausende lang friedlich geruht, und welche selbst alle wilden Eroberer Egyptens verschont hatten jetzt so entheiligt werden. Dies geschieht in der Hoffnung eine Thonpuppe oder einen gläsernen Scarabäen zu finden. Die Leute nennen es wissenschaftliches Streben, Wissbegier; meist ist es eitle Neugier und häufiger noch Geldgier, denn es wird mit Allem Schacher getrieben.“9 In einem Ort südlich von Monfalut wurden die Männer gebeten, sie „mögten doch bei dem Harem [des Gouverneurs von Oberägypten, Anm. d. Verf.] vorüber gehen, weil sie [die Frauen] nie Europäer gesehen hätten – ob ihnen dieses Glück zu Theil geworden, haben wir nicht erfahren“.10 In der Nähe von Assuan jagte die preußische Reisegesellschaft erfolglos Krokodile vom Dampfschiff aus, das ihnen der Vize-König für die Reise zwischen Kairo und den Katarakten zur Verfügung gestellt hatte, der Lärm des Bootes vertrieb aber die Beute (Abb. 1). Nach Besichtigung der Insel Elephantine erreichte man schließlich die Grenze zu Nubien. Dort heiterte sich die Stimmung jenseits der 2. Katarakten des Nils in Anbetracht der Anlagen von Abu Simbel und der Insel Philae merklich auf, die Beschreibungen im Album vermitteln die Begeisterung. Bei der Rückkehr nach Kairo ließ es sich Prinz Albrecht im Übermut nicht nehmen, mit einem Boot durch die ersten Katarakten zu fahren, obwohl die Einheimischen vor dem Niedrigwasser warnten und nur mit Bestechung bereit waren, den Preußen das Abenteuer zu ermöglichen. Mit Glück kamen sie durch und am 4. April traf der Prinz wieder in 6

Zur Geschichte des Jungen vgl. G. Pieken/C. Kruse, Preußisches Liebesglück (Anm. 3). Im Album (Anm. 5), o. S., Beschreibung von „Syuth“ [= Assiut]. 8 Im Album (Anm. 5), o. S., Beschreibungen der Dörfer Terraneh und Gizaneh. 9 Im Album (Anm. 5), o. S., Beschreibung von „Syuth“ [= Assiut]. 10 Im Album (Anm. 5), o. S., Beschreibung von „Girgheh“. 7

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Abb.1: ,Dorf in Ober-Egypten‘ aus dem Album der Orientalischen Reise 1843, Zeichnung mit Darstellung des Dampfschiffes des Vize-Königs unter preußischer und osmanischer Flagge, Johannes Rabe nach einer Skizze von Charles Reclam (DHM)

Kairo ein. Nun war der Zeitpunkt da, die preußische Ägypten-Expedition zu treffen und „obwohl Leps[ius] heut sehr unwohl ist, muß er sich entschließen“ beim Bruder des Förderers seiner Expedition vorstellig zu werden11. Man einigte sich drauf, am 7. April gemeinsam nach Gizeh und Sakkara zu reiten. Georg Erbkam beschrieb den sechzehn Stunden dauernden Ausflug im Detail12. Nicht auf Pferden oder Kamelen, sondern auf Eseln ritt die Gesellschaft zunächst zur großen Cheopspyramide. Im Innern der Grabkammer wurde „Heil Dir im Siegerkranz“ gesungen und nach einem Toast auf den König besichtigte man außen die von Lepsius entworfene Inschrift über dem Eingang. Auch die umliegenden Sehenswürdigkeiten, das von der deutschen Expedition entdeckte Grab des Prinzen Merhet – in dem Lespius zunächst „einen eindringlichen Engländer“ verscheuchen musste – und die Sphinx zeigten die Forscher dem interessierten Prinzen, bevor sich ein Teil der Gruppe zu den Gräbern und Stufenpyramiden von Sakkara begab (Abb. 2). Hier war von den Forschern für den Prinzen ein Speisezelt aufgebaut worden, in dem sich die Mitglieder der wissenschaftlichen Expedition und der prinzlichen Lustreise gemeinsam niederließen, was Erbkam mit den Worten festhielt: „Es kam mir romanhaft vor, mit einem Prinzen so eng u[nd] familiär an einer Tafel zu sitzen, zu plaudern u[nd] zu rauchen.“13 11 Vgl. G.-G. Erbkam, Tagebuch meiner egyptischen Reise (Anm. 4), Eintrag vom 4. 4. 1843. 12 Ebd., Eintrag vom 7. 4. 1843. 13 Ebd.

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Abb. 2: ,Anzug in der Wüste‘ aus dem Album der Orientalischen Reise 1843, Aquarell mit Darstellung des Prinzen Albrecht am 7. April 184314 in Sakkara, Johannes Rabe nach einer Skizze von Charles Reclam (DHM)

Prinz Albrecht verbrachte noch zehn Tage in Kairo, besuchte den Nilmesser, einige Moscheen (Abb. 3), die Kolossalstatue von Ramses in Memphis und andere Sehenswürdigkeiten, bevor er mit seinem Gefolge am 17. April in Richtung Heiliges Land aufbrach. Vize-König Muhammad Ali stellte ihm für die Reise durch die Wüste Sinai eines seiner königlichen, weißen Dromedare zur Verfügung. Die Karawane zog über Suez, Chan Yunis (Abb. 4) nach Gaza, wo der Prinz am 25. April außerhalb der Stadt Zelte aufschlagen lassen wollte, um die übliche Quarantäne abzuwarten, doch „als wir ankamen erklärte man uns, unsere Quarantaine sei bereits seit 24 Stunden abgelaufen. Mit mehr Aufmerksamkeit kann man nicht behandelt werden!“15 Nach dem Besuch des Grabes von Samson machte sich die Reisegruppe am nächsten Tag auf, um über Ramla nach Jerusalem zu gelangen. Hier setzt nun die eingangs erwähnte Akte des Staatsarchivs ein, indem sie mit einem langen Bericht des preußischen Generalkonsuls Louis von Wildenbruch aus Beirut beginnt, der am 31. Mai, einen Tag nach Abreise der prinzlichen Reisegruppe, 14

Im zugehörigen Text des Albums fälschlicherweise mit 1842 datiert. Im Album (Anm. 5), o. S., Beschreibung von Gaza; die Abkürzung der Quarantäne hatte der Gouverneur von Palaestina, Mohammed Reschid Pascha, erwirkt, vgl. GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 1r. 15

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Abb. 3: ,Eine Moschee in Kairo‘, Aquarell mit Ansicht des Hofes der Sultan Hassan Moschee, Johannes Rabe 1847 (SPSG)

eine Zusammenfassung von deren Aktivitäten in Palästina und Syrien verfasste, die im Folgenden als Basis der Reiseschilderung dient16. Der preußische Vize-Konsul in Jerusalem, Dr. Schulz, ritt Abrecht fünf Stunden entgegen und man entschied sich, noch außerhalb der Stadt zu übernachten, um am nächsten Morgen, dem 30. April, bei Tageslicht in die Heilige Stadt einzuziehen. Dort gelang es durch die „gütige Vermittlung des gerade in Jerusalem anwesenden Kaiserl. Rußischen Consuls Herren Basily“17 in einem Haus eines orthodoxen Klosters eine akzeptable Unterkunft zu finden. Auf dem Besichtigungsprogramm standen auch hier die allgemeinen Sehenswürdigkeiten, besonders natürlich die biblischen Stätten. Gleich am ersten Tag wollte der Prinz das Heilige Grab besuchen, traf sich aber auch mit dem evangelischen Bischof des zwei Jahre zuvor gegründeten preußisch-britischen Bistums Jerusalem, Michael Salomo Alexander, sowie mit Vertretern der orthodoxen Geistlichkeit und dem Gouverneur. Auch der Besuch von Bethlehem stand auf dem Programm und während eines zweitägigen Ausfluges nach Jericho und dem Toten Meer ritten der Prinz und seine Begleiter den Jordan hinauf, „in welchem wir an derselben Stelle ba16 17

GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 1r-3v. Ebd., fol. 1r.

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Abb. 4: ,Bivak bei Chan Junish‘, Aquarell mit Darstellung der Reisegesellschaft, dem Jungen August Albrecht Sabac El Cher und dem weißen Dromedar des Vize-Königs, Johannes Rabe nach einer Skizze von Charles Reclam (DHM)

deten wo, nach der Tradition, der heilige Johannes den Heiland taufte“18. Ironisch kommentierte Reclam dieses Bad weiter: „Keine Kritik, Ihr Herren Gelehrten: wer nach Palästina zieht muss vor Allem gläubigen Herzens sein!“ Am 8. Mai ging die große Reise weiter. Ursprünglich wollte Albrecht durch das Innere des Landes nach Norden bis Damaskus. Auf Vermittlung des britischen Konsuls Young bot jedoch der Kommandant Walpole dem Prinzen die englische Dampffregatte „The Geyser“ an, die wenige Tage zuvor den Hafen von Jaffa erreicht hatte. Diese großzügige Geste nahm die preußische Reisegruppe gerne an, ritt daher an die Küste, übernachtete im Haus des preußischen Konsuls (Abb. 5), schiffte am nächsten Tag ein und erreichte so bequem Haifa. Von hier aus startete am 11. Mai eine erneute Exkursion ins Landesinnere, die nach Nazareth mit seinen biblischen Stellen, den See Genezareth und einen Tag später schließlich auf den Berg Tabor und nach Kanaa führte. Zur Übernachtung musste die Gruppe allerdings mit Zelten Vorlieb nehmen, weil die zum Nächtigen geeigneten Gebäude bei den Bädern von Tiberias durch den Harem des Paschas von St. Jean d’Acre belegt waren. Zurück in Haifa19 wurde die Fregatte wieder unter Dampf gesetzt und fuhr am 15. Mai in den Hafen von Beirut ein – trotz Inkognito im Lärm von 84 Salutschüssen, die zu gleichen Teilen von einem englischen, einem französischen und einem österreichischen Boot sowie den 18

Im Album (Anm. 5), o. S., Beschreibung des Jordantal. Bzw. in Akkon („St. Jean d’Acre“) an der Bucht von Haifa, wo das Schiff vor Anker gegangen war. 19

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türkischen Landbatterien abgefeuert wurden. Von diesem „freundlichen Miteinander“ der Nationen zeigte sich Albrecht beeindruckt und ließ sich mehrfach einladen. Inwieweit er sich bewusst war, dass er sich hier als Bruder des preußischen Königs auf heiklem diplomatischem Parkett europäischer Großmächte bewegte, ist schwer zu sagen, sein Begleiter von Cler fand es aber wichtig in seinem Bericht zu betonen, dass dem Prinzen viele Leistungen regelrecht aufgedrängt worden seien.20

Abb. 5: ,Ansicht aus dem Hause des Preußischen Consular Agenten Murad auf Jaffa‘ aus dem Album der Orientalischen Reise 1843, Zeichnung von Johannes Rabe nach einer Skizze von Charles Reclam (DHM)

Im Gegensatz zu Jerusalem fiel die Unterkunft in Beirut bescheidener aus: In Ermangelung eines anderen Quartiers logierte der Prinz im Haus des preußischen Generalkonsuls von Wildenbruch, wovon ein amüsanter Brief von dessen Gattin an eine Freundin einen Eindruck gibt: „Du kannst denken, dass es kein Spaß ist in hiesigen Häusern und Verhältnissen, einen Prinzen doch einigermaßen seinen heimatlichen Gewohnheiten gemäß aufzunehmen. Ich gebe ihm unser Schlafzimmer, mein Kabinett zum Schreiben und unseren Salon zum Empfangen. Unseren offenen Diwan ließen wir überdecken, um dort zu essen, denn unser jetziges Esszimmer ist so klein, dass wir nicht mehr als acht Personen darin platzieren können. Wir werden indes in einem Bedientenzimmer unten schlafen.“21 So kam der Prinz in den Genuss west20

GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 11r-16v. Ernestine von Wildenbruch am 30. April an ihre Freundin Massilissa von Boguslawski, vgl. Die Briefe der Ernestine von Wildenbruch, in: Aus der preussischen Hof- und diplomatischen Gesellschaft, hrsg. von Albert von Bogulawski, Stuttgart/Berlin 1903, 176. Hier zitiert nach G. Pieken/C. Kruse, Preußisches Liebesglück (Anm. 3), 52. 21

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licher Wohngewohnheiten, denn hätte er die Einladung des Paschas angenommen, so wäre dies wohl „ein echtes Gaudium gewesen für Prinz Albrecht, so ohne Tisch und Stuhl, auf der Erde zu essen und zu schlafen“22. Aus Beirut erfolgte nun der durch den Gouverneur von Syrien organisierte Ausflug nach Damaskus, wo der Prinz das Inkognito, „welches man der etwas zum Steinewerfen geneigten Bevölkerung wegen zweckmäßiger gefunden hatte“,23 ablegen konnte. Auf Vermittlung des Gouverneurs stand Albrecht bereits unterwegs ein prächtiges Zelt zur Verfügung, so dass er erfahren konnte, „dass die alte Sitte der Türken: alles was sie thun mit einer gewissen Majestät u geschmackvollen Grandezza vorzuführen unter ihm nicht erloschen sei; u dass auch Assaad Pacha den Befehl seines Souverains [des Sultans; Anm. d. Verf.], den Bruder seines hohen Alliirten standesmäßig zu empfangen wohl verstanden hatte“.24 Der Einzug des preußischen Prinzen in die Stadt erfolgte dann in allen Ehren und mit „altorientalischer Pracht […]. Das himmlische, über alle Beschreibung schön gelegene und poetische Damaskus soll ordentlich pompös gewesen sein, belebt durch eine neugierige jubelnde Menge; der Zug selbst vom Pascha begleitet, von Militär eskortiert, während von den Forts die Kanonen donnerten.“25 Auf erneute Vermittlung des Gouverneurs bezog die Reisegruppe ein palastähnliches Haus zu einem Fünftel der eigentlichen Miete, von dessen Pracht zwei Aquarelle aus einer ganzen Folge orientalischer Ansichten zeugen, die Johannes Rabe mehrere Jahre nach der Reise auf Basis der Skizzen von Reclam erstellte (Abb. 6)26. Am 25. Mai verließ der Prinz die Stadt im Gefühl, einen Triumph erlebt zu haben – so zumindest der Eindruck von Wildenstein – und kehrte nach Beirut zurück, stets beobachtet vom britischen Generalkonsul Rose und dem russischen Konsul Basily. Fünf Tage später verließ die Reisegesellschaft Syrien und trat an Bord von „The Geyser“ die erste Etappe der Rückreise an. Über Smyrna (heute: Izmir) ging die Fahrt durch die Dardanellen und weiter nach Kamareis, wo sich die Reisenden auf der Grenze zwischen Asien und Europa ein Bad gönnten, und schließlich nach Konstantinopel. Dort verließ man das Schiff und nahm den beschwerlicheren Landweg über Athen und Wien in Angriff, bevor die Orientreise des Prinzen Albrecht im August 1843 in Berlin zu Ende ging. Der lange Bericht über den Reiseverlauf, den der preußische Generalkonsul in Syrien, Wildenbruch, am 31. Mai 1843 für das Ministerium für Auswärtige Angelegen22

Ebd., 51. Ebd., 51. 24 So Wildenbruch in seinem Bericht, vgl. Anm. 27, hier fol. 4v. 25 Ernestine von Wildenbruch, Anm. 21, hier 52. 26 Vier Blätter der Folge befinden sich heute in der Graphischen Sammlung der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg: Die große Moschee von Kairo (Inv. Nr. GK II (5) 2529, hier Abb. 3), der Kiosk des Palastes in Schubra (Inv. Nr. GK II (5) 2560, hier Abb. 11) und zwei Ansichten des Hauses in Damaskus (die hier abgebildete mit Inv. Nr. GK II (5) 2530). 23

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Abb. 6: ,Ein Haus in Damascus‘, Aquarell der Unterkunft des Prinzen Albrecht mit dem Jungen August Albrecht Sabac El Cher, Johannes Rabe 1847 (SPSG)

heiten in Berlin verfasste, hebt bereits das besondere Engagement der Engländer und des preußischen Vize-Konsuls in Jerusalem hervor27. Besonders angetan war er von der Unterstützung eines Kaufmanns namens Piciotto, der ihm in Damaskus half, die Unterkunft für den Prinzen nach europäischen Standards zu möblieren: „Die Schwierigkeiten zu Beschaffung europäischer Bedürfnisse (ich nenne nur Stühle, Tische, Bettstellen) sind in Damascus unendlich, die Kosten sehr bedeutend“. Nach seiner Einschätzung sei dieser Kaufmann in Syrien der geeignetste Mann, um „den unzweifelhaft höchst vortheilhaften Absatz preußischer Producte zu organisieren“.28 Bezüglich seiner Wünsche viel direkter wandte sich dagegen Prinz Albrecht an das Ministerium, indem er nach seiner Rückkehr nach Berlin über seinen Reisebegleiter Major von Cler dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Heinrich von Bülow, eine Namensliste zukommen ließ, die zugleich Vorschläge für Geschenke enthält: „Im Auftrage Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Albrecht von Preußen, habe ich die Ehre Eurer Excellenz nachstehend einige Notizen zu überreichen, welche diejenigen Personen betreffen, deren Seine Königliche Hoheit, während der 27 28

Der Bericht in GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 1r-7v. GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 9v.

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eben zurückgelegten Reise, Sich besonders zu belobigen Gelegenheit gehabt haben.“29 Obwohl Albrecht mit keiner offiziellen Mission betraut gewesen war, sondern die Reise aus privaten Gründen unternommen hatte, bat er nun über den Umweg der staatlichen Behörden seinen Bruder, den König, um Gegengaben und Auszeichnungen, die er als Prinz gar nicht zu leisten im Stande war. Deutlich geht aus den nachfolgenden Vorgängen hervor, dass der Prinz nicht mit dem großen Interesse an seiner Person und den daraus resultierenden Sonderleistungen gerechnet hatte, was in Anbetracht der unmittelbaren politischen Vorgeschichte reichlich naiv war: als Bruder des preußischen Königs, der gerade ein Jahr zuvor gemeinsam mit dem befreundeten, englischen Prinzregenten ein evangelischen Bistum in Jerusalem initiiert hatte, und als Schwager des russischen Zaren befand sich der Prinz in einem direkten Beziehungsgeflecht, das im Nachklang der Orientkrise für die damaligen Gewinner und für die Verlierer attraktiv sein musste. Ohne es zu beabsichtigen war Albrecht durch seine Reiseroute nicht nur an die Wirkungsstätten der Pharaonen und in das Land der Bibel, sondern auch mitten auf das diplomatische Parkett der europäischen Großmächte geraten. Dies spiegelt auch jene Liste der Personen, bei denen es abzuwägen galt, ob ein persönliches Dankeszeichen des Prinzen oder aber eine Auszeichnung durch den preußischen Staat die richtige Reaktion sei. Die von Major von Cler verfasste Aufzählung beginnt mit dem Gouverneur von Syrien, Esaad Pascha, der 1841 nach der Vertreibung der ägyptischen Besatzung durch die Alliierten als türkischer Statthalter eingesetzt worden war. Er hatte, wie wir sahen, unter anderem auch die Reise nach Damaskus organisiert. „Dem Pascha sind dadurch mehre Kosten erwachsen, deren Erstattung an Ort und Stelle nicht thunlich war“, weshalb „ein gnädiges Geschenk Seiner Majestät des Königs – etwa in einer Porzellanvase bestehend – […] den alten Pascha glücklich machen“ würde30. Für die englischen Militärs dagegen kamen keine materiellen Wertgeschenke in Frage, weshalb sich hier Orden besonders anboten. Albrecht ließ denn auch folgende Vorschläge machen: „Captain William Walpole, Senior Officer und Commandant der Engl. Seestation an der Küste von Syrien (Rang eines Obersten)“, der die Erlaubnis zur Benutzung der Dampffregatte gab und den Prinzen empfing, einen Roten Adlerorden 2. Klasse, während der Kommandant des Schiffes, Carpenter, den Orden in der 3. Klasse erhalten sollte. Zudem hatte Albrecht die Absicht, der restlichen Besatzung der Fregatte eine goldene Tabatière aus eigenem Budget zu geben. Auch das diplomatische Corps im Heiligen Land sollte mit Orden bedacht werden. Sowohl „Herr Basily, Kaiserl. Russischer Consul in Beiruth“ als auch „Oberst Rose, Englischer General Consul in Beiruth“ und „Herr Young, Englischer Consul in Jerusalem“ sollten den Orden in 3. Klasse erhalten. Bei letzterem, der verschiedene Tagesausflüge des Prinzen von Haifa aus organisiert hatte, betont von Cler überdies: „Als bemerkenswerth glaube ich hinzufügen zu müssen, dass Hr Young wiederholt 29 GStA PK, III HA , I Nr. 12686, Schreiben von Cler an von Bülow vom 23. 8. 1843, fol. 11v-16v. 30 GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 11v.

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während dieser Reisen gegen mich geäußert hat: Syrien sey unter den heutigen Umständen ein Land, welches eine gesunde Europäische Politik, für die Zukunft, blos Preußen zugedenken könne“,31 als wollte er mit dieser kleinen Schmeichelei die Befürwortung des Anliegens des Prinzen befördern. Auch einige Personen, denen Albrecht auf seiner Rückreise begegnete, sollten bedacht werden, so etwa „Fürst Bibesko, Hospodar der Wallachey, in Bucharest“, der den Prinzen trotz Inkognito mit Ehren empfangen hatte und – dies schien von Cler besonders wichtig anzumerken – zu den ersten Familien des Landes gehöre. Als Fürst sollte er den Roten Adlerorden 1. Klasse erhalten, während er „le Vicomte de Grammont, Oberst und Hofmarschall des Hospodars“ und dem „Logothet (Polizeypräfekt) J. Mano, in Bucharest“ in der 3. Klasse und „Rittmeister Bibesko, Neffe des Hospodars“ in der 4. Klasse verliehen werden sollte. Der Prinz schlug aber vor, zusätzlich Grammont ein Geschenk für 100 und dem Rittmeister eines für 50 Friedrich d’Or dazuzugeben. Der „K.K. Öster: Feldmarschall-Lieutnant, Graf Hardegg“, der die Besichtigung der Gestüte in Ungarn organisiert hatte, wird auf der Liste zwar mit seinem Verdienst genannt, an Stelle eines Geschenks oder Ordens steht jedoch nur ein „?“. Das preußische Personal, dessen Hilfe der Prinz in Anspruch nahm, sollte ebenso belohnt werden, wenngleich deutlich bescheidener. Für die beiden General-Konsule von Ägypten und Syrien, Wagner und Wildenbruch, schlägt die Liste Beförderungen vor. Der Vize-Konsul Schulz in Jerusalem, der ohne Vermögen sei, hatte das Pech, das ihm im Biwak von Jericho „sein werthvolles Pferd verschlagen [wurde]. Dasselbe wird aller Wahrscheinlichkeit nach unbrauchbar bleiben“, weshalb um eine Entschädigung dafür gebeten wird. „Hr Bosiowitsch, 2ter Dragoner bei der Köngl. Gesandtschaft in Constantinopel“ und „Hr Colomb, 3ter Dragoner“ möchte der Prinz ein Dankesschreiben und kleinere Geschenke senden, ebenso „Hr Murad, Preußischer Consular-Agent in Jaffa“ irgendein kleines Andenken für das Frühstück, was er sich dennoch dem Ministerium im Rahmen der Aufzählung anzuzeigen verpflichtet fühlte. Der „Bon. Sakellario, Königl. Consul in Bucharest“, der sich für die Abkürzung der Quarantäne eingesetzt habe, trage zudem bereits den Roten Adlerorden 4. Klasse. Bei all diesen offiziellen und persönlichen Gaben handelte es sich um präzise hierarchisch abgestufte Vorschläge. Nur einer sollte besonders hervorgehoben werden, und dies war der ägyptische Vize-König Muhammad Ali, der zwei Jahre zuvor durch das Einwirken der Alliierten seinen Traum von einer unabhängigen Großmacht Ägypten hatte aufgeben müssen, jedoch sowohl der preußischen Forschungsexpedition als auch dem Prinzen gegenüber sehr wohlwollend begegnet war. Einige Porzellanvasen, die Lepsius ihm als Geschenk des preußischen Königs mitgebracht hatte, hatten ihn sehr erfreut, so dass es nun angebracht schien, den ehemaligen Gegner und

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GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 13r.

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Verbündeten Frankreichs mit einer signifikanten Gabe noch weiter zu beeinflussen32. Der äußere Anlass schien durch die bevorstehende politische Mission des preußischen Gesandten im Osmanischen Reich nach Kairo ideal, so dass von Cler den Vorschlag in der Liste folgendermaßen formulierte: „Graf A. Pourtalès, Königlicher Gesandtschafts-Secretair in Constantinopel, beabsichtigt, eine Reise nach Egypten zu machen. Se Königl. Hoheit unterstützt deßen Wunsch, bei dieser Gelegenheit die etwaigen Geschenke Seiner Majestät des Königs an Mehemet Ali überbringen zu dürfen. Der Vicekönig hat sich während der Anwesenheit Sr. Königl. Hoheit in Egypten besonders zuvorkommend gezeigt. Er hat unter anderen, behufs der Nilreise, ein Dampfboot bis zu den 1ten Cataracten zu Höchstdeßen disposition gesetzt. Die ihm daraus erwachsenen Kosten mögen sich auf etwa 12 bis 1500 Thaler belaufen. Er hat ebenfalls zur Reise von Cairo über Suez durch die Wüste eines seiner eigenen Dromedare für Se. Königl. Hoheit gestellt.“33 Deshalb schlägt er vor: „Willkommene Geschenke für Mehemet Ali würden seyn: Etwa ein Kronenleuchter mit farbigen Glasaufsätzen, ein Dessert-Service von bunten Glase oder schöne Stoffe zu Vorhängen und diwan-Ueberzüge.“ Damit war der Rahmen gesetzt und aus der Vergnügungsreise eines preußischen Prinzen wurde endgültig eine Angelegenheit der preußischen Orientpolitik. Von Bülow fasste die Vorschläge für den König zusammen34, berücksichtigte auch nachträgliche Wünsche des Prinzen35 und trug schließlich beim Vortrag an Friedrich Wilhelm IV. einen kleinen Notizzettel bei sich, auf dem er sich auch die Entscheidungen des Königs notierte (Abb. 7), die er am 3. September an von Cler weitergab36. Mit den Orden an den Fürsten Bibesko und seine Untergebenen Grammont, Mano und den Rittmeister war der König einverstanden und sie wurden kurz darauf von der preußischen Ordenskommission dem Ministerium zur Verteilung zugestellt37. Ebenso gestattete Friedrich Wilhelm IV. das persönliche Geschenk des Prinzen an die Mannschaft des Schiffes und zeigte sich bereit, den englischen Offizieren Walpole und Carpenter sowie Generalkonsul Rose die Auszeichnungen zu verleihen, bat aber zuvor abzuklären, ob die britische Regierung ihnen die Annahme des Ordens auch erlauben würde. Von Bülow wandte sich deshalb an den preußischen Gesandten 32 Zu einer der Vasen vgl. Samuel Wittwer, Raffinesse & Eleganz. Königliche Porzellane des frühen 19. Jahrhunderts aus einer amerikanischen Privatsammlung, Ausst. Kat. hrsg. von Richard Baron Cohen und der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, München 2007, 89 und Abb. 106/107. 33 GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 14v-15r. 34 GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 18r-21v. 35 Albrecht bat in einer Ergänzung zum Schreiben des Majors von Cler an von Bülow darum, den Grafen Hardegg und Fürst Bibesko etwas mehr hervorzuheben und ihm mitzuteilen, ob der König mit den Orden für Grammond und den Rittmeister einverstanden sei, oder ob er statt dessen seine persönlichen Geschenke (er nennt Ringe und Tabatièren) in einem Wert von 600 und 300 Talern machen soll; GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 22r. 36 GStA PK, III HA, I Nr. 12686, der Handzettel fol. 26r, das Schreiben an Cler fol. 27r36v. 37 GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 47r.

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in London, von Bunsen, der ihm kurz darauf mitteilen musste, dass Engländer fremde Orden – selbst wenn es die Friedensklasse des königlichen Verdienstordens wäre – ohne Spezialbewilligung der Regierung nur für „Services before the enemy in the field“ annehmen dürften38. Da Bunsen zudem die Ausnahmen der letzten Jahre auflistete und stellvertretend die komplizierten Verstrickungen nannte, die eine solche Ordensverleihung des Zaren nach sich gezogen hatte, ließ schließlich Friedrich Wilhelm IV. seinem Außenminister mitteilen, dass S.M. „es eigentlich doch nicht ganz geeignet finden, denselben solche Geschenke zu machen“ und er möchte mit von Bülow in der nächsten Rücksprache darüber reden39. In seinem Antwortschreiben an von Cler musste von Bülow zudem eingestehen, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, den König zu einem Orden für Young zu bewegen, der ebenso wie Basily leer ausgehen solle, und was den Grafen Hardegg beträfe, so werde die preußische Gesandtschaft in Wien beim dortigen Cabinet den Dank für die Leistungen ausdrücken. Auch der Beförderung von Wildenbruch wollte der König nicht zustimmen und schlug stattdessen den „Roten Johanniterorden“ vor40. Soweit wäre die Geschichte der politischen Nachbereitung der Reise von Prinz Albrecht zwei Monate nach dessen Rückkehr eigentlich abgeschlossen gewesen – wenn nicht Friedrich Wilhelm IV. auch den beiden Sachgeschenken für den VizeKönig von Ägypten und den Gouverneur von Syrien zugestimmt hätte. Er konnte nicht wissen, dass daraus eine Geschichte erwachsen würde, die sein Ministerium noch mehrere Jahre beschäftigen würde. Zunächst wandte sich das mit königlichen Geschenken im Allgemeinen beauftragte Hofmarschallamt bezüglich der Porzellanvase für Esaad Pascha über das Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten an den Direktor der Königlichen Porzellan-Manufaktur George Frick, und erhielt nach einer guten Woche am 12. September bereits repräsentative Entwürfe: „[Ich] beehre […] mich in Folge des mir zu theil gewordenen Auftrages beikommend zwei Zeichnungen No 1 und No 2, Entwürfe zu den für den Gouverneur von Syrien Esaad Pascha, von seiner Majestät des Königs, meine Herren, bestimmten Porzellan-Vase, zur allerhöchsten Auswahl und Genehmigung, ganz gehorsamst zu überreichen“41 (Abb. 8). Die Vase werde zwischen 600 und 650 Taler kosten. Obwohl von Bülow darum bat, mit der Herstellung der Vase noch so lange zu warten, bis die Kosten und der Zeitrahmen für den Kronleuchter nach Ägypten klar seien, entschied der König schon bald zwischen den beiden 38 Bülow an Bunsen 3. Sept. 1843: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 36v, Bunsen an Bülow 14. September 1843: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 55 ff. 39 An Bülow, 3. Oktober 1843: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 64r. 40 Schreiben des königlichen Sekretärs an von Bülow vom 7. September 1843: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 38r; der Orden wird aber erst ein halbes Jahr später, am 7. März 1844 von der Ordenskommission an Bülow geschickt und am 12. März nach Beirut abgesandt, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 103r-104r. 41 Frick an Bülow 12. September 1843: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 65r.

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Abb. 7: Handzettel des Ministers von Bülow mit Vorschlägen zu Geschenken, Anfang September, 1843 (GStA)

Entwürfen, so dass die Version Nr. 2 am 6. Oktober wieder an die KPM kam, verbunden mit dem Hinweis, dass die Ausführung nur drei Monate in Anspruch nehmen dürfe und dass sich der Minister danach die Zeichnung zu den Akten zurück erbitte42. Dieser Wunsch störte aber den üblichen, preußischen Verwaltungsgang in solchen Angelegenheiten, denn als die Fertigstellung genau drei Monate später gemeldet und um Begutachtung durch den Minister und Angaben zum Adressaten gebeten wurde, schrieb Frick: „Euer Hochfreiherrliche Excellenz haben in Ihrer verehrlichen Verfügung vom 6ten Oktober d. J. die Zurücksendung der Zeichnung verlangt, nach welcher die Vase angefertigt worden, ich bedaure aber dem Befehle nicht Folge leis42

Bülow an Frick 6. Oktober 1843: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 66r.

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ten zu können, weil diese Zeichnung in das Inventarium der Zeichnungen, Kupferstiche und Gemälde bei der Königlichen Porzellan Manufaktur eingegangen ist und ich in Verwicklungen mit der Königlichen Ober Rechnungs-Kammer kommen dürfte. Aus demselben Grunde muß ich auch mir erlauben um Zurücksendung der früher eingereichten, noch dort befindlichen Vasenzeichnung No 1 ganz gehorsamst zu bitten.“43 Dies wiederum scheint dem Minister nicht gefallen zu haben, denn bis heute befindet sich im KPM-Archiv tatsächlich nur der Entwurf Nr. 2, während der erste in den Unterlagen des preußischen Außenministeriums ein bisher unbekanntes Schicksal erlitt44. Dennoch sollte der Gouverneur auf sein Geschenk noch warten müssen, denn es war beabsichtigt, die Vase gleichzeitig mit dem Kronleuchter zu versenden, der jedoch – wie wir noch sehen werden – mit so großer Verspätung erst im Frühjahr 1844 fertig wurde, dass die Beteiligten in Anbetracht der märchenhaften Pracht der beiden Geschenke das Ministerium Ende Mai baten, die Werke zunächst auf der mit Spannung erwarteten ersten Allgemeinen Deutschen Gewerbe-Ausstellung zeigen zu dürfen, die vom 15. August bis Ende Oktober in Berlin geplant war45 (Abb. 9). Zunächst hatte das Ministerium nicht zuletzt in Anbetracht des hohen Alters des Vize-Königs um Beeilung bei der Herstellung des Leuchters gebeten, nun aber erlag man dem Reiz, die exotischen Gaben und damit auch die Geschenk-Geste des Königs öffentlichkeitswirksam und zur Werbung für die Unternehmen nutzen zu können46. Dieser Stolz hatte seinen Preis: Als gegen Ende der Ausstellung die KPM endlich die Rechnung stellen konnte47 und die Vase nach Beirut zu Händen des preußischen Generalkonsuls Wildenbruch verschickt wurde, musste dieser vermelden, dass der Empfänger zwei Tage vor Eintreffen des Geschenks abgesetzt worden sei: „Leider fiel die Ankunft dieses Gnadenzeichens mit des Empfängers Entsetzung von demjenigen Amte zusammen, welches er zum Wohle der Bevölkerung seit mehr denn 2 Jahren verwaltet hatte. Eine zwei Tage früher eintreffende Regierungs-Dankschrift kündigte 43

Frick an Bülow, 4. Januar 1844: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 99r-100r. SPSG, KPM-Archiv (Land Berlin), Mappe 146, Nr. 148. 45 Reden an Bülow bzgl. der Vase, 27. Mai 1844, und Hengstmann an Bülow bzgl. des Leuchters, 29. Mai 1844: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 114r-115v. 46 Nachdem der Minister Reden überzeugend darlegen konnten, dass auch noch Anfang November keine Schwierigkeit bestehen werde, die Geschenke an den Bestimmungsort zu liefern (außer der direkten Dampfbootverbindung von Triest nach Alexandrien führten demnach auch zwei indirekte Verbindungen über Athen und über Syra ans Ziel und von Marseille gingen das ganze Jahr französische und englische Postschiffe nach Alexandrien), willigte Friedrich Wilhelm IV. am 7. Juni 1844 ein: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 121r. 47 Das Kontobuch des Königs in der Manufaktur stellte Friedrich Wilhelm IV. am 10. Oktober 1844 folgende Rechnung: „Für den Gouverneur von Syrien Esaad Pascha: 1 Persische Vase No. 2, mit coul: Blumenstauden rund herum, nebst coul: u [Gold] Dec[oration]: [461 Taler 12 1/2 Gr.] bronze Faßung [8 Taler 17 1/2 Gr.], 1 Postament rund No. 20 [30 Taler]“; SPSG, KPM-Archiv (Land Berlin), Pret 2, Conto-Buch Sr. Maj. des Königs 1818 – 1850, 160 (260); zusammen mit der Verpackung und anderen Nebenkosten wurde die Gesamtrechnung von 510 Taler 15 Groschen auf Anweisung des Königs über die Legationskasse beglichen, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 156r. 44

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Abb. 8: Entwurf Nr. 2 der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin zur Vase für den Gouverneur von Syrien Esaad Pascha, Feder und Aquarell, Anfang September 1843 (SPSG, KPM-Archiv, Land Berlin)

dem greisen Assaad Pacha an, dass er des Dienstes enthoben u. ihm Bussa als Aufenthalts-Ort angewiesen sei.“48 Damit konnte Wildenbruch dem abgereisten Pascha weder die Vase noch das eigenhändige Dankesschreiben Friedrich Wilhelms IV. in Beirut überreichen. Letzteres schickte er per Dragoner nach Tripolis, wo sich Esaad inzwischen aufhielt, getraute sich aber nicht, mit der Vase persönlich dahin zu reisen, weil er befürchtete, dass die türkische Regierung dies als Affront auffassen könnte49. Ein Offizier aus dem ehemaligen Gefolge des Paschas, der in dessen Auf48 Wildenbruch an Bülow, 2. April 1845: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 245r. Esaad Pascha werde durch den bisherigen Pascha von Aleppo ersetzt. 49 Wildenbruch an Bülow, 22. April 1845: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 263r-264r.

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trag den Prinzen Albrecht begleitet hatte, übernahm die geheime Mission. Der Empfänger zeigte sich in seiner misslichen Lage doppelt beglückt und dankte dem preußischen König sowohl für den Brief als auch für das Porzellan in Worten, die Friedrich Wilhelm IV. sehr geschmeichelt haben dürften: „J’ai reçu le superbe cadeau qu’il a plu à S.M. l’illustre Roi & l’auguste Sultan de Prusse de me faire & j’en suis vivement flatté.“50

Abb. 9: Vase der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin für den Gouverneur von Syrien Esaad Pascha, Januar 184451 (Istanbul, Topkapi Museum)

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Esaad Pascha an Friedrich Wilhelm IV., der Dank für den Brief vom 4. April, der Dank für die Vase, aus dem das Zitat stammt, vom 15. April: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 265r-268r. 51 Dem König erst beim Versand im Herbst 1844 in Rechnung gestellt.

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Fast zwei Jahre waren seit der Reise des Prinzen Albrecht vergangen. Grund dafür war nicht zuletzt die Gabe für den zweiten Beschenkten, den Vize-König von Ägypten. Die lapidare Bemerkung in der ersten Auflistung von Vorschlägen vom August 1843, „etwa ein Kronenleuchter mit farbigen Glasaufsätzen“, die dem König gefallen zu haben scheint, war nicht so einfach umzusetzen. Der von Seiten des Prinzen zunächst noch einbezogene Major von Cler sah dies voraus und mahnte: „Mit Bezugnehmen auf den von Ew Excellenz in dem geehrten Schreiben vom 3ten d. Mts.52 geäußerten Wunsch wegen des von Sr. Majestät dem König für den Vice-König von Aegypten als Geschenk bestimmten Kronenleuchters bemerke ich ganz ergebenst, daß eine Bestellung deßelben nach Zeichnungen sehr zeitraubend ist und zu besorgen seyn dürfte, daß der Vice-König bei seinem hohen Alter den Empfang dieses Geschenks nicht erleben möchte. Sollte dies Bedenken nicht getheilt werden, so glaube ich für die Ausführung der Zeichnungen im orientalischen Geschmacke nur den Herrn Professor Gustav Stier, und für die Glashütten-Arbeit den Fabrikbesitzer Herrn Pohl zu Schreibershau empfehlen zu können.“53 Bezüglich der Kosten konnte auch von Cler keine Aussage machen, riet aber: „Am besten dürfte dies der hiesige Kaufmann Hengstmann beurtheilen können, welcher mir auch mit Zuziehung des oben gedachten Professors Gustav Stier der Geeignetste scheint, Vorschläge darüber zu machen, wenn es sich um Benutzung schon vorhandener Gegenstände für den in Rede stehenden Zweck handeln sollte.“ Da Hengstmann verreist war, konnte der Geheime Legationsrat Philippsborn im Auftrag Bülows nur herausfinden, dass der Kaufmann die Zeichnungen wohl selbst machen möchte, die Herstellung etwa 5 Wochen dauere und mit tausend Talern zu rechnen sei, womit sich von Bülow einverstanden zeigte54. Nach seiner Rückkehr fertigte Hengstmann einen Entwurf und bat den Hofbronzier Imme um einen Kostenanschlag, der allein für die Metallteile knapp 1500 Taler auflistete55. Zudem wollte der Kaufmann gerne direkt beim König vorsprechen und ihm das Projekt erklären, doch Friedrich Wilhelm IV. lehnte ab und wünschte nur die Zeichnung zu sehen56. Offenbar gefiel ihm aber der Entwurf, und der Auftrag zur Ausführung wurde Anfang November erteilt, denn Ende April 1844 mahnte Philippsborn an, dass nun schon fünf statt der drei vereinbarten Monate verstrichen und die anderen Geschenke längst fertig seien57. Nur noch zwei Wochen wolle er Zeit geben, was Hengstmann schließlich auch bestätigte und die Fertigstellung auf Mitte Mai in Aussicht stellte. Doch erst am 29. Mai konnte er dem Ministerium 52 In jenem Brief teilte von Bülow dem Major mit, dass der König einverstanden sei, aber keine Ahnung von den Kosten habe, und dass er als Minister gerne in diese Sache weiter mit einbezogen wäre. 53 Cler an Bülow, 5. September 1843: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 62rv. 54 10. September 1843: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 63rv. 55 21. Oktober 1843: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 68r. 56 1. November 1843: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 69r. 57 Philippsborn an Hengstmann, 21. April 1844: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 111r.

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der Auswärtigen Angelegenheiten den Abschluss der Arbeiten vermelden58 (Abb. 10). In demselben Schreiben bat er allerdings wie bereits erwähnt den Minister um weiteren Aufschub der Versendung: „Da dieses Stück seiner Eigenthümlichkeit wegen von allgemeinem Interesse ist, so wäre es wünschenswerth, dass dasselbe bis zu der bevorstehenden Gewerbeausstellung noch hier verbleiben und noch mit zur Ausstellung gebracht werden könnte“. Für einiges Aufsehen im Ministerium sorgte deshalb ein Beitrag in der Vossischen Zeitung, in dem über das beabsichtigte Geschenk des Königs berichtet, alle Beteiligten namentlich genannt und der Leuchter detailliert beschrieben wurde59. Sofort fiel der Verdacht auf den Kaufmann Hengstmann, der mit dieser Indiskretion ein öffentliches Interesse an dem Stück zu schüren und damit die Ausstellung zu erzwingen versuche. Er wies jedoch alle Schuld von sich: „Je mehr ich bemüht gewesen bin, die Angelegenheit mit derjenigen Discretion zu behandeln, die sie erfordert, um so widerwärtiger ist es mir, sie in solcher Weise vor die Oeffentlichkeit gezogen zu sehen.“60 Anfang Juli besichtigte Friedrich Wilhelm IV. den Leuchter in Immes Werkstatt und zeigte sich sehr angetan von der Leistung. So zumindest stellte der Bronzier den hohen Besuch im Begleitschreiben zu seiner Rechnung dar, die mit 2000 Talern allerdings deutlich über den Anschlägen lag. Er habe es aber „nicht für schicklich gehalten“, den König auf die höheren Kosten anzusprechen und wünsche nun einen Abschlag von 1200 Taler61. Als Begründung legte er eine detaillierte Aufstellung aller Leistungen seiner Werkstatt und zahlreicher Zulieferer vor, was vom Konstruktionszeichner über den Holzbildhauer, Modelleur, Gelbgießer, Emailleur und einen Maschinenbauer bis zu den Gehältern für die sechs Gehilfen reichte. Darüber hinaus musste er allein 858 Taler für vier Mark Gold berechnen, das er durch zwei Bankiers bezog.62 Um die Gesamtsumme von 2179 Taler und 15 Groschen etwas zu senken bot er Hengstmann an, den Betrag abzurunden und auf das Einrechnen der Betriebskosten (Werkzeuge, Heizung, Beleuchtung) sowie auf ein Gehalt für sich und seinen Sohn zu verzichten63. Und um seiner Forderung noch mehr Aussicht auf Erfolg zu verleihen, erinnerte er Hengstmann zudem an ein Gespräch, das er mit ihm „bei 58

Hengstmann an Bülow: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 114r. Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen (Vossische Zeitung), 29. Mai 1844, Nr. 124, erste Beilage, Seite 1 linke Spalte. Für die Unterstützung danke ich Frau Gudrun Hoinkis, GStA PK. 60 Hengstmann an Philippsborn, 30. Mai 1844: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 116r. Hengstmann gibt weiter an nicht zu wissen, ob vielleicht Imme die Information an die Zeitung gegeben habe. 61 Imme an Hengstmann, 10. Juli 1844: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 124r-125v. 62 Genannt werden „Herrn J. E. Mayer“, 1 Mark Gold für 215 Taler, und „Jaquier & Securius“, 3 Mark Gold für 643 Taler; ein Verhältnis zum Preis bekommt man vielleicht dadurch, dass die Gehilfen einen Wochenlohn von 4 Talern erhielten; GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 124v. 63 Dies ist die Summe, die Imme errechnete, vgl. Anm. 61; in der Schlussrechnung an den König war vom Ministerium der Betrag auf 2154 Taler 7 Groschen 9 Pfennige für die Arbeit des Bronziers und das Glas reduziert worden: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 156r. 59

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Abb. 10: Kronleuchter für den Vize-König von Ägypten Muhammad Ali, Entwurf Gustav Stier, Berlin 1843/44 (Kairo, El Tahra Palast)

Tisch im Saal bei unserem Freiwilligen Jägerfest“ über die hohen Kosten geführt habe und in dem ihm der Kaufmann versprochen habe, sich für ihn einzusetzen. Dies tat Hengstmann zwar nicht, aber er war geschickt genug, mit der Weiterleitung der Rechnung ans Ministerium bis nach der Eröffnung der Gewerbeausstellung zu warten, in der Hoffnung, dass der Kronleuchter von sich reden machen, in den Zeitungen positiv hervorgehoben werden und so seinen Wert erkennbar machen würde64. Zusammen mit den Unterlagen, die er von Imme hatte, schickte er schließlich von Bülow auch die Rechnung für die Glasteile der Josephinenhütte, die für ihre Leistungen noch zusätzliche 536 Taler, 26 Groschen 6 Pfennige ausmachte. In Anbetracht der erheblichen Mehrkosten schien ein weiterer Wunsch von Imme aus64 Hengstmann an Bülow, 30. August 1844: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 123r; am 12. Dezember 1844 kamen noch einmal knapp 35 Taler für die Verpackung dazu, vgl.: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 200r.

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sichtslos, der sich direkt an von Bülow mit der Bitte wandte, zum korrekten Zusammensetzen der 600 Teile das Geschenk nach Kairo begleiten zu dürfen. Dementsprechend sprach sich der Minister denn auch dagegen aus und forderte eine Zeichnung mit Aufbauanleitung, worauf Imme zunächst den Bronzier Hesch der KPM um dessen Meinung bat und schließlich – weil jener befand, dass dies nur ein Eingeweihter machen könne – als Kompromiss vorschlug, seinen Sohn für eine Kostenentschädigung von 600 Talern zu delegieren65. Doch der Minister scheute sich noch immer, dem König diese hohen Nebenkosten vorzutragen und fragte daher zunächst noch von Reden, der ihm nach einigen Erkundigungen mitteilte, dass es seiner Ansicht nach in Ägypten sehr geschickte Metallarbeiter gäbe, so habe er gehört, dass es in Alexandrien Genueser Arbeiter geben solle, die geschickt vielteilige, kunstvolle Metallwerke zum Transport nach Nubien und Abessinien zusammensetzen könnten66. Zum Glück hatte der König mehr Vertrauen in seine Fachkräfte, als in die Verwaltung. Er gestattete am 16. Dezember Imme junior die Reise und die gesamten Kosten inklusive der Nachforderungen67, und so konnte das Ministerium im Januar 1845 endlich grünes Licht für den Transport der Geschenke geben68. Ausgestattet mit Werkzeug, Gold zum Reparieren beschädigter Oberflächen, einer ausführlichen technischen Beschreibung sowie Angaben zur Reihenfolge des Aufbaus des Leuchters begleitete Carl Imme im Frühjahr 1845 endlich das in fünf große Kisten verpackte Wunderwerk des Berliner Kunsthandwerks an den Nil69. Ein mehrseitiger und detaillierter Bericht des Legationsrates von Wagner beschreibt den Weg des Leuchters von seiner Ankunft in Alexandrien, über das Hin und Her bezüglich des Ortes seiner ersten Präsentation bis zur abschließenden Besichtigung durch den Vize-König: „Nachdem mir schon seit einem Jahre der Vice-König von Egypten mit sichtlichem Vergnügen wiederholt von dem ihm durch die Zeitungen und europäische Reisende zu Ohren gekommene Gerüchte, dass Seine Majestät der König die Absicht habe, ihm einen Kronleuchter zum Geschenke zu machen, gesprochen hatte, sah ich mich der lebhaftesten Genugthuung durch Ew Excellenz hochgeehrten Erlaß vom 10ten Januar dieses Jahres in den 65

Bülow an Hengstmann, 5. September 1844: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 127r; Imme an Bülow, 7. September 1844: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 128r-129r; Imme betont in dem Schreiben zudem, dass sein 26jähriger Sohn Carl zur Ausbildung schon in Paris, Wien, Rom, Neapel und England gewesen sei und sehr gut französisch spreche. 66 Reden an Bülow, 18. September 1844: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 131r. 67 Hengstmann bat noch im Dezember um weitere 27 Taler, weil er vergessen hatte, fünf Dutzend Lichtmanschetten und die drei dem König vorgelegten Zeichnungen (zu 3 Friedrich d’Or) zu berechnen: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 227r-228r. 68 Friedrich Wilhelm IV. an Bülow, 16. Dezember 1844: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 203r. 69 Allen durch diese Schritt-für-Schritt-Anleitung war es möglich, den Leuchter zu identifizieren. Sie enthält die Beschreibung aller Teile, Angaben zur Technik ihrer Verbindung und die Reihenfolge des Aufbaus bis zur Hängung. In der Akte befindet sich leider nur eine Abschrift des Textteils, so dass die Zeichnung, die zur Anleitung gehörte, heute verschollen ist. Der Text in GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 206rv.

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Stand gesetzt, Mehemet Ali diese Nachricht, deren Bestätigung er mit Ungeduld zu erwarten schien, amtlich mittheilen zu können. Der vor ungefähr drey Wochen hier eingetroffene Sohn des Hof-Bronzeurs Imme hatte mir die Nachricht von der Ankunft in Triest und der Verschiffung nach Alexandrien der den Kronleuchter enthaltenden Kisten überbracht und solche sind auch glücklich vor ungefähr 10 Tagen in Alexandrien angekommen. Der Vice-König hatte zuerst die Bestimmung getroffen, dass der Leuchter vorläufig hier in seinem Pallaste in der Citadelle von Cairo, später aber nach Vollendung der großen gegenwärtig noch in Arbeit begriffenen Moschee der Citadelle, welche Mehemet Ali als das größte und verdienstvollste von ihm errichtete Monument betrachtet, in letzterer, wo die ganze Bevölkerung von Cairo das Geschenk Seiner Majestät des Königs zu bewundern Gelegenheit haben würde, aufgehangen werde.“70 Da der Vize-König aber das Geschenk sofort sehen wollte und gerade im Begriff war, von Kairo nach Alexandrien abzureisen, bat er darum, den Leuchter wieder zurück in die Hafenstadt zu transportieren und dort aufzuhängen. Das Entsetzen der Preußen in Anbetracht des Risikos eines weiteren Transportes war zum Glück nur von kurzer Dauer, denn „wegen einer leichten Unpässlichkeit und eingetretener kühler Witterung“ entschied sich der Vize-König, noch etwas in Kairo zu bleiben, weshalb die Präsentation „den letzten Verfügungen des Paschas gemäß, in einem der Säle des großen Kiosks im Garten von Schubra geschehen“ konnte (Abb. 11)71. Von Wagner begab sich deshalb am 17. April in den etwas außerhalb des Zentrums von Kairo gelegenen Palast, um Muhammad Ali „das Ew. Excellenz hochgeehrten Erlasse beigefügte Königliche Schreiben zu übergeben. Ich fand bei meiner Ankunft in Schubra den Pascha im Billard-Zimmer, welches er sogleich verließ, um sich mit mir und seinem Gefolge in den Audienz-Saal zu begeben, woselbst ich die Ehre hatte, ihm das Schreiben Seiner Majestät des Königs einzuhändigen. Mehemet Ali sprach mit sichtlicher Rührung seine lebhafte Freude über den Empfang des prachtvollen Königlichen Geschenkes und des begleitenden Schreibens aus, er erbrach letzteres in meiner Gegenwart, und indem er Befehl gab, sogleich eine schriftliche Uebersetzung davon in türkischer Sprache anfertigen zu lassen und ihm solche vorzulegen, drückte er mir sein lebhaftes Bedürfniß aus, Seiner Majestät dem Könige die Gefühle seiner Verehrung und innigen Dankbarkeit schriftlich darzubringen, und ersuchte mich bey meiner Abreise von Egypten ein Antwort-Schreiben an Seine Majestät den König nach Berlin zu überbringen. Der Pascha hat, während man mit der Zusammensetzung und Aufhängung des Kronleuchters beschäftigt war, die einzelnen Teile desselben wiederholt besichtigt, und Herrn Imme, welcher die Arbeit leitete, seine freudige Ueberraschung und Bewunderung auf das lebhafteste zu erkennen gegeben. Da jedoch die Gerüste, welche zur Aufhängung des Kron70

Wagner an Bülow, 17. April 1845 (eingegangen in Berlin 8. Mai 1845), GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 251r-253v; Der Bericht wurde nach seinem Eintreffen in Berlin zum König nach Potsdam geschickt, der ihn am 21. Mai ans Ministerium retournierte und, wie sein Sekretär dazu schrieb, die Schilderungen mit Interesse gelesen hätte, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 260r. 71 Ebd.

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leuchters errichtet worden sind, erst heute Abend oder morgen früh werden abgebrochen werden können, so wird Mehemet Ali denselben morgen vor seiner Einschiffung noch einmal besichtigen und ich werde mich gleichfalls zu diesem Zwecke nach Schubra begeben, um dabey zugegen zu seyn.“ Dies schien ihm umso wichtiger, als dass gerade das Ende der Expedition von Lepsius bevorstand und von Wagner wusste, dass es nicht einfach sein würde, eine Ausfuhrerlaubnis für die gesammelten Zeugnisse der altägyptischen Kultur zu bekommen: „[…] Ich schmeichle mir, dass der Eindruck, welcher das prachtvolle Geschenk Seiner Majestät des Königs bey Mehemet Ali gemacht mir bey den delikaten Unterhandlungen wegen der den bestehenden Vorschriften und Grundsätzen des Pachas zuwiderlaufenden Ausführung der zahlreichen, von dem Professor Lepsius gemachten Sammlung von Alterthümern eine wesentliche Erleichterung gewähren werde […].“

Abb. 11: ,Der Kiosk von Schubra‘, Aquarell mit Darstellung des Vize-Königs Muhammad Ali bei einer Audienz, Johannes Rabe 1850 (SPSG)

In einem Nachtrag vom 23. April unterrichtete der Legationsrat den Minister in Berlin, dass der Vize-König ihm gegenüber „wiederholt auf das lebhafteste seine Freude und Bewunderung über die schöne und geschmackvolle Arbeit dieses prachtvollen Geschenks ausgedrückt“ habe72. Darüber hinaus teilte er mit: „Dem zur Zusammensetzung des Kronleuchters hierher gesandten Sohn des Hof-Bronzeurs Imme hat der Vice-König einen Brillant-Ring im Werth von circa 600 Thalern zu Geschenk bestimmt und befohlen, sämtliche für die neue Moschee in der Citadelle von Cairo 72

Wagner an Bülow, 23. Mai 1845, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 258rv.

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nöthigen Kronleuchter in der Fabrik seines Vaters anfertigen zu lassen; der j. Imme wird daher noch einige Wochen hier verweilen, um die nöthigen Verabredungen hinsichtlich dieser bedeutenden, sich auf ca. 60 bis 80.000 Thaler belaufenden Bestellung zu treffen, und einen Kontrakt über dieses Geschäft mit dem Minister des ViceKönigs, Artin Bey, oder dessen Bevollmächtigten abzuschließen.“ Ganz so umfangreich fiel die Bestellung zwar dann doch nicht aus. Als Imme junior aber am 1. Juni aus Alexandrien abreiste, konnte der Legationsrat nach Berlin berichten, dass der junge Bronzeur „vom Vice-König einen Brillant-Ring im Werthe von circa 1200 Thalern erhalten [hat], und ist ihm vorläufig eine Bestellung von circa 5000 Thalern mit dem schriftlichen Versprechen gemacht worden, ihm, wenn dieselbe nach Wunsch ausfällt, die Lieferung sämtlicher für die neue Moschee in Cairo nöthigen Kronleuchter und Bronzen, welche sich nach dem Anschlage des j. Imme auf 60 bis 70.000 Thaler belaufen würde, zu übertragen“73. Das arabische Dankesschreiben des ägyptischen Vize-Königs, das Friedrich Wilhelm IV. direkt nach Potsdam überbracht worden war, enthielt laut seiner Übersetzung durch das Ministerium allgemeine Beteuerungen der Freundschaft, Wünsche zu Glück und Glanz sowie den Absatz: „Der früher zur Entdeckung und Erforschung der alten Monumente meines Gebietes abgesandte Herr Doctor Lepsius ist mit seinen Gefährten und den in den Königlichen Fabriken gearbeiteten schönen Gefäßen zugleich angekommen, und die von mir entgegen genommenen hohen Geschenke sind die Ursache meiner vollkommenste Freude und Dankbarkeit“74 (Abb. 12). Das Schreiben verdeutlicht, wie geschickt der Legationsrat von Wagner die jahrelange Verspätung des Geschenkes ausgenutzt hatte, indem Muhammad Ali den eigentlichen Grund, nämlich den Dank für die Unterstützung der Reise des Prinzen Albrecht, gar nicht mehr erwähnte, sondern den Leuchter in direktem Zusammenhang mit der Expedition von Lepsius sah, der denn auch sehr erfolgreich umfassende Bestände vom Nil an die Spree mitnehmen durfte. Der außerordentlich imposante Leuchter wurde später von König Farouk aus Schubra entnommen und hängt heute im Treppenhaus des El Tahra-Palastes in Kairo. Das Wissen um seine preußische Herkunft ist jedoch verloren gegangen75.

73 Wagner an Bülow, 6. Juni 1845, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 273r; da die Akte bzgl. der Leistungen von Imme mit einem Bericht Carl Friedrich Immes vom 31. Juli 1845 an von Bülow endet, in dem er eigentlich nur ausführt, wo er überall Zeit verlor und warum die 600 Taler Reisegeld nicht reichten – weshalb er von Wagner ein Darlehen über 450 Taler aufgenommen hatte –, finden sich darin keine Angaben, ob es zu dem Nachfolgeauftrag kam; der Berichte von Imme jr. vgl. GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 274v-275r. 74 Das Dankesschreiben vom 18. September war durch von Wagner, der aus gesundheitlichen Gründen um eine seine Rückkehr nach Berlin gebeten hatte, dem preußischen König mitgebracht worden und wurde über den Sekretär Müller von Potsdam nach Berlin zur Übersetzung geschickt, vgl. GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 283r, die Übersetzung ebd. fol. 270r-271r. 75 Die Wiederentdeckung des Leuchters verdanke ich der Hilfe von Herrn Ayman Hamed, Kairo.

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Abb. 12: Dankesschreiben von Muhammad Ali an Friedrich Wilhelm IV, 18. September 1845 (GStA)

Damit wäre die Geschichte der Reise des Prinzen Albrecht und ihres Nachspiels im Grunde abgeschlossen, wäre sie nicht in einer diplomatisch so heiklen Gegend erfolgt. Zwischen Berlin und Kairo bzw. Beirut lag mit Konstantinopel der Sitz des Sultans. Der preußische Gesandte an der Hohen Pforte, von LeCoq, wandte sich deshalb im Februar 1844 an von Bülow und drückte seine Besorgnis aus, dass der Sultan von den Ehrengeschenken für seine Untergebenen – den Gouverneur von Syrien und den Vize-König von Ägypten – erfahren könnte. Er schlug deshalb vor, auch diesem ein paar Geschenke zu machen, was nicht zuletzt die Aufgaben des Gesandten in Zusammenhang mit den deutschen Auswanderern ins Osmanische Reich erheblich erleichtern könnte. Ebenso seien dann auch einige Personen im Umfeld des Sultans zu bedenken, die ihn, den Gesandten, das Ausbleiben von Geschenken sonst fühlen lassen würden76 Obwohl von Bülow in seiner Antwort betonte, dass 76

LeCoq an Bülow, 23. Februar 1844, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 208r.

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die Geschenke nach Syrien und Ägypten nicht diplomatischer Natur sondern eine Art Gegenleistungen für Ausgaben in Zusammenhang mit der Prinzenreise seien und daher kein Anlass für Gaben an den Sultan bestünde77, ließ LeCoq nicht locker und legte nach: Er sei es müde, ewig Personalien zu behandeln und 25 Jahre Unterlassungssünden seines Vorgängers aufzuarbeiten, zudem stünde die Indienreise des Prinzen Waldemar von Preußen bevor und da sei es ratsam, den Sultan im Vorfeld gnädig zu stimmen, doch sei er diesem ausgeliefert und könne am türkischen Hof nur agieren, wenn er die Höflingen mit Geschenken für seine Anliegen einnehmen könne78. Dies scheint gewirkt zu haben. Zwar stellte von Bülow in seinem Schreiben an den König die Sache etwas beschönigend dar und zog es vor, auf die Geschenke zu verweisen, die Prinz Albrecht offenbar auch in Konstantinopel erhalten hatte, als die Beschleunigung konsularischer Aufgaben als Grund anzuführen79. Doch setzte er sich für die Sache ein, unterstrich die Bedeutung des Vorhabens zudem mit einer Auflistung derjenigen Geschenke, die der König von Bayern in letzter Zeit an die Hohe Pforte gesandt hatte80 und schlug entgegen ersten Ideen, dem Sultan eine Porzellanvase ähnlich derjenigen für den Gouverneur von Syrien zu senden81, schließlich vor, die Gewerbeausstellung zum Aussuchen passender Werke zu nutzen, es müsse sich nicht nur um preußische Objekte handeln, sondern man könne damit ja gleich den ganzen Zollverein berücksichtigen82. Um jedoch zugleich den König zu warnen verwies er in demselben Schreiben auf die früheren Anstrengungen von 1829 und 1833, den osmanischen Herrscher zufrieden zu stellen, als „bei dergleichen Audienzen nicht nur dem Sultan, sondern einem ganzen Heer von Großwürdenträgern und anderen Pfortenbeamten solche Geschenke gemacht werden“ mussten, und da die preußischen Seiden- und Brokatstoffe für über zwanzigtausend Taler, die allein für den Sultan bestimmt gewesen seien, von diesem aber gar nicht benötigt wurden, weil er inzwischen europäische Militärkleidung trage, seien diese kostbaren Gewebe unter den Damen des Serails verteilt worden83. Damit sich ein solcher Fehlgriff nicht wiederhole schlug von Bülow vor, den osmanischen Gesandten in Berlin, Tal’at Effendi, bei der Auswahl hinzuziehen. Dieser besuchte die Ausstellung in Begleitung des Kommissionsmitglieds von Reden und zusammen wählten sie einem Vorschlag folgend unter anderem ein Piano aus Danzig, einen Tisch aus München, ein Silberservice aus Berlin, diverse Waffen aus Solingen, eine Meißener Vase, viele verschiedene Stoffe und Tischwäsche sowie selbst einen Kachelofen des Berliner Fabrikanten Feil77

GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 109r. GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 133r. 79 GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 148r. 80 Schreiben von Philippsborn, vgl. GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 135r-140r. 81 Die KPM hatte bereits mitgeteilt, dass man zur Sicherheit gleich zwei Vasen vom Typ für den Gouverneur hergestellt habe und eine nun zur Verfügung stünde, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 155r. 82 Schreiben vom 29. September 1844, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 143rv. 83 Ebd., angehängt eine Liste der Geschenke von 1829 mit verschiedenen Stoffen, Porzellantellern und zwei Pistolen. 78

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ner84 aus. Die gewählten Werke wurden in der Ausstellung mit dem werbewirksamen Hinweis versehen, dass der König sie als Geschenk für den Sultan erworben habe85, zugleich teilte von Bülow aber Friedrich Wilhelm IV. mit, dass die 5161 Taler natürlich aus dem Staatsfond beglichen würden86. Kaum war die Liste der ausgewählten Werke in Potsdam eingetroffen musste jedoch der Hofmarschall und Intendant der Schlösser, Ludwig von Meyerinck, ans Ministerium bezüglich des mit Metall eingelegten Palisanderholz-Tisches von Franz Fortner melden: „Diesen Tisch wünschen Seine Majestät der König für Allerhöchst sich Selbst zu occupiriren und haben mich daher Allergnädigst beauftragt, Ein hohes Ministerium ganz ergebenst hiermit zu ersuchen, für den obige Zweck [Geschenk an Sultan] einen andern Gegenstand zu auszuwählen.“87 Wenige Tage danach wurden dem königlichen Wunsch entsprechend mehrere Ersatzstücke ausgewählt, so dass an Stelle des Tisches nun „1 Metalleingelegter Arbeitstisch mit Musik, von Heininger in Mainz“, ein gestickter Ofenschirm von Pardey in Berlin, „1 Vase mit Blumenbouquet von Lohde in Berlin“ und ein vergoldeter Lehnsessel mit Carmoisin Brocatelle der Gebr. Gropius Berlin sowie andere kleinere Dinge für insgesamt 657 Taler bereitgestellt wurden88. Damit konnte der Tisch, der sich heute auf Burg Stolzenfels befindet, ins Schloss geliefert werden89. Auch eine zweite kleine Konfusion bezüglich eines doppelt verkauften Gewehres ließ sich klären, so dass im Dezember schließlich die Schlussrechnung von über 5000 Taler vorlag90. Über die Hälfte der Summe wurde für Textilien aus84 Der Vorschlag in GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 143rv; das Klavier von Wiesniewski sollte 500 Taler, der Tisch von Pförtner (so in der Liste, später als Fortner bezeichnet) 884 Taler, das Silberservice von Wagner & Sohn 400 Taler, die Vase 117 Taler und der Ofen 175 Taler kosten; der Bericht des Ausstellungsbesuchs mit der fertigen Liste ebd. fol. 158rv. 85 So ein Schreiben der Ausstellungskommission an Friedrich Wilhelm IV vom 13. Oktober 1844, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 154r. 86 GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 143v. 87 Meyerinck an Bülow, 23. Oktober 1844, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 158r. 88 Die Liste der Ersatzstücke in GStA PK, III HA, I Nr. 12686, 172r, die Gesamtliste ebd. im Entwurf fol. vom 29. Oktober 1844 fol. 168r-169v, in definitiver Form fol. 217r-218v: Unter „I. Größere Gegenstände“ werden der Arbeitstisch, das Klavier, der Ofenschirm und der Lehnsessel aufgelistet, unter II. folgen einige Waffen, die dritte Rubrik verzeichnet zwei Meißenvasen, jene von Lohde und der mit Goldornamenten und preußischem Wappen [!] verzierte Feilnerofen, unter IV. wird das Silberservice genannt und mit einer großen Menge verschiedenster Textilien in Abschnitt V endet die Aufzählung. 89 GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 167r; vgl. Georg Himmelheber, Die Kunst des deutschen Möbels. Klassizismus/Historismus/Jugendstil, Bd. 3, München 1973, Abb. 671/ 672, Text. 142, der Tisch ist darin abgebildet; vgl. auch Jörg Meiner, Möbel des Spätbiedermeier und des Historismus, Bestandskatalog der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG), hrsg. von der SPSG, Berlin 2008, Text 11 und Anm. 85/86, 20. 90 Bei Schlusszeichnung durch den Kaufmann Ferdinand Gropius am 17.12.44 wurde ein Totalbetrag von 5085 Talern 7 Groschen 9 Pfennige errechnet, vgl. GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 218v; die Kosten wurden noch durch Gebühren in Höhe von 26 Gulden 11 Kreuzer für 22 Kisten erhöht, die das österreichische Zollamt in Triest entgegen früherer ähnlicher Geschenksendungen erhob, was der Kaufmann Gropius von Bülow am 26 März 1845 in Rechnung stellte, ebd., fol. 41r. Bezüglich der Doppelbüchse hatte sich am 2. No-

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gegeben, worunter sich Teppiche, Tischwäsche und Meterware verschiedenster Hersteller und Gewebe befanden, und man scheute sich nicht, von der Spree selbst „75 Ellen Drap de Sirail“ von Buße & Sohn an den Bosporus zu schicken91. Mitte Dezember war alles bereit. Minister von Bülow konnte die Begleitschreiben verfassen92. Nebenbei lehnte er ab, eigens einen Arbeiter zum Aufsetzen des Kachelofens nach Konstantinopel zu schicken, und auch den Wunsch des preußischen Gesandten LeCoq nach noch mehr Geschenken bewilligte er nicht93. Letzterer sollte nur vor Ort die Verteilung einiger Gaben für die Favoriten des Sultans bestimmen dürfen94. Damit gab sich der wendige Diplomat aber nicht zufrieden, denn ihm fehlte bei dieser Auswahl die Möglichkeit, nuancierte Abstufungen zwischen den Geschenken machen zu können, deren Empfänger er allein wählen durfte95. Er bedankte sich zwar für die Möglichkeit Riza Pascha und Achmed Fethi Pascha bedenken zu können, forderte aber für den Schwager des Sultans, Rifaas Pascha, der sich um Albrecht besonders bemüht haben soll, noch einen Orden zweiter Klasse zur besseren Abstufung, was ihm auch gestattet wurde96. Und auch in einer weiteren Nebengeschichte der prinzlichen Reise lohnte sich die Hartnäckigkeit des preußischen Gesandten an der Hohen Pforte: LeCoq machte Anfang 1844 das Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten darauf aufmerksam, dass nicht nur der Fürst der Walachei, Bibesko, und sein Rittmeister wie vom Prinzen gewünscht ausgezeichnet werden sollten97, sondern dass auch der Geschäftsträger des Fürsten, Herr Aristarchi, einen Orden verdient habe. Hintergrund war, dass der preußische König den Gesandten gebeten hatte, sich für die Abkürzung der Quarantäne des Prinzen Albrecht und seines Gefolges auf der Rückreise einzusetzen, was über die Fürsprache eben jenes Aristarchi auch gelang98. Dieser wiederum hatte ganz direkt und mehrfach den Gesandten „dringend ersucht“, sich für ihn um eine preuvember, als von Reden das Etikett anbringen wollte, herausgestellt, dass sie bereits dem Grafen Rossi verkauft worden war, vgl. ebd. fol. 171r, und durch eine andere Waffe ersetzt werden musste, ebd. fol. 187r-188r. 91 Bis heute kommt es immer wieder vor, dass Staatsgeschenke aus heimischer Produktion auf die charakteristischen Erzeugnisse des Gaststaates anspielen, etwa wenn im August 2007 die Kanzlerin Angela Merkel eine mit Zwiebelmuster bemalte Porzellanvase der Manufaktur Meißen nach China mitbrachte. 92 GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 221r-223v und 224r ff. 93 GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 207r-208r; ebd. 193r. 94 Der Bericht, wem LeCoq was übergeben hat, in: GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 255r-256v. 95 So bestätigt vom Hof an von Bülow am 5. Februar 1845, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 236r. 96 LeCoq an Bülow, 17. Dezember 1844 (da der Brief über London ging registriert erst am 16. Januar 1845), SIE AKTE fol. 230r. 97 Der Fürst hatte den Orden erster Klasse bereits im November 1843 erhalten, vgl. GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 73r-74v. 98 So in einem Schreiben vom 23. Februar 1844, GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 105r106r.

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ßische Dekoration zu verwenden, zumal er trotz einflussreicher Stellung und verschiedener Würden bisher keine offizielle Dekoration hatte99. Nun erhoffte er sich mit dem Hinweis, Friedrich Wilhelm IV. in St. Petersburg einmal vorgestellt worden zu sein und sich für Prinz Albrecht eingesetzt zu haben, eine solche aus Preußen. Der Gesandte verband geschickt die Eitelkeit des Höflings mit seinen eigenen Absichten. Auf die zunächst erfolgte Ablehnung aus Berlin hin verwies er auch hier auf die bevorstehende Durchreise des Prinzen Waldemar und hatte damit erneut Erfolg, so dass er sich auch in diesem Fall durch Ankündigung des Roten Adlerordens dritter Klasse die Gunst eines weiteren einflussreichen Mittelsmannes sichern konnte100. Die Orient-Reise des Prinzen Albrecht zeigt, wie eine eigentlich einfache Angelegenheit durch kleine unerwartete Wendungen zu einer langwierigen und komplexen Geschichte von geradezu orientalischem Ausmaß werden kann. Zwar folgte das Übersenden von Geschenken und Orden im Grunde einem immer wieder vorkommenden, stereotypen Ablauf, die Hierarchie für die Wertigkeit von Präsenten war im Gefühl der Verantwortlichen verankert und auch sonst waren die Beteiligten mit den zu erledigenden Vorgängen vertraut. Aber ein Staatsbetrieb wie das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten war keine Maschine, sondern ein Zusammenwirken von Menschen. Ähnlich verhält es sich mit der Leitung einer staatlichen Institution wie dem Geheimen Staatsarchiv in Berlin. Geregelte Standardaufgaben können durch das Einwirken des Apparates zu Hürden werden, die viel Kreativität, Fingerspitzengefühl und visionäre Kraft erfordern. Nicht immer ist dann der direkte Weg auch der schnellste. Es ist ein großes Verdienst von Jürgen Kloosterhuis, in all den Jahren am Archiv jeden Orden gezielt an die Brust, jede Vase an den richtigen Empfänger und jeden Kronleuchter an seinen noch so entlegenen Haken gebracht zu haben, und zwar zum einen so, dass sich jeder Beglückte freute, ohne das oftmals nötige Taktieren im Hintergrund zu ahnen, und zum andern so, dass jeder Beteiligte das Gefühl bekam, korrekt, sinnvoll und konstruktiv mitgewirkt zu haben. Das Haus ist gut bestellt. Dafür sind wir und das preußische Erbe dankbar.

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Ebd.; er hatte zwar den russischen St. Annen-Orden 2. Klasse erhalten, jedoch nicht vom Zaren, der sich dagegen ausgesprach. 100 Vgl. hierzu GStA PK, III HA, I Nr. 12686, fol. 160r, 165r-166r, 184rv, 239r, 244r, 261r262v.

Bismarck und die Neuenburger Affäre Von Paul Widmer, Bern Die moderne Schweiz war 1848 entstanden. Zwar hatte die Eidgenossenschaft schon 1648 ihre Unabhängigkeit vom Reich erlangt, aber als Bundesstaat war sie erst aus dem Sonderbundskrieg von 1847 hervorgegangen. Die Monarchen in den Nachbarstaaten betrachteten das demokratische Gebilde in den Alpen mit Argwohn – zu viel Freiheit, zu wenig Ordnung, zu viel Eigensinn. Auch fanden aufständische Republikaner immer wieder in der Schweiz Unterschlupf. Aber zu grösseren Konflikten kam es dennoch nicht – ausser im Falle von Neuenburg. I. Der Aufstand der Royalisten in Neuenburg Der Sieg der Liberalen über die Konservativen im kurzen Waffengang von 1847 musste sich auch auf die verfassungsrechtliche Stellung Neuenburgs innerhalb der Schweiz auswirken. Zusammen mit Genf und der Waadt war dieser Kanton 1815 in die Eidgenossenschaft aufgenommen worden. Doch Neuenburg war eine Kuriosität. Im Gegensatz zu allen anderen Ständen war dieser Ort nicht nur eine Republik, sondern auch ein Fürstentum. Seit 1707 gehörte Neuenburg zum Hausbesitz der Hohenzollern. Der König von Preussen war in Personalunion auch Fürst von Neuenburg und Valendis (Valangin)1. Diese verzwickte Lage mochte solange angehen, als aristokratische Regimes, was in der restaurativen Phase nach 1815 der Fall war, auch in anderen Kantonen weiter existierten. Tatsächlich hielten in Neuenburg die aristokratischen Familien die alte Ordnung unverändert bis 1848 aufrecht. Mit der Niederlage der konservativen Kräfte im letzten innereidgenössischen Krieg hatte deren Stunde jedoch geschlagen. Am 1. März beseitigten radikale Montagnards von den Jurahöhen und aus dem Val de Travers die feudalistische Herrschaft. Kaum hatten sie sich durchgesetzt, versuchten sie den Aufstand demokratisch zu legitimieren. Sie führten eine Volksabstimmung über die neue republikanisch-demokratische Verfassung durch. Eine satte Mehrheit hiess diese gut. Hernach genehmigte auch die Eidgenossenschaft die neue Verfassung2.

1 Vgl. Hans von Greyerz, Der Bundesstaat seit 1848, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2, Zürich 1977, 1019 – 1246, 1043. 2 Ebd., 1043 ff.

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Damit hatten die Neuenburger nicht nur das aristokratische Regime, sondern auch, was problematischer war, die Monarchie abgeschafft. Der preussische Gesandte in Bern, Rudolf von Sydow, protestierte gegen das Vorgehen. Er weigerte sich, Aktenstücke aus dem Kanton Neuenburg zu legalisieren. Zwar war sich der Bundesrat bewusst, dass er Friedrich Wilhelm IV. zum förmlichen Verzicht auf dessen wohlerworbene Rechte hätte bewegen sollte. Er wollte dies nachholen und fasste auch einen entsprechenden Beschluss. Doch angesichts der damaligen revolutionären Stimmung in Berlin wie in anderen deutschen und europäischen Städten hielt man den Zeitpunkt dafür für ungeeignet3. So schob man die Sache vor sich hin. Allein, der König liess keinen Zweifel aufkommen, dass er sich mit der neuen Lage nicht abfinden wollte, selbst wenn er vorerst auf kriegerische Massnahmen verzichtete. Der Romantiker auf dem Thron hing an seinem „von den Gottlosen zertretenen Ländchen am Jura“.4 Deshalb suchte er auf einer internationalen Konferenz Rückendeckung für seine Position. Und er erhielt sie. Im Londoner Protokoll von 1852 bestätigten die andern Grossmächte (Grossbritannien, Frankreich, Österreich-Ungarn und Russland) ausdrücklich seine Rechte auf Neuenburg. In den folgenden Jahren warf der Konflikt keine hohen Wellen. Die Schweiz störte sich nur wenig am formellen Anspruch des Königs auf ihren Kanton, und Preussen hatte dringendere Sorgen als die Neuenburger Angelegenheiten. Das sollte sich jedoch im Jahr 1856 ändern, als die königstreuen Familien einen Aufstand inszenierten. Die Republikaner schlugen diesen allerdings binnen zweier Tage nieder und nahmen 530 Royalisten gefangen. Friedrich Wilhelm forderte sogleich die Freilassung seiner Getreuen. Der Bundesrat lehnte indes diese Forderung ab. Er wollte sein Pfand nicht ohne Gegenleistung aus der Hand geben. Nun setzten langwierige Verhandlungen ein. Friedrich Wilhelm bat den französischen Kaiser um Vermittlung. Napoleon III. akzeptierte mit Vergnügen. Schliesslich hielt er sich für diese Vermittlung prädestiniert, hatte er doch nicht nur einen grossen Teil seiner Jugend im Thurgau verbracht, sondern auch die eidgenössische Militärschule in Thun absolviert. Dem Bundesrat sollte es recht sein. Er sandte in der Person des hochgeachteten Guillaume-Henri Dufour – dieser war als Kommandant an der Militärschule in Thun Napoleons Ausbildungschef gewesen – einen Sondergesandten an den französischen Hof. Doch die Mission schlug fehl. Verschiedene Faktoren kamen zusammen. Dem Bundesrat fehlte es an einer geschlossenen Haltung. Einige seiner Mitglieder waren kompromissbereit, andere nicht. Auch war Napoleon wohl nicht der geeignete Vermittler. Ihm fehlte die Statur. Er war zu sprunghaft, zu doppelzüngig. Der Schweiz versprach er, ihre Interessen zu vertreten, gleichzeitig ermunterte er Preussen, die Eidgenossenschaft militärisch einzuschüchtern5.

3 Vgl. Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 1 (1848 – 1865), Bern 1990, 115 (Antrag des Vorstehers des Politischen Departementes vom 13. Oktober 1849). 4 Zit. nach Eduard Fueter, Die Schweiz seit 1848, Zürich/Leipzig 1928, 82. 5 Vgl. Albert Schoop, Johann Konrad Kern, Bd. 1, Frauenfeld/Stuttgart 1968, 389 ff.

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Als die Vermittlung nichts fruchtete, erhöhte Preussen den Druck beträchtlich. Mitte Dezember brach Berlin die diplomatischen Beziehungen zur Schweiz ab, drohte am 2. Januar 1857, 150 000 Mann zu mobilisieren und verlangte von den süddeutschen Höfen die Genehmigung zum Truppendurchmarsch. Darauf bot der Bundesrat über Weihnachten selbst zwei Divisionen auf und ernannte Dufour, der sich bereits im Sonderbundskrieg als besonnener General ausgezeichnet hatte, erneut zum Oberbefehlshaber. Am 3. Januar wandte sich die Landesbehörde mit einer dramatischen Proklamation ans Schweizervolk. Der junge Staat, so schien es, war in seiner Existenz höchst bedroht. In dieser heiklen Lage suchte der Bundesrat nochmals Hand zu einer gütlichen Einigung zu bieten. Auch Friedrich Wilhelm war daran gelegen. Denn er wusste nur zu gut, dass sich Grossbritannien auf die Seite der Schweiz geschlagen hatte und die anderen Mächte das preussische Anliegen auch nur halbherzig unterstützten. Beide gingen auf ein erneutes Vermittlungsangebot Napoleons III. ein. Nun entsandte die Schweiz nicht mehr General Dufour, der erste Altersschwächen zeigte, sondern den Thurgauer Ständerat Johann Konrad Kern. Der neue envoyé extraordinaire kannte Napoleon seit seiner Kindheit am Bodensee, stammte er doch aus Berlingen, einem Dorf am Fuss des Arenenbergs, wo Napoleon auf dem Schloss aufgewachsen war. Dieses Mal gelang es Napoleon III. schon bald, einen tragfähigen Kompromiss zustande zu bringen. Dieser bestand darin, dass die Schweiz die Gefangenen freiliess, Preussen seinerseits die Mobilisierung abbrach. Etwas länger dauerte es, bis der preussische König Hand zu einer rechtlichen Lösung bot. Zwei Monate rangen die Grossmächte in Paris darum. Erst Ende Mai 1857 war es soweit: Friedrich Wilhelm sollte auf seine Rechte auf Neuenburg verzichten, aber auf Lebenszeit den Titel „Fürst von Neuenburg und Valangin“ beibehalten. Auf dieser Grundlage erliess der Neuenburger Staatsrat am 17. Juni eine Amnestie für alle Royalisten, und zwei Tage später entband Friedrich Wilhelm IV. seine Untertanen vom Lehenseid6. Mit seinem Tod 1861 erlosch der Titel. II. Bismarcks wandlungsfähige Rolle Im Neuenburger Handel spielte Otto von Bismarck eine recht bedeutsame Rolle – was erstaunlich ist. Denn Bismarck war damals preussischer Gesandter beim Deutschen Bund und somit nicht direkt in die Angelegenheit involviert, abgesehen davon, dass er im Frankfurter Gesandtenkongress 1856 einen einstimmig gefassten Beschluss orchestriert hatte, wonach alle Staaten den Anspruch des preussischen Königs auf Neuenburg unterstützten7. Offensichtlich bereitete ihm die Angelegenheit etliches Ungemach, liess er doch in einem Brief seinem Ärger über die verdorbenen Festtage freien Lauf: „[…] die Östreicher machen mir das Leben sauer, und seit ich 6

Vgl. ebd., 416. Vgl. Edgar Bonjour, Geschichte der schweizerischen Neutralität, Bd. 1, Basel 1975, 346 f. 7

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wieder zurück bin, habe ich über diese fatale Neuenburger Sache soviel zu schreiben, zu chiffrieren, Besuche zu machen und zu empfangen, dass ich im Fest wenig zur Ruhe gekommen bin […]“.8 Sodann verschaffte er sich im April 1857 eine Dienstreise nach Paris, wo die Grossmächte über den Neuenburger Konflikt verhandelten. Zwar ahnte Bismarck, dass Ministerpräsident Otto Theodor von Manteuffel von diesem Vorhaben kaum begeistert sein würde. Schliesslich war der preussische Gesandte in Paris, Graf Maximilian Hatzfeld, mit den Verhandlungen betraut. Deshalb wandte sich Bismarck an seinen konservativen Freund Leopold von Gerlach mit der Bitte, er möge für ihn doch direkt vom König ein Mandat erwirken. Er vergass nicht anzufügen, es gehe ihm einzig um die Sache, er hätte weder das Bedürfnis, sich wichtig zu machen, noch „Contre – Diplomatie zu betreiben“.9 Nach einigem Zögern gab der König dem Begehren nach. Am 5. April traf Bismarck in Paris ein und konnte Ostern an der Seine verbringen. Er war mit einem doppelten Auftrag versehen. Offiziell hiess es, der Gesandte aus Frankfurt solle die schleswig-holsteinischen Angelegenheiten regeln. Das war tatsächlich sein Hauptgeschäft. Inoffiziell wurde er jedoch auch beauftragt, den Einfluss der Neuenburger Royalisten auf die preussische Delegation zurückzudrängen10. Einige Aufständische aus den royalistisch gesinnten Familien (de Rougemont, Petitpierre von Wesdehlen, de Pourtalès, de Pury und Gagnebin) waren nämlich, nachdem sie aus der Haft entlassen waren, in Berlin aufgekreuzt und setzten den König stark unter Druck, damit er zu ihren Gunsten interveniere. Etliche zogen selbst nach Paris und antichambrierten im Umfeld der Konferenz. Sarkastisch schilderte Bismarck im Februar seiner Frau, wie ihm deren Benehmen missfiel: „Ein Theil der gefangenen Royalisten ist jetzt hier, die quälen den armen König aufs Aeusserste, lieber Preussen aufzugeben als Neuenburg, und thun als hätten sie doch ganz unermessliche Verdienste, während sie doch etwa in der Lage von jemand sind, der einem dienstfertig Feuer zu einer Cigarre geben will und dabei das Haus ansteckt.“11 In der ersten Konfliktphase scheint Bismarck auf einen Kriegsgang gesetzt zu haben. Gewiss lag ihm das Schicksal des kleinen Fürstentums und der Neuenburger Royalisten nicht sonderlich am Herzen. Ihn quälte nicht wie den Romantiker auf dem Thron sentimentale Zuneigung. Aber die Vorgänge in der Schweiz schmälerten Preussens Ehre und stärkten Österreich im Ringen um den Vorrang im Deutschen Bund. Unverblümt schrieb er am 15. Dezember 1856 an Edwin von Manteuffel, den Chef des Militärkabinetts, er hoffe, dass der König, nachdem die [erste] Vermitt8 Otto von Bismarck, Die Gesammelten Werke (GW), Bd. 14, 1 (Briefe 1822 – 1861), hrsg. von Wolfgang Windelband und Werner Frauendienst, Berlin 1933, 453 (An Stadtrat Gaertner vom 5. 1. 1857). 9 Ebd., 456 (Brief an Leopold von Gerlach vom 12. 3. 1857). 10 Vgl. A. Schoop, Johann Konrad Kern (Anm. 5), 411. 11 Undatierter Brief von 1857, in: Fürst Bismarcks Briefe an seine Braut und Gattin, hrsg. von Fürst Herbert Bismarck. 2. Aufl., Stuttgart/Berlin 1906, 371.

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lung des Kaisers gescheitert sei, nun die richtigen Mittel ergreife, um sich Recht zu verschaffen. Und er fährt fort: „Wir sind nun in dem Fall, den S[eine] M[aiestät] als denjenigen bezeichnet hat, wo wir Pfandbesitz an Schweizer Gebiet ergreifen würden, u. wir sind zum Auslachen reif, wenn wir uns jetzt nicht dazu in Bewegung setzen.“12 Es kam ja dann auch über das Jahresende zu einer gefährlichen Eskalation mit Drohungen und ersten Mobilmachungsmassnahmen. Diese verliefen ganz in Bismarcks Sinn. Die Schweiz sollte mit einer imponierenden Drohkulisse in die Knie gezwungen werden. „Dass wir […] am 15. wirklich mobil machen, wenn bis dahin die verlangten Concessionen uns nicht zugestanden sind, scheint festzustehen. Mit Frankreich sind wir soweit ganz einig, und mit den süddeutschen Staaten durch welche unsre Truppen marschieren müssten, auch“, berichtet er am 5. Januar Stadtrat Gärtner13. Aber ob Friedrich Wilhelm diese Taktik auch durchhalten würde? Bismarck wusste, dass im Schweizer Bundesrat eine Mehrheit einen Kompromiss wünschte und auf die Unterstützung Grossbritanniens und Österreichs zählen durfte. Nur zu leicht, fürchtete er, könnte sein König noch in letzter Minute auf einen solchen Kompromiss einschwenken. An den berühmten Rechtsgelehrten Karl Friedrich von Savigny schrieb er am 4. Januar 1857: „Was ich am meisten fürchte, ist, dass zwischen den andern Grossmächten und der Schweiz ein Vermittlungsproject zu Stande kommt, in welchem letztre etwas nachgiebt, aber doch nicht so viel, wie wir verlangen müssen, u. dass die europäische Pression sich dann gegen uns wendet, damit wir auch concediren. Dass Oestreich dahin arbeitet, uns nur möglichst unehrenvoll aus der Sache kommen zu lassen, darüber ist gar kein Zweifel, Beweise haben wir genug.“14 III. Die Vermittlung von Heinrich Gelzer Es kam dann, wie Bismarck befürchtet hatte. Die Mobilisierung preussischer Truppen auf Mitte Januar wurde abgeblasen. Der Mann, der dies zustande brachte, war Heinrich Gelzer aus Basel15. Der ehemalige Professor für Geschichte an der Universität Berlin und Stammvater berühmter Althistoriker begab sich aus eigener Initiative, aber in Absprache mit dem Bundesrat, an den preussischen Hof. Friedrich Wilhelm kannte er gut, stand er doch dessen christlich-germanischem Kreis nahe. Auch war der König ihm zu Dank verpflichtet. Denn Gelzer hatte ihn früher einmal vor einem Geheimbund, der ein Attentat auf ihn plante, gewarnt. Den Konservativen um die Gebrüder Gerlach stand er eigentlich auch nahe, obschon die Basler Konser-

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GW 14,1., a.a.O., 451 (Brief an Edwin von Manteuffel vom 15. 12. 1856). Ebd., 453 (Brief an Stadtrat Gaertner vom 5. 1. 1857). 14 Ebd., 453 (Brief an Karl Friedrich von Savigny vom 4. 1. 1857, kursiv im Original). 15 Vgl. Edgar Bonjour, Der Neuenburger Konflikt 1856/57, Bern/Stuttgart 1957, 206 ff. 13

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vativen manchmal den Eindruck hatten, im Vergleich zu diesen Herren seien sie die reinsten Jakobiner16. Gelzer reiste zweimal in offiziöser Mission nach Berlin. Vor seiner ersten Reise ermächtigte ihn der Bundesrat, dem König ein Angebot zu unterbreiten, wonach die Schweiz die inhaftierten Royalisten freilasse, sofern der König dafür die Mobilisierung abbreche. Am 5. Januar hatte Gelzer eine erste Audienz bei Friedrich Wilhelm. Die Unterredung verlief erfreulich. Damit er der Schweizer Seite auch etwas Schriftliches vorlegen konnte, fertigte Gelzer darüber ein Memorandum an, dessen Richtigkeit er sich vom König bestätigen liess. Im Anschluss an dieses Gespräch wurden die Aufständischen freigelassen und die Mobilisierung abgeblasen. Gelzers Vorsprache trug wesentlich dazu bei. Allerdings wurden die Aufständischen sogleich ins Ausland abgeschoben, was dem König weniger gefiel17. Die zweite Reise dauerte länger, vom 24. Januar bis zum 27. Februar 1857. Gelzer bekam drei Audienzen beim König. Immer wieder musste er feststellen, dass seine Bemühungen von der sogenannten Kamarilla torpediert wurden. Unschlüssig schwenkte der König zwischen den reaktionären Einflüsterern aus seiner engsten Umgebung und Gelzers Vermittlung. Jene ermunterten ihn, kompromisslos den preussischen Rechtsstandpunkt zu verfechten und notfalls auch für das ferne Ländchen in den Krieg zu ziehen, dieser versuchte ihn zu direkten Verhandlungen mit der Schweiz zu bewegen. Die Hauptaudienz Mitte Februar dauerte dreieinhalb Stunden lang18. In der dritten Sitzung drängte Gelzer auf eine rasche Lösung. Schliesslich willigte der König in einen nochmaligen Vermittlungsversuch durch Napoleon III. ein. Die Angelegenheit sollte in einigen Wochen auf einer Konferenz der Grossmächte in Paris geregelt werden. In Berlin traf Gelzer auch mit Bismarck zusammen. Er schildert ihn als einen „viel geltenden und vortrefflich unterrichteten Mann“.19 In ihm glaubte er einen Verbündeten zu erkennen, da auch Bismarck auf rasche und direkte Verhandlungen dränge. Dies traf gewiss zu. Denn der preussische Gesandte mit seiner tiefen Abneigung gegen Österreich suchte dessen Einmischung in diesen Konflikt mit allen Mitteln zu verhindern. Mit der ihm eigenen Offenheit, die immer wieder Diplomaten verdutzte, kritisierte er auch die Zustände am Hof. Gelzer berichtete, Bismarck hätte zu ihn gesagt: „Es sei ihm sehr lieb, dass auch ich aus eigenster Erfahrung ersehen kann, mit welchen Schwierigkeiten in Berlin jeder zu kämpfen habe, der sich ein staatsmännisches Ziel vorgefasst.“20

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Vgl. Werner Kaegi, Jacob Burckhardt, Bd.2. Basel 1850, 390, Anm. 249a. Vgl. E. Bonjour, Neuenburger Konflikt (Anm. 15), 207 f. 18 Vgl. Karl Wall, Heinrich Gelzer (1813 – 1889) als Diplomat im Neuenburger Konflikt, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 49 (1950), 203 – 226, 221 ff. 19 Ebd., 218. 20 Ebd., 219. 17

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In Berlin, so scheint es, intrigierte in der Schlussphase der Verhandlungen auch Leopold von Gerlach gegen Bismarck. Die ehedem befreundeten Standartenträger des Konservativismus entzweiten sich gerade in diesen Wochen zusehends. Gerlach, das Oberhaupt der Hochkonservativen, beharrte auf dem absoluten Vorrang des Prinzips der Legitimität in der Aussenpolitik. Nur auf dessen Grundlage könne man die Revolution bekämpfen. Bismarck seinerseits war nicht mehr willens, seinem Mentor zu folgen. In seinem verbissenen Ringen mit Österreich stellte er die preussischen Interessen über Legitimationsbedenken21. Das zeigte sich gerade im Neuenburger Handel. Bismarck war bereit, mit dem Napoleoniden zusammenzuspannen, wenn es den preussischen Machtinteressen diente. Eine solche Verherrlichung der Staatsräson konnte der Prinzipienreiter Gerlach nicht nur nicht gutheissen, sondern er ging noch einen Schritt weiter. Er verdächtige den Gesandten, vornehmlich aus sehr menschlichen Motiven heraus einen Kompromiss um Neuenburg zu fördern und unterschob ihm, nur deshalb auf eine sofortige Unterzeichnung des Vertragswerks zu drängen, weil ihn die Pariser Konferenzteilnehmer fürstlich empfangen und mit diversen Gefälligkeiten gefügig gemacht hätten22. In der Tat empfahl Bismarck seinem Regierungschef nach dem Besuch in Paris, das Verhandlungsergebnis raschestens anzunehmen. In einem vertraulichen Brief an Manteuffel vom 24. April 1857 meinte er, Preussen könne nur verlieren, wenn es sich unnachgiebig zeige. Sollte Berlin sich weigern, die Vorschläge der Konferenz zu akzeptieren, würde es die andern Grossmächte verstimmen und könnte keine einzige seiner Forderungen durchsetzen. Ohne Amnestie aber für die Royalisten könnte die Schweiz mit diesen verfahren, wie sie wollte und dadurch Preussen ständig unter Druck setzen. Der Schweizer Sondergesandte Kern druckte diesen Brief in seinen Memoiren ab, um Bismarcks vernünftige Haltung zu belegen23. Überhaupt hinterliess Bismarck bei den Schweizern, mit denen er zusammentraf, einen verständnisvollen Eindruck. Und im Urteil der Nachwelt verfestigte sich diese Ansicht noch. Edgar Bonjour, der sich intensiver mit dem Neuenburger Konflikt befasst hat als jeder andere Historiker, meinte, „einzig der realistisch erwägende Bismarck“ hätte die romantisch gestimmte Kriegsbereitschaft in der Umgebung des Königs nicht geteilt24. Doch stimmt diese Ansicht? IV. Bismarcks realpolitische Akkommodation In der ersten Phase, bis zum Abbruch der Mobilisierungsvorbereitungen Mitte Januar 1857, setzte Bismarck ganz auf die Kriegskarte. Das wurde oben bereits gezeigt. 21

Vgl. Lothar Gall, Bismarck. Der weisse Revolutionär, Frankfurt/Berlin/Wien 1980, 173 ff. 22 A. Schoop, Johann Konrad Kern (Anm. 5), 414. 23 Vgl. J[ohann] C[onrad] Kern, Politische Erinnerungen 1833 – 1883, Frauenfeld 1887, 136 ff. 24 E. Bonjour, Neuenburger Konflikt (Anm. 15), 123.

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Irgendeine Einigung, die Preussen nicht voll in seinen Rechten restituierte, kam für ihn nicht in Frage. In diesem Fall sollte die alte Ordnung wieder mit den Waffen hergestellt werden. Seine grösste Sorge war, dass die Schweiz ein gewisses Entgegenkommen zeigen könnte, auf welches der König, nicht zuletzt auf Druck der andern Grossmächte, eingehen müsste. Preussen stünde dann vor einem fait accompli. Diese Befürchtung kommt im angeführten Brief an Karl von Savigny unmissverständlich zum Ausdruck. Anders ist seine Haltung in der zweiten Phase. Diese setzt ein, nachdem der König die Mobilisierungsvorbereitungen eingestellt hat. Nun steuerte Bismarck auf einen Kompromiss hin. Dazu bewog ihn allerdings kaum ein wie auch immer geartetes Verständnis für die Schweizer Haltung als vielmehr die Erkenntnis, dass sich Preussen mit einem intransigenten Beharren auf seiner Rechtsposition im Konzert der Mächte isolieren würde. Um einen grösseren Prestigeverlust abzuwenden, riet er, das Ergebnis der Pariser Konferenz anzunehmen. Aber Bismarck war mit dem Ausgang der Neuenburger Affäre keineswegs zufrieden. Preussen sei zutiefst gedemütigt worden. Sein Ansehen sei auf einen Tiefpunkt abgerutscht. Bismarck grollte deswegen vor allem Österreich. Dass auf England nicht zu zählen war, wusste man. Aber von Österreich hätte er anderes erwartet. Seiner Ansicht nach unternahm Wien alles, um Berlin in einem unwürdigen Doppelspiel zu demütigen. Als Leopold von Gerlach ihm schrieb, die Österreicher behaupteten, sie hätten Preussen in Paris stärker unterstützt als die Franzosen, entgegnete er empört: „So unverschämt im Lügen ist doch nur Oestreich […] Sie haben im Gegentheil uns in der Durchmarschfrage geniert, so viel sie konnten, uns verleumdet, uns Baden abwendig gemacht, und jetzt in Paris sind sie mit England unsre Gegner gewesen.“25 Der unbefriedigende Ausgang der Neuenburger Affäre bestärkte Bismarck im Willen, Österreich den Vorrang im Deutschen Bund streitig zu machen und den Vielvölkerstaat aus Deutschland abzudrängen. Die Kräfte, die ihn 1866 zum Waffengang mit Österreich treiben sollten, bemächtigten sich seiner zusehends. Er löste sich nun endgültig aus dem Kreis um Leopold von Gerlach und stellte die Interessen Preussens über alles, auch über das bisher hochgehaltene Prinzip der Legitimität. Ein deutscher Bruderkrieg wurde für ihn nicht nur denkbar, sondern drängte sich geradezu auf. Steuerte Bismarck somit ab Mitte Januar wirklich eine Verhandlungslösung an? Trifft der Eindruck der Schweizer Unterhändler von einem kompromisswilligen Gesprächspartner zu? Oder verfolgte Bismarck bis zur Pariser Konferenz eher eine Doppelstrategie, das heisst, den Schweizern gegenüber kehrte er den verhandlungswilligen Gesandten hervor, dem König und dem Kabinett gegenüber favorisierte er hingegen eine Kriegslösung? Es gibt zumindest einen Beleg, der die letzte Version stützen könnte. Demnach hätte Bismarck viel stärker auf einen Krieg hingearbeitet als bisher angenommen.

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GW 14,1, a.a.O., 466 (Brief an Leopold von Gerlach vom 2. 5. 1857).

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V. Bismarcks Fehlspekulation Worum handelt es sich? Am 30. November 1870 wohnte der Publizist Moritz Busch im Schloss von Versailles einer Gesprächsrunde bei, die sich um Bismarck geschart hatte. Der Reichskanzler befand sich damals, nach dem Sieg von Sedan und vor der absehbaren Kapitulation von Paris, wohl in aufgeräumter Stimmung. Dabei soll er, gemäss den Notizen von Busch, Folgendes gesagt haben: „Bei Tische, wo der Fürst Putbus und Odo Russell zugegen waren, erzählte der Chef, dass er ein einziges Mal versucht habe, auf Grund seiner Kenntnis von Staatgeheimnissen in Papieren zu spekulieren, dass es ihm dabei aber nicht geglückt sei. ,Ich erhielt in Berlin‘, so berichtete er, ,den Auftrag, wegen der Neuenburger Geschichte mit Napoleon zu sprechen. Es muss im Frühjahr von 1857 gewesen sein. Ich sollte ihn fragen, wie er sich zu der Sache stelle. Nun wusste ich, dass er sich günstig äussern würde, und dass dies einen Krieg mit der Schweiz bedeute. So ging ich, als ich durch Frankfurt kam, wo ich damals wohnte, zu Rothschild, den ich gut kannte, und sagte ihm, ich beabsichtige das und das Papier zu verkaufen. Ich hatte nämlich eine kleine Partie davon, und es wollte damit nicht in die Höhe.‘ – ,Das würde ich nicht tun‘, sagte Rothschild, ,das Papier hat gute Aussichten, das werden Sie sehen.‘ ,Ja‘, sagte ich, ,aber wenn Sie den Zweck meiner Reise kennten, würden Sie anders denken.‘ Er erwiderte, das möchte sein, wie es wollte, er könnte nicht zum Verkauf raten. Ich aber wusste es besser, verkaufte meine Papiere und reiste ab. In Paris war Napoleon sehr nett und liebenswürdig. Zwar in den Wunsch des Königs, durch Elsass und Lothringen marschieren zu dürfen, könnte er nicht willigen, da das in Frankreich zu viel Aufregung hervorrufen würde. Sonst billigte er das Unternehmen vollkommen. Es könnte ihm nur lieb sein, wenn das Nest der Demokraten ausgenommen würde. Soweit hatte ich also Erfolg gehabt. Aber ich hatte nicht auf meinen König gerechnet, der sich inzwischen hinter meinem Rücken anders besonnen hatte – vermutlich mit Rücksicht auf Österreich –, und so wurde die Sache aufgegeben. Es kam nicht zum Kriege. Mein Papier aber stieg von dann an fortwährend, und ich hatte nur zu bedauern, dass es nicht mehr das meine war.“26

Offensichtlich sprach hier Bismarck von seiner Reise nach Paris, die er im April 1857 unternommen hatte. Aber etwas ist sonderbar. Entweder täuschte sich Bismarck in seinen Erinnerungen bezüglich des Zeitabschnitts, oder sonst hatte er seinerzeit seine Schweizer Gesprächspartner an der Nase herumgeführt. Hat er den Bankier Rothschild tatsächlich kurz vor seinem Aufbruch nach Paris aufgesucht mit dem Ziel, einen, wie man heute sagen würde, „Insider deal“ abzuschliessen? In diesem Fall hätte er in der Neuenburger Affäre weit länger auf einen Krieg hingearbeitet, als es den Anschein machte. Wahrscheinlicher ist indes, dass sich der Reichskanzler in seiner Erinnerung täuschte und das Gespräch schon vor Mitte Januar 1857 stattfand. Im Dezember 1956 war ja der erste Vermittlungsversuch Napoleons gescheitert, und der französische Kaiser liess Friedrich Wilhelm wissen, er hätte nichts gegen eine militärische Intervention Preussens einzuwenden. Damals also wäre der geeignete Zeitpunkt gewesen, um die Aktien aufgrund eines – vermeintlichen – Wissens26 GW 7, Gespräche Bd. 1, hrsg. von Willy Andreas, 2. Aufl., Berlin 1924, 423 (Tischgespräch am 30.11. 1870 in Versailles).

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vorsprungs zu verkaufen. Als dritte Möglichkeit kann man freilich auch einen Irrtum nicht ausschliessen. Es könne ja sein, dass der Protokollant schlicht das Gespräch nicht korrekt wiedergegeben hat. Wie dem auch sei, Bismarcks freimütige Anekdote über seine misslungene Geldspekulation lässt tief blicken. Mehr als jedes andere Dokument belegt sie, dass Bismarck mindestens während einer Phase nur an einen kriegerischen Ausgang des Streits um Neuenburg glaubte. Die Amerikaner sagen gern: Put your money where your mouth is. Genau das hatte Bismarck getan – und dafür bezahlt. Der Neuenburger Konflikt trug gewiss nicht dazu bei, irgendwelche Sympathien in Bismarck für die Schweiz zu wecken. Aber viel zerbrochen hatte er auch nicht. Denn einem demokratischen Kleinstaat konnte Bismarck nie viel Interesse abgewinnen. Zwar spielte er einmal mit dem Gedanken, preussischer Gesandter in Bern zu werden. Das war in einer eher depressiven Phase, als seine Abberufung aus St. Petersburg bevorstand. Doch er verwarf die Idee ziemlich bald. „Bern ist“, schrieb er seiner Schwester am 7. März 1862, „auch eine fixe Idee von mir, langweilige Orte mit hübscher Gegend ist für alte Leute entsprechend; mir fehlt dort alle Jagd, da ich Klettern nach Gemsen nicht liebe“.27 Bismarck hatte in der Tat, wie später der verdienstvolle Gesandte Arnold Roth – ein Vertrauter von Kaiser Wilhelm I. – aus Berlin berichtete, „wenig Verständnis und Geschmack für unsere Verhältnisse“.28 Die Schweiz interessierte ihn lediglich insofern, als er sie in seine eigenen Staatsaktionen einspannen konnte. Den Kulturkampf in der Schweiz zu schüren, das schien ihm einige Mühe wert. Dadurch erhoffte er den Einfluss Frankreichs in Westeuropa zurückzudrängen. Oder er liess es sich angelegen sein, die Verfolgung von deutschen Sozialisten auf die Schweiz auszudehnen. „Wenn wir“, beriet er 1889 den Kaiser, „mit der Schweiz überhaupt politische Geschäfte haben und eines kaiserlichen Gesandten daselbst bedürften, so wird es dessen vornehmste Aufgabe sein, die Stärke der dortigen Position der deutschen Sozialdemokratie zu vermindern und ihren Zusammenhang mit den Schweizer Regierungs- und Beamtenkreisen zu lockern. Andere Aufgaben für unsere Politik in der Schweiz lassen sich in gewöhnlichen Verhältnissen kaum ausfindig machen.“29 Bismarck hatte stets nach Grossem gestrebt. Die Ehre Preussens ging ihm über alles. Ihr ordnete er jeglichen Gesichtspunkt unter. Mit ausserordentlichem Geschick baute er Preussen zur Führungsmacht auf dem Kontinent auf. Darunter litten allerdings die liberalen Freiheitsbestrebungen. Dass es auch sinnvoll sein konnte, die Rechte und Freiheiten der Bürger zu stärken, selbst wenn dies auf Kosten staatlicher Machtentfaltung ging, ein derartiger Gedanke war ihm fremd. Er war kein Jacob Burckhardt, sondern geistig dessen Antipode. Er dachte in Machtkonstellationen. 27

GW 14,1, a.a.O., 582 (Brief an die Schwester vom 7. 3. 1862). Zit. nach Paul Widmer, Die Schweizer Gesandtschaft in Berlin. 2. Auflage, Zürich 1998, 95 (Schreiben an Bundesrat Droz vom 19. 2. 1890, kursiv im Original). 29 Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 4 (1890 – 1903). Bern 1994, Doc. 14,29 (Schreiben Roth an Droz vom 19. 2. 1890, kursiv im Original). 28

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Aber er hatte immerhin Gespür für die Grenzen solcher Machtpolitik. Im Neuenburger Konflikt hatte er eine davon erfahren und dementsprechend, auch wenn es ihm gegen den Strich ging, sein Handeln neu ausgerichtet.

Heinrich VII. Prinz Reuß. Ein Elitediplomat unter Bismarck und Caprivi im Briefwechsel 1871 – 18941 Von Winfried Baumgart, Mainz I. Vorbemerkung Der kanadische Historiker James Stone hat in der Mitte der 1980er Jahre in Hirschberg (Schlesien) den Nachlaß des Prinzen Heinrich VII. Reuß entdeckt und daraus die wichtigsten Briefe von Korrespondenzpartnern transkribiert. In den folgenden Jahren hat er deren Nachlässe nach den Gegenbriefen durchkämmt und mit beiden Aktionen eine wahren Schatz für die Geschichte der Bismarckzeit und der beginnenden Wilhelminischen Zeit gehoben. Es handelt sich um einschlägige Bestände des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Berlin, des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin (Nachlaß Joseph Maria von Radowitz), des Archivs der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh, des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt (Außenstelle Wernigerode; Nachlaß Otto zu Stolberg-Wernigerode) und des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar (Hausarchiv des Großherzogs Carl Alexander). In Hirschberg erfuhr Stone von den polnischen Archivaren, daß der Reuß-Nachlaß bei Kriegsende von den russischen Truppen dezimiert worden ist, wobei etwa ein Drittel des Materials verlorengegangen sein dürfte. Insgesamt hat Stone in entsagungsvoller Arbeit einen großen Strauß von Briefen von und an Reuß zusammengetragen, sie in oft mühsamer Arbeit transkribiert, das Material in Computerdateien erfaßt und auch schon so manche Einzelheiten für den Anmerkungsapparat formuliert. Das Rohmanuskript umfaßte zwei stattliche Bände, deckte die 1860er Jahre ab, also die Frühphase der diplomatischen Laufbahn des Prinzen Reuß, ebenso wie die Hauptphase aus der Zeit nach der Reichsgründung bis 1894, als Reuß mit fast 70 Jahren aus dem diplomatischen Dienst schied. Ich interessierte mich für das Material, bot Herrn Stone meine Mitarbeit an und bat ihn gleichzeitig, das zur Veröffentlichung vorgesehene Material auf einen Band von 1 Der Beitrag ist eine geänderte Version der Einleitung zu folgender Edition: James Stone/ Winfried Baumgart (Hrsg.), Heinrich VII. Prinz Reuß. Botschafter unter Bismarck und Caprivi. Briefwechsel 1871 – 1894, Paderborn 2015. Dort ist das Kapitel „Die Laufbahn des Prinzen Reuß“ wesentlich ausführlicher. Das dortige letzte Kapitel „Der Sprachstil der ReußKorrespondenz“ ist hier fortgelassen und stattdessen ein neues Kapitel „Reuß und die Gefahr eines europäischen Krieges“ hinzugefügt.

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ca. 600 Seiten zu beschränken. Das tat er bereitwillig, auch wenn ich ihm zugestehen mußte, daß er dabei so manche Träne für nicht zu berücksichtigende Stücke vergießen würde. Welcher Schatzgräber tut es heiteren Sinnes, Funde wieder zu vergraben? Nachdem Herr Stone sein Manuskript auf einen Band beschnitten hatte (dem Schnitt fielen auch die Briefe für die Jahre vor 1871 zum Opfer) übernahm ich meinerseits den Text, habe ihn sorgfältig anhand der Originalbriefe kollationiert und den Anmerkungsapparat in der endgültigen Form erarbeitet, die Einleitung geschrieben und das Register angefertigt. In die Edition wurden grundsätzlich nur Privatbriefe (auch Privatdienstbriefe) von und an Reuß aufgenommen. Die unzähligen amtlichen Berichte von seinen Botschafterposten St. Petersburg, Konstantinopel und Wien blieben unberücksichtigt, wurden aber ad hoc in den Anmerkungen verwertet. Eine stattliche Zahl der Berichte ist in den Anfangsbänden (Bd. 1 – 9) der Edition „Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871 – 1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes“ enthalten. Beide Ausgaben sollten parallel benutzt werden. Die Briefpartner des Prinzen Reuß sind zum einen die höheren Spitzenbeamten des Auswärtigen Amtes. Mitunter sind es die Reichskanzler Bismarck und Caprivi selbst; zumeist jedoch die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes Bernhard Ernst von Bülow, Graf Herbert von Bismarck, Adolf Frhr. Marschall von Bieberstein sowie die Referenten im Amt, die für Ost- und Südosteuropa in Frage kommen – also besonders Joseph Maria von Radowitz, Clemens Busch, Friedrich Graf von Limburg-Stirum und Maximilian Graf von Berchem. Zum andern sind es Botschafterkollegen, die Vorgänger oder Nachfolger auf den Botschafterposten des Prinzen Reuß waren: Lothar von Schweinitz (Petersburg), J. M. v. Radowitz (Konstantinopel), Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode (Wien), Philipp Graf zu Eulenburg (Wien). Zu dieser Gruppe gehören auch Diplomaten, die in seinem Sprengel arbeiteten, also etwa der Militärbevollmächtigte in Wien Karl von Wedel und der Gesandte in Bukarest Bernhard von Bülow. Eine dritte – und wesentlich kleinere Gruppe (auch vom Briefaufkommen her) – sind Familienangehörige wie sein Bruder Heinrich XIII. und sein Schwiegervater Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar. Die Privatbriefe, die zwischen der Berliner Zentrale und dem Prinzen Reuß ausgetauscht wurden, haben natürlich einen anderen Charakter als die amtlichen Akten. Diese sind, sofern nicht mit dem Vermerk „Geheim“ versehen, zur Verwendung an der Empfangsstelle, also der jeweiligen Botschaft (im umgekehrten Fall zur Zirkulation und Bearbeitung im Auswärtigen Amt) verfaßt; sie sollen bei der Regierung, bei der ein Botschafter akkreditiert ist, zur Sprache gebracht und in bestimmten Fällen sogar vorgelesen werden. Ein Privatbrief dagegen ist grundsätzlich einzig und allein für den Empfänger gedacht. Er kann die verschiedensten Materien enthalten. Bezieht er sich auf amtliche Dinge, so wird deren tieferer Sinn direkt und unverblümt ausgesprochen und erläutert. Er dient dazu, Mißverständ-

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nisse zu beseitigen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen. Er ist in der Regel prägnanter formuliert, d. h. weniger wortreich als ein amtlicher Erlaß oder Bericht, und verzichtet auf diplomatische Formeln und Floskeln. Neben politischen Angelegenheiten werden auch Stimmungen am Absendeort – in Berlin oder in der jeweiligen europäischen Hauptstadt – vermittelt, schließlich auch ganz private Nachrichten wie Krankheiten, Urlaubspläne und Feiern mitgeteilt. Die Edition druckt 449 Briefe von und an Reuß für die Jahre 1871 – 1894 ab und erscheint etwa gleichzeitig mit diesem Festschriftaufsatz. Im Folgenden seien die für die Wissenschaft wichtigsten Erträge aus den Briefen zusammengefaßt. II. Die Laufbahn des Prinzen Reuß Heinrichs VII. Erziehung und Laufbahn verliefen gradlinig. Dem Jurastudium 1846 – 1848 in Heidelberg, Jena und Berlin schloß sich die militärische Laufbahn an. 1849 wurde er Sekondelieutenant im 8. Ulanenregiment (Gumbinnen) und machte den Feldzug gegen die Aufständischen in Baden mit. Jahrzehnte später erinnerte einer seiner Korrespondenzpartner, Freiherr Walter von Loë, daß sie an diesem Feldzug gemeinsam beteiligt waren, sich bei Ubstadt begegnet waren und dort die Parole ausgetauscht hatten2. 1853 begann Heinrichs diplomatische Laufbahn. Er wurde zunächst zur preußischen Gesandtschaft nach Wien kommandiert und nach kurzer Tätigkeit in Dresden ein Jahr später der Gesandtschaft Paris zugeteilt. Dort erwarb er sich am Hofe Napoleons III. die Gunst der Kaiserin Eugénie. Jahrzehnte danach, in Amsterdam 1887, bat die Kaiserin ihn zu einem langen politischen Gespräch3. Während der Pariser Zeit, im Juli 1854, wurde Reuß endgültig zur diplomatischen Laufbahn zugelassen und erhielt zunächst den Charakter als Legationssekretär. Als 1863 die preußische Gesandtschaft in Paris in eine Botschaft umgewandelt wurde, bekam er den Charakter als Erster Botschaftssekretär. Gesandter wurde er noch im selben Jahr in Kassel, ein Jahr darauf in München. 1867 gelang der Sprung in eine der großen Hauptstädte Europas: Er ging als Gesandter nach St. Petersburg; mit der Gründung des Deutschen Reiches wurde diese Gesandtschaft in eine Botschaft umgewandelt. Mit dem Jahr 1871 setzt von diesem Posten aus der nun veröffentlichte Briefwechsel ein. Die deutsche Botschaft Petersburg war neben der Botschaft Wien der angesehenste diplomatische Posten der Bismarckzeit und der Wilhelminischen Zeit. Hier hat also Prinz Reuß die deutsch-russischen Beziehungen wesentlich mitgestaltet, worauf zurückzukommen ist. 1876 mußte er die diplomatische Laufbahn für ein reichliches Jahr unterbrechen. Der Grund war seine geplante Verheiratung mit Marie Prinzessin von Sachsen-Weimar-Eisenach. Am 4. Oktober 1875 teilte Prinz Reuß in einem Privatschreiben seinem Chef, Reichskanzler Bismarck, mit, daß er 2 Nr. 251 (die Nummern beziehen sich im Folgenden auf die Nummerierung der Texte der in Anm. 1 genannten Edition). 3 Nr. 291.

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sich „mit der Prinzeß Marie von Weimar“ verlobt habe, nachdem er die Einwilligung der Eltern, des Großherzogpaars von Weimar, erhalten habe. Der Altersunterschied zwischen Prinz Reuß, inzwischen 51 Jahre geworden, und Marie, 26 Jahre, war zwar erheblich; aber nach den Briefen zu urteilen, war das nicht der Stein des Anstoßes. Vielmehr waren es die Schwierigkeiten, die aus dem Verwandtschaftsverhältnis zwischen Weimar/Berlin und Petersburg herrührten und außerdem in der Rangordnung an fremden Höfen zu gewärtigen waren. Um aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen, nahm Reuß mit Billigung Bismarcks und Wilhelms I. einen unbestimmten Urlaub und ließ sich Mitte Januar 1876 in den einstweiligen Ruhestand versetzen. Ein reichliches Jahr später ergab sich die Gelegenheit zum Wiedereintritt in den diplomatischen Dienst. In der Orientkrise 1876/77 (im Januar 1877) beriefen die europäischen Großmächte ihre Botschafter aus Konstantinopel ab. Nach einigen Monaten Unterbrechung der deutsch-türkischen Beziehungen wurde Reuß mit einer außerordentlichen Mission in die türkische Hauptstadt betraut. Dort verblieb er ein reichliches Jahr von Mai 1877 bis Juni 1878. Zu Beginn des Berliner Kongresses wurde er zum deutschen Botschafter in Wien ernannt. Auf diesem wichtigen Posten wurde er vierzehn Jahre belassen. Anfang des 1894 Jahres wurde er endgültig in den Ruhestand versetzt, nachdem er sich während einer Wien-Reise von Altkanzler Bismarck ungeschickt verhalten und dadurch den Unwillen des jungen Kaisers Wilhelm II. und des neuen Reichskanzlers Caprivi auf sich gezogen hatte. III. Prinz Reuß und Bismarck Reuß war sich bereits zu Beginn des „Neuen Kurses“ 1890 bewußt, daß seine Zeit als langjähriger Botschafter abgelaufen war. „Wir Alten passen nun einmal nicht in die neue Zeit“, gestand er im Juni dieses Jahres seinem Diplomatenkollegen Clemens Busch4. Reuß war eben ein Bismarckianer, dem die neue Außenpolitik, vor allem das Kappen des „Drahtes nach Rußland“, überhaupt nicht behagte. Von Reuß gibt es in dem hier vorgelegten Briefwechsel nur eine kleine Anzahl von Urteilen über Bismarck. Irgendwelche negativen Bemerkungen über den Reichskanzler verboten sich von selbst, da sie in dem kleinen Kreis der Spitzenbeamten des Auswärtigen Amtes die Runde machen und dem Schreiber nur schaden konnten. In den Briefen des Prinzen Reuß an Bismarck redet der Botschafter den Reichskanzler mit „Hochverehrter Chef“ an. Im internen Verkehr zwischen Reuß und den anderen Briefschreibern heißt Bismarck „der große Mann“, „der Chef“, manchmal auch „der große Wau wau“. Reuß’ Vetter Stolberg, der als Vizepräsident des Preußischen Staatsministeriums häufig Kontakt zu Bismarck suchen mußte, klagte über die monatelange Abwe-

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senheit des Reichskanzlers von Berlin, die den Geschäftsgang erschwerte5. Telegramme und Erlasse Bismarcks von seinen Mußesitzen Varzin oder Friedrichsruh konnten in Berlin oft nur als schwer zu deutende Orakelsprüche aufgefaßt werden, die zu Reibungsverlusten führten. Stolberg äußerte sich in einem Brief an Reuß6: „In den großen Gesichtspunkten des Mannes liegt eigentlich immer etwas richtiges, ich halte nur die Art u. das Tempo der Realisirung für verfehlt u. geeignet, das Gegentheil des gewünschten zu Stande zu bringen.“ Der publizierte Briefwechsel umfaßt 32 Briefe von und an Bismarck. Sie sind der Typus des Privatdienstbriefes. Sie behandeln vertrauliche dienstliche Angelegenheiten, die sich zur Übermittlung in der üblichen diplomatischen Korrespondenz nicht eigneten, also etwa Besuche Bismarcks in Petersburg oder Moskau; Besuche der österreichischen Außenminister Haymerle und Kálnoky bei Bismarck, nicht in Berlin, sondern in der privaten Atmosphäre von Friedrichsruh; die Übermittlung von Gesprächen Reuß’ mit dem Zaren oder dem österreichischen Kaiser; geheime Materien des Dreikaiserbündnisses; Manöverangelegenheiten in Österreich; die langjährige Battenberg-Affäre; auch private Angelegenheiten, die politische Implikationen haben mußten wie die Heirat des Prinzen Reuß mit der Prinzessin Marie von Weimar. Die Wertschätzung des Prinzen Reuß durch Bismarck kommt in wiederholten Besuchen zum Ausdruck, die der Prinz dem Reichskanzler in Friedrichsruh abstattete7. Hier erfuhr Reuß sehr intime Einzelheiten über Bismarcks innerste Gedankenwelt. So äußerte sich Bismarck im August 1888 sehr direkt über die deutschen Fürsten: „Es gab doch anfangs [wohl 1870/71] Momente, wo ich den Sachsen zu verstehen gab, sie möchten sich nicht wundern, wenn sie eines schönen Tages bayrische Einquartierung im Lande hätten.“ Doch jetzt – 1888 – gehöre der König von Sachsen neben den Großfürsten von Weimar und Baden zu den zuverlässigsten Freunden. Nur ein einziges Mal läßt sich eine kritische Note des Prinzen Reuß über Bismarck ausfindig machen. Der schmutzige Pressefeldzug Bismarcks nach seiner Entlassung gegen Caprivi und seine Regierung in den „Hamburger Nachrichten“ und in Maximilian Hardens „Die Zukunft“ Anfang der neunziger Jahre empörte Reuß8. Die Personalangriffe seien taktlos und verletzend; Bismarck schwätze unverantwortliches Zeug. So behaupte er, Zar Alexander II. habe immer unbedingtes Vertrauen in ihn gehabt. „Ich weiß besser wie irgend Jemand, daß dies nicht der Fall war. Er konnte Bismarck nicht leiden, mißtraute [ihm,] aber fürchtete u. respektirte ihn, als einen Mann, mit dem man nicht spaßen soll.“ Ferner sei es falsch, daß erst unter Caprivi die Beziehungen zu Rußland sich verschlechtert hätten. „Niemals 5

Nr. 132 und 150. Nr. 132. 7 Nr. 294, 332, 333. 8 Nr. 391. 6

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waren sie schlechter als zu der Zeit wo Bi[smarck] die Lombardierung der Russ. Werthe verbot“ (die Auflegung russischer Staatsanleihen bei der Reichsbank). Diese Klage ist aber singulär. Einige Wochen nach seinem Rücktritt singt Reuß wieder ein Loblied auf seinen früheren Vorgesetzten. Am 21. Juni 1894 besucht er Bismarck in Friedrichsruh und erliegt dem Charme des Gastgebers9. „Heut sind wir bei dem dereinstigen Hochmögenden, der nichts hat als seine Größe, der wir aus Freundschaft huldigen u an dessen Geist u Liebenswürdigkeit wir uns erquicken wollen, nach all dem Gestank den man in der Berliner Atmosphäre einathmet.“ IV. Reuß und die deutsche Ost- und Orientpolitik Da Prinz Reuß in den 1870er und 1880er Jahren an den Brennpunkten der europäischen Politik akkreditiert war und mit den großen Krisen und Ereignissen dieser Jahrzehnte unmittelbar zu tun hatte, sollen sie anhand des nun veröffentlichten Briefwechsels zusammenfassend beleuchtet werden. a) Der russisch-türkische Krieg 1877/78 Dieser Krieg reiht sich ein in die Kette der russisch-türkischen Kriege des 18. und 19. Jahrhunderts und ist einer der Höhepunkte der Orientalischen Frage. Die europäischen Großmächte hatten vergebens versucht, die türkische Regierung zu Reformen in den aufständischen Gebieten der Balkanhalbinsel (in Bosnien, der Herzegowina, in Bulgarien) zu veranlassen. Die traditionell türkenfeindliche Politik Rußlands wurde in jenen Jahren angeheizt durch das neuartige Phänomen des Panslawismus – einer öffentlichkeitswirksamen Bewegung zugunsten der von den Türken beherrschten slawisch-christlichen Balkanvölker. Am 24. April 1877 erklärte Rußland der Türkei den Krieg. Der russische Vormarsch südlich der Donau blieb unerwartet an der türkischen Gebirgsfestung Plevna stecken. Prinz Reuß, der in Konstantinopel inmitten des Geschehens auf Posten war, favorisierte anfänglich die russische Seite. Er hoffte, daß die verwickelte Orientalische Frage durch den russischen Sieg vereinfacht würde. Als russische Truppen Anfang Juli 1877 die Donau überquerten, meldete er einen verzweifelten Hilferuf des türkischen Großwesirs nach Berlin10 : „Faites nous venir un conseil du Maréchal Moltke, sur ce que nous devons faire, rien que quelques mots au crayon!“ Reuß hatte aber strikte Weisung, sich in der Auseinandersetzung neutral zu verhalten. Wenig später berichtete er davon, daß nicht nur türkische Muslime in Scharen nach Süden Richtung Konstantinopel flohen, sondern sogar in der Hauptstadt sich etliche Gruppen in den asiatischen Teil des Reiches aufmachten11. Das Gerücht ging sogar, 9

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daß der Sultan nach Brussa (auf der kleinasiatischen Seite) übersiedeln werde. „Wenn er das thut, so ist Europa für ihn verloren.“ Das Pendel des Kriegsglücks schwang aber unerwartet zur türkischen Seite, und diese wurde nun zu fanatischem Widerstand elektrisiert. Monatelang berannte die russische Armee die türkische Festung Plevna, die den Übergang des Balkangebirges beherrschte. Reuß ließ sich davon beeindrucken12. „Der Russische MilitärNimbus […] ist für eine Reihe von Jahren futsch, hoffentlich werden sie so viel Selbsterkenntnis haben, daß sie mit uns sich scheuen anzubinden.“ Mitnichten sah er aber die türkische Zukunft als rosig an. Der türkische Hochmut werde unerträglich wachsen13. Das Osmanische Reich werde durch den Sieg über Rußland nicht erstarken, vielmehr so erschöpft sein, „daß sein Elend nur noch stärker hervortreten wird als vorher.“ Ende September 1877 schrieb Reuß nach Berlin14: „Mir ist es beim besten Willen nicht möglich, noch an einen für Rußland siegreichen Schluß dieses Krieges zu glauben. […] Aber daß ein Aufräumen der türkischen Wirthschaft, ein gründliches Auskehren dieser fauligen Zustände die Folge des Krieges sein sollte, das kann wohl niemand mehr glauben. Die Orientalische Frage bleibt also eine offene u. gefahrdrohende.“ Wie aktuell klingt es, wenn er von den fanatisierten muslimischen Soldaten schreibt, die mit fester Zuversicht in den Tod gingen, um Märtyrer zu werden: „In ihren Bulletins sagen sie nicht, wir haben so u so viel Todte, sondern ,Märtyrer‘.“ Wenn auch sehr spät, so gelang den Russen schließlich doch im Dezember 1877 der Durchbruch bei Plevna, und nun war für den russischen Vormarsch nach Konstantinopel kein Halten mehr. Reuß empfand für die Türkei keinerlei Sympathie, sie war ihm auch von Bismarck amtlich untersagt. Er nannte aber doch die Kehrseite des russischen Siegeszuges beim Namen: die Massakrierung der muslimischen Bevölkerung auf dem östlichen Balkan, die damals die europäische Öffentlichkeit nicht wahrhaben wollte – im Gegensatz zu den vielbeschriebenen „bulgarischen Greueln“, die 1876 die türkische Soldateska an der christlichen Bevölkerung verübt hatte. Reuß schrieb am 30. Januar 1878 an Radowitz in Berlin15: „Das Elend unter den Flüchtlingen ist gränzenlos. […] Das wird sich bei Anmarsch der Russen noch steigern, denn die Zahl der vor ihnen hereilenden, von den Tscherkessen geplünderten Flüchtlinge wächst täglich.“ Über den russischen Diktatfrieden von San Stefano vom 3. März 1878 hat sich Reuß in seinen Privatbriefen nicht ausgelassen. Als der Berliner Kongreß im Juni/ Juli 1878 tagte, der die russisch-türkische Auseinandersetzung zu einer europäischen Angelegenheit machte, war die „außerordentliche Mission“ des Prinzen bereits zu Ende: Am 12. Juni 1878 war er zum Botschafter in Wien ernannt worden und übernahm dort die Geschäfte am 28. Juli. 12

Nr. 89. Nr. 87. 14 Nr. 90. 15 Nr. 102. 13

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b) Der deutsch-österreichische Zweibund von 1879 Eine indirekte, aber sehr folgenreiche Wirkung der Berliner Kongreßakte war die tiefreichende Entfremdung zwischen Rußland und Deutschland. Rußland hatte seinen Sieg von San Stefano auf dem Altar des europäischen Areopags opfern müssen, vor allem die Rückstufung des bis an die Ägäis reichenden russisch beeinflußten Großbulgarien auf die verkleinerten zwei Gebiete Bulgarien und Ostrumelien, die in unterschiedlicher Konstruktion im Osmanischen Reich verblieben. Diese Machtminderung war vor allem auf den englischen und österreichischen Widerstand zurückzuführen. In der russischen Regierung wie in der russischen Presse wurde aber das Bismarcksche Deutsche Reich für die Demütigung verantwortlich gemacht. Dies ist der Ausgangspunkt für die nun anhebende Blockbildung der europäischen Großmächte, die sich in den folgenden Jahrzehnten verhärtete und direkt in den Ersten Weltkrieg mündete. Ein Jahr nach dem Berliner Kongreß war Bismarck zu der Überzeugung gelangt, daß die russische Politik gegenüber Deutschland „geradezu feindlich“ geworden sei16. Er machte dafür vor allem den in der russischen Führung immer mächtiger werdenden Kriegsminister D. A. Miljutin verantwortlich. Nach dem sogenannten „Ohrfeigen-Brief“ Alexanders II. vom 15. August 1879, in dem der Zar Deutschland der Parteinahme für die Türkei bei der Ausführung der Berliner Kongreßbestimmungen auf dem Balkan zieh17, hielt Bismarck nun auch diesen Freund Deutschlands für unzuverlässig. In Gastein machte er daher dem österreichischungarischen Außenminister J. Andrássy die Idee eines deutsch-österreichischen Defensivbündnisses schmackhaft, dem auch bald Kaiser Franz Joseph zustimmte. Bei seinem eigenen Kaiser stieß Bismarck indes auf erhebliche Abneigung. Es hob nun ein mehrere Wochen dauernder Kampf zwischen beiden an, in dem Bismarck mit seinem Rücktritt drohte und Wilhelm I. von Abdankung sprach. Dieser sah in Bismarcks Vorhaben eine „Perfidie“ gegenüber dem Zaren, dem er noch kurz zuvor bei den russischen Herbstmanövern unverbrüchliche Freundschaft gelobt hatte. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Kanzler und Kaiser ging es schließlich vor allem darum, einen Weg zu finden, wie dem Zaren der Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses mitgeteilt werden sollte. Wilhelm hielt sich in den ersten Oktobertagen gerade in Baden auf, wo mit Hilfe des Stellvertreters Bismarcks, Stolberg, und des Kronprinzen der Widerstand gebrochen wurde. Stolberg schrieb darüber seinem Vetter Reuß am 8. Oktober18: „Die Tage in Baden 16

Nr. 140. Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871 – 1914 [GP]. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Im Auftrage des Auswärtigen Amtes hrsg. v. Johannes Lepsius [u. a.], Bd. 3, Berlin 1926, 14 – 16. 18 Nr. 144. Das folgende Zitat ebenda. Vgl. auch GP III (Anm. 17), 52 – 136; Otto von Bismarck, Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe. Hrsg. v. Konrad Canis [u. a.]. Abteilung III: 1871 – 1898. Schriften. Bd. 4: 1879 – 1881, bearb. v. Andrea Hopp, Paderborn [u. a.], 167 – 248. 17

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waren sehr schwer: 4 Vorträge mit allen möglichen Erregungen, Vorwürfen, Weinen u. Abdiciren, dazwischen nervöse Ergüsse von hier [von Bismarck aus Berlin].“ Selbst als das Bündnis zwischen Deutschland und Österreich am 7. Oktober 1879 unterzeichnet war, fürchtete Stolberg ein Wiederaufleben des Nervenkriegs mit dem Kaiser, da dieser noch die Ratifizierung des Vertrages vollziehen mußte. Stolberg seufzte: „Der gute alte Herr ist denn doch in einer Weise russophil u. identificirt sich mit diesem östlichen Nachbarn, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte.“ Die Ratifizierung ging dann doch ohne Schwierigkeiten über die Bühne. Der russischen Seite wurde das Faktum des deutsch-österreichischen Abschlusses durch ein Handschreiben Wilhelms I. an den Zaren am 4. November 1879 mitgeteilt19. Mit diesem Schritt wurde, wie erwähnt, die fatale Bündniskonstellation der folgenden Jahrzehnte eingeleitet, die Bismarck auch durch seine verzweifelten Gegenaktionen von 1881 (Dreikaiserbündnis) und 1887 (Rückversicherungsvertrag) nicht mehr entschärfen konnte. c) Der griechisch-türkische Grenzstreit 1880 und 1886 Der Berliner Kongreß von 1878 hat zwar einen europäischen Krieg nach dem Muster des Krimkriegs verhindert; viele der dort traktierten Zwistigkeiten auf dem Balkan blieben aber unerledigt und schwelten als dauernder Brandherd weiter. Reuß in Wien nahm daran naturgemäß stets regen Anteil. Aus seiner Korrespondenz wird überdeutlich, daß der Balkan einmal eine der Hauptursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bilden würde. Ein Konflikt, der sich zweimal zu einer größeren Krise zuspitzte, waren türkisch-griechische Grenzstreitigkeiten auf dem westlichen Balkan. Der Berliner Kongreß hatte es nur fertiggebracht, beide Mächte „einzuladen“, sich über den Umfang der Abtretung von Gebieten in Thessalien und im Epirus an Griechenland zu einigen. Auf mehreren internationalen Konferenzen, dazu einer in Berlin, wurde Druck auf die Türkei ausgeübt; aber zu Zwangsmaßregeln waren die europäischen Mächte nicht bereit20. Immerhin räumten türkische Truppen Ende Juli 1881 den südlichen Teil des Epirus und traten ihn an Griechenland ab; die Räumung und Abtretung Thessaliens erfolgten Mitte September. Vier Jahre später unternahm die griechische Regierung Delijannis erneut einen Versuch zur weiteren Ausdehnung des griechischen Territoriums im Nordwesten. Sie erblickte in der Vereinigung Bulgariens mit Ostrumelien im September 1885 einen Vorwand, die Armee zu mobilisieren und von der Türkei die Hergabe weiterer Gebiete zu erzwingen. Dieses Mal war die Intervention des Europäischen Konzerts massiver. Im Frühjahr 1886 versammelten sich unter englischem Oberbefehl Panzerschiffe der Großmächte in der Sudabucht auf Kreta; mit von der Partie war das 19 20

Text in Nr. 145, Anm. Nr. 163.

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deutsche Panzerschiff „Friedrich Carl“. Die Schiffe hatten den Auftrag, die griechische Flotte zu überwachen und jeden Zusammenstoß mit der türkischen Flotte zu verhindern. Dieses „picnique der Panzerschiffe“, wie es Reuß in einem Brief nannte21, wirkte dämpfend auf die griechische Kriegsstimmung. In Wien hatte laut Reuß der österreichische Kaiser „die größte Angst, daß bis zum Frühjahr nichts endgültiges [auf den internationalen Konferenzen] abgemacht werden würde; daß dann die Balkanvölker wieder losschlagen u. sich darauf endlose Verwicklungen im großen Styl ergeben würden“. Das Europäische Konzert erhöhte den Druck auf Athen, indem das internationale Geschwader, zu dem noch ein russisches Panzerschiff gestoßen war, Anfang Mai 1886 in den Piräus einlief und die Blockade über die griechische Küste erklärte. Griechenland gab binnen Wochen nach, die Blockade wurde aufgehoben, und die Krise war erst einmal vorüber. Der griechische Nationalismus hatte nichts außer einem großen Loch in der Staatskasse erreicht. Diesmal zeigte sich aber, daß bei einheitlichem Auftreten der Großmächte, das auf dem Balkan wahrlich nicht oft zu erwarten war, die lokale Krise sich nicht zu einer internationalen Krise auswuchs, sondern umgekehrt friedenserhaltend wirkte. d) Bismarcks Bündnissystem: das Dreikaiserbündnis 1881; der Vertrag mit Rumänien 1883 Bismarck war sehr daran interessiert, die durch den Berliner Kongreß und seine Folgen stark abgekühlten Beziehungen zu Rußland wieder auf ein sichereres Bündnisgleis zu führen. Die Annäherungsschritte gingen seit Ende 1879 von beiden Seiten aus und mündeten Anfang 1880 in konkrete Verhandlungen. Bismarck war klar, daß bei aussichtsreichen Verhandlungsfortschritten angesichts der russischösterreichischen Rivalität auf dem Balkan auch Österreich in die Abmachungen einbezogen werden mußte. Ende Dezember 1880 konnte Reuß aus Wien melden22, daß sich der österreichische Außenminister Haymerle „schrecklich neugierig“ nach den deutsch-russischen Verhandlungen erkundige. Er und Kaiser Franz Joseph würden die Verhandlungen begrüßen, hätten aber kein Vertrauen in die Absichten Rußlands; in allen Balkanfragen stoße Österreich-Ungarn auf den Widerstand Rußlands23. Vorbedingung für eine österreichische Mitwirkung sei, daß Rußland diesen „offenen und geheimen Widerstand“ aufgebe und die Haltung der russischen Organe auf dem Balkan „mit den schönen Worten des [russischen] Kabinetts“ in Einklang gebracht werde. Trotz dieser Vorbehalte gab Haymerle die Bereitschaft Österreichs zu erkennen, sich auf ein Dreierverhältnis einzulassen. Seine Vorstellung war: Wenn Rußland die Vereinigung Bulgariens mit Ostrumelien sich vollziehen lasse, stelle er 21

Nr. 232. Die folgenden Zitate ebenda. Nr. 172 und 173. 23 Nr. 185.

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sich nicht dagegen, sofern er dafür die Zustimmung zur Annexion von Bosnien und der Herzegowina, eventuell auch Novipazars, bekomme. Neu für die Forschung ist, daß auch die russische Seite die Einbeziehung Österreichs in die Verhandlungen wünschte24. Zar Alexander II. schrieb dem Großherzog von Weimar, Carl Alexander, daß dieser „den engeren Verband der 3 Kaiser fördern helfen möge“. Der Großherzog war zur Vermittlung bereit, die auch von Berlin gewünscht wurde; Einzelheiten darüber sind allerdings der Reuß-Korrespondenz nicht zu entnehmen. Das Dreikaiserbündnis wurde am 18. Juni 1881 abgeschlossen. In einem Zusatzprotokoll bekam Österreich-Ungarn einen Freibrief, sich Bosnien und die Herzegowina einzuverleiben. Das russische Interesse wurde hinsichtlich Bulgariens befriedigt: In dem entsprechenden Artikel heißt es, daß sich die drei Mächte einer Vereinigung Bulgariens und Ostrumeliens nicht widersetzen würden, „si cette question venait à surgir par la force des choses“25. Mit dieser Interessenabgrenzung schien eigentlich das Idealbild Bismarcks von der Ordnung auf der Balkanhalbinsel Wirklichkeit geworden zu sein. Aber allein schon die vorerst nur dreijährige Geltungsdauer des Bündnisses läßt die Vorläufigkeit der Abmachungen und das gegenseitige Mißtrauen der Unterzeichner erkennen. 1884 wurde es zwar noch einmal erneuert; die Nichterneuerung nach drei weiteren Jahren zeigt jedoch die Brüchigkeit der Balkanordnung. Diese wird allein schon daran deutlich, daß im Herbst 1883 ein Abkommen zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien zustande kam, dem das Deutsche Reich durch eine Akzessionserklärung beitrat. Dadurch wurde zwar vordergründig die österreichische Position auf dem Balkan gestärkt, aber das traditionelle Interesse Rußlands an diesem Gebiet wurde dadurch massiv verletzt. Jedenfalls war es zuvor Bismarck gewesen, der die Initiative zu einer vertraglichen Verbindung Rumäniens (daneben auch Serbiens und der Türkei) im August 1883 ergriff und damit in Bukarest auf offene Ohren stieß. Es kamen im September/ Oktober österreichisch-rumänische Verhandlungen zustande, die indes an der Erwähnung Rußlands im Vertragstext (Hilfszusage Österreichs bei einem Angriff Rußlands auf Rumänien) ins Stocken gerieten. Nachdem diese Klippe umschifft war, verlor Bismarck plötzlich das Interesse an der Sache, zumindest was Deutschlands Mittun anbelangte. Im Auswärtigen Amt konnte man sich Bismarcks Widerwillen nicht recht erklären. Unterstaatssekretär Busch schrieb Reuß am 8. Oktober 188326 : „Ich habe den Eindruck, daß der Ch[ef] gewünscht hätte, Rumänien und Oestreich hätten sich in Wien zu zweien geeinigt und ihm das Resultat mitgetheilt, ohne ihn weiter anzuzapfen. […] Er hat […] offenbar gehofft, man würde diese Accession [Deutschlands] nicht in Anspruch nehmen. Die Enttäuschung hierüber ärgert ihn, vielleicht 24

Nr. 176 und 177. GP III (Anm. 17), 179. 26 Nr. 205. Vgl. auch Nr. 206. 25

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ärgert er sich auch über sich selbst, daß er zu weit gegangen ist.“ Hatte Bismarck Angst, daß er sich im Gewebe seiner Bündnisfäden schließlich verfangen würde? Busch erfuhr von Bismarck lediglich, daß dieser „so ermattet sei, daß er die Sache nicht von Friedrichsruh mehr leiten könne“, er müsse ihm – Busch – die weitere Korrespondenz überlassen. Das ist wahrlich kein Ausdruck für einen Meister, der die Fäden souverän in der Hand hält. Die Rumänen bestanden verständlicherweise auf dem Abschluß zu dreien. „Sie werden“, schrieb Busch an Reuß, „den dargereichten Finger, der sie in die gute Gesellschaft der beiden Kaisermächte bringen sollte, so leichten Kaufs nicht wieder fahren lassen.“ Der österreichisch-rumänische Bündnisvertrag wurde am 30. Oktober 1883 in Wien unterzeichnet; die Akzessionserklärung Deutschlands erfolgte am selben Tag. e) Die Bulgarienkrise 1886 Der Balkan war im 19. Jahrhundert ein chronischer Unruheherd und bedrohte immer wieder den europäischen Frieden. In der zweiten Jahrhunderthälfte verschärfte der nun dort deutlich hervortretende Nationalismus das Unruhepotential zusätzlich. Auf dem östlichen Teil der Halbinsel war das von Rußland im Frieden von San Stefano 1878 aus der Taufe gehobene Großbulgarien auf dem Berliner Kongreß gewaltig zusammengestutzt worden. Der nördliche Teil blieb nur noch nominell unter türkischer Oberhoheit, der südliche Teil (Ostrumelien) hatte noch einige substantiellere Bindungen an Konstantinopel. Bismarck hatte „Kleinbulgarien“ unter der Hand der Interessensphäre Rußlands zugesprochen. 1879 wurde auf russischen Vorschlag und mit Zustimmung der europäischen Großmächte Prinz Alexander von Battenberg (Hessen) von der bulgarischen Nationalversammlung zum Fürsten von Bulgarien gewählt. Alexander emanzipierte sich aber von Jahr zu Jahr immer mehr von der russischen Bevormundung, verleibte 1885 eigenmächtig Ostrumelien seinem Fürstentum ein, besiegte das dagegen militärisch intervenierende Serbien und lag nun völlig über Kreuz mit dem russischen Zaren. Am 21. August 1886 wurde er auf russische Initiative hin zur Abdankung gezwungen und auf russisches Gebiet verbracht. Nachdem er freigelassen worden war, kehrte er insgeheim nach Bulgarien zurück, wo er vom Volk begeistert empfangen wurde. Sein Versuch, sich mit dem Zaren zu versöhnen, scheiterte; am 7. September 1886 dankte er von sich aus ab. Für Bismarck wurde Fürst Alexander zu einem ernsthaften Politikum, als er 1885 erfuhr, daß Alexander auf Betreiben der deutschen Kronprinzessin Viktoria (einer enragierten Engländerin) sich mit deren Tochter verheiraten wolle. In Bismarcks Augen wurde dadurch die Gefahr einer massiven Vergiftung der deutschrussischen Beziehungen beim Thronwechsel von Wilhelm I. zu seinem Sohn Friedrich Wilhelm (Friedrich III.) heraufbeschworen, so daß er mit allen Mitteln diese politische Heirat zu torpedieren suchte. Der deutschen Regierungspolitik war anders als der deutschen Öffentlichkeit der Rauswurf Alexanders aus Bulgarien sehr recht. Der damalige Botschafter in Konstantinopel, Radowitz, stellte in einem

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Brief an Reuß vom 7. September 188627 die Frage, „ob nun einige Pause auf der […] so unbeliebt gewordenen Balkanhalbinsel“ eintrete, nachdem „glücklicherweise der Battenberg hinausmanövrirt“ sei. Russischerseits sei jetzt Ruhe zu erwarten. „Aber die ,vereinigten‘ Brüderstämme der südslavischen Rattenfänger sind nun einmal das Spektakeln gewohnt geworden und werden noch allerlei Tänze aufführen. Es ist und bleibt ein unglücklicher Gedanke, daß man um dieses Gesindels willen sich opfern zu müssen geglaubt hat, erst die Russen im Kriege [1877/78] und dann alle anderen am grünen Tisch. Es hätte gerade noch gefehlt, daß wir unmerklich pour les beaux yeux von Alexander uns mit Rußland entzweit hätten.“ Radowitz war offensichtlich dem politischen Gedankengang eines Bismarck ganz erlegen. Pikanterweise war die österreichische, genauer die österreichisch-ungarische Reaktion auf die Bulgarienkrise der deutschen genau entgegengesetzt. Und das macht das Dilemma der deutsch-österreichischen Verbindung von 1879, die sich immer mehr – auch schon unter Bismarck – zu einer Schicksalsgemeinschaft entwickelte, deutlich. Kaiser Franz Joseph äußerte sich ganz legalistisch-monarchisch28: Alexander habe sich in der Situation „schneidig und pflichttreu“ benommen. „Wohin aber führe schließlich ein solcher Vorgang [die Entthronung eines Fürsten]? Legalisire man nicht dadurch die Revolution und gebe man nicht dem monarchischen Prinzip einen direkten Schlag, der nur zu leicht zu weiteren Consequenzen führen müsse? Das ganze sei doch eine große Schweinerei, die ihn in seinen innersten Gefühlen tief verletze.“ Die Duldung eines solchen revolutionären Prinzips könne leicht auf Serbien und Rumänien zurückwirken, „und daß dann der Moment komme, wo Rußland Österreich so an den Leib rücke, daß Letzteres nicht anders könne, als Front zu machen.“ Das gemahnt schon fatal an die Juli-Situation 1914. Außenminister Kálnoky schlug noch eine ganz andere Saite hinsichtlich des Balkangewirrs an. Die ungarische Reichshälfte war von dem Geschehen auf dem Balkan zumeist unmittelbarer betroffen als die westliche Hälfte. Darüber beklagte sich Kálnoky einmal im September 1886 gegenüber dem Prinzen Reuß29 : Er sei in seiner Außenpolitik den Ungarn gegenüber fast ohnmächtig; ohne deren Unterstützung sei aber überhaupt keine Politik möglich. Ungarn reagierte allergisch auf die Ausbreitung des russischen Einflusses auf dem Balkan. Kálnoky gestand Reuß zu, „daß Deutschland die größte Indifferenz gegen Bulgarien und die Balkanzustände habe. Wenn aber gewichtige Stimmen von Berlin aus fast täglich diese Indifferenz verkündeten [gemeint sind hier Pressestimmen], so lege man dies in Ungarn so aus, als wenn Deutschland den Russen carte blanche auf der Balkaninsel gäbe.“

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Nr. 242. Nr. 239. 29 Nr. 243. Das folgende Zitat in Nr. 246. 28

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Von Berlin aus tönte es zurück: Österreich vergesse immer, daß ihm auf dem Berliner Kongreß als Äquivalent für den russischen Einfluß in Bulgarien Bosnien zugesprochen worden sei. Es habe schließlich ohne Krieg, wesentlich durch deutsche Unterstützung, zwei Provinzen und den herrschenden Einfluß in Serbien erlangt; da könne es doch Rußland in Bulgarien schalten und walten lassen. So ließ sich der nunmehrige Staatssekretär Graf Herbert von Bismarck vernehmen30, das Sprachrohr seines Vaters. Und dieser schrieb an den Rand eines Briefes des deutschen Militärattachés in Wien31, in dem es hieß, in Österreich-Ungarn verliere man das Vertrauen in die Nützlichkeit der deutschen Allianz und in die Politik des Reichskanzlers: „Man soll in Oestreich doch zufrieden sein, wenn Rußland sich dafür in Serbien zurückhält. – Weil wir uns nicht von Oestreich gegen Rußland verbrauchen lassen wollen […].“ Die Erregung in Österreich und Ungarn war hochgradig. Kronprinz Rudolf eröffnete dem deutschen Militärattaché32 : „Rußland dürfe keinerlei Einfluß in Bulgarien haben. Die sogenannte Interessensphäre sei ein Unglück und man dürfe ein solches Wort garnicht aussprechen. […] Der Kanzler thue jetzt alles für Rußland […]. Eine Russische Occupation Bulgariens oder gar Constantinopels bedeute den Krieg.“ Von Berlin aus sah die Aufteilung in zwei Interessensphären genial-einfach aus. In Wien und Budapest empfand man das jedenfalls weder als genial noch als einfach, sondern als fatal und wirklichkeitsfremd. Der ungarische Staatsmann und Parlamentarier D. v. Szilágyi wies den deutschen Generalkonsul in Budapest, Bojanowski, auf ein paar simple Fakten hin: Mit der Teilung der Balkanhalbinsel in zwei Interessensphären sei aus österreichischer und aus ungarischer Sicht nichts gewonnen33 : „Man werde […] nichts im Westen ausrichten, sei zu schwach, um jene Linie halten zu können, auch übervortheilt, weil die gebirgigen Landstriche im Westen weit hinter den fruchtbaren Landschaften im Osten zurückbleiben.“ Das gegenseitige Mißtrauen wurzelte in allen drei östlichen Hauptstädten – in Berlin, St. Petersburg und Wien – inzwischen sehr tief. In einem Gespräch mit Großfürst Vladimir, dem Bruder des Zaren, erfuhr Prinz Reuß folgendes und meldete es nach Berlin34 : „Der Kaiser [Alexander III.] glaube in Allem, was Rußland Unangenehmes passire, den Finger des Reichskanzlers heraus zu fühlen; […] Östreich sei ganz à la remorque Deutschlands, in Wien thue man, was von Berlin aus befohlen werde (!), also gingen alle halbversteckten österreichischen Feindseligkeiten gegen Rußland von Deutschland aus.“ Aus der Perspektive Konstantinopels sprach der dortige deutsche Botschafter, Radowitz, etwas salopp-erheiternd Ende 30

Nr. 246. Nr. 244. 32 Nr. 245. 33 Nr. 250. 34 Nr. 255. 31

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November 1886 einmal von den „unausstehlichen Bulgaren, die als Wanzen der Politik das europäische Fell jucken“35. Die bulgarische Krise schwelte Ende 1886 noch weiter. Nach der Abdankung des Fürsten Alexander wählte die bulgarische Nationalversammlung, die Sobranje, den Prinzen Waldemar von Dänemark zum Fürsten, der – auf russischen Druck hin – dankend ablehnte. Rußland seinerseits schlug die Kandidatur des Fürsten Dadian von Mingrelien vor; diesen lehnte nun die Sobranje ab. Dann kam die Kandidatur des Prinzen Ferdinand von Coburg ins Spiel, der am 7. Juli 1887 von der Sobranje zum Fürsten von Bulgarien gewählt wurde. Dieser wurde weder von der Pforte noch von den Großmächten anerkannt, erst recht nicht von Rußland. Mit ihm kehrte aber vorübergehend Ruhe in das Land ein. Aus der Reuß-Korrespondenz geht im bulgarischen Zusammenhang noch eine bislang unbekannte Arabeske hervor, die Reuß aus dem Hause Sachsen-Weimar erfuhr, nachdem Ferdinand gerade auf den bulgarischen Thron gehoben worden war. Nach dieser Quelle, die vom Weimarer Hof direkt stammt36, war Autor der Kandidatur Ferdinands kein anderer als der abgesetzte Prinz Alexander von Battenberg selbst. Dieser stand noch immer in reger Verbindung mit Bulgarien und hatte mit einem hochrangigen bulgarischen Minister, Konstantin Stoilov, den Plan ausgeheckt, einen „möglichst prononcirten Strohmann“ vom bulgarischen Volk zum Fürsten wählen zu lassen, „der vielleicht die Zustimmung der Mächte erhalten würde. Lägen die Dinge einmal wieder günstiger für den Battenberger, so würde der betreffende Strohmann weggejagt u. Alexander im Triumph von seinem (allerdings faktisch noch) enthusiastischen Volk zurück gerufen werden“. Um sicher zu sein, hat Alexander – so Reuß’ Weimarer Nachricht – zwei Kandidaten ins Auge gefaßt, den Prinzen Ferdinand und Prinz Bernhard, Herzog von Sachsen, aus dem Hause Sachsen-Weimar-Eisenach. Die interne Wahl fiel schließlich auf Ferdinand. Es ist schon erstaunlich, welche Blüten die Orientalische Frage selbst in den deutschen Dynastien damals trieb und wie sich deutsche Prinzen einbilden konnten, ohne Rückendeckung Bismarcks oder des Europäischen Konzerts in einem Winkel des Balkans für deutsche Ordnung sorgen zu wollen. f) Reuß und der Zerfall von Bismarcks Bündnisgewebe Die bulgarische Frage – Österreichs Furcht und laut ausgesprochene Warnung vor einer russischen Besetzung Bulgariens, die rußlandfeindlichen Töne in Ungarn – war der Hauptgrund dafür, daß Ende 1886 in Rußland keine Neigung bestand, den 1887 auslaufenden Dreikaiservertrag zu erneuern. Russischerseits wurde aber in Berlin vertraulich mitgeteilt, daß man einem deutsch-russischen Abkommen nicht abgeneigt sei. Dies ist der Ursprung des berühmten deutsch-russischen Rückversicherungsvertrags vom 18. Juni 1887. 35 36

Nr. 256. Nr. 283.

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Prinz Reuß war von der Sachlage unterrichtet, hat sie aber in seinen Privatbriefen wohl aus Gründen der Geheimhaltung nicht erwähnt. Die österreichische Führung wurde von der Existenz des Rückversicherungsvertrags nicht informiert37. Erst Monate nach der Nichterneuerung des Vertrags, die von der neuen Regierung unter Caprivi ausging, hat Kaiser Wilhelm II. die Sache während der deutschen Kaisermanöver im September 1890 dem österreichischen Monarchen ausgeplaudert. Außenminister Kálnoky, der bei der Plauderei zugegen war, erzählte Reuß von dem Eindruck, den die Eröffnung auf Franz Joseph gemacht hat38 : „Der Kaiser habe ein sehr erstauntes Gesicht gemacht.“ Reuß selbst hielt es für besser, „wenn man die Leute hier in dieser seligen Unwissenheit gelassen und ihnen nur durch die That bewiesen hätte, daß wir gute u. sichere Bundesgenossen sind“. Reuß wie auch sein früherer Militärattaché, Generalmajor von Wedel, waren von ihrer Wiener Warte aus von Bismarcks Bindung an Rußland nicht mehr erbaut. Wedel, der inzwischen Kommandeur der Leibgendarmerie und Flügeladjutant des Kaisers geworden war, schrieb seinem alten Chef Anfang 1890 aus Berlin39 : „Der Osten ist uns ja für immer verloren und der Czar wird von seinem eingewurzelten Mißtrauen gegen den Kanzler nicht ablassen. Die russisch-slavische Presse aber sieht in unserem Freundschaftsdienst nur kriechendes Streben nach der Gunst Rußlands. Wäre es da nicht Wahnsinn, wenn wir die sicheren Freunde [Österreich] einer historischen Tradition, die in der neueren Zeit zu einem haltlosen Phantom geworden ist [Rußland], opfern wollten?“ Ein paar Monate später schrieb er erneut an Reuß40 : „Mir ist es oft geradezu ein psychologisches Rätsel, daß der Kanzler oder wohl richtiger Herbert immer und immer wieder zu Rußland hinneigen, wo wir doch die Freundschaft – damit aber gleichzeitig die Verachtung – dieses Nachbars nur durch die Opfer eines Vasallenthums erkaufen könnten.“ Wedel hatte in dieser Zeit öfter Gelegenheit, im Hause Bismarck zu verkehren. Hier wurde ihm allmählich das innerste Geheimnis von Bismarcks Rußlandpolitik klar: „Sein Ideal wäre, Rußland nach Constantinopel zu ziehen, ihm die Thore dieser Stadt weit zu öffnen, weil er als die natürliche Folge einer solchen Schwerpunktverlagerung den Zerfall des nordischen Kolosses und einen Krieg mit England voraussieht.“ Wedel hielt diese Rechnung für falsch. Im Gegensatz zu Bismarck, dem laut Wedel die Mitwirkung Österreichs bei diesem Szenario gleichgültig schien, war ihm die unbedingte Bindung an Österreich ein absolutes Gebot: „Kommt es zum Conflikt zwischen Oesterr. und Rußl., so müssen wir am selben Tage mobil machen wie Oesterr., denn sonst geht dort das Vertrauen verloren. […] ich würde in diesem Fall nicht zögern, selbst gegen unseren großen Staatsmann Parthei zu ergreifen, wenn er – für ein Zögern und Hinhalten plaidiren würde.“

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Vgl. GP (Anm. 17), Bd. 5, Berlin 1926, 259 – 268. Nr. 367. 39 Nr. 337. 40 Nr. 342.

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Das Urteil des Prinzen Reuß liegt auf derselben Linie. Mehrmals schrieb er 1889 an Vertraute im Auswärtigen Amt41: „Die Russen sind nicht mehr für uns zu haben.“ Das Werben um Rußlands Wohlwollen sei fruchtlos. Dagegen sei Österreich zwar nicht das Ideal eines kräftigen Bundesgenossen, „doch überhaupt einer; und ein ehrlicher.“ Nicht nur in Berlin verloren, was man in der Forschung schon lange wußte, die Mitarbeiter das Vertrauen in die Staatskunst Bismarcks; auch in den wichtigen Außenposten Wien und Petersburg war der Glaube an den Wert eines deutschrussischen Bündnisses geschwunden. Als Reuß von der Kündigung des Rückversicherungsvertrags, die deutscher Initiative entsprang, hörte, war er spontan damit einverstanden. Die neue „klare Politik“ gegenüber Rußland sei höchst lobenswert. Österreichs „Bündnistüchtigkeit“ sei in den letzten Jahren gewachsen. Man wisse auch in Wien, daß Deutschland „österreichischer Balkaninteressen wegen“ nicht in einen Krieg verwickelt werden wolle42. Auch mit Caprivis neuer Handelsvertragspolitik, die mit Bismarcks Schutzzollpolitik brach, indem sie die Konsequenz aus der zunehmenden Industrialisierung Deutschlands zog, ging Reuß aus Überzeugung mit43 : „Caprivi zeigt viel Muth, mit der Vergangenheit zu brechen u die Theorie des Vorgängers als nicht mehr stichhaltig zu bezeichnen.“ In nationalökonomischen Fragen gebe es keine Infallibilität44 : „Seit ich denke, ist man, u zwar die klügsten Köpfe mehrmals von einem zum anderen System übergesprungen.“ Jetzt werde der politische „Central-Bund“ mit Österreich durch die handelspolitische Zusammenarbeit sehr gestärkt. Auch auf dem Petersburger Posten wurde von dem dortigen langjährigen und intimen Kenner der russischen Verhältnisse, Lothar von Schweinitz, Bismarcks Rußlandpolitik der letzten beiden Jahrzehnte tief beklagt. Die Schuldzuweisung war dabei direkter als von seiten des Prinzen Reuß: „Als im Sommer 1873 Bismarck die damals mögliche Restauration in Frankreich bekämpfte und als er, was viel schlimmer war, 1874 die spanische Republik anerkannte, da war es mit der dynastischen Solidarität vorbei; der Zar war durch die Anerkennung Serrano’s, Kaiser Franz Joseph durch unseren Kampf gegen den Pabst entfremdet und der Drei-Kaiser-Bund zu locker als daß er den Türkenkrieg [1877/78] hätte verhindern können.“ V. Reuß und die Radowitz-Mission 1875 Obwohl die Radowitz-Mission von 1875 in den Zusammenhang der unmittelbar vorausgehenden Ausführungen gehört, soll ihr ein eigener kurzer Abschnitt gewidmet werden, weil über sie auf Hunderten, ja Tausenden von Seiten in der For41

Nr. 340. Vgl. auch Nr. 344. Nr. 358. 43 Nr. 394. 44 Nr. 411.

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schung spekuliert und diskutiert worden ist. Es ist zu fragen, ob die hier vorgelegte Reuß-Korrespondenz einiges zusätzliche Licht auf die Kontroverse werfen kann. Schließlich waren Reuß und Radowitz zwei direkt Beteiligte, die obendrein in intimem Briefverkehr standen. Worauf bisher zu wenig hingewiesen wurde, ist die unmittelbare Veranlassung zur Radowitz-Mission: die krankheitsbedingte monatelange Abwesenheit des Prinzen Reuß von seinen Geschäften. Er hatte sich Anfang August 1874 eine schwere Knieverletzung zugefügt, die im Briefverkehr immer wieder angesprochen wird. Der bettlägerige Botschafter mußte die Geschäfte seinem Ersten Sekretär, Friedrich Johann von Alvensleben, überlassen. Dieser kannte zwar das Petersburger Terrain, auf dem er sich seit 1868 bewegte, war aber dem routinierten russischen Kanzler, A. M. Fürst Gorcˇakov, intellektuell bei weitem nicht gewachsen. Am 17. August 1874 schrieb Reuß an Staatssekretär B. E. v. Bülow45 : „Mit der Besserung meines Knies geht es nur sehr langsam vorwärts […]. Das ist im jetzigen Augenblick wirklich außerordentlich störend.“ Im Oktober 1874 mußte sich Reuß über Berlin nach Wiesbaden zur Kur begeben. Im Dezember wurde er von Berlin vielsagend gedrängt46: „Ich würde Ew. Durchlaucht außerordentlich dankbar sein, wenn Sie mir […] über den Stand Ihrer Gesundheit […] geneigte Mittheilung machen würden.“ Reuß erhielt von seinem Wiener Kollegen, Schweinitz, den Rat, zur Heilung seines Knieproblems Dr. J. G. Mezger in Amsterdam, eine damalige Koryphäe in Sachen Orthopädie, aufzusuchen. Das tat Reuß Anfang Januar 1875, so daß er von den deutsch-russischen Beziehungen dienstlich nun schon mehrere Monate abgeschnitten war. Am 29. Januar 1875 schrieb ihm Radowitz vertraulich aus Berlin, daß er in „außerordentlicher Mission“ nach Petersburg gehen solle47. „In geschäftlicher Hinsicht werde ich selbstverständlich nur suchen können, Vorhandenes weiterzuführen ohne daran etwas zu verderben. Nebenbei werde ich ganz specielle und bestimmte Aufträge auszurichten haben, denen ich hier entgegensehe.“ Als am 6. Februar die außerordentliche Mission öffentlich bekanntgegeben wurde und Radowitz bereits nach Petersburg abgereist war, erhielt Reuß in Amsterdam die Mitteilung, daß der Orientkenner wegen der Abwesenheit des Botschafters und aufgrund verschiedener Probleme, die sich in den deutsch-russischen Beziehungen angehäuft hätten, in die russische Hauptstadt abgegangen sei48. Reuß war von der Spezialmission wie elektrisiert und beeilte sich wenige Tage später, dem Auswärtigen Amt aus Amsterdam mitzuteilen, der Arzt habe ihn entlassen49: „Das Übel selbst ist vollkommen geheilt.“ Er melde sich am 28. Februar in Berlin zur Rückkehr auf seinen Posten bereit. „Daß ich ungeduldig bin,“ schrieb er dem 45

Nr. 26. Nr. 34. 47 Nr. 36. 48 Nr. 39. 49 Nr. 42. Das folgende Zitat ebenda. 46

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Staatssekretär von Bülow, „wieder an die Arbeit zu gehen, werden Sie verstehen.“ Noch vor Mitte März nach Petersburg zurückgekehrt, schrieb Reuß am 15. März an Bismarck höchstpersönlich50: „Mein Knie hat die ersten anstrengenden Tage ganz gut ausgehalten.“ Der äußere Grund für diesen Privatbrief an den Reichskanzler war die Nachricht, daß er soeben mit dem Zaren ein Gespräch geführt hatte. „Von der Mission des Herrn von Radowitz hat mir der Kaiser nur ganz vorübergehend gesprochen.“ Seine Hauptsorge seien die russisch-englischen Beziehungen. Ein paar Tage später berichtete Reuß dem Staatssekretär in Berlin51, er habe den Eindruck erhalten, „daß Fürst Gortchakov wie Herr Stremoukoff [der Petersburger Orientspezialist] vollständig verstanden haben, warum Radowitz hierher gesendet worden ist. Aeußerlich ist die Sprache des [russischen] Auswärtigen Amtes anders. Man sagt dort, man habe immer darauf gewartet, derselbe werde mit einer besonderen Mission hervortreten; da dies nicht geschehen sei, so könne man den Grund dieser Sendung nicht recht begreifen.“ In diesen Worten liegt nun der Schlüssel für die Beurteilung der vieldiskutierten Radowitz-Mission. Aus den bisher veröffentlichten russischen Quellen52 geht hervor, daß die russischerseits in die Welt gesetzte Frage, was Radowitz in Petersburg eigentlich habe erreichen wollen, bald in die viel weitergehende Feststellung umgemünzt wurde, Deutschland habe durch Radowitz Rußland „freie Hand“ in dessen Orientpolitik versprochen und dafür „freie Hand“ im Westen – in seinen Auseinandersetzungen mit Frankreich – gefordert. Diese gewaltsame Uminterpretation der Absichten der Radowitz-Mission kam in der sich sofort anschließenden „Krieg-inSicht“-Krise vom April/Mai 1875 dem profilsüchtigen Gorcˇakov sehr zupaß, um vor Europa als Friedensengel zu posieren. Was waren nun nach den heute wohl vollständig ausgegrabenen deutschen Quellen der Grund und der Inhalt der Radowitz-Mission? Schlicht und einfach die Forderung nach „Reziprozität“, nach „Gegenseitigkeit“ in den deutsch-russischen Beziehungen. Im Jahr 1874 hatte sich viel Reizstoff zwischen Berlin und Petersburg angesammelt. Bismarck befand sich auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes, den er nicht nur nach innen, in Preußen und Deutschland, sondern auch nach außen, besonders nach Frankreich und Belgien hin, führte. Immer wieder verlangte er von Rußland Unterstützung und monarchische Solidarität bei diesen außenpolitischen Implikationen. Gorcˇakov zeigte ihm die kalte Schulter, da russische Interessen dabei überhaupt nicht tangiert waren. In den spanischen Wirren zwischen Republikanern und Karlisten unterstützte Bismarck die republikanischen Bestrebungen. 50

Nr. 43. Nr. 44. 52 Dazu vgl. James Stone, The Radowitz Mission. A Study in Bismarckian Foreign Policy, in: MGM 51 (1992), 47 – 71 (hier 66). Dort die ältere Literatur. Neuerdings auch: Johannes Janorschke, Bismarck, Europa und die „Krieg-in-Sicht“-Krise von 1875 (Otto-von-BismarckStiftung, Wissenschaftliche Reihe, 11), Paderborn [u. a.] 2010, 82 – 106. 51

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Die republikanische Regierung unter Serrano erkannte er rasch völkerrechtlich an und erwartete das auch von Rußland. Der Zar war aus legitimistischen Gründen darüber besonders aufgebracht. Überhaupt witterte Bismarck eine Annäherung zwischen Rußland und Frankreich besonders in orientalischen Fragen, etwa in der Suezkanalfrage. Schon Anfang April 1874 hatte Radowitz dem Prinzen Reuß in einem langen Privatbrief53 einen ganzen Strauß Orientalia zur Verwendung in Petersburg in die Hand gelegt: Neben der Suezangelegenheit die Frage der Handelsverträge Rumäniens (das noch unter der Suzeränität der Türkei stand) mit fremden Mächten; der drohende türkische Staatsbankrott, der u. a. von den Schwindelgeschäften des Baron Hirsch beim Bau türkischer Eisenbahnen auf dem Balkan verursacht war. Hinzu kam die in Bismarcks Augen gefährliche Kaltstellung des deutschfreundlichen P. Sˇuvalov in Petersburg, der dort für die innere Sicherheit verantwortlich war. Neben der russisch-französischen Annäherung in orientalischen Dingen fürchtete Bismarck auch, daß ihm die österreichische Gefolgschaft abhanden kommen würde, wenn, wie es den Augenschein hatte, der deutschfreundliche Andrássy in Wien entmachtet würde. Wie schon angedeutet, war der Erste Sekretär an der deutschen Botschaft in Petersburg, Alvensleben, mit der Behandlung all dieser und weiterer Probleme überfordert. Am 20. Januar 1875, also kurz vor dem Entschluß zur Radowitz-Mission, wurde er von Bismarck darüber aufgeklärt54 (noch nicht zur Verwertung gegenüber Gorcˇakov), daß die Voraussetzung intimer Beziehungen zu Rußland „Reciprocität im Verständniß und in der Unterstützung für nothwendige Forderungen der beiderseitigen politischen Aufgaben“ sei. Wenige Tage später wurde Alvensleben dafür gerüffelt, daß er sich in einer neuerlichen orientalischen Spezialfrage zum Sprachrohr des russischen Kanzlers gegenüber Berlin mißbrauchen lasse. „Die deutsche Botschaft in Petersburg ist in der Hauptsache mehr dazu da, deutsche Wünsche in Rußland als russische Wünsche bei uns zu vertreten.“ Deutlichere Kritik konnte einem Diplomaten nicht widerfahren. Es war die natürlichste Sache der Welt, daß angesichts der Abwesenheit des deutschen Botschafters von Petersburg ein Sonderemissär dorthin gesandt wurde. Dieser Emissär, Radowitz, war nun der intimste Kenner der verwickelten Orientalischen Frage im deutschen Auswärtigen Amt. Bei Sondergesandtschaften im 19. Jahrhundert war es üblich, daß der Betroffene eine schriftliche Instruktion mitbekam. Das war hier nicht der Fall und war angesichts der bekannten deutschrussischen Gereiztheiten und des Formats des Sondergesandten nicht notwendig. Der einzige Auftrag für Radowitz lautete, von Petersburg „Reziprozität“ zu verlangen, also Unterstützung deutscher Wünsche im Westen (Frankreich), da Deutschland russische Belange im Orient stets fördere. Am 27. Februar bekam

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Nr. 21. O. v. Bismarck, Gesammelte Werke (Anm. 18). Bd. 2: 1874 – 1876, bearb. v. Rainer Bendick, Paderborn [u. a.] 2005, 269. Das folgende Zitat ebd., 272 – 274. 54

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Radowitz erneut den Auftrag55, in Petersburg klarzumachen, daß die Freundschaft der beiden Höfe nicht nur im Orient, wo russische Interessen voranstünden, sondern auch dort, „von wo die Kriegsgefahr Europa bedrohe, im Westen“, Ausdruck finden müsse. Als Reuß Mitte März wieder zurück in Petersburg war, wurde er im nämlichen Sinne instruiert: Deutschland werde sich den russischen Interessen im Orient anschließen und erwarte „von Rußland Reciprocität in den für uns wichtigeren“ Fragen des Westens. In einem Privatbrief an Reuß vom 5. April 1875 schreibt Radowitz56 : „Der Kaiser und Fst Bismarck sind mit dem negativen Resultat meiner Episode an der Newa durchaus zufrieden und ich glaube, daß es auch wirklich ganz nützlich war, auf diese Art die vorhandene Electricität in die Atmosphäre abzuleiten. […] Daß die berühmte Reciprocität von Ihnen bei jeder passenden Gelegenheit betont werde, setzt der Chef voraus u. ich habe ihn versichern zu können geglaubt, die leçon sei nun nachgerade an der Newa verstanden worden.“ Inzwischen hatte Bismarck in Berlin ein Gespräch mit dem auf der Durchreise befindlichen P. Sˇuvalov. Er wartete diesem gegenüber nicht nur mit der Reziprozitätsforderung auf, sondern lud ihn auch ein, in Petersburg verlauten zu lassen, daß er eine aktivere russische Orientpolitik unterstützen würde. Mit dieser Ermunterung erwartete Bismarck, so hat es James Stone richtig gedeutet57, die russisch-englische Rivalität im Orient (neuerdings auch in Zentralasien) anheizen zu können, um damit, wie er es später im Kissinger Diktat vom Juni 1877 formulierte, die Abhängigkeit dieser (und aller) europäischen Mächte von Deutschland in ihren großen Auseinandersetzungen zu erhöhen. Reuß hat das einmal vereinfacht Anfang Mai 1875 so ausgedrückt58: „Meine Idee ist immer gewesen, daß sich Rußland und Wien so viel und so lange lieben dürfen, als uns dies recht ist, und wir es ihnen gestatten.“ Das beharrliche Verlangen nach Reziprozität während der Radowitz-Mission und darüber hinaus der Wunsch, die anderen Mächte von Deutschland abhängig zu machen, waren der Urgrund von Bismarcks Außenpolitik. Daß er diese Vorstellungen nie – weder 1875 noch später – richtig durchsetzen konnte, deutet auf den „cauchemar des coalitions“ hin, der in Bismarck festgewurzelt war, und zeigt, daß Deutschland unter Bismarck alles andere als die „halbhegemoniale“ Macht gewesen ist, als die es in der Forschung irrtümlicherweise hingestellt wird. Abgesehen davon daß „halbhegemoial“ eine sprachlich unsinnige Formel ist, war eher die Abhängigkeit Deutschlands vom russischen Koloß gegeben als umgekehrt. VI. Reuß und die Gefahr eines europäischen Krieges Nach vorherrschender Sicht in der Historiographie sind die über vier Jahrzehnte nach den deutschen Einigungskriegen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 55

Ebd., 304 – 306. Das folgende Zitat ebd., 322 – 324. Nr. 45. 57 J. Stone, The Radowitz Mission (Anm. 52), 62 f. 58 Nr. 49.

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eine Ära des Friedens in Europa gewesen. Diese Vorstellung kann nur sehr eingeschränkt aufrechterhalten werden. Aus dem Briefwechsel des Prinzen Reuß, der die Zustände und Entwicklungen in Ost- und Südosteuropa aus der Sicht eines gewichtigen Beobachters widerspiegelt, geht hervor, daß die Furcht vor einem großen Krieg in Europa ständig präsent blieb. Der Balkan, auf dem durch das Schwinden der alten türkischen Dominanz Rußland und Österreich-Ungarn Herrschaftsansprüche untergründig oder offen anmeldeten, blieb ein permanenter Unruheherd, der durch das Anwachsen des dortigen Nationalismus immer gefährlicher wurde. Mit der Orientkrise 1877/78 und dem Berliner Kongreß war der Zusammenhalt der drei „nordischen Höfe“ endgültig begraben worden. Die deutsch-russische Freundschaft existierte nur noch auf dem Papier; der österreichisch-russische Antagonismus wuchs von Jahrfünft zu Jahrfünft an. Bismarcks Versuch, den Balkan in zwei Interessensphären zu teilen, wurde von österreichischer Seite – das zeigt der Reußsche Briefwechsel immer wieder – nicht ernst genommen. Die Fragilität der diversen Abkommen und Bündnisse, angefangen mit dem Drei-Kaiser-Abkommen von 1873 und endend mit dem streng geheimgehaltenen Rückversicherungsvertrag von 1887, setzte bei allen Mächten einen Rüstungswettlauf in Gang, der wiederum die Kriegsgefahr und die Kriegsfurcht allenthalben steigerte und eine Atmosphäre des Fatalismus bei den Regierungen und Generalstäben der europäischen Mächte hervorrief. Aus den Reuß-Briefen sind zwei Zeiträume erkennbar, in denen die Gefahr eines großen europäischen Krieges besonders dramatisch hervortritt: Es sind die zweite Hälfte des Jahres 1883 und die Monate an der Jahreswende 1887/88. Bismarck hatte den deutsch-österreichischen Zweibund von 1879, der aus der wachsenden deutsch-russischen Entfremdung hervorgegangen war, im Jahr 1883 durch den Hinzutritt Rumäniens zu kräftigen versucht (und damit sein Credo von der Zweiteilung des Balkans in zwei Interessensphären Lügen gestraft). Trotzdem witterte er von Rußland her Kriegsgefahr auf dem Balkan, da Rußland sich massiv in die Verhältnisse Bulgariens einmischte. Reuß berichtete Anfang August 1883 von einem Gespräch mit Kaiser Franz Joseph59. Dieser war alarmiert von Truppenkonzentrationen an der russischen Südwestgrenze. „Das Anhäufen von russischen Streitkräften sei unbegreiflich.“ Die russische Politik in Bulgarien sei völlig illegal. Er vermöge sich mit nur „mit dem größten Wiederstreben [!] in die Möglichkeit eines Krieges mit Rußland hinein zu denken“. Bismarck reagierte seinerseits bemerkenswert alarmiert auf diese Nachricht aus Wien. Er forderte durch einen Privatbrief seines Unterstaatssekretärs Clemens Busch Reuß zur Äußerung auf60, „ob Oestreich im Falle eines Krieges Credit (d. h. Geld durch Anleihen) finden, oder ob es bereit und im Stande sein würde, ohne Geld […] Krieg zu führen“. Reuß sollte seine Rückäußerung gleichfalls in privater 59 60

Nr. 201. Nr. 202.

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Form nach Berlin gehen lassen, da man dort nicht wünschte, „daß die Sache in den Akten figurire“. Busch, der erst seit ein paar Tagen nach mehrwöchentlicher Abwesenheit wieder Dienst in Berlin tat, staunte, „mit welcher Lebhaftigkeit sich inzwischen an der leitenden Stelle der Gedanke an einen nahen Zusammenstoß mit dem östlichen Nachbar entwickelt hat und wie es jetzt täglich vor allem von dem Rk. kommt, den Grundton und das ceterum censeo bildet“. Reuß antwortete auf Bismarcks Frage bejahend61: Österreich-Ungarn werde finanziell in der Lage sein, Krieg zu führen, aber nicht ohne eine Anleihe aufzulegen. „Handelt es sich um einen Krieg mit Rußland“, so Reuß in seiner Antwort, „so würde in Ungarn jede Summe votirt werden. In Cisleithanien, wo ein solcher Krieg weniger populär sein würde, dürfte ein Appell des Kaisers an den Patriotismus indessen seine Wirkung nicht verfehlen.“ Die Krisenstimmung der letzten Monate des Jahres 1883 verflog indes bald wieder. Die Spannungen in der internationalen Politik gerieten 1887 sowohl durch die Boulanger-Krise in Frankreich als auch durch die Krise in Bulgarien (Absetzung des Fürsten Alexander von Bulgarien durch die Russen) auf einen neuen Höhepunkt. Bismarck war sich dessen bewußt, daß der Drei-Kaiser-Bund von 1881, der 1884 noch einmal hatte verlängert werden können, nicht in der alten Form weiterexistieren würde. Er bahnte deshalb in tiefstem Geheimnis den zweiseitigen deutsch-russischen Rückversicherungsvertrag an. Im September 1886 meldete Reuß nach Berlin62, daß die Idee der Abgrenzung des Balkans in zwei Interessenhälften in der österreichischen Führung überhaupt nicht verfange. Der österreichische Kaiser habe zudem „vor förmlichen Abmachungen mit Rußland eine heilige Scheu, weil er sich einbildet, man werde von der anderen Seite [der russischen] das gegebene Wort umgehen“. Bismarck setzte an diesen Passus des Reußschen Privatbriefs den Randvermerk: „aber weil er sich für Zukunft nicht beschränken will? Halten die Russen nicht Wort[,] so kann Krieg dann geführt werden.“ Dieses gewichtige Wort heißt nichts anderes, als daß im Falle eines vertragswidrigen bzw. eines unprovozierten russischen Angriffs auf Österreich dieses zur Kriegserklärung berechtigt sei und dann auf deutsche Unterstützung zählen könne. Das ist zwar noch längst nicht die später von Wilhelm II. apostrophierte Nibelungentreue, aber doch die Voraussicht, daß ein Krieg Deutschlands mit Rußland (und damit auch mit Frankreich) nicht außerhalb der Berechnung lag63. Im November 1887 gelangten wieder zahlreiche Meldungen von russischen Truppenkonzentrationen an der galizischen Grenze nach Wien und Berlin64. Ende 61 Nr. 203. Vgl. auch die Erlasse Bismarcks vom 18./19. August 1883 in: O. v. Bismarck, Gesammelte Werke (Anm. 18). Bd. 5: 1882 – 1883, bearb. v. Ulrich Lappenküper, Paderborn 2010, 494 – 496. 62 Nr. 247. 63 Daß damals die Möglichkeit eines großen Kriegs in der Luft lag, beweisen die Stimmen der französischen Kaiserin Eugénie (in Nr. 291) und des deutschen Generals (späteren Generalfeldmarschalls) Walter Frhr. v. Loë (Nr. 251) aus dem Jahr 1887. 64 Nr. 291, 292, 296, 298. Zum folgenden: GP V (Anm. 17/37), 12 – 17, 19 – 29.

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November bekam Reuß den Auftrag, die österreichische Führung zu aktiveren Defensivmaßnahmen anzuspornen. Am 9. Dezember berichtete der deutsche Militärattaché in Wien, Major Deines, von einem Gespräch, das er mit dem österreichisch-ungarischen Generalstabschef Feldmarschalleutnant Beck hatte65. Deines drang in den Generalstabschef, baldigst konkrete Abwehrmaßnahmen an der galizischen Grenze zu ergreifen. Beck hielt dem deutschen Major das österreichische Dilemma vor Augen: Rüste man an der Grenze zu Rußland auf, bedeute dies den ersten Schritt zum Bruch mit Rußland; anders liege die Sache, wenn man sicher sein könne, daß Deutschland mit Österreich zusammen den Säbel zöge. In der österreichisch-ungarischen Armee herrsche die Vorstellung, daß sie sich im Ernstfall allein mit den Russen schlagen müsse und von Deutschland im Stich gelassen werde. Sehr bemerkenswert ist es, daß Bismarck zu diesem Passus den Randvermerk schrieb: „das wird es nicht, wenn Rußl. angreift.“ Und an einer zweiten Stelle des Briefes vermerkte er in der gleichen Tonlage: „der Angriff Rußlands muß abgewartet werden.“ Bismarck war also sehr wohl bereit, in einem von Rußland provozierten Angriff auf Österreich-Ungarn militärisch an dessen Seite zu stehen. Die Unterredung zwischen dem deutschen Militärattaché und dem österreichisch-ungarischen Generalstabschef hatte immerhin ein konkretes Ergebnis. Im Dezember 1887/Januar 1888 fanden zwischen deutschen und österreichisch-ungarischen Generalstabsoffizieren – zu denen kraft des Dreibundes auch italienische Offiziere stießen – militärische Besprechungen für den Fall eines russischen Angriffs auf Österreich-Ungarn und eines dann auch im Westen aufziehenden Krieges gegen Frankreich statt66. Am 18. Dezember 1887 befaßte sich auch der gemeinsame Ministerrat in Wien mit der österreichisch-russischen Spannung und den zu ergreifenden Maßnahmen67. Der ungarische Ministerpräsident Graf Tisza plädierte recht unverblümt für einen Präventivkrieg gegen Rußland: „Zur Verteidigung [müsse] eventuell die Form eines Angriffes gewählt werden.“ Der Minister des Äußern Graf Kálnoky sprach sich dagegen aus und betonte den defensiven Charakter des Bündnisses mit Deutschland, erklärte aber andererseits, daß im Falle eines russischen Angriffs auf die Monarchie „Deutschland gegen uns seine Pflicht erfüllen“ werde. Die russisch-österreichische Spannung ließ bald nach. Die deutsch-österreichischen Generalstabsbesprechungen endeten ohne ein konkretes Ergebnis. Später, unter Wilhelm II. wurden sie indes wiederaufgenommen. Für die Krisensituation 1887/88 bleibt festzuhalten, daß Bismarck in Wien einerseits den Defensivcharakter des Zweibunds immer wieder hervorhob, andererseits aber keinen Zweifel ließ, daß Wien bei einem unprovozierten Angriff Rußlands auf Österreich-Ungarn mit der deutschen Heerfolge rechnen konnte. 65

Nr. 300. Vgl. GP (Anm. 17), Bd. 6, Berlin 1926, 17 – 45, 55 – 87, 235 – 250. 67 Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrats der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867 – 1918. Bd. 4: 1883 – 1895, bearb. v. István Diószegi, Budapest 1993, 381 – 390. 66

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Drei Jahre später, im Dezember 1891, schrieb Reuß in einem Privatbrief aus Wien68 : „Es geht den Russen finanziell u. mit Hungersnoth sehr schlecht. Also Friede auf ein paar Jahre garantirt.“ Obwohl der Satz zunächst einmal friedensgestimmt klingt, drückt er doch auch das fatalistische Grundgefühl aus, daß der große Kladderadatsch doch einmal eintreten würde. Europa lebte noch über zwanzig Jahre unter Hochspannung. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert überschlugen sich dann die internationalen Krisen, bis sie 1914 im Kataklysmus des großen Krieges endeten.

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Nr. 343.

Ein Königsberger Historiker: Otto Krauske (1859 – 1930) Von Hans-Christof Kraus, Passau I. Zu den weitgehend Vergessenen unter den deutschen Historikern um 1900 gehört eine Forscherpersönlichkeit aus dem Schülerkreis Gustav Schmollers und Reinhold Kosers, ein enger Freund Friedrich Meineckes und Otto Hintzes, als Quelleneditor schon früh erfahren und ausgewiesen, als wissenschaftlicher Autor im Ganzen zwar wenig produktiv, als Mensch wiederum ungewöhnlich liebenswürdig und an seiner akademischen Hauptwirkungsstätte, der Albertus-Universität zu Königsberg, hoch angesehen1. Nach seinem Tod – fast zeitgleich mit Hans Delbrück und Max Lehmann – im Jahr 1930 außerhalb des engsten Fachkreises der Preußenkenner bald vergessen, lebt er allerdings fort in der überaus prägnanten und lebendigen Schilderung, die im ersten Band der Lebenserinnerungen seines befreundeten Kollegen Meinecke zu finden ist2. Und die Spezialisten der frühneuzeitlichen Geschichte Brandenburg-Preußens danken ihm bis heute die umfassende Edition der wohl wich1 Ob es einen archivierten Nachlass gegeben hat, ist nicht bekannt; Otto Krauskes schriftliche Hinterlassenschaften, wenn sie denn nach seinem Tod aufbewahrt wurden, dürften spätestens 1945 in Königsberg untergegangen sein; seine offenbar recht umfangreiche Forschungsbibliothek hat er noch in seiner letzten Lebenszeit verkauft (siehe unten, Anm. 189). – Knappe, aber im Detail recht aufschlussreiche Bemerkungen und Hinweise zu Leben und Werk finden sich in den beiden Nachrufen seiner Schüler Christian Krollmann, Otto Krauske †, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen 5 (1930), 17 – 19, und Bruno Schumacher, Otto Krauske †, in: AltprF 7 (1930), 177 – 180; C. Krollmann verfasste auch den kurzen Artikel in der Altpreußischen Biographie, Bd. 1, Königsberg 1941, 363; knappe Angaben ebenfalls in: Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber von den Anfängen des Faches bis 1970, 2. Aufl. Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1987, 325, und Bernhart Jähnig, Historiker der Albertus-Universität Königsberg im 19. Jahrhundert, in: Dietrich Rauschning / Donata von Nerée (Hrsg.): Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren (Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg, 29), Berlin 1995, 221 – 244, hier 241. – Zur neueren wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung siehe vor allem die Hinweise bei Wolfgang Neugebauer, Preußen in der Historiographie. Epochen und Forschungsprobleme der Preußischen Geschichte, in: Handbuch der Preußischen Geschichte, hrsg. v. dems., Bd. I, Berlin/New York 2009, 3 – 109, hier 45. 2 Jetzt in: Friedrich Meinecke, Autobiographische Schriften, hrsg. v. Eberhard Kessel (Meinecke, Werke, Bd. 8), Stuttgart 1969, 90 – 99 u. a.

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tigsten Quelle zum Leben und Wirken König Friedrich Wilhelms I., der Briefe des Monarchen an den befreundeten Fürsten Leopold zu Anhalt-Dessau3. Über Herkunft und frühes Leben des Historikers ist wenig bekannt: Otto Karl Krauske entstammte bescheidenen bürgerlichen Verhältnissen; er wurde am 16. Oktober 1859 in Potsdam als Sohn des früh verstorbenen Apothekers Friedrich Krauske und seiner Ehefrau Ottilie Dippold geboren. „Da der Vater früh starb“, heißt es in einem Lebenslauf, den der Historiker anlässlich seiner Habilitation einreichte, „lag die Sorge für die Ausbildung der Kinder in den Händen unserer lieben Mutter allein“4. Nach Absolvierung des Gymnasiums und Ablegung des Abiturientenexamens in Potsdam bezog der junge Mann zuerst allerdings keine preußische Hochschule, sondern ging an die Universität Heidelberg, zum Studium der Rechtswissenschaften. Diesem Fach widmete er sich „nicht ganz mit eigenem Willen, mehr der äußeren Verhältnisse wegen“, wie er später sagen sollte, jedoch scheint er sich vor allem „der Rechtsgeschichte und dem Völkerrechte“ gewidmet zu haben, „denn schon von früh auf gehörte meine ganze Liebe der Geschichte“5. Besonders beeindruckt zeigte er sich jedoch von dem damals an der Ruperto Carola lehrenden Philosophiehistoriker Kuno Fischer. Zugleich mit seinem Übergang an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität wechselte der junge Krauske auch das Fach, indem er sich nun endgültig für die Geschichte entschied. An der Universität der damaligen Reichshauptstadt hatte er nach eigenen Worten noch „das Glück, an dem Mommsenschen Seminare theilnehmen zu dürfen“, während er in die Geschichte des Mittelalters durch Wilhelm Wattenbach, Julius Weizsäcker und Harry Breßlau eingeführt wurde. Sein „eigenes Forschungsgebiet“ fand er jedoch recht bald schon in der neueren Geschichte. „Der selige J. G. Droysen, als Lehrer noch weit eindrucksvoller wie als Schriftsteller, Herr Professor Schmoller, in dessen Collegien mir die Bedeutung von der Geschichte des inneren Staatslebens erst recht aufging, und Herr Professor Koser, dem ich schon als Student näher treten durfte, waren hier hauptsächlich meine hochverehrten Führer“6. Die hier bereits erkennbar werdende wissenschaftliche Doppelprägung bestimmte die weitere gelehrte Arbeit Krauskes: zum einen die von Droysen gelehrte und in seiner unvollendeten „Geschichte der preußischen Politik“ auch wissenschaftlich zum Ausdruck gebrachte Erforschung der internationalen Beziehungen Brandenburg-Preußens im 17. und 18. Jahrhundert, und zum anderen die Vorstöße der staatswissenschaftlichen Schule Schmollers zur Aufarbeitung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Preußens unter seinen ersten Königen. Die Arbeiten Droysens und Schmollers, in etwas geringerem Maße auch diejenigen seines Doktorvaters Koser 3

Siehe unten, Anm. 120. Eigenhändiger Lebenslauf Krauskes zur Habilitation, 1894, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem (künftig: GStA PK), I. HA, Rep. 76, Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 5a, Bd. 10, Bll. 2r–7r, hier 2r; siehe auch die Hinweise bei C. Krollmann, Otto Krauske † (Anm. 1), 17. 5 Eigenhändiger Lebenslauf (Anm. 4), Bll. 2r–2v. 6 Alle Zitate ebd., Bl. 3r. 4

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über die Zeit Friedrichs des Großen, prägten die Forschungsinteressen des jungen Nachwuchsgelehrten7. Als Schüler Kosers promovierte Krauske im Juli 1884 mit einer – von Koser und Schmoller offenbar gemeinsam betreuten8 – Arbeit, deren Thema den rechtswissenschaftlichen und rechtshistorischen Grundkenntnissen des von der Jurisprudenz zur Geschichte übergegangenen jungen Gelehrten entgegenzukommen schien: „Die Entwickelung der ständigen Diplomatie vom fünfzehnten Jahrhundert bis zu den Beschlüssen von 1815 und 1818“; das Erstlingswerk erschien zuerst, wie damals üblich, im Teildruck als Dissertationsschrift9, in vollständiger Form ein Jahr später in Schmollers „Staats- und socialwissenschaftlichen Forschungen“10. Die für damalige Verhältnisse für eine Doktorarbeit recht umfangreiche Schrift (245 Seiten) versuchte sich an einem sehr anspruchsvollen Thema, zu dessen Bearbeitung allerdings ausschließlich gedruckte Quellen herangezogen wurden, nämlich an der seinerzeit wissenschaftlich noch umstrittenen Frage nach dem genauen räumlichen und zeitlichen Ursprung der Diplomatie11. Zwei Erkenntnisziele werden darin hauptsächlich verfolgt: zuerst die Klärung des eigentlichen Beginns der ständigen Diplomatie in Europa und zweitens die Beantwortung der Frage nach der „Ausbildung der diplomatischen Hierarchie, die schrittweise erfolgende Abstufung von Rang und Titeln“12. Beide Fragen kann Krauske am Ende auf der Grundlage der Auswertung einer thematisch sehr umfassenden Literatur, die neben historischen und politischen auch juristische und theologische Titel aus vier Jahrhunderten umfasst13, einer Klärung zuführen, indem er belegen kann, dass die ständigen Gesandtschaften zuerst aus den italienischen Staaten stammen, „vorzüglich aus Venedig, wo sich die neue Praxis im fünfzehnten Jahrhundert vollständig

7 Zur Lage der Berliner Geschichtswissenschaften und der spezifisch „preußischen“ Historiographie vgl. neben Dieter Hertz-Eichenrode, Die „Neuere Geschichte“ an der Berliner Universität. Historiker und Geschichtsschreibung im 19./20. Jahrhundert, in: Reimer Hansen / Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 82), Berlin/New York 1992, 261 – 322, hier bes. 269 ff., und Gerd Heinrich, Brandenburgische Landesgeschichte, in: ebd., 323 – 363, bes. 338 ff., vor allem W. Neugebauer, Preußen in der Historiographie (Anm. 1), 24 ff., 41 ff. u. passim. 8 Vgl. W. Weber, Biographisches Lexikon (Anm. 1), 325. 9 Otto Krauske, Beiträge zur Geschichte der ständigen Diplomatie, Phil. Diss. Universität Berlin 1884; dort auf S. 31 auch die fünf Thesen der Doktordisputation, von denen allein drei rechts- und wirtschaftshistorischen Themen gewidmet sind, sowie (32) ein lateinischer Lebenslauf. 10 Otto Krauske, Die Entwickelung der ständigen Diplomatie vom fünfzehnten Jahrhundert bis zu den Beschlüssen von 1815 und 1818 (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, V/3), Leipzig 1885. 11 Vgl. ebd., 4. 12 Ebd., 6. 13 Vgl. ebd., 30 ff., 149 ff. u. passim.

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entwickelt“14, und sich von Italien aus im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts auch nach West- und Mitteleuropa ausbreitet, ebenso wie auch die – gleichfalls schon im 15. Jahrhundert in Italien zu findenden – ersten Rangabstufungen des diplomatischen Dienstes. Mit Blick auf die gesamte Entwicklung der Diplomatie seit ihrer Entstehung kommt der Autor zu dem abschließenden Urteil, dass jene „Institution, mit der eine bewusste Neuerung vorgenommen“ worden sei, „im Principe niemals wieder aufgegeben worden“ sei, sie habe „also von Anfang an eine organische Fortentwicklung gehabt“15. Das waren grundlegende Resultate, die in ihrem Kern (mit Ausnahme mancher Details) später jedenfalls nicht mehr angezweifelt wurden, also Bestand hatten16. Dies bleibt gerade deshalb festzuhalten, weil Krauskes (vermutlich unter Zeitdruck entstandene) Arbeit gelegentlich etwas zu nachlässig, mit ungenauen, teilweise wohl auch unvollständigen und partiell fehlerhaften Quellenangaben ausgearbeitet worden war, und der junge Berliner Doktor hatte das Pech, dass ihm ausgerechnet ein österreichischer Konkurrent auf die Schliche kam. Im zehnten Band der angesehenen „Mittheilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung“ erschien 1889 ein Aufsatz von Adolf Schaube „Zur Entstehungsgeschichte der ständigen Gesandtschaften“, der neben zusätzlichen Informationen zum Thema zugleich eine harsche Kritik an Krauskes Dissertation und an seiner Arbeitsweise enthielt17. Dessen Arbeit halte nicht, was sie verspreche, denn wohl sei „das Material, das Krauske citirt, ein sehr umfangreiches, aber die Benützung desselben ist recht mangelhaft und der urkundliche Charakter, den die Arbeit zur Schau trägt, ist in vielen Fällen nur Schein; selbst dann, wenn eine auftauchende Differenz den Verfasser geradezu auffordern musste, die Urkunden, die ihm zur Hand waren, zu befragen, hat er mehrfach unterlassen, dieselben einzusehen“18. Diese im Ganzen reichlich beckmesserische, dazu noch in unangenehm gespreizter Sprache vorgetragene Kritik konnte die Resultate von Krauskes Arbeit in einigen Punkten tatsächlich etwas korrigieren, ihm jedoch keine – die zentralen Ergebnisse als solche infrage stellenden – wirklichen Fehler nachweisen: einige wenige Quellen wurden nicht herangezogen, die eine oder andere Datierung war zu korrigieren, ärgerliche Flüchtigkeiten also. Man kann sich leicht denken, wie diese Kritik an seiner wissenschaftlichen Erstlingsarbeit auf den jungen Historiker gewirkt haben muss, der sich vor der Öffentlichkeit seiner Fachkollegen bloßgestellt sah. Seiner weiteren Berufskarriere als Wissenschaftler hat diese Veröffentlichung, soweit bekannt ist, zwar kaum geschadet, doch Krauskes Selbstbewusstsein war stark angeschlagen, 14

Ebd., 147. Ebd., 148. 16 Dazu etwa die Bemerkungen bei Willy Andreas, Staatskunst und Diplomatie der Venezianer im Spiegel ihrer Gesandtenberichte, Leipzig 1943, 13 ff. u. passim. 17 Adolf Schaube, Zur Entstehungsgeschichte der ständigen Gesandtschaften, in: MIÖG 10 (1889), 501 – 552, bes. 503 ff. 18 Ebd., 504. 15

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seine gelehrte Produktivität blieb fortan gehemmt: „Dass die Erstlingsarbeit meines Freundes Krauske“, schrieb Friedrich Meinecke Jahre nach dessen Tod an Willy Andreas, „nicht recht geglückt war, hat dieser selbst, als er Schaubes Kritik gelesen hatte, schon mit Schmerz empfunden. Es mag ihn in seinem Zweifel, ob er wissenschaftlich produktiv begabt sei, damals bestärkt haben“; Meinecke fügte hinzu: „Aber hätten wir nichts als das Wenige, was er geschrieben hat, von ihm, – wie einseitig und ungerecht könnte dann das Urteil Späterer über ihn ausfallen“19. II. Im ersten Teil seiner Erinnerungen hat Friedrich Meinecke ein sehr ansprechendes Bild seines zeitweilig sehr engen Freundes Otto Krauske, den er gegen Ende der 1880er Jahre als junger Archivar kennengelernt hatte, gezeichnet20 – das Porträt eines in ganz besonderer Weise zur Freundschaft begabten jungen Gelehrten, ausgezeichnet durch „natürliche Grazie und geistreiche Schlagfertigkeit“. Er selbst habe seinem Freund, so Meinecke weiter, „wegen der sprühenden Lebendigkeit seines historischen Denkens Großes auch für die Zukunft“21 zugetraut. Auch wenn er diese Erwartung am Ende nicht einzulösen vermochte, wird Krauske hier dennoch höchstes Lob zuteil, denn Meinecke bemerkt ebenfalls: „Mich aber hat er eigentlich zum Menschen gemacht. Es war die erste, ganz ins Innerste dringende Freundschaft, die mir geschenkt wurde. Er kannte mich und meine Schwächen, meine Unsicherheit und Unfertigkeit, meine Neigung zu Depressionen […]. Er hat mir Vertrauen zu mir selbst und dem mir anvertrauten Pfunde gegeben und ehrliche, strenge Kritik dabei an mir geübt. Und das Ethos eines Zusammenhanges aller Lebenswerte, phrasenloser Vaterlandsliebe, Vereinigung von Respekt und Kritik gegenüber allem Bedeutenden in Staat und Kultur, nicht nur Gelehrter, sondern naturgewachsener Mensch zu sein, letztlich aber religiöse Kulturgesinnung – dies Ethos und dieser Zusammenhang ist mir eigentlich erst durch Krauske zum vollen Bewußtsein gebracht worden“22. Während Friedrich Meinecke unter den einflussreichen Mentoren Heinrich von Treitschke, Heinrich von Sybel und ebenfalls Reinhold Koser seinen beruflichen Weg im Berliner Geheimen Staatsarchiv begann, trat Otto Krauske, ebenso wie

19 Friedrich Meinecke, Neue Briefe und Dokumente, hrsg. v. Gisela Bock / Gerhard A. Ritter, München 2012, 416 (Friedrich Meinecke an Willy Andreas, 5. 4. 1943); vgl. dazu auch W. Andreas’ Bemerkung zu Krauskes Arbeit in: ders., Staatskunst und Diplomatie (Anm. 16), 19, Anm. 1. 20 Vgl. Friedrich Meinecke, Autobiographische Schriften, hrsg. v. Eberhard Kessel (Werke, Bd. VIII), Stuttgart 1969, 91 – 99. 21 Die Zitate: ebd., 92. 22 Ebd., 93, vgl. auch 182.

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der dritte des engen Freundeskreises junger Historiker, Otto Hintze23, seine Laufbahn in den Diensten der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften an, eingespannt in die dort seit den späten 1880er Jahren mächtig aufstrebenden quelleneditorischen Unternehmungen zur neueren deutschen, vor allem preußischen Geschichte. Neben Reinhold Koser, der sich nach Rankes und Droysens Tod um die Editionen zur politischen Geschichte kümmerte24, war es besonders Gustav Schmoller, der mit den Acta Borussica eine monumentale Edition zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des frühmodernen Preußen begann und für dieses von ihm mit großen Anstrengungen auf den Weg gebrachte (übrigens im Zeichen der Bismarckschen Sozialpolitik auch politisch sehr erwünschte) Prestigeprojekt der Akademie jüngere geschulte Editoren benötigte25. Tatsächlich sollte neben Koser gerade Schmoller, der mit gleicher Intensität und Kompetenz auf den Gebieten den Nationalökonomie und der Geschichte arbeitete26, die akademischen Karrieren Krauskes und Hintzes nicht nur auf den Weg bringen, sondern in gleicher Weise nachhaltig fördern. Bald nach seiner Promotion, so hat es Krauske in seinem ausführlichen Lebenslauf von 1894 geschildert, zwang ihn „eine schwere Krankheit“ zu einem insgesamt einjährigen Rückzug aus der Wissenschaft; nach der Genesung jedoch, heißt es weiter, „empfing ich den ehrenden Auftrag von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die von Koser begonnene Herausgabe der ,Preußischen Staatsschriften aus der Regierungszeit König Friedrichs II‘ fortzusetzen. Kaum hatte ich aber angefangen, mich in das sehr weitläufige Aktenmaterial für die Publication einzuarbeiten, als ich von Herrn Geheimrath Duncker davon abberufen wurde, um Dr. Naudé, dem Herausgeber der ,Politischen Correspondenz Friedrich des Großen‘ bei 23 Hierzu Wolfgang Neugebauer, Die wissenschaftlichen Anfänge Otto Hintzes, in: ZRG GA 115 (1998), 540 – 551; eine ausführliche wissenschaftliche Biographie Hintzes wird von Neugebauer derzeit vorbereitet. 24 Vgl. Ludwig Biewer, Reinhold Koser, in: Berlinische Lebensbilder. Bd. 4: Geisteswissenschaftler, hrsg. v. Michael Erbe, Berlin 1989, 253 – 268, bes. 263 f. 25 Hierzu vor allem die nach wie vor grundlegenden Arbeiten von Wolfgang Neugebauer, Gustav Schmoller, Otto Hintze und die Arbeit an den Acta Borussica, in: JbBrdbgLG 47 (1997), 152 – 202 (mit ausgewählten Dokumenten); ders., Zum schwierigen Verhältnis von Geschichts-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften am Beispiel der Acta Borussica, in: Jürgen Kocka / Rainer Hohlfeld / Peter Th. Walther (Hrsg.), Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999, 235 – 275; ders., Die „SchmollerConnection“. Acta Borussica, wissenschaftlicher Großbetrieb im Kaiserreich und das Beziehungsgeflecht Gustav Schmollers, in: Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Archivarbeit für Preußen. Symposion der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz aus Anlaß der 400. Wiederkehr der Begründung seiner archivalischen Tradition, Berlin 2000, 261 – 301. 26 Zur historischen Arbeit und wissenschaftspolitischen Bedeutung Schmollers im Berliner Kontext des wilhelminischen Kaiserreichs vgl. besonders Fritz Hartung, Gustav von Schmoller und die preußische Geschichtsschreibung, in: ders., Staatsbildende Kräfte der Neuzeit, Berlin 1961, 470 – 496; Rüdiger vom Bruch, Gustav Schmoller: Zwischen Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft, in: ders., Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Björn Hofmeister / HansChristoph Liess, Stuttgart 2006, 230 – 249.

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seiner Edition behülflich zu sein. Ein ganzes Jahr beinahe war ich bei dieser Publication thätig und stellte mit Dr. Naudé Band 13 und 14 der Correspondenz fertig“27. Die beiden Bände, die Krauske, seinen fast gleichaltrigen jungen Kollegen und Freund Albert Naudé28 unterstützend, mit herausgab (allerdings ohne auf dem Titelblatt genannt zu werden), umfassten im Wesentlichen das erste Jahr des Siebenjährigen Krieges (Mitte 1756 bis Mitte 1757); sie erschienen 1885 und 188629. Krauske verstand es offenbar, diese Arbeiten gewissermaßen als Vorstudien zu seinem eigentlichen Editionsprojekt zu nutzen, und er konnte „Band III der Staatsschriften, von mir unter der Ägide der Herren Geheimrath von Sybel und Professor Schmoller bearbeitet, […] im Herbst 1891“ herausbringen; anschließend freilich beschloss die Akademie, „vorläufig die Herausgabe dieses Werkes, das nach dem ursprünglichen Plane fortgesetzt allzu umfangreich werden müßte, mit dem III Bande einzustellen“30. Der dritte Band dieser Edition blieb also der einzige, den Krauske als Bearbeiter zu verantworten hatte31; er enthielt insgesamt vierzig solcher politischen Flugschriften aus dem ersten halben Jahr des Siebenjährigen Krieges. Die vergleichsweise kurze Einleitung, die der Bearbeiter dem Band voranstellte32, deutete die Vorgänge des Jahre 1756, wie bei einem Mitarbeiter der Berliner Akademie dieser Zeit wohl kaum anders zu erwarten, aus borussischer, also hier traditionell „friderizianischer“ Perspektive. Die Vorarbeiten zu dieser Edition bestimmten auch seine Forschungsinteressen in dieser Zeit; eine der im dritten Band der Staatsschriften abgedruckten Flugschriften konfessionspolitischen Charakters33 veranlasste den jungen Gelehrten zu seinem ersten Aufsatz in der Historischen Zeitschrift; er behandelte – auch in Anknüpfung an Droysens „Geschichte der Preußischen Politik“ – einen Gegenstand aus der Religionspolitik des Großen Kurfürsten34. Daneben vertiefte er sich nach den Worten seines Lebenslaufs „in die oft behandelte Frage über den Einfluß König Friedrichs auf die deutsche Litteratur und sammelte eifrig Materialien, um auch meinerseits einen kleinen Beitrag über dieses unerschöpfliche Thema beizusteuern“35. Auf eine eigene Aufsatzpublikation zum Thema verzichtete er jedoch nach dem Erscheinen einer 27

O. Krauske, Lebenslauf 1894 (Anm. 4), Bll. 3v–4r. Zu Naudé (1858 – 1896) siehe W. Weber, Biographisches Lexikon (Anm. 1), 405 f. 29 Politische Correspondenz Friedrich’s des Großen, Bde. XIII–XIV, bearb. v. Albert Naudé, Berlin 1885/86. 30 O. Krauske, Lebenslauf 1894 (Anm. 4), Bl. 5r. 31 Preußische Staatsschriften aus der Regierungszeit König Friedrichs II., hrsg. v. H. von Sybel und G. Schmoller, Bd. III: Der Beginn des Siebenjährigen Krieges, bearb. v. Otto Krauske, Berlin 1892. 32 Ebd., V–XVII. 33 „Unbilliges Verfahren des Ertzhauses Oesterreich gegen die Evangelische“, abgedruckt ebd., 234 ff. 34 Otto Krauske, Der Große Kurfürst und die protestantischen Ungarn, in: HZ 58 (1887), 465 – 496. 35 O. Krauske, Lebenslauf 1894 (Anm. 4), Bl. 4v. 28

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hierfür einschlägigen neuen Veröffentlichung36, die Krauske indes im Rahmen eines längeren Literaturberichts, ebenfalls in der Historischen Zeitschrift, eingehend und unter Einbeziehung des von ihm inzwischen gesammelten, recht umfangreichen Materials rezensierte37. Bald winkten weitere Aufgaben und damit auch ein verändertes wissenschaftliches Tätigkeitsfeld: „Während ich noch bei den Staatsschriften thätig war“, berichtet er, „rief mich die Akademie, 1888, zu der Mitarbeit bei den soeben gegründeten ,Acta Borussica‘. Als mein specielles Gebiet wurde mir die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens unter Friedrich Wilhelm I. aufgetragen“. Tatsächlich war, wie er hinzufügt, „die Editionsarbeit eine außerordentlich umfassende, da ein genauerer Überblick über die Acten der ganzen Regierungsthätigkeit dieses Königs und über den Inhalt der Archive zu Berlin, Königsberg, Stettin, Hannover, Düsseldorf, des Königlichen Kriegsministeriums zu Berlin und auch des für diese Periode sehr wichtigen Königlich Sächsischen Hauptstaatsarchivs gewonnen werden mußte, bevor an die eigentliche Zusammenstellung und Herausgabe der Urkunden gegangen werden konnte“38. Unter diesen Umständen dauerte es immerhin sechs Jahre bis zur Publikation des ersten Bandes39. Neben dem Vorwort, das Sybel und Schmoller im Namen der hier zuständigen Akademiekommission beigesteuert hatten40, enthielt der Band eine ausführliche Einleitung allein aus der Feder Schmollers41, für die ihm der junge Bearbeiter Krauske – angesichts der vielen weiteren Aufgaben, Zuständigkeiten und Arbeitslasten des wissenschaftlichen Multifunktionärs Schmoller – allerdings fleißig zugearbeitet haben dürfte42. Die Einleitung ist jedenfalls in mehrfacher Hinsicht be36

Gottlieb Krause, Friedrich der Große und die deutsche Poesie, Halle a. S. 1884. Otto Krauske, (Literaturbericht), in: HZ 57 (1887), 505 – 521; siehe auch die weitere Rezension Krauskes zu: Max Baumgart, Die Litteratur des In- und Auslandes über Friedrich den Großen, Berlin 1886, in: ebd. 58 (1887), 128 f. 38 Alle Zitate: O. Krauske, Lebenslauf 1894 (Anm. 4), Bll. 5r–5v; grundlegend zum Zusammenhang auch W. Neugebauer, Gustav Schmoller, Otto Hintze (Anm. 25), 161 ff. 39 Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. – Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert. Bd. I: Akten von 1701 bis Ende Juni 1714, bearb. v. G. Schmoller und O. Krauske, Berlin 1894. 40 Ebd., (5)–(11). 41 Ebd., (13)–(143). 42 Die Arbeitsteilung zwischen beiden war in der „Vorrede“, ebd., (10)–(11) folgendermaßen beschrieben worden: „Der mitunterzeichnete G. Schmoller hat seit 25 Jahren immer zeitweise an den Materialien gesammelt; er hat im März 1888 an Dr. O. Krauske, welchem die Bearbeitung der Behördenorganisation unter Friedrich Wilhelm I. aufgetragen wurde, etwas über 800 Folioseiten an einschlägigen Abschriften und Regesten übergeben; er hat auch seither mancherlei, hauptsächlich in den Archiven von Dresden und Wien, weiter für diesen Gegenstand gesammelt und in immer neuen Besprechungen mit Dr. Krauske, unter wiederholter Durchsicht von dessen Aktenauszügen und Abschriften die Art festgestellt, wie verfahren werden sollte. Letzterer hat drei Jahre halb, drei ganz der Sammlung, Sichtung, Ordnung und Verschmelzung der Materialien gewidmet. Es mußte an Abschriften und Regesten eine unendlich viel größere Menge zusammengebracht werden, als zuletzt aufgenommen 37

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merkenswert, denn sie vermittelte nicht nur den ersten, wirklich quellenmäßig fundierten Überblick über den Aufbau der frühmodernen preußischen Staatsverwaltung seit dem beginnenden 18. Jahrhundert, sondern streifte am Ende wenigstens in Andeutungen ausdrücklich den aktuellen politischen Aspekt dieser Edition – die im Grunde als wissenschaftspolitische Flankierung der Bismarckschen Sozialpolitik gedacht war –, wenn hier festgestellt wurde: „Alles Große im Staats- und Gesellschaftsleben wird erst durch eine Reihe sich wiederholender, nach der gleichen Richtung gehender Anläufe erreicht. Wie im Leben der Individuen der Character und die Tugend das Ergebniß wiederholter ähnlicher Handlungen ist, so müssen auch im Staatsleben, wenn die ersten Versuche nicht vergeblich sein sollen, die Enkel und Urenkel zum Schlusse führen, wozu die Vorfahren den Grund legten“43. Die Hauptarbeitslast an diesem so mühsam erarbeiteten ersten Band der „Behördenorganisation“ wurde also von dem jungen Nachwuchsgelehrten Krauske getragen, der daneben auch noch die Fertigstellung des dritten Bandes der „Staatsschriften“ zu bewerkstelligen hatte. Bereits im Jahr des Erscheinens des ersten Bandes, 1894, war der zweite, ebenfalls noch von Krauske bearbeitete Band, wie es in dessen Vorrede heißt, „ziemlich fertig, als unser Mitarbeiter nach dem Drucke des ersten Bandes die möglichst rasch zu fördernde Herausgabe der Briefe Friedrich Wilhelms I. an Fürst Leopold von Anhalt-Dessau übernahm“. Da inzwischen ein neuer Bearbeiter gefunden werden musste, es war Viktor Loewe, erfolgte dessen Publikation erst im Jahr 189844. Auch das Material des 1901 erschienenen dritten Bandes (er reichte bis Januar 1723) war noch im Wesentlichen von Krauske erarbeitet worden, der deswegen auch jetzt noch als einer von drei Bearbeitern auf der Titelseite fungierte, obwohl er längst als Universitätslehrer wirkte und inzwischen mit anderen Dingen befasst war. Tatsächlich ließ ihm, wie er selbst schreibt, „die mühsame Editionsthätigkeit […] nur wenig Muße zu Nebenarbeiten“45. Immerhin konnte er Auszüge aus einer von ihm (vermutlich im Rahmen seiner Editionstätigkeit) wiederaufgefundenen geschriebenen Berliner Zeitung des Jahres 1713 mit einer zeitgenössischen Schilderung des Regierungsantritts des Soldatenkönigs vorlegen46; daneben wurde. Ein vollendeter Ueberblick über den Inhalt der Archive und die ganze Materie nach allen Seiten mußte voraus gehen, ehe eine solche moderne Aktenpublication in leidlich gedrängter Form zu machen war. Und das war unser Ziel; wir wollten alles Wesentliche bringen, aber auch nur dieses. Die Einzelredaction ist durchaus das Werk und das Verdienst von Dr. Krauske“. 43 Ebd., (142)–(143); zur wissenschaftspolitischen Intention der Editionsprojekte Schmollers siehe auch die wichtigen Bemerkungen bei W. Neugebauer, Gustav Schmoller, Otto Hintze (Anm. 25), 163 f. mit Anm. 49; ders., Die Schmoller-Connection (Anm. 25), 269 ff. u. passim. 44 Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung. Behördenorganisation Bd. II: Akten vom Juli 1714 bis Ende 1717, bearb. v. G. Schmoller, O. Krauske und V. Loewe, Berlin 1898, das Zitat aus der (unpag.) Vorrede. 45 O. Krauske, Lebenslauf 1894 (Anm. 4), Bl. 6v. 46 Otto Krauske, Aus einer geschriebenen Berliner Zeitung vom Jahre 1713, in: SVGBerl 30 (1893), 97 – 129.

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publizierte er lediglich noch einen ausführlichen Artikel über Königin Sophie Charlotte (1668 – 1705) in der Allgemeinen Deutschen Biographie47. Wie es scheint, ist Krauske in den – wesentlich von ihm erarbeiteten – drei Bänden der „Behördenorganisation“ den von Schmoller seinen Mitarbeitern vermutlich mündlich gegebenen Bearbeitungsmaßstäben und Auswahlkriterien stärker gefolgt als der andere Mitarbeiter Otto Hintze. Jedenfalls stößt auch noch heute der „genau lesende Forscher“, wie Wolfgang Neugebauer schon vor Jahren beobachtete, „wiederholt auf Indizien einer editorischen Akzentuierung der monarchischen Gewalt; diese Betonung eines Faktors, und zwar mit einiger Entschiedenheit, geht selbst aus den landesherrlichen Akten nicht zwingend hervor“. Im Übrigen trete in den genannten drei Bänden „die Fixierung auf normative Quellen weit stärker hervor als in den Bänden Otto Hintzes“; hier finde sich also – entsprechend den wissenschaftspolitischen Akzentuierungen und Vorgaben Schmollers – „der teleologische Ansatz des Staatsprimats […] in einem gefährlichen Grade bis zum historiographischen Dogma gesteigert“, und Krauske habe denn auch „in der archivalischen Praxis vergleichsweise enge Gesichtspunkte walten lassen bei seiner zweifellos an sich gründlichen, auch die provinziale Überlieferung in Breite erschließenden Arbeit“48. Friedrich Meinecke hat Jahrzehnte später jenen vergleichsweise neuen „Typus im deutschen Wissenschaftsbetriebe“ anschaulich charakterisiert, den die drei Berliner Nachwuchsgelehrten Otto Hintze, Albert Naudé und eben Otto Krauske verkörperten: „Junge, zur Habilitation aufstrebende Doktoren, die gegen bescheidene Muneration in den Dienst eines Publikationsinstitutes treten, eine bestimmte, eng begrenzte Editionsaufgabe lösen und nach deren ganzer oder vielleicht auch nur halber Lösung sich eine eigene Forschungsaufgabe suchen, die ihnen die Habilitation ermöglicht – wo sie dann als Privatdozenten vielfach noch jahrelang die Kette des Publikationsbetriebes zu tragen haben. […] Hart gesagt, man wurde Fronsklave eines Publikationsinstituts für eine von außen her diktierte, sachlich im Zusammenhang des Ganzen wichtige und nützliche, aber die individuellen Bedürfnisse des jungen Forschers zusammenpressende Aufgabe. Wie oft habe ich diese seelischen Nöte miterlebt“49. Immerhin vermochte Meinecke dieser Art der Existenz auch eine begrenzt positive Seite abzugewinnen, von der hierdurch ebenfalls ermöglichten materiellen Sicherung junger unbemittelter Nachwuchswissenschaftler einmal abgesehen, wenn er sich und seinesgleichen zwar als „junge Vögel mit beschnittenen Flügeln“ kennzeichnete, jedoch hinzufügte: „Aber sie wuchsen uns auch wieder. Und der Frondienst an Publikationen […] barg in harter Schale auch einige recht gute Frucht. […] Bohren am harten Holze, unmittelbarste Fühlung mit einem Stück vergangenen 47 Otto Krauske, Sophie Charlotte, Königin in Preußen und Kurfürstin von Brandenburg, in: ADB 34 (1892), 676 – 684. 48 So W. Neugebauer, Gustav Schmoller, Otto Hintze (Anm. 25), 164, der zudem im Anhang (auch zum Beleg gerade dieser These) einige sehr aussagekräftige Briefe und Arbeitsberichte von Krauske an Schmoller aus den Jahren 1890 – 1898 mit abdruckt, vgl. ebd., 173 – 176 (Nr. 11, 12), 180 – 182 (Nr. 18), 193 f. (Nr. 31). 49 F. Meinecke, Autobiographische Schriften (Anm. 20), 90 f.

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Lebens in seiner oft spürbaren Trockenheit und Trivialität, aber auch Echtheit und Lebendigkeit, das war und ist Lehre und Lohn eines jungen Gelehrten, der sich einem solchen Publikationsinstitut verkauft“50. Und nicht zuletzt stellte die Zugehörigkeit zum gelegentlich verspotteten, insgesamt jedoch damals mächtig aufstrebenden wissenschaftlichen Editions- und Publikationskonzern Schmollers51 – nach erfolgreicher dortiger Tätigkeit – wenigstens die Möglichkeit bereit, über die wissenschaftspolitischen Netzwerke des Meisters, der bekanntlich über besonders enge Verbindungen zum Kultusministerium und zu Friedrich Althoff verfügte, eine eigene Hochschulkarriere beginnen zu können, auch wenn dies am Ende nicht jedem der jungen Archivare und Editoren glückte52. Für Krauske scheint die enge Einbindung in das Schmollersche Publikationsinstitut jedoch in zweierlei Hinsicht von Vorteil gewesen zu sein: Die strikte Arbeit am soeben erst aus den Archiven gehobenen Quellenmaterial scheint ihm erstens, nach dem Schock der Schaubeschen Rezension, erneut ein gewisses, wenn auch begrenztes Selbstvertrauen als Wissenschaftler vermittelt zu haben – freilich um den Preis, dass er, wie es scheint, den strikten Vorgaben seines Vorgesetzten und Mentors nun allzu unkritisch zu folgen bereit war. Und zweitens geriet er, nachdem er auf die Briefe Friedrich Wilhelms I. an Leopold von Anhalt-Dessau – eine zweifellos erstrangige historische Quelle zum frühen 18. Jahrhundert – gestoßen war, auf seine eigentliche „wissenschaftliche Lebensaufgabe“53 : Persönlichkeit, Leben und Werk des zweiten preußischen Königs Friedrich Wilhelms I. Noch in anderer Hinsicht hatte sich der Fleiß, mit dem der junge Editor die ihm von Schmoller gestellte Aufgabe mit der Erarbeitung seiner „Behördenorganisation“ bewältigt hatte, gelohnt: Als erster aus der Gruppe der jungen Berliner Nachwuchsforscher im Umfeld von Koser und Schmoller konnte sich Krauske mit seinem Editionswerk an der Friedrich-Wilhelms-Universität habilitieren54 ; am 12. Juli 1894 hielt er seinen wissenschaftlichen Vortrag mit anschließendem Colloquium vor der Philosophischen Fakultät zum Thema „Friedrich Wilhelm I. und Leopold von 50 Ebd., 91; er fügt an: „Wir fühlten uns in einem Käfig, in dem wir zu fliegen hatten. Aber wir flogen in ihm. Wir stritten uns oder vereinigten uns über unsere Ideale, die oft recht kühn und ketzerisch klangen, und waren mit Leib und Seele der brandenburgisch-preußischen Wirklichkeit, deren Akten wir studierten, verhaftet“ (ebd.). 51 Beste Darstellung immer noch W. Neugebauer, Zum schwierigen Verhältnis (Anm. 25), passim; ders., Preußen in der Historiographie (Anm. 1), 41 ff.; bekannt und mehrfach zitiert ist das reichlich böse Wort Heinrich von Treitschkes über jene „schrecklichen Excerpten-Bandwürmer, welche dem geschwollenen Leibe der Schmollerschen Schule von Zeit zu Zeit abgehen“, in: Gustav Freytag und Heinrich von Treitschke im Briefwechsel, Leipzig 1900, 203 (Treitschke an Freytag, 12. 2. 1894). 52 Vgl. W. Neugebauer, Die Schmoller-Connection (Anm. 25), 300 f.; ders., Preußen in der Historiographie (Anm. 1), 45; zur Bedeutung und inneren Diversität der „Schmoller-Schule“ siehe ebenfalls die Bemerkungen bei Carl Brinkmann, Gustav Schmoller und die Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 1937, 112 – 114. 53 C. Krollmann, Otto Krauske (Anm. 1), 18. 54 Vgl. W. Weber, Biographisches Lexikon (Anm. 1), 325.

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Anhalt-Dessau“55, und am 30. Juli wiederum erhielt er, wie er selbst berichtet, „die Venia legendi, nachdem ich einen öffentlichen Vortrag über Karl XII. von Schweden gehalten hatte“56. Erst ein Jahr später, im August 1895, konnte sich Otto Hintze mit seiner dreibändigen Edition über die preußische Seidenindustrie habilitieren und wiederum ein weiteres Jahr später sollten auch Friedrich Meinecke (Juni 1896) und Albert Naudé (August 1896) folgen57. III. Nicht einmal ein Jahr nach seiner Habilitation wurde Otto Krauske bereits zum außerordentlichen Professor an die Universität Göttingen berufen. In der Bestallungsurkunde wurde der neu ernannte junge Universitätslehrer, wie es ausdrücklich hieß, verpflichtet, „die mittlere und neuere Geschichte in Ergänzung der Lehrthätigkeit der beiden Fachordinarien zu vertreten“, sodann seine „Vorlesungen insbesondere auf die Einführung der jüngeren Studierenden in das Studium der Geschichte einzurichten und das neu zu errichtende historische Proseminar nach dem mit den Direktoren des Seminars festzustellenden Lehrplan zu leiten“58. Die Umstände dieser selbst für damalige Verhältnisse ungewöhnlich raschen Erstberufung waren (auch eingedenk der Fachkritik, die einige Jahre zuvor an Krauskes Dissertation geübt worden war) indessen etwas komplizierter und verwickelter, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Denn genau in dieser Zeit, Mitte der 1890er Jahre, spielte sich innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft ein großes Aufsehen erregender Gelehrtenstreit um die Frage des Ursprungs des Siebenjährigen Krieges ab, in dessen Mittelpunkt einerseits Albert Naudé und andererseits der Göttinger Ordinarius Max Lehmann standen, der an Naudés, wie es schien, allzu patriotisch-borussischen und den „großen König“ unzulässigerweise schonenden Deutungen schärfste und polemische Kritik übte59. Diese – am Ende mit den Mitteln auch persönlich verletzender kritischer Schärfe geführte – Kontroverse, die mit dem frühen Tod des (gegen den Wunsch der Marburger 55

Die veröffentlichte Fassung: Otto Krauske, Friedrich Wilhelm I. und Leopold von Anhalt-Dessau, in: HZ 75 (1895), 19 – 37. 56 O. Krauske, Lebenslauf 1894 (Anm. 4), Bl. 7r. 57 Die jeweiligen Angaben hierzu in den Akten des Kultusministeriums: GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 5a, Bd. 10, Bll. 135r ff., 209r ff., 218r ff. 58 Nach dem Text des Mundums der Bestallungsurkunde vom 20. 6. 1895, in: ebd., Bll. 114r–116v. 59 Zu den Einzelheiten siehe mit vielen weiteren Nachweisen die Darstellungen bei Theodor Schieder, Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der Historischen Zeitschrift, in: HZ 189 (1959), 1 – 104, hier 38 – 45; neuerdings vor allem Johannes Kunisch, Der Historikerstreit um den Ausbruch des Siebenjährigen Krieges (1756), in: ders., Friedrich der Große in seiner Zeit, München 2008, 48 – 105, 208 – 231; zu Lehmanns Agieren im Rahmen dieses Konflikts und zu seinen Motiven siehe ebenfalls noch Waltraut Reichel, Studien zur Wandlung von Max Lehmanns preußisch-deutschem Geschichtsbild (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, 34), Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M. 1963, 76 ff. u. passim.

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Philosophischen Fakultät an die dortige Universität berufenen) einen Kontrahenten Naudé im Dezember 1896 noch keineswegs erledigt war, sondern lange nachwirkte, hätte eine Berufung Krauskes nach Göttingen fast verhindert, wenn, wie Meinecke mitteilt, der bereits vor dem Streit mit beiden – Lehmann wie Naudé – persönlich befreundete Krauske es als Einziger verstanden hätte, seine enge Verbindung zu den beiden auch nach dem Ausbruch der Kontroverse zu bewahren, während die anderen Berliner, Hintze und Meinecke, aber auch ihre Vorgesetzten Schmoller und Koser, „menschlich wie wissenschaftlich zu Naudé gehalten“ hatten und deshalb den Kontakt zu Lehmann auf Dauer abbrachen60. Im Mai 1895 bat die Philosophische Fakultät der Göttinger Georg-August-Universität den Berliner Kultusminister um die Erweiterung des historischen Lehrpersonals, genauer „um die Berufung eines auf den Gebieten der mittleren und neueren Geschichte erprobten und zugleich pädagogisch erfahrenen Gelehrten als Extraordinarius, dessen Aufgabe es sein würde, das zu errichtende Proseminar nach dem mit den Fachordinarien festzustellenden Lehrplane zu leiten und durch seine Vorlesungen die Lehrthätigkeit derselben zu ergänzen“; zwei Berufungsvorschläge wurden gleich mit genannt: zuerst Gustav Buchholz aus Leipzig, sodann Carl Spannagel aus Berlin61, beide wissenschaftlich noch kaum ausgewiesene Privatdozenten. Friedrich Althoff, der zuständige Referent im Berliner Ministerium62, tat daraufhin, was er in derartigen Fällen jetzt und künftig häufiger praktizieren sollte: Er bat Gustav Schmoller, damals bereits einer seiner engsten Ratgeber nicht nur in staats- und wirtschaftswissenschaftlichen, sondern nicht zuletzt auch in geschichtswissenschaftlichen Berufungsfragen, um eine Stellungnahme.

60 F. Meinecke, Autobiographische Schriften (Anm. 20), 99; später hat Meinecke, wie er hier ebenfalls mitteilt, „aus Respekt vor Lehmanns wissenschaftlicher Kraft ihn für die Historische Zeitschrift zurückzugewinnen für meine Pflicht gehalten“ (ebd.); vgl. aber auch die Bemerkung Meineckes in einem Brief an Erich Marcks vom 24. 12. 1896, in: Friedrich Meinecke, Ausgewählter Briefwechsel, hrsg. v. Ludwig Dehio / Peter Classen (Werke, Bd. VI), Stuttgart 1962, 12: „Krauske glaubt nach wie vor an Lehmann, wenn er ihn auch keineswegs frei glaubt von aller Schuld. Aber das ist ein heikles Kapitel, wo es sich um einen Menschen handelt, in dem große und niedrige Züge so unentwirrbar mit einander verflochten sind“. Sehr viel milder urteilte Meinecke allerdings in seinem Nachruf auf den 1929 verstorbenen Lehmann: ders., Zur Geschichte der Geschichtsschreibung, hrsg. v. Eberhard Kessel (Werke, Bd. VII), München 1968, 306 f. 61 GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va, Sekt. 6, Tit. IV, Nr. 1, Bd. 16, Bll. 90r–90v. 62 Zur Wissenschafts- und speziell zur Berufungspolitik des seit den frühen 1890er Jahren immer einflussreicher werdenden Althoff siehe vor allem Bernhard vom Brocke, Hochschulund Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1881 – 1907: das „System Althoff“, in: Peter Baumgart (Hrsg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs (Preußen in der Geschichte, 1), Stuttgart 1980, 9 – 118; ders., Friedrich Althoff, in: Wolfgang Treue / Karlfried Gründer (Hrsg.), Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin: Minister, Beamte, Ratgeber (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 60), Berlin 1987, 195 – 214; aus der älteren Forschung noch immer wichtig: Arnold Sachse, Friedrich Althoff und sein Werk, Berlin 1928, bes. 118 ff. u. passim.

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Schmollers Antwort gleicht einem wahren Meisterstück „berufungspolitischer“ Beratung, denn es gelang ihm hier tatsächlich, die nach dem Willen Althoffs neu einzurichtende Göttinger Professur in seinem eigenen Sinne zu nutzen, d. h. einen seiner aussichtsreichsten Schützlinge hier – und am Ende tatsächlich erfolgreich – ins Spiel zu bringen, nämlich den ein Jahr zuvor habilitierten Otto Krauske. Über den von den Göttingern gewünschten Leipziger Privatdozenten Buchholz könne er, bemerkt Schmoller in seinem Privatgutachten für Althoff vom 10. Juni 189563, mangels eigener Kenntnis gar nichts sagen; zu Spannagel führte er lediglich knapp aus, dessen Habilitationsschrift über Minden-Ravensberg unter brandenburgisch-preußischer Herrschaft sei zwar „recht brauchbar, jedoch in so fern keine sehr bedeutsame Leistung, als die Art der Fragestellung und Behandlung meinen verwaltungsgeschichtlichen Arbeiten entnommen ist“64. An „Begabung“ seien dem Genannten jedenfalls, so Schmoller weiter, drei seiner eigenen Schüler – er nennt hier ausdrücklich neben dem etwas älteren Kurt Breysig auch Otto Krauske und Otto Hintze – „weit überlegen“. Und Schmoller fügt, auf die Kontroverse Lehmann-Naudé anspielend, hinzu (der Adressat Althoff strich den folgenden Satz im Brief mit Bleistift an!): „Aber Lehmann wird nicht leicht einen meiner eigenen Schüler vorschlagen, selbst wenn er mit ihm befreundet sein sollte, wie das bezüglich Krauske’s der Fall ist. Vielleicht wollte er diesen auch nicht allein, – gerade weil jedermann weiß, daß er ihm in Freundschaft verbunden ist, – nennen. Vielleicht aber würde er darauf eingehen, wenn er ihm von Seite [sic] des Ministeriums gebracht würde“65. Anschließend stimmte Schmoller das Loblied Krauskes an: dessen „Band der Staatsschriften Friedrich d. G. ist eine vortreffliche kritische Leistung. Lenz glaubt wie ich, daß er eine erhebliche Zukunft habe. Seine Probevorlesung über das Verhältniß Friedrich d. G. [sic] zum Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau war ein Meisterstück psychol. Charakteristik“66. Er wolle nicht dazu raten, Krauske in Göttingen zu „oktroiren“, sei aber überzeugt, dass dieser dort „mit seinem Talente mehr wirken würde als Sp[annagel]“67. Die Rechnung Schmollers ging auf: Als Althoff, diesem Rat folgend, in einem Brief an den wegen seines cholerischen Charakters gefürchteten Max Lehmann 63 Das Original in: GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va, Sekt. 6, Tit. IV, Nr. 1, Bd. 16, Bll. 95r–96v; eine Abschrift auch in: ebd., VI. HA, Nl. Friedrich Althoff, Nr. 549, Bll. 53r–53v (im Folgenden nach dem Original zitiert). 64 GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va, Sekt. 6, Tit. IV, Nr. 1, Bd. 16, Bll. 95r–95v. 65 Ebd., Bll. 95v–96r. 66 Ebd., Bl. 96r. 67 Ebd.; Schmoller fügte ausdrücklich noch an: „Die Berufung von Breysig oder Hintze nach Göttingen würde Lehmann sicher ablehnen. Beide aber wären insofern dort angezeigt, als sie die Geschichte mit tiefgreifenden staatswiss. Studien verbinden, während Krauske die Geschichte mehr im Sinne Lehmanns traktirt. Ich würde aber deshalb nicht empfehlen einen der beiden Genannten dahin zu setzen, weil das neue furchtbare Erbitterung Lehmann’s erzeigen und damit dort unerquickliche Händel schaffen würde. Ist Ihnen Krauske nicht recht, so würde ich Spannagel wählen, falls nicht die Vorzüge von Buchholz sehr überzeugend sind“ (ebd., Bl. 96v).

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nun tatsächlich Krauske für die neue Göttinger Stelle ins Gespräch brachte, reagierte der Angesprochene mit kaum verhohlener Begeisterung: „Hochverehrter Herr Geheimer Rath“, schrieb Lehmann sogleich nach Berlin, „Sie haben schwerlich eine Ahnung davon, welche Freude Sie mir mit Ihrem Briefe […] gemacht haben. Der von Ihnen uns vorgeschlagene Otto Krauske ist mein bester Freund, für dessen Tüchtigkeit ich mich verbürge wie für mich selber“. Er habe ihn nur aus zwei Gründen nicht auf die Göttinger Liste gesetzt, erstens gerade wegen ihrer engen Freundschaft, und zweitens, weil Krauske im Mittelalter weniger breit als die anderen beiden Kandidaten ausgewiesen sei. Lehmann betonte jedoch ebenfalls, „daß Krauske, wie seine musterhafte Schrift ,Entwicklung der ständigen Diplomatie‘ zeigt, dem Mittelalter nicht fremd ist, eine vortreffliche philologische Schulung besitzt, also zur Leitung des Proseminars durchaus geeignet ist“68. Auch dem zweiten Göttinger Fachkollegen Paul Fridolin Kehr sei Krauske im Übrigen hochwillkommen. Nachdem ein diskreter Informant Althoffs in einer Vorlesung Krauskes über „Verfassungsgeschichte Preußens von 1806 bis 1866“ hospitiert und einen im Ganzen positiven Bericht über dessen Lehrfähigkeit geliefert hatte69, erhielt Krauske bereits zehn Tage nach Schmollers Gutachten den Ruf nach Göttingen. Wie sehr diese Berufung den Wünschen des streitbaren Lehmann entgegenkam, zeigt ebenfalls noch eine Bemerkung in dessen später Selbstbiographie, er habe die Förderung seiner frühen Göttinger Schüler „in engem Vereine mit dem Direktor des Proseminars“ betrieben, „meinem Freunde Otto Krauske, dessen Berufung ich abermals der Güte von Althoff verdankte“70. Die knapp sieben Berufsjahre, die Krauske anschließend zwischen 1895 und 1902 an der Georgia Augusta in Göttingen wirken sollte, erwiesen sich für ihn jedoch, trotz dieser anfänglich guten Auspizien, als keine sehr erfreuliche oder angenehme Zeit, und das lag nicht zuletzt an ihm selbst. Die Briefe an seinen Freund Friedrich Meinecke, damals noch nicht Professor, aber bereits leitender Herausgeber der Historischen Zeitschrift, der Krauske sogar 1896 in den Kreis der Mitherausgeber dieser wichtigsten historischen Fachzeitschrift berief71, zeigen anschaulich Krauskes Unglück: Alltäglich wende sich, schreibt er dem Freund schon am 23. November 68

Die Zitate aus dem Schreiben Lehmanns an Althoff, 13. 6. 1895, ebd., Bll. 98r–99v. In dem knappen Bericht eines „Dr. Peters“, der am 15. 6. 1895 in Krauskes Vorlesung hospitierte, ebd., Bll. 102r–102v, heißt es, der junge Privatdozent halte „einen lebhaften Vortrag und versteht es, seine Hörer zu fesseln. Beim Sprechen stößt er allerdings etwas – nicht auffallend – mit der Zunge an. Etwas störend ist es auch, daß er beim Vortrag fast immer zur Decke oder nach der Seite, nicht aber auf seine Schüler sieht, ein äußerlicher Fehler, den z. B. auch Kohler hat; wie bei diesem so wird aber auch bei Krauske die Aufmerksamkeit der Zuhörer hierdurch nicht beeinträchtigt“. – Gemeint ist hier der seinerzeit berühmte Berliner Rechtslehrer Josef Kohler (1849 – 1919). 70 Max Lehmann, (Selbstdarstellung), in: Sigfrid Steinberg (Hrsg.), Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. I, Leipzig 1925, 207 – 232, hier 225 (das „abermals“ bezieht sich auf die kurz zuvor erfolgte Berufung Kehrs nach Göttingen); vgl. auch F. Meinecke, Autobiographische Schriften (Anm. 20), 121. 71 Vgl. F. Meinecke, Neue Briefe (Anm. 19), 510 (Meinecke an Rudolf Oldenbourg, 10. 6. 1896). 69

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1895 nach Berlin, „mein geistiger Blick zu Dir und dem Göttlichen72. Wie sehr entbehre ich der Aussprache mit Euch. Erst jetzt fühle ich ganz, wie viel ich Euch verdanke, wie werthvoll Euer […] Rath mir auch in den kleinen Dingen des Lebens war. Ich darf nicht klagen: mit Lehmann stehe ich in vertrautem Verhältnisse. Aber er ist im Vergleich zu mir doch zu weit vorgeschritten, zu gereift. Er ist nicht mehr ein mit mir Strebender; von größerer Höhe sieht er auf meine stolpernden Versuche herab“. Im Übrigen sei der für die Universität bekannte „Hofratston […] noch gewaltig“ vorhanden, „obgleich eine Minorität mit Energie opponirt“73. Unter seinen neben Lehmann nächsten Kollegen – dem seine Überlegenheit und sein Selbstbewusstsein rücksichtslos ausspielenden Paul Kehr und dem allzu scharfsinnigen Karl Brandi – begann Krauske bald zu leiden74, und innerhalb der Fakultät fürchtete er den „schlechthinnigen Oberprofessor“ am meisten, nämlich Ulrich von WilamowitzMoellendorff. Der Klassische Philologe – von dem wohl schon damals bekannt war, dass er ebenso wie Schmoller zu den engsten wissenschaftspolitischen Beratern und Verbindungsmännern Althoffs gehörte75 – herrsche „in der Societät76 und in der Facultät […] als unumschränkter Autokrat. Widerstand wirft er mit allen Mitteln nieder. Man sagt, sein Weg ginge über Leichen. Das einzig Versöhnende dabei ist, daß er nicht persönlichen Neigungen und Abneigungen folgt, sondern stets nur den Ruf und Glanz der Universität im Auge hat“77. Während Krauske sich im Ort und an der Hochschule langsam einzuleben begann und auch den einen oder anderen kollegialen und freundschaftlichen Kontakt fand, etwa zu dem hochangesehenen, ja berühmten Orientalisten und Religionshistoriker

72 Krauskes ironisch gemeinte Bezeichnung für den (überaus selbstbewusst auftretenden) gemeinsamen Freund und Kollegen Otto Hintze; vgl. F. Meinecke, Autobiographische Schriften (Anm. 20), 93. 73 GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 20, 288. 74 Vgl. ebd.: „Paulus Fridolin Kehr ist ein kleiner dicker Kerl, ungefähr von meiner Größe. Aus den vollkommen kreisrunden Brillengläsern blitzen ungewöhnlich gescheite Augen hervor, in denen Gelehrsamkeit und ein gewisser derber Humor sich widerspiegeln. Sein Charakter ist ein wunderbares Gemisch von naiver Selbstbewunderung und Selbstironie. Er ist überhaupt ein Mann der inneren Widersprüche; um ihn auf eine Formel zu bringen, ein naiver und doch reflectirter, guthmütiger Egoist. Sein Gesicht erinnert mich lebhaft an eine würdige Eule. […] Während Kehr alles hervorstößt, was er gerade auf der Zunge hat, gleichgiltig ob es erfreut oder verletzt, überlegt Brandi jedes Wort. Er ist durch und durch reflectirt. […] Für alles hat er bestimmte Kategorien. Das gibt seinem Denken und Sprechen eine gewisse Schärfe, wie er denn überhaupt sehr scharfsinnig und von weiten Interessen ist. Aber ich vermisse das Unmittelbare, das der Unterhaltung erst den eigenthümlichen Reiz gibt“. 75 Hierzu vgl. vor allem: William M. Calder III / Alexander Kosenina (Hrsg.): Berufungspolitik innerhalb der Altertumswissenschaft im wilhelminischen Preußen. Die Briefe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs an Friedrich Althoff (1888 – 1908), Frankfurt a. M. 1989; dazu auch meine Besprechung in: FBPG N. F. 2 (1992), 137 f. 76 Gemeint ist die damalige Königliche Societät der Wissenschaften, die heutige Göttinger Akademie. 77 Die Zitate: GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 20, 288.

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Julius Wellhausen78, haderte er doch mit sich selbst und den eigenen Fähigkeiten als akademischer Lehrer und Forscher: Die Arbeit sei „schwer, manchmal fast zu schwer“, heißt es in den Briefen an Meinecke; gelegentlich habe er sogar „wirklich Angst“ vor dem Proseminar, zudem deprimiere ihn der geringe Besuch seiner Vorlesungen – im Wintersemester 1895/96 las er vor nicht mehr als sieben Studenten79. Ein Jahr später heißt es in einem weiteren Brief an den Berliner Freund: „Hinter meinem Arbeitstische steht ein gräßliches Gespenst, in graue Theorie gekleidet, und brüllt: ,Kr arbeite! Kr du weißt garnichts! Kr du darfst keine Minute versäumen! Du verstehst den Ranke, den Gervinus und alle die Schmöker, die du um dich häufst, doch nicht! Du bist zu dämlich! So arbeite doch wenigstens!“80. Im Vergleich mit Meinecke fühlte er nur allzu deutlich die Grenzen seiner Fähigkeiten; er selbst müsse, schreibt Krauske an den Freund, „kümmerliches Wissen an dem trüben Gestade der Leine zusammenraffen und noch unverdaut sofort von mir geben, während Du mit großer Gestaltungskraft, aus dem Vollen schöpfend, neues Gold ausschürfst und münzest […]. Jedes Gespräch mit Dir erfüllt mich mit neuem Muthe und bietet mir reiche Anregungen“81. Der sensible, an sich selbst und den eigenen Fähigkeiten jetzt und später zweifelnde, stets auf freundschaftlichen Zuspruch angewiesene junge Gelehrte, dem die Intrigen, Reibereien und kleinen Machtkämpfe des universitären Lebens ebenfalls schwer zu schaffen machten, konnte diesen Zustand nicht lange aushalten; bereits im Winter 1896/97 erkrankte er schwer und musste seine Lehrveranstaltungen aussetzen82. Nur notdürftig erholt begann er 1897 wieder mit der akademischen Lehre, brach aber zwei Jahre später erneut zusammen83, wiederum wegen „Überarbeitung“ und „Neuralgien“, wie es hieß, aber vermutlich ebenfalls wegen hiermit verbundener Depressionen; er komme sich, heißt es in einer Äußerung vom Sommer 1900, „wie ein ausgebrannter, nur noch mit Schlacken erfüllter Krater“ vor84. Auf langen Auslandsreisen, nach Italien, aber (im Sommer 1900) auch nach Dänemark suchte und fand er schließlich Heilung. Im Rückblick habe er erkannt, schreibt Krauske im Oktober 1900 aus Rapallo wiederum an Meinecke, „daß der Wille hauptsächlich den zerbrochenen Körper zusammenhielt, daß ich meine ganze Geisteskraft aufbrauchen mußte, um die ,stramme Haltung‘ zu bewahren“85. 78 Dazu vgl. die knappen Bemerkungen in den Briefen an Meinecke vom 28. 10. 1896 und vom 25.7. 1902; ebd., 301, 315. 79 Ebd., 298, 299. 80 Ebd., 301 (Krauske an Meinecke, 28. 10. 1896). 81 Ebd., 305 (Krauske an Meinecke, 28. 10. 1895). 82 Ebd., 302 (Krauske an Meinecke, o. D., Dezember 1896). 83 Dazu siehe vor allem den Brief von Ottilie Krauske an Meinecke, ebd., 309 (16. 9. 1899), sowie GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va, Sekt. 6, Tit. IV, Nr. 1, Bd. 17, Bll. 302 r–302v, 304r (Dispensierung Krauskes von seinen Vorlesungsverpflichtungen durch das Ministerium, April 1900). 84 GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 215 (Krauske an Meinecke, 24. 6. 1900). 85 Ebd., Nr. 20, 311 (Krauske an Meinecke, 14. 10. 1900).

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Aber er schaffte es am Ende eben auch, über diese Phasen schwerer Erschöpfung, physischer Anfälligkeit und belastender Depression hinwegzukommen; ein Jahr später, wiederum nach den großen Ferien, fühlte er sich „prachtvoll frisch“, wie er dem Freund in Berlin schreibt, und sah „mit großer Gleichgiltigkeit auf Kehr, der jetzt, um Lehmann zu ärgern, gerade alles thut, um meine Berufsthätigkeit bei einem hohen Ministerio hinabzusetzen“86 – und dies, obwohl Krauske 1897 in der Historischen Zeitschrift sogar sehr positiv über Kehrs Plan einer Edition der Papsturkunden berichtet hatte87. Gleichwohl wünschte er nun dringend einen Wechsel seiner beruflichen Stellung und seiner Wirkungsstätte, denn „in dem ewigen Extraordinariat, das immer neue Vorlesungen verlangt, ,verpuffe‘ ich mich doch mehr, als ich vielleicht müßte. Ich habe Sehnsucht nach dem Ordinariate in einer Mittel- oder Kleinuniversität, wo ich den Kreis meiner Kollegien abschließen und endlich auch einmal meinen eigenen Studien leben kann“88. Die Tatsache, dass er noch immer an dem mit Schmoller schon vor Jahren vereinbarten und angekündigten „Ergänzungsband“ zu den Acta Borussica arbeitete, der die von Krauske in Zerbst entdeckten Briefe des Soldatenkönigs an Leopold von Anhalt-Dessau enthalten sollte, verstärkte den Druck, unter dem er in diesen Jahren zu leiden hatte, noch mehr. Gegenüber Meinecke klagte er über die äußerst beschwerliche Arbeit an den „infamen Briefen Friedrich Wilhelms I., die wie Schneeflocken auf mich flattern“89. Gleichwohl hielt er auch hier durch und trieb diese Edition während eines Jahrzehnts, trotz längerer Unterbrechungen, doch immer wieder voran, auch wenn sie erst Jahre später, nachdem Krauske Göttingen bereits verlassen hatte, erscheinen sollte. Auch an dem hiermit verbundenen Projekt einer großen wissenschaftlichen Biographie König Friedrich Wilhelms I. hielt er über die Jahre hinweg unbeirrt fest, auch wenn er dieses lange geplante große Buch, das nicht zuletzt die Fachkollegen von ihm erwarteten, am Ende doch nicht vorlegen sollte. Immerhin publizierte er, rechnet man seine Antrittsvorlesung von 1895 noch hinzu90, bis 1908 sechs größere, fast stets aus ungedruckten Quellen gearbeitete Einzelstudien zu Leben und Werk des preußischen Soldatenkönigs (allein vier davon im opulent ausgestatteten „Hohenzollern-Jahrbuch“), die allgemein als Vorstudien zur Biographie angesehen wurden91. 86 Ebd., 313 (Krauske an Meinecke, 27. 10. 1901); zu den Intrigen Kehrs gegen Krauske siehe auch den weiteren Brief 314 (29. 12. 1901). 87 O[tto] K[rauske], Über den Plan einer kritischen Ausgabe der Papsturkunden bis Innocenz III, in: HZ 78 (1897), 456 – 461. 88 GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 20, 314 (Krauske an Meinecke, 29. 12. 1901). 89 Ebd., 304 (Krauske an Meinecke, Poststempel: 13. 6. 1898). 90 Siehe oben, Anm. 55. 91 Otto Krauske, Der Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I., in: Hohenzollern-Jahrbuch 1 (1897), 71 – 86; ders., Fürst Leopold zu Anhalt-Dessau, in: Hohenzollern-Jahrbuch 2 (1898), 57 – 78; ders., Königin Sophie Charlotte, in: Hohenzollern-Jahrbuch 4 (1900), 110 – 126; ders., Vom Hofe Friedrich Wilhelms I., in: Hohenzollern-Jahrbuch 5 (1901), 173 – 210; ders., Die Verlobung Friedrich Wilhelms I., in: Festschrift zu Gustav Schmollers 70. Geburtstag.

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Otto Krauskes Darstellung und Interpretation der Persönlichkeit und der Politik des zweiten preußischen Königs bewegt sich, wie kaum anders zu erwarten, vollständig im Kontext der wissenschaftlichen Aufwertung und Erforschung der vorfriderizianischen Epoche der preußischen Geschichte, die Schmoller zwei Jahrzehnte zuvor mit seinen eigenen Forschungen und der Begründung der Acta Borussica begonnen hatte. Der gemeinhin als „Soldatenkönig“ bezeichnete Friedrich Wilhelm I. begann damit aus dem Schatten seines Sohnes langsam herauszutreten, eben – wie Schmollers Forschungsparadigma es dargelegt hatte – in seiner Eigenschaft als der eigentliche Schöpfer des „modernen Preußen“. Unter diesem Herrscher sei, das führt Krauske schon in seinem ersten Aufsatz im Hohenzollern-Jahrbuch von 1897 aus, „an die Stelle des alten patriarchalischen Verhältnisses zwischen dem Könige und seinen vornehmsten Räten […] die Idee des Staates“ getreten; ja: „Der moderne Staatsgedanke im Gewande des aufgeklärten Despotismus wurde zum erstenmal durch Friedrich Wilhelm seiner vollen Schärfe nach verkörpert“. Von Anfang an habe dieser Monarch „mit genialer Intuition ein großes Ziel“ verfolgt, „dem er sich und seine Unterthanen rücksichtslos unterordnete, die Schaffung eines auf sich selbst beruhenden, unangreifbaren Staatswesens“92. Das war, im Kontext jener Zeit, sicher eine eher konventionelle und für einen Schüler Kosers und Schmollers auch nicht weiter überraschende Deutung, doch seine scharfsinnigen und vorzüglich quellenfundierten Porträts des Fürsten Leopold zu Anhalt-Dessau und der Königin Sophie Charlotte aus den Bänden 2 und 4 des Hohenzollern-Jahrbuchs93 konnten dann doch manches Neue bieten, das Krauske aus den Archiven entnommen hatte, etwa einen vorsichtigen Hinweis auf die letztlich doch eher begrenzten militärisch-strategischen Talente Leopolds und darauf, dass es eben auch handfeste materielle Interessen waren, die seine „Freundschaft“ mit dem Preußenkönig kennzeichneten94. Und Sophie Charlotte, die erste preußische Königin, wird nicht nur als ehrgeizig-intrigante Politikerin beschrieben, deren Mitwirkung „bei dem verhängnisvollen Sturze des Oberpräsidenten Eberhard von Danckelmann“ sehr kritisch vermerkt wird, sondern Krauske hebt auch deren „Neigung zu einem rein dekorativen Prunke“ hervor, für den vor allem die Tatsache spreche, „daß sie den seichten, nur auf augenblickliche Wirkung ausgehenden Eosander der majestätischen Größe Schlüters vorzog“95.

Beiträge zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, hrsg. v. Verein für die Geschichte der Mark Brandenburg, Leipzig 1908, 153 – 189. – Als später, ebenso summarischknapper wie (nach dem Ersten Weltkrieg) rückblickender Abschluss seiner Forschungen zu diesem Thema kann angesehen werden: ders., Das Königtum Friedrich Wilhelms I., in: AltprF 1/2 (1924/25), 70 – 77. 92 Die Zitate: O. Krauske, Der Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. (Anm. 91), 74, 83, 86. 93 Siehe Anm. 91. 94 Vgl. O. Krauske, Fürst Leopold zu Anhalt-Dessau (Anm. 91), 62 ff., 74. 95 Die Zitate: O. Krauske, Königin Sophie Charlotte (Anm. 91), 117, 115.

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Der umfangreichste Aufsatz aus dem 5. Band des Hohenzollern-Jahrbuchs, 1901 erschienen, bringt bereits eine stärker differenzierende, manchen Aspekt unverkennbar präzisierende und keineswegs in jeder Hinsicht unkritische Deutung Friedrich Wilhelms I., denn nun wird dessen vermeintlich „moderne“ Staatspraxis doch deutlich relativiert: „Je weiter wir in das Verständnis Friedrich Wilhelms eindringen, um so mehr erkennen wir, daß viele Züge, die früher als die Launen eines unberechenbaren Willkürherrschers aufgefaßt wurden, einen tieferen, sittlichen Ursprung haben. Sie geben Zeugnis von dem inneren Kampfe, die Alleinherrschaft führen zu wollen, und doch die alten patriarchalischen Formen zu bewahren“96. Die Ungenauigkeiten und Einseitigkeiten der früheren Literatur über den König wies Krauske freilich ebenso entschieden zurück: die genuin politische Funktion des Tabakskollegiums, früher angesehen als „eine Stätte, wo militärische Roheit und die Trunksucht wahre Orgien feierten“97, konnte er sehr klar nachweisen, denn der cholerische König benötigte nun einmal, dies entsprach seiner Wesensart, einen Ort, an dem er sich im Kreis engster Vertrauter (und ohne Damen!) frei und ungehindert aussprechen konnte – gerade ohne seine Worte ständig wägen und kontrollieren zu müssen. Und auf die starken Verzerrungen in den bis dahin als unbedingt authentische Quelle über Friedrich Wilhelm angesehenen Memoiren seiner Tochter Wilhelmine von Bayreuth hat Krauske in diesen Veröffentlichungen wohl als einer der ersten hingewiesen98. Im letzten großen Aufsatz über die Verlobung des späteren Königs im Jahr 1706 hat er noch einmal, unter Heranziehung alles damals bekannten Quellenmaterials, die überaus komplexen politischen Hintergründe dieser Verbindung zwischen Hohenzollern und Welfen präzise herausgearbeitet99. Während Krauske noch unter den Göttinger Verhältnissen litt und die Universitätsstadt an der Leine am liebsten hinter sich gelassen hätte, erreichte den Kurator der Georgia Augusta am 4. März 1902 ein „Staatstelegramm“ aus Berlin, das die knappe Mitteilung des Kultusministers enthielt: „Krauske für Königsberg in Aussicht genommen. Bitte drei Vorschläge für seinen Ersatz und Kehr’s Vertretung von Fakultät einzufordern“100. Schon im Sommersemester 1902 endete also Otto Krauskes Göttinger Leidenszeit. IV. Es ist aus den Akten nicht so recht ersichtlich, wie es zur Berufung Otto Krauskes nach Königsberg zu Anfang 1902 gekommen ist – es sei denn, Gustav Schmoller, der inzwischen dringend auf die baldige Fertigstellung des von Krauske noch immer bearbeiteten Ergänzungsbandes zu den Acta Borussica hoffte, hätte noch einmal in den Gang der Dinge eingegriffen, eine sicher nicht völlig abwegige Vermutung. Als der 96

O. Krauske, Vom Hofe Friedrich Wilhelms I. (Anm. 91), 182. Ebd., 200. 98 Vgl. ebd., 176, 187 u. a.; ders., Fürst Leopold zu Anhalt-Dessau (Anm. 91), 57. 99 O. Krauske, Die Verlobung Friedrich Wilhelms I. (Anm. 91), 175 ff. u. passim. 100 GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va, Sekt. 6, Tit. IV, Nr. 1, Bd. 18, Bl. 263r. 97

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Königsberger Historiker Hans Prutz, Verfasser einer vierbändigen, in Konkurrenz zur Berliner Schmoller-Schule stehenden „Preußischen Geschichte“101, sich im November 1901 wegen eines Augenleidens vorzeitig entpflichten ließ102, forderte das Ministerium, wie üblich, von der Philosophischen Fakultät eine Liste mit Vorschlägen zur Neubesetzung des Lehrstuhls an. Die erbetene Stellungnahme, datiert auf den 16. Januar 1902, setzte Krauske an die erste Stelle103, was vermuten lässt, dass man in der Hauptstadt der Provinz Ostpreußen als Nachfolger des Preußenforschers Prutz unbedingt ebenfalls einen für die neuere preußische Geschichte ausgewiesenen Spezialisten haben wollte; vielleicht war an die Ostsee inzwischen auch die Nachricht vorgedrungen, dass Krauske mit aller Macht aus Göttingen fortstrebte und dringend eine Versetzung auf ein Ordinariat in altpreußischen Gefilden wünschte. Zur Begründung der Erstplatzierung Krauskes wurden neben den schon vorliegenden, von ihm verantworteten Aktenpublikationen vor allem auch seine bisher erschienenen Einzelstudien zur preußischen Geschichte des frühen 18. Jahrhunderts angeführt – ausdrücklich als „Vorarbeiten zu einer von ihm in Angriff genommenen Biographie Friedrich Wilhelm I.“104 Lobend wird zudem die thematische und zeitliche Breite der in Krauskes Lehrveranstaltungen behandelten Themen hervorgehoben. „Seine Veröffentlichungen von urkundlichem Material“, heißt es weiter, „sind hinsichtlich der gründlichen Durchforschung der Aktenbestände, in der sorgfältigen Scheidung des Wichtigen vom Unwichtigen und in der Wiedergabe der publizierten Akten mustergiltig. In seinen Darstellungen ist er auch dort, wo der Stoff sich spröde erweist, frisch und anregend. Die Erzählung der Ereignisse weiß er mit feinem Verständniß künstlerisch und wirkungsvoll zu gestalten“. Endlich erfreue sich der auf Platz 1 vorgeschlagene Kollege „als Redner und Lehrer […] in Göttingen allgemeiner Anerkennung. Man rühmt ihm eine geradezu musterhafte Art nach, mit den Studenten umzugehen. Der schlagendste Beweis dafür ist, daß seine Schüler oft freiwillig in dem von ihm geleiteten Proseminar bleiben, auch wenn sie bereits in das historische Seminar aufgenommen worden sind“105.

101 Vgl. B. Jähnig, Historiker der Albertus-Universität Königsberg (Anm. 1), 237 ff.; knapp ebenfalls W. Neugebauer, Preußen in der Historiographie (Anm. 1), 34 (auch zur Kritik Hintzes an Prutz); jetzt auch Christian Tilitzki, Die Albertus-Universität Königsberg. Ihre Geschichte von der Reichsgründung bis zum Untergang der Provinz Ostpreußen (1871 – 1945), Bd. 1: 1871 – 1918, Berlin 2012, 92 ff., 283 ff. (hier 283 f., Anm. 1423, Hinweise auf Hintzes Kritik), 602 u. a. 102 GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va, Sekt. 11, Tit. IV, Nr. 21, Bd. 21, Bll. 101r–104r, 114r–115r (Entpflichtung von Prutz am 25. 11. 1901). 103 Ebd., Bll. 121r–129r (Philosophische Fakultät der Albertus-Universität an den Kultusminister, 16. 1. 1902). An zweiter Stelle stand Felix Rachfahl, an dritter befanden sich, pari passu, Karl Spannagel und Robert Königer (ebd.). 104 Ebd., Bl. 123v. 105 Ebd., Bll. 124r–124v; diese Formulierungen deuten darauf hin, dass man in Königsberg offenbar Auskünfte aus Göttingen eingeholt hatte – eventuell von Max Lehmann?

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Jedenfalls erfolgte der Ruf an die Albertus-Universität schon sehr bald, und am 2. April wurde Otto Krauskes Bestallungsurkunde zum Ordinarius ausgestellt106. Wenn man den Erinnerungen seines späteren Königsberger Schülers und Bewunderers Bruno Schumacher trauen darf, dann waren die Studenten von dem neuen Professor sofort sehr angetan: „Ein noch jugendlicher, doch scharf geschnittener Kopf, flüssig, ja sprudelnd in der Rede, witzig, bisweilen sarkastisch, äußerst anregend und in seinen Gesprächsthemen ebenso vielseitig, wie seine gewaltige Bibliothek, die wir in historischer Reihenfolge aufzustellen hatten. […] Und dazu eine liebenswürdige, ungezwungene Geselligkeit: Nach getaner Arbeit ein gutes Glas Wein, und leichter schwingt die Unterhaltung, persönlicher werdend, bis zu später Abendstunde“107. In den Briefen Krauskes an den Freund Meinecke – inzwischen in Straßburg ebenfalls Lehrstuhlinhaber – klingt es allerdings doch etwas anders; nach dem vollendeten ersten Königsberger Semester schreibt Krauske: „Hier, Regiomonti, ist es nicht ganz leicht sich zu behaupten. Die Leute trotten wie Elephanten und Nashörner gegen einander. Äußerlich voll Freundlichkeit und innerlich – na ich danke“. Die Neuere Geschichte sei geradezu „verwahrlost“, denn der „Alleinherrscher des Seminars“, der Althistoriker Franz Rühl, habe alle am Seminar verfügbaren finanziellen Mittel für die Anschaffung neuerer Quellenbände und Literatur zur Antike ausgegeben108. Auch die Studenten wollten ihm zuerst ebenfalls nicht so recht gefallen109 ; „es will mir scheinen“, schrieb er an Schmoller, „als ob das Studium der Geschichte von den Studenten hier nicht nach Wunsch gepflegt wird, und setze meine ganze Kraft daran, Wandel zu schaffen“110. Die alten Leiden, offenbar keine spezifisch Göttinger Krankheit, meldeten sich ebenfalls bald wieder; im November 1903 schreibt Krauske an Meinecke nach Straßburg, er habe sich inzwischen erneut derart überarbeitet, „daß ich von meiner alten Freundin Neuralgie bös heimgesucht wurde. Ich mußte zufrieden sein, daß ich noch meine Kollegien mit leidlichem Anstande durchhalten konnte“111. Die Studenten empfanden dies offenbar nicht so – im Gegenteil: „In seinem ersten Semester behandelte er [Krauske; H.-C.K.] das Westfälische Friedensinstrument. Aufgabe zur ersten 106

Ebd., 145r. B. Schumacher, Otto Krauske (Anm. 1), 177. 108 GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 20, 315 (Krauske an Meinecke, 25. 7. 1902). 109 Vgl. ebd.: Er sei, bemerkt Krauske in seinem Brief, auch „aus den Studenten […] noch nicht klug geworden. Bisher muß ich sagen, daß mir der in Göttingen vertretene Schlag besser gefällt. Die hiesigen Musensöhne sind nicht gerade sur la tête gefallen, aber mir will scheinen, als ob ihnen die Armut, die sie von einer intensiveren Beschäftigung cum litteris abhält, da sie sich mit Stundengeben ihr Brot verdienen müssen, auch etwas Geistesfreiheit raubt“; ähnlich auch in einem Brief an Schmoller vom 26. 11. 1904, in: GStA PK, VI. HA, Nl. Gustav Schmoller, Nr. 236, 43. 110 GStA PK, VI. HA, Nl. Gustav Schmoller, Nr. 236, 27 (Krauske an Schmoller, 5. 9. 1904). 111 GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 20, 316 (Krauske an Meinecke, 5. 11. 1903). 107

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Sitzung: Der Titel des römischen Kaisers. Eine Geschichte Österreichs im kleinen. […] es war ein tiefer Einblick in die historisch-politischen Verhältnisse des 17. Jahrhunderts, der unvergessen blieb und manches anregte, was heute auf der Tagesordnung steht. In den Kollegs Schulter an Schulter. Mit heißem Pathos, innerlich von der Sache erregt, führte Krauske Menschen und Geschehnisse vor. Studenten aller Fakultäten füllen der Hörraum. […] man spürt sich von dem sittlichen Ernst eines Carlyle oder Treitschke angeweht“112. Im Großen und Ganzen jedoch begann Krauske in Königsberg, das zeigen viele Zeugnisse, langsam aufzuleben; er hatte gewissermaßen sein Lebensziel erreicht und einen persönlichen Wirkungskreis genau dort gefunden, wo er, der gebürtige Potsdamer, sich offenbar besser verstanden und aufgehoben wusste als im westlichen Teil Deutschlands. Seine Tätigkeit in Königsberg – vor allem auch seine dort öffentlich gehaltenen Vorträge über historische Themen allgemeinen Interesses – fanden großen Anklang und bedeutende Resonanz in der etwas abgelegenen Provinz113. Und als es um die Nachfolge des gleichzeitig mit ihm nach Königsberg berufenen, dort jedoch nur für wenige Jahre (1903 – 1907) lehrenden Felix Rachfahl ging, stellte sich die Fakultät sofort auf Krauskes Seite, als seitens des Ministeriums versucht wurde, den Breslauer Kollegen Georg Friedrich Preuß als Rachfahls Nachfolger nach Königsberg zu schicken: Eine Okroyierung von Preuß würde, so die Fakultät in einem Schreiben nach Berlin, „eine sehr schwere, durch nichts begründete Kränkung unseres Kollegen Krauske sein, da beide Gelehrte die gleichen Epochen in ihren Vorlesungen behandeln, dieselbe Zeit sich als besonderes Studiengebiet erlesen haben“; zudem würde durch eine solche Berufung „sowohl nach außenhin, wie auch bei unseren Studenten der Verdacht erweckt werden, als ob Herr Krauske die ihm gestellten Aufgaben nicht im erforderlichen Maße erfüllte“. Insofern fühle sich die Fakultät „verpflichtet, auf das entschiedenste und wärmste für Herrn Krauske einzutreten“114. – Preuß blieb daraufhin, zum persönlichen Ordinarius ernannt, in Breslau. Und, wie man hinzufügen kann, Krauske blieb in Königsberg, das er, jedenfalls bis 1914, nur noch für Urlaubsreisen und kurze Aufenthalte verließ; in Berlin ließ er sich, wenn man der Erinnerung Meineckes trauen darf, jedenfalls seit seinem Wechsel nach Königsberg „kaum noch sehen“115. Zu Otto Hintze, ebenfalls Junggeselle, hatte er noch am ehesten Kontakt; 1903 verbrachte er mit ihn einige Urlaubstage im Ostseebad Zoppot. Hintze sei, schrieb Krauske einige Monate später an Meinecke, „in seinem Fühlen und Denken noch immer der Alte, geistig wachsend, aber etwas abgesetzt. Die Berliner Professoren werden nolens volens zu großen Thieren 112

B. Schumacher, Otto Krauske (Anm. 1), 178. Vgl. die Bemerkungen B. Schumachers, ebd. 114 Die Zitate: GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va, Sekt. 11, Tit. IV, Nr. 21, Bd. 24, Bll. 184r–186v (Philosophische Fakultät an Kultusministerium, 22. 10. 1907); zu Georg Friedrich Preuß (1867 – 1914) siehe auch die Angaben bei W. Weber, Biographisches Lexikon (Anm. 1), 452 f. 115 F. Meinecke, Autobiographische Schriften (Anm. 20), 233. 113

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gemacht“, und auch während der Sommerfrische habe sich Hintze nicht ganz erholen dürfen, sondern halbe Tage lang seiner mitanwesenden Schwester Vortragstexte diktiert. „Er [Hintze; H.-C.K.] klagte über die Fülle seiner Arbeit; und täglich wurde noch mit neuen Anträgen angeklopft. Hoffentlich bleibt ihm sein starker Körper bewahrt; ein geistig und körperlich Schwächerer dürfte dies Leben nicht lange ertragen. Das ist das Glück der Provinz bei allem, was man entbehrt: man kann sich mehr sammeln, seinem eigentlichen Berufe intensiver leben“116. Krauske verließ die Provinz fortan nicht mehr und er blieb ebenfalls, im Gegensatz zu den Freunden Meinecke und dem noch spät sich verheiratenden Hintze, Junggeselle, oder, wie er sich ausdrückte, „Hagestolz, es ist mir einmal in meiner Anlage so mitgegeben“117. Für Freundschaften erwies sich Krauske allerdings als sehr begabt: „Er hat Freunde über Freunde gehabt im Leben“, erinnerte sich Meinecke Jahre nach Krauskes Tod, „später noch einen richtigen hohenzollernschen Prinzen“, den auf einem Schloss in Niederschlesien residierenden Prinzen Friedrich Wilhelm, den Sohn des Prinzen Albrecht. Dieser Fürst hatte bei Krauske in Königsberg studiert und sein Lehrer besuchte ihn später häufig in Schlesien, wo er seinem früheren Schüler dann „weltgeschichtliche Vorträge“ zu halten hatte118. Mit feiner, anspielungsreicher Ironie bezeichnete sich Krauske selbst einmal als den „Gundling“ des Prinzen119 ; er scheint aber dieses Verhältnis als willkommene Abwechslung zur Tätigkeit eines Königsberger Ordinarius angesehen und durchaus davon profitiert zu haben. Nicht zuletzt blieb er lebenslang, gerade auch nach 1918, ein überzeugter Monarchist und ein treuer Anhänger des Hauses Hohenzollern. Während der ersten Jahre seiner im Frühjahr 1902 begonnenen Königsberger Tätigkeit war Otto Krauske jedenfalls noch vollauf beschäftigt mit dem wohl ambitioniertesten Projekt seiner wissenschaftlichen Laufbahn, der Herausgabe der – als Ergänzungsband zu den Acta Borussica schon seit längerem angekündigten – Briefe König Friedrich Wilhelms I. an den Fürsten Leopold zu Anhalt-Dessau aus den Jahren 1704 bis 1740, die nach vieljähriger Vorarbeit endlich im dritten Jahr nach Krauskes Wechsel an den Pregel erscheinen konnten120. Abgesehen von der äußerst schwer zu entziffernden Handschrift dieses Monarchen waren auch in der Kommentierung manche schwere Hindernisse zu überwinden: „Leider stellt sich heraus“, hatte Krauske bereits 1894 an Schmoller geschrieben, „daß die Kommentierung der Äußerun116 GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 20, 316 (Krauske an Meinecke, 5. 11. 1903). 117 GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 20, 317 (Krauske an Meinecke, 19. 7. 1905). 118 Die Zitate: F. Meinecke, Autobiographische Schriften (Anm. 20), 92, 298; vgl. auch B. Schumacher, Otto Krauske (Anm. 1), 179. 119 In einem Brief an Meinecke vom 8. 8. 1907, GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 20, 319. 120 Die Briefe König Friedrich Wilhelms I. an der Fürsten Leopold zu Anhalt-Dessau 1704 – 1740. Bearbeitet von Otto Krauske (Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Ergänzungsband), Berlin 1905.

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gen Friedrich Wilhelms über die politische Lage durchaus nicht so leicht ist, als ich mir das vorstellte. Droysen kann für das Detail nur selten Dienste leisten. Ich sah mich mehrmals genötigt, fast einen ganzen Jahrgang von Gesandtschaftsberichten durchzugehen, um die Worte des Königs recht zu verstehen“121. Im Sommer 1898 ist dann, wie sich anhand der Briefe Krauskes an Schmoller belegen lässt, mit dem Druck begonnen worden – trotz gelegentlicher Bedenken und Selbstzweifel des Bearbeiters122, doch die Sache blieb aus unbekannten Gründen stecken; vermutlich waren die schweren gesundheitlichen Probleme Krauskes während seiner Göttinger Jahre für diese weitere Verzögerung verantwortlich. Erst nach der Genesung konnte er erneut an die Fertigstellung der Edition gehen; dies teilte er im Juli 1901 seinem geduldigen Mentor Gustav Schmoller mit, der ihn in dieser Zeit gerade (im Ergebnis vergeblich) für eine Berufung nach Marburg empfohlen hatte, nicht ohne hinzuzufügen: „Ich bin mir des Wenigen, das ich vermag wohl bewußt, aber ich darf auch sagen, daß ich mein Pfund nach Kräften redlich im Interesse meiner Studenten zu verwenden mich bemühe“123. Erst drei Jahre später konnte der nunmehr in Königsberg ansässige Krauske dem Berliner Lehrer und langjährigen Förderer Schmoller mitteilen, dass er den ersten Teil der Einleitung und das Register zur Edition an den Verlag Parey nach Berlin geschickt habe; damit stand das Erscheinen des Bandes für 1905 fest124. Auf das (leider nicht überlieferte) Schreiben Schmollers hierauf antwortete Krauske wiederum im Oktober 1904 mit einem Brief, der nicht nur den Dank für die Geduld des alten Lehrers und Mentors ausdrückte, sondern auch noch nachträglich einiges Licht auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis der beiden, sowie ebenfalls auf die Arbeitsweise des Editors Krauske zu werfen vermag125. 121 GStA PK, VI. HA, Nl. Gustav Schmoller, Nr. 226, 83 (Krauske an Schmoller, 27. 9. 1894); gemeint ist hier Johann Gustav Droysens vielbändige „Geschichte der preußischen Politik“, in 2. Aufl. 1866 – 1886 erschienen. 122 Vgl. Krauskes Brief an Schmoller vom 26. 7. 1898, GStA PK, VI. HA, Nl. Gustav Schmoller, Nr. 230, 28: „Als ich die ersten Bogen der Briefe corrigirte, überschlich mich oft die Sorge, ob die Publication sich überhaupt lohne, ob die […] sehr mühevolle Arbeit, die ich darauf verwandt habe, im Verhältnisse zu dem Mitzutheilenden stünde. Aber je weiter der Druck fortschritt, um so mehr bildete sich bei mir die Meinung, daß die Edition doch eine Bereicherung unserer Kenntniß bedeutet und werth ist, als Beiband der Acta Borussica ausgegeben zu werden. Ich will nur wünschen, daß dieses Urtheil nicht von der Vaterfreude beeinflußt ist“. 123 Ebd., Nr. 233, 23 (Krauske an Schmoller, 2. 7. 1901). 124 Ebd., Nr. 236, 27 (Krauske an Schmoller, 5. 9. 1904). 125 Ebd., Nr. 236, 34 (Krauske an Schmoller, 20. 10. 1904): „Es drängt mich, Ihnen meinen aufrichtigen Dank für Ihre gütigen Worte zu sagen. Bei der Verehrung, mit der ich zu Ihnen hinaufblicke, empfand ich die Spannung [gemeint ist die lange Verzögerung der Publikation; H.-C.K.] sehr schmerzlich. Nicht Saumseligkeit, sondern die Sucht, alles was nur mit der Publication in Zusammenhang gebracht werden könnte, hineinzubringen, gleichsam in der Einleitung ein Kompendium der gesamten Geschichte Friedrich Wilhelms zu geben, verführte mich leider, immer mehr anzusammeln und, da mir stets neue Fragen entgegentraten, den Abschluß trotz meines bösen Gewißen [sic], aufzuschieben. Obgleich sich die Stöße der Abschriften, die ich mir während der letzten Jahre aus den Archiven besorgte, hoch auftürmten, hoffte ich doch der Schwierigkeit Herr zu werden und den umfangreichen Stoff in wenigen

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Der überaus stattliche Band der Briefedition, der mit insgesamt fast eintausend Druckseiten ein eindrucksvolles Monument der Schmollerschen Schule im Bereich der historischen Editionen darstellt126, darf wohl – zusammengenommen mit den vorangegangenen Bänden der „Behördenorganisation“127 – als das eigentliche wissenschaftliche Hauptwerk Krauskes gelten. Als der „Ergänzungsband“, seit langen Jahren angekündigt, endlich erschien, wurde er mit Respekt aufgenommen, denn es war zumindest für den Spezialisten sofort zu erkennen, welche Arbeitsleistung in dieser Edition steckte, welche enormen Anstrengungen es gekostet hatte, diese Dokumente ans Licht zu holen und der wissenschaftlichen Forschung in editorisch korrekter und kommentierter Form zur Verfügung zu stellen. Die umfangreiche Einleitung (von immerhin 112 Druckseiten) stellte an sich bereits eine eigene kleine Monographie dar; in der Vorrede wird von Schmoller sogar mitgeteilt, dass der größere Teil des Krauske-Textes aus Platzgründen herausgenommen werden musste; die an dieser Stelle ebenfalls angekündigte separate Publikation der vollständigen Einleitung als einer auf den Erkenntnissen der Briefe beruhenden eigenen Untersuchung über Friedrich Wilhelm I. als Innenpolitiker ist allerdings (aus unbekannten Gründen) unterblieben128. Die Einleitung, die Krauske dem Band voranstellte, ist in der Tat nur als meisterlich zu bezeichnen – vielleicht als das Beste, das er je veröffentlicht hat –, basierend auf intimster Kenntnis der Quellen, frei von damals noch sehr populären Klischees über den „Soldatenkönig“ und seinen „alten Dessauer“. Diese beiden Gestalten der deutschen Geschichte des frühen 18. Jahrhunderts werden hier im präzisen Sinne des Begriffs historisiert, aus den Gegebenheiten und Verhältnissen ihrer Zeit heraus erkennbar und verstehbar gemacht, Anachronismen werden vermieden und gerade die begrenzten Denkhorizonte und die im Grunde ebenfalls sehr übersichtlichen Handlungsspielräume der beiden werden in Krauskes Darstellung klar namhaft gemacht und auf den Begriff gebracht. Das beginnt bereits bei dem durchaus nicht unprobleBogen zusammen zu drängen. Ich habe jetzt in ernster Selbstprüfung die Wahrheit des Wortes erkannt, daß zur rechten Zeit die Hälfte mehr ist als das Ganze […]. Gerade selbst in der wissenschaftlichen Arbeit stehend, empfindet man mit dem zunehmenden Alter einen stets wachsenden Dank gegen diejenigen Lehrer, die uns in unserer Jugendzeit den Weg gewiesen haben, deren Einfluß wir noch täglich in unserem Denken verspüren“. 126 Siehe oben, Anm. 120; nach der Vorrede (V–IX) umfasst die sehr ausführliche thematische Einleitung die ebenfalls separat paginierten Seiten (1)–(112), während die edierten Texte auf den Seiten 1 – 718 zu finden sind; das äußerst detaillierte Register folgt auf den Seiten 719 – 867. 127 Siehe oben, Anm. 39, 44. 128 Vgl. Die Briefe König Friedrich Wilhelms I. (Anm. 120), VII (Vorrede, datiert „December 1904“, unterzeichnet von Schmoller und Koser): „Eine Einleitung, die den Briefwechsel nach seiner Bedeutung ausführlich zu würdigen unternähme, müßte beinahe die gesamte Regierungsthätigkeit des Königs zum Gegenstande haben. Sie hätte […] einen allzu breiten Platz beansprucht. Unser Mitarbeiter hat daher mit unserer Genehmigung den größeren Theil seiner ursprünglich geplanten Einleitung zurückbehalten, um ihn an anderer Stelle zu veröffentlichen, und in der vorangeschickten Einführung nur das Verhältniß der beiden fürstlichen Freunde im Allgemeinen behandelt.“

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matischen Verhältnis zwischen den beiden seit etwa 1705, das nur in gewissen Grenzen, wenn überhaupt, als wirkliche „Freundschaft“ bezeichnet werden kann129, eher schon als eine beiden Partnern immer wieder sehr nützliche Zweckgemeinschaft; insofern trage, wie Krauske gelegentlich anmerkt, „der Verkehr der beiden einen durchaus geschäftlichen Charakter“130. Immerhin beruhte diese Gemeinschaft ebenfalls auf ausgeprägten Charakterähnlichkeiten und sollte sich deshalb im Laufe der Jahre als zunehmend stabiler und für beide Seiten als sehr vorteilhaft erweisen. Der zwölf Jahre ältere Dessauer Fürst hat nicht zuletzt die ihm aus seiner engen Verbindung zum preußischen Kronprinzen und späteren König erwachsenen vielfachen materiellen Vorteile durchaus zu nutzen gewusst, wie Krauske sehr klar nachweisen kann131. Die inneren Ereignisse und Konflikte, auch die politischen Hofintrigen im sich erst langsam entwickelnden brandenburgisch-preußischen Staatswesen kurz nach 1700, werden in der Einleitung eingehend und kritisch thematisiert, so etwa die bekannten „Händel“ des berüchtigten „Staatsbetrügers“ Michael Kléement132 und vor allem – hier erstmals in besonderer Ausführlichkeit und Detailfülle dargestellt – Leopolds schwerer Konflikt mit dem zeitweilig überaus einflussreichen Berliner Staatsminister Friedrich Wilhelm von Grumbkow133. Ein weiterer Schwerpunkt liegt daneben auf einer Rekonstruktion der Tätigkeit Leopolds als bedeutender Militärreformer in Preußen134. Kam dem Fürsten in seinen zentralen politischen Funktionen und seiner zunehmenden Machtakkumulation im preußischen Staat am Ende zwar durchaus nicht die „Stellung eines Premierministers“135 zu, so doch immerhin diejenige eines „Minister[s] ohne Portefeuille“136, der in alle Arcana des Staates eingeweiht war und über die inneren Zustände des Gemeinwesens, das er mit zu regieren half, genauestens Bescheid wusste. Indessen versteht es Krauske ebenfalls, die Grenzen der Macht und des Einflusses des Fürsten Leopold klar zu markieren. Selbst im Konflikt Leopolds mit Grumbkow habe der König gezeigt, dass er „keineswegs gesonnen war, sein Urtheil von Leopold gefangen nehmen zu lassen“ und dass er dem Freund und Berater niemals blind folgte, sondern dass er sein genuines „Herrscherrecht“ auf Letztentscheidung stets für sich in Anspruch nahm137. Und ein wirklicher Einfluss des Fürsten von Anhalt-Dessau auf die preußische Außenpolitik seiner Zeit sei, wie Krauske – hier ältere For129 Otto Krauske, Einleitung. Das Verhältniß König Friedrich Wilhelms I. zu dem Fürsten Leopold zu Anhalt-Dessau, in: ebd., (1)–(112), hier (5) ff. 130 Ebd., (89). 131 Vgl. bes. ebd., (7) ff., (90) ff., (111) u. a. 132 Ebd., (31) ff. 133 Ebd., (44)–(84). 134 Ebd., (98) ff. 135 Ebd., (16). 136 Ebd., (97). 137 Die Zitate ebd., (95).

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schungsmeinungen und Darstellungen nachhaltig korrigierend – ebenfalls betont, schon gar nicht festzustellen138. „Das Freundespaar“, lautet sein Schlussresümee, „gehörte noch jenem Geschlechte an, das in rastloser Thätigkeit danach trachtet, die materiellen Güter wiederzuschaffen, die ein Jahrhundert furchtbarer Kriege zerstört hatte. Sie meinten, den harten Zwang nicht missen zu können, um der Ordnung und Pflicht eine neue, dauernde Stätte zu bereiten. Ein freierer Aufschwung des Geistes in die höheren Regionen war ihnen nicht gegeben“139. Nüchterne Historisierung bedeutet hier, diese historischen Gestalten nicht nur konsequent aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, sondern eben auch ihre Bedeutung und ihre Grenzen klar zu markieren. Nichts anderes hat Krauske hier versucht, und das ist ihm – stets ihm im Rahmen der Bedingungen historischer Erkenntnis in seiner eigenen Zeit, um 1900, durchaus in Distanz zu „borussischen“ Voreingenommenheiten und damaligen wohlfeilen Preußenklischees – auch gelungen. Mit dieser endlich im Jahr 1905 publizierten Edition waren Otto Krauskes Arbeiten zu Friedrich Wilhelm I. im Wesentlichen abgeschlossen140. Bis etwa 1908 hat er noch gelegentlich am Thema weitergearbeitet. Trotz knapper für die Forschung zur Verfügung stehender Zeit sei er inzwischen, berichtet er am 1. November 1907 an Meinecke, „in der Jugendgeschichte Friedrich Wilhelms I. weiter gekommen“, doch freilich komme dabei „überwältigendes Neues […] nichts heraus. Ich habe […] in Hannover gearbeitet und erhalte den Rest der Akten nach Königsberg nachgeschickt. Natürlich sind die wichtigsten Papiere nicht mehr vorhanden. Aber das Bild ist mir doch klarer geworden“141. Als Ergebnis dieser Forschungen entstand der 1908 in der Schmoller-Festschrift publizierte Aufsatz über die Verlobung des späteren Königs142, den sein Verfasser am Ende nur noch mit den Worten „Ein netter Quatsch!“ bedachte143. Auch für die offiziell zelebrierten Feierlichkeiten zu den Jubiläen der Hohenzollern hatte er nunmehr im besten Fall noch freundliche Ironie übrig144. Immerhin zeigte er nach dem Bericht eines seiner Schüler auch später 138

Ebd., (102) ff. Ebd., (112); wenigstens der König, immerhin etwas mehr als ein Jahrzehnt jünger als Leopold, sei am Ende eben doch noch „von dem Hauche der neuen Zeit berührt“ gewesen: „Der Herrscher hat bereits das dunkle Gefühl, daß jenseits seiner Sphäre noch weitere Gebiete liegen; durch seine Thätigkeit hat er selbst den neu aufsteigenden Mächten Bahn gebrochen, aber er kann seine Empfindungen nicht zu bestimmten Gedanken zusammenfassen […]“ (ebd.). 140 Noch 1904 hatte er auf dem Danziger Historikertag über Friedrich Wilhelm I. referiert; vgl. den Hinweis bei B. Schumacher, Otto Krauske (Anm. 1), 178. 141 GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 215 (Krauske an Meinecke, 1. 11. 1907). 142 Siehe oben, Anm. 91. 143 GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 215 (Krauske an Meinecke, 16./18. 1. 1908). 144 Im selben Brief (ebd.) heißt es ebenfalls über die bevorstehende Krönungsgedenkfeier der Universität am 18. Januar: „[…] am Sonnabend, einem freien Tage sich durch eine Universitätsfeier die Zeit rauben lassen, blos weil Friedrich I vor 207 Jahren auf den Gedanken gekommen ist, auf die falschen Haare seiner Perücke noch eine Krone zu türmen, das ist hart! 139

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noch gelegentlich „mit Stolz seinen Freunden die umfangreiche Sammlung von Schriften über den großen König, die wohl alles enthielt, was jemals über diese fesselnde Persönlichkeit veröffentlicht worden ist“.145. Und 1913 ließ er sich noch einmal in die Pflicht nehmen: Er hielt die offizielle Festrede zum Krönungstag am 18. Januar über das Thema „Der deutsche Freiheitskrieg 1813“146. Nur noch zwei im engeren Sinne als wissenschaftlich zu bezeichnende Abhandlungen hat Krauske in den folgenden Jahren vorgelegt: 1909 einen durchaus bemerkenswerten und für jene Jahre auch aufschlussreichen (aus einem Vortrag entstandenen) Aufsatz über Macaulay und Carlyle147, der eine intime Kenntnis der historischen Werke beider englischer Geschichtsschreiber verrät und deren Vergleich, wie kaum anders zu erwarten, zugunsten Carlyles ausgeht. Ebenfalls erscheint es kaum verwunderlich, dass der Königsberger Historiker vor allem Carlyles von Sympathie getragene Darstellung des Soldatenkönigs im ersten Band der umfangreichen Friedrich-Biographie hervorhebt148. Es folgte 1910 noch ein vergleichsweise knapper Beitrag zur Festschrift für Karl Zeumer149, in dem Krauske an seine eigenen früheren Forschungen zur Vorgeschichte und zum Ausbruch des Siebenjährigen Krieges im Rahmen seiner frühen Edition der „Staatsschriften“150 anknüpfen konnte, im Wesentlichen aber nur noch einen soeben erschienenen Band neu edierter Quellen aus dem Nachlass des Prinzen Heinrich und der Hohenzollernfamilie151 auswertete und interpretierte. Die von Krauske erwartete Biographie Friedrich Wilhelms I. ist also, trotz vieler bemerkenswerter und reichhaltiger Vorarbeiten, am Ende ausgeblieben; Friedrich Meinecke erinnerte sich viele Jahre später daran, dass sein Königsberger Freund, wenn er hieran erinnert worden sei, nur noch „resigniert“ abgewunken habe mit der Bemerkung, „ihm fehle die produktive Kraft“152.

Ich darf aber diesmal nicht fehlen, weil Rühl die Festrede hält, und die Anzahl der festlich bewegten Teilnehmer immer schmerzlich klein ist“. 145 C. Krollmann, Otto Krauske (Anm. 1), 18. 146 Der Text ist nicht erhalten; den Inhalt referiert (nach einem Zeitungsbericht) C. Tilitzki, Die Albertus-Universität (Anm. 101), 370 f. 147 Otto Krauske, Macaulay und Carlyle, in: HZ 102 (1909), 31 – 56. 148 Ebd., 51; vgl. auch die Bemerkungen und Hinweise bei W. Neugebauer, Preußen in der Historiographie (Anm. 1), 33 mit Anm. 114 – 115. 149 Otto Krauske, Skizzen vom preußischen Hofe am Anfang des siebenjährigen Kriegs, in: Historische Aufsätze, Karl Zeumer zum sechzigsten Geburtstag als Festgabe dargebracht von Freunden und Schülern, Weimar 1910, 311 – 327. 150 Siehe oben, Anm. 31. 151 Aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges. Tagebuchblätter und Briefe des Prinzen Heinrich und des Königlichen Hauses, hrsg. v. Ernst Berner und Gustav Berthold Volz, Berlin 1908. 152 F. Meinecke, Autobiographische Schriften (Anm. 20), 92.

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V. Die Jahre in Königsberg flossen nach dem Abschluss der letzten großen Edition für den inzwischen mit dem Geheimratstitel versehenen Otto Krauske eher langsam und ohne größere Veränderungen dahin; an der Albertina wirkte er als hochangesehener Hochschullehrer; in der Provinz Ostpreußen war er als gefragter Vortragsredner weithin bekannt153. Immer noch nahm ihn, so die Erinnerung seines Schülers Krollmann, „sein Lehramt, dem er sich mit hingebender Treue widmete, derartig in Anspruch, daß er nur noch in kleineren Aufsätzen an die Öffentlichkeit trat. Er glaubte dies Opfer bringen zu müssen aus einem preußischen Pflichtgefühl heraus, das ihm vorschrieb, in erster Linie Beamter zu sein, erst dann, soweit es das Amt erlaubte, auch Gelehrter“154. Mit besonderer Aufmerksamkeit und Intensität nahm er sich in Königsberg zudem seiner vielen Schüler an, gelegentlich, wie in seiner Göttinger Zeit, noch immer von Selbstzweifeln über die Grenzen der eigenen Fähigkeiten als Wissenschaftler und akademischer Lehrer geplagt155. Trotzdem sind ihm in diesen Jahren zahlreiche seiner Schüler „zu Freunden geworden. Für alle ihre Nöte hatte er ein offenes Ohr“156. Immerhin hatte er noch einmal das Glück, für einige Jahre einen neuen mediävistischen Fachkollegen zu bekommen, mit dem er vorzüglich harmonierte: Albert Brackmann, der zwischen 1913 und 1920 an der Albertina lehrte157. Alles änderte sich jedoch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs; die alte Universitäts- und Krönungsstadt am Pregel wurde nun ganz plötzlich und unerwartet zur Frontstadt und konnte nur mit Mühe die schwierige Zeit zwischen dem ersten russischen Angriff und dem 1915 erfolgenden Gegenschlag überstehen158. Die Briefe, die Krauske seit Kriegsbeginn an den bei seiner Familie in Hannover weilenden Albert Brackmann schrieb, geben Aufschluss über die Stimmung an der Albertina nach Kriegsausbruch: Es sehe so aus, schreibt Krauske an seinen jüngeren Kollegen am 26. August 1914, „als ob uns die Not der Belagerung nicht erspart werden soll“; es sei nicht unmöglich, „daß in den nächsten Tagen Königsberg vorübergehend ein153

Vgl. B. Schumacher, Otto Krauske (Anm. 1), 178. C. Krollmann, Otto Krauske (Anm. 1), 18. 155 Siehe etwa den Brief an Meinecke vom 16. 1. 1908, GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 215. 156 B. Schumacher, Otto Krauske (Anm. 1), 178; schon Ende 1903 hatte Krauske an Meinecke geschrieben: „Die eigentlichen Universitätsverhältnisse lassen einiges zu wünschen übrig. Die Studenten willig, aber mit Privatstunden überarbeitet, daher wenig zu eigenem Studium, zum Nachdenken geneigt. Es ist hier unendlich viel schwieriger als in Göttingen, auf das ich als paradise lost zurückschaue, anzuregen, die Menschen selbst zu gewinnen. Unter den Professoren viel Kleinlichkeit […]“; GStA PK, VI. HA, Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 20, 316 (Krauske an Meinecke, 5. 11. 1903). 157 W. Weber, Biographisches Lexikon (Anm. 1), 58 f.; vgl. auch C. Tilitzki, Die AlbertusUniversität (Anm. 101), 507. 158 Fundierte und gründliche Darstellung der Albertina im Krieg jetzt bei C. Tilitzki, Die Albertus-Universität (Anm. 101), 403 – 486. 154

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geschlossen wird“. Nur mit Mühe können die Professoren verhindern, dass der Barbestand der Universitätskasse der Regierung übergeben und abtransportiert wird; aus der Ferne ist bereits der Kanonendonner hörbar159. Der bereits sechsundfünfzigjährige Krauske meldet sich zum Dienst in der Heimat; er betreibt mit einer Reihe anderer Kollegen von der Universität im Sommer 1914 eine Auskunftsstelle für die aus dem von den Russen besetzten östlichen Teil der Provinz nach Königsberg hineinströmenden Flüchtlinge160. „Ihre Frage, ob es ratsam sei“, schreibt er Ende September – also schon nach dem Sieg bei Tannenberg – an Brackmann, „gleich Ihre liebe Familie mitzubringen, kann ich Ihnen nicht beantworten. Es sieht so aus, als ob dank Hindenburg und Ludendorf [sic] Ostpreußen dauernd befreit ist. Aber wer kennt die Pläne der Russen!“161. Daneben kümmert er sich um einen Sohn des Berliner Kollegen Hans Delbrück; der junge Mann liegt im Königsberger Lazarett, weil er „im Felde einen Nervenklaps erhalten hat“. Als er vom Beschluss hört, im Wintersemester solle gelesen werden, bemerkt er am 4. Oktober in einem weiteren Brief: „Mir sind Vorlesungen in diesem Winter ein widerwärtiger Gedanke. Ich meine, bei aller Verehrung für unsere Wissenschaft und unseren Beruf, es gibt in jetziger Zeit Pflichten, die uns näher stehen. Ich beabsichtige, […] mir eine andere gemeinnützige Tätigkeit zu suchen und die Vorlesungen u. s. w. möglichst zu beschränken. Wer wird denn diesen Winter zu unseren Füßen sitzen? Wir dürfen höchstens auf einige Reichskrüppel und etliche Fräulein rechnen […]. Bin ich ungerecht, wenn ich sage, das ist nicht das Auditorium, an dem man Freude haben kann?“162. Mit „teilnehmender Sorge“ verfolgt er gleichzeitig „das Ergehen seiner zahlreichen früheren und jetzigen Schüler an der Front“163. In den nächsten Jahren jedoch konzentriert sich Krauske neben seinem Lehramt in stärkerem Maße auf die „geistige Mobilmachung“, die von den deutschen Professoren allseits erwartet wird164. Er hält Vorträge und Reden, von denen einige auch gedruckt werden, und nutzt die beiden großen historischen Jubiläen des Jahres 1915 – fünfhundert Jahre Hohenzollern in der Mark Brandenburg und einhundertster Geburtstag Bismarcks –, um der patriotischen Gesinnung in der östlichsten deutschen Provinz, die soeben mit dem Schrecken des Herbstes 1914 davongekommen ist, möglichst wirksam aufzuhelfen. Im Dezember 1915 rühmt er im Rahmen der Festsitzung des Königsberger Lehrervereins die großen Taten Bismarcks und Friedrichs, erinnert an die bahnbrechenden Ideen Immanuel Kants und erhofft einen neuen na159 Die Zitate: GStA PK, VI. HA, Nl. Albert Brackmann, Nr. 18 (Krauske an Brackmann, 26. 8. 1914 und 30. 8. 1914). 160 Vgl. C. Tilitzki, Die Albertus-Universität (Anm. 101), 410 f. 161 GStA PK, VI. HA, Nl. Albert Brackmann, Nr. 18 (Krauske an Brackmann, 25. 9. 1914). 162 Die Zitate: ebd. (Krauske an Brackmann, 4. 10. 1914); im Auszug auch zitiert bei C. Tilitzki, Die Albertus-Universität (Anm. 101), 411. – Mit dem zeitgenössischen Ausdruck „Reichskrüppel“ sind die nicht felddiensttauglichen jungen Männer gemeint. 163 B. Schumacher, Otto Krauske (Anm. 1), 179. 164 Hierzu auch zusammenfassend C. Tilitzki, Die Albertus-Universität (Anm. 101), 413 – 424.

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tionalen Propheten: „Wenn doch den Deutschen wieder ein Fichte erstünde, ein Prophet, der sein Volk mit Feuerworten straft und mahnt, der allen gebietet, sich im Innern zu wandeln“165. Und ein Jahr später hält er vor gleichem Auditorium seine Rede „Vom Durchhalten“, in der er angesichts der kritischen Kriegslage die großen historischen Beispiele beschwört und daran erinnert, dass die Vorfahren einst mit dem Dreißigjährigen Krieg noch Schlimmeres hatten erdulden müssen: „Wollen wir uns von den Ahnen beschämen lassen?“166 Sein letztes kleines – man muss es sagen: bescheidenes (34 doppelspaltige Seiten umfassendes) – Büchlein gilt ebenfalls einem der Jubiläen von 1915: „Hohenzollern in der Mark Brandenburg“, erschienen in der Reihe von „Velhagen & Klasings Volksbüchern“167. Immerhin liest er im Sommersemester 1915, ausgehend von der jetzt durchaus aktuell werdenden, zwei Jahre zuvor noch gefeierten Erinnerung an die Befreiungskriege, vor 35 Hörern über das Thema „Die europäische Geschichte seit 1813“; ein Jahr später kehrt er wieder zu spezielleren Themen zurück und hält ein Seminar über Seckendorffs „teutschen Fürstenstaat“168. Sonst tut sich wissenschaftlich an der Albertina in diesen Jahren nicht sehr viel; das Protokollbuch der Philosophischen Fakultät vermerkt lediglich, dass Krauske sich in der Sitzung am 10. Juli 1917 zusammen mit weiteren Kollegen – vergeblich – für die Beibehaltung der lateinischen Doktordiplome ausspricht169. Umso bitterer muss es für den immerhin schon fast sechzigjährigen, inzwischen auch bereits etwas kränklichen Königsberger Geheimrat und Professor gewesen sein, als er im November 1918 erkennen musste: es war alles vergebens. Krauske habe, erinnert sich sein Schüler Krollmann, „schwer gelitten […] durch den unglücklichen Ausgang des Krieges und die darauf folgenden Ereignisse, Sein Preußenherz hat sich niemals abfinden können mit den Ergebnissen des Umsturzes. Er hat seinem Königshause die Treue bis zum letzten Atemzuge bewahrt. Das Unglück Deutschlands las-

165 Otto Krauske, Von deutscher Art. Vortrag gehalten in der Festsitzung des Königsberger Lehrervereins am 14. Dezember 1915, Königsberg 1916, 9. 166 Otto Krauske, Vom Durchhalten. Vortrag gehalten in der Festsitzung des Königsberger Lehrervereins am 19. Dezember 1916, Königsberg o. J.; Hinweise auf weitere Vorträge und kleinere Kriegsschriften Krauskes finden sich auch bei C. Tilitzki, Die Albertus-Universität (Anm. 101), 418 f. (mit Anm. 1981) und 683 f. 167 Otto Krauske, Hohenzollern in der Mark Brandenburg (Velhagen & Klasings Volksbücher, 121), Bielefeld o. J. [1915]. Erstaunlicherweise enthält der Band, was auf den ersten Blick überraschen mag, keinerlei Anspielung auf den soeben tobenden Krieg; der Tenor besteht in dem zu erwartenden Lob des Herrscherhauses, dessen Hauptverdienst im 15. Jahrhundert darin bestanden habe, im Kampf gegen den widerspenstigen märkischen Adel Ordnung geschaffen zu haben. Außerdem enthält der Band (ebd., zwischen 16/17), ein farbiges Faksimile des Lehenbriefes Kaiser Sigismunds vom 18. April 1417. 168 Vgl. C. Tilitzki, Die Albertus-Universität (Anm. 101), 459. 169 Vgl. Christian Tilitzki (Hrsg.), Protokollbuch der Philosophischen Fakultät der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. 1916 – 1944 (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 30), Osnabrück 2014, 40 f.

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tete auf ihm, so daß seine Gesundheit untergraben wurde“170. Zum neuen Staat von Weimar vermochte der alte Monarchist, wie so mancher andere Königsberger Kollege, kein erträgliches Verhältnis mehr zu finden171. Als etwa im Jahr 1921 der verdiente Germanist Walther Ziesemer, Initiator des „Preußischen Wörterbuchs“ und erster Kenner der Literatur-, Sprach- und Kulturgeschichte des deutschen Ostens, entgegen der dringenden Empfehlung der Königsberger Fakultät durch den Minister in Berlin nicht berufen wurde, bemerkte Krauske in einem Brief an Brackmann (der Königsberg inzwischen wieder verlassen hatte), er habe inzwischen „das Gefühl, daß die Herren im Kultusministerium noch viel absolutistischer vorgehen als Althoff“172. Auch die alte Freundschaft mit Meinecke erhielt durch den von beiden inzwischen höchst unterschiedlich bewerteten Umbruch der Jahre 1918/19 einen deutlichen Knick: als Krauske seinen Kollegen und Freund, „einmal nach dem Weltkrieg in verwandelter Zeit und Seelenstimmung in Dahlem aufsuchte, mußten wir“, erinnerte sich Meinecke später, „unsere politische Differenz vorsichtig zudecken, um die Erinnerung an das Einstige und doch Bleibende nicht zu trüben“173. Zum Bruch kam es am Ende zwar nicht, doch man hatte sich auseinandergelebt und sah sich nicht mehr wieder. Der Kontakt zu dem anderen der alten Freunde und Kollegen, dem „göttlichen“ Otto Hintze, dürfte aus ähnlichen Gründen ebenfalls in den Jahren nach 1918 eingeschlafen sein – aber darüber ist nichts Näheres bekannt. Politische Desillusionierung und zunehmende Kränklichkeit – Otto Krauske litt seit einigen Jahren an Herzbeschwerden174 – führten am Ende dazu, dass er sich immer stärker auf seinen engeren Lebensbereich in der seit 1919 nunmehr auch geographisch vom Reich abgeschnittenen Provinz Ostpreußen und auf Königsberg konzentrierte. Er setzte neben seiner akademischen Lehre seine öffentliche Vortragstätigkeit, übrigens auch zu wohltätigen Zwecken175, noch einige Jahre weiter fort, jedoch wurde nur noch 170 C. Krollmann, Otto Krauske (Anm. 1), 19; ähnlich auch B. Schumacher, Otto Krauske (Anm. 1), 179. 171 Hierzu siehe Hartmut Boockmann: Die Königsberger Historiker vom Ende des 1. Weltkrieges bis zum Ende der Universität, in: Dietrich Rauschning / Donata von Nerée (Hrsg.): Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren (Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg, 29), Berlin 1995, 256 – 281; Christian Tilitzki, Professoren und Politik. Die Hochschullehrer der Albertus-Universität Königsberg in der Weimarer Republik, in: Bernhart Jähnig (Hrsg.), 450 Jahre Universität Königsberg. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des Preußenlandes (Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 14), Marburg 2001, 131 – 177, zur Philosophischen Fakultät bes. 165 ff. 172 GStA PK, VI. HA, Nl. Albert Brackmann, Nr. 18 (Krauske an Brackmann, 17. 12. 1921). 173 F. Meinecke, Autobiographische Schriften (Anm. 20), 92; vgl. auch 174. 174 Vgl. GStA PK, VI. HA, Nl. Albert Brackmann, Nr. 18 (Krauske an Brackmann, 4. 12. 1922); im selben Brief teilt Krauske auch mit, dass er schon wegen der hohen Reisekosten nur noch sehr selten nach Berlin fahre, außerdem unterstütze er arme Studenten; Gesundheitsprobleme werden gleichfalls erwähnt: ebd., Nl. Friedrich Meinecke, Nr. 215 (Krauske an Meinecke, 19.6. 1920). 175 Vgl. ebd., Nl. Albert Brackmann, Nr. 18 (Krauske an Brackmann, 17. 12. 1921).

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einer dieser Vorträge auch gedruckt: ein – übrigens inhaltlich wie sprachlich sehr gelungenes, farbig schilderndes – Porträt des spanischen Königs Philipp II., 1925 veröffentlich vom „Arbeitsausschuß zur Förderung des Auslandsstudiums an der Albertus-Universität“176. Letzte wissenschaftliche Pläne, etwa die noch 1923 in Aussicht genommene Edition der ihm zur Verfügung gestellten Tagebuchaufzeichnungen des Offiziers und späteren Generals Karl von Villaume (1840 – 1900), der am russischtürkischen Krieg von 1877 als preußischer Militärbeobachter teilgenommen hatte, ließen sich nicht mehr verwirklichen177. Präsent blieb Krauske hingegen, solange es ihm seine Gesundheit erlaubte, in den historischen und gelehrten Institutionen der Provinz Ostpreußen, so etwa im 1873 gegründeten „Verein für die Geschichte Ost- und Westpreußens“178, dem er 1902 auf Vermittlung von Rühl beigetreten war und in dem er sich über Jahre hinweg aktiv betätigte; zwischen 1923 und 1926 auch als dessen Vorsitzender179. Ein 1926 publizierter knapper Überblick über die Geschichte dieser Vereinigung stellt die letzte Publikation Krauskes dar180. Größere wissenschaftliche Bedeutung kam seinem Einsatz für die 1923 gegründete (noch heute bestehende) Historische Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung zu, deren Gründungsvorsitz er noch für wenige Jahre übernahm181. Angesichts seiner schwächer werdenden Gesundheit konnte er selbst keine eigenen Forschungen mehr unternehmen, doch sind unter seinem Vorsitz eine Reihe von regionalgeschichtlichen Langzeitunternehmungen auf den Weg gebracht worden, darunter das preußische Urkundenbuch, die Sammlung der Flurnamen, eine Forschungsbibliographie, die „Altpreußische Biographie“ und vor allem die „Altpreußischen Forschungen“, die zuerst 1924 als neue wissenschaftliche Fachzeitschrift und als Ersatz der bereits vor Jahren eingegangenen „Altpreußischen Forschungen“, von der Kommission herausgegeben, erscheinen konnten182. 176 Otto Krauske, Philipp II. von Spanien, in: Auslandsstudien, hrsg. v. Arbeitsausschuß zur Förderung des Auslandsstudiums an der Albertus-Universität zu Königsberg, 1. Bd.: Die romanischen Völker, Königsberg 1925, 111 – 132. 177 Vgl. GStA PK, VI. HA, Nl. Albert Brackmann, Nr. 18 (Krauske an Brackmann, 14. 5. 1923). 178 Hierzu knapp C. Tilitzki, Die Albertus-Universität (Anm. 101), 376 f. 179 Vgl. C. Krollmann, Otto Krauske (Anm. 1), 19; B. Schumacher, Otto Krauske (Anm. 1), 179 f. 180 Otto Krauske, Zur Geschichte des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen 1 (1926), 2 – 7. 181 Vgl. Gerd Brausch, Die Albertus-Universität vom Ersten Weltkrieg bis zum 400jährigen Jubiläum, in: Hans Rothe / Silke Spieler (Hrsg.), Die Albertus-Universität zu Königsberg – Höhepunkte und Bedeutung. Vorträge aus Anlaß der 450. Wiederkehr ihrer Gründung, Bonn 1996, 123 – 140, hier 124 f.; Bernhart Jähnig (Hrsg.), 75 Jahre Historische Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Forschungsrückblick und Forschungswünsche (Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 13), Lüneburg 1999, passim; hier auch der Druck des Gründungsprotokolls vom 23. 5. 1923 (35 – 38). 182 Vgl. B. Schumacher, Otto Krauske (Anm. 1), 179.

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Otto Krauskes letzte Lebensjahre blieben aus mehreren Gründen überschattet: Zum einen lastete, wie sein Schüler Krollmann überliefert hat, „das Unglück Deutschlands […] auf ihm“, und zum anderen kam „persönliche Verbitterung über die Vorgänge bei seiner Amtsentlassung im Jahre 1925 […] noch hinzu“183. Aus dem inzwischen edierten Protokollbuch der Fakultät kennt man heute die Hintergründe: Krauske hatte auf Wunsch seiner Fachkollegen und mit Unterstützung der Fakultät angeboten, über seine Entpflichtung hinaus bis zum Abschluss der Berufung eines Nachfolgers zu lesen – dies war aber vom Ministerium schroff und ohne Begründung abgelehnt worden, vielleicht in Kenntnis von Krauskes unverkennbarer kritischer Distanz zur neuen politischen Ordnung184. Schon im März 1925 musste die Fakultät auf dringende Anforderung aus dem Ministerium185 eine Berufungsliste vorlegen: Auf den ersten Platz wurde der Diplomatiehistoriker Wilhelm Windelband gesetzt, der sofort berufen, allerdings schon ein Jahr später als Personalreferent ins Berliner Kultusministerium abgeordnet und an der Albertina durch Hans Rothfels ersetzt wurde186. Eine letzte Freude bereitete Krauske die von Schülern und Freunden veranstaltete Feier zu seinem 70. Geburtstag; ihm wurde bei dieser Gelegenheit „eine Ehrengabe in Gestalt eines Porträts seines geliebten und bewunderten Helden, Friedrich Wilhelm I.“, überreicht187. Dass er – als damals wohl bester Kenner der gedruckten wie der ungedruckten Quellen zur Geschichte dieses Monarchen – auch in dessen Abgründe geschaut hatte, dürfte der Jubilar bei dieser Gelegenheit vermutlich für sich behalten haben. Acht Monate später, am 8. August 1930, starb Geheimrat Otto Krauske nach fast dreißigjährigem Wirken an der Albertina und in der östlichsten Provinz Deutschlands in Königsberg. Seine, wie überliefert ist, sehr ansehnliche und umfangreiche Forschungsbibliothek188 wurde kurz vor seinem Tod von der Universitätsbibliothek Königsberg angekauft189 ; ein persönlicher Nachlass ist nicht überliefert. Spätestens mit dem Untergang des alten Königsberg und seiner genau vierhundert Jahre bestehenden Universität wurde auch Krauske gründlich vergessen. Nur die wenigen Spezialisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter schwierigen Forschungsbedingungen historische Themen aus der preußischen Geschichte des 18. Jahrhun183

C. Krollmann, Otto Krauske (Anm. 1), 19. C. Tilitzki, Protokollbuch der Philosophischen Fakultät (Anm. 169), 188 (Fakultätssitzung vom 13. 1. 1925), vgl. auch Anm. 834. 185 GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va, Sekt. 11, Tit. IV, Nr. 21, Bd. 29, Bl. 67r. 186 Siehe die Angaben in: C. Tilitzki, Protokollbuch der Philosophischen Fakultät (Anm. 169), 196, sowie: GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va, Sekt. 11, Tit. IV, Nr. 21, Bd. 29, Bll. 96r ff. (Berufung Windelbands), 336r ff. (Berufung Rothfels’); vgl. auch H. Boockmann: Die Königsberger Historiker (Anm. 171), 258 f. 187 B. Schumacher, Otto Krauske (Anm. 1), 180. 188 Siehe oben, Anm. 107. 189 Dazu der Hinweis bei C. Tilitzki, Protokollbuch der Philosophischen Fakultät (Anm. 169), 287, Anm. 1260. 184

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derts weiter behandelten, dürften seinen Namen und die von ihm bearbeiteten großen Quelleneditionen noch gekannt haben. Immerhin sollte nicht vergessen werden, dass die Historie, wie jede Wissenschaft, auch jener mittleren Geister bedarf, der Kärrner und Arbeiter, denen ein großer Wurf zwar oft versagt bleibt, die jedoch im Kleinen ebenfalls Großes leisten – etwa indem sie wichtiges Material heranschaffen und bereitstellen, mit dem andere später weiterbauen können. Als so einen Mann der Wissenschaft hat man auch Otto Krauske anzusehen, der nicht nur in seinen Editionen zur Geschichte des 18. Jahrhunderts weiterlebt, sondern vor allem in der gelungenen Schilderung eines liebenswürdigen Menschen, die sein Freund und Kollege Friedrich Meinecke von ihm in seinen Erinnerungen gegeben hat. Der Ertrag von Krauskes wissenschaftlichem Lebenswerk sei, so Meinecke, „nicht groß geworden. Die Geschichte Friedrich Wilhelms I., die er schreiben wollte, ist ungeschrieben geblieben. So zahlte er zwar nicht ganz mit dem, was er leistete. Aber er zahlte mit dem, was er war“190.

190

F. Meinecke, Autobiographische Schriften (Anm. 20), 92.

Die Stiftung Brandenburg. Geschichte, Aufgaben, Wirksamkeit Von Werner Vogel, Berlin Nach der militärischen Niederlage Deutschlands am 8. Mai 1945 und der Zerschlagung Preußens wurde das Deutsche Reich im Potsdamer Abkommen der drei Siegermächte vom 2. August 1945 territorial erheblich geschrumpft. Die deutschen Ostprovinzen jenseits der Oder-Lausitzer-Neiße-Linie wurden abgetrennt und unter polnische und sowjetische Verwaltung gestellt, die deutsche Bevölkerung, soweit sie nicht geflüchtet war, vertrieben. Ihre neue Heimat fand sie auf dem Boden der späteren DDR und in der Bundesrepublik Deutschland. Die ehemals preußische Provinz Brandenburg verlor rund ein Drittel ihres Gebietes (11.829 qkm, in dem 1939 rund 642.000 Deutsche gelebt hatten, von denen rund 257.000 im Krieg und bei der Vertreibung umkamen1), das östlich von Oder und Lausitzer Neiße lag. Es wird heute oft als das ehemalige bzw. historische Ostbrandenburg bezeichnet, im Unterschied zum heutigen Ostbrandenburg, das westlich der Oder liegt. Für das ostbrandenburgische Vertreibungsgebiet, aber auch für die Flüchtlinge aus der DDR/Ostberlin besteht die Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg e. V. (LM). Deren Anfänge gehen in das Jahr 1947 zurück. Die offizielle Gründung erfolgte freilich erst am 9. Oktober 1949 in Hamburg. Die Organisation erfolgte auf Basis der Heimatkreise, während der Bund der Vertriebenen (BDV) auf Landesebene organisiert ist. Die Geschäftsstelle der Landsmannschaft wechselte mehrfach, bis ab 1965 das Bundesland Baden-Württemberg als Patenland den Geschäftssitz in Stuttgart aufnahm. Schließlich wurde er ab Juli 1999 nach Fürstenwalde in das Haus Brandenburg verlegt. Die Bundesrepublik schuf als staatliche Arbeitsgrundlage am 19. Mai 1953 das Bundesvertriebenengesetz (BVFG). In § 96 wurden die Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge und die Förderung der wissenschaftlichen Forschung festgelegt. Hierin heißt es: „Bund und Länder haben entsprechend ihrer durch das Grundgesetz gegebenen Zuständigkeit das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten, Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten sowie Einrichtungen des Kunstschaffens und der Ausbildung sicherzustellen und zu fördern. Sie haben Wissenschaft und Forschung bei 1 Weitere interessante Statistiken bietet Richard Breyer, Ost-Brandenburg 1945 – 1955 (Ostdeutschland unter fremder Verwaltung, IV), hrsg. v. Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat, Frankfurt am Main/Berlin 1959.

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der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben, sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu fördern. Die Bundesregierung berichtet jährlich dem Bundestag über das von ihr Veranlasste.“ Mit dem „Gesetz zur Abwicklung der unter Sonderverwaltung stehenden Vermögen von Kreditinstituten, Versicherungsunternehmen und Bausparkassen“2 beschloss der Bundestag am 21. März 1972, die in der Bundesrepublik befindlichen Vermögenswerte dieser Institute aus dem Vertreibungsgebiet, dessen einstige Besitzer nicht mehr existierten bzw. nicht mehr zu ermitteln waren, abzuwickeln und den verbleibenden Vermögensüberschuss dem Bundesausgleichsamt zuzuführen. Bei der parlamentarischen Beratung wurde festgelegt, die Gelder für kulturelle Zwecke der Vertriebenen und Flüchtlinge gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz zu verwenden. Die finanzielle Seite war in der Westvermögens-Zuführungsverordnung vom 23. August 1974 (WZVO)3 geregelt worden. Darin hatte der Bundesminister des Innern die Einrichtungen genannt, denen die Gelder zufließen sollten, und deren Höhe festgelegt. Ferner hatte er im §1 Abs. 2 bestimmt, dass die begünstigten Institutionen „Stiftungen des öffentlichen oder des bürgerlichen Rechts“ sein müssten. Für die Herkunftsgebiete Danzig-Westpreußen, Ostpreußen, Wartheland und Mark Brandenburg wurde das seit 1951 bestehende Nordostdeutsche Kulturwerk e. V. mit Sitz in Lüneburg bestimmt, dem die Mittel gleichsam als Dachorganisation zwecks Verteilung an die Destinatäre zuzuführen seien. Dafür erforderlich war jedoch die Umwandlung des Vereins in eine Stiftung. Stattdessen erfolgte die Gründung der Stiftung Nordostdeutsches Kulturwerk (NOKW) – neben dem weiterbestehenden Verein – mit Genehmigung durch das Land Niedersachsen am 1. Oktober 1975 mit Sitz in Lüneburg. Ihr zugeordnet wurden kraft Gesetzes als Destinatäre die fünf gebietlichen Stiftungen Kulturwerk Danzig e.V., Erik-von-Witzleben-Stiftung zur Pflege altpreußischer Kultur e.V. für das Gebiet Westpreußen, die Stiftung Ostpreußen, die Stiftung Kulturwerk Wartheland und die Stiftung Brandenburg. Als übergebietliche Einrichtung gehörte dem Stiftungsrat der Verein Nordostdeutsches Kulturwerk e.V. an. Ferner waren im Stiftungsrat NOKW der Bundesminister des Innern, die für die Durchführung des § 96 BVFG zuständige oberste Landesbehörde in Niedersachsen und die Stadt Lüneburg vertreten. Konstitution und Satzung der Stiftung NOKW erfolgten am 15. August 1975, erste Sitzungsperiode war vom 1. 11. 1975 – 31. 10. 1978. Der später wieder ausgeschiedene übergebietliche Verein war mit 5 Sitzen im Stiftungsrat vertreten, die gebietlichen Stiftungen und die genannten drei Behörden mit je 1 Stimme. Vorsitzender des Stiftungsrates war von 1975 – 1987 Dr. Karl-Heinz Gehrmann. In Artikel 2 der Satzung wurde der Zweck der Stiftung beschrieben:

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Bundesgesetzblatt (BGBl) I/465 ff. BGBl I/2082.

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(1) Die Stiftung verfolgt in Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach § 96 BVFG folgende Ziele: 1. Die Pflege des nordostdeutschen Kulturerbes, 2. die Erhaltung dieses Kulturerbes im Bewußtsein des ganzen deutschen Volkes und des Auslandes, 3. die Förderung der aktiven nordostdeutschen kulturellen Kräfte, 4. die Erforschung und Pflege der wechselseitigen Kulturbeziehungen der Deutschen und ihrer Nachbarvölker in Osteuropa zur Vertiefung der Völkerverständigung, 5. die Förderung der Zusammenarbeit der denselben Zwecken dienenden Einrichtungen, 6. die Betreuung von Einrichtungen, die den unter 1 – 5 aufgeführten Zwecken dienen, 7. die Sicherung kultureller Werte von Bedeutung und deren Nutzung oder treuhänderische Verwaltung für die unter 1 – 4 genannten Zwecke. (2) Soweit die Stiftung diese ihre Aufgaben aus Mitteln erfüllt, die ihr auf Grund der Westvermögen-Zuführungsverordnung vom 23. 8. 1974 zufließen, tut sie dies jeweils im Benehmen mit - der Stiftung Brandenburg - dem Kulturwerk Danzig e. V. - der Stiftung Ostpreußen - der Stiftung Kulturwerk Wartheland und - der Erik-von-Witzleben-Stiftung. - Bei der Verfügung über diese Mittel ist deren gebietliche Herkunft zu berücksichtigen. - Für das Herkunftsgebiet Mark Brandenburg nimmt die Stiftung die vorgenannten Aufgaben ohne gebietliche Begrenzung mit entsprechender Zielsetzung wahr4.

Ein weiteres Stiftungsorgan war der Vorstand, bestehend aus drei Mitgliedern, die vom Stiftungsrat gewählt wurden, aber demselben nicht angehören durften. Er führt die laufenden Geschäfte der Stiftung, verwaltet deren Vermögen und prüft vorab die Anträge der Destinatäre auf Fördermittel. Erster Vorstandsvorsitzender war Prof. Dr. Walther Hubatsch von 1975 – 1978. Das Vermögen der Stiftung NOKW, das im wesentlichen zwischen 1975 und 1980 eingegangen war, betrug laut Weichbrodt5 1990 rund 6.300.000 DM. Die Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg und ihr Bundeskulturausschuss hatten sich seit längerem mehrfach mit der Frage beschäftigt, wie eine sinnvolle Kulturarbeit geleistet, das Verständnis für Kultur und Geschichte der Mark Brandenburg insgesamt gefördert werden kann6. Siegfried von Rohrscheidt als Ausschussvorsitzender sah dabei ein organisatorisches und ein finanzielles Problem. Um „nach innen und außen auch unübersehbar und unüberhörbar kulturpolitisch wirken zu kön4

Ernst Weichbrodt, 15 Jahre Stiftung Nordostdeutsches Kulturwerk (1975 – 1990), Lüneburg 1992. 5 Ebd., 13. 6 Siegfried von Rohrscheidt in seinem „Rechenschaftsbericht des Bundeskulturreferats“ vom 11. Mai 1973.

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nen“, bedürfe die Landsmannschaft der „Mitarbeit von sach- und fachkundigen Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft“ sowie einer soliden finanziellen Ausstattung, denn rein ehrenamtlich seien diese Aufgaben nicht zu bewältigen. Als finanzielle Basis sah er die Patenschaft des Landes Baden-Württemberg und den von diesem seit 1966 gewährten jährlichen Zuschuss von 50.000 DM an, wogegen die Einkünfte der Landsmannschaft durch den natürlichen Mitgliederschwund ständig sinken würden. Rohrscheidt verwies darauf, dass man sich seit Jahren bemühe, das Land zur Gründung einer „Stiftung Brandenburg“ mit höherer finanzieller Beteiligung zu bewegen, sowie beispielhaft auf Schleswig-Holsteins Einsatz für die Stiftung Pommern. Eine neue Chance für die Gründung einer Stiftung Brandenburg mit hinreichender finanzieller Ausstattung sah er in dem 1972 vom Bundestag verabschiedeten Ostbankenabwicklungsgesetz. Der Bundessprecher der Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg, Herbert Scheffler, hatte in diesem Sinne mit dem Bundesinnenministerium Kontakt aufgenommen und die Pläne für die Gründung einer Stiftung Brandenburg in einer Besprechung am 12. März 1974 vorgestellt. In einem Schreiben vom 2. Mai übermittelte er den Satzungsentwurf, zu dem Dr. Schuster vom BMI am 10. Mai Stellung nahm. Er beanstandete, dass entgegen einem Alternativ-Entwurf einer Rechtsverordnung, worin die Bezeichnung „Stiftung Mark Brandenburg“ vorgesehen war, um der historischen Bezeichnung Rechnung zu tragen, das Wort „Mark“ fortgefallen sei. Ferner wies er darauf hin, dass im Entwurf der Rechtsverordnung als Grundsatzbestimmung die Auflage vorgesehen war, dass in einem Organ der Stiftung, hier wohl der Stiftungsrat, je ein Vertreter des Bundesministers des Innern und der Regierung des Landes, in dem die Stiftung ihren Sitz haben würde, Sitz und Stimme haben müssten. Als maßgebliche Muster nannte er die Stiftungen Pommern und Sudetenland. Er empfiehlt, sich mit dem Innenministerium des Landes Baden-Württemberg, Hauptabteilung für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte in Verbindung zu setzen. Durch Beschluss des Geschäftsführenden Vorstandes der Landsmannschaft wurde am 11. Mai 1974 in Berlin die Stiftung Brandenburg ohne den Zusatz „Mark“ gegründet. Bereits am 18. Juli 1974 erteilte das Kultusministerium des Landes Baden-Württemberg die „Genehmigungsurkunde“ als „rechtsfähige Stiftung des bürgerlichen Rechts“ mit Sitz in Stuttgart, also im Patenland der Landsmannschaft7. Die konstituierende Sitzung des Stiftungsrates fand am 21. Februar 1975 im Staatsministerium in Stuttgart statt. Dem ersten Stiftungsrat gehörten an: - Staatssekretär Dr. Gerhard Mahler als Vorsitzender; - Amtsrat Siegfried von Rohrscheidt, als stellvertretender Vorsitzender; - Ministerialrat Hans Beske, Hannover, stellv. Vorsitzender der LM; - Bankdirektor Friedrich Loichen, Frankfurt, Schatzmeister der LM; 7 Die nachfolgenden Ausführungen über die Stiftung Brandenburg basieren auf dem im Haus Brandenburg verwahrten, unnummerierten und unpaginierten Aktenbestand sowie auf Siegfried Beske, Stiftung Brandenburg, in: E. Weichbrodt, 15 Jahre Stiftung (Anm. 4), 26 – 33.

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- Senatsrat Karl Rusch, Berlin; - Bürgermeister Norbert Roth, Hechingen; - Bürgermeister a. D. Richard Hingst, Reutlingen, Bundesgeschäftsführer der Landsmannschaft. Zum ersten Kurator wählte der Stiftungsrat Ministerialrat Herbert Scheffler, Bundessprecher der Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg. 1978 wurde Siegfried von Rohrscheidt zum Kurator gewählt8. Der Stiftungsrat gab sich noch 1974 eine Satzung9, die die Zusammensetzung des Stiftungsrates, die Berufung eines Kurators und die Aufgaben der Stiftung sowie die Amtsperiode regelte. Der Kurator wird demnach anfangs jährlich, dann auf 2 Jahre gewählt, der Stiftungsrat auf 3 Jahre; das Geschäftsjahr ist das Kalenderjahr. Laufzeiten und Wahltermine für Stiftungsrat und Kurator hielten sich jedoch nicht an das Geschäftsjahr. So übernahm Herbert Scheffler am 7. Juni 1978 den Vorsitz des Stiftungsrates, sein Stellvertreter wurde Staatssekretär Gerhard Mayer-Vorfelder vom Staatsministerium Baden-Württemberg. Von 1980 bis 1988 war Ministerialdirigent Helmut Haun, Stuttgart, stellvertretender Vorsitzender. Am 1. Januar 1987 wurde Werner Bader, Bundessprecher der Landsmannschaft, Vorsitzender des Stiftungsrates, sein Stellvertreter wurde am 5. Februar 1988 Staatssekretär Gustav Wabro. Weitere Mitglieder des Stiftungsrates waren bis 1990 Dr. Hannemarie Condereit, stellv. Bundessprecherin, Bankdirektor i. R. Friedrich Loichen, Bundesschatzmeister der Landsmannschaft, Senatsrat Karl Rusch, Berlin, Dr. Werner Vogel, Direktor des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Hans-Ulrich Engel, München. Ein zentraler Punkt der Satzung, der stets – wenn auch gelegentlich unterschiedlich formuliert – in den Bestätigungen der Stiftungsbehörde für die Kuratoren wiederkehrt, war der § 2 Satz 1: Die Stiftung hat das kulturelle Erbe Brandenburgs zu pflegen, es im Bewußtsein der Brandenburger, der gesamten deutschen Bevölkerung und des Auslandes als bleibendes Zeugnis zu erhalten, zu erforschen und für die Gegenwart und Zukunft zu erschließen (vgl. auch § 96 BVFG); 2. die Aufgaben zu unterstützen, die der Landesregierung Baden-Württemberg aus der Patenschaft über die Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg erwachsen; 3. Vermögensgegenstände natürlicher Personen sowie juristischer Personen des öffentlichen und privaten Rechts aufzunehmen und für die in Abs. 1 genannten Zwecke zu nutzen; 4. Einrichtungen mit Beziehung zur Mark Brandenburg zu betreuen. 8 Die Kuratoren der Stiftung sind seitdem: Siegfried Beske, 1. 1. 1981 – 31. 1. 1992; Siegbert Dittmann, 1. 2. 1992 – 28. 11. 93 (verstorben); Hans-Ulrich Engel zum Kurator für 1994/ 95 bestellt, tritt das Amt aus Gesundheitsgründen nicht an, Werner Bader führt die Geschäfte; Dietrich Handt, 8. 12. 1994 – 4. 11. 1997; Dieter Lonchant, 4. 11. 1997–Dez. 1999; Dietrich Handt, 20. 12. 2000 – 31. 12. 2005; Prof. Dr. Werner Vogel, 1. 1. 2006 – 31. 12. 2009; Prof. Dr. Hans-Christian Petzoldt, 1. 1. 2010 – 31. 12. 2011; Karl-Christoph von Stünzner-Karbe, ab 1. 1. 2012. 9 Erste Satzung von 1974: siehe den Anhang.

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Zur Erfüllung dieser Aufgaben übergab die Landsmannschaft der Stiftung ihre Bibliothek, die zugleich den Grundstock des Vermögens bildete, der mit 30.000 DM angesetzt war. Für die Betreuung der Bibliothek im Haus der Heimat in Stuttgart wurde 1979 der Diplombibliothekar Wolfgang Heinze eingestellt, dem am 1. 5. 1981 Christian Assenbaum folgte, der aber außerdem auch allgemeine Aufgaben für Kurator und Stiftungsrat wahrnahm. So arrangierte er Ausstellungen und Tagungen und betreute die Stiftungsratssitzungen. Die gesammelte Literatur umfasste thematisch die gesamte Mark Brandenburg mit ihren vielfältigen Aspekten, aber auch Publikationen zu deutschlandpolitischen Fragen und über die Vertriebenen- und Flüchtlingsprobleme. Die Bestandserschließung erfolgte mit Hilfe der EDV in einem sachthematischen und einem alphabetischen Katalog. Der Bestand wurde laufend gepflegt und erweitert durch Ankäufe und Schenkungen. Daneben kümmerte sich Christian Assenbaum um den Aufbau eines Archivs. Dieses umfaßte Ansichtskarten und Landkarten der Mark Brandenburg, aber auch Stiche, Grafiken und Videofilme. Neben der Auskunftstätigkeit des Bibliothekars wurden die Bestände auch vor Ort von den Mitgliedern der Landsmannschaft und von historisch-heimatkundlichen sowie familienkundlichen Interessenten genutzt. Ein erzwungener räumlicher Umzug von Archiv und Bibliothek führte schließlich zu einer ungünstigen Unterbringung der Bestände, die damit zugleich der Nutzung weitgehend entzogen wurden. Die Sitzungen des Stiftungsrates, an denen auch der Kurator und meistens der Bibliothekar (als Protokollant) teilnahmen, fanden gewöhnlich in Bonn, in der Vertretung des Landes Baden-Württemberg statt. Sie wurden anfangs einmal, später zweimal jährlich vom Kurator einberufen. Wesentlichste Punkte der Tagesordnung waren bis 1997 Anträge der regionalen landsmannschaftlichen Kreise oder auch von Einzelpersonen, die sich mit historischen Arbeiten, mit fotografischen Darstellungen der Heimat, mit den Wirtschaftsverhältnissen, Denkmälern und Trachten befassten. Die für die damit verbundenen Maßnahmen benötigten Gelder wurden bei der Stiftung Brandenburg beantragt. Der Stiftungsrat beriet eingehend über die Anträge und deren mögliche finanzielle Förderung. Gewöhnlich übernahm die Stiftung nur einen Anteil und nicht die Gesamtkosten. Ihr standen hierfür Gelder des Landes Baden-Württemberg zur Verfügung, die als institutioneller Förderungsbeitrag jährlich gezahlt wurden, sowie der Finanzanteil beim NOKW. Die einzelnen Anträge wurden gegebenenfalls mit einer Stellungnahme des Stiftungsrates an das NOKW weitergeleitet, dessen Stiftungsrat, nach Vorprüfung durch den Vorstand, seinerseits über den Antrag und die Höhe der Zahlungen entschied. Dabei konnten Rückfragen zum Sachverhalt gestellt, Korrekturen gefordert oder auch Anträge abgelehnt werden. Die Zahlungen erfolgten dann im Rahmen des jährlichen Anteils von 23,04 % aus den Zinsen am Vermögensanteil der Stiftung Brandenburg beim NOKW. Bei Zustimmung wurden die Gelder an die Stiftung Brandenburg überwiesen, wo der jeweilige Kurator für die Erledigung der Finanzangelegenheiten zuständig war. Er musste am Jahresende die Belege für die gewährten Leistungen zusammenstellen und beim NOKW einreichen. Dabei wurde auch in einem Tätigkeitsbericht über den

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Stand der Vorhaben berichtet. Ein Übertrag der Gelder in das nächste Jahr war nicht ohne weiteres möglich, sondern musste extra beantragt werden. Das ganze Verfahren war also zeit- und arbeitsaufwendig und veranlasste oftmals Ungelegenheiten und Beschwerden seitens der Antragsteller, da die Sitzungstermine der Stiftung NOKW und der Stiftung Brandenburg zeitlich erheblich differierten und die Prüfung der Anträge bei beiden Gremien auch Zeit benötigten. Gefördert wurden unter anderem Publikationen über die Heimatkreise bzw. Städte Angermünde, Arnswalde, Crossen, Finsterwalde, Friedeberg, Guben, Königsberg (Neumark), Küstrin, Landsberg (Warthe), Lebus, Oststernberg, Prenzlau, Schwerin (Warthe), Soldin, Templin, Züllichau-Schwiebus u.a.m. Aber auch die Renovierung der Orgel der Friedenskirche in Potsdam, die Errichtung eines Gedenksteins für die Vertriebenen in Reutlingen, die Anfertigung eines Glockenspiels für das Haus des deutschen Ostens in Düsseldorf (Glocke der Landsmannschaft Berlin Mark Brandenburg „Üb immer Treu und Redlichkeit“), der Ankauf von zwei Volkstrachten aus dem Oderbruch von 1850 für das Deutschlandhaus in Berlin, die Anfertigung von zwei Frauentrachten aus der Mark Brandenburg durch den Landesverband Schleswig-Holstein der Landsmannschaft, der Ankauf einer Mikrofilmkopie der „Sommerfeldischen Chronica“ von Johann Joachim Möller (1734) vom Staatsarchiv Warschau, der Ankauf einer Artikelsammlung „Geschichten aus der Mark Brandenburg“ von Ruth Kaeselitz, der Ankauf von 300 Exemplaren des Buches von Werner Bader „Steige hoch du roter Adler“, die Rekonstruktion der Schnitterinfigur des Arnswalder Marktbrunnens in Wunstorf durch den Heimatkreis Arnswalde und ein Faltblatt der Landsmannschaft „Kurzgefaßte Geschichte Berlins und der Mark“ wurden beispielsweise gefördert10. Die auf einer Tagung des Stiftungsrates im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem erörterten Pläne für eine Darstellung und Inventarisierung sämtlicher Gedenksteine, wiederhergestellter Kirchen, Brunnen und Skulpturen in Ostbrandenburg wurden leider nie verwirklicht. Wohl aber gelangen noch die Fördervorhaben Heimatbuch Kr. Königsberg/Nm., Gedenkstein Schwerin/Warthe, Wiederherstellung von Brunnenfiguren am Pauckschbrunnen in Landsberg/Warthe. Stärker in die breite Öffentlichkeit wirkten verschiedene Wanderausstellungen, die die Stiftung teils mit dem Kulturausschuß der Landsmannschaft gemeinsam erstellte, um damit die Erinnerung an die verlorene Heimat wachzuhalten: „750 Jahre Küstrin“ (1982), „Backsteinbauten in der Mark Brandenburg“ (1983), „Rathäuser in der Mark Brandenburg“ (1983), „Die Wirtschaft der Mark Brandenburg“ (1984). Mit dem Haus der Heimat in Stuttgart erstellte man eine Ausstellung „Berlin im 19. Jahrhundert“ (1984) und mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Landsberg (Warthe) „Friedrich der Große und seine besonderen Beziehungen zur Neumark und dem MindenRavensberger Land“ (1988). Gelegentlich übernahm man auch fremde Ausstellungen, die thematisch zum Arbeitsgebiet der Stiftung passten. Aber auch die Einrich10 S. Beske, Stiftung Brandenburg (Anm. 7), 32. Weitere Unterlagen und eingehende Berichte enthalten die Stiftungsakten (Anm. 7).

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tung von Heimatstuben wurde von der Stiftung angeregt und gefördert. Hier ist besonders das Heimatmuseum für Landsberg/Warthe und die Neumark hervorzuheben, das sich besonderer Förderung durch die Stadt Herford erfreute. Auch die Heimatstube Soldin in Soltau und die Heimatstube für Meseritz-Schwerin auf der Wewelsburg bei Paderborn sind beispielhaft zu nennen. Die Unterbringung von Bibliothek und Archiv der Stiftung Brandenburg im Haus der Heimat hatte dagegen mit Raumnot und Umzügen zu kämpfen, die die Arbeit des Bibliothekars und die Benutzung des wertvollen Bestandes erheblich beeinträchtigten. So lag es nahe, dass man sich im Stiftungsrat 1990/91 ernstlich mit dem Erwerb eines eigenständigen Hauses befasste. Der beim NOKW gestellte Antrag auf einen Zuschuss zum Erwerb einer Immobilie für ein Haus Brandenburg führte am 22. Oktober 1992 zu einem Bewilligungsbescheid über 100.000 DM, die als Rücklage für das Projekt Haus Brandenburg in Frankfurt/Oder zur Verfügung standen und seitdem mit 6 % verzinst wurden. Da sich die Unterdotierung per 31. 12. 1994 auf 239.491,22 DM belief, rechnete man auf weitere WZVO-Mittel. Der Nachantrag 1995 erhoffte einen Zuschuss von 125.000 DM zum Erwerb einer Immobilie für das Haus Brandenburg. Die Stadtverwaltung Frankfurt/Oder wollte das ehemals im Besitz der Familie Schulz-Rosengarten befindliche Gutshaus an die Landsmannschaft BerlinMark Brandenburg verkaufen. Sie veranschlagte einen Wert von 860.000 DM, bei Reparaturkosten von 1.400.000 DM. Mit Widerständen im Stadtparlament sei jedoch zu rechnen, erklärte der Oberbürgermeister. Der Stiftungsrat schlug die Stiftung als Träger vor, verlangte jedoch zuvor die juristische Klärung mit der Stiftungsbehörde Baden-Württemberg. Das Land Baden-Württemberg hatte keine Bedenken gegen die Planung, erklärte sich vielmehr bereit, die Patenschaft auf 10 Jahre mit jährlich 30.000 DM fortzusetzen. Ein Sponsor aus dem Heimatkreis Arnswalde war sogar bereit, die Kaufsumme kurzfristig zur Verfügung zu stellen. Schloss Rosengarten war jedoch inzwischen von einem Privatmann, wohl dem ehemaligen Besitzer Schulz, gekauft worden. Als Mitglied der Landsmannschaft bot er dieser Schloss Rosengarten in Frankfurt/Oder als Geschenk an. Er forderte jedoch, hierfür eine neue Stiftung Haus Brandenburg zu gründen, wogegen der Stiftungsrat auf seine Beschlüsse von 1995/96 bestand, das Haus Brandenburg unter die Trägerschaft der Stiftung Brandenburg zu stellen. Schloss Rosengarten war zwar exzellent gelegen und bot reichlich Platz für diverse Veranstaltungen und für gute deutsch-polnische Gespräche, aber nicht nur zogen sich die Schenkungs-Verhandlungen endlos hin, die Instandsetzungskosten überschritten auch den finanziellen Rahmen der Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg. Der Bundessprecher Bader berichtete 1997, dass der Käufer von Rosengarten zu keinem Gespräch mehr zugänglich sei, die Landsmannschaft nicht als Partner akzeptiere. So musste Werner Bader als Vorsitzender des Stiftungsrates auf die Realisierung dieses Planes schließlich verzichten. Der Vorstand der Landsmannschaft beschloss daraufhin, für das geplante Haus Brandenburg ein anderes Objekt zu suchen. Der Kurator Lonchant stellte ein Fertighaus als Alternative vor. Hierfür bot sich ein Grundstück in Fürstenwalde, Parkallee 14, an, dessen Erwerb nach intensiven Verhandlungen mit

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der Stadtverwaltung und den städtischen Abgeordneten, die davon überzeugt werden mussten, dass die Stiftung Brandenburg kein revanchistisches Unternehmen ist, letztlich gelang. Mittels einer großartigen Spendenaktion wurde das Geld aufgebracht, um den Ankauf des Grundstücks und den Bau eines Hauses zu ermöglichen. Allerdings musste bei der Eurohypo AG (später Teil der Commerzbank) ein beträchtlicher Kredit aufgenommen werden, dessen Rückzahlung anfangs die Landsmannschaft, dann die Stiftungsfinanzen bis 2014 belastete. Am 16. 11. 1998 berichtete die Märkische Oderzeitung vom ersten Spatenstich für das künftige „Haus Brandenburg“. Im Dezember 1998 konnte in Anwesenheit von Bürgermeister Ulrich Hengst der Grundstein gelegt werden. Bereits am 25. Juli 1999 konnte die Einweihung des zweigeschossigen Okal-Hauses gefeiert werden. Die Festansprache hielt der damalige Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Dr. Manfred Stolpe, der auch das Wappen über dem Hauseingang stiftete. An der Feier nahmen Innenminister Jörg Schönbohm, Frau Irmgard Büchsenschütz und polnische Gäste teil. Werner Bader hatte schon bei der Grundsteinlegung betont, dass der Neubau auch der deutsch-polnischen Versöhnung dienen solle. Die Einweihung des Hauses Brandenburg fand nicht nur in der heimischen Presse Beachtung, sondern auch in Berliner und Potsdamer Tageszeitungen. Mit der Fertigstellung des Hauses war der Umzug von Bibliothek und Archiv der Stiftung Brandenburg von Stuttgart nach Fürstenwalde möglich, den Christian Assenbaum durchführte. Ein großer, aber letztlich dennoch zu kleiner Raum steht hierfür im Obergeschoß zur Verfügung, Im Erdgeschoß darunter ist ein gleichgroßer Raum als Museum eingerichtet worden. Das Obergeschoß enthielt außerdem eine Hausmeisterwohnung und mehrere Gästezimmer für Besucher und Bibliotheksnutzer, die im Haus übernachten wollten, sowie am anderen Ende des Hauses zwei Räume für das Archiv. Darunter im Erdgeschoß liegen das Geschäftszimmer des Kurators und der Sekretärin, die zugleich das Museum betreut. Von dem langen Flur zwischen Sekretariat und Museum gehen auf einer Seite Toiletten und ein Lagerraum, gegenüber die Küche und ein Versammlungsraum ab, der für Vorträge und als Begegnungsstätte dienen sollte. Der Keller enthält die Werkstatt des Hausmeisters, Technikräume und Magazin für Akten und Musealien sowie einen Maschinenraum mit einer Waschmaschine – alles größenmäßig gut ausgelegt für den geplanten Aufenthalt und die Versorgung zahlreicher Gäste und landsmannschaftlicher Treffen. Die vorgesehenen Versammlungen und Übernachtungen fanden jedoch nicht im erhofften Maße statt, so dass etwa vorgesehene Einnahmen ausblieben. Die Entlassung des Bibliothekars, die Nichteinberufung des Stiftungsrates 1998/99 und Differenzen im Vorstand der Landsmannschaft erschwerten außerdem die sinnvolle Nutzung des Hauses. Hinzu kamen finanzielle Auseinandersetzungen mit der Stiftung NOKW wegen fehlender Unterlagen, Abrechnungen und Jahresabschlüsse. Das Stiftungsratsmitglied Dietrich Handt wandte sich nunmehr an das Staatsministerium als Stiftungsaufsicht. Vom Amtsgericht Stuttgart wurde daraufhin am

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20. 12. 2000 Dietrich Handt als Notkurator eingesetzt. Er widmete sich mit großer Energie der Aufgabe, die Stiftung zu retten. Er berief einen neuen Stiftungsrat zu einer konstituierenden Sitzung am 20. August 2002 ein, der ihn dann zum ordentlichen Kurator wählte. Die finanziellen Probleme mit dem NOKW und dessen Wirtschaftsprüfern wurden gütlich geregelt. Als die Landsmannschaft unter Hans-Joachim Wangnick als Bundessprecher, der auch dem neugebildeten Stiftungsrat angehörte, auf einer Brandenburgischen Landesversammlung am 24. März 2001 beschloss, Trägerschaft und Betrieb des Hauses Brandenburg der Stiftung Brandenburg zu übergeben, und im Jahre 2002 die Übereignung vollzog, hatte Dietrich Handt die Voraussetzungen für einen Neuaufbau von Stiftung und Haus Brandenburg geschafft. Zunächst musste die personelle Ausstattung des Hauses geordnet werden. Als Museumsangestellte und Sekretärin wirkt seitdem Frau Matlen Horn und als Diplombibliothekarin halbtags Frau Maria Petzoldt. Die Hausmeistertätigkeit konnte in Anbetracht finanzieller Engpässe nur als Minijob bedient werden. Sodann galt es, gemeinsam mit dem Stiftungsrat Aufgaben und Zielsetzung der Stiftung festzulegen. Hatten Stiftung und Landsmannschaft die ihr zufließenden Mittel bisher für Erfüllung gesamtbrandenburgischer Bedürfnisse, wie oben geschildert, verwandt, so schien jetzt eine durch die Wiedervereinigung Deutschlands erforderliche Neuausrichtung der Arbeitsziele geboten. Für das heutige Land Brandenburg dienten viele regional wirksame Museen, zusammengeschlossen im Brandenburgischen Museumsverband, dem sich die Stiftung 2002 anschloss, dann das in Potsdam ansässige Brandenburgische Landeshauptarchiv sowie die zentrale Stadt- und Landesbibliothek in Potsdam und das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG). Es fehlte jedoch eine Einrichtung, die sich speziell mit der Geschichte, Kultur und Wirtschaft des historischen Ostbrandenburg jenseits von Oder und Lausitzer Neiße befasst. Das Gebiet der alten Neumark mit den inkorporierten Kreisen gehört jetzt zur polnischen Verwaltungseinheit Lubuskie, die freilich die nördlichen neumärkischen Gebiete von den Kreisen Dramburg und Schivelbein in einer pommerschen Einheit und südlich mit Grünberg einen ehemals schlesischen Anteil umfasst. Diese Lücke sollte von der Stiftung Brandenburg nach dem Willen von Kurator und Stiftungsrat ausgefüllt werden. Das Haus Brandenburg sollte gleichsam als wissenschaftliches Dokumentations- und Forschungszentrum dienen, gegliedert in Archiv, Bibliothek und Museum. Die hierfür aufzuwendenden Mittel ließen die bisherige Tätigkeit als Förderer von Publikationen usw. nicht mehr zu. Verstärkt wurden die Bemühungen um Kontakte mit polnischen Institutionen fortgesetzt. Mit der Wojewodschaftsbibliothek in Landsberg/Warthe (Gorzów) wurde eine Vortragsreihe unter dem Titel „Die Neumark – eine vergessene Provinz“ begonnen. Deutsche und polnische Wissenschaftler nahmen abwechselnd zu speziellen Problemen Stellung. Die Vorträge wurden jeweils jährlich in einem zweisprachigen Sammelband veröffentlicht.

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Ein Partnerschaftsvertrag mit dem Museum in Landsberg, den die dortige Direktorin bei einem Besuch in Fürstenwalde Ende 2005 angeregt hatte, blieb leider ergebnislos. Dagegen führte ein Besuch des Bürgermeisters mit leitenden Mitarbeitern der Stadt Zielenzig (Sulecin) zu engeren partnerschaftlichen Beziehungen. So beteiligte sich das Haus Brandenburg an der Eröffnung des instandgesetzten Johanniter-Hauses mit einem Vortrag des Kurators und der Leihgabe von Ausstellungsstücken. Zu einer Fachtagung über die kriegerischen Ereignisse unter Friedrich dem Großen in Züllichau (Sulechow) wurde die Stiftung eingeladen und war mit Vorträgen von Herrn Wangnick und dem Kurator vertreten. Das Museum in Grünberg (Zielona Gora) hatte den Kurator wiederholt zu Ausstellungseröffnungen eingeladen. Besondere Beachtung verdiente eine Ausstellung über die deutsche Auswanderung nach Australien im 19. Jahrhundert, erarbeitet von Frau Anitta Maksymowicz. Eine speziell auf den ostbrandenburgischen Raum abgestellte Teilausstellung wurde im Haus Brandenburg unter Teilnahme des Museumsdirektors von Grünberg, Herrn Professor Andrzej Toczewski eröffnet, begleitet durch einen Vortrag von Frau Anitta Maksymowicz. Auch weitere polnische Wissenschaftler, wie z. B. Magister Zbigniew Czarnuch aus Vietz (Witnica) und Dr. Krzysztof Wojciechowski, Direktor des Collegium Polonicum in Slubice, konnten für Vorträge im Haus Brandenburg gewonnen werden. Das Land Baden-Württemberg zog sich Ende 2006 aus der institutionellen Förderung der Stiftung Brandenburg zurück und gab zugleich seinen Sitz im Stiftungsrat auf. Es gelang freilich trotz intensiver Bemühungen nicht, die Regierung des Landes Brandenburg zur Nachfolge und Übernahme eines Sitzes im Stiftungsrat zu bewegen, obwohl die gesetzliche Auflage des Bundes bei der Gründung der Stiftungen 1974 dies verlangte. Wohl aber konnte ab 2006 eine jährlich neu zu beantragende finanzielle Bezuschussung der Personalkosten erreicht werden. Ebenso wurde um die Jahreswende 2007/08 die Verlegung des Sitzes der Stiftung Brandenburg von Stuttgart (Baden-Württemberg) nach Fürstenwalde im Land Brandenburg von beiden zuständigen Stiftungsbehörden genehmigt. Die hierzu erforderliche Neufassung der Satzung verzichtete notgedrungen auf den bisher für das Land Brandenburg vorgesehenen Sitz im Stiftungsrat. Damit endete der bisherige Brauch der Beteiligung staatlicher Gremien, denn auch das Land Berlin hatte sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 zurückgezogen, weil man der Auffassung war, das jetzt das Land Brandenburg diese Position einnehmen müsse. Eine weitere Satzungsänderung wurde mit der Zulegung der Stiftung Landsberg/Warthe am 27. Mai 2013 erforderlich. Damit verband sich eine Neuwahl des Stiftungsrates. Die jährlich einkommenden Finanzmittel von der Stiftung NOKW, vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur (MWFK) des Landes Brandenburg, von der Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg und vom Freundeskreis decken nie die für den Unterhalt des Hauses Brandenburg erforderlichen Personal- und Sachmittel, so dass man stets auf Spenden angewiesen ist. Die Einkünfte aus den verschie-

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denen Tätigkeitsbereichen des Hauses sind nur gering, weil sie im Allgemeinen kostenlos erteilt werden. Das Haus übernahm im Laufe seiner Existenz die Einrichtungen der neumärkischen Heimatkreise, die sich vielfach aus Altersgründen der Mitglieder nicht mehr halten und betreuen ließen. Verschiedentlich waren es keine direkten Heimatstuben, sondern nur umfängliche Bestände einzelner Sammler in den Kreisen. Dadurch vermehrten sich die Bestände an Archivalien, Bibliotheksgut und Musealien erheblich. Zu nennen sind hierbei zum Beispiel die Heimatkreise Crossen, Frankfurt/Oder, Friedeberg, Soldin, Ost- und Weststernberg, Arnswalde. Als zur Zeit letzter, aber besonders gewichtiger und umfangreicher Bestand kam mit der Zulegung der Stiftung Landsberg/Warthe zur Stiftung Brandenburg die Heimatstube in Herford hinzu. Der Heimatkreis Königsberg/Nm. hat sein Material allerdings in das Oderland-Museum in Bad Freienwalde abgegeben, wegen dessen unmittelbarer Nähe zu Königsberg. Die Bibliothek wurde unter der neuen Aufgabenstellung der Stiftung zur Spezialbibliothek für Ostbrandenburg ausgebaut. Die als Halbtagskraft tätige Bibliothekarin, Maria Petzoldt, widmet sich sehr intensiv dieser Aufgabe und betreut zugleich das Archiv der Stiftung; jeder Interessent kann die Bibliothek nach Voranmeldung benutzen. Daneben erteilt die Bibliothekarin Auskünfte zu historischen und genealogischen Fragen, stellt kostenpflichtige Ermittlungen an und berät die Benutzer. Die ursprünglichen Gästezimmer wurden inzwischen wegen Platzmangels umgewidmet und der sich ausdehnenden Bibliothek zur Verfügung gestellt, die derzeit über rund 25.000 Bücher sowie zahlreiche Landkarten verfügt. Das gesondert untergebrachte Archiv enthält eine geographisch aufgebaute Dokumentensammlung. Sie besteht aus Urkunden, Drucksachen, Zeitungsausschnitten und handschriftlichen Erinnerungen. Einen umfangreichen Anteil machen die Nachlässe aus. Außerdem enthält das Archiv eine umfangreiche Sammlung von mehr als 10.000 Ansichtskarten, Bildmaterial und Medien wie TV-Aufnahmen. Vor allem aber gehören die obengenannten Heimatkreisbestände zum Archiv. Das von Frau Horn betreute Museum ist in einem rund 100 qm großen und besonders gesicherten Raum untergebracht. Gezeigt werden eine Reihe ständig ausgestellter Objekte, Trachtenfiguren, Schloss-, Festungs- und Kirchenmodelle, Landkarten, Gemälde und Porzellane sowie Münzen und Medaillen der Dr.-Günther-MeinhardtStiftung, die durch die zusätzliche Darbietung häufig wechselnder Musealien lebendig gehalten werden. Letztere widmen sich dann meist einem besonderen Thema wie etwa den Heimatkreisen Arnswalde, Soldin, Ost- und Weststernberg oder bedeutenden neumärkischen Persönlichkeiten. Weiteres Ausstellungsmaterial wird im Korridor sowie im Vortragsraum geboten. Die Räumlichkeiten werden aber auch zu großen Sonderausstellungen genutzt, wie etwa 2009 für den Künstler Ernst Henseler, geboren 1852 in Wepritz bei Landsberg/Warthe, gestorben 1940 in Berlin. Das Schwergewicht seiner Malerei lag in Personen, Dörfern und Landschaft des Warthebruchs, aber auch bedeutende zeitgenössische Personen wie Hoffmann von Fallers-

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leben, Schöpfer des Deutschlandliedes, wurden von ihm porträtiert. – Hervorzuheben ist auch die 2008 durchgeführte Ausstellung über die Auswanderung von Brandenburgern speziell aus dem Raum Züllichau nach Australien im 19. Jahrhundert, die mit Unterstützung und Leihgaben des Museums des Landes Lebus in Zielona Góra (Grünberg) gestaltet werden konnte. In diesem weitgefassten Rahmen bemühen sich Stiftung und Haus Brandenburg für die Kultur und Geschichte der Neumark/Ostbrandenburg zu wirken, deren rund 800jährige deutsche Vergangenheit zu überliefern, wissenschaftlich zu erforschen und verständlich darzubieten. Besonders wichtig ist dabei die Zusammenarbeit mit polnischen Wissenschaftlern und Institutionen sowie zur Versöhnung mit der heute dort lebenden polnischen Bevölkerung beizutragen. Besonders gestärkt werden diese Bemühungen durch die vom derzeitigen Kurator, Herrn Karl-Christoph von Stünzner-Karbe erreichte Zusammenarbeit polnischer und Fürstenwalder Schüler bei Instandsetzung und Pflege von Friedhöfen in Sonnenburg. Eine wertvolle und förderliche Verbindung ergab sich dabei zum dortigen Bürgermeister, die zum Erhalt einer Gedenkstätte im ehemaligen Zuchthaus und KZ beiträgt. Die Teilnahme an der alljährlichen Langen Nacht der Museen in Fürstenwalde und der jährlich vom HBPG in Potsdam veranstalteten Geschichtsbörse vertieften den Bekanntheitsgrad von Stiftung und Haus Brandenburg weit über die Grenzen Fürstenwaldes. Die digitale Inventarisierung der Musealien und der Ansichtskarten sowie die Verbindung mit der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne (Verbundkatalog östliches Europa) und die derzeit laufende Einbindung in das Internet erleichtern die Nutzung des Hauses Brandenburg als Dokumentationszentrum und fördern damit auch die Kenntnis und Wirksamkeit der Stiftung. Ohne Verankerung in der Satzung war mit der konstituierenden Sitzung am 12. Dezember 2002 auch ein Wissenschaftlicher Beirat eingerichtet worden. Gleichzeitig gab sich dieser eine Geschäftsordnung. Danach werden die Mitglieder vom Stiftungsrat berufen. Ihm gehörten bzw. gehören Frau Dr. Sibylle Badstübner-Gröger, Dr. Peter Bahl, PD Ltd. Archivdirektor Dr. Klaus Neitmann und die Professoren Dr. Alexander v. Brünneck, Dr. Gerd Heinrich (†), Dr. Winfried Schich, Dr. Gerhard Sprenger (†), Dr. Werner Vogel und als Gast Frau Ingrid Schellhaas an. Nach § 2 der Geschäftsordnung „begleitet er die Arbeit des Hauses Brandenburg kritisch und beratend. Insbesondere empfiehlt der Wissenschaftliche Beirat dem Stiftungsrat und dem Stiftungsvorstand der Stiftung Brandenburg sowie der Leitung des Hauses Brandenburg Themen und Mitarbeiter für Vorhaben und Publikationen des Hauses. Er unterstützt die Entwicklung und Pflege von Arbeitsbeziehungen des Hauses zu anderen einschlägigen Organisationen und Einrichtungen.“ Die Tagesordnung wird vom Kurator unter Berücksichtigung von Vorschlägen der Beiratsmitglieder aufgestellt. In maximal zwei Sitzungen jährlich berichtet der Kurator über Tätigkeit, Finanzlage und Probleme der Stiftung seit der letzten Beiratssitzung, sodann diskutieren die Mitglieder gemäß § 2. Die Tätigkeit leidet jedoch unter der mangelhaften Finanzierung der Stiftung, zumal es auch mit Unterstützung der Ministerin des MWFK, vormals

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Frau Prof. Dr. Wanka, jetzt Frau Dr. Münch, nicht gelang, für das Haus Brandenburg einen eigenständigen, möglichst vor Ort ansässigen Geschäftsführer stellenplanmäßig einzurichten, der auch die wissenschaftliche Betreuung wahrnehmen sollte. Ebensowenig konnte beim Bund die Einsetzung eines Kulturreferenten für Brandenburg erreicht werden. Vielmehr wurde das Arbeitsgebiet Brandenburg dem Kulturreferenten für Pommern zugewiesen. Die vom Bund erwarteten, aber nur teilfinanzierten Projekte belasten das Haus personell und haushaltsmäßig. Der Stiftung fehlt daher auch Personal und Geld, um beispielsweise die gewünschte, ja erforderliche jährliche Zeitschrift herauszugeben, die zugleich als Werbemittel für Stiftung und Haus Brandenburg wichtig wäre. Ersatz bietet der von Frau Schellhaas redigierte Brandenburgkurier. 2003 führte die Stiftung eine eigene Internetdomäne ein, womit eine ortsübergreifende Präsentation der Stiftung und des Hauses Brandenburg erreicht wurde. Die gemeinsam mit dem HBPG geplante große Ostbrandenburg-Ausstellung, die in verkleinerter Form dann als Dauerausstellung in das Haus Brandenburg übernommen werden sollte, fand zwar Unterstützung beim Ministerium in Potsdam, nicht jedoch beim Bundesbeautragten für Kultur. Dennoch werden von der Stiftung immer wieder mit hohem ehrenamtlichen Einsatz Sonderausstellungen und Vorträge zur Geschichte Ostbrandenburgs organisiert. Zur finanziellen und ideellen Unterstützung der Stiftung Brandenburg war bereits 2002 ein Freundeskreis gebildet worden. Vorsitzender desselben ist seit langen Jahren der Münchner Hasso Freiherr v. Senden, der anfangs als Mitglied in den Stiftungsrat gewählt wurde. Seit Ende 2007 ist satzungsmäßig geregelt, dass der Freundeskreis einen Vertreter in den Stiftungsrat entsendet. Das Vorstandsmitglied Karlheinz Lau, Oberschulrat a. D., organisiert jährlich drei bis vier Vorträge, die meist von angesehenen Politikern gehalten werden. Hier sind beispielhaft zu nennen der Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe, Jörg Schönbohm, Prof. Dr. Johanna Wanka, Prof. Dr. Gesine Schwan, Präsidentin der Viadrina, aber auch polnische Vertreter wie Dr. Krzysztof Wojciechowski und Mgr. Zbigniew Czarnuch. Anhang Mitglieder des Stiftungsrates der Stiftung Brandenburg 21. 2. 1975 – 20. 2. 1978 Staatssekretär Dr. Gerhard Mahler als Vorsitzender; Amtsrat Siegfried von Rohrscheidt als stellvertretender Vorsitzender; Ministerialrat Hans Beske, Hannover, stellv. Vorsitzender der LM; Bankdirektor Friedrich Loichen, Frankfurt, Schatzmeister der LM; Senatsrat Karl Rusch, Berlin; Bürgermeister Norbert Roth, Hechingen; Bürgermeister a. D. Richard Hingst, Reutlingen, Bundesgeschäftsführer der LM; 7. 6. 1978 – 20. 2. 1981 übernahm Ministerialrat Herbert Scheffler den Vorsitz. Ab 1985 war Werner Bader Vorsitzender;

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21. 2. 1987 – 20. 2. 1990 Bader, Vorsitz; Staatssekretär Gustav Wabro, Stellvertreter; Dr. Hannemarie Condereit; Loichen; Hans-Ulrich Engel; Rusch; Dr. Wille (bis 1988); Dr. Werner Vogel (ab 1989); 20. 12. 1991 – 19. 12. 1994 Bader, Vorsitz; Wabro; Beske; Condereit; Engel; Loichen; Rusch (bis Ende 1993); Vogel; 7. 12. 1994 – 28. 2. 1996 Bader; Beske; Condereit; Dr. Lohr; Vogel, Wabro (Vertreter Dr. Heß); 1. 3. 1996 – 28. 2. 1999 Bader; Condereit; Vogel (stellv. Vorsitz); Wabro (Vertreter Dr. Heß), Dieter Lonchant (ab 1997 Kurator); Dietrich Handt (ab 4. 11. 1997); Dr. Burkhard Regenberg; 1. 7. 2001 – 30. 6. 2004 Ingrid Schellhaas, Vorsitzende; Minister Rudolf Köberle (BadenWürttemberg, vertreten durch Dr. Freudenberg); Regenberg; Dr. Reinhard Schmook; Werner Vogel, stellvertretender Vorsitzender; Hans-Joachim Wangnick; 15. 11. 2004 – 30. 6. 2007 Schellhaas, Vorsitzende; ab 31. 5. 2006 Horst Höricke; Köberle (Vertreter Dr. Freudenberg); Regenberg; Schmook, Hasso Frhr. v. Senden; ab 1. 1. 2006 Prof. Dr. Gerhard Sprenger; Werner Vogel, stellv. Vorsitz, ab 2006 Kurator; Wangnick; 15. 10. 2007 – 31. 10. 2010 Schellhaas (Vorsitzende); Karl-Heinz Cohrs; Höricke, Dipl.-Ing. Lothar Hoffrichter; Schmook; Sprenger; 8. 11. 2010 – 31. 12. 2012 Schellhaas (Vorsitzende); Cohrs; Höricke; Hoffrichter; Dr. Klaus Klinke; Klaus Rutschke; Schmook; Sprenger; Vogel; Wangnick; 1. 1. 2013 – 4. 5. 2013 Schellhaas; Hoffrichter; Klinke; Rutschke; Schmook; Vogel; Wangnick; 5. 6. 2013 – 31. 12. 2015 Schellhaas, Vorsitzende; Christa Greuling; Hoffrichter; Wolfgang Kuhlmann; Schmook; Dr. Bernd v. Sydow; Herbert Schimmel.

Satzung der Stiftung Brandenburg [18. 7. 1974] § 1 – Name, Sitz und Rechtsform der Stiftung Die Stiftung führt den Namen „Stiftung Brandenburg“. Sie ist eine rechtsfähige Stiftung des bürgerlichen Rechts und hat ihren Sitz in Stuttgart. § 2 – Zweck der Stiftung Die Stiftung hat 1. das kulturelle Erbe Brandenburgs zu pflegen, es im Bewußtsein der Brandenburger, der gesamten deutschen Bevölkerung und des Auslandes als bleibendes Zeugnis zu erhalten, zu erforschen und für Gegenwart und Zukunft zu erschließen (vgl. auch § 96 BVFG); 2. die Aufgaben zu unterstützen, die der Landesregierung Baden-Württemberg aus der Patenschaft über die Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg erwachsen; 3. Vermögensgegenstände natürlicher Personen sowie juristischer Personen des öffentlichen und privaten Rechts aufzunehmen und für die in Nr. 1 genannten Zwecke zu nutzen; 4. Einrichtungen mit Beziehung zur Mark Brandenburg zu betreuen; 5. sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des § 17 des Steueranpassungsgesetzes vom 16. Oktober 1934 (Reichsgesetzblatt I S. 925) in Verbindung mit der Gemeinnützigkeitsverordnung vom 24. Dezember 1953 (Bundesgesetzblatt I S. 1592) in der jeweils geltenden Fassung.

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§ 3 – Stiftungsgenuß Ein Rechtsanspruch auf die Gewährung des jederzeit widerruflichen Stiftungsgenusses besteht nicht. § 4 – Vermögen der Stiftung 1. Das Stiftungskapital beträgt zunächst 30.000 DM. 2. Die Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg übereignet der Stiftung Brandenburg das bei ihr seither angesammelte Archivmaterial (Bücher, Bilder, Stiche etc.) im Schätzwert von ca. 30.000 DM. 3. Die Stiftung erfüllt ihre Aufgaben a) aus den Erträgnissen des Stiftungsvermögens; b) aus den Zuwendungen Dritter, die jedoch solange in Höhe von 50 vom Hundert dem Stiftungskapital zugeschlagen werden müssen, bis es den Betrag von 100.000 DM erreicht hat, sofern der Zuwendende nicht ausdrücklich einen anderen Verwendungszweck bestimmt. 4. Die Stiftung darf keine Personen durch Verwaltungsaufgaben, die den Zwecken der Stiftung fremd sind oder durch unverhältnismäßig hohe Vergütungen begünstigen. § 5 – Organe dar Stiftung 1. Organe der Stiftung sind: a) der Vorstand (Kurator) b) der Stiftungsrat Der Vorstand der Stiftung kann nicht gleichzeitig Mitglied des Stiftungsrates sein. 2. Die Mitglieder der Organe sind ehrenamtlich tätig. Sie haben keinen Anspruch auf die Erträgnisse des Vermögens der Stiftung. Ihnen dürfen keine Vermögensvorteile zugewendet werden. Sie haben jedoch Anspruch auf Ersatz ihrer notwendigen Auslagen. § 6 – Der Stiftungsrat 1. Der Stiftungsrat besteht aus sieben Personen. Er wählt aus seiner Mitte mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Vorsitzenden und dessen Stellvertreter auf die Dauer von drei Jahren. 2. Um eine gleichzeitige Amtsperiode aller Mitglieder des Stiftungsrates sicherzustellen, endet die Amtsperiode des ersten Stiftungsrates mit Ablauf des 31. Dezember 1975. 3. Die Mitglieder des Stiftungsrates werden wie folgt berufen: a) 4 Mitglieder durch den Bundesvorstand der Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg e. V.; b) 1 Mitglied vom Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg; c) 1 Mitglied vom Regierenden Bürgermeister des Landes Berlin und d) der jeweilige Bürgermeister der Stadt Hechingen. 4. Die Mitglieder des Stiftungsrates werden auf die Dauer von drei Jahren berufen. Scheidet ein Mitglied vorzeitig aus seinem Amte aus, wird von der Stelle, die das Mitglied berufen hat, für den Rest der Amtszeit ein Nachfolger berufen. 5. Der Stiftungsrat kann ein Mitglied des Stiftungsrates vor Ablauf seiner Amtszeit aus wichtigem Grund im Einvernehmen mit dem gemäß Abs. 3 Buchstaben a), b), c) und d) Vorschlagsberechtigten abberufen. Der Beschluß bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Stiftungsrates.

Die Stiftung Brandenburg

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§ 7 – Beschlußfähigkeit des Stiftungsrates Der Stiftungsrat ist beschlußfähig, wenn zwei Drittel der Mitglieder anwesend sind. Darunter muß sich eines der unter § 6 Abs. 3 Buchstaben b) bis d) genannten Mitglieder befinden. Der Stiftungsrat beschließt mit der Mehrheit der anwesenden Stimmen. Auch ohne Versammlung ist ein Beschluß gültig, wenn alle Mitglieder ihre Zustimmung schriftlich zu dem Beschlußvorschlag erklären. Bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden. § 6 Ziff. 1 bleibt unberührt. § 8 – Aufgaben des Stiftungsrates 1. Der Stiftungsrat beschließt über alle Angelegenheiten der Stiftung, soweit es sich um die Erledigung der laufenden Verwaltung handelt. Der Stiftungsrat hat insbesondere folgende Aufgaben: Bestellung des Vorstandes (Kurator); Überwachung der Geschäftsführung; Festsetzung des Haushaltsplanes; Überwachung des Stiftungsvermögens; Beschlußfassung über die Verwendung des Stiftungsvermögens; Bestellung der Beiräte. 2. Der Stiftungsrat wird vom Vorsitzenden schriftlich unter Bezeichnung der einzelnen Tagesordnungspunkte mindestens einmal im Kalenderjahr einberufen; die Ladungsfrist beträgt 14 Tage. Jedes andere Mitglied oder der Stiftungsvorstand kann unter Angabe des Beratungspunktes eine Einberufung verlangen. 3. Die Sitzungen des Stiftungsrates werden durch den Vorsitzenden, bei seiner Verhinderung durch den Stellvertreter geleitet. Über die Sitzung ist eine Niederschrift zu fertigen. Die Niederschrift soll Ort, Beginn und Ende der Sitzung sowie den Gegenstand und das Ergebnis der Beratung enthalten. Die Niederschrift ist vom Leiter der Sitzung sowie einem weiteren Mitglied des Stiftungsrates zu unterzeichnen. Die Beschlüsse sind zu sammeln und während der Dauer des Bestehens der Stiftung aufzubewahren. § 9 – Der Vorstand (Kurator) 1. Der Vorstand (Kurator) besteht aus einer Person und wird vom Stiftungsrat jeweils für ein Jahr bestellt. Er hat die Beschlüsse des Stiftungsrates vorzubereiten und auszuführen. Er führt die laufenden Geschäfte der Stiftung nach den Weisungen und Beschlüssen des Stiftungsrates. Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt. 2. Der Vorstand vertritt die Stiftung gerichtlich und außergerichtlich. Bei Rechtsgeschäften zwischen der Stiftung und dem Vorstand wird die Stiftung durch den Vorsitzenden des Stiftungsrates vertreten. 3. Der Vorstand kann vom Stiftungsrat aus wichtigem Grunde abberufen werden. § 10 – Das Geschäftsjahr Das Geschäftsjahr ist das Kalenderjahr. § 11 – Änderung des Stiftungszweckes Der Stiftungsrat ist befugt, den Stiftungszweck zu ändern, wenn die der Stiftung gesetzten Aufgaben im Sinne des Stiftungswillens ausgedehnt werden sollen, weggefallen sind, in absehbarer Zeit wegfallen werden oder nicht mehr erfüllt werden können. Erforderlich ist die einstimmige Beschlußfassung aller Mitglieder sowie die Zustimmung des Stiftungsvorstandes.

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§ 12 – Satzungsänderung Der Stiftungsrat kann mit den Stimmen aller Mitglieder diese Satzung ändern. § 13 – Vermögensanfall Im Falle der Auflösung oder Aufhebung der Stiftung fällt das Vermögen an das Land BadenWürttemberg, welches es im Sinne des Stiftungszweckes verwenden soll. Neben kleineren Satzungsänderungen gab es eine bedeutsame Änderung 2006/07 mit dem Wechsel des Sitzes vom Land Baden-Württemberg in das Land Brandenburg. Eine erneute Änderung ergab sich 2013 mit der Zulegung der bisher selbständigen Stiftung Landsberg/Warthe.

II. Westfalen und die preußischen Westprovinzen

Kleinstaatliches Militärwesen in Westfalen Reichskontingent und Garnison der Grafschaft Rietberg Von Hans-Joachim Behr, Münster I. Die Grafschaft im Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis Die Grafschaft Rietberg war mit 216 qkm Fläche und im 18. Jahrhundert 10.000 bis 11.000 Einwohnern eines der kleinen Territorien Westfalens. In der Matrikel des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises von 1521 ist das Simplum für den Grafen von Rietberg mit vier Reitern und 27 Mann zu Fuß oder 78 fl. angesetzt. 1560 nach dem reformierten Anschlag des Römermonats von 1551 und 1555 waren es sechs Reiter oder 72 fl.1 Seine Aufgabe als Instrument der Friedenswahrung im Innern und der Verteidigung gegen äußere Feinde hat der Niederrheinisch-Westfälische Kreis nur mangelhaft erfüllt. Fast von Anfang an belasteten ihn Streitigkeiten um das Direktorium, Religionsfragen und wirtschaftliche Probleme. Während der Täuferunruhen in Münster, sah er auf einer Tagung in Köln 1534 zwar Hilfsmaßnahmen zum Schutz des Landfriedens vor, machte aber zugleich deutlich, dass er die Niederwerfung der Täufer als Angelegenheit des Reiches ansah.2 Die Grafschaft Rietberg gehörte zu dieser Zeit bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zu den bevorzugten Sammelplätzen der gartenden Knechte, ohne dass die Besatzung auf der Burg gegen solch Unwesen einschritt. Im Schmalkaldischen Krieg kapitulierte sie ohne Versuch einer Gegenwehr vor den Kaiserlichen. Als sich der Niederrheinisch-Westfälische Kreis bald nach dem Erlass der Reichsexekutionsordnung im Jahre 1556 ausgerechnet zu einer Exekution gegen den Grafen Johann veranlasst sah, leisteten die 50 Landsknechte auf der Burg jedoch sieben Monate lang erfolgreich Widerstand.3 Danach wurden die Verteidigungsanlagen auf Beschluss 1

Landesarchiv NRW Abt. Rheinland NW Kreis IX Nr. 2 Bl. 17, Bl.78, ebd. ad 7,1 Bl. 97r ff., VIII 13 Bl. 580r f., 584r ff., Wikisource. Zur Geschichte der Reichskreise allgemein s. Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise (1383 – 1806), Stuttgart 1998. 2 Hans-Joachim Behr, Franz von Waldeck, Fürstbischof zu Münster und Osnabrück, Administrator zu Minden (1491 – 1553). Sein Leben in seiner Zeit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XVIII Bd. 9). Teil 1, Münster 1996, 129 – 160. 3 Hans-Joachim Behr, Die Exekution des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises gegen Graf Johann von Rietberg 1556 – 1566, in: Westfälische Zeitschrift 128, 1978, 33 – 104. Zur Burg s. Alwin Hanschmidt, Die Burg in der Stadt Rietberg, in Westfälische Zeitschrift 131/ 132, 1981/82, 257 – 265.

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der Kreisstände niedergelegt. Beim Umbau des Schlosses zu einer vierflügeligen Anlage im Stil der Weserrenaissance Anfang des 17. Jahrhunderts erhielt es dann wieder eine Wallanlage.4 In den folgenden Jahrzehnten sind die Grafen von Rietberg ihren Pflichten dem Reich und Kreis gegenüber mehr schlecht als recht nachgekommen. Sie haben nach Möglichkeit ihre Beiträge entrichtet, aber keine Bewaffneten gestellt. Das änderte sich nach dem Erlass der Reichsdefensionsordnung von 1681. Sie bestimmte für die Reichsarmee ein Simplum von 12000 Mann Kavallerie und 28000 Infanterie, wovon auf den Niederrheinisch-Westfälischen Kreis 1321 Kavalleristen und 2708 Infanteristen entfielen. Die Aufstellung der Kreistruppen, die Aufteilung des Kontingents auf die einzelnen Stände nach Maßgabe der Wormser Matrikel von 1521 und die Beitreibung der vom Reichstag festgesetzten Reichssteuern waren Sache der Kreise. Eine Versammlung in Duisburg 1682 setzte das tatsächliche Aufgebot auf 2270 Mann zu Fuß, 913 Mann Kavallerie und 190 Dragoner fest, regelte die Regimentseinteilung und verpflichtete die Stände, eine Anzahl von Soldaten für das Kreiskontingent ständig in Bereitschaft zu halten.5 In Rietberg wurde dafür die Stelle eines Leutnants eingerichtet, der jederzeit mit dem Kontingent zum angewiesenen Regiment marschieren konnte. In Friedenszeiten war er dem Festungskommandanten unterstellt.6 Für einen Reichskrieg standen in erster Linie die stehenden Heere der größeren „armierten“ Fürsten zur Verfügung. Ihnen wurden die kleineren „nichtarmierten“ Stände „assigniert“, die sich anteilmäßig an den Kosten beteiligen sollten. Diese „Assignation“ wurde für die Armierten eine willkommene Möglichkeit zur Finanzierung ihrer Truppen. Ansprüche der „Nichtarmierten“ ihre Kontingente für die Militärausgaben in natura zu stellen wurden meistens ignoriert. Sie erwiesen sich vielfach auch deshalb als wenig zahlungswillig. Als Ludwig XIV. im Pfälzischen Krieg die Länder des Erzbischofs von Köln besetzte, sah sich die Reichsstadt Köln gezwungen, Truppen der Kreisdirektoren PfalzNeuburg, Brandenburg und Münster aufzunehmen. Von 1688 bis 1697 unterhielten sie in Köln eine Garnison zum Schutz der Stadt. Bei ihrem Abzug war nur ein kleiner Teil des von den „Nichtarmierten“ geforderten Kostenbeitrags eingegangen. Von Rietberg forderte der Kreispfennigmeister Weipeler die Zahlung von 3.126 fl. 38 x an Brandenburg, „assigniert auf das Briquemaultische Bataillon“7. Für den Fall dass keine gütliche Zahlung erfolgte, wurde Exekution angedroht. Der Bischof von Münster verlangte 8.000 fl. Hilfsgelder, die er im September 1690 „auß sonder4

Landesarchiv NRW Abt. Rheinland NW Kreis VIII Nr. 5 und 5 1/2. LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1955, Nr. 2183, Nr. 3384, Nr. 3313, Nr. 3040. 6 Landesarchiv NRW Abt. Westfalen Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 41 f., Nr. 123 Bl. 12 – 15, Bl. 3 – 5, 10. Mai 1667 Bestallung des Carl Andreas Engelhardt zum Schlosshauptmann, Hammwiki. 7 Heinrich Baron de Briquemault (1620 – 1692), kurbrandenburgischer Generalleutnant, Kommandeur des Infanterieregiments Nr. 9, zeitweilig stationiert in Minden, Unna, Hamm und Soest. 5

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baren Gnaden“ auf 6.000 ermäßigte.8 Die Androhung der zwangsweisen Eintreibung blieb ohne Wirkung. Im Januar 1687 war mit Ferdinand Maximilian der letzte Graf von Rietberg aus dem Hause Cirksena gestorben. Der Landgraf von Hessen-Kassel wollte die Grafschaft als erledigtes Lehen einziehen und ließ durch den Generalleutnant Graf August v. d. Lippe eine Salva Guardia anbieten. Die Fürstbischöfe von Münster und Köln sahen darin eine „gar gefährliche Consequenz“. Sie hatten noch zu Lebzeiten des Grafen auf die „auch in Casum Subsecutura mortes dasiger Grafschaft und dem allgemeinen Catholischen Wesen anscheinende Gefahr“ hingewiesen und machten nun ernste Bedenken geltend. Eine kaiserliche Reichssequestrationsverwaltung sicherte der Erbtochter des letzten Grafen, Maria Ernestine Franziska von Ostfriesland-Rietberg, den Besitz der Grafschaft. Im März 1689 wurden die 50 Söldner der Garnison durch den Propst v. Mengede zu Lippstadt für den Kaiser in Eid und Pflicht genommen. Die Vereidigung auf die Witwe des Grafen Franz Adolf, Johanna Franziska, als Vormund der Nichten Anna Christina und Maria Ernestine Franziska folgte.9 Gleichzeitig wurden für die rückständigen Reichs- und Kreisgelder erhebliche Nachlässe und Zahlungsaufschub gewährt und die Zusicherung gegeben, die Grafschaft von fremder Einquartierung und Kontributionen zu verschonen.10 Bischof Friedrich Christian von Münster hatte dafür gesorgt, dass der in seinem Dienst stehende Hauptmann Georg Friedrich v. Knobelsdorff Kommandant der Festung wurde. Er sollte „zwar schwern, gleichwohl reservato ex presse iuramento, womit Sr. Hochf. Gd. Zu Münster Er verpflichtet ist“. Eine Vereidigung seiner Soldaten auf Kaiser und Reich wusste er mit dem Hinweis auf deren regelmäßige Auswechselung abzuwenden. Am 12. April 1690 erhielt der Brigadier Corfey den Befehl, 200 Soldaten aus der Garnison Warendorf nach Rietberg in Marsch zu setzen. Vorerst kamen aber lediglich 60 Mann mit dem Kapitän Meuter nach Rietberg „zu manutenierung dasigen posto“, deren der Drost Balcke und Obristwachtmeister v. Knobelsdorff „sich im Fall der Not bedienen“ konnten. Am 15. schickte auch Bischof Hermann Werner von Paderborn einen Fähnrich und 30 Musketiere.11 Für das kleine Land stellte das eine erhebliche Belastung dar.12 Durchmärsche und Einquartierung brandenburgischer, württembergischer, braunschweig-lüneburgischer und hessischer Truppen brachten zusätzliche Beschwernis.13 Die Bischöfe von Münster und Paderborn zeigten schließlich ein Ein8 Quittung des Bischofs von Münster vom 21. Sept. 1690 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 175 Bl. 49, Nr. 171 Bl. 1 – 15. 9 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 15 – 21, 37 f., 59, 428, 430. 10 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 175 Bl. 8 ff. 11 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 31, 57, 35, 69. 12 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 116 Bl. 133 – 137, Nr. 1369 Bl. 35, 81 f. Specificatio der münsterischen. und paderbornschen. Einquartierung 1690 – 1702. 13 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 116 Bl. 68 – 70, 103 – 112.

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sehen und wiesen im Januar 1699 den Kommandanten an, 30 Soldaten zu verabschieden. 1702 zogen dann endlich die letzten fremden Soldaten ab, und das Schloss wurde mit einer „ziemlichen“ Anzahl von Landschützen besetzt.14 Auch die Differenzen mit dem Landgrafen von Hessen-Kassel wurden beigelegt. Landgraf Karl verlieh die Grafschaft 1699 als Reichsafterlehen und Weiberlehen an die Töchter des verstorbenen Grafen von Rietberg, und Maria Ernestine Franziska von Ostfriesland-Rietberg konnte im selben Jahr den Besitz in ihre Ehe mit dem mährischen Grafen Maximilian Ulrich von Kaunitz einbringen.15 Nach der Eheschließung der Erbtochter wurde die Hofhaltung in Rietberg aufgegeben. Das nun unbewohnte Schloss verfiel. Weiterhin blieb dort jedoch eine relativ starke Besatzung, die in „Zeit der Not“ noch durch den Landesausschuss Verstärkung erhielt. Diese Miliz aus Hausleuten, deren Söhnen und Knechten diente zur Verteidigung innerhalb der Landesgrenzen und für polizeiliche Aufgaben. Auflistungen enthalten 68 Namen im Jahre 1672 und 101 im Jahre 1727.16 II. Einsatz im Spanischen und im Polnischen Erbfolgekrieg17 Im Streit um das Erbe des spanischen Habsburger sollten die Kreise nach der förmlichen Kriegserklärung des Reiches an Frankreich die in der Defensionsordnung vorgesehene Anzahl von Truppen aufbringen. Auf den Niederrheinisch-Westfälischen Kreis entfielen 8121 Mann Infanterie und 3963 Reiter. Da sich manche Stände wie Lüttich inzwischen der Kreispflicht entzogen hatten, der Matrikelanschlag anderer im Laufe der Jahre ermäßigt worden war, blieben 1703 nur 6184 Mann Infanterie in zwölf Bataillonen. Das 2. Paderborner Bataillon setzte sich zusammen aus den Kontingenten Paderborn, Osnabrück, Lippe, Pyrmont, Bentheim, Dortmund, Rietberg, Gimborn, Werden und Holzapfel und hatte eine Sollstärke von 469 Mann, davon 34 im Rietberger Kontingent. 3009 Reiter bildeten die Kavallerie. Hier zählte das Paderborner Regiment drei Eskadronen zu je 144 Pferden, von denen Rietberg unter Vorbehalt 16 stellen sollte. Das Stift Osnabrück übernahm dafür die Vertretung.18 Kosten für die Regimentsstäbe und prima plana wurden anteilsmäßig auf die beteiligten Stände verteilt. Im Vordergrund stand wieder die Sicherung der Stadt Köln. Der zur französischen Partei neigende Bischof von Münster, Friedrich Christoph von Plettenberg, schloss 14

LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 112, 52. LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1361 Eidesformel für Kommandant, Offiziere und Gemeine, auf Kaiser und Maria Ernestine Franziska geb. Gräfin von Ostfriesland und Rietberg verh. Gräfin von Kaunitz als nunmehr gerichtlich anerkannte Besitzerin der Grafschaft Rietberg. 16 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1321 Bl. 1 – 18, 28 – 77, 79 – 102. 17 Kurt Arnold, Geschichte des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises in der Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges (1698 – 1714), Düsseldorf 1937. 18 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 117, Nr. 170 Bl. 4 – 10, 29. 15

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sich nach anfänglichem Zögern aber bald an, als Brandenburg und Pfalz-Neuburg im Juni 1701 Soldaten nach Köln schickten. 1703 kamen dazu als Truppen des Kreises vier Kompanien aus Paderborn, drei aus Osnabrück, zwei aus Lippe, eine aus Dortmund sowie Bentheimer und Pyrmonter Kontingente, die bis 1715 blieben.19 Den Sold für die Truppen zahlten die Kreisstände, während die Stadt Köln die Quartiergelder übernahm. Der Kreis entsandte Truppen an den Oberrhein und an die Mosel, war aber hauptsächlich darauf bedacht, Köln und Bonn zu sichern. Nach dem Ende des Moselfeldzuges dienten die Fußtruppen als Festungsbesatzungen, während die Kavallerie wieder am Oberrhein eingesetzt wurde. Das Rietberger Kontingent zu 33 Mann unter Leutnant Müller bildete zusammen mit dem Dortmunder eine Kompanie im Paderborner Bataillon. Es lag eine zeitlang in Speyer, wurde 1707 nach Bonn verlegt und blieb dort vermutlich bis 1715.20 Mit der Dauer des Krieges entzogen sich immer mehr Stände ihren Pflichten sowohl bei der Bestellung ihres Kontingents wie auch bei der Zahlung ihrer Beiträge. Das Direktorium drohte mit Strafmaßnahmen und erließ am 6. Dezember 1707 eine Verordnung „wegen der Executanten gegen die morosos status circuli“. Gegen eine Vielzahl von kleinen Ständen, darunter Corvey und Rietberg, sollte die Exekution vollzogen werden. 1709 beliefen sich die Osnabrücker Forderungen an Verpflegung, Remontierung, Montur, Stabsgelder für die Vertretung des Kreiskontingents auf 3.457 rtl. Ob der Aufenthalt münsterischer Soldaten in Rietberg 1714 damit in Verbindung steht, ist nicht sicher. Immerhin war das Stift Münster vom Kreis mit der Exekution gegen die Grafschaft beauftragt.21 Der Kostenanteil für die Stabsoffiziere war jedenfalls 1721 noch nicht beglichen.22 1715 wurde auf dem Kreistag zu Köln für Kavallerie und prima plana eine Kostenermäßigung von 1830 rtl. beschlossen. Einstimmig entschied die Versammlung damals, die in Friedenszeiten 1703 beschlossene Armatur von 5000 Mann Infanterie „pro perpertuo Milite […] bestendig“ beizubehalten.23 Der Graf von Rietberg unterhielt auf dem Schloss zeitweilig bis zu 100 Soldaten.24 Klagen über die damit verbundenen Lasten änderten daran nur wenig. Im Oktober 1719 wies Graf Maximilian Ulrich die Regierung des Landes darauf hin, dass der 19 Benedikt Mauer, „…daß wir in Ungeren marschieren dahten“. Ein Soldat im Paderborn des 18. Jahrhunderts, in: Westfälische Zeitschrift 146, 1996, 245 – 272, 247 f., LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 159 Eidesformel des Rietberg. Militärs 1703. 20 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 170 Bl. 14 ff. 11. Mai 1707 Protokoll zur Verlegung des Rietbergischen Kreiskontingents nach Bonn. 21 Kurt Arnold, Geschichte des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises in der Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges (1698 – 1714), Düsseldorf 1937, 117 Anm. 20. 22 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 135, Nr. 175 Bl. 56, Nr. 170 Bl. 37, Bl. 42 Aufstellung der Zahlungen 1717 – 1720. 23 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 175 Bl. 68., Nr. 170 Bl. 11, 14, 27 – 31. 24 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 169 – 176, 1719 Liste der Schloßkompanie, Bl. 44 f., 1720, Bl. 214 ff., 1724 Schlosskompanie und Kreiskontingent, Kommandant Obristwachtmeister v. Doetichem (seit 1729).

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Kommandant bereits einige Soldaten mit vielen Kindern, auch sonst „untaugliche Kerle“ abgedankt habe. Eine weitere Verminderung des Militärs lehnte er ab. Es müsse bei den 70 Mann der ordinären Besatzung und den 18 für das Kreiskontingent vorgesehenen Soldaten bleiben. 1731 standen noch 69 Mann in Sold.25 Das Rietberger Kontingent sollte weiterhin wie im letzten Krieg zusammen mit dem Dortmunder eine Kompanie der Infanterie im Paderborner Bataillon bilden. Da das Hochstift Paderborn seine kostspielige Kavallerietruppe 1719 kassiert hatte, erwirkte dessen Regierung bei den Rüstungen im Jahre 1734 vom Kreisdirektorium die Erlaubnis, künftig drei Infanteristen für einen Reiter zu stellen.26 Der Kommandeur des Kreis-Infanterieregiments, der Paderborner Generalmajor Hermann Werner v. Schorlemer, bot den Rietbergern seine Unterstützung an, damit auch ihr Kontingent durch Infanterie ersetzt wurde. Die Regierung hob im Januar 1734 in ihrem Bericht an den Grafen hervor, es werde der Grafschaft auch deshalb „profitable“ sein, weil man bei dem Kontingent an Infanterie einen Oberoffizier habe, welcher „davor das beste beobachten“ könne. Hingegen stelle man bei dem Kontingent an Kavallerie nur einen Wachtmeister, der sich „alles vorschreiben lassen“ müsse. Sie hatte Einwohner aus jeder Bauerschaft des Landes zusammengerufen und ihnen vorgestellt, dass das Rietberger Kontingent von 33 Mann „eilig in guten Stand“ gebracht werden müsse. Da sein Anteil unter der Schlossgarnison derzeit auf 19 Mann reduziert sei, müsse es „schleunig“ durch Anwerbung komplettiert werden. Der drohenden Durchmärsche und Streifereien wegen sei auch der verordnete Ausschuss instand zu setzen. Die Regierung beschloss, das besoldete Kreiskontingent durch andere taugliche Soldaten zu komplettieren und abmarschieren zu lassen, den Abgang vorerst durch einen Ausschuss zu ersetzen und die Garnison demnächst durch gute junge Leute aufzufüllen. Die Kirchspiele waren zur Rekrutierung angeschrieben. In ihrem Bericht an den Landesherrn verhehlte sie allerdings nicht, dass es „große Mühe und viel Lärmen“ im Lande machen werde, die ausersehenen Personen auf das Schloss und zur Miliz zu bekommen. Zumal die unverheirateten Söhne der Kolonen und die Knechte nebst den jungen Beiliegern sich nachts außer Landes aufhielten oder heimlich versteckten. Falls wieder 16 Berittene gestellt werden sollen, wäre es wohl besser sich von Münster oder Pfalz vertreten zu lassen und vorher einen guten Kontrakt zu machen. Tatsächlich hat der Niederrheinisch-Westfälische Kreis nach der Auflösung der Regimenter Venningen und Hachenberg im Jahre 1713 kein Kavallerieregiment mehr aufgestellt.27

25 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 141, Bl. 260 – 274 Zahllisten für Schlosskompanie und Kreiskontingent 1731, 221 rtl. 13 gr. Sold für 69 Mann. 26 Franz Mürmann, Das Militärwesen des ehemaligen Hochstiftes Paderborn seit dem Ausgange des Dreißigjährigen Krieges, in: Westfälische Zeitschrift 95,2 1939, 3 – 78, hier 17. 27 de.wikipedia.org/wiki/Liste der Regimenter des niederrheinisch-westfälischen Reichskreises.

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Für die Stelle des Leutnants, deren Besetzung bei der bevorstehenden Rekrutierung dringend nötig wurde, waren nur drei Bewerbungen eingegangen, Friedrich von der Paderborner Miliz, Carl Henrich v. Tosch aus dem Brandenburgischen, der in Preußen, Dänemark und Schweden gedient hatte und Carlé aus dem Mainzischen, dessen Schwiegermutter die verwitwete Verwalterin der Komturei zu Herford war. Er war mit dem Rang eines Feldwebels aus dem preußischen Dienst geschieden, weil er als Bürgerlicher keine Aussicht auf Avancement hatte und nun dank seiner Qualitäten und Erfahrungen beim Obersten v. Lewald in der Grafschaft Ravensberg als Sekretär beschäftigt. Der Kommandant hatte sich für den ersten und den letzten der drei Bewerber ausgesprochen. Man entschied sich für Carlé.28 Er wurde wie viele Offiziere in jener Zeit auch mit der Anfertigung von Plänen und Rissen beschäftigt. Von Carlé stammen u. a. eine Karte des Schlosses Rietberg und Umgebung29 sowie ein Entwurf für die Pfarrkirche in Neukaunitz.30 Für die neuen Rekruten wurden Monturen, Flinten, Koppel, Patronentaschen und Schuhe beschafft. Leutnant Carlé reiste nach Paderborn, um sich über den Zustand des Paderborner Regiments zu informieren, Drost v. Rübell nach Detmold wegen Gestellung und Regulierung des Kreiskontingents. Noch vor dem Abmarsch waren der Landeskasse Kosten in Höhe von 1657 rtl. 12 gr., 5 1/2 d entstanden. Dazu kam ein Vorschuss an den Leutnant für seine Feldequipage von 120 rtl. und 100 rtl. Vorauszahlung an die Stadt Köln für die Verpflegung der Truppe. Dem Leutnant wurde der Zuschuss nur unter dem Vorbehalt gewährt, ihn später von der Gage abzuziehen. Gleichzeitig wurde ihm bedeutet, unnötige Ausgaben tunlichst zu vermeiden.31 Am 3. September 1734 setzte sich das Rietberger Kreiskontingent unter Leutnant Carlé nach Köln in Marsch. Dieser erstattete darüber ausführlich Bericht.32 Am ersten Tag pausierte man zwei Stunden in Lippstadt und bezog dann Quartier in Östinghausen. Am 4. gab es infolge des anstrengenden Marsches etliche Kranke, vier Mann waren nicht „capabel“, von der Stelle zu bringen. Um vier erreichte die Truppe Bährke33. Dort weigerten sich die Bauern, die Soldaten aufzunehmen. Sie behaupteten, der Durchmarsch sei nicht rechtmässig und wollten deshalb auch die etappenmäßige Bezahlung nicht akzeptieren. Der von Carlé um Hilfe gebetene Richter in Werl gab erst nach Drohungen Anweisungen für die Unterbringung der Soldaten. Müde und matt konnten diese um Mitternacht endlich ihr Quartier beziehen. Es gab auch „al28

LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 172 Bl. 5 – 14 Bericht der Regierung vom Januar 1734. 29 LAVNRW W Kartensammlung A 19782, Druck: Hans-Joachim Behr/Franz-Josef Heyen (Hrsg.), Geschichte in Karten. Historische Ansichten aus den Rheinlanden und Westfalen, Düsseldorf 1985, 175. 30 Manfred Beine, „Unten Vier Zimmer und oben das Theatrum und Auditorium“ – Entwürfe für ein Gymnasium in Rietberg von 1746 (Westfälische Quellen im Bild 29), o. J. 31 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 934 Bericht der Räte v. Rübell, v. Ellerts u. Harsewinckell vom 11. Nov. 1734 an den Fürsten. 32 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 175 Bl. 83 – 94. 33 Wohl Flerke.

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lerhand verdriesliches räsonement“. Nachdem der Vorspann von unwilligen Bauern zusammengebracht war, konnte die Truppe am nächsten Tag weiterziehen. Eine halbe Stunde von Bährke erreichte sie Brandenburgisches Territorium. Die Soldaten legten Gewehre, Montur und Taschen auf den Wagen. Wer nicht mehr marschieren konnte, liess sich fahren. Am 5. mittags war sie in Unna und erreichte am späten Nachmittag Dortmund. Magistrat und Kriegskommissare hießen sie willkommen. Das Stadttor aber blieb geschlossen, bewacht von einem Bürgerkapitän und 30 Mann. Erst nachdem Carlé erklärt hatte, dass seine Marschorder auf Köln lautete, wurde ihnen geöffnet. Der Trommelschlag beim Einzug der kleinen Schar war für die Reichsstadt eine Provokation, die aber hingenommen werden musste, weil die Truppe auf „kaiserlichem Fuß und Order“ zur Armee zog. Der Leutnant ließ am ersten Wirtshaus halten und verlangte Quartier und Vorspann für den nächsten Tag. Weil aber das Kontingent der Stadt Dortmund noch nicht marschbereit war, wurde er gebeten, einige Tage zu warten. Er ließ sich überzeugen durch das Angebot, jedem Soldaten täglich fünf Stüber zu zahlen, blieb vier Tage in seinem Quartier und genoss die Gesellschaft der Kriegskommissare v. Deging und v. Hahne. Am 8. kam aus Köln Order, schleunigst den Marsch anzutreten, aber wegen der Franzosen nicht mehr über Düsseldorf zu ziehen. Gemeinsam mit dem Dortmunder brach das Rietberger Kontingent am 9. in aller Frühe auf und zog über Steele, die Abtei Werden, Hilden und Deutz nach Köln. Die Dortmunder sollten in der Stadt Köln vereidigt werden und dort auf Wache ziehen. Carlé vermutete, dass auch er mit seinen Leuten den Winter über dort in Garnison bleiben müsse, wo alles, besonders für einen Offizier, sehr teuer sei. Immerhin konnte er nach Rietberg melden: „Der Marsch ist ohne Desertion gewesen. Meine Leute sind alle noch gesund“. Mitte September trafen auch die Essener und Gimbornsche Kompanien ein, die Lippische stand noch aus. Carlé klagte immer wieder über das teure Leben in Köln. Sein Quartier hatte er mit dem Dortmunder Fähnrich zusammen gemietet. Die Kosten für Verpflegung und Unterkunft sowie ein Karrenpferd beliefen sich im Monat auf 12 rtl. Die Offiziere sollten beritten sein, aber als Reitpferd war dieses Pferd wenig geeignet. Man wollte es gerne loswerden. Es war aber wegen eines Beinschadens nicht zu verkaufen. Im Dortmunder Kontingent erhielt jeder Unteroffizier und gemeine Soldat monatlich 1/2 Taler Zulage. Carlé hielt es für angemessen, das Rietberger Kontingent auf die gleiche Art wie das Dortmunder zu verpflegen, zumal die beiden Kontingente eine Kompanie bildeten. Auch habe das Dortmunder Kontingent stets eine Monatsgage bereit. Die Uniformen der Kontingente mussten einander angeglichen werden, was neue Kosten verursachte. Carlé klagte: „Der nun den Schaden hatt, der wird ihn wohl erhalten, der unschuldige ist am übelsten daran“.34 Die Rietberger Regierung bezweifelte die Angaben Carlés, dass die Dortmunder, die Paderborner und andere Kontingentsoffiziere zu ihrer Feldequipage und Montur ein „Gratiat“ erhalten hätten. Dieses sei kein Grund zur Beschwerde, auch wenig

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glaubwürdig, weil bei Abzug des Kontingents jedem gemeinen Mann 2 rtl. Feldgage und 18 mgr oder 1/2 rtl. als Brotgeld wie in früheren Zeiten bewilligt worden seien. Wegen Anwerbung und Komplettierung der Schlossgarnison vereinbarten Räte und Kommandant, da die jungen Leute bei „derzeitigen Kriegesleuften“ den Kriegsdienst sehr scheuten und fast kein Landeskind gutwillig dazu zu bringen war, die besten von ihnen bei dem nächsten halbjährigen Gericht „ohnvermercket“ einzubestellen, die tauglichsten auszuwählen und auf dem Schloss zu behalten. Bei anderen Werbemethoden war nur zu befürchten, dass die jungen Leute in andere Länder flüchteten und so auch anderer Herren Werbung unterstützten. Die Kavallerie in natura zu stellen, hielten die Räte für „höchst schädlich und undienlich“. Man wollte deshalb auf dem nächsten Kreistag wegen Vertretung oder Ersatz durch Infanteristen sondieren.35 In Köln wurden die Soldaten täglich exerziert, auch die Uniformen einigermaßen vereinheitlicht. Über die weitere Verwendung der Truppe aber herrschte Unklarheit. Gerüchte besagten, das Kontingent solle dem Kölner Magistrat, wie von diesem verlangt, den Treueid leisten. Der General meinte, es sollte zur Armee an den Rhein gehen. Eine Vereidigung auf den Magistrat wurde zunächst abgelehnt, was in der Konsequenz hieß, entweder die Quartiere zu bezahlen oder die Stadt zu verlassen. Carlé resignierte: „keiner will uns recht haben“. Anfang Oktober waren einige kleine Kontingente immer noch nicht vollständig, sowohl an Mannschaft, wie an Montur und Bewaffnung. Die Stadt Dortmund hatte 65 Gemeine, sieben Unteroffiziere und zwei Oberoffiziere in Köln, konnte aber das verlangte Triplum nicht aufbringen. Ende September hatte Carlé zwei Mann seiner Truppe als krank und nicht mehr diensttauglich gemeldet und gebeten, sie aus der Schlosskompanie auszutauschen. Am 17. Oktober musste er berichten, dass zwei „Kerls“ desertiert waren, Montur und Degen mitgenommen hätten. Beide hatte man kurz vor dem Abmarsch durch einen Unteroffizier herbeischaffen müssen. Sie hätten also beide immer die Absicht gehabt zu desertieren. Insgesamt fehlten nun vier Mann, die möglichst bald ersetzt werden mussten. Fahnenflucht war in der Garnison „sehr gemein“. Vom Dortmunder Kontingent entwichen an einem Tag acht Mann mit Hilfe von Studenten. Es befanden sich in der großen Stadt „die vielfältigen Werbungen, allerhandt Puissances, dass ein Deserteur stets unterkommen“ konnte. Am 23. Oktober 1734 vormittags wurden in Gegenwart des regierenden Bürgermeisters Grooth die Kreiskontingente von Blankenheim, Rietberg, Dortmund, Essen, Thorn, Werden, Schwarzburg, Gimborn darauf vereidigt, der Stadt Köln Bestes zu befördern. Vom Rietberger Kontingent waren abermals vier Mann desertiert.36 1735 stieß das Rietberger Kontingent mit anderen zur Hauptarmee in Süddeutschland. Im Sommer befand es sich im Lager bei Heidelberg in der Kompanie des Majors 35 36

Regierungsbericht vom 11. Nov. 1734 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 934. LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 175 Bl. 86 – 93.

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v. Schnellen.37 Im April 1739 marschierte das Paderborner Bataillon dann ohne die Rietberger mit sechs Kompanien unter dem Kommando des Obristleutnants von Seyboldsdorff nach Ungarn.38 Die Ausrüstung und Unterhaltung des Kontingents hatte viel gekostet. Dazu belasteten Winterquartiere preußischer Truppen in der Grafschaft die Landeskassen. Die Verpflichtungen gegen das Reich konnten nicht mehr voll erfüllt werden. Im Sommer 1735 mahnte der Kreisgeneral das seit vier Jahren rückständige 1731 auf dem Kreistag zu Aachen bewilligte Simplum und den Beitrag zum Stab oder Etatmajor seines Regiments für sechs Monate an und verlangte, dieses Geld unverzüglich dem Kreisthesaurar Meinertshagen zu übergeben. Die Rietberger Regierung wies in ihrem Antwortschreiben darauf hin, dass das Simplum vor vielen Jahren auf 36 fl. ermäßigt worden sei und versprach, die Simpla nach der restituierten Moderation mit 144 fl. nach der Ernte zu zahlen. Sie gab auch zu, dass die Grafschaft verpflichtet war, zu dem Kreisregimentsstab beizutragen. Allerdings hätten auch andere dazu verpflichtete Kreisstände noch nicht gezahlt, weil es noch keine richtige Quotisierung gebe. Die Zahlung werde erfolgen, sobald die Höhe des Rietberger Beitrags feststehe.39 III. Reichsexekution gegen Preußen Eine Auflistung vom 23. Mai 1739 zeigt den Zustand und die Verteidigungsbereitschaft der Festung. Vermutlich stammt sie von Leutnant Carlé. Danach waren für die Besatzung an Personal 200 Mann Ausschuss zur Verstärkung, zwei Konstabler, Feldscher, Büchsenschmied und ein Pater erforderlich. An schweren Waffen waren 13 metallene große und kleine Kanonen, ein Förmöser zu Bomben, acht eiserne Kanonen vorhanden, an leichten 40 mangelhafte Flinten. An den Befestigungen waren Reparaturen erforderlich.40 Als Friedrich II. 1740 in Schlesien einmarschierte und damit den österreichischen Erbfolgekrieg auslöste, blieb das Reich untätig. Kurfürst Karl Albrecht von Bayern wurde mit französischer Hilfe zum römisch-deutschen Kaiser gewählt. Mit seinem Tod im Januar 1745 aber änderte sich die Lage von Grund auf. Sein Bruder Clemens August, Kurfürst von Köln, Bischof von Münster, Osnabrück, Paderborn, sah sich gezwungen, sein Bündnis mit Frankreich aufzugeben und sich Österreich anzuschließen. Das Fürstbistum Paderborn wurde in die kriegerischen Ereignisse des Zweiten Schlesischen Krieges hineingezogen. Im Februar 1745 rückten Paderborni-

37 LAVNRW WArchiv Rietberg, Akten Nr. 174, Forderungen der Firma Jacob May, Joseph Oppenheimer et Cons. aus dem Kontrakt des Abraham Mey für Brotlieferungen an das Rietberger Kontingent vom 7. Mai bis Juli 1735. 38 F. Mürmann, Das Militärwesen (Anm. 26), 65. 39 Regierung in Rietberg an den Kreisgeneral Grafen v. d. Mark 17. Juli 1735, LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 172 Bl. 3 f. 40 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 347 f.

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sche Truppen zusammen mit englischen und hessischen in das Herzogtum Westphalen ein, um es gegen einen Einfall der Franzosen zu schützen. Die Kreisdirektoren Köln und Brandenburg standen nun in verschiedenen Lagern und eine Kreisversammlung fand nicht mehr statt. Trotzdem dachte der Landesherr Graf Wenzel-Anton von Kaunitz-Rietberg, seit 1744 österreichischer Minister, an eine Mobilisierung des Rietberger Kontingents. Der Reichshofrat und Gevollmächtigte des Grafen, Johann Freiherr Binder von Krieglstein, wies diesen im Januar 1746 auf die im Lande befürchteten „üblen Folgen“ hin. Der Graf gab zu, dass die „Verlaufung der jungen Pursch dem Lande zur grossen Beschwerde“ gereiche, meinte aber, dass nach den Erfahrungen seines Vaters den Vertretungen öfters „viele Verdrieslichkeiten“ folgten. Auch entspreche es seiner patriotischen Gesinnung, dass das Rietbergische Reichs- und Kreis-Kontingent wie bisher „in natura“ gestellt werde. Zumal es nicht mehr als etliche zwanzig Mann betrage und ein Teil der Schlossgarnison dazu genommen werde, welche ohnehin in das Feld zu gehen verpflichtet sei.41 In einer Bekanntmachung wurde vorsorglich hervorgehoben, dass niemand mit Gewalt zum Militär gezwungen werde und man den Ersatz durch Werbung aufbringen wolle. Wer einen Rekruten freiwillig stelle, erhalte eine Belohnung. Weil die „mehrtste erforderliche Anzahl zu dem Crayß-Contingent von hiesiger Guarnison“ genommen werde, habe auch niemand im Lande nötig, sich zu verstecken oder zu verbergen noch weniger daraus zu flüchten.42 Freiwillig meldeten sich von der Schlosskompanie zum Reichs- und Kreiskontingent: zwei Korporale, der Tambour, drei Gefreite und 27 Gemeine. Davon wurden ein Korporal, der Tambour und acht Mann zurückgewiesen.43 Weil die Zahl der Freiwilligen aber nicht hinreichte, das Kontingent zu komplettieren, wurden weitere Schlosssoldaten dazu abkommandiert. Nicht jeder von ihnen war sogleich bereit, in den Krieg zu ziehen. So bat Johann Henrich Pöhler um Freistellung und führte als Gründe an, er habe zwei kleine Kinder und nach dem Tod seiner Frau erst kürzlich wieder geheiratet. Seine zweite Frau erwarte eine baldige Niederkunft. In dem Bescheid des Hofrats Binder heisst es: „Diejenigen SchloßSoldaten, welche bey FriedensZeiten den Sold genießen, sind auch schuldig in Kriegeszeiten, wohin mann sie verlanget, zu dienen, dahhero dem Supplicanten nicht kann willfahret werden“. Er könne seinen Abschied verlangen. Man werde ihm dann „ohngeachtet die Zeit und umstände ein anderes erforderten […] gerne willfahren“. Für den Rekruten Christoph Husmans baten seine Eltern. Sie klagten, ihr Sohn habe zwar freiwillig Dienst und Handgeld genommen, sonst aber „nie Sinn zum Soldatenleben gehabt“. Man habe ihm zuge41 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1356 Bl. 1 f. Graf Kaunitz an Hofrat v. Binder 8. Januar 1746. 42 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 168 Bl. 49. 43 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 168 Bl. 57.

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sichert, er könne auf dem Schloss bleiben, um dort sein Handwerk auszuüben und ihnen Hilfe und Beistand zu sein. Dieses „unziemliche Begehren“ wurde gleichfalls abgeschlagen.44 Am 1. Oktober 1746 zog das Rietbergische Kontingent unter Leutnant Carlé ins Feld. Es umfasste im März 1747 acht Mann prima plana und 50 Gemeine.45 Über den Einsatz der Truppe ließ sich nichts ermitteln. Möglicherweise stand sie zusammen mit den Paderbornern im Herzogtum Westphalen. Nach Ausbruch des Siebenjährigen Krieges legte Leutnant Carlé um die Jahreswende 1756/57 ein Promemoria wegen der Schlossgarnison vor. Die Gewehre müssten in brauchbaren Stand gesetzt und an die Rekruten verteilt werden, zumal die nunmehr angehende milde Witterung zum Exerzieren genutzt werden müsse, und man nicht wisse, was „die gegenwärtigen Konjunkturen“ verlangten und man allemal im Stande wäre, auch die wirklich Dienst leistende Mannschaft weit besser als bisher ordentlicher zum Dienst anzuhalten und die Soldaten vornehmlich auch für die Wache einzusetzen, was dringend nötig. 65 Flinten seien vorhanden, andere Gewehre müssten angeschafft werden, auch neue Patronentaschen. Carlé unterbreitete einen Vorschlag für den Schildbeschlag. Schwarze Gamaschen und Haarbänder zur Vereinheitlichung des Äußeren wären anzuschaffen und Monturen für die neuen Rekruten. Die Unterkünfte wären in schlechtem Zustand, einige müssten neu gebaut, andere repariert werden. Zum Erlernen des Exerzierens und Dienstes, wie überhaupt für das „Beibringen guter Zucht“, sollten die Soldaten in der Garnison schlafen, auch die in der Stadt wohnhaften jungen Burschen, die aber weiterhin tagsüber außerhalb arbeiten könnten. Regierung und Kammer hielten es für unumgänglich, 60 Stück Ober- und Untergewehr anzuschaffen. Die 1734 angeschafften Gewehre waren in einem Zustand, „daß solches bey Stellung eines Reich- und Crays-Contingents weder zum Dienst des publici noch zur Ehre der Grafschaft brauchbar genug wäre, und zu der größesten Prostitution gereichen würden, wann bey vornehmender Musterung auch nur ein eintziges ausgeschossen würde“. Neue Patronentaschen wollte man ebenfalls anschaffen, aber ohne den Schild, wie der Leutnant ihn vorgeschlagen hatte. Die Notwendigkeit neuer Kasernenbauten sah man wohl ein, doch seien „dermalen die Zeitläufte und Umstände nicht danach“. Reparaturen wollte man dagegen bald vornehmen. Da die neuen Geworbenen freiwillig eingetreten waren, solle ihnen auch erlaubt werden, bis zum Abmarsch „in Stadt und Land nach ihrer Gelegenheit“ zu wohnen.46 Nachdem im Januar 1757 die Reichsexekution gegen Preußen beschlossen worden war, verging noch geraume Zeit, bis das Reichsheer zum Einsatz bereit stand. Erst am 6. August trat ein von Münster und Jülich einberufener Kreistag in Köln zusammen. Noch am 11. Februar 1758 musste ein kaiserliches Mandat die Stände des

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LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 168 Bl. 42 und 44. LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 168 Bl. 47, 64. 46 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 169 Bl. 2 – 6, 12 – 20.

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Kreises auffordern, die noch angängigen Hilfen zu sammeln und baldigst der Reichsarmee zuzuführen.47 Ein Rietbergisches Kontingent ist nicht mehr aufgestellt worden. Am 2. April 1757 waren bereits preußische Truppen in die Grafschaft einmarschiert. Ihr Kommandeur, Generalmajor Martin Eberhard v. Jungken gen. Müntzer vom Mohrenstamm48, verlangte Quartier für 700 Mann, er besichtigte das Schloss, wo angeblich ein Magazin für die Franzosen angelegt sein sollte. Als man schon auf den Abzug der Truppen wartete, kam die Forderung, dass auf Befehl des Königs dem General v. Jungken die Festung Rietberg „ad interim“ übergeben werden müsse. Da Leutnant Carlé die Übergabe verweigerte, wurde bei einem etwaigen Schusswechsel mit Vergeltung gegen Stadt und Land gedroht. Als die Preußen damit begannen, die äußeren Palisaden niederzureißen, kapitulierte Leutnant Carlé entsprechend seinen Instruktionen, bestand aber darauf, dass die herrschaftlichen Gebäude und die inneren Bauten samt dem Archiv unangetastet blieben. Angeblich soll der General gesagt haben, „Der Herr Graf von Rietberg hat den Krieg zuerst angefangen; so soll er ihn auch zuerst empfinden“.49 Was sich an leichten Waffen auf dem Schloss befand, wurde weggenommen oder unbrauchbar gemacht. Am 10. April zog das Regiment wieder ab. Auf dem Schloss blieb für kurze Zeit eine starke preußische Besatzung unter dem Major von Vaers. Über fünfzig Mann der Rietberger Garnison entwichen, weil man ihnen gedroht hatte, dass sie auf die preußische Fahne vereidigt würden. Die Bewohner der benachbarten Länder ließen ihnen zwar zahlreiche Almosen zukommen, damit sie keine allzu große Not leiden mussten, jedoch die Sicherheit, dass sie nicht zum fremdem Kriegsdienst gezwungen würden, konnte ihnen niemand geben, obwohl die Rietberger Regierung das in den Kapitulationsverhandlungen eigens ausbedungen hatte. Am 22. April wurde dem Land eine Kontribution von 10.000 rtl. auferlegt. Im Falle der Nichtbezahlung sollte Binder als Geisel genommen werden. Später wurden das innere Schloss und die Stadt abwechselnd mit mehr oder weniger Soldaten belegt. Nach der Schlacht von Hastenbeck und dem Rückzug der Alliierten erschienen am 29. April Franzosen in Begleitung des münsterischen Leutnants v. Plettenberg. Sie rückten vor das Schloss und erklärten dem Interims-Kommandanten, dass sie nicht als Feinde kämen, sondern um das Schloss für den Grafen Kaunitz wieder in Besitz zu nehmen. Leutnant Carlé musste gleichwohl das Schloss räumen und mitsamt der Besatzung in Zelten auf einer nahen Wiese Unterkunft suchen.50 47

LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 129 Bl. 1 f. Kurt v. Priesdorff, Soldatisches Führertum, Bd. 1, Hamburg [1937], Nr. 398. 49 Hermann Scherl, Die Grafschaft Rietberg unter dem Geschlecht der Kaunitz, Dissertation (masch. Schr.) Innsbruck 1962, 277 f., Birgit Strimitzer, Relationen über den Einfalls preußischer Truppen in die Grafschaft Rietberg im Frühjahr 1757, in: Westfälische Zeitschrift 146, 1996, 273 – 285, hier 275 ff., Horst Carl, Okkupation und Regionalismus. Die preußischen Westprovinzen im Siebenjährigen Krieg (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte 150), Mainz 1993, 74 f. 50 B. Strimitzer, Relationen (Anm. 49), 280 f. 48

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Die Vertreter Rietbergs klagten am 26. August 1757 auf dem Kreistag zu Köln, Stadt und Land seien durch „verderbliche Fouragierung in das größte und kaum glaubliche unglück dergestalten gestürtzet, daß man nicht nur alle Hoch-Herrschaftliche in der RentCammer, sondern auch in der Land-Cassa befindtliche gelder hatt angreifen und verwenden müssen, wodurch die gute Grafschaft Rittberg gegen ihr Verschulden in die Unvermögenheit gerathen, weder für jtzo noch in Vielen künfftigen Zeithen, wie gern sie auch wolte, zu denen Reichs-und Craißpraestanda etwas Beytragen zu können….!“51 Regierungsrat Münch machte dem Gevollmächtigten den Vorschlag, die Burg zu schleifen, den Wall abzutragen und dafür Gärten anzulegen. Gleichzeitig sollte die Schlossgarnison abgeschafft werden und nur eine Truppe von 20 Mann in der Stadt gehalten werden. Binder war dazu jedoch nicht bereit.52 Doch mussten die Garnisonsoldaten das Schloss räumen und erhielten Anweisung, künftig keine Uniform mehr zu tragen. Am 11. März 1758 befahl Graf Kaunitz, dass der Gevollmächtigte „samt allen Räten und Bedienten“ bei drohendem Einfall fremder Truppen sich und die Effekten in Sicherheit bringen, auch in keine Kontribution einwilligen und ohne Salva Guardia nicht zurück ins Land kommen sollten. Mit dem Archiv, „Gold- und Silbersachen“ reisten sie darauf über Lippstadt und Köln nach Trier, Johann Binder fuhr weiter nach Wien.53 Leutnant Carlé hielt sich nicht an die Anweisungen, rief die Garnison zurück und liess auch Wachen aufziehen. Bei dem Kaufmann Rottmann bestellte er neue Monturen. Die Besatzung auf dem Schloss hatte nach dem Abzug der Regierung nur einmal Gage erhalten. Ihre Versorgung war daher so mangelhaft, dass der Leutnant zur Selbsthilfe schritt. Er bat den Landrichter Vogts-Meyer auf das Schloss und verlangte für sich und seine Soldaten Geld aus der Landeskasse. Er verfaßte ein Publikandum, mit dem die Untertanen aufgefordert wurden, die fällige Gage aufzubringen und sandte es an Dechant und Pastoren. Dechant Schürckmann und Bürgermeister Sentrup, die, solange die Regierung nicht in der Stadt war, die Entscheidungsbefugnis für alle Verwaltungsangelegenheiten beanspruchten, strengten im Juni 1758 eine Untersuchung der Vorfälle an. Neben der Amtsanmaßung wurden weitere Vorwürfe gegen Carlé erhoben. So sollte er die Plünderung des Inventars durch die Garnisonsoldaten geduldet und sich selber daran beteiligt haben. Auch habe er einen Deserteur des Sachsen-Coburgischen Regiments des Oberstleutants v. Wurm aufgenommen. Carlé wurde verhaftet und saß vom 8. Oktober 1758 bis 25. Januar 1759 im „Hannöverschen“ in Arrest. Offenbar konnte er fliehen. In einem Schreiben des Grafen Kaunitz aus Wien vom 7. März 1759 heißt 51 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 129 Bl. 34 – 37, Nr. 290 Bl. 11 – 14 Lieferungen an preuß. u. französ. Militär 1757. 52 H. Scherl, Die Grafschaft Rietberg (Anm. 49), 279. 53 B. Strimitzer, Relationen (Anm. 49), 284.

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es: „Nachdem Leutnant Carl durch seine übele Ansuchung und nachmahliges Entweichen sich der Hochherrschaftl. Gnaden und Diensten unwürdig gemacht, weswegen man auch den Criminalprocess zu verfolgen sich vorbehalten, so ist von nun alle sonsten genossene Gage und übrigen Zulagen ipso Facto erloschen und aufgehoben, auch die seiner Mutter und Schwester gutes zu tun ausgeworfen gewesene Pension nicht länger als bis auf nächsten Ostern ihnen zu reichen“.54 Da ein Kommando der alliierten Armee das Schloss besetzt hatte, hielt man es für überflüssig, dieses „mit erschwerten Kosten“ durch eigene Soldaten bewachen zu lassen. Im Januar 1760 wurde deshalb entschieden, die bisherige Mannschaft so lange abzudanken, „bis dahin nach Zeit und Umständen dieselbe erforderlich werden wird“. Dem Freikorporal Ferdinand Born übertrug Dechant Schürckmann die „geheime Aufsicht auf die Schloßgebäude, auf das Betragen unserer eigenen Soldaten und über alle erheblichen Vorfälle“. Er sollte aber niemand von diesem Auftrag etwas wissen lassen, sondern „anstößige oder merkwürdige Begebenheiten insgeheimb“ bei ihm anzeigen. Mehr als zwei Jahrzehnte übte Born dieses Amt aus. 1783 sah er sich jedoch „wegen des eingetretenen Alters und der daraus entstehenden Schwäche und Kränklichkeit täglich unfähiger […] den Feldwebeldienst bei der Schloßgarnison in der Fertigkeit, wie es sich gebührt zu versehen“. Er bat deshalb darum, seinem beim Regiment Kaunitz als Grenadierkorporal stehenden Sohn55 die Stelle zu übertragen. Eine Entlassung Borns wurde abgelehnt. Er blieb als Schlossfeldwebel im Dienst, doch wurde ihm der Sohn zur Entlastung beigestellt.56 Die Alliierten hielten Rietberg weiterhin besetzt, bezogen dort 1760/61 Winterquartier und errichteten ein Magazin. Dechant Schürckmann hatte dafür zu sorgen, dass die Wiesen gemäht und das Heu in das Magazin abgeliefert wurde.57 Die Kanonen der Festung wurden nach Lippstadt gebracht.58 IV. Die letzten Jahrzehnte im alten Reich Da die Mobilisierung der Reichsarmee gewöhnlich erst angeordnet wurde, wenn der Reichskrieg bereits eine vollzogene Tatsache war, suchten die meisten Reichsstände unter Außerachtlassung militärischer Gesichtspunkte ihre Mannschaft mög54

LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 388 – 393, 412, Nr. 3389, Nr. 1369 Bl. 403. 55 Ernst Christoph Born, getauft am 15. Februar 1759. Die Patenschaft übernahm Graf Ernst Christoph von Kaunitz, Alwin Hanschmidt, Soldaten auf dem Rietberger Schloß 1738 – 1796 (Heimatblätter der Glocke NF 1971 Nr. 27). 56 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 410, 417. 57 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 292 Bl. 1 – 37, Berechnung der Proviantlieferungen an das Magazin in Rietberg 1759 – 1762, Fouragelieferung an alliierte Armee 30000 Rationen 29. Sept. 1760, für die Winterquartiere 180000 Rationen, 270000 Portionen 24. Dezember 1760, Promemoria an die brit. Kontrollkanzlei in Hannover 14. Mai 1763. 58 Landesarchiv NRW Abt. Rheinland NW Kreis V Nr. 64, LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 357.

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lichst bald zusammenzubringen und mit dem zu bewaffnen, was gerade vorhanden war. Die militärische Bedeutung des Reichsheeres wurde deshalb schon im 18. Jahrhundert nicht sehr hoch eingeschätzt. In den Darstellungen des 19. Jahrhunderts wurde es vollends zur Lächerlichkeit.59 Im Kleinen spiegeln sich die Verhältnisse im Rietberger Kontingent wider. Zwar stand ein Teil der Schlossmannschaft bereit, wenn die Grafschaft zur Erfüllung ihrer militärischen Verpflichtungen gegen das Reich angehalten wurde. Aber in der Regel waren Werbungen daneben unvermeidlich. Freiwillig war kaum jemand zum Eintritt in das Militär zu bringen. Die unverheirateten jungen Bauernsöhne, Knechte und Beilieger flohen nachts über die Grenze oder hielten sich versteckt. So war der Soldat Kalkhans, über den Leutnant Carlé 1734 berichtete, sicher kein Einzelfall. Er sei „so dumm und dem Trunk dergestalt ergeben, daß er so wenig mit dem Gewehr auf der hiesigen Wacht kann bestehen, vielweniger exerzieren, am allerwenigsten eine Schildwacht anvertraut werden kann, Schläge die helfen auch nicht, was ist dann ein solcher Kerl in Kriegesdiensten nütze“. Ein Deserteur des Dortmunder Kontingents stammte aus dem Rietbergischen und war vor einigen Jahren, wegen Pferdediebstahl verurteilt, aus der Festung entwichen.60 Desertionen waren, wie sich auf Märschen und während der Garnisonierung in Köln zeigte, auch bei dem kleinen Rietberger Kontingent nicht ungewöhnlich. Vielfach fanden entlaufene Soldaten bei der Bevölkerung Sympathie und Hilfe. Eines der Übel, unter denen das Militärwesen krankte, war die Heirat der Soldaten. Beim Ausrücken zu einem Feldzug wurden oftmals die Familien mitgeführt und auch in Friedenszeiten waren sie eine Belastung für die Disziplin. Man suchte die Heirat deshalb nach Möglichkeit zu erschweren. Damit die kleine Festung Rietberg nicht mit Frauen und Kindern angefüllt wurde, sollten 1707 überhaupt keine Heiraten mehr erlaubt und Witwen aus der Festung geschafft werden. Darauf wurden einige Soldaten mit vielen Kindern, auch sonst untaugliche Leute, abgedankt. Bei guten und gesuchten Handwerkern machte man allerdings auch eine Ausnahme. So befürwortete Leutnant Carlé die Bitte um Heiratserlaubnis des Korporals Lorenz, der sich in Köln mit der Tochter eines verstorbenen holländischen Kapitänleutnants versprochen hatte, mit der Bemerkung, er sei sehr geschickt als Gold- und Silberschmied.61 Auf die exerziermäßige Ausbildung legte man im 18. Jahrhundert in den Kleinstaaten weit weniger Gewicht als in Preußen. 1703 wurden Bestimmungen für den Rietberger Schlosskommandanten erlassen, die aber kaum Beachtung fanden. Denn schon drei Jahre später schien ihre „Verneuerung, Vermehr- und Veränderung dienlich und nöthig zu sein“. Es wurde daran erinnert, dass regelmäßig exerziert 59 Das Reichsheer bestand danach „vorwiegend aus Invaliden und Taugenichtsen“, Johannes Scherr, Deutsche Kultur- und Sittengeschichte, Ungekürzte Ausgabe, Bearbeitung: Wolfram Gramowski, Köln o. J., 405. Mit Ausnahme der Truppen einiger größerer Staaten war es ein „Zusammenfluß schlechterzogener Horden, in Schaaren vertheilt, die ein buntscheckiges Ganzes bildeten“, J. W. von Archenholz, Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland, 6. Auflage, hrsg. von Aug. Potthast, Berlin 1860, 41. 60 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 175 Bl. 92 f., 64. 61 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 175 Bl. 90 f.

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wurde. Damit die Garnisonmannschaft imstande war, sowohl im ordinären Dienst als auch sonst sich als Soldaten aufzuführen, sollte sie jede Woche zweimal in militärischer Übung unterwiesen und wirklich exerziert werden. Man habe beobachtet, dass diese Anweisung nicht befolgt werde. Schildwachen waren allerorts wohl zu bestellen und nachts zu visitieren. Der Kommandant und der ihm untergeordnete Leutnant sollten niemals beide gleichzeitig von der Festung abwesend sein. Schließlich sollte der Rentmeister dafür sorgen, dass die Soldaten monatlich richtig bezahlt wurden. Überall war Sparsamkeit angesagt. Um die Uniformen zu schonen, wurden im täglichen Dienst einfache Leinenkittel getragen, wie sie noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts in den deutschen Kleinstaaten üblich waren.62 Offenbar waren diese Kittel die tägliche Bekleidung selbst auf der Wache. Als 1709 eine neue Montur angeschafft werden sollte, schrieb Graf Kaunitz tadelnd an den Kommandanten, er verstehe nicht, wieso die Soldaten in Leinenkitteln auf die Wache zögen und damit dort eine „schlechte Soldaten-Figur“ machten, wo sie doch gerade dort „am meisten auf der Wacht pariren und angesehen werden müßten“.63 Leutnant Carlé bat aus dienstlichen und disziplinarischen Gründen darum, dass die Soldaten grundsätzlich auf der Festung übernachten sollten. Der Regierung waren die Aufwendungen für neue Unterkünfte jedoch zu hoch. So konnten die Soldaten weiterhin einer bürgerlichen Beschäftigung nachgehen. Sie genossen dabei Vorrechte wie die Befreiung vom Viehschatz.64 Einige von ihnen werden in den Kirchenbüchern als Hausbesitzer in der Stadt Rietberg genannt.65 In der Dienstanweisung für den Kommandanten von 1707 heißt es weiter: die Wache sollte von den Offizieren nicht zu Privatdiensten herangezogen, die Festungswerke sollten in gutem Stand gehalten werden. Alle Gastereien, Feiern von Hochzeiten und Kindstaufen in der Festung wurden „ernstlich“ verboten, auch die Logierung und Übernachtung fremder Personen. Die Fischerei in den Festungsgräben wurde den Soldaten untersagt. Die Festung sollte im Sommer spätestens 9 1/2, im Winter um fünf, sonst nach Entscheidung des Kommandanten geschlossen werden.66 Nachdem der südliche Flügel des Schlosses 1755 durch einen Brand zerstört worden war, kam es bald zu Diebstählen am Schlossinventar. Eine Auflistung der Einrichtungsgegenstände wurde angeordnet und dem Kommandanten schärfere Wache anbefohlen.67

62 Ein Beispiel bei Heinrich Ambros Eckert/Dietrich Monten, Das deutsche Bundesheer. Nach dem Uniformwerk aus den Jahren 1835 bis 1843, bearb. von Georg Ortenburg, Dortmund 1990, 369. Tafel 255. Fürstentum Schaumburg-Lippe. Infanterie. 63 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 131. 64 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 117. 65 Hanschmidt, Soldaten auf dem Rietberger Schloß 1738 – 1796. 66 LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 119 – 124. 67 LAVNRW W Archiv Rietberg Akten Nr. 1369 Bl. 340 ff.

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Über die Uniformierung und Ausrüstung ist wenig bekannt. Da die Paderborner Infanteristen 1734 blaue Röcke trugen und das Rietberger Kontingent dem Paderborner Bataillon zugeordnet war, könnte die Uniform ähnlich ausgesehen haben.68 Als die Kontingente der Kreisstände 1734 am Rhein eintrafen, kritisierte der General Graf v. d. Mark, dass sie sich vorher nicht einigermassen wegen der Montierung verglichen hätten. Da Leutnant Carlé „so viel darum“ bat, daß er sich keinen blauen Rock machen lassen dürfe, sind weiße Röcke nach österreichischem Muster deshalb wie auch bei den Paderbornern als Bekleidung zeitweilig nicht auszuschließen. Damit das Kontingent mit denen von Gimborn, Werden, Essen etc. gleich aussah, mussten für die Rietberger rote Halsbinden angeschafft werden und neue Gamaschen von weißer Leinwand, wobei aus Sparsamkeit die Knöpfe der bisherigen schwarzen wieder verwandt wurden. Auch von weißen Oberhemden war die Rede. Es wurde aber keine Order dazu erteilt. Die Offiziere sollten ein scharlachrotes Kamisol mit goldenen Tressen doppelt besetzt tragen. Kamisol und Hosen entsprachen denen der anderen Kontingente. Zum Schutz des Landfriedens wurden die kleinen westfälischen Kreisstände im 18. Jahrhundert kaum mehr herangezogen. Entsprechende Einsätze in Siegen 1707, im Schaumburg-Lippischen 1787, dem Aachener Verfassungsstreit 1786 – 1792 und den nach Ausbruch der französischen Revolution entstandenen Unruhen in Lüttich und Stablo fanden ohne Rietbergische Kontingente statt. Brandenburg-Preußen, Kurpfalz, Kurköln und Münster führten die Exekutionen mit ihren Truppen durch. Nachdem die Intervention in Frankreich gescheitert war, die Revolutionsarmeen auf Speyer und Worms vorrückten und Mainz einnahmen, bemühten sich Preußen und Österreich um möglichst schnelle Hilfe des Reiches. Am 23. November 1792 wurde durch Reichsgutachten die Zahlung von 30 Römermonaten und Aufstellung des Triplums für Ende Februar 1793 in der Gegend von Kassel angeordnet. Auf dem Kreistag stritten die Stände um Ermäßigung und Befreiung der Ansätze, um Vertretung, die Neutralität der Stadt Köln u. a. Einige waren gar nicht erst erschienen. Ein geschlossenes Kontingent des Kreises konnte nicht mehr aufgebracht werden. Der Graf von Rietberg zahlte als Beitrag 1793 – 1795 100 fl. je Mann, beschwerte sich aber über die Höhe. Als 1795 zukünftig 240 fl. für den Mann verlangt wurden, blieb als Alternative nur die Stellung des Kontingents in natura. Eine Zahlung überstieg die Kräfte der Grafschaft, die zudem wegen ihrer Lage den häufigen Durchmärschen preußischer, hannöverscher und hessischer Truppen ausgesetzt war. So wurde das Kontingent mit großer Mühe eingerichtet und stand im April 1795 marschfertig bereit, was sogleich dem Reichsgeneralkommando mit der Bitte um Angabe der Marschroute angezeigt wurde. Die Antwort verzögerte 68

Die Gudenushandschrift zeigt einen paderbornischen Grenadier aus dem Jahre 1734 im Lager von Heilbronn in blauem Rock mit roten Aufschlägen, blauer Weste oder Kamisol und blauer Hose. Manuscripta ad militiam spectantia, Generallandesarchiv Karlsruhe Hfk-HS Nr. 105, Hans Bleckwenn, Reiter, Husaren und Grenadiere. Die Uniformen der kaiserlichen Armee am Rhein 1734 (Die bibliophilen Taschenbücher 125), Dortmund 1979.

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sich um Monate. Inzwischen überschritten die Franzosen den Rhein, nahmen Düsseldorf in Besitz und fassten in Westfalen Fuß. Preußen, Hannover, Hessen, Osnabrück und das Direktorium des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises erklärten sich nach dem Baseler Frieden vom 5. April 1795 für neutral. Der Abmarsch des Rietberger Kontingents zur Reichsarmee war unmöglich geworden. Graf Kaunitz entschloss sich deshalb nach Rücksprache mit der Wiener Staatskanzlei die 125 Mann starke Rietberger Kontingentsmannschaft ohne Waffen und Offizier als Rekruten an die österreichische Armee abzugeben. Sie sollten dem Kaunitzschen Infanterieregiment eingegliedert werden. Nach Beendigung des Krieges sollten sie als gewesene Kapitulanten nach Hause entlassen werden, Invaliden ihre Verpflegung aus der Rietberger Soldatenkasse erhalten. Falls eine weitere Kontingentsaufstellung erforderlich wurde, sollte die Grafschaft verschont bleiben und von den 125 Mann jährlich 20 in Abschlag gebracht werden. Hofrat Pelizäus schrieb am 22. Januar 1796 an den Grafen, es sei gerecht und billig, dass einige hundert Mann, „die ohne allen Nachtheil und zu ihrem eigenen Nutzen wohl abkommen könnten, dem freiwilligen Soldatendienst Sr. Kk Majestät dargebracht“ würden. Er gab zu erwägen, dass der Landmann durchaus keine Neigung zum Soldatendienst habe, die jungen Leute sogleich außer Landes und besonders in das Paderbornische flüchten würden, wo sie bei dem rebellischen Volk alle Unterstützung fänden, schließlich eine öffentliche Übergabe der bereit stehenden 100 wohlexerzierten Soldaten an einen kaiserlichen Offizier gewiss als Verkauf von Untertanen angesehen und viele Verwünschungen zur Folge haben werde. Dennoch empfahl er auf den Vorschlag einzugehen, unter der Bedingung, dass die Mannschaft in einer Gruppe ohne alle Ausrüstung, von dem inzwischen zum Leutnant aufgerückten Ernst Christoph Born bis Höxter begleitet, dort von der kaiserlichen Garnison übernommen werde und fortan zusammenbleibe. Ein förmlicher Vertrag mit dem Hofkriegsrat wurde am 20. Januar 1796 geschlossen. Nach dem Basler Frieden war jedoch auf die Demarkationslinie Rücksicht zu nehmen. Zunächst sollten deshalb die Rekruten in aller Stille in Detachements von je zehn Mann durch einen kaiserlichen Offizier abgeholt werden. Dann aber kamen Bedenken, dass dieses einen schlechten Eindruck auf die jungen Leute machen könne, die beisammen bleiben wollten.69 Ende März nahm ein kaiserlicher Offizier die Mannschaft in Empfang. Von den 125 Mann wurden nur 78 als diensttauglich befunden, einer entwich auf dem Marsch. Außerdem wurden unter ihnen noch zwei Deserteure aus kaiserlichen Regimentern entdeckt und ihren Einheiten wieder zugeführt. Das Reichsgeneralkommando legte den Vertrag so aus, als handele es sich bei den 125 Rekruten um ein Geschenk und forderte die Gestellung des Kontingents bzw. Zahlung. Aus dem Hauptquartier des Generalfeldmarschallleutnants Graf Karl von Erbach in Mainz wurde folglich die Kontingentsbeihilfe für das dritte Kriegsjahr 69

LAVNRW W Archiv Rietberg, Ak Nr. 1356 Bl. 30 f., 44 f.

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angemahnt. Die Regierung in Rietberg konnte jedoch darauf hinweisen, dass sie die Beiträge für die Jahre 1793 und 1794 vollständig und für 1795 bis zum 10. August pflichtgemäß entrichtet hatte.70 Das Rietberger Kontingent wurde 1796 dem kaiserlich-königlichen Infanterieregiment Kaunitz-Rietberg Nr. 20 des Grafen Franz Wenzel Kaunitz eingegliedert. Mit diesem haben die Soldaten an den Feldzügen in Süddeutschland, in Italien und Mähren sowie schließlich in Frankreich teilgenommen. Über ihr weiteres Schicksal ist ebenso wenig bekannt wie über das der Soldaten der Schlossgarnison. Im April 1802 entschied der Landesherr, Fürst Dominikus Andreas von KaunitzRietberg, das Schloss Rietberg abbrechen zu lassen. Die Garnison wurde zunächst noch beibehalten, bis Napoleon die Grafschaft Rietberg durch Dekret vom 18. August 1807 der Souveränität des Königreichs Westphalen unterwarf. Am 5. April 1808 erhielten ein Feldwebel, ein Korporal, Tambur und neun Gemeine als letzte Soldaten der Schlosskompanie ihren Abschied. Viele vom ehemals Rietbergischen Militär fanden sich danach in einer bedrängten Lage. Um zu helfen, forderte der Unterpräfekt v. Elverfeld aus Paderborn am 14. Mai 1808 vom Rat Pelizäus in Rietberg eine Liste mit Namen, Rang, Dienstalter, Familienstand. Sie wurde schon am folgenden Tag abgesandt und enthielt die Namen von 24 Personen, darunter den des Leutnants Born.71 Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.

70 71

LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 48 – 55, 11, 46. LAVNRW W Archiv Rietberg, Akten Nr. 1369 Bl. 424, Nr. 1377.

1761 in der Grafschaft Mark Aus den Papieren des Emmanuel de Croy¨ Von Leopold Schütte, Münster Wenn sich ein westfälischer Landeshistoriker mit dem Schwerpunkt „Mittelalter“ an Friedrich den Großen heranmacht, wird man ihm Einiges nachsehen müssen. Nach langjähriger Erfahrung als Kollege des zu Ehrenden am ehemals preußischen Staatsarchiv Münster besteht aber die dringende Vermutung, dass er, der seinerzeit für die brandenburgisch-preußische Grafschaft Mark zuständig war, einen Beitrag über einen bedeutenden Mann der Gegenseite, den als französischer General in derselben Grafschaft „wirkenden“ Emmanuel de Croy¨ und über einige Quellentexte mit märkischem Lokalbezug aus dessen Nachlass zu würdigen weiß. Es ist nicht beabsichtigt, hier eine Darstellung des Jahres 1761 im Westen, d. h. der Pläne der Franzosen und der Abwehr durch den von dem mit England in Personalunion verbundenen und mit „Preußen“ verbündeten Hannover operierenden Ferdinand von Braunschweig zu geben. Es sind vielmehr einige, von Juni bis Juli 1761 in der Hand des französischen Generalleutnants Croy¨ zusammengekommene und von ihm aufbewahrte Papiere, deren archivische Verzeichnung im Jahr 2013 den Blick auf dessen kurzes Kommando in der Grafschaft Mark gelenkt hat1. Neben den durch die Veröffentlichungen in den Jahren inzwischen in Auszügen bekannten „Tagebüchern“ des Emmanuel de Croy¨ (1718 – 1784), dessen Nachkommen heute im Münsterland (Dülmen) als Herzöge von Croy¨ ihre Heimat haben, sind große, nicht erschlossene Teile seines Nachlasses für die Forschung bislang nicht berücksichtigt worden. Dieser besteht vor allem aus Sammlungen von Dokumenten zur Zeitgeschichte, Politik und zu mehreren Wissenschaften, ferner aus Korrespondenzen und eigenen Ausarbeitungen Croy¨s, der als hoher Offizier und Truppenführer zwischen 1740 und 1763 mehrfach in Deutschland war.

1 Diese Nachlasspapiere sind von Februar bis Juni 2013, wegen der anstehenden Digitalisierung unter Zeitdruck und ohne die Möglichkeit genauerer Inhaltsanalysen, im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts, Paris (DHI) mit dem nicht restlos geeigneten Programm „Augias“ im Archivamt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) durch den Autor verzeichnet und durch das DHI ins Internet gestellt worden: http://www.archive.nrw.de/LAV_ NRW/jsp/findbuch.jsp?archivNr=451&id=2158&tektId=365. – Zu den veröffentlichten Auszügen aus den Tagebüchern: Anm. 7 u. Anm. 15. Bei den unten zu den abschriftlich wiedergegebenen Originaltexten angegebenen D-Nummern handelt es sich um die Numerierung der zu der Verzeichnungseinheit Nr. 175 automatisch entstandenen Digitalisat-Nummern.

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Die großen Schlachten des Siebenjährigen Krieges sind im Osten geschlagen worden. Österreich und Rußland waren die Hauptgegner, gegen die sich Friedrich, zunächst König in, dann seit 1772 von Preußen2, mit persönlichem Einsatz und als befähigter Schlachtenlenker – auf eigentlich verlorenem Posten – behaupten musste. Männer aus Westfalen, insbesondere aus der seit 1609 brandenburgischen Grafschaft Mark sowie aus Kleve, Minden und Ravensberg waren als Untertanen des Königs unter dem Namen „die Preußen“ an diesen Schlachten beteiligt3. Der Westen blieb unbedeckt und wäre den auf Seiten der Österreicher am Kriege beteiligten Franzosen ohne Gegenwehr ausgeliefert gewesen, wenn nicht eben diese Franzosen an einem direkten Eingreifen im Osten hätten gehindert werden müssen. Dies geschah unter der Führung des „preußischen“ Generalleutnants Ferdinand von Braunschweig mit hannoverschen, britischen, und hessischen Truppen, nachhaltig unterstützt durch die vorzügliche schaumburg-lippische (bückeburgische) Artillerie (les Piquenbourg) mit wechselndem, auf die Dauer aber nachhaltigem Erfolg4. In den Jahren 1760/1761 war die Basis der französischen Truppen der Niederrhein mit Düsseldorf und Köln (Marschall Soubise) und das Rhein-Main-Gebiet mit Frankfurt (Marschall Broglio). Eine Vereinigung er beiden für einen anschließenden Vorstoß gegen Hannover war entlang von Diemel, Ruhr und Lippe denkbar und wurde versucht. Sie wurde u. a. durch mehrere (knappe) Siege Ferdinands, u. a. bei Vellinghausen in der Nähe von Soest am 15./16. 7. 1761 über zahlenmäßig überlegene Franzosen unter den beiden konkurrierenden und nur ungern einvernehmlich handelnden Marschällen verhindert5. Wesentliches Kennzeichen der Kriegführung im Westen war das gegenseitige Beobachten und die Suche nach Geländen, in denen man sicher sein konnte, einem Angriff standhalten zu können, und die Sicherung von Nachschublinien. Ständiges Ziel 2

Die Frage der staatsrechtlich richtigen Bezeichnung der Gesamtheit der der markgräflichbrandenburgischen Linie der Zollerndynastie unterstehenden Länder bleibt hier offen. Der Name „Preußen“ hat sich erst im Zuge der Demütigungen durch Napoleon und des Verlustes der westelbischen und (nachfolgend) großherzoglich-warschauischen Gebiete „eingebürgert“. Der dauerhafte Gewinn der Weichselmündung mit Danzig – später „Provinz Westpreußen“ – und des Ermlandes – später zur „Provinz Ostpreußen“ durch die „Erste polnische Teilung“ im Jahre 1772 steht hier für die Idee, dass die Redintegration des Bistums Ermland in das alte Ordensland „Preußen“ zu der Bezeichnung „König von Preußen“ berechtigt. Die Lehnsbindung des (ab 1701) Königreichs Preußen (ohne Ermland) an Polen muss mit den Teilungen Polens 1772 – 1795 aufgehört haben. 3 Preußische Werbungen in Westfalen: Jürgen Kloosterhuis, Bürger, Bauern und Soldaten. Quellen zur Sozialisation des Militärsystems im preußischen Westfalen 1713 – 1803. Regesten. Münster (Staatsarchiv) 1992. Darin zur Grafschaft Mark für die Jahre 1757 – 1764: Nr. 57, 60, 61, 63, 67, 68, 224 (mit weiterführenden Angaben), 225. 4 Dazu Alwin Hanschmidt, Das 18. Jahrhundert, in: Wilhelm Kohl (Hrsg.), Westfälische Geschichte, Bd. 1, 41 – 644. 5 G. F. v. Tempelhoff, Geschichte des siebenjährigen Krieges (Anm. 6), Bd. 5, 204 – 210. Zwischen den beiden ehrgeizigen Marschällen herrschte ein ausgeprägter Dissens über die Art und Weise der Kriegführung. Dazu ebd., 211 ff. und (z. B.) 237.

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war der Besitz der Städte Dortmund, Soest, Lippstadt und Paderborn, die – wohl nicht zuletzt wegen ihrer Mauern – trotz wirksamer Artillerie immer noch Festungsqualitäten hatten. Eine detailiierte bis minutiöse Beschreibung der überaus verwickelten und – wegen der zu beachtenden Vorsicht – weitgehend chaotisch wirkenden Truppenbewegungen findet sich kaum in den großen, überschauenden Geschichtswerken, auch nicht in dem 12-bändigen Werk „Die Kriege Friedrichs des Großen“, wohl aber in einer bereits 1789 erschienenen Arbeit des englischen Generals Lloyd und den daran anknüpfenden Nachfolge-Bände von Tempelhoff6. Diese Arbeit ist geeignet, die Sammlung von Papieren des französischen Generalleutnants, Emmanuel prince de Croy¨, aus den Monaten Juni/Juli 1761 in einen Kontext zu stellen und einzuordnen. Croy¨ ist in jüngster Zeit in Deutschland durch die von Hans Pleschinski unter dem Titel „Nie war es herrlicher zu leben. – Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croy¨“7 in Auszügen übersetzten und herausgegebenen Lebenserinnerungen bekannt geworden. In diesem – durch die Auswahl der übersetzten Textteile – erheblich schöngefärbten Buch fehlt bezeichnenderweise jeder Hinweis auf Situationen, die von Croy¨ selber alles andere als „herrlich“ angesehen worden sind: Ein dicker, ungeordneter Aktenfaszikel mit losen Papieren (Nr. 175 in dem etwa 380 „Verzeichnungseinheiten“ umfassenden Nachlass Croy¨s trägt von seiner Hand und in seiner Orthographie die Aufschrift Lettres pendant le commandement sur le Roer en juin et juillet 1761, lesquelles servent à se rappeller les mouvements, peines continuels et les événemens multipliés de ce temps-là. Croy¨ – mehr Verwaltungsmann mit umfassenden wissenschaftlichen Interessen als Militär – hat neben 41 je etwa 4 cm dicken, ausdrücklich für die Nachwelt verfassten journaux ,Tagebüchern‘ mit insgesamt etwa 8000 Blatt im Folio-Format, die Pleschinski für die 400 (Druck-)Seiten seines angeblich „geheimen Tagebuchs“ benutzt hat, noch eine siebenbändige „Histoire Naturelle“, eine vierbändige „Histoire“ seines Schlosses „l’Hermitage“ bei Condé (an der Grenze der seit 1714 österreichischen Niederlande, heute Belgiens), einen bis 2013 unbenutzten und nicht erschlossenen Nachlass mit ungefähr 10.000 Blatt an Notizen, Ausarbeitungen, Entwürfen, Stellungnahmen und sonstigen Schreiben aller Art sowie Karten, Zeichnungen, Ta6

„Die Kriege Friedrichs des Großen“ (12 Bände mit je umfangreichen Kartenteilen und einem besonderen Kartenband) sind herausgegeben vom „Großen Generalstab“. Berlin 1901 – 1913. Georg Friedrich v. Tempelhoff, Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland zwischen dem Könige von Preußen und der Kaiserin Königin mit ihren Aliirten als eine Fortsetzung der Geschichte des Generals Lloyd von G. F. v. Tempelhoff, Königlichem Preußischen Obersten bei dem Feld-Artilleriekorps. Fünfter Theil, welcher den Feldzug von 1761 enthält. Berlin 1794. – Zu Lloyd und Tempelhoff: Kurt Peball, Einführung zu Georg Friedrich von Tempelhoff, Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland. – Neudruck der Ausgabe 1783 – 1801, Bd. 1, Osnabrück 1977. 7 Hans Pleschinski (Hrsg.), Nie war es herrlicher zu leben. – Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croy¨ 1718 – 1784, 3. Aufl. München 2011.

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bellen – kaum regelrechte „Akten“ – hinterlassen8, deren Inhalt sich weitgehend, aber keineswegs durchweg in den journaux findet. Die Familie, die sich nach dem Ort Crouy im französischsprachigen Hennegau / Hainaut nennt, gehört zu denjenigen, die durch die Abtretung des Reichsgebiets links des Rheins an Frankreich im Frieden von Lunéville im Jahr 1801 und den daraufhin 1803 erfolgenden Beschluss über die Auflösung des Reiches souveräne Herrschaftsrechte verloren hatten und mit Teilen der säkularisierten geistlichen Fürstentümer in Deutschland abgefunden wurden. An die Croy¨ gelangte als Grafschaft der größte Teil des zum ehemaligen Fürstbistums Münster gehörenden Amtes Dülmen. Mit der Grafschaft ist den Croy¨ das Merfelder Bruch zugefallen. Dort lebt die gößte mitteleuropäische Herde von – seit dem Mittelalter immer wieder erwähnten – Wildpferden. Sie gehören heute dem Herzog von Croy¨. Dadurch ist der Name Croy¨ in Westfalen und – darüberhinaus – Pferdeliebhabern weltweit bekannt. Emmanuel duc de Croy¨, prínce de Solre, einer von 12 im Jahre 1783 ernannten maréchaux de France, gehörte zur höchsten Gruppe französischer Adliger, zu den pairs des Königs9. Seinem Sohn wurde im Jahre 1803 die Grafschaft Dülmen zugewiesen10. In Dülmen sitzen die westfälischen Croy¨ heute. Sie haben dort ein Archiv, das neben den örtlichen auch die Akten über die sonstigen, durchweg in Nordfrankreich und im heutigen Belgien liegenden Besitzungen und wesentliche Familienakten umfasst11 – darunter den Nachlass des Emmanuel von Croy¨, geboren 1714, der kurz vor der französischen Revolution im Jahre 1784 nach einem Leben als verdienstvoller Militärmann, Verwaltungsbeamter und einflussreicher Hofmann verstorben war. Die ererbten Besitzungen der Familie im heute größtenteils belgischen Hennegau lagen damals in den von Wien aus regierten habsburgischen Niederlanden, die zum Deutschen Reich gehörten. Es handelte sich also nicht um selbständige Territorien, sondern um Adelsgut mit Steuerfreiheit und eigener Gerichtsbarkeit und allem, was sonst noch an Rechten dazu gehören kann, aber ohne souveräne Herrschaftsrechte. Als „Reichsterritorium“ und damit als Grund für die Entschädigung galt lediglich eine kleine Herrschaft an der Maas aus dem Erbe der dem dynastischen Adel angehörigen Familie von Myllendonck12. Das zeigt schon, dass die familiären Bindungen der Croy¨ diese der Ebene einer herausgehobenen Adelsschicht mit der Möglichkeit des Besitzes eigener Herrschaf8 Alles im herzoglichen Archiv in Dülmen, benutzbar über das Archivamt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). Die journaux dort nur in Abschrift nach dem Original in der Bibliothek der Académie Française in Paris. 9 pairs von latein. pares ,die Ebenbürtigen, Standesgleichen‘. 10 Über die genauen Umstände dieser Abfindung und Besitzantretung berichtet Manfred Wolf in der Westfälischen Zeitschrift 137 (1987), 127 – 157. Gegen das Ergebnis seiner strengen Argumentation sind Vorbehalte angebracht. 11 Gabriel Wymans, Inventaire des archives des Ducs de Croy, Brüssel 1977. 12 Detlef Schwennicke, Europäische Stammtafeln XVIII, Frankfurt 1998, Bl. 109 – 115.

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ten zuwiesen13. Wirklich hatte die Familie in Laufe ihrer Geschichte zeitweilig die Reichsgrafschaft Chimay und die französische Grafschaft Solre innegehabt, beide im wallonischen Teil Belgiens und Nordfrankreichs. Einzelne Mitglieder der Familie trugen den Titel duc, der in der deutschen Form Herzog noch heute den Croy¨ in Dülmen zusteht. Dieser Titel, duc, wurde in Frankreich vom König verliehen und hatte unter diesen Umständen eine andere Bedeutung als bei den erblichen Herzögen aus oft königlichem oder diesem gleichrangigem Geblüt, die sich nach großen französischem Landschaften wie Aquitanien, Burgund, Lothringen, Normandie oder Bretagne nannten. Emmanuel von Croy¨ war sich des hohen Ranges seiner Familie sehr bewusst. Er hat mit Nachdruck und Erfolg Wert darauf gelegt, dass sein Sohn sich mit einer Frau aus souveräner Familie verband. Zufällig sind die Salm, damals Reichsfürsten, heute noch oder wieder Nachbarn der Croy¨ in Westfalen14. Croy¨ war nun nicht nur seiner familiären Herkunft und seinen Dienststellungen nach ein hervorragender Mann, sondern er hat diesen Vorgaben glänzend entsprochen und ihnen bewusst und aktiv nachgelebt. Davon zeugen seine – nicht veröffentlichten – nachgelassenen Schriften. Die 41 Foliobände seiner Tagebücher sind zum Teil im Druck vorgelegt15 und immer wieder als wichtige Quellen für die Geschichte Frankreichs und Europas in den 50 Jahren unmittelbar vor der französischen Revolution von 1789 herangezogen worden. Das Jahr 1789 bezeichnet für bestimmte Bereiche der Geschichte Frankreichs und Deutschlands und weiter Teile Europas das Ende des Mittelalters und den Beginn der Neuzeit. Ein Blick auf die letzten Jahre davor kann einen Eindruck vermitteln von den Entwicklungen, die unaufhaltsam auf ein Aufbrechen alter politischer, wirtschaftlicher und sozialer Strukturen zusteuerten. Neben den ausformulierten, ins Reine abgeschriebenen Tagebüchern gibt es nun noch einen bislang ungeordneten und nicht ausgewerteten Nachlass, der für den Alltag und für die umfassenden Interessen Croys, weil ungefiltert, aufschlussreich ist. Durch diese Papiere erweist er sich Croy¨ als perfekter Verwaltungsmann und als an der Politik, an den sozialen Verhältnisse, den Staatsfinanzen, an allen Natur- und Geistes-Wissenschaften, insbesondere an der Geographie, Geologie, Mathematik, Biologie, der (im Gange befindlichen) Entdeckung der Erde, der Astronomie, auch der Theologie interessierter und aktiv (schreibend) teilnehmender Mann16, 13

Georges Martin, Histoire et généalogie de la Maison de Croy, 2. Aufl. Lyon 2001. Monika Lahrkamp, Die französische Zeit, in: Wilhelm Kohl (Hrsg.), Westfälische Geschichte. Bd. 2, Düsseldorf: Schwann, 1983, 1 – 43; Karte 11. – Wolfgang Bockhorst (Bearb.), Adelsarchive in Westfalen. Kurzübersicht. (Vereinigte Westfälische Adelsarchive e. V., Veröffentlichung Nr. 9), 3. Aufl. Münster 2012, 19 (Anholt) u. 81 (Coesfeld). 15 Emmanuel Henri de Grouchy und Paul Cottin, Journal inédit du Duc de Croy¨ 1718 – 1784, Paris 1906 und 1907. 16 Im Krieg korrespondierte er über die im Gange befindliche mit Triangulation großer Partien von West- und Mitteleuropa: D-86 – 89 / 1760 – 61. – Und während der Vorbereitung 14

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der seinem Militärberuf vor allem als Organisator, weniger als Truppenführer gerecht geworden ist17. Nur einmal musste er sich während der zwei Monate seines Kommandos an der Ruhr 1761 als „Feldherr“ bewähren, und nicht ohne Grund ist er – anders als Soubise und Broglio – nicht in die Geschichtsbücher eingegangen. Quellen Aus dem bislang unbenutzten Nachlass sind hier einige Stücke ausgesucht worden, die auf die militärische Rolle/Funktion Croy¨s im Jahre 1761 ein Licht werfen. Sie werden unten möglichst buchstabengetreu abgedruckt18. Nach sorgfältiger Ausbildung und langjähriger Bewährung als Offizier, u. a. als maréchal de camp, Standortkommandant in der Nähe seiner Heimat, im camp d’Aimerie, das nach seiner Lage auch als camp de la Sambre bezeichnet wird, und zahlreichen schriftlichen Arbeiten zur Lagerverwaltung, Truppenführung, Manöverplänen, Küstenverteidigung zwischen Boulogne und Dünkirchen, begleitende Dokumentation des für Frankreich desaströsen Krieges gegen England in Amerika und Indien wird ihm Im Februar 1761 der Oberbefehl über die den Vormarsch Soubises logistisch und militärisch sichernden Truppen sur le Roer übertragen. Für diese, den Krieg im Westen unter Umständen durchaus entscheidende Aufgabe war eine relativ starke Truppe unter dem zeitweiligen Komando Emmanuels de Croy¨ als lieutenant général abgestellt19. Die entsprechende Bestallung liegt – leider schlecht erhalten – vor20. Croy¨ bekommt von Soubise, der schon seit Beginn des Krieges 1756 immer wieder in Deutschland ist, dementsprechend die Verhältnisse genau kennt und offensichtlich über gutes

des Vormarsches in die Grafschaft Mark wird ihm ausführlich (3 Bl.) über den passage de Venus vor der Sonne berichtet: Nr. 175, D-99 / 1761 06 15. 17 Das zeigen die zahlreichen Schriftstücke, Zeichnungen, Tabellen, Manöverpläne, die er während seiner Ausbildung zum Offizier und als als maréchal de camp ,Lagerkommandant‘ angefertigt, erhalten und gesammelt hat. 18 Diese Absicht war angesichts von z. T. sehr individuellen Schriften zahlreicher französischer und deutscher Schreiber, deren oft eigenwilliger Orthographie und manchmal unsicheren Sprachkenntnissen nicht immer zu verwirklichen. Um die Texte einigermaßen lesbar zu machen, sind Zusammenschreibungen von Worten aufgehoben, Apostrophe – wo notwendig – eingefügt worden (Jay Lhonneur > J’ay l’honneur) und Akzente, wo sie – ununterscheidbar oder irreführend – gesetzt waren, nach heutiger Orthographie eingerichtet worden. Die überaus häufigen Versalschreibungen sind nur am Satzanfang, bei Namen und bei einigen Titeln (Monsieur le Prince oder Mon Général) beibehalten worden. – Die Interpunktion ist nur ergänzt, wo es für das Verständnis des Textes notwendig schien. Originaltexte werden recte, Zusätze, Kommentare, Erläuterungen des Bearbeiters kursiv wiedergegeben. Bei Auslassungen und zweifelhaften Kürzel-Auflösungen werden eckige Klammern [] verwendet. Nachträge über der Zeile oder am Rande sind durch *…* gekennzeichnet. Sichere Auflösungen stehen in runden recte-Klammern (), Zusätze des Bearbeiters in kursiven runden Klammern (). Zusammenschreibungen von Wörtern sind aufgehoben, Apostrophe werden, anders als fehlende Akzente, ergänzt, undeutbare Akzentzeichen im Original nach heutiger Orthographie korrigiert. 19 Vgl. G. F. v. Tempelhoff, Geschichte des siebenjährigen Krieges (Anm. 6), 193. 20 Findbuch- bzw. Verzeichnungs-Nr. 311, darin D-13.

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Kartenmaterial verfügt21, vorab bewundernswürdig präzise Anweisungen, die alle Eventualitäten – solange es nicht zu einer regelrechten Schlacht kommen würde – und sogar die „innere Führung“ berücksichtigen, indem er dem Ehrgeiz und der Verantwortungsbereitschaft der Offiziere mit Bemerkungen über deren „selbstverständlich verantwortungsvolles und selbständiges“ Handeln schmeichelt. 176 D-2 / 1761 06 07? – a Dusseldorff ce 8 Juin 1761 Instruction pour M(onsieu)r Le Prince de Croy L(ieutenan)t Gen(er)al M(onsieu)r Le Prince de Croy etant destiné a commander le Corps de Troupes qui reste dans la Communication du Rhin a L’armée, il a paru nécéssaire a M(onsieur) Le Marechal de Soubise de le premier a de l’instruire des objets suivants. La Brigade de Boccard composée de six Bataillons viendra camper ou cantonner le 10. a la volonté de M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy près de Dusseldorff il voudra Bien en envoyer Lordre a M(onsieu)r le Baron de Traverse, ou joint ici l’instruction que M(onsieur) le P(rin)ce de Croy voudra bien lui remettre, elle le mettra au fait des objets dont sera chargé M(onsieu)r de Traverse, des differentes escortes, qu’il doit faire fournir par sa Brigade des Convois qu’il doit Escorter dont il est personellement chargé, et de la direction du premier. Quant au second qui doit partir le 18. de Dusseldorff, il sera conduit par M(onsieu)r de Castella et escorté par Le Regiment de Reding, on instruira alors M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy de la marche de l’armée. La Brigade de Bouillon se rendra le 14. de ce Mois a Mulheym et Stirum où elle recevra les ordres de M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy, elle sera conduite par M(onsieu)r de la Morliere; six cent hommes de Fischer dont on joint ici l’état se trouveront le 10. dans les différents points dont est convenu M(onsieu)r Le P(rin)ce de Croy avec M(onsieu)r de Fischer. Le Regiment du Roy Cavalerie arrivera le 13. a Dusseldorff. Le Regiment Des Salles, Moutiers et Lusignan y arrivera le 18. Ils seront aux ordres de M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy qui leur donnera ceux qu’il jugera le plus convenables relativement a l’objet dont il est chargé. On croit devoir prévenir M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy du mouvement du corps qui est en avant de Dusseldorff et qui reste aux ordres de M(onsieu)r de Chevert. Le 10. il se rassemblera a l’exception de la Brigade suise aux environs de Kalkum. Le 11. a Brouck vis avis Mulheim. Le 12. sejour. Le corps de Conflans [Koblenz] qui sera le 9. a Hattingen a ordre de faire retablir tous les ponts du Roër depuis Hattingen en le remontant jusqu’a Swiert et de pousser des detachements jusqu’a Arnesberg. Le 13. il passera le Roer et fera partie du corps de M(onsieu)r de Chevert. On previent M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy que le 14. il partira de cologne des /4/ constructeurs des vivres pour aller a Balve y rassembler les matériaux nécéssairs pour y construire des fours opérations qu’ils commenceront le 18. un détachement du corps de Conflans en faisant pas partie de celui qu’on sacire[?] a[?] M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy a ordre de se rendre le 16. a Balve pour y protéger ce travail et a assurer en meme tems le dépot de biscuit qui se fait a Lunschede, il s’y[?] déchargera le 18. ainsi que M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy le verra par l’instruction de M(onsieu)r de Traverse.

21 Der Name „Wemmeren“ für „Hemer“ lässt sich nur anhand der genannten Nachbarorte identifizieren. Er stammt von einer (im Archivamt in Münster vorhandenen, Croy¨ bekannten) Südwestfalen-Karte.

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On a donné ordre de de reparer les chemins depuis Cologne jusqu’a Balve et il y a des officiers de l’etat major employés a ce travail Il y en a d’autres employés a reparer les chemins depuis Dusseldorff jusqu’a Solingen Il faudra faire continuer ce travail depuis Solingen, Elverfeld, Schoelm [Schwelm] et Hagen jusqu’a Overick [„OverEyk“22], ou il y a un pont sur le Roer que M(onsieu)r de Fischer fera retablir. Ce sera vraisemblablement la le chemin que prendra le second convoi23. Si l’armée s’est avancée, le troisieme convoi sera tiré de Cologne, on en instruira alors M (onsieu)r le P(rin)ce de Croy et on le dirigeroit par Balve a Arensberg. Ou le premier qu’il arrivera de France le 17. a Dusseldorff une comp(agn)ie de Royal Piedmont qui aura besoin de quelques jours de repos et une de Choiseul dragon le 25. Sur le compte qui sera un du de leur situation, il sera envoyé des ordres a M(onsieu)r le chevalier de Groslier, et M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy pourra s’en servir pour escorter des convois qui joindront l’armée, on le préviene aussi qu’on laisse 80, dragons de Royal dont les chevaux sont eclopés qui pourront quand ils seront rétablis servir pour le meme objet. Voila en général tout ce qu’il est possible de dire a M(onsieu)r Le P(rin)ce de Croy sur la position qui va prendre l’armée sur la direction des convois, sur les troupes et les moyens, qu’on lui laisse pour les couvrir et en assurer la marche jusqu’a l’armée. Il parroit que le 15. M(onsieu)r Le P(rin)ce de Croy pourra faire replier les ponts du Bas Roër, cette communication devenant inutile a l’armée. On n’entre dans aucun détail sur les mouvements que son corps peut avoir a faire, il connoit le pays et certainement il ne negligera aucune précaution pour assurer la communication dont il est chargé. M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy voudra bien instruire regulierement M(onsieu)r le Marechal des lieux ou il ira a fin qu’il puisse lui addresser ses ordres et l’informer exactement de ses mouvements et de ceux des ennemis. On prévient M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy que les[?] M(onsieu)r le Comte d’Andlau qui commande sur le Bas Rhin et qu’il se tiendra a Cologne, M(onsieu)r de Groslier a Dusseldorf, M (onsieu)r de Langeron a Wesel. Ce sera a eux qu’il devra s’addresser pour les differentes parties, qui seront dependant de leurs départements. On ne parle pas des arrangements de pain pour le corps aux ordres de M(onsieu)r le P(rin)ce de Croy, il fera ceux qui lui conviendront avec les principaux commis des vivres qui sont a Dusseldorff et Cologne quant au fourage il fera vivre ses troupes des magazins de Roy tant qu’il ne s’en eloignera pas baucoup[!], et quand il ne pourra pas, il vivra de celui qui se trouvera dans le pays en donnant des reçus. Im Auftrage von: Le M(onsieu)r P(rince) de Soubise Unmittelbar anschließend findet sich in demselben Schriftstück eine Anweisung Soubises für den Croy¨ unterstellten, aber mit ihm „auf Augenhöhe“ verkehrenden und weitgehend selbständig handelnden baron de Traverse, der an anderer Stelle als Kommandant einer Brigade Suisse erkennbar wird und dem Range (der Funktion) nach maréchal de camp war. Auf ihm lastete die 22

Overeyk bei Herdecke. In welchem Zustand die Straßen in Südwestfalen waren zeigen die späteren Bemühungen, sie grundlegend zu verbessern. Dazu (mit Quellen, Gutachten, Karten u. a. ab 1717) Alfred Bruns (Bearb.), Die Straßen im südlichen Westfalen. (Veröffentlichungen aus dem Archiv des Landschaftsverbandes, Bd. 1). Münster 1992. 23

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undankbare Aufgabe, riesige Versorgungskonvois, z.B un convoi de 1340 voitures dont 400 du Brabant, mit Karren von als Fuhrleute gepressten und entsprechend unzuverlässigen paysans zu organisieren und die Transporte mit Soldaten zu begleiten. Die Transporte dienten zugleich dazu, die Territorien von Verbündeten, hier das kurpfälzische Herzogtum Berg, mit der Aufbringung von Nahrungsmitteln möglichst zu verschonen. Dies und die übrigen Schriftstücke sind entnommen aus dem etwa 500 Blatt umfassenden Faszikel 17524, der sonst fast ausschließlich Einzelblätter enthält. Bei diesen handelt es sich meist um Schreiben von Untergebenen, Vorgesetzten, Informanten aller Art und um einigen Zusammenstellungen und Notizen von Croy¨ selbst, darunter auch ein eigener Bericht über das einzige größere Gefecht (mit etwa 40 Verwundeten und Gefallenen) an der Ruhrbrücke bei Westhofen (3 km von Schwerte) Es schälen sich einige Themen heraus, zu denen hier einige Stücke ausgesucht worden sind, die nach Möglichkeit Schlaglichter auf die Art und Weise einer – ohne Frontlinien – beweglichen und ständig durch den Mangel an zuverlässigen Kommunikationsmitteln und durch fehlende oder verspätete Informationen behinderten, mehr lauernd-abwartenden Kriegführung werfen sollen. Der Verbindungsweg der Franzosen vom Niederrhein nach Osten in Richtung Hessen führte entweder über die bequeme und fest in französischer Hand befindliche märkische Ennepe-Straße ins Ruhrtal und dann ruhraufwärts über Brilon ins Diemeltal oder aber – direkter und besser geschützt gegen Überfälle der für Friedrich kämpfenden Truppen unter dem befähigten Ferdinand von Braunschweig durch das unwegsame märkische und kölnische Sauerland – von Köln über Wipperfürth, Lüdenscheid ins Lennetal bei Werdohl und dann über Balve und Hüsten (Ruhr) nach Arnsberg und weiter nach Osten. Auch die Möhne und selbst Winterberg werden in den Papieren erwähnt. Gleichzeitig musste die Ruhr nicht nur als West-Ost-Verbindung, sondern auch für den Zugang nach Dortmund, Soest und Lippstadt so gesichert werden, dass Angriffe abgewehrt werden konnten, sie aber kein Hindernis für den Übergang von Süden her war. Croy¨s Truppen waren war längs der Ruhr zwischen Werden und Arnsberg in Kettwig, Hattingen, Herbede, Herdecke, Schwerte, Menden und Hüsten verteilt. Croy¨ selbst hielt sich vorübergehend an allen diesen und anderen Orten auf oder hatte Offiziere dort (z. B. Hohenlimburg, Iserlohn, Hemer). Er ordnete, gab – oft auf der Basis von weitgehend unsicheren Informationen – Befehle, ordres, die sehr häufig erst durch Schreiben der Untergebenen über Boten angefordert wurden, dann erteilt, vermittelt und ausgeführt werden mussten. Das konnte Tage dauern. Die Anwerbung und Unterhaltung von (nieder-)deutsch sprechenden Spionen war eine dringende Erfordernis, die aber zusätzliche Unsicherheiten mit sich brachte. Die nachfolgend in enger Anlehnung an die Vorlagen abgedruckten oder referierten Schreiben, Berichte, Informationen usw. zeichnen kaum zusammenhängende Aktionen nach, zeigen aber zahlreiche Situationen, die zum Teil erschreckend banal und alltäglich sind und zu der Frage führen, wie vor 250 Jahren überhaupt ein Krieg hat geführt werden können. Eine buchstabengetreue Wiedergabe konnte in vielen Einzelfällen nicht sicher gelingen, da die Schriften zum Teil sehr flüchtig, oft sehr „persönlich“ sind25. Leser mit muttersprachlicher Kompetenz im Französischen werden Texte, die – nicht nur im Digitalisat – unleserlich oder 24

Für den weder sachlich noch chronologisch innerlich geordneten Sammel-Faszikel mit der Verzeichnungsnummer 175 ist durch die Blatt-für-Blatt-Digitalisierung keine Ordnung, jedoch eine auch für die online-Nutzung gültige Zählung (hier: D-Nummern), entstanden. 25 Eckige Klammern mit Punktereihe: [….]. – Weitere Wiedergaberegeln: Anm. 20.

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unverständlich erscheinen, oft aus dem Kontext erschließen oder ergänzen können. Gleiches gilt für Kenner der Militärgeschichte des Siebenjährigen Krieges. Ihnen werden auch Personennamen insbesondere als Unterschriften, sofern sie nicht mehrfach vorkommen, leichter lesbar sein. Deutsche Ortsnamen sind trotz ihrer gelegentlich „französierenden“ Lautgestalt fast immer erkennbar26.

1. Allgemeine Lage und Planung Ausgangspunkte der französischen Unternehmungen im Jahr 1761 waren Frankfurt und Düsseldorf. Ziel war die Vereinigung der französischen Armee unter Soubise und Broglio im oberen Weser-Gebiet zum Vorgehen gegen Hannover. Croy¨s Basis war zunächst Düsseldorf unter Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz, der als Parteigänger des Kaisers Verbündeter Frankreichs war. Seine Länder, ausdrücklich die Grafschaft/Herzogtum Berg als Durchmarschgebiet nach Westfalen, werden nach Möglichkeit geschont. Croy¨ selbst erstellt Ende Mai 1761eine Art „Gutachten“ über die Sicherheit des Platzes Düsseldorf vor Angriffen.

a) Düsseldorf D-185 / 1761 05 29 – de Derendorf le 29. may 1761 Dispositions en cas d’attaque dans les cantonnements One ne pourroit être attaqué que par Duisbourg a la gauche; par Ketweik [Kettwig] et Verden [Werden] au centre; ou par la droite du coté d’Hattingen vers Medman Tout le terrein[!] qui est entre Rattingen et Kalkum est inondé et coupé de façon qu’il est absolument inabordable. Pour la partie de Duisbourg M(onsieur) de Viomenil27 a bien fait ses dispositions pour être averti et pour garder depuis le Rhin jusqu’a Brouck [Broich] qui est un bon poste bien gardé par un officier du R(é)g(imen)t de Conflans. M(onsieur) le Ch(evali)er de Levis, qui est a Angermunde, et M(onsieur) de Beaujeu, qui est a Kalkum, se sont concertés avec lui pour soutenir toute cette partie en cas d’attaque. En cas de retraite le R(é)g(imen)t d’Orleans qui est a Goltzheim [zu Düsseldorf] et le long du Rhin entreront a Keyserwert, ou soutiendroit suivant le besoin, la brigade de la Marck tiendroit a Kalkum et le long du ruisseau de Schwartzbac; toutes les brigades de la droite viendroient appuyer derriere la cavalerie auroit un beau terrein dans la plaine et cette position est trop bonne pourqu’on puisse y être attaqué, surtout garnissent Kalkum et Keyserwert d’artillerie et metttant du gros canon de l’autre coté du Rhin pour prendre en flanc, tous les chemins d’Angermunde et Kalkum allant sur Rattingen sont gardés, barrés et impraticables. Sur le centre, par Sarren [Saarn] Ketweik [Kettwig] et Verden [Werden] Cequi viendroit par là seroit longtems arreté par les dispositions que les dragons ont prise pour soutenir les postes du reg(imen)t de Conflans. La riviere est débordée, tout ce pays est coupé et impraticable a l’artillerie et a la cavalerie, et un gros corps ne peut parvenir sans cela en attaquer un aussi considerable. Cependant la brigade de la Reine a reconnu tous ces 26 27

Viele Namen sind offensichtlich Karten entnommen und dementsprechend „richtig“. Vgl. G. F. v. Tempelhoff, Geschichte des siebenjährigen Krieges (Anm. 6), 235.

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points pour soutenir les dragons a Heigerscheidt [Eggerscheidt] Homberg [zu Duisburg] et surtout les débouchés, ils sont convenus de tout; en cas de retraite, le chateau derriere Ratingen feroit le point de raliement ainsy que les hayes et fossés impraticables qui sont dans cette partie et on se garderoit le grand chemin de Ratingen a Dérendorff le seul praticable a présent pour la communication. Le reg(imen)t de St. Maurin barre par la gauche le long des ruisseaux impraticables et a trois bons postes bien gardés. Le pays de Raden [Rahm], Ratingen et environs n’est qu’une mer. Par la Droite du coté de Hattingen Ce pays est tres difficile et impraticable a présent a l’artillerie, cependant comme il est un peu moins inaccessible que le centre, s’est là que M(onsieur) le Comte d’Apehon fait sa disposition de concert avec M(onsieur) Fischer pour le soutenir et rassembler les dragons. M(onsieur) de la Tour du Pin est convenu d’un point de raliement en avant de Medman qui barre tous les défilés. M(onsieur) de Travers avec la Brigade Suisse se portera suivant l’attaque sur la droite ou sur la gauche de Medman barrant les défilés des hauteurs. La Brigade de Touraine seroit en reserve pour se porter ou le besoin l’exigeroit. Comme l’ennemy ne pouveroit faire en même tems des attaques aussi séparées, les autres brigades couleroient successivem(en)t pour s’entreaider. Enfin cette position ne paroissant pas susceptible d’être attaquée en voila plus qu’il n’en faut a ce sujet. Mais l’on fait de plus un détail particulier pour chaque partie. Pour exercer Tout le pays est si serré et inondé quìl est très difficile de mettre plus de 2 battaillons ensemble a moins de faire faire beaucoup de chemin aux troupes par de très mauvais défilés. Die Routen durch das Sauerland wurden auf diese Weise gesichert. Zentraler Punkt – etwa auf der Mitte zwischen Lüdenscheid und Arnsberg – war Balve, das immer wieder erwähnt wird. Am 18. Juli wird von [Major] Fischer die Reparatur der vom „Feind“ nur abgedeckten, nicht wirklich zerstörten Brücken und le rétablissement des fours ,Backöfen‘ in Balve für dringlich erachtet. Fischer war einer der besonders treuen und zuverlässigen Offiziere Croy¨s. Er ordnet – auf eigene Faust? – eine Patrouille nach Winterberg ab mit dem Ziel, eine Verbindung zu dem in Hessen vorrückenden Broglio herzustellen. Auch Hohenlimburg, an der Lenne, auf dem Weg von der Ruhr und von Hagen nach Altena und Werdohl, gehörte zu den Plätzen, deren Besitz sich empfahl, zumal das Schloss durch seine Lage und seinen Bau gute Qualitäten als Festung besaß. Der Bericht über die Besetzung und die danach getroffenen Maßnahmen ist detailliert und entsprechend, z. B. für die Wasserversorgung durch Holzröhren, aufschlussreich.

b) Hohenlimburg D-029 / 1781 06 30 – Au chateau de Hohenlimbourg le 30 Juin 1761 Monseigneur Je suis entré dans le Chateau de Hohenlimbourg sur les une heure du matin. J’y ay pris sur le camp toutte les dispositions que j’ay crû les plus nécessaire pour m’y déffendre selon les ordres que vous m’avez fait l’honneur de m’envoyer. J’ay fait prendre dans la ville trois cents livres de grain qui est tout ceque j’ay pû ramasser et quatre vaches dont j’en ay

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fait tuer une aujourdhuy la viande étant dû a ma trouppe outre cela il m’est arrivé ce matin du village Veblingvere [Wiblingwerde] deux cents livres de pain, deux veaux d’un an estimé a deux cents dix livres et quarante livres de boeur dont pareil nombre de Hohenlimbourg aux quels je ne feray cependant point toucher que dans un besoin presssant. Il doit encore m’arriver d’un autre village environ deux cents livres de pain, moyenant quoy je m’en trouverais approvisionné pour sept jours et en viande pour pris de trois semaines il ne me manque que des cartouches mes soldats n’ayant que trente coups chacun a tirer. Si vous jugés, mon Prince, que je suis dans le cas d’en avoir besoin de d’avantage, je vous priray[!] de vouloir bien m’en faire passer par Beque [Bechen?] lorsque j’en seray pourvû. Je me fais fort en augmantant mon magasin de pain dettenir icy s’il le faut plus de quinze jours quand bien meme les ennemis auroient du canon a moins qu’ils ne m’attaquassent avec un corp considérable qui escaladeroient mes murs de tout coté, cequi est fort difficille par ce qu’ils sont trés haut; le bourgemestre de Hohenlimbourg m’a offert de m’envoyer de la biere que je prendray mais a laquelle je ne toucheray point a moins que, Mon Prince, vous n’en ordoniez autrement ou que l’eau ne me manque au chateau ce qui peut ariver par cequ’elle icy est conduitte que par des cannaux de bois qui viennent de dessus la montagne voisine a pres d’une demie lieu. Je suis avec un profond respect, Monseigneur, Votre très humble et trés obeissant serviteur – Greffier de la Grave Weit entfernt von konkreten Informationen äußert sich, am Schluss mit eigenen Bitten und Stellungnahmen, der Chef der Schweizer Brigade, Traverse28, in Hattingen über den Vormarsch der großen französischen Armeen und macht Vorschläge zur Besetzung der Ruhrlinie. D-103 – 105 / 1761 06 18 – a Hattingen le 18 Juin a 10 h(eu)res du soir Mon Prince Je viens de recevoir la lettre que vous m’aves fait l’honneur de m’ecrire le soir; l’armée doit etre arrivée aujourdhuy a hauteur de Lutkdortmundt [Lütgendortmund], voila cequ’on m’en a mandé, je juge qu’on marchera demain pour aller prendre poste à Dortmundt où il y a de bonnes positions, et qu’on y restera jusqu’a ceque l’armée de Broglio soit en mesure. M(onsieur) le ma (réch)al de Broglio ne partira de Francfort qu’apres demain à ceque nous a dit un courier qui en arrivoit et qui a passé icy aujourd’huy il n’arriveroit à Giessen un corps de 25000 hommes qui etoit party des bords du Main ainsy je doute que la partie de Lunschede ait été protégée dès le 18 ainsy qu’on vous l’avoit annoncé, et je persiste à penser qu’il seroit bien possible que les ennemis troublassent cet établisssement; M(onsieur) De Castries à ce qu’il me mande n’a recu qu’aujourd’huy la lettre que je luy ay écrit de Dusseldorff et dans laquelle je luy touchois vn mot à ce sujet. Comme jl est arrivé icy ce matin le dètachem(ent) de 40 hommes de Conflans que vous aviés à Ketwick, et que je seroy demain party d’icy avant que celuy des autres cent hommes dont vous me parlés ne puisse y être rendu j’ay dit au capitaine de prescrire de ma part à celuy qui commanderoit le tout de laisser 60 hom(m)es icy, lequels devoient se retrancher à la tete du pont; d’en mettre 40 à Herberden [Herbede] pour déffandre également ce pont, et d’en tenir en reserve 40 a Blankenstein qui formeroient le point central d’où l’on pourroit se porter sur l’vne ou l’autre des deux parties selon le besoin; si vous jugés à propos de changer quelque chose à cette disposition, vous voudrés, mon Prince, avoir la bonté d’envoier vos ordres et je crois que le point est assès 28 Zur Beteiligung Schweizer Einheiten vgl. G. F. v. Tempelhoff, Geschichte des siebenjährigen Krieges (Anm. 6), 240.

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intéressant pour qu’un de ces premiers jours, vous veniés vous meme examiner leur établissement et y donner vos ordres; Si j’étois à votre place je mettrois dans le chateau d’Hattingen au moins vn bataillon le plus promptant qu’il me seroit possible attendu que c’est icy le seul pont de la Roäre [Ruhr] qui puisse suporter[!] des gros canon, et que les débouchés d’icy étant gardés il en résulte la sureté du convoy de Hagen qui sans cela pourroit être troublé: je crois que l’objet de cette droite est plus important que celuy de la garde du bas Roäre, attendu qu’a vüe de païr nécéssairement on ètablira ses communications de Dusseldorff par Swiert. M(onsieur) D e*ngé*[d’Engé?] est arrivè icy ce soir; je luy ay fait donner vn lit au chateau. Il est lepremier qui m’ait apres que des ennemis eussent passés le Rhin. Vous vous ressouviendrés que chés m(onsieur) le chevalier de Groslier j’avois prévu que cela arriveroit. Vous me demandés, mon Prínce, mes reflexions, Je ne puis vous en faire d’autres que celles dont je me suis ouvert à vous dans votre jardin de philosophe près de Dusseldorff. Recevés les assurances du sincère et respectueux attachement avec lequel j’ay l’honneur d’etre, Mon Prince – Votre trés humble et trés obéissant serviteur – de Traverse In diesen Sachkontext gehört auch der folgende, erst nach dem Gefecht bei Westhofen vorgelegte Plan der Truppenverteilung an der Ruhr. D-291 / Schwerte 1761 07 08 A la premiere fourniture il faudra fournir pour onze bataillons de Grenadiers Royaux a Swiert quatre escadrons de cavalerie Il n’y aura plus qu’un battailon et 2 regimens de Cavalerie a fournir a Brouck a moins qu’un demi ba(taill)on de plus n’y reste. A Hattingen un ba(taill)on et un demi ba(taill)on de détachement et 100 maitres. A Vesthoven et Pont de Herdicke la valeur de 2 ba(taill)ons Entre Vesthoven et Swiert les deux ba(taill)ons de Bouillon ou un autre. Les Volontaires de l’armée de Campfort.29 Vn petit dépot pour les passagers et malades a Hagen Nota, a l‘avenir c’est par Hagen, Limburg e delà au pont de Swiert que le plus gros passera.

2. Informationen, Spione Die Beschaffung von zuverlässigen Nachrichten über das Vorhandensein und die Bewegungen (mouvements) der feindlichen Truppen und – auch – die der eigenen (französischen), von Frankfurt und von Köln/Düsseldorf vorrückenden Armeen war für die Entscheidungen des Kommandeurs der in deren Hinterland und zu ihrer Versorgung operierenden der Truppen an der Ruhr und für ihre zeitliche Koordination von großer Bedeutung. Dafür war jedes Mittel und jede Gelegenheit recht. Jede – auch noch so belanglos scheinende – Information wurde eingefordert und begrüßt. Schwierig war in vielen Fällen die Beurteilung des Grades der Glaubwürdigkeit der Nachrichten und ihrer Überbringer. Gelegentlich widersprachen sie sich geradezu. Ein wirklich brauchbares System ließ sich, nicht zuletzt wegen mangelnder Sprachkenntnisse, nicht entwickeln oder gar einrichten. Die immer wieder, auch über weite Entfernungen aus29

Vgl. G. F. v. Tempelhoff, Geschichte des siebenjährigen Krieges (Anm. 6), 235.

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gesandten Patrouillen dienten einerseits der Demonstration von Präsenz, waren andererseits aber auch verräterisch, wenn sie von dem im eigenen Lande sich sicherer bewegenden, sprachlich kompetenten Feind beobachtet wurden.

a) Eigene und feindliche Spione D-191 / 1761 06 09 – Verden [Werden] le 9 juin 1761, a 4 heures du soir Mon General J’ay l’honneur de vous rendre compte de la patrouille que j’ay faite ce matin avec ving cinq hommes partant de Verden [Werden] pour aller a Boucom [Bochum]. Jusqu’a Boucom je n’ay rencontré aucune espece d’ennemi, arrivé prez de la ville je me suis informé d’un postillon d’Ouisbourg[! – Duisburg?] s’il y avoit dedans quelque troupe. Il ma repondu que non. Alors je me suis avancè jusqu’a la porte de la ville ou j’ay trouvé [?] deux dragons ennemis qui la gardaient sur lesquels ma troupe a fait feu. Alors toute la patrouille s’est retiré en grande hatte elle etoit composé de quince hommes. Je les ai suivi autant qu’il ma été possible; on dit qu’il y a eu un cheval, un dragon et l’ordonnance de Schetter. J’ay arreté un homme qui ma paru espion sur le signalement que j’en avais. Il etoit a une portée de fusil de la patrouille ennemie: Vos ordres deciderent ce que vous voulez que feu fasse. J’ay l’honneur de vous envoier aussi le nom des espions que vous m’aviez demandé, Celuy de Verden se nomme Gerard Koffman, cely de Stell [Steele] Herman Talhaus. Celuy qui vous porte ma lettre se nomme Jean Dethon. Il a servi dans notre corps dont il a un bon congé. Je puis vous l’asseure[r] comme … bon et il me parait fidele. Les deux autres je n’en ay encore aucune nouvelle. Je ne vous dis rien de plus de celuy in vous fera son raport luy même; il merite que vous le recompensiés au dela des autres. J’ose vous prier de me continuer vos bontés. Je suis avec respect, Mon general, votre obeissant serviteur – Anthony

b) Informationsdefizite D-120 / 1761 06 15 – a Wesel ce 15 juin 1761 a 11 h(eures) 1/2 du matin Graces a vos bontés, mon prince, je sais ou il y a quelques françois. le secret est si bien observé qu’aucun grand n’a daigné me dire la marche de l’armée. Un petit m’a dit. Holt, Essen, Dortmund. J’ai ecrit des depeches importantes, j’ai eu pour reponse un reçu datté du quartier general. Ce nom n’est pas sur ma carte. Le 13. au soir de P(rince) hereditaire etoit dans son camp de Nottelen ignorant notre marche. Le 14. a 11 h(eures) du matin ses executions etoient à Borken. Je le crois en marche et j’espere pouvoir vous le mander demain en addressant ma lettre a m(onsieur) de la Morlierre[!] a Duysburg. J’ay icy 24 piquets fesant a peu prez 1100 vilains, 2 compagnies de Royal Pologne harassées. 24 volont[aires] de Clermont pour garder son dépot. Le reg(imen)t de Damas Cavat’ [caval(ier)?] Morveux arrive a present a Burick [Büderich linksrhein. bei Wesel]. Voila le vray voyez ce que je peux vous donner. Il y a apparence que les troupes legeres ennemies vont passer la Lipp aujourdhuy pour savoir ou nous courrons. Si vita[?] tandis que l’armée de Broglio ne sera en mesure que le 25. au plus-

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tot. Je ne laisserai pas passer un seul homme par la rive droite de Rhin. Tout ira par la rive gauche passer a Essenberg [linksrhein. bei Duisburg] et gagner Duysburg. De Duysburg vous pouvez envoyer des lettres que vous me ferez l’honneur de m’ecrire a [de?] Rhenberg [Rheinberg] d’ou les ordonnances que j’ai établi vous les apporteront je me servirai des cette voye pour vous envoyer les nouvelles que j’attend. Je vous renouvelle, mon prince les assurances de mon respect – Langeron

c) Bericht eines ausgesandten Spions D-337 / 1761, nach 06 19 2000 Mann in Dortmund, mais aussi un corps de 10000 hommes campés derriere Dortmund, et que 100 housars noirs etoient partis pour aller du coté d’Hattingen et d’Herbede. Qu’il avoit aussi vn gros corps de Scheider qui marchoit la nuit, mais qu’il ne savoit pas de quel coté Ils avoient passé. Auch über die Bewegungen der großen französischen Armeen gab es keine verlässlichen Nachrichten. An der am Hellweg und an der Lippe operierenden Armee unter Soubise war der Prince Héréditaire oder (gleichbedeutend?) die Maison du Roy, d. h. der künftige König Ludwig XV., beteiligt. Croy¨ ist auf Berichte angewiesen, die seine Entscheidungen und Reaktionenn nachhaltig beeinflussen konnten. Besonders nach dem für ihn unerwarteten und „nur mit Glück“ gut ausgegangenen Gefecht bei Westhofen hat er – für sich selbst oder für (unbekannte) Addressaten – neue Überlegungen und Bestandsaufnahmen niedergeschrieben oder -schreiben lassen.

d) Nachrichten über die Position der französischen Armee unter Soubise D-119 / 1761 06 20 – a Erbedé [Herbede] le 20 juin, le soir a 8 heures Position de notre armée a Marten doit être le Quartier General a l’autre coté de Stockum sur la bruiere et par les champs jusqu’a Dorstfelde de l’occident a l’orient de deux cotés et sur la droite vers Eicklinhoven et sur la gauche vers Euspel [Öspel] et Lutgendortmond est campée l’armée. a Euspel sur la bruiere est campée la plus grande partie de la cavallerie. a Langentreer campe la Maison du Roy. Mon Prince voilà les Nouvelles de la position de notre armee, que je viens d’apprendre, par quelques paysans travailleurs, qui en reviennent. J’ay l’honneur d’etre avec un profond respect, Mon Prince, Votre trés humble et tres obeiss (an)t serviteur – Pian De[?] van d[en?]Bossche Auf welch labilen Füßen die Beschaffung von zuverlässigen Informationen über Feindbewegungen stand, zeigt ein Papier des Chevalier de Carbonneau vom 9. Juli: Einheimische paysans werden für die Feindbeobachtung eingesetzt.

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e) Westfälische paysans als Feindbeobachter D-349 / 1761 07 09 – a 1 heure apres minuit le 9 Instruction pour le bourgemestre de Schwert pour fair porter trois paisans en auant scauoir un par Aplerbeck, un autre sur la gauche d’Aplerbeck ou il y a un grand chemin qui donne sur Dortemund, un troisieme paisan se postera dans le bois sur le grand chemin d’Unna. Il est ordonne a m(onsieu)r le bourgemestre de se conformer aux ordres que je lui donne de la part de m(onsieu)r le ch(evalie)r de Longaunay authorisé par m(onsieu)r le prince de Croy pour que les 3 paisans se postent dans les lieux indiqués et executent auec promptitude les ordres que le bourgemestre leur donne de scauoir des nouvelles de l’ennemy il est deffendeu aux paisan, sous peine de la vie de donner des fausses nouuelle[s] ny de faire courir des bruits qui tendissent a une allarme Les paisans rendront tout ce qui leur aura esté dit et le tout sera marque dans le 1 2 3 article de cequ’il pourra y auoir de nouueau. Le ch(evalie)r de Carbonneau premier article deposition du paisan qui s’est posté a Aplerbeck il assure y a estre arriué par les 4 heures du matin et apres auoir regardé dans les uillage si il y auroit du moindre il s’est ínformé depuis quand le corps de Scheiter en estoit party on lui a dit qu’il s’estoit rendeu a Braken [Brackel?] pour diriger la marche le lendemain sur Luynen [Lünen] second article deposition du paisan qui s’est posté sur la gauche d’Aplerbeck ou il y a un grand chemin qui donne sur Dortemund. Il confirme la mesme nouuelle troisieme article deposition du paisan qui s’est poste sur la droite d’Unna dans les, bois il dit auoir parcouru sous les bois et n’y auoir rien uu.

f) Widersprüchliche Nachrichten D-280 / 1761 07 13 Rapport d’un frere quitteur du couvent de dominicains de Dortmund connu[?] particulierement de l’aumonier du regiment de Longaunay; il est parti de Dortmund hyer a trois heures après midi arrivé hyer au soir a six heures et a couché avec l’aumonier. Il confirme qu’il n’y a aucune trouppe dans Dortmund ny aux environs, qu’il n’a paru aucun hussard et qu’il n’y a paru que quelques patrouilles du corps de Chettre [Scheither]; il croit que l’armée du prince Ferdinand est du costé de Ham et dit que c’est l’opinion de toutte la ville, que le corps de Chettre nest plus a Brakel qu’il est en partie a Kamen et une autre partie au dela de la Lippe, qu’il passe pour constant dans Dortmund que ce corps a reçu l’ordre de marcher a [Dren-] Steinfurt et a Ham. Cette deposition detruit absolument l’avis que reçut hyer M(onsieur) le prince de Croy qu’il y avoit huit cent hussards noirs dans Dortmund et que les ennemis sembloient en vouloir a Schwerth je me tiendray neantmoins sur mes gardes et j’auray l’honneur de faire part a m(onsieur) le prince des nouvelles que je recevray des differents costés et particulierement de celuy d’Una [Unna] et de Verle [Werl]. a Schwerth ce 13 juillet 1761 a neuf heures – le ch(evalie)r de Longaunay

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Il y a eu vendredi huit jours que les princes Ferdinand et hereditaires ont couché deux nuits a Dortmund dans la maison que javois occuppé un capitaine catholique au service de Brunswick

3. Transporte, Versorgung Ein wesentlicher Teil der ein- und ausgehenden Korrespondenz Croy¨s betraf logistische Probleme: Versorgung der eigenen, etwa 1000 Mann umfassenden Truppe und der marschierenden französischen Armeen mit Lebensmitteln, die Requirierung und Bereitstellung von Transportgeräten, und des einheimischen – in der Regel unwilligen und auf jeden Fall unzuverlässigen – Begleitpersonals für Wagen und Zugtiere. Diese wurden der Landwirtschaft entzogen, wodurch die Not der Bevölkerung verschärft wurde. Zwar sollte – wenigstens in den „verbündeten“ bergischen und kölnischen Gebieten – alles bezahlt werden, doch erfolgte – die Bezahlung oft nicht unmittelbar, sondern geschah durch Gutscheine, die erst später eingelöst werden konnten. Auch der Transport der großer Mengen ausgemünzten Geldes war schwierig und erforderter besondere Bedeckungsmaßnahmen zum Schutz gegen kaum sicher vorhersehbare Angriffe hannoverscher „Freicorps“ wie das des listenreichen Majors Scheither, der den Franzosen unter Croy¨ Anfang Juli das schwere Gefecht an der Westhofener Brücke aufzwang. Brot (pain, biscuit) und Reis (ris) scheint das einzig zulässige Grundnahrungsmittel gewesen zu sein. Als sensationell scheint angesehen worden zu sein, dass „der Feind“ angeblich Gemüse (légumes) gegessen haben soll. Die folgenden Stücke geben einige Einblick in Art und Umfang dieses mühseligen Geschäfts, das eine erhebliche Über- und Umsicht bei fehlenden Informationen und immer unter der Bedrohung durch unvorgesehene Ereignisse erforderte.

a) Versorgungsschwierigkeiten D-332 f. / 1761 06 23 – du chateau de Cliff pres d’Attingen [Haus Kliff bei Hattingen] La personne que j’avois envoyé a Dorsten et Haltern, m’a rapporté, qu’il etoit arrivé Samedy 300 hommes tant de la Legion Britannique que du corps de Scheider, et des Piquenbourg [Bückeburg] a Dorsten. Il en sont partis le meme jour et se sont portés sur le village nommé Bour [Buer] et de Bour, revenus sur Dorsten, d’ou ils se sont retirés dimanche a neuf heures du matin, l’on imagine qu’ils croyoient tomber sur quelques equipages qu’ils contoient trouver dans cette partie, n’appercevant rien ils se sont retirés. Voila tout ce qui j’en ay appris, l’on dit aussy que notre armé doit avoir eu une petite affaire du coté de Lune [Lünen]. voila tout ceque j’en sais. Je suis accablé icy par le fourniture des chevaux d’ordonnance que je livre et qui ne me reviennent pas, d’ou ne les renvoye pas. Le pain vient de m’arriver dans le moment de Dusseldorff et j’ay pris cequi me revenoit et j’acquiteray en nature ceque l’on m’a livré et me remette au[?] au courant des subsistances. J’avois fait accord avec un boucher de la ville et il m’est arrivé de Dusseldorp un homme qui est chargé de cette partie, qui a approuvé ce que j’ay fait et est allé s’arranger avec *le boucher* [über gestr. Croy] a Attingen;

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pour le payement; au moyen de quoy tout est en ordre, il n’y a que l’histoire de fourager, qui me chagrine, le passage es si considerable par raport aux vivres, que si cela continue que je ne sçais ou ils fourageront. Je suis avec respect, mon general, votre tres humble et tres obeissant serviteur Strequart command(an)t

b) Brotversorgung D-345 / 1761 07 06 Les escortes continueront de conduire jusq’a Lunschedé. C’est a Lunschede que les commandants d’escorte doivent se fournir de pain il y a des fours pour cela en s’adressant a M(onsieur) Guismar Inspecteur des vivres, c’est la l’ordre que j’ay signé de M(onsieur) de Peyre. M(onsieur) le chev(alie)r de Langaunay donnera tout a l’heure 100 hommes de battaillons postiches du pont pour escorter 80 voitures de paysans vuides qui iront le 4. a Iserlohn et le 5. a Lunschede pour y charger tout de suite le pain pour trois battaillons sçavoir deux de Bouillion et un de détachement, 2 escadrons de Moutier, pour les officiers généraux guides ordonnances ..[?] et la valeur de deux esscadrons de détachement il faut ajouter a cecy les domestiques et les officiers principaux et autres de tout cela, qui manquent en entier de pain, cequi fait en tout au moins 14540 rations. Ce convoi qui sera ramené par les memes 100. hommes partira s’il se peut le 6. de Lunchedé pour arriver le 7. au pont de Vesthoven. Nota. Il y a le reste du dépot de Hagen

c) Bedeckung eines Konvois aus Köln D-053 / 1761 06 09 – a Lunschede ce 29 Juin 1761 a une heure après minuit. Monsieur Je viens de recevoir un ordre de m(onsieu)r le Prince de Croy pour faire partir tout de suite un detachement de cent hommes d’icy pour l’escorte d’un convoy venant de Cologne. Le meme ordre porte de le faire couverir[!] plus loin et que je doive m’avanger avec vous Monsieur pour cet objet. Dans ce moment M(onsieu)r de Reinold vient de me communiquer une lettre par laquelle on lui mande que les ennemis avay [?] un Detachement assez considerable du Coté des Nehem et d’Arensberg. Je ne perd[s] pas un moment a vous faire part Monsieur de mes nouvelles et vous prie de me donner vos ordres sur ses diferents objets. Vous connoissez, j’espere Monsieur, la sincerité de mon attachement et le respect avec lequel j’ay l’honneur d’etre, Monsieur, Votre trés humble et trés obeissant serviteur Waldner Ch(evalie)r de l’ordre Teutonique

d) Ruhrübergänge: Brücken, Boote Der Besitz von Booten war – bei der kleinen Zahl der Ruhrbrücken – ein dringendes Erfordernis. Sie konnten für das Übersetzen von Patrouillen und Spionen und – möglicherweise – für die Anlage von Schiffsbrücken von Wichtigkeit sein. Vor allem durften sie nicht in die Hand des Feindes fallen. Gegebenenfalls waren sie zu versenken. Da z. T. der Handel von ihnen abhing, war die Bevölkerung von der Beschlagnahme der Boote erheblich betroffen.

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D-097 / 1761 06 18 – a Schwirdte [Schwerte] Mon Prince J’ay l’honneur de vous rendre comte que je suis marché la nuit de 16 au 17 a Dortmond, dont je me suis emparé et vers midy les uolontaires du Dauphiné et 4 bataillons de milice mon relevé et je suis venu a Schwirdt pour me porter sur la Leine [Lenne], proteger les convoy et faire faire retablissement des fours a Balve com(m)e les ennemis ont detruit les ponts sur le Roer et sur la Leine et qu’il n’y en a pas un seul sur aucun autre ruisseau je fais travailler a celuy du Roer a Vuigist [Villigst] par rapport je crois, qu’il est le plutot a raccom(m)oder, si s’y peux reussir, les poutres etant dans l’eau et les eaux etant extraordinairement debordees. Ma position icy est tres critique le Roer en cul et Unna n’est qu’a 2 lieues et demie d’icy ou les ennemis ont 8 escadrons tant des houssards noires et jaunes, et de la legion britannique, avec 2 bataillons de la meme legion, qui sont campé entre Unna et Kamen. Schwirdt est dans un fond, et tous les hauteurs sont contre nous, j’ay laissé en partant l’armée de reserve de mons(ieur) de Chevert a Lutke Dortmond celle du marechal a Langendreeren, mons(ieur) de Voyer a Gastorff [Castrop?]. Il est arrivé le 17 un ayde de camp du prince haereditaire[!] aux postes les plus avancé d’Unna. Le prince etoit le meme jour de sa personne a Ham(m), d’ou l’on l’a vu aller a Soest. Il y a entre Ham(m) et Soest autour de 8 a 9 mille ho(m)mes des anglois decampé, im(m)anqu [a]blement je juge que le corps du prince hae[re]ditaire viendra s’y joindre. Voila tout ce que je scais. Si j’apprends quelque autre chose digne de votre attention, j’aurai l’honneur de v le mander. Je vais pousser des patrouille vers Winterberg pour nous lier avec l’armee de Broglio. Je suis avec un profond respect, Mon Prince, Votre très humble et tres obeissant serviteur – Fischer Fischer bittet Croy¨, nicht zu antworten: Point de repons car je ne sçais ou elle [die Antwort] me trouvera. Si j’apprends la moindre chose, Mon Prince sera toujours averti. Vous pouvez vous tranquilliser sur votre droite. D-014 / 1761 06 22 – le 22 Juin 1761 Apres avoir visité le riviere nomme la Roer on a trouvé 1. à Herdicke un pont bien conditionné. On y peut, comme il me semble passer tant a pied que a cheval. On pourra [gestr. aussi en cas de necessité] *en toute*[?] sur cet pont faire transporter [gestr.:] *de la grosse* l’artillerie. [l’ nicht gestrichen!] 2. de Herdicke iusqu’a Wetter on a trouve cette riviere toute impassable. 3. aupres de Wetter se trouve un petit batteau et on a donné au bourgue-mastre l’ordre de l’abimer. 4. tout aupres on trouve aussi un pont miserable et mal conditionné seulement pour la communication de prairies y situés pour y pouvoir faire aller le betes a cornes. 5. ici se trouve aussi un moulin et un petit batteau. 6. au dessous de Wetter on a trouve aussi un petit batteau, et on a donne ordre de la transporter a Herbede. 7. De Wetter jusqu’a Witten on trouve de coté du Nord une bocage nommé Ardey et un fort petit hameau, que a un bateau pour s’en user a apporter du lait de l’autre coté. La patrolle[!] Hannoverienne allant de Witten a Wetter a passe souvent cet hameau.

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8. dans cet endroit on trouve un canal ou une branche de la Roer pour faire aller le moulin a Witten. Sur cet canal est aussi un petit pont a Witten. 9. le grand batteau a Witten est abimé par les les[!] Hanoveriens il y a trois *ou 4* semaines, et le kabel[?] est transporté a Camen. 10. a Herbede un lieu de Witten se trouve un petit pont sur le canal pour le moulin et un grand pont sur la riviere, mais touts[!] deux sont mal conditionné et la bagage et l’artillerie ne peut pas passer. Entre Witten et Herbede la Roer est impassable

4. Gefecht bei Westhofen Das schwere Gefecht bei Westhofen (Kampf um die Ruhrbrücke) war die einzige wirkliche militärische Herausforderung, die Croy¨ zu bestehen hatte30. Er verfügte an dieser Stelle über ein „aus 18 Bataillonen und 8 Schwadronen“ bestehendes „Korps“. Die angreifenden hannoverschen Truppen unter dem Major (von) Scheit(h)er hatten eine günstige Position im bergigen Gelände nördlich der Ruhr. Croy¨ hat die durch den Angriff entstandene Situation – seinem eigenen Bericht nach – mit Umsicht bewältigt, allerdings nicht wirklich „gemeistert“: Sie endete mit dem Rückzug der zahlenmäßig unterlegenen Angreifer. Seine Beschreibung des Gefechtsverlaufs ist in den Formulierungen diplomatisch-bescheiden. Er betont mit Recht, dass durch die Rettung des Ruhrübergangs der Nachschub (subsistances) für die Armee gesichert worden sei31. Materielles steht auch in dem Schreiben eines deutschen (westfälischen) Offiziers im Dienste Frankreichs im Vordergrund: Vietinghoff erwähnt zwar 40 Verwundete und Tote seiner Einheit, sorgt sich aber im Wesentlichen nur um die verlorenen Offiziersausrüstungen (équipages). Die Verluste der Hannoveraner sollen – nach dem Bericht Scheithers – nur 16 Mann betragen haben32. Croy¨ selbst – das ausdrücklich zu seiner notwendigen Ehrenrettung – hat sich vor und nach dem dem Krieg, wie seine Tagebücher und der übrige Nachlass ausweisen, als Lagerkommandant, Gouverneur – Sicherung der Nordküste gegenüber England – Beobachtung von Schiffsbewegungen im Ärmelkanal, und als hervorragender Verwaltungsmann sehr um das Wohlergehen der Soldaten und der Bevölkerung in seiner Heimat gekümmert33. D-250 / 1761 07 03 Relation du combat du pont de Vesthoven le 3. Juillet Le 3. Juillet a deux heures après midy j’ay été attaqué au pont de Vesthoven par un corps très superieur etant occupé a faire rompre ce pont.

30 Dieses Gefecht ist von Detlef Klimke mit viel Sachverstand in mehreren Artikeln in dem als Beilageblatt erscheinenden „Hagener Wochenkurier“ zunächst im Jahr 2011 behandelt worden. – Der Verfasser dankt Herrn Klimke, Hagen, für die Überlassung der Kopie einer jüngeren Version seiner kenntnisreichen Darstellung. 31 Vgl. G. F. v. Tempelhoff, Geschichte des siebenjährigen Krieges (wie Anm. 6), 193. 32 Klimke (Anm. 30) nennt diese Zahl. Er erörtert auch ausführlich die Frage der Stärke von „Bataillonen“ und „Schwadronen“. 33 Nachlass Croy¨, z. B. Nr. 44, 56, 72, 103, 115, 320.

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Comme le sort de toute l’armée pouvoit dépendre de cet evenement qui coupoit en deux toutes les subsistances et que je ne pouvois soutenir un si prodigieux alongement que par la plus grande vigueur nous fimes les plus grands efforts. Les ennemis ayant forcé les gués de tous cotés a la fois m’ont entouré de tous les cotès, l’attaque a été vive, longue et des plus singulieres. M. deVietenghoff a tenu d’abord malgré un feu superieur et plongé jusqu’a sa derniere cartouche au pont avec une fermeté qui lui fait le plus grand honneur ainsy qu’a son détachement. M. De la Morliere et moi avons soutenu avec le peu de piquets qui nous restoit d’Infanterie et trois de cavalerie et nous avons tenu a un feu croix et plongé de tous cotés pendant une heure. Pendant ce tems les ennemis qui avoient forcé les gués, car nous ne pouvions garder partout, nous entouroient de tous cotés absolument coupé jen’eus que le tems delui crier de gagne la montagne, et quoiqu’entouré, il a montré del’intelligence pour se tirer d’affaire. Nous fîmes alors plusieurs charges de cavalerie des plus vigoureuses. M. de la Morliere s’y distingua de la maniere la plus brillante, les trois troupes de cavalerie du Roy, surtout commandée par M. Defusée, de Royal Piedmont et Dessalles y firent des merveilles et culbuterent tous deux fois. Le Second Bataillon d’Horion qui nous arriva en courant d’une lieue loin dans le tems que les ennemis commencoient a douter du succès acheva de décider l’affaire en chargeant suivant mon ordre a coup de Bayonette, et ses charpentiers acheverent, les ennemis etant culbutés, de couper le pont malgré tout le feu de la hauteur tant de charges multipliées n’ont pu se faire sans quelque perte: nous regrettons surtout l’aide de camp de M. DeLa Morliere qui est blessé a mort. Mais cette affaire nous donnera peur être le moyen de soutenir le prodigieux alongement que [!] fait par les subsistances le salut de l’armée. Nach dem Gefecht bei Westhofen gab es neue Überlegungen bzw. Zustandsberichte über die Verteilung und die Versorgung (premiere fourniture) von (möglicherweise frischen) Truppen in der Grafschaft Mark – Einen Hinweis verdient die Erwähnung der malades, d. h. der Verwundeten nach dem Gefecht bei Westhofen. Wann, wie und warum Croy von seiner Aufgabe als Kommandant an der Ruhr entbunden wurde, geht aus der Sammlung (Faszikel 175) nicht hervor. Es ist nicht auszuschließen, dass er selbst Wert darauf gelegt hat, Unterlagen darüber nicht aufzubewahren, und eventuell sogar selbst um Abschied gebeten hat. Seine journaux, die für diesen Beitrag nicht herangezogen worden sind, geben vielleicht – wenigstens in Andeutungen – Auskunft. Seinen besonderen Fähigkeiten und Interessen ist er in den folgenden Jahren als angesehener Mann in seiner Heimat und in Paris nachgegangen. Die Ernennung zu einem der maréchaux de France 1783 war eine entsprechende Auszeichnung. Der Marschallstab ist heute noch im Besitz der in Dülmen lebenden Nachkommen.

Ein „Historisches Taschenbuch“ für Minden-Ravensberg 1767/68 Die Entwicklung der amtlichen preußischen Statistik im 18. Jahrhundert aus regionaler Perspektive Von Wilfried Reininghaus, Senden (Westf.) I. Vorüberlegungen zur Forschungsgeschichte und zum Stellenwert der historischen Statistik in der Landesgeschichte Wer sich mit der westfälischen Landesgeschichte des 18. Jahrhunderts befaßt, wird gerne auf die Ergebnisse der amtlichen preußischen Statistik zurückgreifen1. Sollte jemand in vergleichender Absicht mehrere Territorien behandeln wollen, werden er oder sie schnell die Unterschiede zu den nicht-preußischen Territorien feststellen. Zwar sind die Historischen Tabellen und die Fabrikentabellen nur mit gründlicher Quellenkritik zu benutzen, doch für die nicht-preußischen Territorien in Westfalen liegt nichts Vergleichbares vor. Für die geistlichen Territorien wie für die meisten kleineren Grafschaften, von Lippe abgesehen2, fehlen selbst elementare Daten wie verläßliche Einwohnerzahlen und Gewerbestatistiken. Erst für die Zeit nach dem Ende des Alten Reiches liegen, beginnend mit der ersten Bevölkerungszählung 1818, gesamtwestfälische Zahlen vor, die einer statistischen Methodenkritik standhalten3. Die Kluft zwischen preußischen und nicht-preußischen Territorien und den für sie vorliegenden statistischen Daten hatte weitreichende Folgen für die Landesgeschichte. Die preußischen Territorien wie die Grafschaft Mark und Minden-Ravensberg galten spätestens seit den Veröffentlichungen zur 300. Wiederkehr ihres Anfalls an Brandenburg-Preußen 1909 als Gebiete mit fortschrittlichem Gewerbe und einer für Fragen der Wirtschaft aufgeschlossenen Verwaltung, während insbesondere den geistlichen Territorien, den Bistümern Münster und Paderborn sowie dem köl1 Einen guten Forschungsüberblick bietet immer noch Alwin Hanschmidt, Das 18. Jahrhundert, in: Westfälische Geschichte, Bd. 1, hrsg. v. Wilhelm Kohl, Düsseldorf 1983, 605 – 685. Die jüngere Entwicklung bilanziert Wilfried Reininghaus, Das 18. Jahrhundert als Herausforderung an die westfälische Landesgeschichtsforschung, in: Westfälische Forschungen 62 (2012), 263 – 282. 2 Vgl. Herbert Stöwer (Bearb.), Lippische Landesbeschreibung von 1786, Detmold 1973. 3 Vgl. Stephanie Reekers/Johanna Schulz (Bearb.), Die Bevölkerung in den Gemeinden Westfalens 1818 – 1950, Dortmund 1952.

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nischen Herzogtum Westfalen, der Ruf des „Schlendrians“ anhaftete. Nicht zuletzt die zeitgenössische Publizistik trug zu dieser Divergenz bei. Ein Autor wie Justus Gruner, der bis in die Gegenwart gerne als Kronzeuge zitiert wird, verbreitete mit seinem Reisebericht von 1802 dieses Bild, freilich nicht ohne Nebenabsichten4. Denn auf dem Plan stand die mögliche Einbeziehung der übrigen westfälischen Territorien in den preußischen Staat. Als Reaktion auf das Zerrbild von den geistlichen Staaten sind diese – nicht zuletzt wegen der Forschungsaktivitäten zur 200. Wiederkehr der Säkularisation im Jahr 2003 – jüngst gründlicher erforscht worden. Am meisten wurde in jüngster Vergangenheit über das Herzogtum Westfalen gearbeitet, aber auch zu Münster und Paderborn liegen neuere Studien und Quellenveröffentlichungen vor, die viele neue Aspekte aufzeigen und das alte Zerrbild zu überwinden helfen5. Freilich war nicht nur das überkommene Urteil über die geistlichen Staaten zu revidieren. Auch die preußische Politik in seinen westlichen Territorien bildete den Gegenstand neuer Forschungen. Für die Grafschaft Mark sind wesentliche Fortschritte Jürgen Kloosterhuis zu verdanken. Für die Verwaltungs- und Militärgeschichte hat er weder Defizite noch die Anpassung zentraler Vorgaben an die regionalen Besonderheiten westlich der Elbe ausgespart und damit – in kritischer Auseinandersetzung mit den Befunden von 1909 – wesentliche Beiträge zur westfälischen Landesgeschichte vor 1806 geliefert6. Kloosterhuis war auch an einer Edition zur preußischen Statistik für die Grafschaft Mark beteiligt7. Das nach seinem späteren Besitzer Gisbert von Romberg benannte „Taschenbuch Romberg“ war ursprünglich ein internes Schriftwerk der 4 Gerd Dethlefs/Jürgen Kloosterhuis (Bearb.), Auf kritischer Wallfahrt zwischen Rhein und Weser. Justus Gruners Schriften in den Umbruchsjahren 1801 – 1803, Köln/Weimar/Wien 2009. 5 Harm Klueting/Jens Foken (Hrsg.), Das Herzogtum Westfalen, Bd. 1, Münster 2009; dies. (Hrsg.), Das Herzogtum Westfalen, Bd. 2: Das ehemalige kurkölnische Herzogtum Westfalen im Bereich der heutigen Kreise Hochsauerland, Olpe, Soest und Märkischer Kreis (19.–20. Jahrhundert), 2 Teilbände, Münster 2012; Bettina Braun/Frank Göttmann/Michael Ströhmer (Hrsg.), Geistliche Staaten im Nordwesten des Alten Reiches. Forschungen zum Problem frühmoderner Staatlichkeit, Köln 2003; Frank Göttmann, Über Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsentwicklung geistlicher Staaten in Oberschwaben im 18. Jahrhundert, in: Geistliche Staaten in Oberdeutschland im Rahmen der Reichsverfassung, hrsg. v. Wolfgang Wüst, Epfendorf 2002, 331 – 376. 6 Jürgen Kloosterhuis, Fürsten, Räte, Untertanen. Die Grafschaft Mark, ihre lokalen Verwaltungsorgane und die Regierung zu Kleve, in: Der Märker 35 (1986), 3 – 25, 76 – 87, 104 – 118, 147 – 164; ders. (Bearb.): Bauern, Bürger und Soldaten. Quellen zur Sozialisation des Militärsystems im preußischen Westfalen 1713 – 1803, Münster 1992; ders., Zwischen Aufruhr und Akzeptanz: Zur Ausformung und Einbettung des Kantonsystems in die Wirtschaftsund Sozialstrukturen des preußischen Westfalens, in: Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Bernhard R. Kroener/Ralf Pröve, Paderborn 1996, 167 – 190. 7 Wilfried Reininghaus/Jürgen Kloosterhuis (Bearb.), Das „Taschenbuch Romberg“. Die Grafschaft Mark in der preußischen Statistik des Jahres 1804, Münster 2001.

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Kriegs- und Domänenkammer Hamm, das wie heute Statistische Jahrbücher Eckdaten für diese Provinz zum Jahr 1804 zusammentrug. Die Edition des Taschenbuchs Romberg von 2001 konnte sich maßgeblich auf die Arbeiten von Karl Heinrich Kaufhold und seinen Göttinger Schülern zur historischen Statistik des 18. Jahrhunderts stützen. In seiner Habilitationsschrift über das Gewerbe in Preußen um 1800 wertete Kaufhold zentrale Überlieferungen aus, nachdem er sie auf ihre Schwachstellen abgeklopft hatte8. Als ein regionalgeschichtliches Standardwerk legte er gemeinsam mit Uwe Wallbaum 1998 die „Historische Statistik der preußischen Provinz Ostfriesland 1744 – 1806“ vor. In ihr sind nicht nur für die gesamte Provinz, sondern für einzelne Ortschaften tabellarisch Daten zur Bevölkerung, Sozial-, Gewerbe- und Berufsstruktur sowie zur Landwirtschaft veröffentlicht. Für das Fürstentum Minden und die Grafschaft Ravensberg liegt im Vergleich zur Grafschaft Mark ungleich dichteres statistisches Material vor. In den Beständen der Kriegs- und Domänenkammer Minden (heute im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, Münster) sind zahlreiche Tabellen überliefert, die die Entwicklung der Bevölkerung, von Handel, Gewerbe und Landwirtschaft seit 1718 dokumentieren9. Gleichwertig kommt die Überlieferung des Generaldirektoriums im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin hinzu10. Die Bestände beider Archive ergänzen einander, so daß es möglich ist, längere Reihen zu bilden. Dieses Material ist punktuell, vor allem für das Leinengewerbe und den flankierenden Agrarsektor ausgewertet worden11. Doch eine kritische Auseinandersetzung mit der Genese der statistischen Daten in Minden-Ravensberg hat bisher nur unvollständig stattgefunden. Dabei hatte bereits Peter Florens Weddigen in den 1780er Jahren mehrfach aus dem vorhandenen Material publiziert, das er dann 1790 in zwei Bänden als „Historisch-geographisch-statistische Beschreibung der Grafschaft Ra8

Karl Heinrich Kaufhold, Das Gewerbe in Preußen um 1800, Göttingen 1978; Karl Heinrich Kaufhold/Uwe Wallbaum (Hrsg.), Historische Statistik der preußischen Provinz Ostfriesland 1744 – 1906, Aurich 1998. 9 Vgl. Wilfried Reininghaus (Bearb.), Das Staatsarchiv Münster und seine Bestände, Bd. 5: Territorialarchive von Minden, Ravensberg, Tecklenburg, Lingen und Herford, Münster 2000. 10 Jürgen Kloosterhuis (Bearb.), Bestandsgruppen-Analyse Generaldirektorium (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Arbeitsberichte, 9), Berlin 2008, 164 – 172. 11 Um nur die wichtigsten Titel zu nennen: Wolfgang Mager, Protoindustrialisierung und agrarisch-heimgewerbliche Verflechtung in Ravensberg während der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), 435 – 474; Axel Flügel, Kaufleute und Manufakturen in Bielefeld. Sozialer Wandel und wirtschaftliche Entwicklung im proto-industriellen Leinengewerbe von 1680 bis 1850, Bielefeld 1993; Stefan Brakensiek, Agrarreformen und ländliche Gesellschaften. Die Privatisierung der Marken in Nordwestdeutschland 1750 – 1850, Paderborn 1991; Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770 – 1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984; vgl. auch Stephanie Reekers, Beiträge zur statistischen Darstellung der gewerblichen Wirtschaft Westfalens um 1800. Teil 2: Minden-Ravensberg, in: Westfälische Forschungen 18 (1965), 75 – 130.

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vensberg“ zusammenstellte12. Schon die „Geographische Beschreibung der Grafschaft Ravensberg“ des Mindener Kriegs- und Domänenrats Culemann aus dem Jahr 1745 gehört in die Reihe der zeitgenössischen regionalen Vorarbeiten zur Landesbeschreibung13. Erst die Festschrift aus dem Jahr 1909 und ein begleitender Aufsatz von Heinz Potthoff ein Jahr später setzte die Veröffentlichung statistischen Materials für Minden-Ravensberg fort14. Seitdem ist quellenkritisch wenig passiert. Potthoffs Schlußfolgerungen von 1910 blieben bisher unwidersprochen. Die von Weddigen veröffentlichten Zahlen und die unveröffentlichten Zahlen aus den Akten seien, so Potthoff, nur „mit Vorsicht aufzunehmen“, denn man erkenne „ohne weiteres, daß die Veränderungen großenteils nur auf Ungleichheiten oder Ungenauigkeiten der Zählungen beruhen können“ Potthoff beurteilte deshalb die Möglichkeit einer Synthese der verschiedenen Datensätze sehr skeptisch: „Angesichts solcher Ungenauigkeiten hat eine systematische Zusammenfassung der Tabellen nur recht bescheidenen Wert“. Zweifellos hat Potthoff recht, wenn er auf die Brüche zwischen einzelnen Stichjahren verweist. Er setzte jedoch methodische Standards bei der Erfassung statistischer Daten voraus, die erst im 19. Jahrhundert verwirklicht wurden. Inzwischen wissen wir, daß auch die preußische Gewerbestatistik des 19. Jahrhunderts alles andere als widerspruchsfrei war und nur mit Vorsicht zu benutzen ist15. Resignation ist wegen der Fehlerhaftigkeit der amtlichen Statistik jedoch nicht angesagt. Vielmehr sind, mehr als bisher, die Modalitäten der Erhebung statistischer Daten in den preußischen Provinzen zu beleuchten. Deshalb steht für unsere Beispielregion die Kriegs- und Domänenkammer Minden und das von ihr angelegte Schriftgut zur Statistik im Mittelpunkt. Es ist danach zu fragen, wie sie die Vorgaben aus Berlin umsetzte und wie sie die einlaufenden Berichte der nachgeordneten Behörden zusammenfaßte. Der vorliegende Beitrag stellt dabei die „Produktion“ von Historischen Taschenbüchern, die die Generaldirektion erstmals bei der Mindener Kammer 1767 einforderte, in den Mittelpunkt, bevor auf den weiteren Ausbau der amtlichen Statistik von 1770 bis zum Ende des Alten Reiches in Minden-Ravensberg geblickt und ein kurzes Fazit gezogen wird.

12 Peter Florens Weddigen, Historisch-geographisch-statistische Beschreibung der Grafschaft Ravensberg in Westphalen, 2 Bde., Leipzig 1790; zu ihm vgl. Frank Stückemann, Peter Florens Weddigen. Ein vergessener Publizist der Aufklärungszeit, in: 93. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 2008, 35 – 90. 13 Ediert: Gustav Engel (Hrsg.), Geographische Beschreibung der Grafschaft Ravensberg, verfertiget von dem Krieges und Domainenrath Ernst Albrecht Friedrich Culemann, in: 54. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 1947, 85 – 185. 14 Heinz Potthoff, Gewerbestatistik von Ravensberg und Minden, in: 24. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 1910, 98 – 113, Zitate unten 102. 15 Vgl. Frank Hoffmann, „Ein den thatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild nicht zu gewinnen“. Quellenkritische Untersuchungen zur preußischen Gewerbestatistik zwischen Wiener Kongress und Reichsgründung, Stuttgart 2013.

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II. Die Anlage eines Historischen Taschenbuchs 1767/68 nach dem Vorbild Ostfrieslands Im Januar 1767 erreichte die Kriegs- und Domänenkammer Minden ein Reskript aus Berlin: „Wir machen Euch hierdurch in Gnaden bekannt, daß Unsere Ostfriesische Krieges- und Domainen-Cammer ein sogenandtes Taschen-Büchlein hält, woraus man den Zustand der sogenandten Provintz sowohl in Betracht der Städte als des platten Landes sehr deutlich und im Zusammenhang übersehen kann und dieses Taschenbüchlein sendet gedachte Cammer alle Jahr im December an Unser GeneralDirectorium ein. Weil aber dergleichen Taschenbüchlein bey Euch noch nicht introducirt und solches gleichwohl von sehr großem Nutzen ist, als haben wir Euch ein Schema davon – nach den Rubriquen unausgefüllt – hierbey zufertigen laßen wollen, mit dem allergnädigsten Befehl, für das verflossene 1766. Jahr sofort noch ein solch Taschenbüchlein von dortiger Provintz zu entwerffen und solches an Unser GeneralDirectorium einzusenden und damit künfftig alle Jahr im December ohnfehlbar zu continuiren“.16 Unterzeichnet hatten die Minister Valentin von Massow (1712 – 1775) und Ludwig Philipp Freiherr von Hagen (1724 – 1771).17 Von letzterem wissen wir, daß ihm „der Aufbau der westfälischen Provinzen am Herzen“ (L. Knabe) lag. Die Idee einer „gedrängten statistischen Übersicht jedes Kammerdepartements“ war unter Friedrich II. aufgekommen, wurde aber erst nach dem Siebenjährigen Krieg für alle Provinzen zur Pflicht gemacht18. Ziel war es, schnell greifbare Informationen sowohl für den Monarchen als auch für die zentralen Behörden in Berlin zu liefern. Ihre spezielle Bezeichnung erhielten sie, weil die Bände in Oktavformat auch bequem in Satteltaschen zu transportieren waren. Neben den regelhaft, zum Ende des 18. Jahrhunderts regelmäßig zum 15. Januar für das jeweilige Vorjahr einzusendenden „Taschenbüchern“ entstanden Zusammenfassungen der in den Provinzen erhobenen Daten bei speziellen Anlässen. In Minden-Ravensberg wurden z. B. anläßlich des bevorstehenden Besuches von Minister von der Schulenburg-Kehnert 1772 Berichte in Zahlen und Worten kompiliert19. Warum Ostfriesland als Vorbild für Minden-Ravensberg und womöglich andere Provinzen diente, ist aus den Akten der Mindener Kammer nicht ersichtlich. Die Berichterstattung für Ostfriesland unterschied sich kaum von der anderer Provinzen, 16 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abt. Westfalen, Münster (künftig: LAV NRW W) KDK Minden 1200, fol. 1 17 Vgl. zu Massow: Stefan Hartmann, Art. Massow (von), in: NDB 16 (1990), 361; Rolf Straubel, Biographisches Handbuch der preußischen Verwaltungs- und Justizbeamten 1740 – 1806/15, München 2009, 625; zu Hagen: Lotte Knabe, Art. Ludwig Philipp Freiherr von Hagen, in: NDB 8 (1966), 480 f.; J. Kloosterhuis, Fürsten, (Anm. 6), 153 f.; Heinrich Schlücking, Freiherr Ludwig von Hagen, insbesondere seine Verdienste um den Westen der preußischen Monarchie, Diss. Münster 1917. 18 Otto Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preußen bis zur Gründung des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin 1905, 178 Anm. 1, 207 f. 19 LAV NRW W KDK Minden 61. Zu Minister Friedrich-Wilhelm Graf von der Schulenburg-Kehnert vgl. R. Straubel, Handbuch (Anm. 17), 921 f.

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nachdem Ostfriesland 1744 durch den preußischen Staat übernommen worden war. Die Menge der aus Aurich einzusendenden Tabellen und Nachrichten wuchs seit 1748 in gleichem Umfang wie in den anderen Provinzen20. Die spezifische Ausrichtung des geforderten „Taschenbüchleins“ auf Ostfriesland ist jedoch in den Zeilen und Spalten des in Berlin beigefügten Blanketts nachzuvollziehen21. Deutlich ist als erste erwähnte Stadt Emden zu erkennen. Und unter den vorgesehenen Kolonnen (Spalten) taucht u. a. die ostfriesische Besonderheit „Torf und Licht für die Corps de Garde“ auf. Die unmittelbare Reaktion der Mindener Kammer auf die Berliner Vorgabe stellte darauf ab, daß das vorgegebene Schema nicht der Provinzialverfassung entspreche. Kammerdirektor Gotthold Siegmund Bärensprung notierte in einem – erst am 11. März 1767 angefertigten – Dorsalvermerk zum Reskript vom 6. Januar des gleichen Jahres, daß „die mehrste Rubriquen in Ansehung der hiesigen Städte gegen das Fürstentum Ostfriesland nicht applicable wären, maßen nur des Accise-Ertrages, der Consumtion zum Scharren und Hauß-Schlachten zu erwehnen“22. Bärensprung führte an, daß die spezielle Akziseverfassung für Minden-Ravensberg nicht einmal Torschreiber vorsehe, die die eingeführten Waren, Bier und Branntwein erhöben. Sein Fazit richtete sich gegen Berliner Vorgaben: „Wir wären also bei diesen Umständen nicht im Stande, nach den Schematae das historische Büchlein einzurichten und anfertigen zu lassen.“ Daneben machte er den Arbeitsaufwand durch notwendige neue Erhebungen geltend: „Es würden […] übrigens auch diejenige Bedienten, welche die Nachrichten auffnehmen und suppeditiren, selten aus bißherigen Tabellen als der historischen und übrigen in jede Rubrique einschlagende nehmen und extrahiren“. Für das platte Land lägen gar keine „Rubriquen“ vor, die in das ostfriesische Schema paßten. Bärensprung schlug vor, falls man es „bei den bißherigen Tabellen belassen wollte“, „ob Allerhöchst dieselbe uns ein anderes, auf hiesige Provintzen quadrirendes Schema, welches auch zugleich das platte Land nach hiesiger Verfassung“ umfasse und „nach hiesiger Verfassung eingerichtet sei, zu dergleichen historisches Büchlein zu fertigen zu lassen geruhen wollten“. Betrachtet man die aus Berlin verlangten „Rubriquen“, so wird deutlich, daß die Mindener Kammer eine Hinhalte-Taktik verfolgte. Die meisten Informationen hätten nämlich schnell aus den vorhandenen Historischen Tabellen für die Städte und das platte Land gewonnen werden können. Auch die Zahl der Wollarbeiter und die Anzahl der gefertigten Wolltuche und -zeuge gehörten zu den regelmäßig abgefragten Daten, die allerdings für die „Leinenprovinz“ Minden-Ravensberg keine Relevanz hatten. Freilich war die Aufspaltung der Akzise nach Schlachtungen auf dem Scharren und Hausschlachtungen für Minden-Ravensberg nicht gebräuchlich.

20 Kaufhold/Wallbaum (Hrsg.), Statistik (Anm. 7), 4 – 6. Zu Minden-Ravensberg vgl. LAV NRW W Msc. VII 2426, fol. 49 – 50 und KDK Minden 1205. 21 LAV NRW W KDK Minden 1200, fol. 2 – 16. 22 Ebd., fol. 1v.

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Die rasche Antwort aus Berlin vom 24. März 1767 fiel ungnädig aus: „Diese und alle dagegen gemachte Einwendungen wollten […] nicht viel bedeuten“23. Die Beispiele aus Ostfriesland sollten „nur zur Imitation dienen“. Die Mindener Kammer wurde aufgefordert, den Entwurf für ein eigenes Taschenbüchlein einzureichen. Daraufhin verfügte Bärensprung in einem Randvermerk, daß die Kalkulatur aus den Historischen und Alphabetischen Tabellen, auch übrigen Nachrichten das erforderlich [e] nach den in actis findlichen Schemata in das verlangte Taschenbüchlein und Rubriquen“ eintragen solle. Die Fragen nach der Akzise wurden den Steuerräten zur Beantwortung überwiesen. Es dauerte lange, bis das Material tatsächlich erhoben und für das Generaldirektorium zusammengestellt wurde. Offenbar hatte man sich innerhalb der Mindener Kammer darüber verständigt, das „Taschenbüchlein“ auf das abgeschlossene Jahr 1767 zu beziehen. Karl Philipp Pestel übergab am 20. Januar 1768 als erster der drei Steuerräte für das abgelaufene Jahr ein „Historische Büchlein“ zu den Städten seiner Inspektion, dem Fürstentum Minden. Pestels Zahlen wurden erst einmal nicht weiter bearbeitet, weil die beiden übrigen Steuerräte noch nicht geliefert werden und alle drei Berichte „colligirt“ werden sollten. Der für Tecklenburg und Lingen zuständige Steuerrat Karl Heinrich Mauve beklagte die viele Schreibarbeit und bat um Aufschub, Haevermanns Bericht für die Städte in Ravensberg und Herford wurde zurückgereicht, weil er unvollkommen war. Beiden wurde dringend die Lieferung befohlen und eine Strafe von einem Reichstaler angedroht. Der Mindener Kammer saß das Generaldirektorium im Nacken, das bereits am 2. Februar 1768 an die Lieferung des Taschenbüchleins erinnerte. Im Laufe des Monats reichten dann Mauve und Haevermann ihr Zahlenwerk. Nun erst konnten die drei Berichte zusammengefaßt werden. Die Kammer wies ihre Kalkulatur an, „genau nach[zu]sehen, ob die hierin befindlichen Positiones mit denen der historischen Tabellen stimmen“. Anschließend sei „ein Generalbüchlein aus denen der drey Steuerräthe anzufertigen und citissime nach Hof zu befördern, weil die Zeit zur Einsendung längst verstrichen ist“24. Wann das Taschenbüchlein für das Jahr 1767 tatsächlich eingeliefert, ist den Mindener Akten nicht zu entnehmen. Immerhin hatten sich während der Ersterstellung schon solche Routinen entwickelt, daß die Erhebung für das Jahr 1768 offenbar schneller ablief. Bereits am 26. Januar 1769 sandte die Kriegs- und Domänenkammer Minden drei Taschenbücher nach Berlin; sie trennte weiterhin nach den drei Inspektionsbezirken der Steuerräte Minden, Ravensberg und Tecklenburg-Lingen.25 Sie nahm auch in Kauf, daß in den Städten Lengerich und Lingen nach diesem Zahlenwerk die Ausgaben die Einnahmen überstiegen, wurde prompt dafür aus Berlin gerügt und mußte monatelang recherchieren, warum dies so war.

23

LAV NRW W KDK Minden 1200, fol. 20 – 20v. Ebd., fol. 48. 25 Ebd., fol. 68 – 69.

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Im internen Gebrauch hieß das „Taschenbüchlein“ inzwischen „Finanzbuch“26. Aus dem in Minden verbliebenen Urmaterial für das Jahr 1768 können wir sein Aussehen gut rekonstruieren. Für die Städte deckten die Historischen Tabellen sowie die Kämmereiberichte die Berliner Anforderungen ab. Für das platte Land war mehr Verwaltungsaufwand zu betreiben, denn von der unteren Ebene, den Dörfern und adligen Gütern, aufwärts mußten Daten bis auf die Ebene einzelner Vogteien und Ämter kumuliert werden. Auch für diesen Bereich waren aber den vorgegebenen Kolonnen mit denen der Historischen Tabellen weitgehend deckungsgleich. Für das Jahr 1769 beschritt die Mindener Kammer einen anderen Weg. Sie hatte aus den Erfahrungen des Vorjahres gelernt und kollationierte das eingereichte Material der Steuerräte mit den Historischen Tabellen, bevor sie das Taschenbüchlein nach Berlin einsandte. Während das Generaldirektorium am 27. April 1770 über die „Disharmonien“ und auftgetretene Differenzen unterrichtet wurde, übergab die Kammer ihren Kalkulatoren das Material zwecks Prüfung und Abgleich der Daten. Nach einem Monat übergaben die Kalkulatoren Giffenig und Lüdecke das „formirte General-Taschenbüchlein“ und sicherten zu, es sei „mit den Historischen Tabellen conferirt“. Offiziell hieß es nun „Generaltaschenbüchlein von denen Provintzien des Fürstentums Minden und der Grafschaft Ravensberg“. Im dritten Anlauf war offenbar nun ein Standard gefunden, um das Generaldirektorium zufriedenzustellen. III. Der weitere Ausbau der Statistik in Minden-Ravensberg bis 1806 Von den eingesandten Taschenbüchern hat sich nach bisherigem Kenntnisstand in Berlin keines erhalten. Allerdings sind die Mindener Entwürfe für die Jahre 1769 und 1770 in den Akten der Kriegs- und Domänenkammer verfügbar27. Zudem hat ein Kammerkalkulator, Johann Georg Mager, offenbar für den internen Mindener Dienstgebrauch aus dem Material des Historischen Taschenbuchs 1770 weitere Reinschriften erstellt, die heute im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, in Münster liegen28. Mangers Manuskripte, die den Titel „Von dem Zustande in dem Fürstentum Minden und der Grafschaft Ravensberg“ unterliegen nicht der Systematik des „Generaltaschenbüchleins“, verwenden aber identisches Material, wie Stichproben zeigten. Nur zwei Jahre später führte der schon erwähnte bevorstehende Besuch des Ministers von der Schulenburg-Kehnert zu einer intensiven Kompilation von Tabellen, die das Generaldirektorium veranlaßte. Es verfügte am 26. Mai 1772, binnen acht Tagen 22 Tabellen vorzulegen habe29. Gefragt waren zahlreiche Vergleiche des Jahres 1771/72 mit 1756 oder 1776. Offenbar wollte sich der Minister über die Auswir26

Ebd., fol. 86, 88. Ebd., fol. 181 – 209, 227 – 240, 243 – 257, 260 – 274. 28 LAV NRW W Msc. VII 2426, 2437. 29 LAV NRW W KDK Minden 61, fol. 1 – 4.

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kungen des Siebenjährigen Krieges und die Entwicklung nach Kriegsende unterrichten. Kammerpräsident von Breitenbauch faßte selbst den Status quo seiner Provinz in einer Promemoria „Zur Verbesserung des Nahrungsstandes“ am 14. Juli 1772 zusammen30. Eine wichtige Erkenntnis für die preußische Verwaltung war, daß der Leinwandexport nach Siebenjährigen Krieg längst nicht wieder die Werte aus den letzten fünf Jahren vor dem Krieg erreicht hatte.31 Im Durchschnitt wurde zwischen 1751/52 und 1755/56 für 575.920 Rtlr. Leinwand in nicht-preußische Gebiete versandt, zwischen 1768/69 und 1771/72 jedoch nur für 433.424 Rtlr. Freundlicher sah es beim Export von Garn aus. Gegenüber dem Jahrfünft (durchschnittlich 193.510 Rtlr. pro Jahr) war er zwischen 1768/69 und 1771/72 gestiegen und betrug im Durchschnitt 208.277 Rtlr. 1771/72 war sogar ein Rekordjahr mit einem Ausfuhrwert von 263.975 Rtlr. 1777 kamen zu den Historischen Tabellen die Tabellen der Fabriken und Manufakturen hinzu, die das fünfte Departement des Generaldirektoriums anforderte und die in Münster aus der Kammerregistratur für die Jahre 1778 bis 1797 vorliegen. Sie werden durch die Überlieferung aus dem Fabrikendepartement bis 1801 selbst ergänzt.32 1787 wurde für die Historischen Tabellen ein neues Schema vorgegeben.33 Das von Minister Heynitz unterzeichnete Reskript schrieb neue Schemata für Stadt und plattes Land vor.34 Für die Städte sollten zukünftig nicht nur die Wollarbeiter, sondern auch alle übrigen Handwerker und „Manufacturiers“ in alphabetischer Reihenfolge erfaßt werden. Damit war aus Sicht der westlichen Provinzen endlich die Fixiertheit auf die Wollproduktion fallengelassen worden. Im übrigen hegte Heynitz heftige Zweifel an der Qualität der bisher erhobenen Daten. Er hoffte, daß die Tabellen „von nun an der wahren Beschaffenheit nach mit der gleichen Zuverläßigkeit angefertigkeit angefertigt und darnach die Land- und Steuerräte in Zeiten gemessenst angewiesen werden, damit die Historischen Tabellen in vorkommenden Fällen mehr als bisher zum Gebrauch dienen können“. Heynitz selbst setzte sich am 5. November 1787 mit der Mindener Kammer in einer Konferenz über die Methodik der Zahlenerhebung auseinander. Das anschließende Reskript vom 27. November 1787 ordnete an, zukünftig sei „zu vermeiden, daß nicht einerlei Gewereb unter mehreren Rubriquen öfter als einmal aufgeführt werden. Es müssen dahero die Gattungen von den Arten unterschieden und z. B. Kaufleute, Kramer und Eisenhändler nicht miteinander vermischet werden. Sollte die „Provinzialverfassung“ keine besonderen Unterschie30

Ebd., fol. 163 – 169; zu Breitenbauch vgl. R. Straubel, Handbuch (Anm. 17), 134. Alle folgenden Zahlen nach LAV NRW W KDK Minden 61, fol. 135. 32 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz II. HA Abt. 25 (Fabrikendepartement) Tit. XXXI Nr. 47 (General-Extracte nach Provinzen 1779 – 1801), Tit. CI Nr. 3 (jährlich eingesandte Tabellen der Mindener Kammer, 1693 – 1804). 33 LAV NRW W KDK Minden 1787, fol. 173 – 173v; ebd. auch folgendes Zitat. 34 Vgl. Wolfhard Weber, Innovationen im frühindustriellen deutschen Bergbau und Hüttenwesen: Friedrich Anton von Heynitz, Göttingen 1976, vor allem 181 – 189 mit der Aussage, Heynitz sei einer der wichtigsten Begründer der amtlichen preußischen Statistik (184). 31

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den machen, konnten beispielsweise Klein- und Nagelschmiede zusammengefaßt werden. Für das platte Land durften Handwerke weggelassen werden, die dort nicht oder nur selten vorkommen. Heynitz’ Hoffnung, nunmehr bessere und verläßlichere Zahlen aus den Provinzen geliefert zu bekommen, war trügerisch gewesen. Bereits 1798 mußte das Generaldirektorium die Kriegs- und Domänenkammern wieder zu mehr Sorgfalt ermahnen.35 Es mußte zugleich eingestehen, daß die Menge der zu erhebenden Tabellen „successive vermehrt“ worden seien. Berlin pochte darauf, aus den Historischen Tabellen Grundlagen für die Staatswirtschaft zu ermitteln. Deshalb gab es neue Schemata vor, die aber nur einen Rahmen setzten. Die Mindener Kammer behielt Spielräume, um regionale Besonderheiten zu berücksichtigen. Sie schaltete deshalb die Landräte ein, u. a. den damals gerade erst in Minden eingesetzten Ludwig Freiherr Vincke36. Erwartet wurden von den Landräten Verbesserungsvorschläge und Gegenrechnungen mit dem Ziel, Unstimmigkeiten bei der Datenerfassung zu beseitigen. Kammerpräsident Stein schaltete sich mehrfach persönlich in die Arbeiten der Kammer an der neuen Statistik ein. Die Kammer war sich in ihrem Bericht vom 19. Mai 1799 sicher, die „statistisch-historischen Tabellen nach der geschehenen Aufnahme pro 1798“ würden „sichre Kenntniß von der Volkszahl, den verschiedenen Gewerben, dem Viehstand, der Acker- und Weidefläche“ geben37. Das Generaldirektorium teilte diese Ansicht nicht und gab die Tabellen nach vier Monaten zur nochmaligen Durchsicht und zur Beseitigung der festgestellten Mängel nach Minden zurück. IV. Ein Fazit Der Blick hinter die Kulissen bei der „Produktion“ statistischer Zahlen im 18. Jahrhundert ernüchtert. Die vielen Rechenoperationen und die monatelangen Nachkorrekturen lassen uns den dann tatsächlich nach Berlin gemeldeten und heute in den Akten erhaltenen Zahlen mit einiger Skepsis entgegentreten. Kenner der preußischen Statistik überrascht dies nicht38. Eine ernsthafte Alternative zu den vorliegenden Tabellen gibt es allerdings nicht. Im Unterschied zu den nicht-preußischen Territorien in Westfalen am Ende des Alten Reiches vermitteln sie brauch35 Reskript vom 13. 3. 1798, LAV NRW W KDK Minden 1209, fol. 6 – 8v; folgendes Zitat fol. 6. Zur ausführlichen Auswertung dieser Akte vgl. Wilfried Reininghaus, Die Reform der preußischen Statistik 1798/99 und ihre Umsetzung in Minden-Ravensberg. Zugleich ein Beitrag zu Steins Zeit als Kammerpräsident, in: 100. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 2015 (in Druck). 36 Die Verwaltungsvorgänge im Bereich der Kammer Minden 1798/99 sind breit dokumentiert in LAV NRW W KDK Minden 1209. Zu Vinckes Tätigkeit als Landrat vgl. Jürgen Kloosterhuis, „Westfaleneid“ und „Peines de Coeur“ – Vorgaben für Vinckes Landratsamt, in: Ludwig Freiherr Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen, hrsg. v. Hans-Joachim Behr/Jürgen Kloosterhuis, Münster 1994, 19 – 34. 37 LAV NRW W KDK Minden 1209, fol. 195. 38 Vgl. die Einleitung von K. H. Kaufhold/U. Wallbaum (Hrsg.) (Anm. 8); K. H. Kaufhold, Gewerbe (Anm. 8), 11 – 16; F. Hoffmann, Quellenkritische Untersuchungen (Anm. 15).

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bare Schätzwerte. Allerdings müssen die Brüche in den Erhebungsmethoden während des 18. Jahrhunderts und danach bei einer regionalen Auswertung ernst genommen werden. Künftige Überlegungen zur Edition einer Historischen Statistik von Minden-Ravensberg im 18. Jahrhundert müssen sie berücksichtigen.39 Gleichzeitig gewähren die Veränderungen bei der Erhebung der statistischen Daten nach 1767 und 1798/99 Einsichten in den verwaltungsinternen Umgang mit den Zahlen. Ihre Nutzbarmachung, wie sie Stein 1798/99 anstrebte, war der Kammer 30 Jahre vorher fremd. Schon dies sollte Anlaß zu weiteren Untersuchungen über die Verwaltung in Minden-Ravensberg geben; Rainer Dittés Studien zur Kriegs- und Domänenkammer in Hamm haben ein Muster geliefert40.

39 Der ansonsten verdienstvolle Beitrag von S. Reekers, Minden-Ravensberg (Anm. 11), berücksichtigt die inneren Brüche in den Erhebungsmethoden nicht. 40 Rainer Ditté, Preußische Verwaltung in der Provinz. Entstehung, Personal, Aufgaben und Leistungen der Kriegs- und Domänenkammer in Hamm 1767 bis 1806, Diss. Münster 2010.

III. Militär und Politik

Militär und Sport Von Hendrik Thoß, Chemnitz I. Einleitung Die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Leibesübungen und Sport mit Krieg und Militär haben bislang kaum je im Blickfeld der militär- beziehungsweise sportgeschichtlichen Forschung gestanden, und dies, obwohl sich doch unter einer Vielzahl unterschiedlichster Perspektiven (etwa kultur-, kunst-, sozialhistorisch) Fragen stellen lassen, die beide in der Geschichtswissenschaft sorgsam voneinander getrennten Felder auf das Engste miteinander verbinden. Dabei sind, etwa im 23. Gesang der „Ilias” von Homer, diese Verbindungslinien mit dem Beginn der europäischen Kultur in der griechischen Antike nachweisbar. Die antiken Helden Homers waren in aller Regel zugleich auch herausragende Wagenlenker, Läufer, Boxer, Ringer, Speer- und Diskuswerfer und damit in Disziplinen bewandert, deren Ursprünge im Kampf oder wenigstens doch in der Jagd lagen. Ist daher, um ein in der sporthistorischen Forschung vieldiskutiertes Wort Carl Diems aufzugreifen, Sport „Kampf“, ist der Athlet durchgängig bis heute zugleich auch militärischer Kämpfer und vice versa der Soldat stets auch Sportler? Wohl nicht, wird man wenigstens mit Blick auf die aktuell um die körperlichen Voraussetzungen der Bundeswehrrekruten geführte Debatte sagen können, wenngleich auch zu Zeiten der europäischen Wehrpflichtarmeen des 20. Jahrhunderts Tauglichkeitskriterien durchaus variabel zur Anwendung gebracht wurden und stets vom konkreten Personalbedarf der Truppe, insbesondere des Heeres abhingen1. Gleichwohl haben sich von jeher Aspekte der physischen Leistungsfähigkeit, etwa in Bezug auf die Marschleistung des Fußvolks, später der Infanterie, oder die Kompetenzen jedes einzelnen Kämpfers bei der Handhabung der eingesetzten Hiebund Stichwaffen als konstitutiv erwiesen für die Bildung einer schlagkräftigen Armee und für ihren Erfolg im Gefecht. Derartige Fähigkeiten besitzen bis heute einige Relevanz, und dies nicht allein bei Truppen und Einheiten zur besonderen Verwendung. Das Ziel des folgenden Beitrages besteht darin, den Zusammenhang von Leibesübungen, Sport und Militär in Europa beziehungsweise in Deutschland in Form eines Überblicks sowie unter besonderer Berücksichtigung des preußischen Staates nachzuzeichnen, dessen militärischer Verfasstheit der Jubilar Jürgen Kloosterhuis mit 1 Vgl. dazu den Spiegel-Artikel vom 25. März 2014 mit dem entlarvenden Titel: Vorstoß durch von der Leyen: Auch Moppel sollen dienen dürfen in: http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/von-der-leyen-fitness-fuer-soldaten-der-bundeswehr-nicht-entscheidend-a-960549. html# (letzter Zugriff am 24. 03. 2015).

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ebenso quellennahen wie detailreichen und weiterweisenden Untersuchungen auf den Grund gegangen ist. Dabei soll die Frage erörtert werden, ob sich diese Verbindung zwischen beiden Gebieten kontinuierlich entwickelte oder ob sie von Brüchen und Verwerfungen gekennzeichnet war, die sich beispielsweise aus Wandlungen in der zum Einsatz gebrachten Waffentechnik, aus der Bildung von Massenheeren vor dem Hintergrund der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht oder aus Veränderungen in Strategie und Taktik begründen lassen. II. Die historischen Wurzeln Die Frage nach den historischen Wurzeln der Leibesübungen, des Sports, ist im zurückliegenden 20. Jahrhundert oft gestellt worden. Trotz vielfältiger Erklärungsmodelle lässt sie sich jedoch bis heute nicht befriedigend, insbesondere nicht monokausal beantworten. Ein Vergleich der verschiedenen, in den letzten Jahrzehnten diskutierten Theorien lässt jedoch die Vermutung zu, dass sich die Ursprünge der körperlichen Übungen beim Menschen mit dem Übergang vom jagenden Nomadentum zum Leben als sesshafter Ackerbauer mit der neolithischen Revolution in Verbindung bringen lassen, die sich vor etwa 10.000 Jahren vollzog2. Auch über die Beweggründe der Menschen jener Zeit, sich mit Leibesübungen zu beschäftigen, herrscht kein Konsens. Während frühe, in den 1930er Jahren entwickelte Modelle sich unter Rückgriff auf Darwin und Nietzsche allgemein auf den „Kampf ums Dasein“ bezogen, verstanden marxistische Forscher die frühen Leibesübungen als eine Reaktion auf Arbeitsprozesse3. Modernere ethnologische und kulturanthropologische Theorien deuten diese körperlichen Übungen rituell-zeremoniell bzw. als Basis sozialer Kommunikation4. Ein wissenschaftlich gesicherter Zugang zu den Zusammenhängen zwischen Leibesübungen und Militär besteht indes erst für die Zeit der griechischen Antike. Nicht allein in der antiken Dichtung, bei Pindar oder Homer, lässt sich die doppelte Bedeutung des Begriffspaars !c~m (Agon = Kampf, Wettkampf) und !ehkor (Aethlos,

2 Vgl. Wolfgang Decker: Theorien zum Ursprung des Sports, in: Handbuch Sportgeschichte (Beiträge zur Lehre und Forschung im Sport, 173), hrsg. v. Michael Krüger/ Hans Langenfeld:, Schorndorf 2010, 62 – 68, hier 62. 3 Vgl. Eike Stiller: Körperbilder in der Arbeiter-, Turn- und Sportbewegung, in: Der deutsche Sport auf dem Weg in die Moderne. Carl Diem und seine Zeit, hrsg. v. Michael Krüger, Münster 2009, 215 – 237, hier 227; Edmund Neuendorff: Geschichte der neueren deutschen Leibesübungen vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. 3 Bde., Dresden 1930 – 1936, Bd. I. Geschichte der deutschen Leibesübungen vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zu Jahn, Dresden 1930, 45; Wolfgang Eichel: Die Entwicklung der Körperübungen in der Urgemeinschaft. In: Theorie und Praxis der Körperkultur 2/1953, 14 – 33, hier 33. 4 Vgl. Kendall Blanchard: The anthropology of sport. An introduction, A revised edition, Westport 1995.

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übertr. = Athlet bzw. Wettkampf, Prüfung) wiederfinden5. Die antiken panhellenischen Spiele, die in einem Vier- beziehungsweise Zweijahresrhythmus in Olympia, Delphi, Nemea und Korinth ausgetragen wurden, hatten mehrheitlich Wettkämpfe mit militärathletischem Charakter zum Inhalt6. Philostratus (um 165/170 – zwischen 244 und 249), Plutarch (45 – 125) und andere Autoren setzten sich mit der griechischen Athletik wie mit den antiken Olympischen Spielen auseinander und schrieben dabei nicht selten von Wettkämpfen, die qualitativ den Charakter einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod hatten7. Daneben wiesen Disziplinen wie der Hoplites (Waffenlauf), bei dem die Teilnehmer in Rüstung eine Laufstrecke zu absolvieren hatten, einen engen Bezug zu Militär und Krieg auf. Der Umstand, dass Athleten nicht selten Krieger und Krieger Athleten8 sein konnten, änderte sich auch dann nicht, als sich das griechische Heerwesen vom (adligen) Einzelkämpfertum zur Hoplitenphalanx weiterentwickelte und sich das Individuum, nicht zuletzt wegen des nur so möglichen Kampferfolges, in die Gemeinschaft einzuordnen hatte9. Denn der antike Sport erlebte seine Blütezeit letztlich im 5. Jahrhundert vor Chr.10. In der Ilias beschrieb Homer die zu Ehren des gefallenen Patroklos von Achilles und den Achäern ausgerichteten Leichenspiele als ein Zusammenspiel von acht Wettbewerben: Wagenrennen, Bogenschießen, Boxen, Ringen, Diskus- und Speerwurf, Wettlauf und Zweikampf.11 Der Dichter umriss mit diesem Kanon athletischer Disziplinen zu5

Vgl. Gregory Nagy: Homerische Epik und Pindars Preislieder. Mündlichkeit und Aktualitätsbezug, in: Zwischen Festtag und Alltag. 10 Beiträge zum Thema „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, hrsg. v. Wolfgang Raible, Tübingen 1988, 51 – 64, hier 54, Anm. 20. 6 Daneben wurden in einer ganzen Reihe weiterer griechischer Städte athletische Wettkämpfe abgehalten, die jedoch nicht die Bedeutung der Panhellenischen Spiele erlangten. Zu diesen vgl. Raimund Wünsche (Hrsg.): Lockender Lorbeer. Sport und Spiel in der Antike. Ausstellungskatalog, München 2004; Ingomar Weiler: Der Sport bei den Völkern der antiken Welt. Darmstadt 1981; Ulrich Sinn: Das antike Olympia. Götter, Spiel und Kunst, München 2004. 7 Philostratos und Pausanias verweisen hier auf Kampf und Tod des Arrichion von Phigaleia, 572 und 568 v. Chr. Sieger im Pankration, der bei den Spielen des Jahres 564 in aussichtsloser Lage seinem Gegner mit letzter Kraft eine Zehe brach und diesen dadurch zur Aufgabe zwang. Arrichion verstarb unmittelbar nach Kampfende, wurde jedoch posthum zum Sieger erklärt. Vgl. Philostratos: Über Gymnastik, hrsg. v. Julius Jüthner, Leipzig 1909, 233; Robert H. Brophy: Deaths in the pan-Hellenic games. Arrachion and Creugas, in: American Journal of Philology, Bd. 99, Nr. 3 (1978), 363 – 390. 8 Monika Lavrencic: Krieger und Athlet? Der militärische Aspekt in der Beurteilung des Wettkampfes der Antike, Nikephoros, 4. Jg. (1991), 167 – 175. 9 Gleichwohl ging auch durch diese Entwicklung nie Bedeutung des Anführers und Vorkämpfers verloren, der sich nicht allein durch besondere Kampfkraft sondern auch durch operativ-taktische Kompetenzen auszeichnen musste. Zudem wurde das adlige Wertemodell von den nichtadligen Angehörigen der städtischen Mittelschichten im Prozess ihrer Einbindung in die militärischen Strukturen ohne weiteres akzeptiert. 10 Vgl. Stefan Müller: „Herrlicher Ruhm im Sport oder im Krieg“ – Der Apobates und die Funktion des Sports in der griechischen Polis, in: Nikephoros. Zeitschrift für Sport und Kultur im Altertum, 9. Jg. (1996), 41 – 69, hier 47. 11 Vgl. Homer: Ilias. 23.256 – 897.

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gleich auch jene Elemente bzw. „Kompetenzen“, deren vorbildliche Beherrschung den Kämpfer auszeichneten. Aber nicht allein die Beherrschung verschiedener, teils äußerst komplexer athletisch-technischer Anforderungen an den Einzelnen zeigte die Nähe des antiken Athleten zum Krieger und Kämpfer. Vielmehr wies auch das Wertemuster des Sportlers eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten mit dem des Kriegers auf, etwa das unbedingte Streben nach dem Sieg (m_jg) und dem damit eng verbundenen Ruhm (Jk]or) und hohem gesellschaftlichen Ansehen (til^)12. Daneben war das ritualisierte Kräftemessen Adliger im sportlichen Wettstreit eine probate Möglichkeit, das Geltungsstreben und den Konkurrenzgedanken innerhalb der Polis in für das Überleben und gesundheitliche Wohlergehen des Einzelnen sowie für den Bestand der Gemeinschaft ungefährliche Bahnen zu lenken und ein Scherbengericht (astqajisl|r) und die damit verbundene Verbannung des Betroffenen zu vermeiden13. Auch während der Zeit des römischen Reiches, insbesondere im Zeitraum zwischen der Entstehung der römischen Republik (509 v. Chr. – 27) und der Kaiserzeit (3. Jhr.), blieben Leibesübungen und Körperertüchtigung zentrale Bestandteile des öffentlichen wie des privaten Lebens, wenn auch in einer von der griechischen Antike veränderten Form. Wenngleich eine gezielte körperliche Ausbildung von Jungen und jungen männlichen Erwachsenen, vor allem im stärker griechisch geprägten Osten des Reiches, die Regel war und hier in einem Gymnasion (culm\siom) bei Eignung bis auf Wettkampfniveau trainiert werden konnte, fehlte dieser Ausbildung gleichwohl mehr und mehr der militärische Hintergrund. Setzte sich doch die römische Armee vor allem während der Zeit des Kaiserreichs aus Berufssoldaten zusammen, die überdies in immer größerem Umfang aus Nicht-Römern rekrutiert wurden. Leibesübungen – zumal mit einem militärischen bzw. einem Wettkampfhintergrund – wurden zur Domäne von Spezialisten. Im Rahmen von organisierten Veranstaltungen zur Unterhaltung der freien Bürger ¢ man unterschied zwischen ludi, munera und agones ¢ fanden neben den bekannten Gladiatorenkämpfen auch Wagenrennen sowie athletische Wettkämpfe statt, deren Sieger teils beachtliche Preisgelder erhielten. Dieser „Profisport“ war bereits in griechischer Zeit bekannt, neu war hingegen die „Fankultur“, die etwa bei den häufig ausgetragenen Pferde- und Wagenrennen nicht selten zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der verschiedenen Rennställe führte14. Die Hochzeit der antiken Körperkultur fand im Römischen Reich schließlich im 4. nachchristlichen Jahrhundert ihr Ende. Verantwortlich für diesen Prozess des Be12 Vgl. Müller, Herrlicher Ruhm (Anm. 10), 45 f. Gleiches galt natürlich auch für die tief empfundene Scham des Besiegten im Falle einer Niederlage. 13 Vgl. ebd., 49 f. Die Verhaltensforschung hat für dieses Phänomen den Begriff Ventilsitte geprägt. Vgl. hierzu: Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung. 4. Aufl., München 1990, 125 – 128. 14 Vgl. Alan Cameron: Circus factions. Blues and Greens at Rome and Byzantium, Oxford 1976; Gerhard Horsmann: Die Wagenlenker der römischen Kaiserzeit. Untersuchungen zu ihrer sozialen Stellung, Stuttgart 1998.

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deutungsverlusts waren nicht allein äußere Faktoren, etwa die Kriege Roms gegen das persische Sassanidenreich im östlichen Mittelmeer oder gegen am Rhein vordringende germanische Stammesverbände, die eine deutliche Vergrößerung des Heeres, eine Heeresreform und damit zugleich eine wesentliche Erhöhung der Steuerlast erforderlich machten. Als entscheidend erwies sich vielmehr die Anerkennung und Förderung des Christentums durch Kaiser Konstantin (270/288 – 337). Diesen bedeutenden Gewinn an gesellschaftlichem Einfluss und öffentlicher Aufmerksamkeit suchten sich später als Kirchenväter bezeichnete christliche Autoren für publizistische Feldzüge gegen die Leibesübungen zu Nutze zu machen. So ist aus den Schriften des Johannes Chrysostomos (349 – 407) ¢ er wirkte seit 397 als Erzbischof von Konstantinopel ¢ die Abneigung des spätantiken Christentums für einen Großteil der alltäglichen städtische Lebensgewohnheiten, so etwa für die traditionellen Spiele, für sportliche Wettkämpfe und Theateraufführungen exemplarisch ablesbar15. Wohl war für Johannes die Sorge des Menschen um seinen Körper unstrittig, überdies schien ihm der Leib „nichts Böses“. Dennoch stieß das sich in einer großen Affinität zu Theateraufführungen, Tierhetzen, Zirkus- und Gladiatorenspielen und anderen Volksbelustigungen manifestierende „unsittliche“ Betragen seiner nicht- bzw. neuchristlichen Mitbürger auf seine Kritik. Diese bezog sich sowohl auf die „heidnischen“ Wurzeln der Spiele als auch auf ihren teils legeren Charakter, der die Besucher „Tag für Tag zu Ehebrechern“ mache16. Insbesondere die in Daphne, einer Vorstadt Antiochias seit der Zeit des Kaisers Claudius (41 – 54) alle vier Jahre ausgetragenen „olympischen Spiele“, mit denen Johannes direkt konfrontiert wurde, erregten seinen Unwillen. Diese Spiele seien des Teufels, da bereits die antiken Spiele Olympias „dem Teufel geweiht“ waren17. Johannes grenzte hier die Werte des Christentums scharf ab, denn im Stadion Christi würden die Kränze nicht nach solchen Gesetzen verteilt, sondern dort gelte die entgegengesetzte Maxime: der Geschlagene, nicht der Schläger würde bekränzt. Nicht der Sieg, sondern die Art des Sieges sei das Merkwürdige. Denn was anderwärts eine Niederlage bereite, das verschaffe hier den Sieg. Hier wirke Gottes Kraft; dies sei eine himmlische Rennbahn; eine Zuschauerbühne für die Engel18. Der aus vielfältigen politischen und ökonomischen Zwängen, aber auch aus dem Druck der „sportkritischen“ Propaganda christlicher Autoren resultierende Niedergang der öffentlichen Leibesübungen vollzog sich im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter im Imperium Romanum keineswegs einheitlich und erstreckte sich in einem länger währenden Prozess im Westen des Reiches bis in das 6. bzw.

15

Vgl. Alois Koch SJ: Leibwertung und Leibpflege im Werk des Kirchenvaters Johannes Chrysostomos, in: Begegnung (Schriftenreihe zur Geschichte der Beziehung zwischen Christentum und Sport, 4), hrsg. v. Willi Schwank/ Alois Koch, Aachen 2003, 36 – 64. 16 Zit. nach ebd., 43. 17 Ebd., S. 46. 18 Vgl. ebd.

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7. Jahrhundert19. Weitgehend erhalten blieben hingegen die Strukturen und das Verständnis für körperliche Ertüchtigung im oströmischen Reich, in dem sich ein von der Kirche tolerierter Amateur- und Freizeitsport entwickeln konnte, der überdies in einer direkten Tradition zum Kanon der griechischen Leibesübungen stand und der auch militärische Aspekte mit einschloss20. Zweifelsohne gilt das Turnier als die omnipräsente Form des militärisch konnotierten Wettstreites im europäischen Mittelalter21. Wenngleich bereits für die Mitte des 9. Jahrhunderts von den Heeren Karls des Kahlen und Ludwigs des Deutschen Reitergefechte mit spielerischem Charakter überliefert sind, konnte sich das Ritterturnier als sportlicher Wettstreit mit militärischem Hintergrund in Europa doch erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts etablieren. Im Rahmen von Turnieren gelangten in aller Regel drei Kampfspiele zur Austragung: Das Turnei, ein mit Lanzen geführtes Gefecht zweier Panzerreiter-Formationen, das zugleich zum Namensgeber des gesamten Wettkampfs wurde, der Buhurt, ein vornehmlich auf die Präsentation und den Vergleich reiterlicher Geschicklichkeit ausgelegtes Spiel, sowie der Tjost genannte Zweikampf22. Die Teilnahme an einem Turnier setzte stets auch den Nachweis der Ritterbürtigkeit voraus. Insbesondere im Spätmittelalter, als die herausragende militärische Bedeutung des Panzerreiters verloren ging, und als Turniere mehr gesellschaftliche Ereignisse als „wehrsportliche Trainingsveranstaltungen“ des niederen Adels wurden und Turniergesellschaften die Rolle solventer Fürsten übernahmen, spielte die Zugehörigkeit zu einem der edelfreien oder ministerialen Familien des Reiches eine kaum zu unterschätzende Rolle23. Das Bestehen eines Turniers wie eines tatsächlichen Kampfes setzte bei den Streitern eine über Jahre währende kontinuierliche körperliche wie kämpferische Schulung voraus, die bei den männlichen Mitgliedern der Familien des Niederadels in aller Regel im Kindesalter ihren Anfang nahm. Zum „Fächerkanon“ gehörten offensichtlich bereits zu diesem Zeitpunkt neben dem Reiten und dem Schwimmen auch 19 Als entscheidend für diese Entwicklung erwiesen sich der Entschluss Kaiser Justinians I. (527 – 565), Spiele außerhalb Konstantinopels nicht mehr finanziell zu unterstützen sowie ein allmählicher Mentalitätswandel unter den Eliten. 20 Hier lässt sich offensichtlich eine Kontinuität bis in die Zeit des Mittelalters nachweisen. Vgl. Sotiris G. Giatsis: How did Byzantine Authors approach Sport? In: New Aspects of Sport History. Proceedings of the 9th ISHPES Congress, Cologne, Germany 2005, hrsg. v. Manfred Lämmer/Evelyn Mertin/Thierry Terret, St. Augustin 2007, 16 – 23, hier 18 f. 21 Tatsächlich haben Turniere bis heute, so scheint es, nichts von ihrem faszinierenden Charakter verloren, wie die beständig hohe Zuschauerresonanz bei sogenannten Mittelaltermärkten oder –festen belegt, die zwischenzeitlich deutschland- ja europaweit zum festen Bestandteil kommunaler wie regionaler Marketingstrategien geworden sind. 22 Der genaue Ablauf des Buhurts ist umstritten. Zum Turnier und zu seiner Bedeutung für die mittelalterliche Gesellschaft vgl. Josef Fleckenstein (Hrsg): Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Göttingen 1985; David Crouch: The Tournament. London 2005. 23 Angehörige des sog. Briefadels, die seit der Zeit Karls IV. in den Adelsstand gelangt waren, blieben von den Turnieren des „alten“ Adels ausgeschlossen. Vgl. Andreas Schlunk/ Robert Giersch: Die Ritter. Geschichte, Kultur, Alltagsleben, Stuttgart 2003, 70.

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waffenlose Kampftechniken sowie das Bogen- und Armbrustschießen. Übungen mit stumpfen Waffen für den Kampf mit Schwert und Lanze ergänzten diese Ausbildung24. Zwischen seinem 12. und 15. Lebensjahr wurde der Heranwachsende als Knappe in die Dienste eines Ritters übernommen und hier das körperliche und militärische Training unter der Aufsicht seines Herrn kontinuierlich fortgesetzt. Dieser formale Aufstieg des jungen Adligen in die Welt der Erwachsenen ging mit einem hohen Maß an individueller Verantwortung und nicht wenigen Gefahren für das eigene Leben einher. Der Knappe übte nun nicht mehr länger mit stumpfen, sondern mit scharfen Waffen, er erhielt eine eigene, mehr oder minder umfängliche Ausrüstung und begleitete seinen Ritter ins Turnier ebenso wie in die Schlacht. Hier wie da waren dem Knappen konkrete Gefechtsaufgaben zugewiesen. War es dem eigenen Herrn gelungen, im Kampf einen Gegner aus dem Sattel zu werfen, bestand die Aufgabe des Knappen darin, diesen gefangen zu nehmen. Denn nicht um den Tod des Konkurrenten ging es, sondern vielmehr darum, seine Rüstung zu erbeuten und im Bedarfsfall in klingende Münze umzuwandeln. Gleiches galt für den besiegten Ritter selbst, der sich von seinem Gegner loskaufen musste. Da natürlich auch dieser Ritter über einen eigenen Knappen verfügte, der seinen Herrn unter Einsatz seines Lebens verteidigte, dürfte der Kampf zwischen Knappen nicht selten gewesen sein. Daneben beinhaltete der „Lehrplan“ auch Bereiche, die weniger die kämpferischen als vielmehr die „zivilen“ Kompetenzen des Knappen bei der Jagd, im Benehmen und in guten Umgangsformen sowie in Konversation und geistiger Bildung verbessern sollten. Am Ende der Ausbildung, die im Idealfall bei dem Knappen zur Entwicklung und Ausprägung eines umfänglichen Tugendkanons führte, standen spezifische Initiationsriten, die sich aus dem tradierten Brauchtum der Germanen herleiteten: die Schwertleite sowie ab etwa dem 14. Jahrhundert der Ritterschlag. In beiden Fällen wurde der Knappe im Rahmen eines aus religiösen und weltlichen Elementen bestehenden Zeremoniells von einem Adligen symbolisch mit der Hand beziehungsweise mit der flachen Schwertklinge am Nacken oder der linken Schulter berührt und damit formal in den Ritterstand promoviert25. Insbesondere die häufig von Hochadligen für ihre Söhne ausgerichteten kostenintensiven Schwertleiten waren von einer ganzen Reihe festlicher Veranstaltungen umrahmt, die den besonderen Charakter des Ereignisses und des Akteurs betonen sollten, der in dessen Mittelpunkt stand. Hierzu zählten ¢ neben Gottesdiensten ¢ Bankette, Feste und Turniere, auf denen auch die jungen Ritter Gelegenheit erhielten, ihr in der Ausbildung erworbenes Wissen und Können unter Beweis zu stellen. In 24 Auch im Mittelalter stellten waffenlose Nahkampftechniken und mehr noch der Kampf mit Dolch, Axt oder Schwert im Zweikampf und im Turnei komplexe koordinativ wie konditionell höchst anspruchsvolle Bewegungsmuster dar. Vgl. zur Ausbildung eines mittelalterlichen Kämpfers exemplarisch die Bücher des Fechtlehrers Fiore Furlano dei Liberi (ca. 1340 – 1420), Fior di Battaglia, Flos Duellatorum sowie Florius de Arte Luctandi. Das älteste erhaltene Fechtbuch ist der auf 1270 datierte Codex MS I.33. 25 Vgl. Werner Rösener: Schwertleite. In: Lexikon des Mittelalters. 7 (1995), Sp. 1646 f.

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herausragender Weise wurde ein solcher Akt während des Mainzer Hoftages zu Pfingsten 1184 begangen, in dessen Rahmen die beiden Söhne des Kaisers Friedrich I. Barbarossa, Heinrich und Friedrich, am Pfingstmontag durch ihren Vater persönlich die Schwertleite erhielten, wenngleich das für den Folgetag in Ingelheim geplante festliche Turnier aufgrund eines Unwetters, das man als göttliches Signal interpretierte, nicht durchgeführt wurde26. Schon vorher hatte sich das gesamte Turnierwesen rasch zu einem herausragenden Faktor adeliger Repräsentation, aber auch zu einem für den jeweiligen Austragungsort nicht unbedeutenden gesellschaftlichen Ereignis sowie zu einem Wirtschaftsfaktor entwickeln können. Allerdings führte die den Wettkämpfen stets immanente Gewalt unter den Aktiven häufig zu Verletzungen, nicht selten auch zu Todesfällen. Nachdem im Jahr 1273 das Turnier von Châlons außer Kontrolle geraten war, als der Graf von Châlons den englischen Thronfolger Eduard regelwidrig aus dem Sattel hatte werfen wollen und daraufhin ein allgemeines Handgemenge eingesetzt hatte27, wurden am englischen Hof Turnierregeln eingeführt, die den Tod bzw. eine schwerwiegende Verletzung der Kämpfer verhindern sollten. Wenngleich derartige Regelungen den Gebrauch bestimmter Waffen oder das Eingreifen des den Rittern zugeordneten Fußvolks verboten oder wenigstens einschränkten, blieben auch in der Folgezeit Tote und Verletzte bei Ritterturnieren eher die Regel denn die Ausnahme. Dennoch erfreuten sich diese Veranstaltungen unter der Ritterschaft Europas großer Beliebtheit, und dies, obwohl die Kirche bereits im ausgehenden 12. Jahrhundert Turnierverbote ausgesprochen und den Aktiven mit der Exkommunikation und der Verweigerung eines christlichen Begräbnisses gedroht hatte28. Wie den Spielen der Antike wohnte auch dem mittelalterlichen Turnierwesen ein spezifischer Prozess der Professionalisierung inne, der sich beispielsweise im Entstehen eines „Profisegments“ von Rittern manifestierte, die aus den auf den Turnieren erzielten Einkünften ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten29. Mit dem durch waffentechnische Entwicklungen verbundenen Bedeutungsverlust des Ritters als Kämpfer im ausgehenden Mittelalter gingen sowohl eine Erhöhung des symbolischen Wertes eines Turniers beziehungsweise einer Turnierteilnahme als auch das Bemühen des Adels um den Erhalt der Exklusivität der Turnier- und Ritterkultur einher. Gleich26 Vgl. Gerd Althoff: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003, 163. 27 Vgl. Maurice Keen: Das Rittertum. Reinbek 1991, 133. 28 So etwa im Rahmen des Zweiten Laterankonzils von 1139 im Canon 14 und im Kontext des Dritten Laterankonzils von 1179, im Canon 20. Vgl. Sabine Krüger: Das kirchliche Turnierverbot im Mittelalter, in: Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums, hrsg. v. Josef Fleckenstein, Göttingen 1985, 401 – 424. Gleiches galt im Übrigen auch für England, wo Turniere erst unter der Herrschaft König Richards I. salonfähig wurden. 29 Der wohl bekannteste „Berufs-Turnierer“ war der englische Ritter William Marshal, auch Guillaume le Maréchal (1144 – 1219), der regelmäßig und erfolgreich bei Turnieren in Frankreich antrat.

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wohl war es dem in zahlreichen Turniergesellschaften organisierten europäischen Adel auf Dauer nicht möglich, dieses Statussymbol gegen vermögende und einflussreiche Akteure aus dem „Neuadel“ oder dem städtischen Bürgertum zu verteidigen, die seit dem 14. Jahrhundert zunehmend offensiv den Zugriff auf dieses Reservat begehrten. Seit dieser Zeit fanden Turniere mehr und mehr auch durch Wettkämpfe des genuin bürgerlichen Fechtens zu Fuß und des Schützenwesens ihre Ergänzung, ein Prozess, der nicht zuletzt die Entwicklung des Kriegsbildes vom gepanzerten Reiterheer des Mittelalters zum frühneuzeitlichen Militär widerspiegelte, das sich – wie etwa die Aufgebote der Eidgenossen – vornehmlich aus Fußvolk rekrutierte und völlig andere „wehrsportliche“ Anforderungen an den einzelnen Kämpfer stellte. Während des 15. und 16. Jahrhunderts liefen beide Erscheinungsformen militärsportlicher Wettkämpfe in adligen und städtisch-patrizischen Milieus parallel, wobei im Rahmen zahlreicher städtischer Wettkämpfe nicht allein die Schranken zwischen adligen und bürgerlichen Teilnehmern fielen, sondern zugleich auch volkstümliche Wettkämpfe für das einfache Volk, etwa Laufen, Springen, Kegeln oder Steinwerfen, angeboten wurden30. Dabei fußten in einigen Regionen Europas insbesondere die mit Bogen oder Armbrust ausgetragenen volkstümlichen Schießwettkämpfe auf einer spezifisch militärischen Tradition. Beide Distanzwaffen haben eine lange Geschichte und sind bereits im Jungpaläolithikum (Bogen) beziehungsweise in der europäischen Antike wie auch in China verbreitet gewesen. Gleichwohl entsprach ihr Einsatz in einem bewaffneten Konflikt nicht dem ritterlichen Kampfideal des Mittelalters; folgerichtig wurde ihr Einsatz gegen Christen im Jahre 1139 im Rahmen des Zweiten Laterankonzils untersagt31. Aufgrund ihrer im Vergleich zum Bogen einfacheren Handhabbarkeit wurde die Armbrust, nachdem sie im ausgehenden 15. Jahrhundert ihre herausragende Bedeutung als Kriegswaffe verloren hatte, zu einer bevorzugten Sportwaffe der Städtebürger. In Schützengilden organisiert, pflegten deren Mitglieder im Rahmen eines mehr oder minder ausgeprägten Vereinswesens den traditionellen Habitus städtischer Bürgerwehren. Hierzu zählte seit dieser Zeit auch die Ausrichtung kommunaler Festveranstaltungen, nicht selten auch im Kontext religiös konnotierter Feierlichkeiten der Kirche32. Für das Bogenschießen galt diese Entwicklung nicht in gleichem Maße. Sowohl das Bogenspannen wie auch das präzise Treffen erforderten eine mehrjährige Übung; im Besonderen der Gebrauch der zunächst für Wales, seit dem 13. Jahrhundert auch für England belegten Langbögen machte eine Zugkraft von mindestens 200 Newton, 30 Vgl. Thomas Zotz: Adel, Bürgertum und Turnier in den deutschen Städten vom 13. bis 15. Jahrhundert. In: Fleckenstein, Turnier (Anm. 23), 450 – 499. 31 Die Verwendung dieser Waffensysteme gegen „Heiden“ blieb gestattet. Allerdings ließ sich das Verbot in der Praxis nicht umsetzen. Bekanntlich erlag auch der englische König Richard I. (Löwenherz) 1199 einer durch einen Armbrustbolzen verursachten Verletzung. 32 Vgl. Hans-Thorald Michaelis: Schützengesellschaften – Schützengilden, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. IV (1986); Sp. 1529 – 1535.

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das heißt umgerechnet von mehr als 20 Kilogramm nötig33. Diese Anforderungen führten nach dem Bedeutungsverlust des Bogens als militärischer Waffe in Europa seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert, der sich in England freilich erst zwei Jahrhunderte später vollzog, dazu, dass das sportliche Schießen mit Bögen, ausgenommen in England, in der Folgezeit weit weniger Verbreitung fand als das Armbrustschießen. Neben Armbrust und Bogen erlangte im ausgehenden Mittelalter auch das Fechten Eingang in den Kanon städtebürgerlicher Leibesübungen. Wie die Armbrust, hatten ursprünglich auch Schwert und Dolch zur Ausrüstung der kommunalen Bürgerwehren gehört, beide Nahkampfwaffen wurden seit dem 14. Jahrhundert zunehmend um die Hellebarde ergänzt. Den Umgang mit diesen Waffen konnte man ebenso in Fechtschulen erlernen wie waffenlose Kampftechniken, etwa das Ringen beziehungsweise das „Kampfringen“34. Im 17. Jahrhundert traten die dem Militär entlehnten Facetten der Leibesübungen sowohl in den adligen wie in bürgerlichen Schichten Schritt für Schritt in den Hintergrund. Für diesen Prozess waren verschiedene Faktoren entscheidend, die eine enge gegenseitige Verschränkung aufwiesen. Bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert hatte sich im europäischen Adel der Typus des galant homme, des Ehrenmannes zu etablieren begonnen, dessen Stil und Auftreten von einem festen Normenschema geprägt sein sollten, und der durch Exerzitien, also durch beständige Reit-, Tanz- und Fechtübungen, ein von Künstlichkeit geprägtes ästhetisches Ideal zu erreichen suchte, das ihn sichtbar von der ungezwungenen, natürlichen Einfachheit des Volkes abhob35. Zugleich entsprangen solcherlei Exerzitien dem Geist der Oranischen Heeresreform, in deren Mittelpunkt das im permanenten militärischen Drill begriffene Stehende Heer eines monarchischen Staatswesens stand36. Dieses Modell konnte sich in der Mehrzahl der deutschen Staaten bekanntlich erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges durchsetzen. Mit diesem Prozess ging überdies das Bestreben der Landesherren einher, einerseits den militärischen Gestus der kommunalen Schützengilden und -bruderschaften mittels Verboten einzuschrän33

Aus den wenigen erhaltenen spätmittelalterlichen Waffen lässt sich eine erforderliche Zugkraft von teils mehr als 1 kN, das heißt deutlich mehr als 100 kg ableiten. Skelettfunde belegen überdies die bei den Bogenschützen aus der jahrelangen Übung resultierenden Deformationen vor allem im Schultergelenksbereich, im medizinischen Sinne also klassische „Sportschäden“. Vgl. Robert E. Kaiser: The Medieval English Longbow, in: Journal of the Society of Archer-Antiquaries, volume 23 (1980), in: http://margo.student.utwente.nl/sagi/arti kel/longbow/longbow.html (letzter Zugriff am 10. 03. 2015). 34 Vgl. dazu auch Anm. 21 dieses Beitrages. Zu den Begründern insbesondere der deutschen Fechtschule im 15. und 16. Jahrhundert, die wiederum auf Johannes Liechtenauer zurückgeht, zählen unter anderem Hans Talhoffer, Johannes Lecküchner und Paulus Hector Mair. 35 Vgl. Vera Jung: Körperlust und Disziplin. Studien zur Fest- und Tanzkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Köln u. a. 2001. 36 Zur Oranischen Heeresreform vgl. Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Grafen Johann von Nassau-Siegen, bearbeitet von Werner Hahlweg, hrsg. von der Historischen Kommission für Nassau, Wiesbaden 1973.

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ken und ¢ andererseits ¢ eigene, teils mit enormem Aufwand inszenierte ritualisierte Manifestationen militärischer Potenz, vom Zirkelfechten bis zu groß angelegten Revuen und Feldlagern, zu entwickeln. Derartige Muster hatten bis weit in das 18. Jahrhundert hinein Bestand, individuelle physische Aspekte gerieten hingegen erst durch die Aufklärung und durch das Wirken zahlreicher Philanthropen und Erzieher wieder in den Blickpunkt. Bestand doch eine Grundannahme dieser Gelehrten darin, dass zur geistigen und moralischen stets auch eine körperliche Erziehung gehören müsse. Unter Bezug auf antike Autoren wie Platon, für den die Gymnastik eine Möglichkeit darstellte, die körperlichen Triebe umzuleiten beziehungsweise den Körper zu reinigen, favorisierten die Philanthropen ein mechanistisches Körpermodell, das der menschlichen Seele – nach Platon der Sitz des menschlichen Ichs – ein optimiertes Werkzeug zur Verwirklichung zweckgebundener Aufgaben bereitstellen sollte37. René Descartes (1596 – 1650) hatte in seinem 1637 veröffentlichten „Discours de la méthode“ ebenso wie in der 1662 postum erschienenen Abhandlung „De homine“ die Haltung vertreten, der Mensch sei, rein physisch, eine Körpermaschine, die auch ohne Seele funktioniere, sein Landsmann Julien Offray de La Mettrie (1709 – 1751) entwickelte wiederum hieraus sein 1748 veröffentlichtes und auch in den deutschen Staaten viel beachtetes Hauptwerk „L’homme machine“38. Ihre Erkenntnisse entsprangen nicht zuletzt auch aus einer inzwischen in Europa etablierten anatomischen Forschung und Publizistik, die intime Kenntnisse über den organischen Aufbau des Körpers erlangt hatte. Dieses Wissen, insbesondere um die Funktionsprinzipien der Sinnesorgane von Skelett und Muskulatur, führte die Philanthropen in der Folgezeit Schritt für Schritt zur Entwicklung spezifischer Übungen, die zur Steigerung der physischen Leistungsfähigkeit beitragen sollten. Als Begründer der Philanthropismus, bisweilen auch Philanthropinismus genannten reformpädagogischen Bewegung des 18. Jahrhunderts gilt der 1724 in Hamburg geborene Theologe und Pädagoge Johann Bernhard Basedow (1724 – 1790). Wohl bestand der Kern des pädagogischen Konzepts Basedows vorrangig in der Entwicklung spielerischer Elemente innerhalb des Unterrichts, der die Strukturen des tradierten „Paukens“ aufbrechen sollte. Jedoch verfügte auch er bereits über umfängliche

37 Zum Zusammenhang zwischen körperlichen und seelischen Aspekten bei Platon vgl. Platon: Timaios, in: Ders.: Sämtliche Werke in drei Bänden, hrsg. von Erich Loewenthal, 8. Aufl., Bd. III., Heidelberg 1982, 91 – 191. 38 Gleichwohl lassen sich auch aus den mechanistischen Konzepten des Exerzierens der Infanterie im 18. Jahrhundert Parallelen zu Descartes und La Mettrie ableiten. Die penibel reglementierte und in Preußen täglich trainierte Handhabung des Gewehrs formte aus dem Rekruten binnen weniger Wochen in der Tat eine menschliche Maschine. Vgl. René Descartes: Beschreibung des menschlichen Körpers. Nach d. erst. franz. Ausg. von 1664 übers. u. mit e. histor. Einl. u. Anm. von Karl E. Rothschuh, Heidelberg 1969; Dominik Perler: René Descartes. 2., erw. Aufl., München 2006; Eva-Maria Engelen: Descartes. Leipzig 2005; Julien Offray de La Mettrie: Der Mensch eine Maschine. Hrsg. von Max Brahn Leipzig 1909; Hartmut Hecht (Hrsg.): Julien Offray de la Mettrie. Ansichten und Einsichten, Berlin 2004.

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Kenntnisse über den Aufbau des menschlichen Körpers39. 1774 hatte er gemeinsam mit Christian Heinrich Wolke (1741 – 1825) das Philanthropinum Dessau als Ausbildungsstätte für Pädagogen gegründet. Rasch hatte sich diese Einrichtung unter der wohlwollenden Förderung durch Fürst Leopold III. von Anhalt-Dessau (1740 – 1817) zu einer der renommiertesten Reformschulen Europas entwickelt, in der eine Vielzahl bekannter Pädagogen wirkte. Innerhalb dieses Kollegiums suchte insbesondere Gerhard Ulrich Anton Vieth (1763 – 1836) die Leibesübungen als Bestandteile der schulischen Ausbildung zu etablieren, da diese – wie er völlig zu Recht erkannt hatte – nicht allein den Körper sondern auch Moral und Selbstbewusstsein der Schüler steigerten40. Vieth gehört damit zu den frühesten deutschen Kritikern einer einseitig „verkopften“ Schulbildung, die seiner Sichtweise nach – ähnlich wie dem im Militär vorherrschenden Drill der Soldaten – den Schülern Wissen unreflektiert einzupauken suchte, und dem er sein Modell einer allseitig-umfassenden Bildung entgegenstellte. Und hier hatten im Rahmen der körperlichen Ertüchtigung nun auch Übungen ihren Platz, die, wie etwa das Reiten und das Fechten, direkt aus dem Feld des Militärischen entlehnt schienen41. Vieths ebenso umfängliches wie detailliertes enzyklopädisches Werk, das in drei Bänden zwischen 1794 und 1818 zur Veröffentlichung gelangte, und das zudem von einer Reihe anderer Werke mit naturwissenschaftlichem Hintergrund flankiert wurde, erwies sich für die Entwicklung der Leibesübungen als von ganz herausragender Bedeutung. Über Christian Gotthilf Salzmann (1744 – 1811), der von 1781 bis 1784 selbst im Dessauer Philanthropin gelehrt hatte und mit Basedow eng bekannt war, gelangten die Ideen einer ganzheitlichen Bildung in das zum Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg gehörige thüringische Örtchen Schnepfenthal, in dem Salzmann 1784 eine eigene philanthropische Erziehungsanstalt gründete. Zu seinen profiliertesten Mitarbeitern gehörte Johann Christoph Friedrich GutsMuths (1759 – 1839), der neben Vieth und Friedrich Ludwig Jahn zum Kreis der „Turnväter“ gehörte. Das von GutsMuths 1793, das heißt ein Jahr vor Vieths erstem Band der „Encyklopädie“ verfasste Werk „Gymnastik für die Jugend“ wurde rasch zu dem Standardwerk der körperlichen Erziehung für Heranwachsende im deutschen Sprachraum42. Ebenso wie 39 Vgl. Eugen König: Der Philanthropismus und die Entdeckung des Leibes als pädagogische Kategorie, in: Die Entwicklung der Leibesübungen in Deutschland. Von den Philanthropisten bis zu den Burschenschaftsturnern, hrsg. v. Giselher Spitzer, Sankt Augustin 1993, 17 – 40, hier 32. 40 Vgl. Gerhard Ulrich Anton Vieth: Versuch einer Encyklopädie der Leibesübungen. 3 Bde., Berlin 1795, Bd. 2, System der Leibesübungen, 10. 41 Vieth gebaucht für das Tanzen, Reiten, Voltigieren und Fechten zusammenfassend den Begriff ritterliche Übungen. Vgl. ebd., 3. 42 Vgl. Johann Christoph Friedrich GutsMuths: Gymnastik für die Jugend. Enthaltend eine prakt. Anweisung zu Leibesübungen, Ein Beytrag z. nöthigsten Verbesserung d. körperl. Erziehung, Schnepfenthal 1793; Willi Schröder: Johann Christoph Friedrich GutsMuths. Leben und Wirken des Schnepfenthaler Pädagogen, Sankt Augustin 1996; Rolf Geßmann (Hrsg.): Beiträge und Bibliographie zur GutsMuths-Forschung, Sankt Augustin 1998; Ommo Grupe:

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Vieth war GutsMuths zu der Überzeugung gelangt, dass sich der körperliche Verfall des Menschen durch Leibesübungen aufhalten beziehungsweise verlangsamen ließe. GutsMuths’ Gymnastik für die Jugend ist jedoch primär als ein an der Praxis orientiertes Lehrbuch zu verstehen, ganz im Gegensatz zu Vieths „Encyklopädie“, die weit mehr in der Tradition der französischen Enzyklopädisten wurzelte. Zugleich band GutsMuths alle modernen pädagogischen Konzeptionen seiner Zeit ein, so etwa die Elemente Freiwilligkeit, Freudbetontheit, Allseitigkeit und Harmonie, die nicht allein auf den Bereich der körperlichen Übungen beschränkt bleiben, sondern vielmehr den Grundkonsens eines ganzheitlichen Bildungsansatzes ausmachen sollten43. Das Werk wurde in Europa breit rezipiert und bildete etwa in Skandinavien den Auslöser für die Gymnastikbewegung, die dann im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem konstitutiven Element des modernen Sports wurde. 1796 und 1798 folgten weitere grundlegende, gleichfalls viel beachtete Schriften zur Körpererziehung Heranwachsender44. Hatten militärische Aspekte im Kanon der körperlichen Übungen von GutsMuths noch in der ersten Auflage der „Gymnastik für die Jugend“ nur am Rande eine Rolle gespielt, wandelte sich dies in der zweiten, 1804 erschienen Auflage deutlich. Als ursächlich für diese Entwicklung von GutsMuths gelten die dramatischen Geschehnisse in Frankreich, die Revolution und die sich anschließende Konstituierung eines radikalen, national orientierten bürgerlichen Staatswesens, das dann unter Napoleon Bonaparte eine zusehends gewaltsame Expansionspolitik in Europa betrieb. Dieser Prozess, der insbesondere in den deutschen Staaten auf eine zwiespältige Resonanz stieß und die gebildeten Schichten polarisierte, führte dazu, dass sich GutsMuths an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vom Kosmopoliten zum deutschen Körpererzieher wandelte. Im 17. Kapitel der 1804 veröffentlichten zweiten Auflage der „Gymnastik für die Jugend“ fügte er unter der Überschrift „Kriegsübungen zum gymnastischen Gebrauch. Exerziervorschriften des preußischen Heeres“ in seine Abhandlungen ein und schlug damit als Leibeserzieher eine Brücke zum Militär. Ein Exemplar der überarbeiteten Schrift widmete er dem preußischen Wirklichen Geheimen Staats- und Justizminister Julius Eberhard von Massow (1750 – 1816), bei dem die Bemühungen von GutsMuths nicht zuletzt deswegen auf großes Interesse stießen, weil dieser mit der zweiten Auflage der „Gymnastik“ im besonderen das Ziel verband, den „Volkskörper“ im Interesse des Staates zu trainieren45. Wohl gerieten diese Bemühungen angesichts der sich kurz darauf vollziehenden und für PreuGutsMuths, Johann Christoph Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Bd 7, Berlin (West) 1966, 350 f. 43 Hajo Bernett: Johann Christoph Friedrich GutsMuths, in: Geschichte der Leibesübungen. Band 3/1, hrsg. v. Horst Ueberhorst, Berlin (West) u. a. 1980, 197 – 214, hier 204. 44 1796 erschienen die Spiele zur Übung und Erholung des Körpers und Geistes für die Jugend, ihre Erzieher und alle Freunde unschuldiger Jugendfreuden, in dem erstmals die Regeln des heute vor allem in den USA populären Baseball-Spiels beschrieben wurden, sowie, zwei Jahre darauf, das kleine Lehrbuch der Schwimmkunst. 45 Vgl. Bernett, GutsMuths, (Anm. 43), hier 206.

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ßen so katastrophalen Ereignisse des Jahres 1806 vorübergehend in den Hintergrund. Doch bereits im Rahmen der ersten Arbeiten Gerhard von Scharnhorsts (1755 – 1813) und August Neidhardt von Gneisenaus (1760 – 1831) in der im Juli 1807 von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen eingesetzten und von Scharnhorst geleiteten Militär-Reorganisationskommission war nach eingehender Analyse der militärischen Erfolge Frankreichs deutlich geworden, dass – neben einer ganzen Reihe anderer Gründe – „die Ausdauer der einzelnen Fechter“ ausschlaggebend gewesen sei für das Funktionieren der französischen Tirailleur-Taktik46. Gneisenau führte diese Erkenntnis nun zu der Idee, der leichten und dadurch hoch beweglichen Infanterie im reorganisierten preußischen Heer eine größere Rolle einzuräumen als zuvor: „Leichtigkeit im Einzelnen, Beweglichkeit, Gegenwart und Munterkeit des Geistes, Geschicklichkeit in Benutzung aller Gegenstände zu seiner Deckung und zum Schaden des Feindes, Springen über Gräben, Zäune, Hecken und Gemäuer, Laufen, richtiges Zielschießen, unvermerktes Heran- und Davonschleichen, mit der Schnelligkeit eines Pferdes [sic!] sich nähern und entfernen, kein Versteck, keine Klippe unbeachtet lassen, um dem sorglosen Feind eine treffende Kugel zuzusenden, und im Augenblick des Stillstehens einen treffenden Schuß zu thun, selbst Ströme durchschwimmen, das wäre ungefähr das Ideal eines leichten Infanteristen, und ist er so gebildet, so kann man unter jungen, feurigen Zutrauen einflößenden Anführern das unmöglich scheinende mit ihm unternehmen“47. Wohl bestand für die Reformer unter den demütigenden Bedingungen der französischen Besatzung zunächst kein Spielraum, eine solche gleichermaßen ungewöhnliche wie wegweisende Konzeption zu realisieren. Spätestens jedoch mit dem zeitgleich einsetzenden Agieren diverser Schulreformer und schließlich mit dem Auftreten Friedrich Ludwig Jahns, der mit ihm engstens verknüpften Turnbewegung und deren Rolle im Rahmen der antinapoleonischen Befreiungskriege zwischen 1813 und 1815 erfuhren die Leibesübungen als ein Massenphänomen eine völlig neue Bedeutung, von denen sich auch das Militär nicht ausschließen konnte.

III. Das deutsche Turnen Friedrich Ludwig Jahns Bis zum Dreißigjährigen Krieg hatte die Verantwortung für die individuelle physische Leistungsfähigkeit des einzelnen Soldaten primär bei ihm selbst, allenfalls noch mittelbar in der Verantwortung des ihn für einen bestimmten Zeitraum anwerbenden Kriegsunternehmers gelegen. Mit der Bildung Stehender Heere in Frankreich, aber Schritt für Schritt auch in den Staaten des Heiligen Römischen Reiches, die sich auf ausgehobene „Landeskinder“, das heißt auf die eigenen wehrfähigen männlichen Untertanen stützten, wurden Fragen der körperlichen Gesundheit und 46

Zit. nach Karl-Heinz Schodrok: Militärische Jugend-Erziehung in Preußen 1806 – 1820. Olsberg 1989, 65. 47 Zit nach Georg Heinrich Pertz: Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau. 3 Bde., Bd. I, Berlin 1849, 669.

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Leistungsfähigkeit mehr und mehr auch zu einem Problem des neuzeitlichen Staatswesens. Verglichen mit der Kriegführung des Mittelalters und der frühen Neuzeit bis zur Etablierung von Feuerwaffen für das Fußvolk hatte sich während der Zeit der Kabinettskriege, also vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Zeit der Französischen Revolution, tatsächlich ein Wandel im Anforderungsprofil der einzelnen Soldaten ergeben. Die gepanzerten Ritter, die ausnahmslos jedes zu ihrer Zeit gängige Waffensystem beherrschen mussten, waren von den Schlachtfeldern Europas schon genau so lange verschwunden wie die Bogen- und die Armbrustschützen. Auch das mehr oder minder gut gerüstete und ausgebildete übrige Fußvolk mit seinen Hieb-, Stich- und Schlagwaffen existierte nicht mehr. Vielmehr wurde das neuzeitliche Gefechtsfeld Europas beherrscht vom Typus des nach fixen Reglements trainierten Schützen, des Musketiers oder Füsiliers, dessen vorrangige Aufgabe darin bestand, im Rahmen seines Pelotons mit der eigenen Waffe ein rollendes Feuer zu unterhalten und dabei auch, wenn befohlen, in einem vorgegebenen Tempo vorwärts in Richtung Gegner zu marschieren. Nahkämpfe zwischen Infanteriegruppen wurden in aller Regel mit dem Gewehr, insbesondere mit den aufgepflanzten Bajonetten, ausgetragen48. Deutlich mehr körperliche Übung und Leistungsfähigkeit wurde in dieser Zeit hingegen von der Reiterei verlangt, und zwar sowohl im Hinblick auf das Reiten als auch hinsichtlich der hier noch weitaus gebräuchlicheren Hieb- und Stichbewaffnung. Die im Rahmen der Revolutions- beziehungsweise Koalitionskriege gegen die französische Republik und das Kaiserreich Napoleons praktizierte Gefechtstaktik, die sich im Hinblick auf den Einsatz von Infanterie, Artillerie und Kavallerie im Divisionsrahmen oder durch den weitgehenden Verzicht auf einen Train durchaus von der Taktik der Zeit der Kabinettskriege unterschied, brachte für den einzelnen Soldaten, gleichgültig ob Infanterist oder Reiter, zunächst nur in geringem Umfang Veränderungen mit sich49. Insbesondere die durch eine Versorgung aus dem besetzten Land ermöglichte größere Beweglichkeit der Truppen, die sich unter anderem in höheren täglichen Marschleistungen niederschlug, forderte von den Soldaten eine bessere Kondition. Stärkeren physischen, aber auch psychischen Belastungen war zumeist die leichte Infanterie, waren insbesondere Jäger und Schützen ausgesetzt, die im Vorfeld und in der Flanke der eigenen Kräfte einzeln oder in kleinen Gruppen agierten sowie durch das geschickte Ausnutzen von Deckung und ihre Schießkünste dem Gegner Verluste beibringen, oder ihn zumindest jedoch verwirren und zu ungeplanten Handlungen verleiten sollten50. 48 Zur Taktik in der Kriegführung des 17. und 18. Jhr. vgl. Georg Ortenburg: Waffen der Kabinettskriege. Bonn 1986. Zum Bajonett vgl. etwa den entsprechenden Eintrag im Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Institut der DDR, Bd. 1, Berlin (DDR) 1985, 60 f. 49 Als „Erfinder“ dieser Struktur gilt der in französischen Diensten stehende Sohn Augusts des Starken von Sachsen, Prinz Moritz von Sachsen. Vgl. Maurice de Saxe: Mes rêveries. Amsterdam, Leipzig 1757, 108 ff. 50 Vgl. Ortenburg, Waffen (Anm. 48), 99 f.

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Ein konstitutives Element der antinapoleonischen Koalitionskriege bestand im Grad der Massenmobilisierung, zunächst – mit dem Wehrpflichtgesetz von 1793 und dem Aushebungsgesetz von 1798 ¢ auf französischer Seite, im Rahmen der Befreiungskriege dann auch in Preußen. Unter den neuen Rahmenbedingungen dieser Kriege und den damit verbundenen Anforderungen an eine größere Beweglichkeit der Truppenkörper erhöhten sich zugleich auch die spezifischen konditionellen Erfordernisse gegenüber dem einzelnen Soldaten. Carl von Clausewitz hatte, auf seinen Erfahrungen in den Kriegen gegen Napoleon Bonaparte aufbauend, in seinem dreibändigen, erstmals zwischen 1832 und 1834 erschienenen Werk „Vom Kriege” bereits im fünften Kapitel des ersten Bandes dem Problem der körperlichen Anstrengung und der Belastbarkeit des Kämpfers einige Aufmerksamkeit gewidmet und sie unter „den vornehmsten Ursachen der Friktion“ eingeordnet51. Zugleich wurde insbesondere in der borussischen Geschichtsschreibung die Rolle Friedrich Ludwig Jahns und der Turner im Rahmen der antinapoleonischen Kriege zwischen 1813 und 1815 mythologisch verklärt – die Turner wurden ex post zu den herausragenden Akteuren einer aus dem Volk entstandenen deutschen Nationalbewegung, die durch ihr Handeln die Reichseinigung von 1871 quasi hatte vorweg nehmen wollen52. Tatsächlich wurde Jahn als nationale Integrationsfigur des Kaiserreiches weniger aufgrund seiner unstrittigen Verdienste für die Entwicklung der Leibesübungen oder seines Hanges zum Volkstümlichen interessant, als vielmehr wegen seines gleichfalls unbestrittenen Franzosenhasses. Diese Haltung hatte der 1778 in dem Örtchen Lanz in der Priegnitz geborene Pfarrerssohn, der sich als junger Mann infolge nie bestandenen Abiturs und Studiums als Hilfslehrer mehr schlecht als recht durchs Leben brachte, offensichtlich bereits früh angenommen. Sie resultierte aus der Annahme, dass die auch in deutschen Landen bereits seit dem 17. Jahrhundert im Adel und später im Bürgertum gepflegte Übernahme des französischen Lebensstils, von Sprache, Kultur, Mode und Sitten, entscheidend zur Zerstörung des deutschen Volkscharakters und der deutschen Volkskraft beigetragen habe53. 51 Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, hrsg. von Marie von Clausewitz, 3 Bde., Berlin 1832 – 1834, Bd. 1, 88. 52 Vgl. exemplarisch Franz Guntram Schultheiß: Friedrich Ludwig Jahn. Sein Leben und seine Bedeutung, Berlin 1894, Wolfgang Meyer: Friedrich Ludwig Jahn. Ein Lebensbild aus grosser Zeit, Berlin 1904, Alfred Mäding: Gedankenschatz aus den Schriften des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn mit einer Einführung in diese Schriften. Crefeld 1912, Karl Brunner: Friedrich Ludwig Jahn. Bielefeld/Leipzig 1912. Die Briefe Friedrich Ludwig Jahns. Gesammelt und im Auftrag des Ausschusses der Deutschen Turnerschaft hrsg. von Wolfgang Meyer, Leipzig 1913, Waldemar Müller-Eberhart: Jahns Vermächtnis für unsere Zeit. 2. Aufl., Berlin 1918. 53 Vgl. Wolfgang Stump/Horst Ueberhorst: Deutschland und Europa in der Epoche des Umbruchs: Vom Ancien régime zur bürgerlichen Revolution und nationalen Demokratie – Friedrich Ludwig Jahn in seiner Zeit, in: Geschichte der Leibesübungen. Band 3/1, hrsg. v. Horst Ueberhorst, Berlin (West) u. a. 1980, 215 – 228, hier 219; Günther Jahn: Friedrich Ludwig Jahn. Volkserzieher und Vorkämpfer für Deutschlands Einigung 1778 – 1852, Göttingen, Zürich 1992, 22.

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Hatte ihm 1802 ein Treffen mit Ernst Moritz Arndt bereits ein tieferes Verständnis für die Aspekte einer vaterländischen, deutschen Staatsidee vermittelt, so entdeckte Jahn 1807 in Schnepfenthal unter der Ägide von Johann Christoph Friedrich GutsMuths das Feld der Leibesübungen als körperliches Erziehungsmodell für Heranwachsende, für Jahn eine Möglichkeit, auch auf diesem Gebiet französischen Einflüssen etwas entgegenzusetzen. In seiner 1808 verfassten und zwei Jahre später publizierten Schrift „Deutsches Volkstum“ postulierte Jahn sein antifranzösisches und völkisch-nationales Weltbild und erlangte damit deutschlandweit eine große Aufmerksamkeit. In diesem Band widmete Jahn im Rahmen des fünften Kapitels mehrere Seiten auch den verschiedensten Aspekten der Leibesübungen, die für ihn ein zentrales Element einer allseitigen, umfassenden Menschenbildung darstellten54. Ab 1810 war Jahn in der fünf Jahre zuvor von Johann Ernst Plamann (1771 – 1834) in Berlin gegründeten Plamannschen Erziehungsanstalt beschäftigt. Plamann orientierte sich an der Erziehungsgrundsätzen Johann Heinrich Pestalozzis und maß hierbei der körperlichen Ertüchtigung allergrößte Bedeutung bei. Zugleich war seine politische Haltung von den Ideen der Nationalerziehung Johann Gottlieb Fichtes (1762 – 1814) geprägt, der zur selben Zeit gleichfalls in Berlin wirkte. An der Plamannschen Einrichtung lernte Jahn eine Vielzahl von Persönlichkeiten kennen, die die deutsche Bildungs- und Wissenschaftslandschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in entscheidender Weise mitprägen sollten. Friedrich Ludwig Jahn, Friedrich Friesen (1784 – 1814), Christian Wilhelm Harnisch (1787 – 1864) und einige weitere hier angestellte Lehrer und Erzieher, aber auch andere patriotisch gesonnene junge Männer gründeten Ende 1810 in Berlin im Geheimen den „Deutschen Bund“, eine Gruppierung, deren vorrangiges Ziel in der „von unten“, aus dem Volk betriebenen Beendigung der französischen Besatzung und der deutschen Einigung bestand. Dabei ging die der Gruppe zugrunde liegende ideelle Konzeption weit über eine bloße Vermittlung pädagogischer Werte und Normen hinaus, sie hatte vielmehr die Entwicklung eines „vollkommenen Menschen, Bürgers und Volksgliedes“ zum Ziel, der hinsichtlich der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht keine Unterschiede mehr kannte55. In dieser ebenso modernen wie umstrittenen Programmatik, die – ganz nebenbei – die Metamorphose des Untertanen zum Bürger implizierte, hatten die Leibesübungen ihren festen Platz. Ab Juni 1811 entstand in der Berliner Hasenheide, heute ein Park im Stadtteil Neukölln und ein Schwerpunkt des Berliner Drogenhandels, zunächst unter Jahns Anleitung ein Schülertreff, in dessen Mittelpunkt das Turnen stand. Dieses Turnen war für Jahn die Gesamtheit aller „deutschen“ Leibesübungen, 54

Jahn begründete seine Haltung mit einem Verweis auf die jüngere deutsche Geschichte, in der die körperliche Bildung aus der Mode gekommen sei und führte zur Unterstützung seiner Argumentation auch Friedrich Schillers Wilhelm Tell ins Feld. „Sie sollen alles lernen. Wer durchs Leben sich frisch will schlagen, muß zu Schutz und Trutze gerüstet sein.“ Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volksthum. Leipzig 1817, 189. 55 Ebd., 141.

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mit und ohne Gerät, Turnen für ihn daher auch ein „urdeutscher“ Begriff56. Wenngleich heute keinerlei Zweifel mehr daran besteht, dass das Wort tatsächlich auf das lateinische tornare zurückgeht und damit eine ältere Geschichte hat, war es Friedrich Ludwig Jahn und seinen Mitstreitern gelungen, die Leibesübungen als Ausdruck patriotischer Gesinnung und als Element vollkommener menschlicher Bildung in ihrer ganzen Bandbreite öffentlich bekannt zu machen und eine gewisse Popularität zu generieren. Jahn selbst trug durch sein Auftreten und Wirken nicht unerheblich zu dieser Bekanntheit bei, die das Turnen rasch auch über die Grenzen Berlins hinaus erlangte57. Bereits in jungen Jahren und mehr noch während seiner „studentischen Wanderjahre“ war er nicht allein durch sein ungestümes, nicht selten gewalttätiges Agieren, sondern auch – wie etwa an den Universitäten in Greifswald und in Göttingen – durch sein einfaches, wenig gepflegtes Äußeres in Erscheinung getreten58. Nun, unter dem Eindruck seiner sich ständig steigernden Popularität, kam dieser von Jahn als „Deutscher Rock“ beziehungsweise als „Deutsche Tracht“ bezeichnete Kleidungsstil in Mode, ein „schwarzer, einfacher Rock, ebensolche Hosen und weißer Schillerkragen ohne Halstuch, sowie schwarzes Barett“.59 Ab 1813 stand Jahns Turnertracht für die Uniform des neu aufgestellten Lützowschen Freikorps Pate, das bei seiner Gründung als eine vornehmlich aus Ausländern rekrutierte Freiwilligentruppe für den sogenannten kleinen Krieg nicht unerheblich von seinem Renommee profitierte. Gewiss ergaben sich für Friedrich Ludwig Jahn durch die preußische Allerhöchste-Kabinetts-Ordre vom 3. Februar 1813 über die Aufstellung freiwilliger Jägerdetachements völlig neue Möglichkeiten, seine politischen wie seine (körper-)erzieherischen Vorstellungen in das Modell der Militärreformer um Scharnhorst und Gneisenau einzubringen. Wenngleich die tatsächliche militärische Bedeutung des Lützowschen Freikorps im Rahmen der antinapoleonischen Befreiungskriege als nachrangig einzuschätzen ist, entfaltete die Truppe nicht zuletzt aufgrund der Aktivitäten Jahns unmittelbar mit ihrer Aufstellung eine beachtliche propagandistische Wirkung, die – nach 1815 und mit tatkräftiger Unterstützung so manches überlebenden Lützower Jägers – schließlich zu einem 56

Friedrich Ludwig Jahn/Ernst Wilhelm Bernhard Eiselen: Die deutsche Turnkunst. Zur Einrichtung der Turnplätze dargestellt, Berlin 1816, 45 ff. 57 Hier kommt in der Forschung bisweilen eine gewisse Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass die französischen wie auch die preußischen Behörden dem Treiben der Turner keine größere Beachtung beimaßen, zumal Jahn aus seinen antifranzösischen Positionen, öffentlich wie privat, nie auch nur den geringsten Hehl machte. Vgl. Jahn, Friedrich Ludwig Jahn (Anm. 53), 34 f. 58 Vgl. ebd., 15, 21. Der kaum begüterte Jahn konnte sich auch auf diese Weise deutlich von seinen wenigstens in Stil- und Modefragen frankophilen Kommilitonen abgrenzen und schuf damit zweifellos für eine gewisse Zeit einen Trend. 59 Ebd., 34. Jahns Beitrag zur Genese dieser Tracht im Kontext von Politik, Militär und Leibesübungen wird breit diskutiert von Eva-Maria Schneider: Herkunft und Verbreitungsformen der „Deutschen Nationaltracht der Befreiungskriege“ als Ausdruck politischer Gesinnung. Diss. phil., Bonn 2002, Bd. I, 57 ff.

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der ersten modernen deutschen Nationalmythen wurde, der über alle Zeitläufte und Brüche der deutschen Geschichte hinweg konsensfähig blieb und bis heute nichts von seiner bemerkenswerten Faszination eingebüßt zu haben scheint60. Unter dem Einfluss Jahns trafen unter den Bedingungen eines „Volkskrieges“61 im Freikorps Lützow in einem engen politischen Kontext erstmals auch Soldatentum und Leibesübungen/ Turnen aufeinander – und letzteres wurde in der Folgezeit im Zeichen der Restauration, nicht allein in Preußen, vor allem als genuin politisches Handeln begriffen, mit ernüchternden Konsequenzen für Friedrich Ludwig Jahn wie für viele andere Beteiligte. Tatsächlich zog die 1820 nach dem Attentat des Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand (1795 – 1820) auf den russischen Generalkonsul und Schriftsteller August von Kotzebue (1761 – 1819) im Gefolge der Karlsbader Beschlüsse verhängte Turnsperre in Preußen das vorläufige Ende aller Bemühungen Jahns und seiner Mitstreiter nach sich, die Leibesübungen im preußischen Bildungssystem, das heißt im öffentlichen Raum, zu etablieren. Tatsächlich hatte Metternich bei seinen Bemühungen um eine Durchsetzung des Verbots der Turn- und Burschenschaftsbewegung im Deutschen Bund vorrangig die politische, insbesondere die nationalistische Dimension im Blick, die – befeuert von den Reden und Schriften Johann Gottlieb Fichtes (1762 – 1814) und vor allem Ernst Moritz Arndts (1769 – 1860) – aufgrund der hier diskutierten Vorstellungen von einer freiheitlichen, geeinten deutschen Nation in letzter Konsequenz auch eine Bedrohung für die tradierten monarchischen Regierungssysteme darstellte. Dass Jahn als Exponent dieser Bewegung hier nur zu rasch in den Blick genommen, unter Anklage gestellt und schließlich auch verurteilt wurde, dürfte nicht zuletzt dem Umstand geschuldet sein, dass er aufgrund seiner Aktivitäten als „Turnlehrer“ und seiner vielfältigen Beziehungen sowohl auf Schüler wie auf Studenten, das heißt auf die Jugend, wirken konnte.62 Allen Bemühungen des mit dem „Fall Jahn“ befassten Richters E. T. A. Hoffmann zum Trotz wurde Friedrich Ludwig Jahn auch nach Prozessende weiter in Haft gehalten und schließlich am 31. Mai 1820 kraft höchster Kabinettsorder nach Kolberg verbracht, wo er fünf Jahre verblieb um seine Rehabilitation zu betreiben. Fortan sollte er selbst für die Entwicklung der Leibesübungen in Deutschland keine Rolle mehr spielen63.

60 Vgl. Gerhard Wiechmann: Das Lützowsche Freikorps 1813/14. In: Militärgeschichte, I, 2002, 4 – 12. 61 Der Begriff wird umfänglich diskutiert von Alexandra Bleyer: Auf gegen Napoleon! Mythos Volkskriege, Darmstadt 2013. 62 Aufgrund der gezielten Einflussnahme des mit dem „Fall Jahn“ befassten Richters E.T.A. Hoffmann wurde Jahn von der Anklage wegen Hochverrats und Verführung der Jugend [!] freigesprochen. 63 Vgl. Jahn, Friedrich Ludwig Jahn (Anm. 53), 60 ff

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IV. Im Blick des Militärs Gleichwohl hatten sich zwischenzeitlich auch Beamte und Militärs, nicht allein in Preußen, mit dem Gedankengut der Philanthropen, mit den Inhalten ihrer Übungen und den von ihnen verfolgten Zielen auseinandergesetzt. Nach der Katastrophe des Jahres 1806 gerieten Fragen der körperlichen Ausbildung nahezu zeitgleich in den Blick der preußischen Bildungs- wie der Militärreformer. Auf beiden Feldern setzten sich die Reformer insbesondere auch mit den Entwicklungen und Strukturen in Frankreich auseinander, von denen man sich angesichts der militärischen Erfolge Napoleon Bonapartes für die Modernisierung und Weiterentwicklung des preußischen Staates, nicht zuletzt des Militärs und des Bildungssystems, verwertbare Erkenntnisse erhoffte. Bereits wenige Monate nach dem Desaster von Jena und Auerstedt gelangten Gerhard von Scharnhorst und August Neidhardt von Gneisenau in ihren Analysen der Kampfhandlungen des Jahres 1806 zu der Erkenntnis, dass ein wesentliches Element des französischen Waffenerfolges in der Tirailleurtaktik zu suchen sei, die seit den nordamerikanischen Befreiungskriegen merklich an Bedeutung gewonnen habe, die jedoch neben einem „natürlichen Verstand“ zugleich auch eine erheblich größere „Ausdauer der einzelnen Fechter“ erfordere64. Gneisenau war zu der Auffassung gelangt, dass junge wie erwachsene Männer als Teile eines „Volksheeres“ in Friedenszeiten eine turnerisch geprägte vormilitärische Erziehung erhalten sollten, an die sich nach ihrer Einberufung eine moderne militärische Ausbildung anschloss. Eine solche Masse physisch wie moralisch gestählter und militärisch ausgebildeter Soldaten, die „für ihren Herd, für ihr Eigentum und ihre Familien kämpfen“, schien ihm wie Gerhard von Scharnhorst „unüberwindlich“65. Beide waren zu dieser Haltung auch durch aktuelle Berichte über das französische Bildungswesen gelangt, die der Hallenser Pädagoge August Hermann Niemeyer (1754 – 1828) der preußischen Militär-Reform-Kommission im November 1807 geliefert hatte, und die auf Erkenntnissen aus einer kurz zuvor beendeten Bildungsreise nach Paris und Pont à Mousson beruhte. Niemeyer wusste zu berichten, dass die Schüler der von ihm besuchten Schulen ¢ es handelte sich dabei um Lyceen wie um Ecoles secondaires ¢ Uniform trügen und regelmäßig eine militärische Unterweisung erhielten. Niemeyer stand dieser Form schulischer Bildung ablehnend gegenüber und hielt damit auch in seinem für die Militärreformer bestimmten Bericht nicht hinter dem Berg66. Gleichwohl fielen die von Niemeyer gewonnenen Erkenntnisse wenigstens bei diesen auf fruchtbaren Boden. Ließ sich doch, wie das Beispiel Frankreich zu belegen schien, durch eine bereits im Jugendalter als Teil der schulischen Bildung begonnene Unterweisung in militärischen Dingen sowie durch eine 64 Gerhard von Scharnhorst: Einleitung in die Taktik der Infanterie. GStAPK Berlin, I. HA, Rep. 92, N 217, Nr. 176, Bl. 4v. 65 Pertz, Gneisenau (Anm. 47), 321. 66 Vgl Schodrok, Militärische Jugend-Erziehung (Anm. 46), 73 f.

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damit verknüpfte konsequente Steigerung der physischen Leistungsfähigkeit die Schlagkraft des Heeres erhöhen. Tatsächlich fand diese Idee Eingang in den von der Militär-Reformkommission verfassten und im Januar 1808 an den Staatsminister Freiherrn vom Stein gerichteten „Entwurf über Provinzial-Truppen“, der von Stein zustimmend zur Kenntnis genommen wurde67. Allerdings geriet die Konzeption einer paramilitärischen Komponente der preußischen Schulbildung rasch in das Fadenkreuz argwöhnischer französischer Nachforschungen und erfuhr zudem interne Kritik aus den Reihen traditionell eingestellter Bildungspolitiker, die einer militärisch konnotierten körperlichen Bildung Heranwachsender generell kritisch gegenüberstanden. Dennoch herrschte auch unter diesen Kritikern kein Zweifel an der generellen Notwendigkeit, die Leibesübungen in den Fächerkanon des staatlichen Schulwesens zu integrieren, das in Preußen unter Wilhelm von Humboldt von 1809 an Gestalt annahm. Mit der Anstellung des württembergischen Pädagogen und Pestalozzi-Anhängers Carl August Zeller (1774 – 1840) als Regierungsrat im Juni 1809 wurde ein expliziter Anhänger einer paramilitärischen Jugenderziehung nach Preußen gerufen. Die von Zeller erarbeiteten Ausbildungsinhalte, die vom Militär mit großem Interesse begleitet wurden, fanden als Militärgymnastik ab 1811 Eingang in den Schulbetrieb einiger Elementarschulen in Preußen68. Schritt für Schritt kam es nach 1813 zudem zu einer inhaltlichen Verschmelzung mit Übungen aus dem Jahnschen Turnen. Neben den Leibesübungen im Turnunterricht an den öffentlichen Schulen Preußens trat ab 1813 im Zeichen der allgemeinen Wehrpflicht Schritt für Schritt das militärische Turnen als integraler Ausbildungsbestandteil der Mannschaften wie des Offizier- und Unteroffizierkorps. Die Leibesübungen wurden damit zu einem konstitutiven Teil der Erziehung zum Staatsbürger. Diese Entwicklung vollzog sich auch vor dem Hintergrund eines zunehmenden Misstrauens der preußischen Behörden gegenüber den Turnvereinen, da die hier postulierten politischen Ideen zunehmend als Bedrohung für die bestehende Ordnung angesehen wurden. So versteht sich die der Ermordung Kotzebues folgende preußische Turnsperre des Jahres 1819 als Kontroll- und Steuerungsmaßnahme, um das Erziehungsmonopol des Staates auch auf das Feld der Leibesübungen auszudehnen. Die Folgen für das Turnwesen in Preußen waren gleichwohl schwerwiegend.

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Vgl. ebd., 76. Schodrok bezeichnet die diesbezüglich zwischen der Militär-ReformKommission und Stein geführte Korrespondenz als „früheste schulpolitische Äußerung zur paramilitärischen Jugenderziehung in Preußen“. 68 Vgl. Carl August Zeller: Kriegsübungen der Elementarschule. Berlin 1814. Bislang liegt keine Untersuchung über Umsetzung und Wirkung der Zellerschen Konzeption im preußischen Schulbetrieb bis 1819 vor. Zudem ging nach dem Sieg über Napoleon Bonaparte das Interesse der Behörden an einer paramilitärischen Jugenderziehung merklich zurück. Der Schwerpunkt sollte nunmehr vorrangig auf der allgemeinen körperlichen Ertüchtigung Heranwachsender liegen.

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Das von Friedrich Wilhelm III. erlassene Verbot behinderte sowohl die Entwicklung der Leibesübungen im öffentlichen Raum wie in Schulen und beim Militär in Preußen beträchtlich. Dass eine völlige Zerschlagung der bereits geschaffenen staatlichen Strukturen, etwa auf dem Bildungssektor unterblieb, ist wohl vor allem dem umsichtigen Wirken des amtierenden Kultusministers Karl vom Stein zum Altenstein (1770 – 1840) und seines Oberregierungsrates Johannes Schulze (1786 – 1869) zu verdanken, die beispielsweise trotz des Verbots die Turnlehrerausbildung kontinuierlich förderten. Überdies blieb die Durchführung von Leibesübungen in geschlossenen Räumen, wie sie in Berlin etwa von Ernst Eiselen (1793 – 1846) angeboten wurden, von dem Verbot unberührt. Gleiches galt weit mehr noch in anderen deutschen Staaten. In Hannover, Braunschweig, Bayern, Sachsen und Württemberg etwa wurde in den 1820er Jahren der Grundstein für die Etablierung des Turnens in den Fächerkanon zunächst der Gymnasien, wenig später dann auch in den der anderen Schulen gelegt. Dass sich diese Entwicklungen trotz der Turnsperre und des auf dem Turnen lastenden Verdikts des Umstürzlerischen hatten vollziehen können, war einer Reihe von Gründen geschuldet. Zunächst wurde der Prozess der Einführung der Leibesübungen in allen deutschen Staaten von Akteuren getragen, die als politisch integer galten, ja teils sogar über direkten Kontakt zu den Fürstenhäusern verfügten, für die sie als Erzieher tätig gewesen waren69. Zudem bestand seit den 1830er Jahren für die Mehrzahl der Bildungspolitiker wie auch der Militärs kein Zweifel mehr daran, dass zwischen der körperlichen Verfasstheit der Jugend und ihrer Leistungsfähigkeit, auch und gerade als Soldat, ein direkter Zusammenhang bestand. Nicht wenige führende Turnpädagogen hatten als Soldaten an den Befreiungskriegen teilgenommen ¢ der sächsische „Turnvater“ Werner etwa war Lützower Jäger gewesen, er hatte sich während seiner Zeit in Frankreich intensiv mit dem Fechten, Schwimmen und Bogenschießen auseinandergesetzt ¢ und fügten militärische „Exercitien“ in den Rahmen der von ihnen gelehrten Leibesübungen ein70. Schließlich hatten die Aufstellung und der permanente Unterhalt eines auf den Prinzipien der allgemeinen Wehrpflicht beruhenden Massenheeres bestimmte konstitutionelle Anforderungen an jeden einzelnen Wehrpflichtigen zur Folge, um der Fortentwicklung von Technik und Taktik Rechnung tragen zu können. Und in Puncto Marsch- bzw. Operationsgeschwindigkeit hatten die Armeen Napoleons ganz neue Maßstäbe gesetzt. Tatsächlich hatten die meisten großen europäischen Nationen im Gefolge der Befreiungskriege in den Ausbildungsvorschriften ihrer Armeen Elemente

69 So etwa Bernhard Christoph Faust (1755 – 1842) im Fürstentum Lippe oder Johann Adolf Ludwig Werner (1794 – 1866) im Herzogtum Anhalt-Dessau. Anstelle des politisch negativ besetzten Begriffs Turnen kam der unverfängliche Terminus Gymnastik in Gebrauch, den der schwedische Dichter und Pehr Henrik Ling (1776 – 1839) geprägt hatte. 70 Vgl. Sixten Gnüchtel: Die Entwicklung des Schulturnens an den Lehrerseminaren und den staatlichen allgemeinbildenden Schulen Sachsens im Zeitraum von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1914. Diss. phil., Chemnitz 1994, 34.

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eines körperlichen Trainings implementiert, während das häufig als „Militärstaat“ bezeichnete Preußen auf diesem Gebiet selbst dem Königreich Sachsen nachhing71. Hier trat eine Änderung erst mit dem Thronwechsel von Friedrich Wilhelm III. auf Friedrich Wilhelm IV. (1795 – 1861) im Jahr 1840 ein, denn zu dem von Friedrich Wilhelm IV. angestoßenen Modernisierungsprozess zählte auch eine Neubewertung der Leibesübungen im Kontext des Bildungssystems. Folgerichtig erklärte der „Romantiker auf dem Königsthron“ am 6. Juni 1842 im Rahmen einer Kabinettsordre die Leibesübungen zu einem notwendigen und unentbehrlichen Bestandteil der männlichen Erziehung, die in den Kreis der Volks-Erziehungsmittel aufzunehmen seien, und wies die Minister für Kultus, Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (1779 – 1856), für Inneres, Gustav von Rochow (1792 – 1847), und für Krieg, Hermann von Boyen (1771 – 1848), an, in den Schulen wie beim Heer die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen. Inhaltlich lehnte sich diese Kabinettsordre eng an eine im Vorjahr von Ministerialrat Johannes Schulze aus dem preußischen Kultusministerium verfasste Denkschrift sowie an den an Friedrich Wilhelm IV. gerichteten Immediatbericht der drei Ministerien vom 29. April 1842 an, der die Wiedereinführung des Turnens in Preußen betraf72. Bereits 1836 hatte sich der unter anderem in Berlin, Stettin und Oppeln praktizierende Arzt Ignaz Lorinser (1796 – 1853) in der Medizinischen Zeitung des Vereins für Heilkunde in Preußen in dem Aufsatz „Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen” für die Einführung von Leibesübungen in den Fächerkanon der Schulen eingesetzt und dies mit der seiner Sicht nach gesundheitsschädigenden Wirkung „des Stillsitzens“ begründet. Lorinsers Schrift eröffnete nicht allein eine erregte öffentliche Debatte über das preußische Bildungswesen, dessen vermeintliche „Vergeistigung“ und die daran gebundene körperliche Degeneration73. Sie bewog das Kultusministerium auch dazu, von sämtlichen Provinzialschulkollegien gutachterliche Stellungnahmen zu dem von Lorinser beschriebenen Sachverhalt sowie zur Frage der Einführungen von Leibesübungen in den Schulunterricht einzufordern. Aus der im Ergebnis dieser Untersuchung verfassten „Circular-Verfügung“ sprach das überaus große Interesse nahezu aller Schulleitungen an der Einführung von Leibesübungen an ihren Einrichtungen. Zugleich wurde explizit auf die Anforderungen im „pflichtmäßigen Dienst im Königlichen Heer“ hingewiesen, die einer 71

Vgl. Anweisung zur Gymnastik für die Königlich Sächsische Infanterie. Dresden 1841. Der Immediatbericht und die Kabinettsordre sind abgedruckt bei Carl Euler/Gebhard Eckler (Hrsg.): Verordnungen und amtliche Bekanntmachungen das Turnwesen in Preußen betreffend. Leipzig 1869, 17 ff. 73 Vgl. dazu exemplarisch die kritischen Entgegnungen von Friedrich August Gotthold: Dr. L. J. Lorinser’s Beschuldigung der Schulen, zur Steuer der Wahrheit und zur Beruhigung besorgter Eltern widerlegt, Königsberg 1836 und Heinrich Wilhelm Thienemann: Gutachten über die Schrift des Medizinalraths Dr. Lorinser: „Zum Schutz der Gesundheit in den Schulen“, Züllichau 1836. Hingegen stimmte der Reformpädagoge Adolph Diesterweg (1790 – 1866) vollständig mit Lorinsers Auffassung überein und druckte dessen Beitrag noch im gleichen Jahr in den „Rheinischen Blättern für Erziehung und Unterricht“ ab. 72

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gezielten körperliche Ertüchtigung der männlichen Jugend bedürften74. Es liegt vor diesem Hintergrund nahe, dass sich das Kultusministerium diese Konstellation nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. zunutze machte und hierbei eng mit den Ministerien für Inneres und Krieg kooperierte. Sobald die Leibesübungen nämlich in staatlichen Institutionen wie Schule und Heer „eingehegt“ und ihres aus dem Jahnschen Turnen tradierten politischen Charakters entkleidet waren, stellten sie keine Gefahr mehr für den preußischen Staat dar, ja dem Militär schien diese Entwicklung mittelfristig sogar neue Perspektiven für die körperliche Leistungsfähigkeit des gesamten Personalbestandes zu bieten. Wie im Schulwesen auch, bildete die Kabinettsordre Friedrich Wilhelms IV. vom 6. Juni 1842 gleichwohl nicht den Anstoß zu einer sofortigen und flächendeckenden Einführung der Leibesübungen beim preußischen Heer. Kriegsminister Hermann von Boyen maß der Körperertüchtigung zunächst wohl eine nur nachrangige Bedeutung bei und wollte sie allenfalls auf die Ausbildung der Offizier-Anwärter beschränkt sehen. Jedoch wandelte sich die Haltung Boyens, als er 1844 einen Aufsatz des Oberleutnants Hugo Rothstein (1810 – 1865) in der Septemberausgabe der Zeitschrift „Der Staat“ lesen konnte, in dem dieser detailliert die Gymnastik des Schweden Pehr Henrik Ling und das von Ling geleitete „Gymnastische Central-Institut“ in Stockholm beschrieb. Kurzerhand bot Boyen Rothstein an, dort eine Ausbildung zu absolvieren. Für den preußischen Offizier dürften die Monate in Stockholm, in denen er auch bei Hofe zuvorkommend aufgenommen und in die ersten Kreise der Gesellschaft integriert wurde, prägend gewesen sein75. Fortan machte es sich Rothstein zu seiner Lebensaufgabe, die insgesamt eher fragmentarischen Hinterlassenschaften Lings zur Gymnastik in eine für den preußischen Staat, für die Armee wie für die Bevölkerung nutzbare Form zu bringen. Sein Bericht stieß bei Boyen abermals auf großes Interesse. Kurz entschlossen veranlasste er 1847 die Gründung des „Central-Instituts für den gymnastischen Unterricht in der Armee“ in Berlin und betraute Rothstein mit der Leitung. Nachdem die 1843 von dem Jahn-Schüler Hans Ferdinand Maßmann (1797 – 1874) mit Unterstützung des preußischen Kultusministeriums in Berlin ins Leben gerufene Turnlehrer-Bildungsanstalt 1851 ihre Pforten geschlossen hatte, wurde nun auch die Ausbildung ziviler Turnlehrer an die Einrichtung Hugo Rothsteins angebunden, die hinfort als Königliche Central-Turn-Anstalt zu Berlin firmierte76.

74 Die Circular-Verfügung ist abgedruckt in Euler/Eckler (Hrsg.): Verordnungen (Anm. 72), 12 ff. 75 Hans Langenfeld: Major Hugo Rothstein, eine tragische Gestalt der deutschen Sportgeschichte. in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, NF, 13 (2005), 145 – 173, hier 153. 76 Maßmanns Einrichtung hatte sich nie als Turnlehrer-Bildungseinrichtung etablieren können. Rothsteins Institut befand sich an der ursprünglich vor dem „Neuen Thor“ gelegenen Scharnhorststraße. Er selbst war mit der Bezeichnung der Einrichtung als Turn-(!)Lehrer-

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Wie Maßmann hatte auch Rothstein mit einer nur geringen Resonanz aus der Lehrerschaft zu kämpfen, offensichtlich bestand insbesondere für Gymnasiallehrer kaum ein Anreiz, sich mit dem neuen Fach „Leibesübungen“ auseinanderzusetzen, zumal das Kultusministerium nur zum Teil für die Kosten der Ausbildung aufkam. Als weit schwerwiegender erwies sich die bereits kurz nach der Eröffnung laut gewordene Kritik an den geringen Kapazitäten und an der langen Kursdauer für die Offiziere. Tatsächlich standen je Jahrgang und Armeekorps nur zwei Absolventen zur Verfügung, für eine flächendeckende Einführung der Leibesübungen selbst unter den Offizieren war dies eindeutig zu wenig77. Neben der Leitung der Einrichtung oblag Rothstein zugleich auch die inhaltliche Weiterentwicklung der Leibesübungen beim preußischen Militär, etwa durch die Ausarbeitung von Übungsanleitungen und Leitfäden78. Zentrale Inhalte der Ausbildung waren etwa „Frei- und Gewehrübungen“, „Rüstübungen“ sowie das Bajonettfechten. Dabei sind unter dem Begriff „Freiübungen“ neben dem Dauer- bzw. Schnelllauf über 100 Meter mit und ohne Bewaffnung und Ausrüstung und Standweitsprüngen, gymnastische sowie Dehnungsübungen zu verstehen. „Rüstübungen“ umfassten hingegen verschiedene Ausbildungselemente aus dem Gerätturnen mit teils durchaus anspruchsvollem Charakter. Bei den Gewehrübungen und beim Bajonettfechten stand die Handhabung des Infanteriegewehrs als Nahkampfwaffe im Stich, Schlag und Stoß im Mittelpunkt79. Die Frei- und Rüstübungen wiesen mehrere auffällige Unterschiede zu den im zivilen Turnen bzw. der zivilen Gymnastik auf, etwa in ihrem Streben nach Präzision, ihrer Monotonie und der Wahrung einer gemessenen Übungsgeschwindigkeit. Freudbetontheit, ein spielerischer Wettkampf oder gar Spaß an der körperlichen Bewegung spielten hingegen keine Rolle. Zugleich kam die Rothsteinsche Gymnastik weitgehend ohne komplizierte Turngeräte aus, ein Aspekt, an dem er aller interner wie von außen, aus dem Kreis der organisierten Turner geäußerter Kritik zum Trotz festhielt. So entwickelte sich der 1860 zwischen Rothstein und der Berliner Turnerschaft ausgetragene sogenannte „Barrenstreit“ zu einem Schlagabtausch zwischen dem Vertreter der Lingschen Gymnastik in Preußen und zugleich des preußischen Staates einerseits und den Turnern andererseits, eine Auseinandersetzung, die zugleich als eine Facette des zwischen Regierung und Opposition ausgetragenen Verfassungskonflikts um die Roonsche Heeresreform zu sehen ist. Hugo Rothstein hatte Barren Bildungsanstalt nicht glücklich, da er als Anhänger Lings dem Begriff Gymnastik den Vorzug gab. 77 Vgl. Langenfeld: Rothstein, (Anm. 75), 157. 78 Dazu zählte bspw. die 1860 von Prinz Wilhelm, dem späteren König Wilhelm I. veröffentlichte Instruktion für den Betrieb der Gymnastik und des Bajonettfechtens bei der Infanterie. Berlin 1860. 79 Vgl. ebd., 13 ff. Bemerkenswert ist hierbei u. a., dass die Übungen langsam und penibel nach Vorschrift und nicht bis zum Schwitzen durchgeführt werden sollten und dass dabei jeglicher Wettkampfcharakter untersagt war. Für den Dauerlauf wurde eine maximale Übungszeit von 16 Minuten vorgegeben, Gehpausen eingeschlossen.

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und Reck aus dem Übungssaal seiner Anstalt entfernen lassen, da sie seiner Meinung nach für die körperliche Ausbildung der Kurs-Teilnehmer wie der Truppe entbehrlich erschienen, sich damit allerdings endgültig den Zorn der einflussreichen Schüler Friedrich Ludwig Jahns zugezogen, die in Rothstein den Förderer einer ausländischen, dem deutschen Wesen fremden Art der Leibesübungen sahen. Wenn auch den Liberalen der Erfolg im Konflikt mit der Krone letztlich versagt blieb, erreichte die Deutsche Turnbewegung ihr Ziel ¢ die Suspendierung Hugo Rothsteins ¢ im Jahr 1863 tatsächlich. Von den vielfältigen Belastungen gezeichnet verstarb er im Alter von 53 Jahren 1865 in seiner Heimatstadt Erfurt. Nach wie vor konnte von einer flächendeckenden, systematischen körperlichen Ausbildung aller Militärangehörigen, das heißt Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere, keine Rede sein, diese blieb in Art und Umfang weiterhin dem Ermessen des jeweils kommandierenden Vorgesetzten überlassen. Auch der freudlose, kasernenhofmäßige Drill formaler Bewegungen des Körpers war bis zur Jahrhundertwende fester Übungsbestandteil80. Immerhin bestanden zu diesem Zeitpunkt im preußischen Kriegsministerium keine Zweifel mehr an der Sinnhaftigkeit, ja Notwendigkeit von Leibesübungen als Bestandteil der militärischen Ausbildung. Die körperliche Fitness des einzelnen Soldaten galt neben der Reproduktionsrate des gesamten Volkskörpers im Zeitalter der wehrpflichtbasierten Massenheere als ein konstitutiver Bestandteil der Wehrkraft einer modernen Nation. Neben dieser Massierung des Militärwesens gaben Entwicklungen in den Bereichen der Waffen- wie der Kommunikations- und Transporttechnik, die wiederum die physischen wie psychischen Anforderungen an jeden Kämpfer erhöhten, den Ausschlag für den Integrationsprozess der Leibesübungen in das Feld des Militärischen81. Zudem wirkten die Reichseinigungskriege, insbesondere aber der Deutsch-französische Krieg 1870/71 als Katalysatoren für diese Entwicklung, denn nicht allein die organisierten deutschen Turner und das Militär, auch die besiegten Franzosen bezeichneten das in Deutschland gepflegte Turnen und die hieraus resultierende größere körperliche Belastbarkeit der deutschen Soldaten als das ausschlaggebende Kriterium für den Sieg der deutschen Waffen in diesem Krieg. 1880 beschloss das französische Parlament die Einführung von Leibesübungen für die männliche Jugend, die sich am deutschen Turnmodell, weniger an dem des englischen Sports orientierten. Da diese „éducation physique“ jedoch sonntags betrieben werden sollte und damit unmittelbar in tradierte gesellschaftliche Strukturen eingriff, die diesen freien Tag der Familie und dem Kirchgang vorbehalten lassen 80 Vgl. Hans Langenfeld: Gymnastik in Uniform. Ein Kapitel der preußischen Militärgeschichte zwischen Napoleon und Wilhelm II., in: Stadion. Internationale Zeitschrift für die Geschichte des Sports, 2/2000, 137 – 153, hier 146 f. 81 Die durchschnittliche Tauglichkeitsrate der gemusterten Wehrpflichtigen lag ausgangs des 19. Jahrhunderts in Deutschland bei etwa 60 Prozent. Die kontinuierliche Steigerung von Reichweite und Feuergeschwindigkeit der Infanteriebewaffnung wie der Artillerie und die militärische Nutzung von Telegrafie und Eisenbahn zogen eine „Beschleunigung“ militärischer Konflikte nach sich, der der Mensch Rechnung zu tragen hatte.

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wollten, blieben die Erfolge dieser Bemühungen letztlich ebenso begrenzt wie die 1882 von Staatspräsident Jules Grévy (1807 – 1891) erlassene Verordnung zur Gründung von „bataillons scolaires“, die die paramilitärische Ausbildung an den Schulen befördern sollten82. In den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden die modernen Staaten Kontinentaleuropas auf dem Gebiet der Leibesübungen mit zwei Entwicklungssträngen konfrontiert, die nicht allein das Erscheinungsbild der Körperertüchtigung nachhaltig beeinflussen sollten: der englische Sport und die Spielbewegung. Der moderne Sport als Wettkampf gelangte im 19. Jahrhundert mittels Kulturtransfer auch nach Deutschland. Sowohl hier beruflich tätige Engländer als auch Deutsche, die den umgekehrten Weg gegangen waren, hatten „den Sport im Gepäck“, der sich in seinen Normen wie in seiner Praxis erheblich vom Turnen nach Jahnschem Muster unterschied. Freudbetontheit und Fairness aber auch das Streben nach Sieg und Rekord im Wettkampf, nach öffentlichem Interesse und nicht zuletzt nach materiellem Erfolg verstärkten beim etablierten Turnen jene Abneigung gegen das aufkommende Konkurrenzmodell, das bereits aus seiner englischen Herkunft resultierte83. Demgegenüber resultiere die Entwicklung der sogenannten Spielbewegung in Deutschland in den 1880er Jahren aus der Einsicht, dass der nun auch im Fächerkanon der meisten Schulen eingeführte Turnunterricht für Heranwachsende nur bedingt geeignet war. In der vielbeachteten Streitschrift „Woran wir leiden“, die sich hinsichtlich ihrer Resonanz mit der 1836 publizierten Schrift Ignaz Lorinsers „Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen“ messen konnte, machte der Düsseldorfer Amtsrichter Emil Hartwich (1843 – 1886) 1881 auf die unstrittigen Defizite des Turnunterrichts aufmerksam und plädierte eindringlich für die Einführung von Sportspielen in den Turnunterricht wie in die Freizeitgestaltung der Kinder und Jugendlichen84. Offensichtlich teilte man diese Ansichten auch im preußischen Kultusministerium, denn bereits 1882 ging Kultusminister Gustav von Goßler (1838 – 1902) mit dem später nach ihm benannten Spielerlass in die Initiative, in dem er ¢ auch unter Bezugnahme auf Friedrich Ludwig Jahn ¢ zur Integration freudbeton82

Vgl. Eugen Weber: Gymnastics and Sports in Fin-de-Siècle France. Opium of the Classes? in: The American Historical Review 76 (1971), Nr. I, 70 – 98, hier 74 f. Tatsächlich war diesen Bemühungen des französischen Staates bis zum Kriegsausbruch 1914 wenig Erfolg beschieden. Eines größeren Interesses erfreuten sich hingegen Schützenvereine, die vom französischen Militär mit Munition versorgt wurden. 83 Vgl. Christiane Eisenberg: English sports und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800 – 1939, Paderborn u. a. 1999. Exemplarisch steht für diesen Prozess der Braunschweiger Lehrer Konrad Koch (1846 – 1911), der im Herbst 1874 am Braunschweiger Gymnasium Martina-Katharineum unter aktiver Mitwirkung seiner Schüler das erste Fußballspiel auf deutschem Boden initiierte. Die Geschichte wurde mit Daniel Brühl in der Hauptrolle 2010 verfilmt. 84 Vgl. Emil Hartwich: Woran wir leiden. Freie Betrachtung und praktische Vorschläge über unsere moderne Geistes- und Körperpflege in Volk und Schule, Düsseldorf 1881. Hartwich starb 1886 in einem Duell, das er gegen Armond Leon Baron von Ardenne bestritt. Das Ereignis inspirierte Theodor Fontane zu dem Roman „Effi Briest“.

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ter, wettkampforientierter Spiele im Freien in den Turnunterricht sowie zum Wandern, Schwimmen und Eislaufen aufforderte85. Hartwichs und Goßlers Initiative mündete 1891 in die Gründung des Zentralausschusses für Volks- und Jugendspiele, Goßler selbst wirkte als Mitglied des Vorstandes mit. V. Offizier und sportsman Dass sich Sport und Spiel trotz des Widerstandes aus den Reihen der Turnerschaft binnen kürzester Zeit im Deutschen Kaiserreich ausbreiten konnten, verdankte sich jedoch nicht allein der überaus großen Popularität, der sich diese alternativen Formen der Leibesübungen insbesondere unter Kindern und Jugendlichen rasch erfreuten. War der englische Sport ursprünglich ein Phänomen der gesellschaftlichen Oberschicht gewesen, der im Profisport sein Pendant gefunden hatte, so fungierten im Deutschen Kaiserreich vor allem Angehörige des Hochadels und der regierenden Herrscherhäuser als Promotoren dieses Trends, unter ihnen auch Wilhelm II. Bereits 1890 hatte der Kaiser in seiner Rede zur Eröffnung der Reichsschulkonferenz in Berlin die Strukturen, Formen und Inhalte des Bildungssystems kritisiert und unter anderem betont, dass jeder gesunde Lehrer turnen können müsse und auch jeden Tag turnen solle86. Wenngleich Wilhelm selbst aufgrund seiner Behinderung nur in sehr beschränktem Maße in der Lage war, sich körperlich zu ertüchtigen, etwa durch Reiten, brachte er dem Turnen wie dem Sport reges Interesse entgegen. Regelmäßig nötigte der Kaiser während seiner Nordlandfahrten die mit ihm reisenden, oftmals schon betagten Militärs, unter seiner persönlichen Anleitung Sport zu treiben, so etwa Morgengymnastik. Dabei war es ihm, wie sein Hofmarschall Robert Graf Zedlitz-Trützschler (1863 – 1942) berichtet, eine besondere Freude, wenn diese Herren aufgrund der ihnen ungewohnten körperlichen Anstrengung außer Atem gerieten87. Hatte der Kaiser seine offenkundige Affinität zum Sport wohl zunächst den Beziehungen zur englischen Verwandtschaft und seinem Interesse am englischen Kulturgut zu verdanken, zu dem auch die sports, games and pastimes gehörten, so lagen beim Kronprinzen Wilhelm (1882 – 1951) die Dinge schon etwas anders. Er galt neben dem Prinzen Friedrich Karl (1893 – 1917)88 als der Prototyp des schneidigen 85 Der Erlass ist abgedruckt in Heinz Denk/Gerhard Hecker (Hrsg.): Texte zur Sportpädagogik. Bd. I, Schorndorf 1981, 258 – 263. 86 Vgl. Rede S.M. Kaiser Wilhelms II. zur Eröffnung der Reichsschulkonferenz. In: Deutsche Schulkonferenzen, Bd. I. Verhandlung über die Fragen des höheren Unterrichts, Berlin, 4. bis 17. Dezember 1890, Unv. Neudr. der Ausg. von 1891, Glashütten i. T. 1972, 70 – 76; hier 72. Die Eröffnungsrede Wilhelms II. gilt auch als Anstoß für die Reformpädagogik in Deutschland. 87 Vgl. Robert Graf Zedlitz-Trützschler: Zwölf Jahre am deutschen Kaiserhof. Stuttgart 1924, 124. 88 Friedrich Karl war der zweite Sohn des Prinzen Friedrich Leopold von Preußen und – wie beispielsweise Carl Diem in seinen Erinnerungen anschaulich beschreibt – ein begnadeter Leichtathlet und Boxer. Der Prinz ist am 6. April 1917 als Jagdflieger an der Westfront bei

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Sportsmannes im Hause Hohenzollern. Welche mentalen bzw. kommunikativen „Barrieren“ der sich verstärkende Einfluss des Sports selbst für die „erste Familie des Reiches“ bereithielt, verdeutlicht das offene Wort des Kronprinzen an ZedlitzTrützschler: „Mein Vater wird mich nie verstehen, denn er hat eine ganz andere Sportauffassung als ich. Das ist auch ganz natürlich, denn er ist von Jugend auf durch seinen unterentwickelten Arm gehindert, sich wirklich sportlich zu betätigen. Für mich aber scheiden sich die Menschen in zwei Kategorien, solche, die wirkliche Sportsmenschen sind, und solche, die es nicht sind. Mit den letzteren kann ich mich überhaupt nicht verständigen“89. Zur erstgenannten Kategorie zählte ohne jeden Zweifel sein Cousin Prinz Friedrich Karl von Preußen, der mit seinen Brüdern, den Prinzen Friedrich Sigismund (1891 – 1927) und Friedrich Leopold (1895 – 1959) 1911 in die Offiziersabteilung des renommierten Berliner Sportklubs BSC eintrat. Friedrich Karl war ein herausragender Leichtathlet, Boxer und Schwimmer, der zudem als Mitglied der deutschen Reiterequipe bei den Olympischen Spielen von 1912 in Stockholm die Bronzemedaille gewann90. Auch Prinz Heinrich von Preußen (1862 – 1929), der jüngere Bruder des Kaisers, galt als hervorragender Segler, Golfer und Polospieler. Als Marineoffizier und Kommandeur förderte er das Schwimmen und das Fußballspiel in der Marine nach Kräften91. Gleiches galt für Carl Eduard Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha (1884 – 1954) als Förderer des Bobsports. Durch die enge persönliche Verflechtung junger Mitglieder regierender Herrscherhäuser, die meist auch als Offiziere und militärische Befehlshaber fungierten, in die Strukturen des organisierten Sports, wirkte dieser seit etwa 1900 sehr zum Missfallen der Turner mehr und mehr auch in das Feld der bislang vornehmlich von turnerischen Übungen besetzten militärischen Körperertüchtigung hinein. Diese scheinbar „von allerhöchster Stelle“ forcierte Entwicklung wussten die Förderer des Sports und der Spielbewegung für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Dabei konnten sie zudem auf die Unterstützung namhafter Persönlichkeiten aus der Politik, der Wissenschaft wie aus dem Militär zählen92. Insbesondere Colmar von der Goltz Saint-Étienne-du-Rouvray gefallen. Ihm zu Ehren wurde 1929 im Sportforum in Berlin-Grunewald ein Denkmal errichtet. 89 Zedlitz-Trützschler, Zwölf Jahre (Anm. 87), 228 f. 90 Vgl. Frank Becker: Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882 – 1962), Bd. I, Duisburg 2009, 126. Die im Verlaufe der Spiele in Stockholm getroffene Entscheidung, die folgenden Olympischen Spiele 1916 in Berlin auszutragen, stieß in Deutschland auf eine weitgehend positive Resonanz. 1913 wurde im Grunewald das Deutsche Stadion als Austragungsort für die Spiele mit einem großen Turn- und Sportfest eingeweiht. 91 Vgl. Harald Eschenburg: Prinz Heinrich von Preußen. Der Großadmiral im Schatten des Kaisers, Heide 1989; Albert Netz: Deutsches Heeresschwimmen. Düsseldorf 1914. Prinz Heinrich dürfte überdies der erste Hohenzoller gewesen sein, der eine Pilotenlizenz erworben hat. 92 Hierzu zählten unter anderem Emil von Schenckendorff (1837 – 1915), Mitglied im preußischen Abgeordnetenhaus Reformpädagoge und Gründer des Zentralausschusses zur Förderung der Jugend- und Volksspiele, Ferdinand August Schmidt (1852 – 1929), Arzt und

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kommt als Militärwissenschaftler und -publizist in diesem Netzwerk eine herausragende Rolle als Ideengeber und Förderer der Leibeserziehung zur Steigerung der Wehrkraft und des Wehrgedankens in Deutschland in den beiden letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu. Mit seinem 1883 erstmals erschienenen und vielbeachteten Buch „Das Volk in Waffen“ ergriff er Partei für eine umfassende und konsequente körperliche Ertüchtigung jedes einzelnen Soldaten im Rahmen der militärischen Ausbildung, um ihn auch in dieser Hinsicht auf den „modernen“ Krieg bestmöglich vorzubereiten. Dabei war man naturgemäß auf den in den Schulen erteilten Turnunterricht angewiesen, auf den diese Leibesübungen aufbauen sollten. Mehr denn je bestand für das Militär aller deutschen Staaten das Problem der Wehrtauglichkeit ihrer Rekruten ¢ ein Problem, das zum Ende des 19. Jahrhunderts noch durch unspezifische, in zahlreichen europäischen Nationen verbreitete Degenrationsängste verstärkt wurde93. Dieses Problem wurde 1899 vom Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele im Rahmen eines großen Kongresses in Königsberg breit diskutiert und zog die Gründung eines „Unterausschusses zur Förderung der Wehrkraft durch Erziehung“ nach sich. Trotz vielfältiger publizistischer Aktivitäten und Initiativen stießen solche Bemühungen erst ab 1910 beim Militär auf größere Resonanz94. In Bayern hatte sich soeben unter der Regie des Grafen Robert von Bothmer der „Bayerische Wehrkraftverein“ gegründet, die Pfadfinder-Bewegung breitete sich ¢ aus Großbritannien kommend ¢ rasch in ganz Deutschland aus, in Dresden warf die für 1911 geplante Internationale Hygieneausstellung bereits ihre Schatten voraus und in Berlin wurden in einer vom Preußischen Kultusministerium durchgeführten Konferenz von Bildungspolitikern, Wissenschaftlern, Turnund Sportfunktionären die Möglichkeiten zur „Hebung der körperlichen und sittlichen Erziehung der schulentlassenen Jugend“ diskutiert. Während die Dresdner Hygieneausstellung von Mai bis Oktober 1911 die Bedeutung einer gesunden Lebensführung unter besonderer Berücksichtigung des Sports hervorhob, schuf das PreußiGründer des Deutschen Sportärztebundes, der preußische Kultusminister Gustav von Goßler, Carl Philipp Euler (1828 – 1901), Pädagoge und Schriftsteller, Ernst Kohlrausch (1850 – 1923), Turnlehrer und Filmpionier, Willibald Gebhardt (1861 – 1921), Chemiker, Hygieniker und Begründer der olympischen Bewegung in Deutschland, Erbprinz Philipp Ernst von Hohenlohe-Schillingsfürst (1853 – 1915), erster Präsident des deutschen olympischen Komitees, Theodor Lewald (1860 – 1947), hochrangiger Verwaltungsbeamter im Reichsamt des Innern und Colmar von der Goltz (1843 – 1916), Generalfeldmarschall und Gründer des Jungdeutschland-Bundes. 93 Vgl. Heinrich Hartmann: Der Volkskörper bei der Musterung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2011, 198. Hartmann führt an, dass sich noch um 1900 das Interesse des Militärs, sich aktiv mit dem Problem der Erhaltung bzw. Steigerung der Wehrkraft durch Leibesübungen, Turnen und Sport auseinanderzusetzen, nur schwach ausgeprägt gewesen sei. 94 Bemerkenswert ist hier beispielsweise die von Ernst Kohlrausch im Auftrag des Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele 1910 herausgegebene, immerhin mehr als hundert Seiten umfassende Schrift „Militärisches Spielbuch“, die sich explizit an „die Truppe“ wandte und die als Handbuch für Mannschaftsspiele und für leichtathletische Übungen zu verstehen ist.

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sche Kultusministerium im Januar 1911 mit dem Jugendpflegeerlass die institutionellen Grundlagen zur gezielten Förderung des vaterländischen Geistes und der Leibesübungen mit militärischem Charakter in Preußen. VI. Die Geburt des „Militärathleten“ In unmittelbarer Folge wurde auf Initiative von Colmar von der Goltz noch im selben Jahr der Jungdeutschland-Bund95 gegründet. Goltz, der gerade erst zum Generalfeldmarschall ernannt worden war, übernahm den Posten des Vorsitzenden des Bundes. Sein Stellvertreter wurde der Arzt und Vorstandsvorsitzende der Deutschen Turnerschaft, Ferdinand Goetz (1826 – 1915). Der Bund verstand sich zunächst als Dachverband verschiedener Jugendorganisationen, vornehmlich aus dem bürgerlichen Milieu, so etwa Wander-, Turn-, Sport- oder Pfadfindervereine, in der insbesondere die körperliche Leistungsfähigkeit und ein kriegerischer Geist gefördert werden sollten. Tatsächlich erlangten beide Elemente, persönliche Fitness und Kampfmoral ¢ in enger Verbindung mit einer umfassenden und gewissenhaften Ausbildung ¢ unter dem Eindruck rasanter waffentechnischer Veränderungen96 seit den 1880er Jahren insbesondere für die Infanterie eine immer größere Bedeutung. Die ernüchternden Erfahrungen aus dem Deutsch-französischen Krieg mit einer überkommenen Gefechtstaktik, die den angreifenden deutschen Streitkräften teils enorme Verluste eingetragen hatte, führten zeitgleich auch unter deutschen Militärtheoretikern zu einer Wende in den hitzig geführten Debatten, die bis dahin um die Wahrung oder Auflösung fixer Strukturen und Ordnungen im modernen Gefecht kreisten. Der militärische Erfolg resultierte für sie auch aus der Schnelligkeit des Angreifers, der den Verteidiger zu überraschen vermochte. Ein Angriff auf ausgebaute Verteidigungsstellungen aus der Bewegung heraus machte aufgrund der zu erwartenden Verluste wenig Sinn. Vielmehr könne in dieser Konstellation ein Sturm erst nach systematischer Vorbereitung durch die Artillerie und nach errungener Feuerüberlegenheit erwogen werden. In beiden Fällen waren bei den Soldaten nun neben den Fähigkeiten des Kämpfers auch physische und psychologische Stärke gefragt. Die Schnelligkeit und der gesteigerte Wirkungsgrad der neuen Waffen übertrugen sich auf den einzelnen Soldaten, der dieser Entwicklung durch höhere körperliche Leistungen Rechnung tragen musste, um den Kampfauftrag erfüllen zu können. Tatsächlich bestand unter den Militärtheoretikern um die Jahrhundertwende weitgehender Konsens in der Auffassung, dass die moderne Waffentechnologie die Defensive begünstige, diese selbst jedoch keine realistischen Siegchancen bot, sondern vielmehr einen Krieg verlängern und zu einem Abnutzungskampf führen würde, der denjeni95

Zum Jungdeutschland-Bund vgl. Stefan Noack: Der Jungdeutschlandbund, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Organisationen, Institutionen, Bewegungen, hrsg. v. Wolfgang Benz, Berlin 2012, 344 – 346. 96 So etwa die Truppeneinführung kleinkalibriger Mehrladegewehre (G 88 bzw. G 98 im Kaliber 8x57) mit vergleichsweise großer Schussleistung und Patronen mit raucharmem Pulver (Nitrozellulose).

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gen bevorteile, der über die größeren Reserven verfüge. Dies war jedoch für die Militärs keine realistische Option. Vielmehr wurde ein „Kult der Offensive“ generiert, der ¢ wie der russisch-japanische Krieg 1904/05 zu bestätigen schien ¢, untersetzt mit einem unbedingten Vorwärtsdrang der Angreifer, ihrer Standhaftigkeit im gegnerischen Abwehrfeuer sowie eiserner Disziplin und Opfermut, trotz aller herben Verluste, zum Erfolg führte97. Es liegt nahe, dass sich diese Ansicht in den Gefechtsvorschriften der Kampftruppen wiederfinden ließ, so im 1906 aktualisierten deutschen Exerzierreglement für die Infanterie. In dem Dokument wird überdies explizit auf das Turnen als Ausbildungselement hingewiesen, und zwar zwecks „Erziehung zur Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst, Förderung des Wagemuts ¢ namentlich durch Turnen und Fechten ¢, Gewöhnung an körperliche Anstrengungen“98. Entsprechende Formulierungen finden sich daher in der Einleitung der 1910 von den Kriegsministerien der deutschen Staaten herausgegebenen Turnvorschrift für die Infanterie. In ihr wird auf den Zweck der beschriebenen Übungen verwiesen, die dazu dienen sollten, „Mängel in der körperlichen Entwicklung des Mannes zu beseitigen“ sowie „Kraft und Gelenkigkeit, Körperbeherrschung und gute Haltung, Mut, Selbstvertrauen und Opferwilligkeit“ zu wecken und zu fördern99. Zugleich trug die Vorschrift in mehrfacher Hinsicht der allgemeinen Entwicklung der Zivilgesellschaft Rechnung. So war es begabten Turnern unter den Unteroffizieren und Mannschaften nunmehr auch offiziell gestattet, an Übungen „leistungsfähiger Vereine der Deutschen Turnerschaft“ teilzunehmen und Spiele wie etwa Fußball konnten den Kanon der tradierten Leibesübungen ergänzen. Von den militärischen Vorgesetzten wurde ausdrücklich erwartet, dass sie bei ihren Unterstellten einen „gesunden Ehrgeiz“ entwickeln und durch ihre Anwesenheit bei Wettkämpfen und Spielen ihr persönliches Interesse auch an der sportlichen Ausbildung der Unteroffiziere und Mannschaften demonstrieren sollten100. Diese neue Turnvorschrift stieß bei den Institutionen des organisierten Turnens und Sports auf überaus großes Interesse. Der Zentralausschuss zur Förderung der Volks- und Jugendspiele reagierte umgehend mit einer 1911 von Ernst Kohlrausch, dem Vorsitzenden des technischen Ausschusses herausgegebenen Schrift, die für die „Spielleiter“ innerhalb der Truppe, das heißt für die mit der Organisation und Durchführung von Leibesübungen beauftragten Offiziere und Unteroffiziere bestimmt und ausdrücklich als Handbuch und Regelwerk für zahlreiche Sportspiele zu verstehen war101. 97

Jack Snyder: Civil-Military-Relations and the Cult of the Offensive, 1914 and 1984, International Security, Bd. 9, 1 (1984), 108 – 146. 98 Exerzier-Reglement für die Infanterie, Berlin 1906, Abschnitt Nr. 268, 82. 99 Turnvorschrift für die Infanterie. Berlin 1910, 1. 100 Ebd., 4 ff. 101 Ernst Kohlrausch: Militärisches Spielbuch. Kleine Schriften des Zentralausschusses zur Förderung der Volks- und Jugendspiele in Deutschland, Bd. 9, Leipzig 1911, Vorwort.

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Zweifelsohne verfolgte der Zentralausschuss auch mit dieser Schrift die Absicht, Einfluss auf die Ausgestaltung der Leibesübungen beim Militär, also einer der zentralen Institutionen des Deutschen Kaiserreichs, nehmen und damit zugleich auch eigene Interessen fördern zu können102. Andererseits boten Heer und Flotte nunmehr ganz offiziell die Möglichkeit, zu sportlichen Wettkämpfen innerhalb der Truppe wie gegen zivile Vereine bzw. Mannschaften antreten zu können und damit eine ganz besondere Form der Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Gleichwohl ergab sich hinsichtlich der Umsetzung auch bei dieser Vorschrift in die Ausbildungspraxis in den Armeekorps, Divisionen und Regimentern des deutschen Heeres wie bei der Marine eine Reihe teils eklatanter Probleme. Wohl hatte sich die Mannschaftsstärke des Heeres in etwa parallel zum Anstieg der Bevölkerungszahl des Kaiserreichs entwickelt und war von 420.000 Mann im Jahr 1875, darunter 325.000 Preußen, auf 663.000, davon mehr als 500.000 preußische Soldaten, im Jahr 1913 angestiegen103. Dennoch wurde 1914 jeder zweite als tauglich gemusterte junge Mann nicht zum aktiven Dienst gerufen, sondern als ungedienter Ersatz-Reservist zur Auffüllung des Heeres im Mobilmachungsfall bestimmt104. Ohne jeden Zweifel hatten sich Heer und Marine seit der Jahrhundertwende, insbesondere jedoch seit etwa 1910 in beachtenswertem Maße den Leibesübungen, dem Turnen und dem Sport zugewandt und im jüngeren Offizierkorps orientierte man sich wohl auch auf diesem Feld an der sportaffinen kaiserlichen Familie. Zugleich trug das Militär damit auch den vielfältigen Anforderungen an die körperliche Leistungsfähigkeit und die psychische Belastbarkeit jedes einzelnen Mannes Rechnung. Dennoch sollte der Erste Weltkrieg rasch neue Herausforderungen für den modernen Soldaten mit sich bringen. Spätestens mit dem Beginn des Stellungskrieges erlebten die Leibesübungen auch bei der kämpfenden Truppe einen Bedeutungswandel. Vom Fronteinsatz zurückgekehrt, bildeten Sport und Spiel den Mannschaften Mittel zur Ablenkung. Sie wurden dabei nicht selten tatkräftig unterstützt von ihren Vorgesetzten, die den Stellenwert für die Moral ihrer Einheiten nur zu rasch erkannten. Turn- und Sportfeste und Fußballturniere fanden bei den deutschen Trup-

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So etwa den Bau von Sportstätten wie Turn- und Spielplätzen oder Schwimmbädern. Vgl. Karl-Volker Neugebauer/Heiger Ostertag: Grundzüge der deutschen Militärgeschichte., Bd. 2, Arbeits- und Quellenbuch, Freiburg 1993, 212. Im selben Zeitraum hatte sich die Bevölkerungszahl des Deutschen Kaiserreiches von 42,7 Mio. auf rund 65 Mio. erhöht. 1893 wurde die Dauer des aktiven Dienstes im Rahmen der Wehrpflicht von drei auf zwei Jahre reduziert. Ausgenommen hiervon waren freilich Kavallerie, berittene Artillerie und Marine. 104 Zum Problem von Wehrpflicht und Wehrgerechtigkeit in der deutschen wie europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Reiner Pommerin: Die Wehrpflicht zwischen Bellizismus und Zivilgesellschaft. Ein Überblick, in: Reform, Reorganisation, Transformation. Zum Wandel in deutschen Streitkräften von den preußischen Heeresreformen bis zur Transformation der Bundeswehr, hrsg. v. Karl-Heinz Lutz/Martin Rink/Marcus von Salisch, München 2010, 451 – 462. 103

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pen vermehrt ab 1916 im Hinterland aller Fronten statt. Darüber hinaus dienten die Leibesübungen auch zur Rehabilitation Verwundeter und Kriegsbeschädigter105. In dem ersten totalen und industrialisierten Krieg musste sich der Mensch als Soldat auf dem Schlachtfeld wie im Hinterland der Front auch mit Hilfe neuer technischer Mittel behaupten, die, wie das Fahrrad, das Motorrad, das Automobil oder das Flugzeug, bis dahin nicht selten als Sport- und Freizeitgeräte benutzt worden waren. Ballonbeobachtern stand seit 1917 ein Fallschirm als Rettungsmittel zur Verfügung, ab 1915 erschlossen bayerische und württembergische Regimenter in den Alpen den Kampfraum Hochgebirge und entwickelten beim deutschen Heer das militärische Bergsteigen106. Von herausragender Bedeutung waren Sport und Spiel bei den Spezialeinheiten des Heeres, den Sturmbataillonen107. Die Aufstellung dieser besonderen Einheiten ab Mitte 1915 resultierte aus der Erkenntnis der deutschen militärischen Führung, dass die bisher angewandten Methoden der Offensive, die auf die Wiederaufnahme des Bewegungskrieges abzielten, angesichts des Kräftepatts, vor allem an der Westfront, sowie aufgrund der hohen Wirksamkeit der im Grabenkrieg eingesetzten Abwehrwaffen, nicht zum Erfolg geführt, dafür aber zahllose Opfer gefordert hatten. Als geistige Väter des später als Stoßtrupptaktik bezeichneten Angriffsverfahrens galten der Leiter der Posener Feuerwehr und Pionier-Hauptmann Bernhard Reddemann (1870 – 1938) und der in Metz geborene Infanterie-Hauptmann Willy Rohr (1877 – 1930), der nach eigenen Vorstellungen aus der an der Alpenfront eingesetzten Sturmabteilung Calsow eine Kampfeinheit formte, der bereits im Rahmen des ersten Einsatzes zur Jahreswende 1915/16 an der Vogesenfront eine Reihe taktischer Erfolge gelangen. Die Sturmabteilung unterschied sich hinsichtlich ihrer Struktur, Ausrüstung und Ausbildung teils erheblich von den normalen Infanterie-Kompanien bzw. -bataillonen des deutschen Heeres. Sie setzte sich aus Infanteristen, MG- und Flammenwerfer-Schützen und Kanonieren mit ihren spezifischen Waffen zusammen, die als kleine, von Unteroffizieren geführte Kampfgruppen operierten108. Ihre Hauptaufgabe bestand im handstreichartigen Angriff und Überfall auf und der Inbesitznahme von zuvor exakt bestimmten gegnerischen Positionen. Die Angriffsziele waren vorab intensiv aufgeklärt worden, nicht selten wurden sie auf im Hinterland der Front befind105

Vgl. Peter Tauber: Vom Schützengraben auf den grünen Rasen. Der Erste Weltkrieg und die Entwicklung des Sports in Deutschland, Berlin 2008, 225 ff. bzw. 163 ff. 106 Vgl. Alexander Jordan: Krieg um die Alpen. Der Erste Weltkrieg im Alpenraum und der bayerische Grenzschutz in Tirol, Berlin 2008. 107 Zu den Sturmbataillonen vgl. Werner Lacoste: Deutsche Sturmbataillone 1915 – 1918. 2. Aufl., Aachen 2010; Ian Drury: German Stormtrooper 1914 – 18. Osprey, 1995; Bruce I. Gudmundsson: Stormtroop Tactics. Innovation in the German Army. 1914 – 1918, Westport 1995. 108 Vgl. Ralf Raths: Vom Massensturm zur Stoßtrupptaktik. Die deutsche Landkriegstaktik im Spiegel von Dienstvorschriften und Publizistik 1906 bis 1918, Freiburg/ Br. u. a. 2009, 165 ff.

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lichen Truppenübungsplätzen im Maßstab 1:1 nachgebaut und an diesen Bauwerken Angriff und Einnahme trainiert. Jeder Sturmsoldat war an allen an der Front gebräuchlichen eigenen und zahlreichen gegnerischen Waffen (Gewehre, MG, Handgranaten, Granatwerfer usw.) ausgebildet und hatte innerhalb seiner Gruppe eine besondere Aufgabe. Die Einheit rekrutierte sich ausschließlich aus geeigneten Freiwilligen. Neben Fronteinsätzen diente der ab 1916 zum Sturm-Bataillon ausgebaute Truppenteil des Hauptmanns Rohr der Schulung weiterer gleichartiger Einheiten, von denen bis zum Sommer 1918 innerhalb des Heeres noch weitere 14 gebildet wurden. Von Beginn an verwendete man bei der Ausbildung der Sturmgrenadiere viel Zeit auf die Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch einen umfänglichen Kanon von Leibesübungen, die im Ausbildungsplan denselben Stellenwert besaßen „wie jeder andere militärische Dienst“. Sie wurden „täglich außer an Sonntagen“ betrieben109. Unterschieden wurde dabei in den aus Laufen, Springen, Werfen (Diskus und Speer), Turnen und Schwimmen bestehenden Wettkampfsport und „angewandten Leibesübungen“ als Bestandteilen der „kriegsmäßigen Ausbildung“ auf der Hindernisbahn und beim Handgranatenwurf110. Die Hindernisbahn war aus Modellen jedes an der Front eingesetzten pioniertechnischen Sperrelemententyps zusammengesetzt, beim Trainieren des Handgranatenwurfs wurden die maximalen Wurfweiten jedes Soldaten ermittelt, dem dann eine spezifische Rolle innerhalb seiner Kampfgruppe zufiel. Das Fußballspiel diente als Spielsportart mit Körperkontakt der Schulung des Mannschafts- und Angriffsgeists sowie der Erfahrung unmittelbarer körperlicher Härte in Zweikampfsituationen. Gleiches galt auch für das Boxen. In ihrer Kombination aus erfahrenem Frontkämpfer und versiertem Sportler nahmen die Angehörigen der Sturmbataillone auch über das Kriegsende 1918 und die deutsche Niederlage hinaus vielfach eine Vorbildfunktion ein. Während des Weltkrieges galten sie als „das Maß der Dinge“, obschon sie sich nicht zuletzt aufgrund der ihnen zuteilwerdenden Privilegien bei der normalen Fronttruppe nur einer geringen Beliebtheit erfreuten. Nach Kriegsende gelangte der Stoßtrupp-Mythos etwa in Deutschland (SA) und in Italien (Arditi) rasch in den politischen Werkzeugkasten insbesondere gewaltbereiter rechtsextremer Aktivisten, die überdies entwurzelte Angehörige dieser Einheiten in ihre Organisationen zu integrieren suchten. Auch vor diesem Hintergrund ist beispielsweise die wehrsportliche Komponente der SA-Ausbildung als ein Versuch zu sehen, die militär-sportlichen Fähigkeiten der Sturmbataillone des Weltkrieges auf das nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Aussicht genommene SA-Milizheer zu übertragen.

109 Hellmuth Gruss: Die deutschen Sturmbataillone im Weltkrieg. Aufbau und Verwendung, Berlin 1939, 128. 110 Ebd., 128 f. In den Sturmbataillonen wurde für die Leibesübungen offenbar durchgängig der aus dem Englischen entlehnte Begriff Sport gebraucht, die tradierten Termini Turnen und Gymnastik treten deutlich zurück.

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VII. Resümee In zahlreichen, aus der griechisch-römischen Antike tradierten Aufzeichnungen wie etwa in der „Ilias“ Homers wird der enge Zusammenhang zwischen hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und herausragendem Soldatentum bildhaft beschrieben. Nicht wenige heute weltweit populäre leicht- und schwerathletische Disziplinen aber auch Kampfsportarten wie das Boxen, das Ringen oder das Bogenschießen haben ihre Wurzeln in der Antike, als sie konstitutive Bestandteile der soldatischen Ausbildung darstellten, zugleich aber auch im Rahmen der antiken Spiele in Olympia, Delphi oder Korinth als Wettkampfdisziplinen dienten, die regelmäßig zu Ehren der griechischen Götter ausgetragen wurden. Speer, Lanze und Bogen waren dabei nicht allein Sportgeräte sondern zugleich auch Waffen, auf deren Einsatz sich der Einzelkämpfer wie der Hoplit ebenso verstehen musste wie auf den Gebrauch des Schwerts oder ¢ wenn nötig ¢ seiner Fäuste. An diesen Anforderungen änderte sich in Europa über viele Jahrhunderte hinweg trotz diverser taktischer Modifikationen bis ins Mittelalter hinein nur wenig. Insbesondere die umfassende und facettenreiche Ausbildung eines jungen Adligen zu einem Ritter schloss das Training zahlreicher „sportlicher“ Disziplinen ein. Von seiner individuellen Fähigkeit, diese Lektionen aufzunehmen und sich stetig weiterzuentwickeln, hing letztlich sein Überleben im Turnier wie im richtigen Kampf ab. Mit dem Bogen und der Armbrust gelangten in dieser Zeit im Rahmen bewaffneter Konflikte Waffen in Verwendung, die dem ritterlichen Ideal jener Zeit wohl kaum entsprachen, deren massiver Einsatz sich jedoch gleichwohl mehr als einmal als schlachtenentscheidend erwies. Die im 16. Jahrhundert beginnende vermehrte Gebrauch von Feuerwaffen zog für den Einzelnen weitreichende Konsequenzen hinsichtlich seiner soldatischen Fähigkeiten nach sich. An die Stelle des an zahlreichen Waffen ausgebildeten elitären Einzelkämpfers trat der im Abgeben einzelner Schüsse im Rahmen des Peloton-Feuers gedrillte Gewehr-Schütze, der als Teil einer permanent reglementierten, gelenkten und genormten Masse handelte. Wohl blieben die Leibesübungen auch über die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert hinweg präsent, ja in England begann sich exakt in diesem Zeitraum der Sport als adliger Zeitvertreib zu etablieren. Sieht man einmal vom Fechten sowie von den spezifischen Anforderungen an einen Kavalleristen ab, spielten derartige Kompetenzen im neuzeitlichen Heerwesen hingegen kaum noch eine Rolle. Es blieb Napoleon Bonaparte vorbehalten, der Entwicklung des Militärwesens auch auf diesem Gebiet eine neue Dynamik zu verleihen. Die von ihm im Rahmen der Koalitionskriege geführten Truppen zeichneten sich aufgrund des weitgehenden Verzichts auf einen Train durch eine größere Beweglichkeit aus, die sich unter anderem auch in höheren Marschleistungen niederschlug und die dem einzelnen Soldaten eine höhere körperliche Leistung abverlangte. In noch weit stärkerem Maße waren davon die Angehörigen kleinerer Sondereinheiten wie etwa die Jäger betroffen.

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In Auseinandersetzung mit der Strategie und Taktik Bonapartes widmete sich Carl von Clausewitz verstärkt den körperlichen Fähigkeiten des einzelnen Kämpfers, denen er eine herausragende Rolle für die siegreiche Entscheidung von Schlachten und Feldzügen beimaß. Zeitgleich trat mit Friedrich Ludwig Jahn ein Akteur in Preußen in die Öffentlichkeit, der durch das maßgeblich von ihm entwickelte und als „Turnen“ bezeichnete Modell der Verknüpfung von Leibesübungen und politischer Unterweisung Aspekte der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts entscheidend mitprägen sollte. Nach Überwindung anfänglicher, politisch motivierter Widerstände brach sich, vor allem in Preußen, seit den 1840er Jahren die Einsicht Bahn, dass sich durch die Duldung, ja Förderung des Turnens Vorteile hinsichtlich der Wehrkraft des Volkskörpers im Zeitalter der Wehrpflichtarmeen generieren ließen. So folgte, wenn auch wiederum nicht spannungsfrei, nach der Revolution von 1848/49 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einführung des Turnens in den Schulunterricht sowie beim Militär. Galt das Turnen ¢ auch als Institution ¢ nach dem Deutsch-französischen Krieg als integrativer Bestandteil des Deutschen Kaiserreiches, erwuchs ihm durch das Aufkommen des Sports und der Spielbewegung seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine namhafte Konkurrenz, die nicht zuletzt die bis dahin singuläre Stellung des Turnens in Schule wie Militär zu bedrohen schien. Tatsächlich erlangten diese beiden modernen Formen körperlicher Ertüchtigung in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges auch in Schule und Militär eine immer größere Popularität. Und hierzu trugen auch zahlreiche Vertreter des deutschen Hochadels bei, die sich ¢ wie etwa der Kronprinz Wilhelm oder die Prinzen Friedrich Karl, Friedrich Sigismund und Friedrich Leopold von Preußen ¢ ganz dem Sport zuwandten und die sich dabei der stillen Sympathie des Kaisers sicher sein konnten. Der Erste Weltkrieg zog in vielerlei Hinsicht einen erneuten Wandel im Verhältnis zwischen Militär und Leibesübungen nach sich und wirkte dabei zugleich als Katalysator. Die massive Vernichtungskraft moderner Abwehrwaffen in diesem nach industriellem Maßstab geführten Krieg führte einen radikalen Wandel im Wesen des Soldatentums herbei. Schnelligkeit, blitzschnelle Reaktionsfähigkeit, Gewandtheit, Kraft und Ausdauer konnten das Leben des einzelnen Kämpfers in den Gefechtssituationen des Grabenkrieges verlängern. Hinzu trat ein rangunabhängiger Teamgeist, der den militärischen Vorgesetzen in Abwehr und Angriff auf Leben und Tod mit seinen Unterstellten verband, sowie die mit dem Sport verbundene Möglichkeit, in der Etappe einen Abstand vom Frontalltag gewinnen zu können. Heute ist der Sport insbesondere in jenen Teilen der Bundeswehr als einer „Armee im Einsatz“ von größerer Bedeutung, an die in stärkerem Maße körperlich-sportliche Anforderungen gestellt werden, etwa bei der Division Spezielle Operationen (DSO), bei den Spezialisierten Einsatzkräften Marine (SEK M) und natürlich bei den Leistungssportlern, die der Sportfördergruppe der Bundeswehr angehören. Beide Linien, der zweckgebundene militärische wie der rein wettkampforientierte Sport verkör-

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pern damit zu Beginn des 21. Jahrhunderts die aktuelle Facette einer Entwicklung, die vor nunmehr über 100 Jahren in den Streitkräften des Deutschen Kaiserreiches ihren Anfang nahm.

Wissenstransfer als Waffe. Französische militärische Aufklärung in Preußen 1763 – 1792. Annäherung an einen schwierigen Gegenstand Von Bernhard R. Kroener, Potsdam „Les connoissances que le comte de Guines a déjà acquises dans l’art militaire font désirer au Roi qu’il mette à profit pour les perfectionner le séjour qu’il fera dans un pays qui, à plusieurs égards peut passer pour une excellente école dans ce genre. Cependant il est important de la prévenir qu’il doit éviter soigneusement d’afficher ses vues à cet égard et qu’il convient de tenir ses recherches secrètes […]“1. Mit diesem Hinweis veranlasste 1768 der Herzog von Choiseul den neuernannten französischen Gesandten am Berliner Hof, Comte de Guines, seine in den vorangegangenen Jahren erworbenen militärwissenschaftlichen Kenntnisse zu nutzen, um dem König von Frankreich nützliche Informationen über das preußische Kriegswesen und die Kriegskunst Friedrichs II. zu liefern. Gleichzeitig ermahnte ihn der Minister, seine diesbezüglichen Bemühungen geheim zu halten. Im Gegensatz zur Praxis der taktisch-operativen Aufklärung im wenige Jahre zurückliegenden Siebenjährigen Krieg, ging es der französischen Krone nun darum, Kenntnisse über die strukturellen Besonderheiten des preußischen Militärs zu gewinnen, um sie, wenn möglich, für die Reformen der französischen Armee nutzbar zu machen. Die Geschichte der Spionage und der Geheimdienste hat seit langem nicht nur die populärwissenschaftliche, sondern ebenso die ernsthafte Forschung interessiert. Dabei sind ihre Organisationsformen, Praktiken und die Ziele der sie bestimmenden kulturellen und wissenssoziologischen Grundströmungen eher unbeachtet geblieben2. Die moderne Kulturtransferforschung entfernt sich zunehmend vom bipolaren Kulturvergleich, der im Anschluss an die Modernisierungsdiskussion der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts noch von einem Kulturexport aus erfolgreicheren fortschrittlichen in rückständige „Nachzüglergebiete“ ausgegangen war. Demge1 Étienne-François Duc de Choiseul, Mémoires pour servir d’instruction au sieur de Souastre, comte de Gines […] allant à Berlinen qualité de ministre plénipotentaire du roi aupès du roi de Prusse, électeur de Brandebourg (1768), in: Recueil des instructions données aux ambassadeurs et ministres de France, Prusse, hrsg. v. Albert Waddington, Bd. 16, Paris 1901, 477 – 506, hier 480. 2 Wolfgang Krieger, Geschichte der Geheimdienste. Von den Pharaonen bis zur CIA, München 2009.

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genüber versucht die neuere Forschung, die Aneignung als fremd wahrgenommener Kulturgüter als ein wesentliches Instrument zu begreifen, um die jeweils eigene Kultur unter Veränderungsdruck zu setzen3. Kulturelle Differenz wird in diesem Kontext als Entwicklungsunterschied verstanden, der die Selbst- und Fremdwahrnehmung bestimmt und durch externe Faktoren beeinflusst werden kann. Damit stellt sich die Frage nach der sozialen Reichweite und somit der gesellschaftlichen Relevanz von Wissenstransfer als Voraussetzung von Innovation und Abgrenzung. In Bezug auf das ,Vermessen‘ der spezifischen kulturellen Aneignungs-, Abwehrund Übersetzungsstrategien und ihre Wirkungen auf die soziale und politische Realität der beteiligten Gesellschaften4 in ihrer reflexiven Bedeutung für die Ausbildung neuer Vorstellungen, die Adaption als fremd empfundener sozialer Ordnungen und technischer Systeme entwickelt sich so eine Dynamik kultureller Austauschprozesse, die Gradmesser für gesellschaftliche Reproduktions- und Legitimationsstrategien sein können5. Damit rücken der Gegenstand des Transferprozesses ebenso wie die Mechanismen von Austauschprozessen, die Informationskanäle, die Umsetzungs- und Aneignungsprozesse und schließlich die verschiedenen Akteursgruppen, ihre Netzwerkstrukturen, ihre soziale Position und die wechselseitigen Beziehungen zwischen ihnen, ihren Informanten und Rezipienten in den Blick. Angesichts einer begrenzten geographischen Mobilität der europäischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit hat sich die Kulturtransferforschung in besonderer Weise denjenigen Gruppen und ihren Akteuren zugewandt, deren berufliche Orientierung oder soziale Position zeitlich begrenzte oder dauerhafte Ortswechsel begünstigte. Hierzu zählen in erster Linie Reisende aus den unterschiedlichsten Motiven, etwa Adelige auf ihrer Kavalierstour, Handwerker, Sprachlehrer, Verleger, Kaufleute, Ge-

3 Matthias Middell, Kulturtransfer und historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 10 (2000), 7 – 41, hier 13; Johannes Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Vergleich. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: HZ 267 (1998), 649 – 685; Wolfgang Schmale, Historische Komparatistik und Kulturtransfer. Europageschichtliche Perspektiven für die Landesgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der sächsischen Landesgeschichte, Bochum 1998. 4 Masao Myoshi (Hrsg.), Learning Places. The Afterlives of Area Studies, Durham N. C. 2002; Ludger Pries, Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften, Frankfurt am Main 2008; Saskia Sassen, Sociology of Globalization, New York 2006; Tim Creswell, On the Move. Mobility in the Modern World, New York/ London 2006, 3 – 5. 5 Kirsten Kramer/Jens Baumgarten (Hrsg.), Visualisierung und kultureller Transfer, Würzburg 2009; Gregor Kokorz/Helga Mitterbauer (Hrsg.), Übergänge und Verflechtungen – Kulturelle Transfers in Europa, Bern/Berlin/Frankfurt am Main 2004; Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Kulturtransfers in Europa 1500 – 1850, hrsg. von Thomas Fuchs/Sven. Trakulhun, Berlin 2003.

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lehrte oder Diplomaten6. Eine Gruppe, deren Tätigkeit im landläufigen Verständnis geradezu paradigmatisch mit Vorstellungen von Heimatlosigkeit, Unbehaustheit und Ruhelosigkeit in Verbindung gebracht wird, blieb bisher davon weitgehend ausgenommen: die frühneuzeitlichen Söldner. Wenngleich die Internationalität des europäischen Söldnertums bereits im frühen 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht hatte, blieben Fremdenregimenter und in der Fremde geworbene oder gepresste Soldaten bis zum Ende des europäischen Ancien Régime ein Spezifikum militärischer Organisationsstrukturen7. Zwischen der Militär- und der Kulturgeschichte bestand über lange Zeit eine thematische wie auch erkenntnistheoretische Trennung, die es verhindert hat, dass etwa Zeremonien, Rituale und Initiationen, aber auch die ihnen innewohnenden Wahrnehmungsmuster und Wertvorstellungen, mit dem theoretischen Instrumentarium der Performanzforschung in ihrer Bedeutung für bestehende soziale und kulturelle Ordnungen angemessen untersucht werden konnten8. Gerade militärische Gesellschaften waren nicht nur in der Vormoderne darauf angewiesen, ihren Angehörigen symbolpolitisch distinkte Formen und Verhaltensmuster zu vermitteln, die sie von anderen fremden oder gegnerischen Organisationen unterschieden. So sehr man daran interessiert war, sich technische, taktische oder organisationsspezifische Elemente erfolgreicher fremder Armeen anzueignen, so rasch wurde deutlich, dass sie stets eingebettet waren in bestimmte gesellschaftliche Strukturen, die verhinderten, sie unverändert zu übernehmen. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass sich gerade im 18. Jahrhundert eine intensive Auseinandersetzung 6 Michel Espagne, Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer, in: Hans-Jürgen Lüsebrink/Rolf Reichardt (Hrsg.), Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich-Deutschland 1770 bis 1815, Bd. 1, Leipzig 1997, 309 – 329; Joachim Rees/Winfried Siebers, Erfahrungsraum Europa. Reisen politischer Funktionsträger des Alten Reichs 1750 – 1800. En kommentiertes Verzeichnis handschriftlicher Quellen, Berlin 2005; Europareisen politisch-sozialer Eliten im 18. Jahrhundert. Theoretische Neuorientierung – kommunikative Praxis – Kultur- und Wissenstransfer, hrsg. v. Joachim Rees/Winfried Siebers/Hilmar Tilgner, Berlin 2002; Steffen Sammler, Quellen zur Geschichte des neuzeitlichen Sachsens in den Archiven des französischen Außenministeriums. Der Bestand Mémoires et Documents Saxe (1636 – 1866), in: Archiv und Gedächtnis. Studien zur interkulturellen Überlieferung, hrsg. v. Michel Espagne/ Katharina Middell/Matthias Middell, Leipzig 2000, 178 – 195. 7 Holger Th. Gräf/Ralf Pröve, Wege ins Ungewisse. Reisen in der Frühen Neuzeit 1500 – 1800, Frankfurt am Main 1997; Ralf Pröve, Unterwegs auf Kosten der Kriegskasse. Formen des sozialen Kulturtransfers im Europa des 18. Jahrhunderts, in: ders., Lebenswelten. Militärische Milieus in der Neuzeit. Gesammelte Abhandlungen, hrsg. v. Bernhard R. Kroener/ Angela Strauß, Münster u. a. 2010, 143 – 154; Eugène Fieffée, Geschichte der Fremdtruppen im Dienste Frankreichs von ihrer Entstehung bis auf unsere Tage sowie aller jener Regimenter, welche in den eroberten Ländern unter der ersten Republik und dem Kaiserreich ausgehoben wurden, 2 Bde., München 1856; Guy Rowlands, Foreign Service in the Age of Absolute Monarchy: Louis XIV and His Forces Étrangères, in: War in History 17 (2010), 141 – 167. 8 Ralf Pröve, Grenzen markieren und überschreiten. Die Lebenswelt ,Militär‘ in der Perspektive des „performative turn“, in: Christine Roll/Frank Pohle/Matthias Myrczek (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln 2010, 335 – 341.

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mit den Organisationsstrukturen, der Kriegsführungspraxis, der Ausbildung und Kampfmotivation vollzog, die in den als Koalitionspartner und Gegner miteinander und gegeneinander kämpfenden Armeen ausgeübt wurde. Militärische Lehrschriften wurden in großer Zahl veröffentlicht, übersetzt und diskutiert9. Ihre Autoren waren überwiegend aktive oder ehemalige Offiziere. Diese im Geist der Aufklärung geprägten Militärs haben im Kulturtransferprozess zwischen den europäischen Armeen des späteren 18. Jahrhunderts eine wesentliche, bisher noch nicht ausreichend untersuchte Rolle gespielt10. Während die Forschung bisher in erster Linie den Voraussetzungen, Instrumenten und Wirkungen der Bildung des Offiziers Aufmerksamkeit geschenkt hat, wurden die interaktiven Mechanismen von Transferprozessen, ihre im europäischen Kulturraum sich vollziehenden personalen Verflechtungen und sozialen Voraussetzungen kaum reflektiert11. Dabei ist zu beachten, dass die dadurch in Gang gesetzten Veränderungsprozesse die außerhalb des eigenen Erfahrungsraumes gewonnenen Informationen nicht komplett transferiert, sondern sie an die Rahmenbedingungen der jeweiligen Vorstellungswelt des Transferierenden angepasst haben12. Mehr noch, die unterschiedlichen militärischen Traditionen und die in ihnen angelegten Vorstellungen von der historischen Überlegenheit der eigenen Kriegsmacht haben nicht selten Transferprozesse, in dem sie das Beispiel des Anderen als argumentative Waffe in einer zunehmend protonational aufgeladenen binnenmilitärischen Auseinandersetzung verwendeten, zum Scheitern verurteilt. Gerade für die in einem ständigen Konkurrenzverhältnis zu einander stehenden militärischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts umfasste der konstitutive transregionale Wissenstransfer institutionalisiertes, technisches und damit universell einsetzbares Wissen, das jedoch stets in nicht instrumentelle, emotionale und lokal gebundene Wissensbestände eingebettet blieb13. Die Aufklärung, die sich in exempla9 Eine bisher nicht überholte Zusammenstellung des einschlägigen Schrifttums findet sich bei: Max Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland, 3 Bde., München/Leipzig 1889 – 1891. 10 Daniel Hohrath, Spätbarocke Kriegspraxis und aufgeklärte Kriegswissenschaften. Neue Forschungen und Perspektiven zu Krieg und Militär im „Zeitalter der Aufklärung“, in: ders./ Klaus Gerteis (Hrsg.), Die Kriegskunst im Lichte der Vernunft. Militär und Aufklärung im 18. Jahrhundert (Aufklärung, 12), Bd. 2, Hamburg 2000, 5 – 48. 11 Rafe Blaufarb, The French Army 1750 – 1820. Careers, Talent, Merit, Manchester/New York 2002; Daniel Hohrath, Die Bildung des Offiziers in der Aufklärung. Ferdinand Friedrich von Nicolai (1730 – 1814) und seine enzyklopädischen Sammlungen, Stuttgart 1990, 45 – 63; Bernhard R. Kroener; Der Offizier im Erziehungsprogramm der Aufklärung, in: Heinrich Walle (Hrsg.), Von der Friedenssicherung zur Friedensgestaltung. Deutsche Streitkräfte im Wandel, Herford/Bonn 1991, 23 – 34. 12 J. Paulmann, Internationaler Vergleich (Anm. 3); Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. 13 Azar Gat, The origins of military thought from the enlightenment to Clausewitz, Oxford 1989; Ralf Fritze, Militärwissenschaftliche Fachliteratur im späten 18. und im 19. Jahrhundert am Beispiel der Militärschulen in Stuttgart, Straßburg und Metz, in: Kurt Düwell (Hrsg.),

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rischer Weise als eine Strategie zur Herstellung gleicher Denkverhältnisse verstand, suchte in der enzyklopädischen Sammlung von Wissen Entwicklungsdefizite zwischen dem Eigenen und dem Anderen einzuebnen. Die Erforschung der damit einhergehenden Transformationsprozesse ermöglicht nicht nur Erkenntnisse über Transferstrategien, die Verbreitung und Übersetzung von Wissensbeständen, sondern auch über die damit angestoßenen sozialen Wandlungsprozesse und die Ursachen ihrer expliziten Verweigerung. Eine so verstandene Dynamik kultureller Austauschprozesse erfordert einen erweiterten Kulturbegriff, wie er im Konzept der Transkulturalität angelegt ist14. Dieser Zugang ermöglicht Untersuchungen transregionaler und transkultureller Phänomene als Bestandteile historisch zu verortender Denkmuster, in denen die jeweiligen Akteure die kulturellen Differenzen als Entwicklungsunterschiede deuten. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Selbsteinschätzung, mit der sich die Eliten innerhalb der europäischen Staatenwelt der Frühen Neuzeit wechselseitig gegenübertraten, nicht ohne weiteres eine Entwicklungsüberlegenheit beinhaltete. Im Gegenteil, das Bewusstsein von Entwicklungsdefiziten bildete die Voraussetzung für wechselseitige Innovationsschübe. Dies gilt in besonderer Weise für die frühneuzeitliche Entwicklung militärisch strukturierter Gewaltorganisationen als Instrumente politisch-strategischer Machtsicherung und Machterweiterung (Military Revolution)15. Militärischer Wissenstransfer im 18. Jahrhundert umfasste nicht nur institutionalisiertes oder technisches Wissen, sondern mehr noch dem aufgeklärten Diskurs der Epoche entlehnte Vorstellungen von nicht instrumentellem, emotionalem Wissen. Diese Wissensbestände reichen von der Erziehung des Soldaten, über die Standfestigkeit im Gefecht und den Enthusiasmus im Dienst, bis hin zu den Prinzipien einer humanen Ausbildung über die spezifische Ehre des Soldaten und Forderungen an ein entsprechend ausgelegtes Kriegsrecht16. Mit Hilfe des Instrumentariums der neueren Reise- und Wahrnehmungsforschung unter Anwendung eines wissenssoziologisch ausgerichteten Erfahrungsbegriffs, wie er im Rahmen der „New Military History“ entwickelt wurde, lassen sich Perzeptionsstrategien im Spannungsfeld zwischen „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“

Rezeption, Transfer und Retransfer. Deutsch-französische Wissenschafts- und Technikbeziehungen im 18. und im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar 2000, 35 – 65. 14 Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, in: Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, hrsg. von Irmela Schneider/Christian W. Thomsen, Köln 1997, 67 – 90. 15 David B. Ralston, Importing the European Army. The Introduction of European Techniques and Institutions into the Extra-European World. 1600 – 1914, Chicago 1990; Jeremy Black, A Military Revolution? Military Change and European Society 1550 – 1800, Atlantic Highlands N. J. 1990. 16 Vgl. hierzu den ausführlichen Literaturbericht bei D. Hohrath, Spätbarocke Kriegspraxis (Anm. 10), 32 – 42.

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ausmessen17. Die sich im transregionalen Kommunikationsprozess vollziehenden Deutungen und Verarbeitungen als fremd empfundener Lebensformen und Sozialisationsmechanismen trafen dabei auf Wahrnehmungsmuster, denen jeweils kulturell konnotierte spezifische Erfahrungsbestände zugrunde lagen, in denen sich gesellschaftlich verankerte Wertvorstellungen manifestierten. Sobald militärische Transfermaßnahmen zur Effizienzsteigerung diese in Frage stellten, wurde der binnenmilitärische Diskurs zu einer öffentlichen Auseinandersetzung. Die im Selbstbild vorgeprägten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster wurden von den Zeitgenossen mit dem aus dieser Perspektive entstandenen Fremdbild konfrontiert, in dem das Andere als Herausforderung, als negatives Gegenbild, als positives Vorbild oder nur als argumentativ verwendetes Zerrbild wahrgenommen wurde. Im Rahmen eines komplexen Aneignungs- und Deutungsprozesses wurden die Potentiale, Risiken und Perspektiven der eigenen Position erkennbar18. Im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vollziehen sich kulturelle Differenzdeutungen, verändert sich das jeweilige Selbstbild. Dem Militär, als zentralem Element von Herrschaft, als Instrument der Machtsicherung und als Symbol dynastischer Legitimität galt von jeher eine besondere Aufmerksamkeit. Der ihm zugeschriebene Wert bemaß sich dabei nach dem Grad seiner Überlegenheit gegenüber potentiellen Konkurrenten. Der eigene Rüstungs- und Ausbildungsstand wie auch die innere Verfassung, die Moral der eigenen Truppe unterliegt mit Blick auf den Konflikt der Zukunft einem ständigen Prozess vergleichender Beobachtung und Anpassung. Die Aspekte einer fremden Militärverfassung, die eine besondere Aufmerksamkeit erfahren, die kopiert, adaptiert oder verworfen werden, spiegeln Akzeptanz und Kritik der fremden, ebenso wie Zustimmung und Ablehnung der eigenen kulturellen, sozialen, und politischen Verfasstheit wider. Die in diesem Kontext für die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts gewonnenen Erkenntnisse lassen sich in ihrer Verallgemeinerung durchaus auch auf gegenwärtige Bemühungen über17 Reinhart Kosellek, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien (1976), in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, 249 – 375; Reinhard Sieder, Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft?, in: GG 20 (1994), 445 – 468; Nikolaus Buschmann/Horst Carl (Hrsg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn u. a. 2001, 15 – 21; Anne Lipp, Diskurs und Praxis. Militärgeschichte als Kulturgeschichte, in: Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte?, Paderborn u. a. 2000, 211 – 228; Bernhard R. Kroener, Militär in der Gesellschaft. Aspekte einer neuen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, in: ebd., 283 – 300. 18 Michel Espagne/Michael Werner (Hrsg.), Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècles), Paris 1988; Martin Aust/Daniel Schönpflug (Hrsg.), Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2007, 23 f.; Hans-Jürgen Lüsebrink/Rolf Reichardt, Histoire des concepts et transferts culturels 1770 – 1815, in: Genesis 14 (1994), 40 f.; Herfried Münkler/Bernd Ladewig (Hrsg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, Jörg Baberowski/David Feest/Maike Lehmann (Hrsg.), Dem Anderen begegnen. Eigene und fremde Repräsentationen in sozialen Gemeinschaften, Frankfurt am Main/New York 2008.

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tragen. Durch eine geheimdienstliche Informationsgewinnung werden Kenntnisse über Freund und Feind erlangt, die geeignet sind, auf innergesellschaftliche Ängste, Vorurteile und Defizite zu reagieren. An dieser Stelle besteht in historischer Perspektive eine Anschlussmöglichkeit zur neueren Geheimdienstforschung. Die Wechselwirkung zwischen Reformmaßnahmen und den mit ihnen verbundenen Umsetzungserfahrungen, das heißt, das Aufeinandertreffen der aus der unmittelbaren Wahrnehmung gewonnenen Modernisierungsforderungen mit den stabilitätswahrenden Kräften der Beharrung lassen kulturimmanente Grenzen von Transferprozessen erkennen. Militärreformen speisen sich aus einer als unbefriedigend empfundenen Konkurrenzsituation, sie sind aber ebenso Ausdruck einer binnengesellschaftlichen Spannung, häufig als Folge eines unglücklich verlaufenen Krieges19. In diesem Sinne wurden Niederlagen, nicht nur in der Frühen Neuzeit, häufig auch als Legitimationsverlust von Herrschaft empfunden, ihre Ursachen wurden entsprechend intensiv erforscht und Veränderungen angemahnt20. Militärische Informationsgewinnung stellt daher einen zentralen Aspekt neuzeitlicher Herrschaftspraxis dar. Die Feststellung von Entwicklungsdefiziten, der Wunsch, das Erfolgsrezept des Siegers zu erfahren, eröffnete bereits in frühmodernen Gesellschaften einen Rüstungswettlauf mit messbaren Auswirkungen auf die ökonomischen und administrativen Strukturen und damit auf das sie begleitende politische und soziale Selbstbild21. Der militärische Reformdiskurs der Spätaufklärung eröffnete die Perspektive auf einen Endzustand gleicher Entwicklungs- und Erkenntniszustände22. Das Ergebnis des Siebenjährigen Krieges, in dem sich die Armeen der europäischen Großmächte auf einem vergleichbaren Niveau der Kriegsführungsfähigkeit, 19

Claudia Opitz-Belakhal, Militärreformen zwischen Bürokratisierung und Adelsreaktion. Das französische Kriegsministerium und seine Reformen im Offizierskorps von 1760 – 1790, Sigmaringen 1994. 20 Horst Carl/Henning Kortüm/Dieter Langewiesche/Friedrich Lenger (Hrsg.), Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004; Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865 – Frankreich 1871 – Deutschland 1918, Berlin 2001; Martin Clauss, Kriegsniederlagen im Mittelalter. Darstellung – Deutung – Bewältigung, Paderborn u. a. 2010. 21 Ewa Anklam, Wissen nach Augenmaß. Militärische Beobachtung und Berichterstattung im Siebenjährigen Krieg, Münster u. a. 2007; Abel Poitrineau, La malaise de l’armée sous Louis XV, in: Bulletin historique et scientifique de l’Auvergne, Clermont-Ferrant 88 (1978), 15 – 22; Marie Claire Grassi, La vision de l’armée à travers les correspondances des officiers (1750 – 1755), in: 103e congrès des sociétés savantes, séct. d’histoire moderne, Bd. 1, Nancy/ Metz 1978, 155 – 169. 22 Bernhard R. Kroener, Le siècle de Lumières et la Révolution: l’armée prussienne en 1806, in: Rev. Hist. des armées 181 (1990), 54 – 63; Johannes Kunisch, Das „Puppenwerk“ der stehenden Heere. Ein Beitrag zur Neueinschätzung von Soldatenstand und Krieg in der Spätaufklärung, in: ders., Fürst – Gesellschaft – Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln u. a. 1992, 161 – 202.

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der Militärtheorie und Militärtechnik gegenübergestanden hatten, bedeutete für die politische und militärische Elite des Kontinents den Charakter einer Wasserscheide. Einer in personeller und materieller Hinsicht weit überlegenden Koalition war es in einem langjährigen Konflikt nicht gelungen, über eine in jeder Hinsicht auf den ersten Blick unterlegene Macht den Sieg davon zu tragen. Für Preußen bedeutete der Sieg, „in dem doch keine Macht […] ihr Gebiet um einem Fuß breit erweitert hatte“ (Friedrich II.), einen Erfolg, der ebenso nachhaltig politisch instrumentalisiert werden sollte wie die traumatisch verinnerlichten Folgen des Dreißigjährigen Krieges23. Die Einheit von Politik und Kriegführung in der Gestalt des roi- connétable, Disziplin, Entsagung und Gehorsam schienen auch für die Zukunft die Garanten eines Sieges in letzter Stunde gegen eine ,Welt von Feinden‘24. Frankreich, die seit den Siegen Ludwigs XIV. stilbildende militärische Macht des Kontinents, wurde in den folgenden Jahrzehnten durch Preußen und Friedrich II. abgelöst. Für den Koalitionspartner Großbritannien und mehr noch für die Gegner, Frankreich, Russland, Österreich und Schweden war der kriegerische Erfolg der preußischen Waffen, ein „Mirakel“, zu dem es auch Friedrich in propagandistischer Absicht stilisiert hatte25. Während die „prussomanie“ in Frankreich und die „prussomania“ in England während des Siebenjährigen Krieges Ergebnis vorübergehender Aufwallungen der öffentlichen Meinung gewesen waren, bildete der „Manövertourismus“ nach Preußen ein die folgenden Jahrzehnte begleitendes Kontinuum, das erst mit dem Tode des Königs und dem Ausbruch der Französischen Revolution sein Ende fand26. In 23

Friedrich der Grosse, Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Zweiter Teil, hrsg. v. Gustav Berthold Volz (Die Werke Friedrichs des Großen in deutscher Übersetzung, 4), Berlin 1913, 179. 24 Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792 – 1918, Stuttgart 1992; Manfred Messerschmidt, Nachwirkungen Friedrichs II. in Preußen-Deutschland, in: Europa im Zeitalter Friedrichs des Großen. Wirtschaft – Gesellschaft – Kriege, hrsg. v. Bernhard R. Kroener, München 1989, 269 – 288; Martin Raschke, Der politisierende Generalstab. Die friderizianischen Kriege in der amtlichen deutschen Militärgeschichtsschreibung 1890 – 1914, Freiburg 1993; Sven Lange, Hans Delbrück und der ,Strategiestreit‘. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 1879 – 1914, Freiburg 1995; Bernhard R. Kroener, „Den Krieg lernen“. Die Feldzüge Friedrichs des Großen in der amtlichen Geschichtsschreibung des Kaiserreiches, in: Archivarbeit für Preußen, hrsg. v. Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2000, 303 – 318. 25 Johannes Kunisch, Das Mirakel des Hauses Brandenburg. Studien zum Verhältnis von Kabinettspolitik und Kriegführung im Zeitalter des Siebenjährigen Krieges, München/Wien 1978; Bernhard R. Kroener, Herrschaftsverdichtung als Kriegsursache: Wirtschaft und Rüstung der europäischen Großmächte im Siebenjährigen Krieg, in: Bernd Wegner (Hrsg.), Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten, Paderborn u. a. 2000, 145 – 174. 26 Stephan Skalweit, Frankreich und Friedrich der Grosse. Der Aufstieg Preußens in der öffentlichen Meinung des ,ancien régime‘, Bonn 1952; Manfred Schlenke, England und das friderizianische Preußen 1740 – 1763. Ein Beitrag zum Verhältnis von Politik und öffentlicher Meinung in England des 18. Jahrhunderts, Freiburg 1963.

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Frankreich erwuchsen aus der Niederlage im Siebenjährigen Krieg als Ergebnis struktureller Verwerfungen seiner sozialen, politischen und ökonomischen Verfassung tiefgreifende Bemühungen zur Reorganisation seiner Armee, die durchaus mit denen verglichen werden können, die Preußen nach 1806 durchlaufen hat. So standen sich auch in Frankreich verschiedene Fraktionen gegenüber, von denen die eine eine systemimmanente ,französische‘ Lösung propagierte, während die andere einer Übernahme preußischer Vorbilder den Vorzug gab. Für beide war eine genaue Kenntnis der preußischen Militärorganisation von maßgeblicher Bedeutung27. In dieser Perspektive versprechen kulturwissenschaftlich orientierte, spezifisch militärgeschichtlich angelegte Fragestellungen einen weiterführenden Erkenntnisgewinn: 1. Welche spezifischen Aspekte der militärischen Verfassung Preußens wurden besonders beobachtet und dem eigenen Selbstbild als Vorbild oder Gegenbild gegenübergestellt? Inwieweit erlangten die die preußischen Verhältnisse beobachtenden fremden Militärbeobachter zutreffende Erkenntnisse? 2. Wie verlief der Prozess der militärischen Nachrichtengewinnung, wie wurden Informationen gesammelt und in welchen Schritten vollzog sich ihre Umsetzung innerhalb des Geschäftsbereichs des secrétariat de la guerre? In welchem Umfang schließlich wurden Elemente der preußischen Militärorganisation übernommen und fanden in modifizierter Form Eingang in die französischen Militärreformen vor 1789? 3. Wer waren die Informanten, und aus welchem sozio-kulturellen und militärischen Erfahrungshorizont speiste sich ihre Aneignungsstrategie? In diesem Zusammenhang ist die Frage nach Rekrutierungsstrategien und damit verbunden nach dem spezifischen Anforderungsprofil für militärische Informanten (Sprachkenntnisse, Familienbeziehungen, Vordienstzeiten in fremden Heeren, hier vor allem der preußischen Armee) ebenso von Bedeutung wie mögliche Netzwerkstrukturen in Bezug auf die unterschiedlichen Personengruppen (Diplomaten, Publizisten, offizielle Militärbeobachter, von privaten Motiven angetriebene Offiziere, Abenteurer und Spione), die Preußen bereisten. Die neuere Forschung hat den Transferprozessen zwischen den militärischen Gesellschaften Frankreichs und Preußens in taktisch-operativer Perspektive, etwa wäh27 Sven Externbrink, Friedrich der Große, Maria Theresia und das Alte Reich. Deutschlandbild und Diplomatie Frankreichs im Siebenjährigen Krieg, Berlin 2006; Claudius Rainer Fischbach, Krieg und Frieden in der französischen Aufklärung, Münster 1990; Matti Lauerma, Jacques-Antoine-Hipployte de Guibert (1743 – 1790), Helsinki 1989; Ethel Groffier, Le stratège des Lumières: le comte de Guibert (1743 – 1790), Paris 2005; Henry Welschinger, Mirabeau als geheimer Agent der französischen Regierung 1786 – 1787, Leipzig 1900; Ferdinando Salleo, Mirabeau en Prusse, diplomatie parallèle ou agent secret?, in: Revue d’hist. Diplomatique 91,3/4 (1977), 346 – 364; Jean Jacques Langendorf, „Des diamants au milieu du fumier“, in: Yves-Marie Bercé/Gilbert Bodinier (Hrsg.), Combattre, gouverner, écrire. Etudes réunies en l’honneur de Jean Chagniot, Paris 2003, 475 – 486; Jean Chagniot, La formation des officiers à la fin de l’Ancien Régime, in: Rev. Hist. des Armées 228/3 (2002), 3 – 10.

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rend des Siebenjährigen Krieges, eine verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt, die übergeordneten politisch-strategischen Überlegungen und ihre Rückwirkungen auf Veränderungen innerhalb der jeweiligen Militärverfassung fanden dagegen vergleichsweise wenig Beachtung. Die Herkunft und Zusammensetzung der Akteursgruppen und ihre Netzwerkstrukturen blieben vollständig ausgeblendet28. Es ist inzwischen unstrittig, dass auswärtige Beobachter Preußen als eine Militärmonarchie empfanden, deren spezifische Formen und Erscheinungsbild ebenso wie der Ort des Militärs in der Verfassung des preußischen Staates nach zeitgenössischen Vorstellungen den Normen einer europäischen Entwicklung entsprachen, also nicht den ihr in nachzeitiger Betrachtung zugemessenen Charakter einer „sozialen Militarisierung“ (Büsch) besaßen29. Dabei ist zu fragen, ob die Erkenntnisse, die professionelle militärische Beobachter von den Verhältnissen in Preußen gewannen, sich von dem Befund unterschieden, den gelehrte aufgeklärt-kritische Literaten, Gelehrte und Publizisten erhoben30. Über Herkunft, Rekrutierung und Motivation der militärischen Informanten öffnet sich der Blick auf unterschiedliche Beziehungsstrukturen, auf die Bedeutung von Patronage- und Klientelstrukturen im Kontext der zeitgenössischen Regimentskulturen31. Damit wird die besondere Bedeutung dieser reisenden Offiziere als „cultural brokers“, die Möglichkeiten und Grenzen des von ihnen angestoßenen kulturellen Übersetzungsprozesses, Adaptionen und Brechungen bei der Perzeption ihrer Wahr-

28 Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele, 3. Aufl. Wiesbaden 2006, 69 – 70. 29 Bernhard R. Kroener, „La guerre est l’industrie nationale de la Prusse“. La Prusse, une monarchie militaire au XVIIIe siècle – un ,Sonderweg‘ en Europe?, in: Expériences de la guerre et practiques de la paix. De l’Antiquité au XXe siècle. Études réunies en l’honneur du professeur Jean-Pierre Bois. Sous la direction de Guy Saupin et Éric Schnackenbourg, Rennes 2013, 325 – 336; Isabelle Deflers, Der reflektierte Staat. Preußen im Spiegel französischer Reformdiskurse (1763 – 1806), Habilitationsschrift (masch.) Freiburg im Breisgau 2013; Otto Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713 – 1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft, Frankfurt am Main u. a. 1981; Manfred Messerschmidt, Das preußische Militärwesen, in: Handbuch der preußischen Geschichte, hrsg. von Wolfgang Neugebauer, Bd. III, Berlin/New York 2001, 319 – 546. 30 Wolfgang Leiner, Das Deutschlandbild in der französischen Literatur, 2. Aufl. Darmstadt 1991; Hans Jürgen Lüsebrink/Rolf Reichhardt (Hrsg.), Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich-Deutschland 1770 bis 1815, 2 Bde., Leipzig 1997; Catherine Volpihac, Le roi de Prusse sous les regards de Montesquieu, in: France-Allemagne. Recherches et travaux 56 (1999), 15 – 24; Armelle Lefebvre, Le mirroir évidé. Une histoire de la pensée française de l’Allemagne (16e–18e siècles), Leipzig 2008. 31 In der Kombination von Netzwerkanalyse und kollektivbiographischem Ansatz lassen sich diese Verbindungen, wie neuere Forschungen gezeigt haben, zumindest in Umrissen sichtbar machen. Gundula Gahlen/Daniel Marc Segesser/Carmen Winkel (Hrsg.), Geheime Netzwerke im Militär vom 18. Jahrhundert bis 1945 (im Druck); Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele, 2. Aufl. Opladen 2003, 25 f.; Wilhelm Heinz Schröder, Kollektivbiographie: Spurensuche, Gegenstand, Forschungsstrategie, in: Historical Social Research, Supplement 23 (2011), 74 – 152, hier 82.

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nehmungen und deren tieferliegende Ursachen im politischen Klima der letzten Jahrzehnte des französischen Ancien Régime erkennbar32. Dabei sind nicht nur der materielle Inhalt der gewonnenen Nachrichten, sondern vielmehr die Kommunikationswege von Bedeutung, die die Informationen innerhalb der zentralen militärischen Administration bis zur Umsetzung im Rahmen des Reformprogramms durchlaufen und die Beurteilungen, Zustimmung wie Ablehnung, die sie dabei erfahren haben, nachzuzeichnen. Die Mächte der europäischen Pentarchie, nicht nur Frankreich, waren nach dem Siebenjährigen Krieg in erheblichem Maße daran interessiert, sich Kenntnisse über Preußen, sein Militärwesen und seine taktisch-operativen Grundsätze zu beschaffen33. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, die bisher noch nicht einmal ansatzweise in Gang gekommene Erforschung der Beurteilung des preußischen Militärs innerhalb der militärischen Elite der europäischen Großmächte (Österreich, England-Hannover und Russland) voranzutreiben. Der im modernen deutschen militärischen Sprachgebrauch verwendete Begriff der „Aufklärung“, der seit Anfang des 20. Jahrhunderts parallel zu dem aus älterer Wurzel gespeisten Begriff der „Nachrichten“ verwendet wird, verbindet die beiden Phänomene der taktisch-operativen „Rekognoszierung“ und der stärker strategisch verstandenen „Spionage“, wobei das 18. Jahrhundert keine etymologisch scharfe Trennung vorgenommen hat34. Die in enzyklopädischer Absicht und mit protostatistischen Instrumenten betriebene Lehre von der „Macht der Staaten“ lieferte das Erkenntnisraster, an das sich Zielsetzung und Reichweite einer formellen und informellen Informationsbeschaffung der Staaten und ihres diplomatischen und militärischen

32 Bernard Bailyn/Philipp D. Morgan, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Strangers within the Realm. Cultural Margins of the first British Empire, Chapel Hill N. C./London 1991, 1 – 31, hier 21. 33 Beispiele etwa bei M. Schlenke, England (Anm. 26), 289 – 294; Public Record Office, London SP 90/76 (1760), SP 90/78 (1761); Johann Christoph Allmayer-Beck, Von Hubertusburg nach Jena. Die preußische Armee am Ende des 18. Jahrhunderts von außen gesehen, in: Peter Baumgart/Bernhard R. Kroener/Heinz Stübig (Hrsg.), Die preußische Armee zwischen Ancien Regime und Reichsgründung, Paderborn 2008, 121 – 132; ders., Die friderizianische Armee im Spiegel ihrer österreichischen Gegner, in: Friedrich der Große und das Militärwesen seiner Zeit (Vorträge zur Militärgeschichte, 8), Herford u. a. 1987, 33 – 54; Christopher Duffy, Russia’s military way to the West. Origins and nature of Russian military power 1700 – 1800, London u. a. 1981; Bruce W. Menning; Russia and the West: The Problem of Eighteenth Century Military Models, in: Anthony G. Cross (Hrsg.), Russia and the West in the Eighteenth-Century, Newtonville 1983, 282 – 293; ders., Russian Military Innovation in the Second Half of the Eighteenth Century, in: War and Society 1984, 23 – 41; Sergej G. Nelipovicˇ, Quellen zur deutschen Militärgeschichte im Bestand des Russischen Militärhistorischen Staatsarchivs in Moskau, in: MGM 52 (1993), 133 – 140, hier 134. 34 Daniel Hohrath, Die Beherrschung des Krieges in der Ordnung des Wissens. Zur Konstruktion und Systematik der militärischen Wissenschaften im Zeichen der Aufklärung, in: Theo Stammen/Wolfgang E. J. Weber (Hrsg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverbreitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, Berlin 2004, 371 – 386.

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Personals orientierte35. Der Wunsch, in der Gewaltkonkurrenz der europäischen Mächte Informations- und damit organisatorische oder taktisch-operative und schließlich technische Vorteile zu erzielen, oder den präsumtiven Konkurrenten diese vorzuenthalten, prägte die Methoden der Nachrichtengewinnung und Geheimhaltung zwischen den Staaten. Die Aneignung von Ideen und kulturellen Praktiken sowie die Adaption von Symbolen ermöglichten nicht nur innerhalb der militärischen Eliten eine Internationalität, die sich in der Folge auch in den Organisationsstrukturen der zeitgenössischen Armeen abbildete. Die bewusst gezogenen Grenzen, jenseits derer die Übernahme erfolgreicher Verhaltensnormen der Anderen als Gefährdung der eigenen Identität und damit der Leistungsbereitschaft des nationalen militärischen Instruments empfunden wurde, lassen andererseits ein Bewusstsein der kulturellen Alterität erkennen, deren Bewahrung als konstitutiv für den eigenen Erfolg angesehen wurde36. Die im 18. Jahrhundert vollzogene Neuordnung der internationalen Beziehungen wurde maßgeblich bestimmt durch kriegerische Auseinandersetzungen und diplomatische Verhandlungen. Militär und Diplomatie gingen dabei eine symbiotische Beziehung ein, die erst im 19. Jahrhundert durch eine spezialisierte historische Forschung künstlich getrennt wurde. Die Vorstellung vom Krieg als einem selbstverständlichen Stilmittel der frühneuzeitlichen Außenpolitik ist unter dem normativen Primat der Friedenswahrung lange Zeit nur bedingt wahrgenommen worden. Als eine Folge davon rückte auch die aufgabenbezogen enge Verbindung zwischen Diplomatie und Militär aus dem Blickwinkel der Betrachtung. Das politisch-strategische Lagebild der Mächte wurde durch Erkenntnisse aus diplomatischen ebenso wie militärischen Kanälen gespeist. Daraus ergaben sich wechselseitige strukturelle und personelle Verschränkungen37. Die diplomatische und militärische Nachrichtengewinnung unterlag dabei vergleichbaren Prinzipien. Die po35 Harm Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der „politischen Wissenschaft“ und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert, Berlin 1986; Lucien Bély, Regards sur la diplomatie dans l’Europe du Centre-Est, in: Revue du Nord, Sonderheft 10 (1996) 21 – 29. 36 Françoise Knopper, Militarisation de la société et progrès des Lumières. Une enquête menée par des voyageurs français entre 1763 et 1786, in: Französische Kulturaufklärung in Preußen. Akten der Internationalen Fachtagung vom 20.–21. September 1996 in Potsdam, hrsg. v. Martin Fontius/Jean Mondot, Berlin 2001, 125 – 142; Sven Externbrink, Hof und Heer. Das Preußenbild der französischen Diplomatie zur Zeit Ludwigs XV., in: Hofkultur und aufgeklärte Öffentlichkeit. Potsdam im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext, hrsg. von Günther Lottes/Iwan d’Aprile, Berlin 2006; Jacob Vogel, Lernen vom Feind. Das Militär als Träger des deutsch-französischen Kulturtransfers im 19. Jahrhundert, in: Etienne François (Hrsg.), Marianne – Germania: Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext 1789 – 1914, Leipzig 2001, 93 – 110. 37 Besonders eindrücklich bei den verschiedenen französischen Außenministern, die im Anschluss an diese Aufgabe als secrétaires d’Etat de la guerre verwendet wurden. Thierry Sarmant (Hrsg.), Les ministres de la Guerre 1570 – 1792, Paris 2007; Rafe Blaufarb, Le conseil de la guerre, aspects sociaux de la réforme militaire après l’édit de Ségur, in: Rev. d’hist. mod. et contemp. 3 (1996), 446 – 463.

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litischen Intentionen eines Bündnispartners standen in enger Beziehung zu seiner militärischen Leistungsfähigkeit, die maßgeblich die Reichweite ihrer Durchsetzbarkeit ausmachte. Die strategisch-operativen Zielsetzungen eines Kriegsgegners wurden bestimmt durch seine langfristigen politisch-territorialen Projektionen im Kontext seiner jeweiligen Bündnispolitik38. Die aufgeklärte Regierungspraxis entwickelte im 18. Jahrhundert ein System der militärischen und diplomatischen Nachrichtengewinnung, das mit den zeitgenössischen Prinzipien der Staatsklugheit korrespondierte. Die dem arcanum regis konstitutiv zugrunde liegende Forderung nach Geheimhaltung begünstigte während des 18. Jahrhunderts ein geradezu ausuferndes Kundschafterwesen, in dem sich nicht nur Diplomaten und Militärs, sondern, neben persönlichen Vertrauten und Klienten der leitenden Staatsmänner, Reisende und Abenteurer mit unterschiedlichsten Motiven, Fähigkeiten und Erfolg ein Stelldichein gaben39. Angesichts dieser heterogenen Quellen konnten die im Ausland gewonnenen Erkenntnisse nicht mehr unmittelbar in den politischen Entscheidungsprozess einfließen, sondern wurden in den zuständigen Zentralbehörden durch die am eigenen Selbstbild orientierten Auffassungen der dort tätigen Beamten gefiltert, in einen langfristig angelegten Erkenntniskontext eingeordnet, zu einem Gesamtbild verdichtet und schließlich als Grundlage des politischen Entscheidungsprozesses herangezogen40. Die Informationsgewinnung wurde damit einem doppelten Perzeptionsprozess unterworfen. Die Fülle der Informationen, die dem Gesandten oder dem militärischen Beobachter im Ausland zugänglich waren, wurden bereits von ihnen vor dem Hintergrund ihres situativen Vorverständnisses ausgewählt, in Zusammenhang gebracht und im Text ihrer Depeschen sprachlich verdichtet. In einem zweiten Schritt erfolgte in der Zentralbehörde eine erneute Komprimierung der aus unterschiedlichen Quellen gespeisten Datenflut. Die Nähe der premiers commis zur politischen Entscheidungsebene, ein breiterer Informationszugang, aber auch eine größere Distanz zur Situation an den fremden Höfen und langfristig angelegte Überzeugungen bestimmten die Rezeption der übermittelten Berichte und flossen in die Redaktion des Lagebildes ein. Die doppelte Brechung des Rezeptionsprozesses, das Aufeinandertreffen von unmittelbarer Anschauung des ,Fremden‘ und distanzierter Beurteilung in langfristiger Perspektive, machen den besonderen Reiz der Analyse militä38 S. Externbrink, Friedrich der Große (Anm. 27), 211 – 220; J. Kunisch, Das Mirakel (Anm. 25), 17 – 22; Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie 1700 – 1785 (Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen, 4), Paderborn u. a. 1997. 39 Lucien Bély, Espions et ambassadeurs au temps de Louis XIV., Paris 1990; Virgile Dubois, L’espionnage sous Louis XV., Paris 1993; Stéphane Genêt, Les Espions des Lumières. Actions secrètes et espionnage militaire sous Louis XV., Paris 2013. 40 Vgl. hierzu die sehr erhellenden Ausführungen bei S. Externbrink, Friedrich der Große (Anm. 27), hinsichtlich der Rolle und Bedeutung der premiers commis im Ministerium des Auswärtigen. Neuere Untersuchungen zur Entwicklung strategischer Lagebilder durch die französische militärische Administration fehlen; Rafe Blaufarb, Noble Privilege and Absolutist State Building: French Military Administration after the Seven Year’s War, in: French Historical Studies 24 (2001), 223 – 246.

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rischer und diplomatischer Gesandtschaftsberichte der großen Mächte im 18. Jahrhundert aus. Dabei ist die Kenntnis des Informationsgehaltes ebenso wichtig wie die des Prozesses der Nachrichtengewinnung und -verarbeitung. Die ihnen zugrunde liegenden Strukturen wurden wesentlich geprägt von den handelnden Personen, ihrer Herkunft, Sozialisation und ihrem Karriereverlauf. Die internationale militärische Elite des 18. Jahrhundert war in besonderer Weise für eine Tätigkeit im Bereich der Nachrichtengewinnung geeignet. Die Formen, in der sie ausgeübt wurde, erstreckten sich über die klassische Spionage, informelle Bildungsreisen, offizielle Militärgesandtschaften bis hin zu unmittelbaren persönlichen Kontakten, wie sie sich etwa aus professionell-militärischen oder familiären Beziehungen und Klientelbeziehungen ergaben. Dabei war die geographische Mobilität der militärischen Elite offensichtlich weitaus höher als die des diplomatischen Personals41. Während in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Berichterstattung die klassischen Felder des modernen Regierungshandelns, wie etwa Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaftsleistung, Steuerwesen, Rüstungsproduktion, Taktik, Waffeneinsatz und Militärverwaltung dominierten, traten nach Abschluss des Siebenjährigen Krieges, analog zum aufgeklärten Diskurs, zunehmend Fragen zu einer spezifischen emotionalen und habituellen Kultur der Nationen in den Fokus länderkundlicher Betrachtung42. Damit verbunden sind einerseits in exkludierender, delegitimierender Absicht emotional kontextualisierte Narrative, die einem Land und dessen Bewohnern negativ konnotierte Eigenschaften zuschreiben. Andererseits gehören dazu auch emotional montierte Strategien, die den Weg zu einer Verständigung, etwa gegenüber bisherigen Gegnern bereiten sollten43. Der vorrevolutionäre öffentliche Reformdiskurs in Frankreich beschäftigte sich in diesem Zusammenhang intensiv mit den Wirkungen, die eine Übernahme der preußischen Disziplin und der sie begleitenden Strafmaßnahmen auf den französischen Soldaten besäßen. An dieser Stelle werden die Gemeinsamkeiten, mehr aber noch die Unterschiede zwischen der Instrumentalisierung der Kenntnis über Preußen im veröffentlichten intellektuellen Dis-

41 Bernhard R. Kroener, Deutsche Offiziere im Dienste des „allerchristlichsten Königs“ (1715 – 1792). Aspekte einer Sozialgeschichte der Elite deutscher Fremdenregimenter in Frankreich im 18. Jahrhundert, in: Jean Mondot/Jean-Marie Valentin/Jürgen Voss (Hrsg.), Deutsche in Frankreich – Franzosen in Deutschland 1715 – 1789/Allemands en France – Français en Allemagne 1715 – 1789, Sigmaringen 1992, 53 – 72. 42 Jay M. Smith, Nobility reimagined. The Patriotic Nation in Eighteenth Century France, Ithaca/NY 2005, 200 – 205; R. Blaufarb, Noble Privilege (Anm. 40). 43 Miroslawa Czarnecka/Thomas Borgstedt/Thomas Jablecki (Hrsg.), Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster, Brüssel 2010; Andrea Iseli, Freundschaft als konstitutives Element in der Theorie des frühneuzeitlichen Staates. Eine Spurensuche, in: Klaus Oschema (Hrsg.), Freundschaft oder „amitié“? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich, Berlin 2007, 137 – 158; Andreas Würgeler, Freunde, amis, amici. Freundschaft in Politik und Diplomatie der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, in: ebd., 191 – 210.

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kurs und der binnenmilitärischen Berichterstattung über den Staat Friedrichs des Großen erkennbar. Die militärische Nachrichtengewinnung über Preußen und seine Armee umfasste neben Stärken und Dislozierung, Rekrutierungsverfahren, taktischen Bewegungen und Waffenbeherrschung auch Erkenntnisse über Lebensbedingungen, Enthusiasmus, Strafpraxis und Maßnahmen in Bezug auf Ausbildung und Standhaftigkeit im Gefecht. Suchte man zunächst bestimmte als defizitär angesehene Aspekte des eigenen Militärwesens durch ein Kopieren der preußischen Verhältnisse zu beheben, fanden seit den späten siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts zunehmend kritische Überlegungen über den fremden Nationalcharakter Eingang in die Berichterstattung, dem die Vorzüge des eigenen zunehmend deutlicher gegenübergestellt wurden, womit eine bewusste Distanzierung herbeigeführt werden sollte44. Sie bildete die Voraussetzung für eine Motivationssicherung und -steigerung der seit der Niederlage von Roßbach zutiefst verunsicherten französischen Militärelite und die Legitimationsbasis eines umfassenden Reformprozesses. Die Beurteilung des preußischen Militärwesens aus der Perspektive fremder Militärbeobachter erhält eine zusätzliche Spannung aus dem Umstand, dass Friedrich II. bewusst Verschleierungsmaßnahmen durchführen ließ, um die Besucher über die tatsächliche Situation im militärischen Arkanbereich im Unklaren zu lassen oder um eine Demonstration der Stärke vorzuführen, deren Wirkung auf die diplomatische Korrespondenz der Gesandten mit ihren Höfen er subtil zu kanalisieren verstand. Insofern sind die Berichte der offiziellen vom König empfangenen und von seinen Adjutanten begleiteten Militärdelegationen mit den informellen Meldungen der verdeckt operierenden Beobachter zu konfrontieren45. Die französische militärische Berichterstattung über das preußische Militärwesen zwischen Roßbach und Valmy (1757 – 1792) unterlag gleich mehrfachen Perzeptionsbrüchen. Auf die frühe Epoche einer weitgehend unkritischen Prussomanie folgte eine allmähliche Besinnung auf nationale militärische Identitäten, die eine umfassende eindimensionale Kopie der preußischen Verhältnisse verwarf, sie auf einzelnen Sektoren des Kriegswesens jedoch akzeptierte. Nach den Erfolgen der französischen 44

Michael Maurer, Nationalcharakter in der frühen Neuzeit. Ein mentalitätsgeschichtlicher Versuch, in: Transformation des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, hrsg. v. Reinhard Blomert/Helmut Kuzmics/Annette Treibel, Frankfurt am Main 1993, 45 – 84; Hans Martin Blitz, Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000; Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750 – 1914, München 2008; Gallophobie im 18. Jahrhundert, hrsg. von Jens Häseler/Albert Meier, unter Mitarbeit von Olaf Koch, Berlin 2005, darin: Sascha Möbius, „Haß gegen alles, was nur den Namen eines Franzosen trägt“. Die Schlacht bei Rossbach (1757) und nationale Stereotype in der deutschsprachigen Militärliteratur des 18. Jahrhunderts, 123 – 158. 45 Christopher Duffy, Friedrich der Große. Ein Soldatenleben, Zürich/Köln 1986, 462 – 466; J. C. Allmayer-Beck, Von Hubertusburg nach Jena (Anm. 33); Konrad Ehrlich, In geheimer Mission. Adelige Offiziere und die militärische Spionage Preußens (1746 – 1756), Magisterarbeit (masch.) Potsdam 2009.

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Waffen in Nordamerika und vollends nach dem Tod Friedrichs II. schwenkten die französischen Heeresreformer auf das den preußischen Verhältnissen diametral entgegengesetzte Vorbild des ,citoyen armé‘ um, dessen Leistung, heroisch verklärt, sich in Valmy behaupten sollte. Diese Zeitspanne umschließt die Jahre zwischen einer traumatisch empfundenen Niederlage, deren Wahrnehmung nicht nur eine umfassende Militärreform einleitete, sondern auch in einer breiteren Öffentlichkeit der Notwendigkeit einer Reform der Monarchie den Boden bereitete und einem militärischen Erfolg der Armeen der Revolution gegen Preußen. Während ,Valmy‘ bei den Verbündeten nur als ein Misserfolg angesehen wurde, der den Abbruch einer Polizeiaktion im Stile des ausgehenden 18. Jahrhunderts erzwungen hatte, wurde die ,Kanonade von Valmy‘ in Frankreich zum Fanal einer revolutionären Kriegführung stilisiert46. Der Reformprozess innerhalb der französischen Armee des ausgehenden Ancien Régime wurde bisher nur bezogen auf einzelne herausragende Vertreter und die Veränderungen in der administrativen Struktur intensiver bearbeitet. Unterdessen wurde der Dichte, Intensität, thematischen Vielfalt und schließlich den Wirkungen des preußischen Einflusses während der verschiedenen Phasen der Reformbemühungen nur eine begrenzte Aufmerksamkeit geschenkt47. Eine Längsschnittanalyse über den gesamten Zeitraum von 1757 bis 1792 eröffnet aufschlussreiche Ergebnisse hinsichtlich der sich verändernden Bedeutung des preußischen Militärwesens im Lichte seiner auswärtigen Beobachter. Während, zumal in deutschen Forschungen, Guibert und Mirabeau in dieser Hinsicht immer wieder als Kronzeugen genannt werden, ist die Masse der französischen militärischen, diplomatischen und privaten Militärbeobachter des späten 18. Jahrhundert bisher weitgehend unbekannt geblieben. Dieser Kreis ist jedoch erheblich gewesen, betrachtet man die große Zahl einschlägiger Quellenzeugnisse. In den Jahrzehnten zwischen dem Ende des Siebenjährigen Krieges und dem Ausbruch der Französischen Revolution wurde offenbar von französischen Diplomaten und Militärs eine überaus intensive Beobachtung der preußischen Armee vorgenommen. Der Personenkreis umfasst junge Offiziere, wie etwa den Marquis de Lafayette, oder den späteren Stabschef Napoleons, Berthier, deren Einfluss auf die Militärorganisation des revolutionären Frankreichs und des Ersten Kaiserreichs im Spiegel ihres vorangegangenen Interesses an Preußen bemerkenswert ist. Er umfasst aber ebenso weithin unbekannte Spezialisten und zweifelhafte militärische Abenteurer. Der Umfang der entsprechenden Berichterstattung war erheblich und überrascht in seiner thematischen Breite und Detailfreude. Die Intensität, mit der die premiers 46 Bernhard R. Kroener, Eine ,neue Epoche der Weltgeschichte‘ oder der letzte Feldzug des Ancien Régime?, in: Actes du Colloque International d’Histoire Militaire, 2 Bde., Paris 1989 – 1991, hier Bd. 1, 363 – 381. 47 David D. Bien/Jay M. Smith/Rafe Blaufarb, Caste, Class and Profession in Old Regime France: the French Army and the Ségur Reform of 1781, St. Andrews 2010; C. Opitz-Belakhal, Militärreformen zwischen Bürokratisierung und Adelsreaktion (Anm. 19); T. Sarmant, Les ministres de la Guerre (Anm. 37).

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commis im secrétariat d’Etat de la Guerre die Übernahme, Ablehnung und Modifikation der transferierten Wissensbestände, etwa im Rahmen der Militärreorganisationskommission, beförderten, lässt erkennen, welche Auffassung die jeweiligen secrétaires d’Etat im Konflikt um die manière prussienne oder manière française verfolgten. Damit ist auch die Gelenkstelle bezeichnet, an der der bereits protonational aufgeladene publizistische Diskurs mit intensiven höfisch-politischen Einflussnahmen und innermilitärischen aufgeklärten Erziehungs- und Ausbildungsvorstellungen seine Wirkungen auf die militärischen Reformprozess entfaltete. Angesichts der erheblichen thematischen Auffächerung und in diesem Kontext der Hierarchie transferierter Wissensbestände über einen längeren Zeitraum und im Rahmen eines institutionell weitgehend geschlossenen Verarbeitungsprozesses ist der Vergleich mit den unterschiedlichen Positionen der öffentlichen Auseinandersetzung über die Reform der französischen Armee äußerst spannend. Von besonderem Interesse erscheint die Zusammensetzung der überaus heterogenen Gruppe der „cultural brokers“ im Offiziersrang. Wer waren die Mediatoren kulturellen Austauschs? Aus welcher spezifischen sozialen und kulturellen Lagerung erfolgte die Wahrnehmung und Deutung fremder lebensweltlicher Erfahrungen und Werthaltungen und welche Bedeutung besaßen sie für die Beurteilung der zu beobachtenden Organisationen? Welche kulturellen Register und Repertoires wurden im Aneignungsprozess verwendet? Welche Erschütterungen des vorgeblich Eigenen erzeugte die Konfrontation mit dem Fremden, welche Strategien wurden zur Anwendung gebracht, um eine bestimmte Erwartungshaltung zu befriedigen oder zu in Frage zu stellen? Mit Blick auf die Gesamtgruppe der Preußenbeobachter geraten in multiperspektivischem Zugriff die unterschiedlichen deutungsprägenden Orientierungen, Handlungskompetenzen und -spielräume in den Blick. Die Aneignung von Wissen über Preußen erfolgte im Rahmen des offiziellen diplomatischen Verkehrs über die französischen Geschäftsträger in Berlin. Kenntnisse über den friderizianischen Staat, seinen Herrscher und seine Armee wurde darüber hinaus von offiziellen Militärdelegationen vermittelt, die von Friedrich II. unmittelbar eingeladen wurden. Seine damit verbundenen Absichten reichten von einer auf die europäischen Höfe bezogenen Selbstdarstellung bis hin zu einer bewussten Desinformation militärischer Konkurrenten. Inwieweit, so lässt sich fragen, ließen sich die Besucher, vorgeprägt durch das in Frankreich öffentlich vermittelte Bild, vom Nimbus des ,großen Königs‘ blenden? Es finden sich aber auch Reisende, die sich in informellem Auftrag oder aus persönlichem Interesse in Preußen aufhielten. Es waren nicht selten junge Offiziere, die aus eigenem Antrieb den ,roi connétable‘ und seine Armee kennen lernen wollten. Schließlich lassen sich militärische Spezialisten ausmachen, die in geheimen Auftrag Manöver besuchten und Einrichtungen der preußischen Armee zu erkunden suchten. Neben den offiziellen französischen Militärbeobachtern bewegten sich in Preußen nach 1763 zusätzlich eine nicht unbeträchtliche Anzahl geheimer Informanten. Sie waren in der Regel Offiziere der deutschen Fremdenregimenter der französischen

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Armee und entstammten häufig dem Niederadel der westlichen Territorien des Reiches, kamen aus Sachsen, dem Elsass oder aus Lothringen. Dagegen war die Zahl der französischen Offiziere, die zuvor in preußischen Diensten gestanden hatten, seit 1748 rückläufig. Offenbar besaßen die Angehörigen der sozialen Eliten in den Grenzregionen auf Grund ihrer Verortung in verschiedenen Kulturräumen die besondere Fähigkeit, als cultural brokers zu fungieren. Neuere Forschungen zur kulturellen Orientierung in Grenzräumen lassen erkennen, dass sich die Zirkulation von Wissen zwischen verschiedenen kulturellen Räumen in besonderer Weise über Angehörige der regionalen sozialen Eliten vollzog, die in diesem Kontext Vermittlerfunktionen ausübten48. In Bezug auf die intellektuell beweglichen, militärwissenschaftlich interessierten und ambitionierten Offiziere bestätigt sich die Vorstellung von einer internationalen militärischen Elite in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts49. Die Archivkommission beim deutschen Militärbefehlshaber für Belgien und Nordfrankreich hat unter der Leitung der Staatsarchivars Dr. Georg Schnath während der deutschen Besatzung bis 1944 militärische Lebensläufe von etwa 6.000 „deutschen“ Offizieren der französischen Armee seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Französischen Revolution zusammengetragen. In der Forschung ist diese Quellensammlung bisher weitgehend unbekannt geblieben50. Zusammen mit den Angaben, die den jährlich veröffentlichten Ranglisten der französischen Armee (État militaire) für das 18. Jahrhundert entnommen werden können, lassen sich in der Kombination eines kollektivbiographischen Ansatzes mit dem Instrumentarium der historischen Netzwerkanalyse, zumindest exemplarisch, die Kriterien und Mechanismen nachweisen, unter denen Militärbeobachter gewonnen wurden51. Hierzu zählten neben Verwandtschaftsbeziehungen und vorangegangenen Verwendungen in den Kontingenten der armierten Reichsstände in besonderer Weise die spezifische Zusammensetzung der Offizierskorps der jeweiligen französischen Fremdenregimenter, wobei, etwa im Rahmen von Patronagebeziehungen, dem Einfluss der Re48

Dorothea Nolde/Claudia Opitz (Hrsg.), Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2008. 49 Inventar von Quellen zur deutschen Geschichte in Pariser Archiven und Bibliotheken. Bd. 2: Archive im Bereich des Verteidigungsministeriums, Archive des Außen- und Finanzministeriums, Stadtpariser Archive und Bibliotheken, bearb. v. Wolfgang Hans Stein, Stuttgart 2002; Markus Meumann, Quellen zur Sozial- und Verwaltungsgeschichte der Armee sowie zum Verhältnis von Militär- und Zivilbevölkerung im Frankreich des Ancien Régime. Ein Wegweiser zu französischen Archiven und Bibliotheken, in: MGZ 64 (2005), 177 – 200. 50 Der Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich, der Beauftragte des Chefs der Heeresarchive beim Militärbefehlshaber in Frankreich, Deutsche Fremdenregimenter in Frankreich. Bde. 1 – 3: Infanterie; Bd. 4: Kavallerie; Bd. 5: Französische Revolution, Mss. Paris 1942/43, Provenienz: Bayerisches Armeemuseum Ingolstadt, I 5/An 1; ergänzendes Material in: Bundesarchiv-Militärarchiv, RH 18/459, Der Chef der Heeresarchive, Aktenreproduktionen zur brandenburgisch-preußisch-deutschen Heeresgeschichte, September 1944. 51 Etat Militaire de France, Paris, jährliche Erscheinungsweise fortlaufend seit 1758 bis 1792.

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gimentskommandeure eine besondere Bedeutung zukommt. Hinweise, die diese Annahme bestätigen, lassen sich etwa in den Personalstandsunterlagen des régiment d’infanterie d’Anhalt, beim régiment de cavalerie Royal Allemand und beim Infanterieregiment Royal Suédois finden. Offiziere aus Regimentern, deren Inhaberschaft von Angehörigen regierender Häuser, wie etwa Hessen-Darmstadt oder Zweibrücken ausgeübt wurde, wurden im Interesse Frankreichs zur Nachrichtengewinnung über die militärischen Potentiale der armierten Reichsstände, u. a. Preußens veranlasst, um auf diese Weise die politische Position ihrer Landesherren am Versailler Hof zu stärken52. Die Wahrnehmung des preußischen Militärwesens durch französische Offiziere durchlief im Verlauf des Rezeptionsprozesses gleich mehrfache kulturelle Brechungen. Sie erfolgten durch Offiziere deutscher Herkunft in französischen Diensten, über französische Offiziere und Diplomaten und setzten sich im Aneignungs- und Umsetzungsprozess innerhalb der französischen Militärbürokratie fort. Neben erfolgreichen, auf die spezifisch französischen Verhältnisse bezogenen Adaptionen, deren Wirkungen noch in den Armeen des Ersten Kaiserreichs zu beobachten sind, sind ebenso gescheiterte Transferprozesse zu beobachten. Unter protonationaler Perspektive wurde der Rekurs auf preußische Verhältnisse zunehmend auch als Waffe im innerfranzösischen Reformdiskurs des ausgehenden Ancien Régime verwendet. Damit gerät schließlich die Auffassung der französischen Militärbeobachter hinsichtlich des Charakters der preußischen Monarchie und ihrer Heeresverfassung in den Blick. Folgten, so ist zu fragen, die professionellen Berichterstatter eher der Auffassung ihres Landsmannes Mirabeau, dem zufolge „la guerre (c’est) l’industrie nationale de la Prusse“ gewesen sei, oder neigten sie eher der Ansicht von Guibert zu, Preußen sei im Rahmen der europäischen Entwicklung zwar eine monarchie militaire, nicht aber ein militärischer Staat gewesen53? Neuere Forschungen zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft in Preußen haben den Nachweis erbracht, dass eine soziale Militarisierung der Monarchie weder in der Intention der Krone lag, der überdies die Instrumente zu dieser Form der Herrschaftsdurchsetzung nicht zur Verfügung standen, noch die subjektive Wahrnehmung der Untertanen einen entsprechenden Befund rechtfertigt54.

52

B. R. Kroener, Deutsche Offiziere (Anm. 41); Rudolf Karl Tröss, Des Regiment Royal Deux-Ponts. Gesammelte Beiträge zur Geschichte des Regiments, Zweibrücken 1983; Die Erkaufung des Regiments Royal Allemand, 1741/42, Hauptstaatsarchiv Darmstadt D4, Nr. 578; M. Pinard, Chronologie historique militaire […], 8 Bde., Paris 1760 – 1778. 53 Bernhard R. Kroener, „Eine Armee, die sich ihren Staat geschaffen hat?“. Preußische Militärmonarchie, preußischer Militärstaat und Militarismus, in: Bernd Sösemann/Gregor Vogt-Spira (Hrsg.), Friedrich der Große in Europa, Bd. II, Wiesbaden 2011, 233 – 249. 54 Peter Wilson, Social Militarization in Eighteenth Century Germany, in: German History 18 (2000), 1 – 39; Thomas Stamm-Kuhlmann, Militärstaat Preußen. Zum Stand der Debatte über den „preußischen Militarismus“ im 18. und 19. Jahrhundert, in: Gustavo Corni/Chris-

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Wie verorten sich in diesem Kontext die Wahrnehmungsmuster, mit denen in französischen Diensten stehende Offiziere zwischen 1757 und 1792 sich ein spezifisches Verständnis des preußischen Militärwesens aneigneten? Die Berichte der aus verschiedenen Reichsterritorien stammenden Offiziere in französischen Diensten und durch französische Offiziere erfuhren im Aneignungs- und Umsetzungsprozess innerhalb der französischen Militärbürokratie einen Rezeptionsprozess, der damit gleich mehrere kulturelle Brechungen aufwies. Gab es, so ist zu fragen, im nichtöffentlichen, professionellen binnenmilitärischen Diskurs Abweichungen von den Anschauungen, die im ausgehenden Ancien Régime in Frankreich über Preußen zirkulierten? Damit richtet sich der Blick notwendigerweise auf die inhaltlichen Zielsetzungen, die einerseits von quantitativen Aussagen über Stärke, Ausrüstung und Dislozierung der preußischen Armee geprägt waren, andererseits in vergleichender Perspektive auf bestimmte Aspekte der französischen Armeereform eingingen. Weiterhin lassen sich Phasen einer intensiveren Reisetätigkeit von denen eines geringeren Interesses an Preußen unterschieden, deren Ursachen in politischen Gewichtsverlagerungen gefunden werden, die aber auch gesamtgesellschaftliche Veränderungen des Preußenbildes abbilden. Forschungen zu Formen, Methoden und Mechanismen der militärischen Nachrichtengewinnung im 18. Jahrhundert stehen bisher kaum zur Verfügung Noch weniger wissen wir über die Friktionen, mit denen sie konfrontiert wurde, wie etwa über die preußische Gegenstrategie der Geheimhaltung, Verschleierung und Irreführung. Von besonderer Bedeutung sind die Mechanismen, mit denen die Rekrutierung des benötigten Personals betrieben wurde. Auch auf diesem Sektor bewegt sich die Forschung zurzeit noch auf nicht ausreichend erforschtem Gebiet. Die vorhandenen Quellenbestände erlauben aber die Annahme, dass die personelle Struktur der französischen militärstrategischen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entschlüsselt werden kann. Auf diese Weise lässt sich ermitteln, ob und mit welcher Intention die zeitgenössischen Militärbeobachter ein von der öffentlichen Wahrnehmung abweichendes Bild von Preußen gezeichnet haben. Daraus wird erkennbar, in welchem Umfang und zu welchem Zeitpunkt die französischen Militärbeobachter im ausgehenden 18. Jahrhundert die preußischen Verhältnisse als Vorbild, Gegenbild oder Zerrbild beurteilt haben.

tiane Liermann/Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Italien und Preußen. Dialog der Historiographien, Tübingen 2005, 109 – 121.

Villeneuve an Napoleon Ein fiktiver Brief Von Manfred und Ursula Wolf, Münster „Habent sua fata libelli“!1 Diese vielfach zitierten, unterschiedlich interpretierten Worte könnte man auch dem Schicksal eines Dokumentes „Brief an Bonaparte“ zuschreiben, das kürzlich – 200 Jahre nach seiner Entstehung – auf eine weite Wanderung mitgenommen wurde, nachdem es vor einigen Jahrzehnten bei dem Kustos Václav Hodinka des nordböhmischen Schlosses Reichstadt2 eine sichere Bleibe gefunden hatte. Von einem Schlossführer in Reichstadt kann man erwarten, dass er einem von Admiral Villeneuve3 an Napoleon gerichteten Brief ein gewisses Interesse entgegen bringt. Jaroslav Lugs, ehemaliger Leiter des Historischen Militärmuseums in Prag, ließ der Familie Hodinka das Schriftstück, das im Mittelpunkt dieser Betrachtungen steht, im Jahre 1970 zusammen mit seinem soeben erschienenen Buch „Hand1 Lehrgedicht des Tertullianus Maurus, 2./3. Jahrh. n. Chr. (De litteris, de syllabis, de metris, Vers 1286: Der kleine Pauly, Lexikon der Antike Bd. 5, 1979, 591). Der vollständige Hexameter lautet: Pro captu lectoris haben sua fata libelli. 2 Heute: Zákupy (Tschechien). Reichstadt ist den historisch Interessierten bekannt durch den Titel, den Napoleons Sohn führte. Dieser wurde am 20. März 1811 als Sohn Napoleons in dessen zweiter Ehe mit der Erzherzogin Marie Louise geboren und trug zunächst ebenfalls den Namen Napoleon. Schon bei der Geburt wurde er mit dem Titel „König von Rom“ bedacht. Nach dem Sturz Napoleons bewog Kaiser Franz, sicherlich auf Anraten Metternichs, seine Tochter, nicht ihrem Ehemann in die Verbannung nach Elba zu folgen, sondern mit ihrem dreijährigen Sohn in ihr Heimatland zurückzukehren und die Regentschaft von Parma zu übernehmen. Widerstrebend folgte Marie Louise diesem Plan und verließ an dem Tage, an dem Napoleon nach Elba abreiste, am 20. April 1814 Frankreich. Als Marie Louise sich nach Parma begab, blieb ihr Sohn in Wien und wurde dort erzogen. Man glaubte, ihn hier besser vor einer möglichen Entführung und vor allem einer unerwünschten Beeinflussung schützen zu können. Zu seiner Mutter hatte er wenig Kontakt. Man nannte ihn aber Prinz von Parma und gab ihm den Vornamen „Franz (Joseph) Carl“. Im Jahre 1816 fasste die Pariser Außenministerkonferenz den Beschluss, der Sohn Napoleons dürfe keinen Thron besteigen, auch nicht den zu Parma. Der Kaiser, der seinem Enkel zugetan war, fand nach längerem Suchen die Lösung: Die Herrschaft Reichstadt, die kurz zuvor aus pfalzbayrischem in habsburgischen Besitz gelangt war, wurde 1818 zum Herzogtum erhoben. Sein Enkel führte nun den Titel „Herzog von Reichstadt“. Dieser hat seinem Besitz jedoch niemals einen Besuch abgestattet. Er starb schon mit 21 Jahren am 22. Juli 1832. (Gerd Holler, Napoleons Sohn. Der unglückliche Herzog von Reichstadt, Wien/München 1991). 3 Pierre Charles Jean-Baptiste Silvestre de Villeneuve.

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feuerwaffen“4 als Dank für geleistete Lebenshilfe zukommen. Lugs wiederum erhielt es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von dem Militärarzt Frantisek Tichy´5, der in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts Objekte der Napoleonischen Epoche sowohl in Paris als auch im österreichisch-böhmischen Raum gesammelt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er der Kollaboration mit den NS-Behörden angeklagt und sein Eigentum beschlagnahmt. Der Nachlass mit mehreren tausend Sammlerobjekten kam während der kommunistischen Regierungszeit in das Schloss Sychrov (Nordböhmen), wo er noch heute lagert. Schlossführer Hodinka6 gehörte jener tschechischen Nachkriegsgeneration an, für die das Erlernen der deutschen Sprache beinahe unmöglich war. So wusste er viele Jahrzehnte lang nichts von dem Inhalt seines wohlverwahrten Schatzes, für den er und seine Vorbesitzer das Dokument „an Bonaparte“ wohl hielten. Zu Beginn seines siebten Lebensjahrzehnts übereignete er den Brief seiner Tochter Katerina Kahanová7, die ebenfalls der deutschen Sprache nicht mächtig ist, jedoch fließend Französisch spricht. Unter ihrer Regie wanderte eine Kopie des Briefes weiter. Katerina brachte ihn zu ihrem französischen Freund nach Château-Chinon (Burgund), da man annehmen konnte, dass einen Franzosen die Erwähnung Napoleons von vornherein interessieren würde. Doch bei diesem war es mit den Deutschkenntnissen nicht besser bestellt. Er schickte daher den abgelichteten Brief an einen Freund in Brüssel, den er aus der Mitgliedschaft im Alpen-Verein kannte und der für seine Kontakte nach Deutschland bekannt war, da er seinen Urlaub regelmäßig im Sauerland zu verbringen pflegte. Bei den Gästen im Hotel, das er seit Jahren aufsuchte, hatte er zunächst keinen Erfolg mit seiner Bitte, ihm den Brief vorzulesen. Diese beherrschten zwar erwartungsgemäß die deutsche Sprache, mit der Schrift aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts kamen sie nicht zurecht. Zufällig logierte dann im Juli 2013 in dem betreffenden Hotel ein Historiker-Ehepaar, das die Abschrift des Briefes liefern und mit Kenntnis der französischen Sprache den Kontakt mit Katerina Kahanová in Tschechien aufnehmen konnte. Nun war bei ihnen das Interesse für die weitere Beschäftigung mit dem Brief und seinem möglichen Verfasser geweckt. Die Interpretation des Briefes und die Darstellung der mit ihm verbundenen Umstände können sich überwiegend nicht auf schriftliche Belege oder Zeugenaussagen stützen. Weitgehend stehen für die Erklärung des Briefes nur Hypothesen zur Verfügung. Ihre Einbeziehung dürfte aber sinnvoll sein, da sie mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit verknüpft sind. 4

Jaroslav Lugs, Handfeuerwaffen, Berlin (DDR) 1970. Frantisek Tichy´ (1875 – 1949), Vorsitzender der napoleonisch-französischen, tschechischen Gesellschaft in Prag während der zwanziger und Anfang dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. 6 Václav Hodinka, geb. 1940, ein ausgebildeter Architekt erhielt unter der kommunistischen Regierung in Prag ein Arbeitsverbot und durfte sich glücklich schätzen, in Zákupy eine Tätigkeit als Schlossführer gefunden zu haben. 7 Katerina Kahanová lebt in Prag, wo sie für die Diakonie arbeitet und internationale Schulungen organisiert. 5

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Der vermeintliche Absender des Briefes Pierre Charles Jean-Baptiste Silvestre de Villeneuve wurde am 31. 12. 1763 in Valensoles (Basses Alpes) geboren.8 Schon mit 15 Jahren trat er 1778 in die Marine ein, wurde 1793 zum Kapitän und 1796 zum Konteradmiral befördert. Hilfreich für seine Karriere war die Unterstützung durch seinen Freund Decrès9, den späteren und im Brief erwähnten Marineminister. Im Gegensatz zu seinen Standesgenossen unterstützte er die Revolution, was sich auch durch die Ablegung seines Adelstitels äußerte. In der Expedition Napoleons nach Ägypten spielte er 1798 in der Seeschlacht von Abukir als Kommandeur der Nachhut eine umstrittene Rolle. Als er das Kampfgeschehen erreichte, sah er, dass die Entscheidung zu Ungunsten der Franzosen gefallen war und griff somit nicht ein. Mit vier Schiffen ergriff er die Flucht und erreichte Korfu. Sein Verhalten wurde von seinen Gegnern natürlich als Feigheit ausgelegt. Dieser Vorwurf behinderte indes seine Laufbahn nicht. Als am 14. August 1804 Admiral Louis-René Levassor de LatoucheTréville in Toulon starb, wurde Villeneuve, der zu dieser Zeit zu Rochefort kommandierte, dessen Nachfolger. Er erhielt den Auftrag, von Toulon aus die Blockade zu durchbrechen, danach die englische Flotte in die Karibik zu locken, dort aber sofort umzukehren, um mit der französischen Flotte die Landung in Großbritannien zu unterstützen. Es gelang tatsächlich, die Blockade zu durchbrechen. Villeneuve segelte unbehelligt in die Karibik, wendete dort aber sofort und gelangte mit seinen Schiffen an die spanische Küste nach Ferrol und danach nach Cadiz. Angesichts der zwischen Brest und der südlichen Küste der Finistère kreuzenden britischen Flotte schien es ihm nicht möglich, Napoleons Anweisung nachzukommen, sich zur Unterstützung bei der Landung in England in den Kanal zu begeben. Napoleon wartete daher vergeblich mit seiner zu Boulogne versammelten Armee. Noch am 22. August 1805 schrieb er hoffnungsvoll an Talleyrand: „England ist unser“. Am gleichen Tage richtete er auch eine Depesche an Villeneuve, seine letzte. Danach erhielt Villeneuve seine Anweisungen von Marineminister Decrès. Napoleon äußerte, er gehe davon aus, Villeneuve habe Brest erreicht. Er solle sich unverzüglich mit seiner Flotte in den Kanal begeben. Dann gehöre ihnen England und sechs Jahrhunderte der Schande seien ausgelöscht.10 Auf die Nachricht, Villeneuve habe dem Kanal den Rücken gekehrt und sei nach Cadiz gesegelt, reagierte Napoleon mit einem Wutausbruch, da seine Pläne zur Landung in England nun zunichte gemacht worden waren. „Villeneuve ist ein Elender, den man mit Schmach und Schande davonjagen muss, ohne Mut, ohne höheres Interesse.“11 Da Napoleon aber berichtet wurde, an der Donau würden Truppen zusammengezogen, änderte er seine Pläne und erteilte schon am 27. August seiner Armee den Marschbefehl zum Rhein, was letztendlich am 2. Dezember 1805 zum Sieg bei Austerlitz führte. In Cadiz stand die Bevölkerung der fran8

Biographie des Célébrités militaires des armées de terre et de mer de 1789 à 1850, par M.C. Mullié, Tome seconde, Paris (1851). 9 Denis Decrès (1761 – 1820). 10 Edward Fraser, The enemy at Trafalgar. Eye-witnesses Narratives, Dispatches and Letters from the French and Spanish fleet, London 1906, Nachdruck London 2004, 16. 11 Jacques Bainville, Napoleon. Paris 1930, Übersetzung München 1950, 252.

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zösischen Flotte durchweg ablehnend gegenüber. Villeneuve hatte große Schwierigkeiten, sich mit Proviant zu versorgen. An Zahl der Schiffe war der französische Admiral zusammen mit der spanischen Flotte den Engländern nicht unterlegen. Deren Schiffe waren aber durchweg stärker armiert. Hinzu kam der hohe Krankenstand der Franzosen. Durchschnittlich befanden sich auf jedem Schiff 60 Kranke. Seit dem Aufbruch in die Karibik waren 311 Seeleute desertiert. Allgemein war die Stimmung der Mannschaften gedrückt. Auch viele Offiziere standen ihrem Admiral kritisch gegenüber. Die französischen Schiffe waren vielfach in den Häfen blockiert. So hatten die Seeleute fast keine Erfahrung in einer Seeschlacht. Sie waren „hafentrainiert“. Dieser Zustand der Flotte war Napoleon nicht unbekannt. Am 16. September erhielt Villeneuve durch den Marineminister die von Napoleon am 14. September in Saint Cloud eigenhändig gezeichnete Anweisung, den Anker zu lichten, in einem Ablenkungsmanöver von Cadiz aus mit der spanischen Flotte die Straße von Gibraltar zu passieren und zur Bucht von Neapel zu segeln, dort die 4000 für die zur Unterstützung der von St. Cyr kommandierte Armee zu Tarent abzusetzen und sich dann nach Toulon zu begeben.12 Wenn Villeneuve auf einen unterlegenen Feind treffe, solle er ihn unverzüglich angreifen. Villeneuve äußerte gegenüber dem Versuch, die englische Blockade zu durchbrechen, seine Bedenken. Andererseits wollte er den Vorwurf der Feigheit nicht auf sich sitzen lassen und strebte danach, seine Ehre reinzuwaschen. Das von Napoleon geäußerte Missfallen führte zu der Anweisung, den Admiral abzulösen. Dies wurde jedoch vom Marineminister Decrès an den Admiral nicht so weitergegeben. Gerüchte über seine Ablösung waren zwar zu Villeneuve gelangt. Der für seine Nachfolge bestimmte Vize-Admiral Rosily erreichte jedoch Cadiz erst, nachdem Villeneuve diesen Hafen verlassen hatte.13 Um das Wohlwollen des Kaisers nicht zu verlieren, folgte Villeneuve den Anweisungen des Marineministers und erteilte den verhängnisvollen Befehl, die Anker zu lichten. Wenn es glaubhaft erscheint, dass Villeneuve nur einem Befehl folgend, gegen seine Überzeugung den Versuch unternahm, die britische Blockade zu durchbrechen, so wurde sein Verhalten auch ganz anders dargestellt. Danach war Villeneuve allein für den Verlust der französischen Flotte verantwortlich, da er gegen die Anweisungen Napoleons gehandelt habe: „Car je lui avais ordonné de ne pas mettre à la voile et de ne pas s’engager avec les Anglais“. Diese Version findet sich im Werk von Mullié14, der sich auf die Ausführungen des Iren O’Meara15 bezieht. Der Ire war von 1815 – 1818 Leibarzt Napoleons. In der bourbonischen Zeit gehörte er zu den Napoleoniden. Wie er in einem Brief von 1823 an Joseph Bonaparte, den Bruder Napoleons schrieb, war es sein Anliegen, in seiner Publikation (Napoleon in exile or a voice from St. Helena) Napoleon zu rechtfertigen (to defend the reputation of the emperor). 12

Ebd., 9. E. Fraser, The enemy (Amn. 10), 16. 14 M. C. Mullié, Biographie des Célébrités (Anm. 8), 582. 15 Peter Hicks, Who was Barry Edward O’Meara (Napoleonica. La Revue 2013/2, N. 17, 75 – 94). 13

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O’Meara liefert für seine Darstellung keine Belege. Sie verdient somit keine Glaubwürdigkeit. Am 21. Oktober 1805 wurde die französisch-spanische Flotte bei Trafalgar vernichtend geschlagen. Auf dem französischen Flaggschiff Bucentaure musste die Flagge zum Zeichen der Aufgabe eingeholt werden. Fünf englische Seeleute ruderten unter Führung des Captain Pellew zu dem französischen Schiff, wo Villeneuve und drei weitere Offiziere ihm ihren Degen überreichten.16 Als Kriegsgefangener wurde der Admiral an Bord der Fregatte Euryalus nach England gebracht. Sein Schicksal teilten etwa 700 – 800 französische Seeleute, während die spanischen Gefangenen in Spanien verblieben.17 Im Gegensatz zu ihnen, die bis 1814 in Gefangenschaft ausharren mussten, erhielt Villeneuve schon nach fünf Monaten im April 1806 im Austausch gegen vier britische Post-Kapitäne die Freiheit. Er landete am 6. April in Morlaix in der Bretagne und reiste weiter bis Rennes, wo er im Gasthof „de la Patrie“ logierte. Dort wartete er vergeblich auf eine Antwort auf seinen schon in Morlaix an den Marineminister gerichteten Brief. Das deutete er als Zeichen für die ihm von Seiten des Kaisers drohende Ungnade. Er hatte ja erfahren, dass zwei seiner Offiziere, die Kapitäne Lucas und Infernet, von Napoleon empfangen und befördert worden waren.18 Am 22. April 1806 wurde der Admiral in seinem Zimmer tot aufgefunden. Er hatte sich mit mehreren Stichen selbst getötet. Während der Moniteur die Nachricht von seinem Tode zunächst verschwieg,19 wurde sie in London publiziert. Zufällig war ein englischer Adliger auf dem Wege von Verdun, wo er möglicherweise inhaftiert gewesen war, in seine Heimat nach einem Gefangenenaustausch in demselben Gasthof abgestiegen und konnte so vom Selbstmord Villeneuves berichten.20 Nach dem Tode Napoleons 1821 gab es, besonders in britischen Publikationen, eine Welle von Spekulationen über eine Ermordung des Admirals. Diese entbehren jedoch der Wahrscheinlichkeit. Villeneuve soll noch am Morgen seines Todestages zwei Briefe verfasst haben, einen Abschiedsbrief an seine Frau und einen Brief an Bonaparte. Der Brief an seine Frau wurde nach dem Tode Villeneuves in Paris zurückgehalten, schließlich aber nach Prüfung und Kopierung an die Witwe zurückgegeben. Er wurde publiziert in den vom französischen Marineministerium herausgegebenen Annales Maritimes.21 Trotz geäußerter Zweifel an seiner Authentizität sollte man im Gegensatz zu seinem Brief an Napoleon von seiner Echtheit ausgehen.

16

Ebd., 33. Ebd., 89. 18 E. Fraser, The enemy (Anm. 10), 91. 19 Victoires, conquêtes, désastres, revers et guerres civiles des francais de 1792 à 1815 par une société de militaires et de gens de lettres, Teil 16, Paris 1819, Kapitel IV, 198, Anm. 2. 20 The Naval Chronicle for 1806, vol. 15, 456. 21 Annales Maritimes, 1928, Bd. 36, desgl. In englischer Sprache in Colburn’a United Service Magazine, 1854, Teil 3, 276. 17

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Der vier Seiten lange vorgebliche Brief Villeneuves an Napoleon hat folgenden Wortlaut: An Bonaparte Riemers, den 26 April 1806 Am Morgen seines Selbstmordes Mein Herr! Sie müssen sich erinnern, daß als a la Touch zu Toulon starb, ich zu Rochefort commandierte und dass ich es damals ablehnte, sein Nachfolger zu sein. Ich war damals fest überzeugt, daß jeder, welcher die abenteuerliche und schlecht eingerichtete Expedition der vereinigten französischen und spanischen Flotte commandieren oder dirigieren werde, mit Schande geschlagen werden müsste, wenn er auch so unglücklich wäre, sein Leben aus einer Schlacht davon zu bringen, die bei einem Feinde unvermeidlich war, der alle Meere mit seinen durchkreuzenden Schiffen bedeckt. Dies sind buchstäblich die Worte, die ich damals dem Minister der Marine sagte. Nachdem ich mehrmals so sehr gegen meine Neigung nach Barcelona und Cadiz segelte und daselbst mich überzeugt hatte, wie die spanische Flotte übermannt ist und wie sie manövriere, so schickte ich bei meiner ersten Depesche meine Resignation ein. Dies wiederholte ich nachher von Martinique, von Feroll und von Cadiz, als ich unterm 24. September vorigen Jahres die Order erhielt, mit der combinierten Flotte nach Toulon zurückzukehren. Selbst wenn wir uns durch die englische Flotte durchschlagen sollten, antwortete ich, ich würde gehorchen. Ich erinnerte aber zugleich den Minister an meine vormalige Besorgnisse und die Ungewissheit einer Seeschlacht und meinen festen Entschluss, ich möge siegen oder besiegt werden, auf immer einem gefährlichen Posten zu entsagen, welchem ich wegen meinen Grundsätzen und vorzüglich wegen Ihres heftigen und grausamen Charakters vorzustehen unfähig war. Das Unglück von Trafalgar war keinem Vorsehen, keinem Mangel an Tapferkeit zuzuschreiben. Dies habe ich in meinen Amtsberichten über diese Seeschlacht aufs vollständigste bewiesen. Warum war diesem Bericht der Platz im Moniteur versagt, indessen die Lästerungen und Beschuldigungen meiner Feinde immer darin aufgenommen sind? Sie selbst, als Sie meinen Bericht während Ihren glücklichen und ehrgeizigen Expeditionen in Deutschland erhielten, sprachen mit Ihrem gewohnten Mutwillen und Grausamkeit. Ich sehe, dass das Beispiel eines französischen Byng22 durchaus nötig ist, um den Sieg einer Seemacht zur Tagesordnung zu machen. Tausend Stimmen haben den gefühllosen Ausspruch des Todesurteils wiederholt, welches ein wütender fremder Usurpator gegen einen französischen Admiral aussprach. Und unterdessen wurde von meiner Depesche gar keine Notiz genommen. Man hörte nichts davon, vielleicht ist sie gar nicht einmal gelesen worden. Diese Depesche enthielt demungeachtet einige bittere Wahrheiten, welche nicht dazu beigetragen haben, Ihre nautischen Kenntnisse in ein glänzendes Licht zu setzen. Solche beweisen vielmehr, dass derjenige, dessen Unfähigkeit und Stolz den Verlust einer französischen Flotte bei Abukir veranlasst, auch an der Zerstörung einer anderen bei Trafalgar schuld war.

22 John Byng, englischer Admiral, 1756 Verlierer einer Seeschlacht bei Minorka, mit dem Tode bestraft, Opfer der Kabinetts-Politik (Gustav von Schlabrendorf, Napoleon Bonaparte, 1814, 106, Anm. 39).

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In der letzten Unterredung, die ich mit Ihnen hatte, gestunden sie selbst, wenn Frankreich das feste Land ohne Widerstand beherrsche, dessen äußere Macht dennoch ungewiss bleibe, sein innerer Zustand keine Festigkeit erlangen, seine Handlungen stocken, seine Manufakturen danieder liegen müssen und seine Einwohner in Dürftigkeit und Mangel leben würden, solange es nicht in Stand sein wird, Großbritannien zu nötigen, sich seiner Vorschrift zu unterwerfen. Bei der Tyrannei, die Sie nun schon einige Jahre ausgeübt haben, hat mein Vaterland und dessen Alliierte schon mehr Kriegsschiffe verloren, als deren die ganze Marine während eines Teils der langen Regierung Ludwig XIV. und XV. besaß, und sollte mein Vaterland noch einige Zeit länger den Fluch erleben, unter Ihrem eisernen Zepter zu stehen, so wird seine militärische Seemacht bald eben so schlecht werden, als seine Handelsseemacht schon ist, und in seinen Seehäfen wird man nichts anderes sehen als schamlose Seeräuber und zu Bettler gewordene Kaufleute. Was hat mein Vaterland bisher für Gewünst und Ehre von all Ihren glücklichen Feldzügen gehabt, oder ist es unter der unumschränkten Gewalt freier als sonst? Überladen mit Steuern, schrecklich unterdrückt durch einen tätigen und gefühllosen militärischem Despotismus trauern meine Landsleute sklavisch über die Annäherung eines unvermeidlichen Unglücks, und dürfen nicht einmal es wagen, darüber zu seufzen. Nur Sie, Ihre Verwandten und Ihre Kreaturen haben Vorteile von Siegen, welche durch das reinste Blut und edelsten Schätze von Frankreich erfochten sind. Wenn man aber die Schwäche selbst bloß politisch betrachtet: Was haben die Franzosen für Ehre und Vorteile, was haben andere Völker für Sicherheit von Ihren Usurpationen, Ihren Verwüstungen, Ihren Indemisationen23, Ihren Veränderungen und Friedensschlüssen? Was hilfte es Ihnen, einen blutdürstigen Abenteurer als Kaiser zu sehen, seine lasterhafte Hure als Kaiserin, seine elenden und gottlosen Brüder und Schwäger als Könige und Schwäger als Könige und Prinzen, seine verworfenen Maitressen als Königinnen und Prinzessinnen, die Mitschuldigen seiner Bosheit als Herzöge und Marschälle und Ritter. Sie haben die Personen der Franzosen fesseln und verwirren können, ihren Verstand haben Sie nicht fesseln und verwirren können. Werden diese also, wenn Sie 20000 Österreicher oder Russen als Gefangene erblicken, an etwas anders erinnern als an die Gefangenschaft einer größeren Zahl Ihrer Landsleute in England, welche Sie durch Ihren Trotz und Ehrsucht veranlasst haben. Wenn Sie, um jene Gefangenen in Ihr Vaterland zurückkehren sehen, müssen Sie denn nicht die Abwesenheit derer beklagen, die Ihnen mit Recht so teuer sind und welche Sie wieder zu umarmen vergebens hoffen müssen, bis sie nicht von Ihrer Tyrannei gerettet sind. Sie wissen zu gut, dass Großbritannien zu groß und mächtig ist, um noch einmal einen Frieden mit einem Manne zu schließen, der, indem er sich als Freund versteht, nur für seine Unabhängigkeit arbeitet und bei weitem nicht so gefährlich als erklärter Feind ist, dessen Oelzweige nie etwas (anderes) als Brandflecken dieses Mordbrenners in politischen und geschäftlichen Sinne gewesen sind, der ewig während des Krieges Frieden anbietet, um während des Friedens an nichts als Zerstörungen denkt und solche einleitet. Aus der Sprache, die ich mit Ihnen in diesem Briefe rede, werden sie leicht ersehen, dass der Verfasser desselben von Ihrer wütenden Rache nicht mehr erreicht werden kann und dass er nicht mehr Ihre Folter und Henker, Ihre Vergifter und Peiniger fürchte. Die Order Ihrer Minister, mich der Hauptstadt nicht zu nähern, ehe ich von Ihnen weitere Erlaubnis dazu erhielte, hat den Zeitpunkt Ihrer Strafe und die Befreiung des Menschengeschlechts von einer Geisel noch verschoben. Ohne diese Order würde ich, der ich entschlossen war, den Verlust der französischen Seemacht nicht zu überleben, Sie aus dem Wege geräumt 23

Die Mediatisierung vieler Kleinstaaten.

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haben, ehe ich mich selbst dafür gestraft hätte, dass ich mit Verletzung meiner Ehre, meiner Pflicht, meiner Geburt und meines Standes mich habe zu Ihrem Werkzeug brauchen können. Dass Sie noch unter den Lebenden sich befinden ist Beweis, dass ein blindes und ungerechtes Glück und unerforschliche Gründe noch die Fortdauer Ihrer barbarischen Tyrannei gestattet. Verlassen Sie sich aber darauf, und die ungeheure Größe Ihrer mannigfachen Verbrechen muss Sie selbst überzeugen, dass es wahr ist. So wie Sie als einer der größten Bösewichter gelebt haben, muss auch Ihr Ende einzig und schrecklich sein. Ein Mörder oder Henker wird die Laufbahn von Abscheulichkeiten enden, welche zur Schande der Menschheit schon so lange gedauert hat. Damit aber auch eine tugendhafte Nachkommenschaft, welche vielleicht einen Teil meines öffentlichen Wirkens tadeln möchte, mit der ernstlichen Reue und den patriotischen Gesinnungen nicht unbekannt bleiben möchte, die ich bei meinem Tode empfunden, so sind Abschriften dieses Briefes an die Offiziere in allen französischen Seeplätzen geschickt. Ihre niedrigen Schmeichler mögen sagen, was sie wollen. Hätte ich Sie umgebracht, so würden folgende Jahrhunderte mich als einen Befreier gesegnet und als einen Erlöser betrachtet haben. Zittre Tyrann! Du lebst verabscheut und wirst sterben, belastet mit dem Fluche der ganzen Welt, der Dir noch jenseits des Grabes folgen wird. de Villneuf Admiral

Der Brief enthält einige Ungereimtheiten. Das angegebene Datum 26. April ist falsch, da der Todestag des Admirals der 22. April 1806 war. Ein Ort Riemers existiert nicht. Es müsste Rennes heißen. Die Unterschrift wurde in einer Art Schreibschrift imitiert. Die korrekte Schreibweise des Namens des Admirals ist nicht Villneuf, sondern Villeneuve. Schon diese wenigen Hinweise sollten genügen, um die Echtheit des Briefes in Frage zu stellen. Zu dem in deutscher Sprache wiedergegebenen Text hat es eine in französischer Sprache abgefasste Vorlage gegeben, die später in den sogenannten Pagets Papers veröffentlicht wurde.24 Fraser hat in seiner Darstellung festgestellt, dass diese französische Fassung zahlreiche Ausdrücke enthält, die kein Seemann gebrauchen würde. Auch der Stil deutet darauf hin, dass ihn kein Franzose, schon gar nicht ein Mann der Bildungsstufe von Villeneuve verfasst haben könnte.25 Arthur Paget (1771 – 1840) war von 1801 bis zu seiner Abberufung im Februar 1806 bevollmächtigter englischer Gesandter in Wien. Er engagierte sich, auch materiell, an dem Zustandekommen der dritten Koalition gegen Frankreich.26 Als Paget nach der vernichtenden Niederlage der Koalition am 2. Dezember 1805 bei Austerlitz in einer bedrückenden Depesche von der politischen Lage in Wien nach London berichtete, soll er dadurch zum Tod von William Pitt (23. Januar 1806) beigetragen 24

The Paget Papers, hrsg. von Agustus B. Paget, London, vol. II, 1896, 278 – 282. Unser französischer Freund Michel Gigon, dem der Brief vorgelegt wurde, hat unabhängig von dem Kommentar Frasers diese Feststellung bestätigt. 26 J. M. Rigg, Sir Arthur Paget (1771 – 1840); rev. H.C.G. Matthew (Oxford Dictionary of National Biography), Oxford University Press, 2004/ 2008. 25

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haben. Man darf annehmen, dass Paget nach seiner Abberufung, zwei Monate vor dem Tode Villeneuves, noch eine Zeitlang in Wien verweilte, bis er im Mai 1807 seinen neuen Posten bei der Pforte antrat. Ein Brief, den Friedrich Gentz27 am 6. April 1806 aus Dresden an Paget richtete und der dem Grafen Metternich auf dessen Reise nach Wien mitgegeben wurde, geht von der Voraussetzung aus, dass der Adressat sich noch in der Hauptstadt befand.28 Dadurch kann man mit dem Jahre 1806 das Datum für die Entstehung der französischen Fassung des Briefes von Villeneuve an Napoleon, der im Nachlass von Paget vorgefunden und durch seinen Sohn Augustus erst 1896 publiziert wurde, erschließen. Der Zeitraum in dem die französische Fassung des Briefes entstand, lässt sich jedoch noch genauer eingrenzen. Sie kann verständlicher Weise nicht vor dem 22. April 1806, dem Todestag Villeneuves, entstanden sein. Schon am 28. Mai 1806 berichtete das englische Presseorgan „Hereford Journal“, der Brief an Bonaparte sei publiziert (published) worden. Es ist unwahrscheinlich, dass mit „published“ gedruckt gemeint ist, sondern eher im Sinne von „verbreitet“ (bekannt gemacht) zu verstehen. Bemerkenswert ist aber, dass bereits zu diesem Zeitpunkt Zweifel an seiner Echtheit (pretended) geäußert werden.29 Zu fragen ist, wem die Urheberschaft der französischen Fassung des Briefes zugeschrieben werden kann. Einige Indizien deuten auf Friedrich Gentz30. Gentz war seit 1785 preußischer Beamter, der zunächst durch Graf Hoym gefördert wurde, indem er ihn großzügig von seinen Amtspflichten entlastete, so dass ihm Zeit für sein publizistisches Wirken blieb. In seinen Ideen von der Wiederherstellung der Grundordnung Europas, die durch Napoleon gestört wurde, geriet er allerdings seit dem Frieden von Basel immer stärker in Widerspruch zur preußischen Politik, die auf die Neutralität gegenüber Frankreich ausgerichtet war. Deshalb wechselte er im September 1802 in österreichische Dienste. In Wien war er ebenfalls als kaiserlichköniglicher Rat von den amtlichen Pflichten entbunden und konnte sich den zahlreichen Denkschriften widmen und als Agent antinapoleonischer Politik betätigen. Nach Austerlitz sah er sich dadurch verständlicherweise genötigt, Wien zu verlassen. Er flüchtete zunächst über Prag und Teplitz nach Dresden, von wo er schließlich nach Böhmen und erst 1809 nach Wien zurückkehrte. Durch seine antifranzösische Einstellung und seine publizistische hervorgehobene Stellung muss man Gentz in den Kreis derer einbeziehen, die als Verfasser des fiktiven Briefes in Betracht kommen. Der Stil des Briefes in französischer Sprache ähnelt dem, den Gentz am 6. April 1806 an Paget richtete. Seine guten Beziehungen 27 Zu ihm siehe weiter unten im Zusammenhang mit der Urheberschaft der französischen Fassung des Briefes. 28 The Paget Papers (Anm. 26). 29 Hereford Journal-Herefordshire, England. 30 Golo Mann, Friedrich von Gentz, Frankfurt a.M., 2010 (Nachdruck); Reinhard Müller, Friedrich Gentz, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ), Graz 2013; NDB 6 (1964), Friedrich Gentz, Publizist und Politiker (1764 – 1832), 190 – 193.

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zum englischen Botschafter, die dazu führten, dass er sich auch als finanziell bedachter Agent Englands betätigte, verschafften ihm aus englischen Quellen die Informationen, die nötig waren, um in die Rolle Villeneuves als Verfasser des Briefes zu schlüpfen. Die Angabe des Datums 26. April 1806 statt des 22. April für den Tod Villeneuves ist gerade ein Kennzeichen dafür, dass der Verfasser eines angeblichen Briefes an Bonaparte aus englischen Quellen geschöpft hat. In englischen Publikationen ist dieses Datum durchweg anzutreffen. In der französischen gedruckten Fassung des Briefes steht das völlig auszuschließende Datum 6. April, zu dem Villeneuve sich nachweislich noch in England befand. Hier hat der Verfasser entweder aus der Ziffer 26 die 2 irrtümlich unterschlagen, oder der Herausgeber hat das Datum des zuvor abgedruckten Briefes „Gentz an Paget“ übernommen. Der Brief eines französischen Admirals konnte, wenn er glaubhaft erscheinen sollte, nur in dessen Muttersprache abgefasst worden sein. Deshalb erreichte er lediglich die Bildungsschicht, die der französischen Sprache mächtig war. Man kann sich vorstellen, dass nach dem Friedensschluss zwischen Frankreich und Österreich am 26. Dezember 1805 im Jahre 1806 das Interesse am Inhalt erlahmte. Der Historiker von Srbik betrachtete Metternich nach längeren Friedensbemühungen als Haupturheber des Krieges von 1809.31 In seiner amtlichen Tätigkeit konnte Metternich beobachten, wie in Paris eine geschickte Pressepolitik eingesetzt wurde, um die Wirkung der Siege Napoleons zu steigern.32 Die Bedeutung der Propaganda war auch dem österreichischen Außenminister Graf Philipp Stadion nicht fremd, wobei er sich am spanischen Vorbild orientierte.33 In dieser Frage bestand Übereinstimmung von Metternich und Stadion. Immerhin hatte ersterer schon 1808 dem Außenminister mitgeteilt, welchen Stellenwert seiner Meinung nach die Propaganda besaß.34 So beauftragte der Außenminister Graf Philipp Stadion Friedrich Schlegel mit der Herausgabe einer Zeitung, deren erste Nummer am 24. Juni 1809 mit dem Titel „Österreichische Zeitung“ erschien, nachdem bereits ab April 1808 ein Presseorgan, die „Vaterländischen Blätter“ auf Befehl des Kaisers Tatsachen und Ideen in Umlauf bringen sollten.35 Diese Zeitung stand aber ebenso wie die bisher maßgebende „Wiener Zeitung“ nach der Besetzung Wiens durch die französischen Truppen nicht mehr zur Verfügung. Man kann sagen, dass mit dem Jahre 1809 gegenüber

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Heinrich Ritter von Srbik, Metternich, Bd. 1, 3. Aufl. 1957, 117. Für dessen antifranzösische Haltung spielten sicherlich auch persönliche Motive mit. Napoleon hatte den Botschafter mit Kälte behandelt und ließ ihn im Moniteur lächerlich machen (118). 32 Marianne Lunzer-Lindhausen, Friedrich Schlegel als Publizist der österreichischen Regierung im Kampf gegen Napoleon, in: Publizistik, Festschrift für Emil Dovifat, 1960; 203. 33 Reinhard Steiger, Völkerrecht und Wandel der internationalen Beziehungen, in: Das Jahr 1806, hrsg. von Andreas Klinger u. a., Köln/Weimar/Wien 2008, 49. 34 Helmut Hammer, Österreichs Propaganda zum Feldzug 1809, ein Beitrag zur Geschichte der politischen Propaganda, in: Zeitung und Leben XXIII, München 1935, 25. 35 Ebd., 35.

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der amtlichen Propaganda Napoleons die Wurzel der neuzeitlichen, amtlichen deutschen Propaganda gelegt wurde.36 In der Meinungsbildung über die Notwendigkeit einer erneuten Auseinandersetzung mit Frankreich im Jahre 1809, an der u. a. Metternich, der mehr und mehr zu seinem Berater sich entwickelnde Friedrich Gentz, aber auch der Außenminister Stadion und Erzherzog Johann wirkten, sollte diese Fehde mangels anderer Bundesgenossen mit der Erhebung breiterer Massen verbunden sein.37 Als Mittel für die Propaganda konnte ein in französischer Sprache abgefasster Brief des französischen Admirals, der nur eine beschränkte Bildungsschicht erreichte, wenig dienlich sein. Man kann annehmen, dass zum Zwecke der Stimmungsmache unter größeren Schichten der Bevölkerung in diesem Umfeld und zu diesem Zeitpunkt, d. h. im Jahre 1809, eine Übersetzung angefertigt wurde. Entstanden ist sie wahrscheinlich nicht in Wien, das immer wieder von französischen Truppen besetzt war, sondern in der Stadt Prag, in der Gentz nach seiner Flucht aus Wien häufig weilte. Ob er selbst oder jemand aus seinem Umfeld die deutsche Übersetzung anfertigte, bleibt im Dunklen. Die Herzogin von Sagan bemerkte, diese Stadt und die böhmischen Bäder, die keine französische Besatzung hatten, hätten sich zum Sammelbecken all derer entwickelt, die das napoleonische Frankreich aus tiefster Seele hassten und es zu vernichten wünschten.38 Das weitere Schicksal des ins Deutsche übersetzten Textes ist mit dem Namen Schlabrendorff39 verknüpft. Gustav Graf von Schlabrendorff (1750 – 1824) war der Sohn des für die Provinz Schlesien im Dienste Friedrichs II. stehenden bedeutenden Ministers Ernst Wilhelm von Schlabrendorff. Nach dem Studium der Rechte an den Hochschulen zu Frankfurt a. O. und Halle verzichtete Gustav von Schlabrendorff darauf, in den Staatsdienst zu treten. Im Jahre 1792 reiste er nach Paris. Nach dem Tode seines Vaters (1769) standen ihm aus den schlesischen Gütern reichliche Einkünfte zur Verfügung, die er als Menschenfreund hilfreich verwandte. Mehr und mehr entwickelte er sich zum Sonderling von großer Bedürfnislosigkeit. Er empfing jedoch zahlreiche Besucher, besonders aus Deutschland, mit denen er als Philanthrop ausgiebige Diskussionen über Philosophie und Staatsrecht führte. Der Revolution in Frankreich stand er zunächst mit Interesse gegenüber. Diese Einstellung schlug jedoch um, indem er nun Frankreich als eine durch die Tyrannei Napoleons „grundausverdorbene Nation“ betrachtete. Im Jahre 1804 erschien, wohlweislich anonym, ein 36

Ebd., 176. Dazu auch Reinhard Stauber, 1815 – Wiener Kongress: Revolutionskriege, Ende des Alten Reiches und Deutscher Bund, in: Von Lier nach Brüssel: Schlüsseljahre deutscher Geschichte (1496 – 1995), hrsg. v. Martin Scheutz/Arno Strohmeyer, Wien 2010, 167 – 188, hier 172/173. 38 Clemens Brühl, Die Sagan. Das Leben der Herzogin Wilhelmine von Sagan, Prinzessin von Kurland. [1941], 81. 39 Varnhagen von Ense, Graf Schlabrendoff, in: F. v. Raumers histor. Taschenbuch. Leipzig 1832. Colmar Grünhagen, Schlabrendorff, Gustav Graf von, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 31, Leipzig 1890, 320 – 323. 37

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Buch mit dem Titel „Napoleon Bonaparte und das französische Volk unter seinem Consulate. Germanien 1804“, an dem er zumindest als Hauptverfasser beteiligt war. Im Jahre 1814 hätte er eine solche Rücksicht nicht mehr zu nehmen brauchen. Napoleon befand sich zu dieser Zeit schon auf Elba. In dem Werk taucht sein Name als Verfasser nicht auf. Vielleicht spielten die früher vorhandenen Sorgen um seine Sicherheit noch immer eine Rolle. So erschien das Buch jedenfalls in Petersburg. Der Titel seiner Publikation lautete „Napoleon Bonaparte wie er leibt und lebt und das französische Volk unter ihm“.40 Obwohl in dem Buch ein Autor oder Herausgeber nicht genannt wird, kann die Verfasserschaft aus dem Inhalt eindeutig Schlabrendorff zugeschrieben werden. Im Vorwort (Vorrede) betont er selbstbewusst, der Verfasser des Werks sei „der erste „teutsche“ Schriftsteller gewesen, der gegen den glücklichen Usurpator auftrat, und das Gefährliche dieses eisernen, heuchlerischen, schlauen und ehrgeizigen Mannes aufzeigte“.41 Das Werk umfasst 35 Artikel, die sich kritisch über Napoleon äußern. Darunter erscheint unter Nr. 19 (S. 103) der Brief Villeneuves an Bonaparte in der deutschen Übersetzung. Korrigiert ist die falsche Angabe „Riemers“ mit richtig „Rennes“. Beibehalten wurde dagegen das falsche Todesdatum 26. April 1806. In der Einleitung bemerkt Schlabrendorff, dass der Brief erst vor kurzem bekannt geworden sei. Das wirft die Frage auf, wie der Brief an Schlabrendorff kam. In Betracht kommt sein Landsmann, der Schlesier Konrad Engelbert Oelsner42, der ihn häufig bei seinen wiederholten Aufenthalten in Paris aufsuchte, mit ihm diskutierte, ihn vor allem aber mit Nachrichten versorgte. Er könnte derjenige gewesen sein, der Schlabrendorff den Brief Villeneuves in der deutschen Übersetzung hat zukommen lassen. Merkwürdig ist, dass Schlabrendorffs Biographen Varnhagen v. Ense und Grünhagen das Werk von 1804 erwähnen43, nicht aber jenes von 1814. Auch Ilse Foerst, die den Nachlass Schlabrendorffs noch benutzen konnte, erwähnt diese Publikation nicht.44 Im Verzeichnis des Nachlasses Schlabrendorffs45 findet sich ebenfalls kein Hinweis auf die Übersetzung des Briefes Villeneuves und den Druck von 1814. Daran schließt sich die Überlegung an, ob es sich bei der handschriftlichen Vorlage für den Druck um ein Unikat handelte oder ob es von der Übersetzung mehrere Exemplare gab. Erstere Möglichkeit bietet sich als Lösung an, wenn man in Betracht 40 Napoleon wie er leibt und lebt und das französische Volk unter ihm. Zweiter Teil, Petersburg 1814 bei Peter Hammer dem Älteren. (Ein Exemplar befindet sich zumindest in der Bayerischen Staatsbibliothek). 41 Vorwort S. 9, gezeichnet mit dem Datum 4. Mai 1814. 42 Edgar Richter, Konrad Engelbert Oelsner und die Französische Revolution. Phil. Diss. Jena 1911, 18. 43 Wie Anm. 37. 44 Ilse Foerst, Der Diogenes von Paris. Graf Gustav von Schlabrendorf, 2. Teil: Der historische Schlabrendorf, München 1948. 45 F. v. Raumer, Historisches Taschenbuch, Leipzig 1832.

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zieht, dass der deutsche Text eine genaue Übersetzung der französischen Vorlage bietet. Bei mehreren Abschriften hätten sich wahrscheinlich Fehler eingeschlichen. Ein Teil des Nachlasses von Schlabrendorff – vor allem seine Bücher – wurde nach seinem Tode versteigert.46 Dann könnte der Brief aus dem Pariser Antiquitätenhandel von Tichy´ erworben worden und so zurück nach Prag gelangt sein.47 Der schriftliche Nachlass Schlabrendorffs wurde seit 1924 im Staatsarchiv Breslau verwahrt und ist seit 1945 verschollen.48

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Ebd., 267 f. Den ersten Hinweis auf Prag als Hochburg der österreichischen Propaganda erhielten wir im Oktober 2013 von Jürgen Kloosterhuis, dem dieser kleine Beitrag gewidmet ist. 48 Ilse Foerst, Der Diogenes von Paris. Graf Gustav von Schlabrendorf, München 1948, Nachwort, 159. 47

Edgar Stern-Rubarths Kritik an der deutschen Propaganda im Ersten Weltkrieg Von Kurt Düwell, Düsseldorf Im Jahr 1921 veröffentlichte der Publizist Edgar Stern-Rubarth (1883 – 1972) sein viel beachtetes Buch „Die Propaganda als politisches Instrument“. Diese Arbeit erlebte schon im selben Jahr eine zweite Auflage1 und machte ihn als Mann der Öffentlichkeitsarbeit und als Analytiker der öffentlichen Meinung bekannt. Das Interesse des Publikums war sehr groß. Stern-Rubarth, der Sohn eines Industriellen und in Frankfurt am Main geboren, war seit 1905 publizistisch tätig und später Leiter des „Wolffschen Telegraphenbureaus“. Er hatte das Buch geschrieben, nachdem er die ersten beiden Kriegsjahre schon im Dienst des Auswärtigen Amts und des Preußischen Generalstabs im Irak und in Persien verbracht, dann 1916 bis 1918 an der Westfront, seit Mitte 1918 in Palästina und Rumänien gestanden hatte und schließlich nach Ende des Kriegs in Berlin zunächst als Chefredakteur des Ullstein-Verlags tätig war. Sein Interesse an Fragen der öffentlichen Meinung hat Stern-Rubarth zeitlebens dazu geführt, sich immer wieder mit dem Propagandabegriff und dessen angelsächsischer Variante, die aus der kommerzialisierten westlichen Werbewelt stammte, und mit deren politischen Fortentwicklungen bzw. auch den sowjetischen Ausprägungen von Agitation und Propaganda kritisch auseinanderzusetzen. Im Vorwort seines Buches von 1921 grenzte sich der Autor von anderen Bearbeitungen und Verfassern des damals aktuell gewordenen Themas Propaganda ab und schrieb: „Während die meisten von ihnen aber auf eine Apologie herauskommen, die Deutschland, eine Partei, einen Stand oder irgendetwas Anderes entlasten soll, wird hier die Absicht verfolgt, in Form einer Zusammenstellung von Erfahrungstatsachen aus der Kriegs- und Vorkriegszeit Lehren zu ziehen, denen sich Deutschland nicht länger verschließen darf, wenn es ernstlich seinen Anspruch auf Weltgeltung aufrechterhalten und in absehbarer Zeit durchsetzen will.“2 Denn das Reich, so argumentierte der Autor, sei im Krieg weniger der Waffengewalt der Alliierten unterlegen gewesen als vielmehr der Stärke ihrer Propaganda, da, wie er meinte, in Deutschland die Bedeutung dieser geistigen Waffe überhaupt nicht hinreichend erkannt worden sei. Das war eine in Deutschland nach dem Krieg neue und weit verbreitete Meinung, 1 Edgar Stern-Rubarth, Die Propaganda als politisches Instrument, Berlin 1921; 2. Aufl. Berlin SW 48 (Trowitzsch & Sohn) 1921. 2 E. Stern-Rubarth, Die Propaganda (Anm. 1), 3 (Sperrung im Original).

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der sich u. a. auch der junge Hitler und Goebbels anschlossen. Stern-Rubarth konnte für seine Auffassung, die sich freilich sehr von der der Nationalsozialisten unterschied, auch an der 1920 gegründeten Berliner Hochschule für Politik wirken. Welches waren aber die von ihm erwähnten „Erfahrungstatsachen“, auf die sich Stern-Rubarth dabei glaubte stützen zu können? Der Autor kannte, da er vor dem Krieg einen Teil seines Studiums der Geschichte, der Volkswirtschaftslehre und der Romanischen Philologie u. a. auch an französischen Universitäten verbracht hatte, die politischen und gesellschaftlichen Fragen der französischen Dritten Republik und war auch mit den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Problemen des deutschen Kaiserreichs vertraut. Noch vor dem Krieg war er zum Dr. phil. promoviert worden. Und gleich zu Beginn des Kriegs wurde er im Oktober 1914 als Adjutant im Großen Generalstab und, wie erwähnt, als Mitglied einer geheimen deutsch-türkischen Expedition nach Mesopotamien und Persien gesandt. Die in den dort verbrachten zwei Jahren gesammelten Beobachtungen im Osmanischen Reich haben seine Politik- und Weltkenntnis sehr stark beeinflusst. Die „Erfahrungstatsachen“ und Einsichten, die Stern-Rubarth auf dieser ungewöhnlichen Expedition, und später auch an der Westfront, sammeln konnte, ohne allerdings damals schon über sie zu berichten, sollen im Folgenden erstmals im Hinblick auf seine späteren Auffassungen über politische Propaganda untersucht werden. Es waren vor allem zwei „Erfahrungstatsachen“, die Stern-Rubarth in den vier Kriegsjahren als Erscheinungen von Propaganda „entdeckt“ hatte und die ihn besonders umtrieben: 1. die Bedeutung von Subsidien, die die Krieg führenden Großmächte einsetzten, und 2. das Gewicht der Massenpropaganda, das besonders in der Schlussphase des Großen Kriegs 1918 immer mehr an Bedeutung gewann. Die Beobachtungen zum ersten Punkt waren ein Ergebnis der orientalischen Erfahrungen Stern-Rubarths. Die letzteren Auffassungen, Feststellungen eines professionellen Publizisten und Pressechefs, wurden vor allem durch seine Eindrücke an der Westfront bestimmt, wo er – wie erwähnt – zwischendurch 1916 bis 1918 stationiert war, ehe er Mitte 1918 nochmals zu einer Mission nach Palästina und Rumänien entsandt wurde3. Einzelheiten der geheimen Mission von 1914/15 waren – anders als z. B. die Kriegsexpedition des Hauptmanns Niedermayer nach Persien und Afghanistan – bis in die 1930er-Jahre kaum bekannt. Genaueres wissen wir erst seit etwa zwei Jahren durch die Untersuchungen und Quellen, die Veit Veltzke aus Papieren der Familie über dieses Kommando des deutschen Hauptmanns Fritz Klein, dem Stern-Rubarth als Adjutant und Stellvertreter attachiert wurde, und über die Aktionen im Irak und in Persien einem größeren Kreis vorlegen konnte. Dadurch wurden auch erst die teilweise beträchtlichen, wenn letztlich auch vergeblichen militärischen Erfolge deut-

3 Nach Stern-Rubarths biographischer Aufstellung im Bundesarchiv Koblenz, Bestand N 1541/32 (vgl. u., Anm. 4).

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lich, die dieses Geheimkommando gegen die Briten immerhin zeitweise erreichen konnte4. Was bedeuteten aber für Stern-Rubarth Subsidien und Propaganda? Was zunächst die Kulturpropaganda betrifft, so hat Jürgen Kloosterhuis darauf hingewiesen, dass die im Februar 1914 gegründete Deutsch-Türkische Vereinigung Ernst Jäckhs die von allen rund 180 deutsch-ausländischen Vereinen größte Agentur war. Sie konnte in den ersten beiden Kriegsjahren ihre regen kulturpolitischen Aktivitäten noch fortsetzen5. Man muss sich aber vergegenwärtigen, dass ihre finanziellen Mittel schon 1915/16, wie die Fonds des Auswärtigen Amts auch, im Orient knapper wurden und einen Einbruch erlitten. Die infolgedessen in Absprache mit dem Auswärtigen Amt reduzierte Aktionsfläche Deutschlands im Nahen und Mittleren Osten konzentrierte sich danach nur noch auf ein Gebiet zwischen Adana in der Südtürkei und nach Osten bis Aleppo und Mossul6. Schon 1915 standen auch der Expedition Klein für Geld- und Waffenunterstützung an die arabischen Stämme des Südens kaum noch Mittel zur Verfügung, was allerdings damals den Teilnehmern der Expedition selbst noch nicht voll bewusst war. Stern-Rubarths Kritik an der deutschen Propaganda und am Botschafter in Konstantinopel beruhte daher z. T. auf einer Unkenntnis dieser Sachlage, die durch die strategisch vorrangige Westfront bedingt war. Kleins Aktivitäten konzentrierten sich daher nun auf kühne Vortrupp-Unternehmungen, die so schnell erfolgen mussten, dass dafür die Genehmigung aus Konstantinopel und von der dortigen Deutschen Botschaft nicht immer abgewartet werden konnte. Die Aktionen waren daher mehr als einmal recht karg ausgestattet und abenteuerlich, um nicht zu sagen fast tollkühn. Man hat daher über Klein nicht zu Unrecht als von einem „deutschen T. E. Lawrence“ gesprochen7. Doch bestand ein wesentlicher Unterschied darin, dass die britische Seite machtvoller ausgestattet war. Stern-Rubarth war der Stellvertreter Kleins bei diesen Unternehmungen, und er war es anscheinend auch, der in dem bis dahin unveröffentlichten Manuskript, das Veltzke vor einigen Jahren heranziehen konnte,

4 Veit Veltzke, Unter Wüstensöhnen. Die deutsche Expedition Klein im Ersten Weltkrieg, Berlin 2014; ders., „Heiliger Krieg“ – „Scheinheiliger Krieg“. Hauptmann Fritz Klein und seine Expedition in den Irak und nach Persien 1914 – 1916, in: Wilfried Loth/Marc Hanisch (Hrsg.), Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients, München 2014, 119 – 143. Für das Folgende sei angemerkt, dass zwei Texte mit ähnlichem Titel zu unterscheiden sind: 1) Veit Veltzke (Hrsg.), Playing Lawrence on the other side. Die Expedition Klein und das deutsch-osmanische Bündnis im Ersten Weltkrieg, Berlin 2014, und 2) der englische Originaltext Edgar Stern-Rubarths in Bestand N 1541/32 des Bundesarchivs: Ms. „A Dying Empire Or The Last Days Of The Sultans Or Playing Lawrence On The Other Side“, hier zitiert: Playing Lawrence (Bundesarchiv N 1541/32). 5 Jürgen Kloosterhuis, „Friedliche Imperialisten“. Deutsche Auslandsvereine und auswärtige Kulturpolitik, 1906 – 1918, Teil 2, Frankfurt/Berlin 1981, 595 – 657. Zu den „Friedensinitiativen“ von Ernst Jäckh insbesondere ebd., 618 ff. 6 Ebd., 599. 7 V. Veltzke, Playing Lawrence (Anm. 4).

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als Erster die Formel „Playing Lawrence“ gefunden haben dürfte8. Schon in diesem undatierten und unveröffentlichten Dokument, das die Jahre 1915/16 beschrieb, aber evtl. erst von 1936 stammen dürfte, war eine erstaunlich positive Beurteilung der militärischen Gesamtlage Deutschlands erkennbar, die Stern-Rubarth auch nach dem Krieg 1920 noch aufrecht erhalten hat, um stattdessen eben die Defizite der deutschen Propaganda als eigentliche Ursache der deutschen Niederlage zu betonen. Im Hinblick auf die „effektivere“ britische Propaganda für „Lawrence of Arabia“ und die demgegenüber in der Öffentlichkeit von deutscher Seite auch später kaum mehr erwähnte Tätigkeit des Hauptmanns Klein und seiner Leute war Stern-Rubarth mit seiner These von der Superiorität der britischen Propaganda, wenigstens in Bezug auf diese Orient-Expedition, sehr wahrscheinlich im Recht. Aber galt das auch für die Aktionen an der Westfront? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, müssen die von Stern-Rubarth beobachteten „Erfahrungstatsachen“ aus der Vorkriegs- und Kriegszeit genauer berücksichtigt werden. Das wird hier an Hand seiner schon erwähnten Aufzeichnungen über die mesopotamischen und persischen Aktionen der Expedition von 1914/16 versucht. Dabei ist nicht sicher zu entscheiden, ob Stern-Rubarth diesen Text schon vor seiner erzwungenen Emigration nach England Anfang 1936 oder bald nach seiner Auswanderung vielleicht auch in der Erwartung konzipiert hat, dass sich ein britisches Publikum dafür interessieren könnte. Seine Emigration war mit einem legalen Vermögenstransfer verbunden, den Hjalmar Schacht ermöglicht hat. Schon 1933 hatte Stern-Rubarth auf nationalsozialistischen Druck seine Kündigung bei Wolffs Telegraphischem Bureau erhalten. Zwar konnte er dann noch einige Jahre in England als Korrespondent für einige deutsche Zeitungen und für die Amalgamated Press Lord Beaverbrooks berichten9, aber seine Internierung im Lager der „Enemy Aliens“ auf der Insel Man brachte ihn wohl schon bald um wichtige Wirkungsmöglichkeiten, so dass auch der Gedanke aufgetaucht ist, sein englischer Text „Playing Lawrence on the Other Side“10 (Bundesarchiv) habe vielleicht überhaupt erst in dieser Phase entstehen können. Doch war die Möglichkeit einer Publikation dieses Texts in England dann im Krieg natürlich nicht mehr gegeben. Es soll im Folgenden zunächst auf dieses Dokument, dem schon 1916 zwei kurze Publikationen Stern-Rubarths über die allgemeinen Verhältnisse im Mittleren Osten

8 Playing Lawrence (Bundesarchiv N 1541/32). Dieser englische Text, vermutlich aus den späten 1930er Jahren, ist also wesentlich früher entstanden als die von Stern-Rubarth fast dreißig Jahre später veröffentlichte, auf Deutsch verfasste Expeditionsschilderung, in: Edgar Stern-Rubarth, … Aus zuverlässiger Quelle verlautet … Ein Leben für Presse und Politik, Stuttgart 1964, 47 – 100. 9 Werner Röder (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, München/New York 1980, 733 f. 10 S. Anm. 4.

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vorauf lagen, eingegangen werden11. Hier kurz die Grundzüge dieser Mission: Bei der Expedition von 1914 handelte es sich um eine deutsch-türkische Unternehmung, bei der die deutschen Teilnehmer ihre feldgrauen gegen osmanische Khaki-Uniformen und Tropenhelme oder Pelzmützen eintauschten. Die geheime Mission bestand u. a. darin, Ölleitungen der Anglo-Persian Oil Company und andere strategisch wichtige Punkte zu besetzen oder zu zerstören, und zwar so, dass es aussah, als habe es die türkische Armee getan. Eine solche Vorgehensweise war mit dem inneren Kreis der entscheidenden politisch und militärisch Verantwortlichen abgestimmt: Marschall Otto Liman von Sanders, der Chef der deutsch-türkischen Militärmission in Konstantinopel, der 1915 gerade die erfolgreiche deutsch-türkische Verteidigung der Dardanellen leitete, gehörte zu diesem inneren Zirkel ebenso wie der türkische Kriegsminister Enver Pascha, der deutsche Botschafter Freiherr von Wangenheim und sein Militärattaché Major von Laffert, ebenso der für die persischen Provinzen zuständige Minister Mahmud Khan Kadjar und der osmanische Befehlshaber der irakischen Armee, Suleiman Askari Bey. Sie alle waren über die von Major Klein und seinen Leuten geplanten geheimen Aktionen wenigstens in den Hauptlinien informiert. Das galt auch für die geheimen Expeditionen Niedermayers und Otto von Hentigs nach Afghanistan – alles sehr schwierige und der Geheimhaltung unterworfene Unternehmungen. „Es mussten“, wie Stern-Rubarth vorausdeutend schrieb, „diplomatische Vorbereitungen zur Lösung der überaus heiklen Aufgabe getroffen werden, dass christliche Offiziere auf dem heiligen Boden von Mohammedanern und insbesondere von Schiiten agieren sollten. Und schon hier trafen wir auf orientalische Intrigen, wie sie sich aus persönlichen Rivalitäten oder auch aus der Furcht der türkischen Herrscher ergaben, den deutschen Einfluss nicht zu groß werden zu lassen.“12 Die Mitglieder der Expedition waren handverlesen und stellten eine verschworene Gemeinschaft dar. Rassistische oder religiöse Voreingenommenheiten gab es in dieser durch und durch patriotischen Elitetruppe nicht. Die Männer pflegten ihren Zusammenhalt noch bis in die 1930er-Jahre. Unter ihnen befanden sich Spezialisten für die unterschiedlichsten Aufgaben. Der Chef Major Fritz Klein selbst war, wie Veit Veltzke beschrieben hat, ein weltläufiger Kenner vieler Staaten und Heere und kannte sich ganz besonders in Persien und Mesopotamien aus. Es handelte sich insgesamt um eine bestens eingeübte „Individualistentruppe“, die sich auf der Anreise nach Konstantinopel durch das misstrauische Rumänien mit Erfolg als angeblicher „Wanderzirkus“ durchgeschlagen und Bulgarien erreicht hatte. Unter den insgesamt 18 bis 20 Teilnehmern befand sich auch Dr. med. Eddy Schacht, der Bruder des späteren Direktors der Reichsbank Hjalmar Schacht, ein Arzt, der viele Jahre in Ägypten praktiziert hatte und der noch 1936 seinem jüdischen Kameraden Stern-Rubarth über seinen einflussreichen Bruder dazu verhelfen konnte, dass dieser nicht nur nach Eng11

Damals noch unter dem Namen Edgar Stern: „Ein Arabisches Gastmahl“, in: Vossische Zeitung vom 21. Januar 1916, und „Die Erneuerung der Türkei“, in: Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung, Frankfurt am Main, vom 15. September 1916, 1215 – 1220. 12 Übersetzung aus dem Englischen aus Playing Lawrence (Bundesarchiv N 1541/32), 11.

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land emigrieren, sondern auch sein ererbtes Vermögen mit nach Britannien nehmen konnte. Es gab in dieser Expedition auch einige Reserveoffiziere, die Jahre zuvor noch als Archäologen in Assur, Babylon und an anderen Plätzen geforscht hatten, auch in Afrika tätig gewesen waren oder sich mit den Wüstenbewohnern Irans und Iraks bestens auskannten, dazu Philologen, Historiker und Geographen, auch Seeleute, die astronomische und geodätische Kenntnisse besaßen13. Alle diese geballten Kräfte und Fähigkeiten sollten in den Dienst großer Aufgaben gestellt werden. Dabei war eines der strategischen Hauptziele, der britischen Flotte, die damals gerade in Umstellung von Kohle- auf Ölfeuerung stand, die Ölquellen am Persischen Golf abzuschneiden oder sie doch möglichst zu beschädigen. Von den Raffinerien und Pipelines der Anglo-Persian Oil Company bei Abadan lagen damals die größten Anlagen bei den Ölfeldern von Chusistan. Sie waren durch Pipelines in einer Länge von ca. 235 km mit den Ölquellen von Dezful-Shuster am Upper Karoon verbunden. Die britische Admiralität konnte in Kriegszeiten, wie jetzt, neuerdings ihre Schiffe direkt in Abadan am Persischen Golf auftanken, wo seit 1909 eine der größten Raffinerien der Welt errichtet worden war. Stern-Rubarth schrieb in seinem englischen Originaltext über die neuen deutsch-türkischen Optionen in diesem Gebiet: „Cutting off this production meant a stroke right into the heart of the British maritime warfare; and the occupation of the wells by German-Turkish troops would have created a precious pawn in forthcoming peace negotiations.“14 Tatsächlich gelang das 1915 zeitweise, wobei unter anderem z. B. mindestens 350 Tonnen Öl und Pipelines vernichtet wurden15. Der Versuch, Basra zu besetzen, schlug allerdings fehl, weil die Briten dort über stärkere Kräfte verfügten, die jedoch nun durch die deutsch-türkischen Interventionen strategisch gebunden blieben. Ein dauerhafter strategischer Erfolg konnte daher, wie Stern-Rubarth berichtet, nur gelingen, wenn auch die arabischen Stämme des Südens für das deutsch-türkische Bündnis zu gewinnen waren. Versuche, dies zu erreichen, wurden in mehreren Schritten gemacht. Es kam zu Gesprächen mit den sunnitischen Clans des Südens, die auch selbst den Kontakt suchten. Aber der entscheidende Kontakt mit dem eigens angereisten Neffen des Emirs von Mekka, Sharif Ibn Ali Hussein, führte nicht zum Ziel. Stern-Rubarth schrieb dazu – und hier setzte schon seine Kritik an der deutschen Propaganda ein –, dass der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Paul Graf Wolff Metternich zur Gracht, diese diplomatischen Bemühungen um Subsidien für die südarabischen Stämme nicht hinreichend unterstützt habe. Hierin bestand nach SternRubarths Meinung ein schweres Versagen der deutschen Propaganda. Für ihn 13

Ebd., 14 f. Ebd., 16. V. Veltzke, Playing Lawrence (Anm. 4), 189, beziffert den Wert der durch die Expedition verursachten Schäden der Ölgesellschaft nach einer späteren Berechnung der Deutschen Bank auf 12 Mio. Reichsmark ohne die Kosten der strategischen Bindung britischer Truppen. 15 Playing Lawrence (Bundesarchiv N 1541/32), 114 f. 14

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waren Subsidien und Propaganda zwei Seiten einer Medaille, zwar wohl zu unterscheiden, aber nicht ganz zu trennen. Subsidien bedeuteten für Stern-Rubarth zwar in erster Linie Geld und Waffen, aber er rechnete dazu außerdem auch „the expenses of a future propaganda activity of the Shiit clergy“, die Kosten der geheimen Reisen nach Teheran und anderen Orten und die Verteilung der ,fethva‘ – d. h. Mittel für ,Gutachten‘ der Muftis16. Dabei kalkulierte er auch ein, „dass die britische Propaganda, die schon lange vor dem Krieg begonnen hatte und nun auch noch durch den Nachrichtenhandel, durch Flugblätter, ,Handsalben‘, Waffenlieferungen und alle möglichen anderen Mittel intensiviert und gestärkt worden war, weiter zunahm, um die Araber der Sache der Mittelmächte abspenstig zu machen“.17 Die Sache entschied sich im Süden, wo die Briten immer größere Mittel einsetzen konnten. Stern-Rubarth schrieb: „Hätten wir dem Neffen Husseins bieten können, was er verlangte, so wäre in der Geschichte eine ganz andere Seite aufgeschlagen worden als die, die dann ein Jahr später der ingeniöse Geist von T. E. Lawrence zu schreiben begann, als ihm die mächtige Unterstützung der britischen Flotte und britisches Geld zur Verfügung gestellt worden waren.“18 Das führte im Juni 1915 zum Aufstand der Araber gegen die türkische Herrschaft. Lawrence konnte dann, nachdem er schon gegen Ende des Jahres 1914 nach Ägypten entsandt worden und in den britischen Geheimdienst eingetreten war, im Oktober 1916 in Dschidda in Gesprächen mit Abdullah, dem zweiten Sohn Husseins, und mit Faisal, dem dritten Sohn, der die arabischen Streitkräfte bei Medina befehligte, eine enge Zusammenarbeit vereinbaren. Er trat als Verbindungsoffizier in die Streitkräfte Faisals ein und mit Hilfe des britischen Geldes und durch Etablierung einer Guerilla-Taktik, die er mit Faisal zusammen entwickelte, fügte er der von den Deutschen erbauten Hedschasbahn – und damit dem türkischen Nachschub nach Medina – schweren Schaden zu. Er eroberte zunächst Akaba und schließlich am 1. Oktober 1918 Damaskus, noch ehe dort auch die britische Armee des Generals Allenby eintraf. Inzwischen war auch schon seit Mitte Mai 1916 durch das britisch-französische SykesPicot-Abkommen eine Verständigung der Westmächte über die Einflusszonen im östlichen Mittelmeerraum erfolgt. Stern-Rubarth maß wegen dieser Erfolge der britischen Propaganda, der es im Nahen Osten gelungen war, die Wüstenstämme (besonders den Stamm der Howaitat) auf ihre Seite zu ziehen, eine große Überlegenheit über die deutsche Propagandaarbeit zu. Die deutsche Seite habe im Jahr 1915 im entscheidenden Augenblick nicht erkannt, so Stern-Rubarth, dass es darauf angekommen sei, die Bedeutung deutscher Subsidien für den Nahen Osten zu erkennen und die südlichen arabischen Stämme 16

Ebd., 50. Ebd., 69. 18 Stern-Rubarth wies im Kapitel XVI dieses Berichts darauf hin, dass die deutsche Geldverweigerung ein „Paving the way for Lawrence“ bedeutet habe. Schon zuvor waren der deutsch-türkischen Expedition keine zusätzlichen Mittel zur Verfügung gestellt worden, wie sie Ibn Reshid, ein Gegner Ibn Sauds, für den Kampf auf türkisch-deutscher Seite verlangt hatte, nämlich Subsidien und Waffen. 17

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mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Unterstützung der deutsch-türkischen Seite zu bewegen, statt sich, ohne die Lage zu überblicken, deren Wünschen nach Geld und Waffen zu verweigern. Aber hätten die Mittel gereicht? Nach einer Schätzung von Ronald Storrs, des britischen Nahost-Beauftragten in Kairo, wandte London insgesamt ca. 220 Mio. Goldmark zur Unterstützung der arabischen Revolte gegen die Türkei auf – einen Betrag, der für die Türkei und Deutschland zusammen sicher an der Obergrenze des Möglichen gelegen hätte, aber wahrscheinlich, wie Stern-Rubarth rechnete, eine Investition in die Gewinnung eines starken arabischen Partners gewesen wäre19. Die Mission des Hauptmanns Klein führte 1915/16 noch zeitweise zu mehreren Erfolgen, die in dem erwähnten Papier Stern-Rubarths im Bundesarchiv20 nebst den kulturellen Begegnungen mit den arabischen Stammesgruppen beschrieben werden. Daneben sind es vor allem die kulturgeschichtlich, ethnologisch und kulturgeographisch interessanten Passagen, Bilder aus den märchenhaften Städten des Nahen Ostens, ihrer Basare und orientalischen Feste, die hier nur als Stichworte erwähnt werden können. In seiner späteren Analyse der politischen Propaganda von 1921 waren alle diese persönlichen Erfahrungen und daraus gewonnene Auswertungen Stern-Rubarths verarbeitet. Die deutsche Seite sei, so heißt es da, vor allem „im Kampf des Wortes und der Gedanken unterlegen“ gewesen21. Die moderne Propagandawaffe, hieß es dann mit Blick auf die damalige aktuelle Nachkriegsgegenwart, „ist uns im Gegensatz zur militärischen nicht aus der Hand genommen“. Es fehle ihr aber „auch heute noch vollständig die einheitliche Führung“.22 „Wir führen keinen strategisch geleiteten Krieg, sondern einen Bandenkrieg um die öffentliche Meinung!“23 Das Wort „Bandenkrieg“ entsprang hier einer Reminiszenz an die zwangsläufig unzureichende Taktik, die 1915/16 für den engen Handlungsraum des Hauptmanns Klein in Mesopotamien und Persien kennzeichnend gewesen ist. Noch kritischer war das Wort „Bandenkrieg“ schon damals gemeint, wenn Stern-Rubarth in seinem frühen Bericht auch für die deutsch-türkischen Vortrupp-Unternehmungen selbst von einem solchen Krieg oder sogar in selbstkritischer Weise von einem Abenteuerzug von „Komitadschis“ sprach, womit eigentlich aus der Sicht der deutsch-türkischen Kämpfer die oft etwas wilden mazedonischen Gruppen gemeint waren, die ohne Konzept und erst recht ohne Strategie losstürmten und mit denen Kleins diszipliniertere Leute irgendwie zu kooperieren hatten24. Das war nerven- und kräftezehrend. 19

Vgl. V. Veltzke, Playing Lawrence (Anm. 4), 189 und 202. Wie Anm. 4. 21 E. Stern-Rubarth, Die Propaganda (Anm. 1), 3. 22 Ebd. 23 Ebd., 4 (Sperrung im Original). 24 Playing Lawrence (Bundesarchiv N 1541/32), 1 und 13 f.. Der Autor kam später noch mehrfach auf die abenteuerlich klingende Bezeichnung „Komitadschis“ zurück, z. B. E. SternRubarth, … Aus zuverlässiger Quelle verlautet (Anm. 8), 61 f. (die spätere deutsche Fassung). 20

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Stern-Rubarths Forderungen an eine politische Propaganda waren demgegenüber nun aus den historischen Erfahrungen im Osten wie im Westen folgende: 1. strengste Vereinheitlichung unter straffer Oberleitung, 2. vollständige Unabhängigkeit einer zentralen Reichspropagandastelle, 3. „Einsicht in die Notwendigkeit, in großzügiger Weise Mittel für eine Kriegführung aufzubringen, die gegenüber den Waffen der Vergangenheit immer nur einen Bruchteil kosten wird, dem Gedanken der Versöhnung letzten Endes selbst durch ihre Kampfmethode dient und sich auch in friedlicher Arbeit schließlich hundertfach verzinst.“25 Diese Richtung seiner Argumentation und die daraus gefolgerten Petita waren vor allem aus dem Studium der britischen Propaganda gewonnen. In seinem Propagandabuch von 1921 wies er daher vor allem auf die britische Arbeit im Weltkrieg hin, die von deutscher Seite noch viel genauer studiert werden müsse. Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Stern-Rubarth hat seine ersten Kriegserfahrungen 1914 bis 1916 im Nahen und Mittleren Osten gemacht und seine Beobachtungen, erweitert dann durch die Kriegspropaganda an der Westfront, zu einer systematischen Analyse ausgebaut. Waren ihm zunächst im Orient die strategischpropagandistische Bedeutung von Subsidien an die arabischen Stämme und die Begrenztheit der deutschen Mittel deutlich geworden, so kam im Jahre 1916 und in den folgenden Kriegsjahren die Erkenntnis hinzu, dass die Organisation und der Erfolg der Kriegspropaganda letztlich am konsequenten Willen einer entscheidenden und organisatorisch überragenden Führungspersönlichkeit hingen. In beidem hatte England nach „men and measures“ ein System entwickelt, dessen Studium für deutsche Analytiker klare Einsichten versprach. Vor allem war es neben Lord Beaverbrook mehr und mehr die Figur Alfred-Charles William Harmsworth-Northcliffes (1865 – 1922), der dabei, wie Stern-Rubarth hervorhob, „eine geradezu napoleonische Bedeutung“ zukam26. Mehr noch als beim Aufstieg des „ingeniösen“ D. H. Lawrence, den Stern-Rubarth im Orient nur noch in dessen Anfängen wahrnehmen konnte, war es „der einzige“ Lord Northcliffe, der, wie Stern-Rubarth schrieb, die Begründung und Entwicklung der kriegsentscheidenden britischen Propaganda in konsequenten Schritten bis 1918 zum durchschlagenden Erfolg führte. Aber das war nach Auffassung Stern-Rubarths nicht nur eine Folge der größeren materiellen Überlegenheit der Briten, sondern eine überragende geistige und Willensleistung eines einzigen mächtigen Mannes, der diesen Weg innerhalb weniger Jahre in folgerichtigen Etappen gegangen war. Er war bei diesen Schritten auch „nicht zimperlich“ vorgegangen, wie Stern-Rubarth kritisch feststellte. Von Northcliffes Mitarbeitern fühlte sich wohl mancher, wie z. B. der berühmte Schriftsteller H. G. Wells, von der Wahl der von Northcliffe ergriffenen Propagandamethoden eher abgestoßen und zog sich von der Mitarbeit zurück27. Auch Stern-Rubarth selbst machte große Vorbehalte gegen Northcliffes Methoden geltend, wie z. B. bei der Fälschung deut25

E. Stern-Rubarth, Die Propaganda (Anm. 1), 4 (Sperrung im Original). Ebd., 72 (Sperrung von K. D.). 27 Ebd., 61 f.

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scher Frontzeitungen, wie „Heer und Heimat“, die Northcliffe „in schamloser Weise“, einschließlich des Bildes des deutschen Kaisers im Titel, nachahmen, mit britischen Propagandanachrichten füllen und über den deutschen Schützengräben im Westen aus Ballons abwerfen ließ28. Das alles lehnte Stern-Rubarth energisch ab. Aber andererseits hielt er auch die Zeiten für endgültig vergangen, in denen Bismarck noch sagen konnte: „Man schießt nicht mit öffentlicher Meinung auf den Feind, sondern mit Pulver und Blei.“29 Für Stern-Rubarth war Propaganda ein Begriff, der im Krieg gleichsam unsauber geworden war. Er musste sozusagen erst wieder zu einem „ehrlichen“ Werbemedium der Politik gereinigt und neu aufbereitet werden. Stern-Rubarth analysierte daher rückblickend recht genau die Entstehung der neuen britischen Propagandazentrale Crewe House, in der Northcliffe im Februar 1918, wenn auch nominell unter der Leitung Lord Beaverbrooks, das Heft in die Hand bekam. Voraufgegangen scheint schon 1915 die Bildung einer kleinen Propagandaabteilung im Londoner Wellington House unter der Leitung von E. E. G. Masterman zu sein. Eine weitere Informationsabteilung der Regierung im Foreign Office unter der Leitung von John Buchan schloss sich an, bevor dann im Februar 1918 mit der Gründung des Informationsministeriums unter Lord Beaverbrook die zentrale Institution geschaffen wurde, in der der „eiserne“ Lord Northcliffe – direkt dem Premierminister unterstellt – zur entscheidenden Figur wurde30. Mit der Gründung des „National War Aims Committee“ sorgte Northcliffe auch dafür, dass die britischen Kriegsziele bis in die kleinsten Dörfer auf dem Lande bekannt gemacht wurden und so in dieser Frage eine große nationale Geschlossenheit entstand. So etwas fehlte auf deutscher Seite völlig. Gegenüber den Feindstaaten schuf Northcliffe, wie Stern-Rubarth genau registrierte, zusammen mit seinem Mitarbeiter Robert W. Seton-Watson, außerdem auch ein spezielles Propaganda-Institut, das für Deutschland, für Österreich-Ungarn und für Bulgarien jeweils auf diese Mittelmächte psychologisch geschickt zugeschnittene Behandlungsprogramme entwickelte und Propaganda-Flugschriften nicht nur über den jeweiligen Frontabschnitten absetzte, sondern auch über geheime Kanäle, die nie ganz aufgedeckt werden konnten, dieses Material ebenso im Hinterland verbreitete. Auf diese Weise wurde unter Northcliffes konsequenter Leitung die Propaganda sogar zu einem Instrument, mit dessen Hilfe noch vor Kriegsende 1918 z. B. zwischen Italien und den Südslawen eine vertragliche Friedens- und Grenzregelung gegenüber Österreich-Ungarn ermöglicht wurde. Das beschleunigte den Zusammenbruch Österreich-Ungarns ganz wesentlich31. Selbst Ludendorff äußerte sich über diese britische Leistung anerkennend und meinte, wie Stern-Rubarth berichtet, die Propagan-

28 Ebd. Eine ähnlich scharfe Kritik fand die Verwendung der berüchtigten Raemaekerschen anti-deutschen Karikaturen. Ebd., 79. 29 Ebd., 63. 30 Ebd., 63. 31 Ebd., 59.

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da müsse der „Schrittmacher“ der Politik sein32. Eine solche Erkenntnis kam aber für Deutschland zu spät. An dieser Stelle warf Stern-Rubarth abschließend die Frage auf, warum nicht auch Deutschland rechtzeitig und mit ähnlicher Konsequenz wie Britannien eine effektivere Kriegspropaganda betrieben habe. Die Schwachpunkte, die er als Gründe auflistete, waren vor allem diese: Die deutsche Propaganda entbehrte seiner Meinung nach einer straffen organisatorischen Zusammenfassung, weil sie nicht über eine starke und zielbewusste Leitungspersönlichkeit mit starkem Durchsetzungswillen verfügt habe. Es hätte dazu einer Kriegführung bedurft, die, „keineswegs abhängig und unterstellt unter die rein militärische, sich zu einer Auswirkung entwickeln konnte, wie wir es hier [d. h. am britischen Beispiel; K. D.] sehen“.33 Einer der Kernsätze lautete: „Es hätte auch uns gelingen können und müssen, wären die Voraussetzungen, das Verständnis an zuständiger Stelle vorhanden gewesen, in weiten Teilen der Welt eine öffentliche Meinung zu schaffen, die die Kriegsschuld der anderen Seite beimaß, die Gerechtigkeit der Kriegsziele unserer Gegner anzweifelte […] So ergibt sich aus dieser Erkenntnis der Schluss, dass wir in der Tat auf geistigem Gebiet besiegt worden sind, […] in erster Linie durch die Waffen Northcliffes und seiner Gehilfen […] und dass wir das nicht rechtzeitig erkannt haben.“34 Stern-Rubarth zitierte auch mehrfach eine wohl aus der neutralen Schweiz stammende Leserzuschrift in den „Süddeutschen Monatsheften“ vom September 1917, wo es u. a. über die deutsche Propaganda kritisch hieß: „Was glauben Sie, hätte England, hätte jeder andere Staat aus dem Mord von Serajewo gemacht? Alles! Was haben Sie daraus gemacht? Nichts! […] Ich kann auch nicht begreifen, warum Sie nicht viel mehr aus Indien und Ägypten machen; tatsächlich machen Sie gar nichts aus diesen Argumenten […] Warum sind Sie so zimperlich und rollen die irische Frage nicht auf? Sie müssen in geistigen Munitionsfabriken geflügelte Worte schmieden […]“35. Stern-Rubarth nahm das zum Anlass, abschließend die britische psychologische Kriegführung in den Mittelpunkt zu stellen. Das Kernzitat zur Kriegspropaganda aus der erwähnten Leserzuschrift an die „Süddeutschen Monatshefte“ vom September 1917 lautete seiner Meinung nach: „Am größten aber ist die Kunst, den Gegner überzeugend ins Unrecht zu setzen, die bei Ihnen [d. h. den Deutschen; K. D.] ganz unentwickelt ist.“36 Stern-Rubarth schloss daran die selbstkritische Feststellung: „Wir haben es niemals verstanden oder auch nur ernstlich versucht, aus diesem Instrument der Macht außenpolitisch die Werte zu schlagen, die ihm innewohnen.“37 Dass sich das endlich ändern müsse, sei nach diesem Krieg geradezu notwendig, denn es gelte 32

Ebd., 58. Ebd., 62. 34 Ebd., 62 f. 35 Ebd., 67 f. (Zitat aus der Zuschrift; Sperrung K. D.). 36 Ebd., 69 (Zitat aus der Zuschrift). 37 Ebd., 72. 33

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nun nach der politischen Niederlage Deutschlands, „jenes Machtmittel auszubauen, dessen Anwendung uns nach dem Verlust nahezu aller übrigen nicht verboten ist, ja dessen merkwürdigerweise im Vertrag von Versailles nicht einmal Erwähnung getan wird.“38 Das alles waren Überlegungen, die z. T. auch in anderen zeitgenössischen Betrachtungen wie z. B. bei Ferdinand Tönnies und Johann Plenge eine wichtige Rolle spielten39. Aber die Erörterungen Stern-Rubarths waren klarer und historisch besser dokumentiert. Wenn er dabei auch betonte, dass Deutschland vom Studium der britischen Propaganda-Methoden am besten lernen könne, so war diese Auffassung doch nicht kritiklos. Das bezog sich insbesondere auf Vorbehalte gegen Northcliffes „psychological warfare“ – Methoden, die sich stets an einer zu suggestiven Massenpsychologie orientiert und bis hin zu vereinzelten lügenhaften Gräuelmeldungen äußerst bedenklicher Mittel bedient hätten. Doch nahm Stern-Rubarth die britische Propaganda gleichzeitig vor dem Vorwurf der Heuchelei in Schutz. Es stimme zwar, dass sie „nicht weniger vom nationalen als vom religiösen Gedanken getragen“ sei40, aber gerade diese „Mischung“ habe sie auch so stark gemacht und ihr drei Elemente verliehen, die sie in besonderem Maße kennzeichneten. Diese drei Ingredienzien bzw. Mittel seien (1) ihre Volkstümlichkeit der Ziele, (2) das Mittel der ständigen propagandistischen Wiederholung und (3) ein überaus starkes nationales Sendungs- und Selbstbewusstsein. Das alles habe Northcliffe zu „bündeln“ verstanden. Er habe dabei im Unterschied zu Frankreich, das eine immer wieder hervorgehobene und gerühmte kulturpolitische Organisation aufgebaut habe, von einem ganz grundlegenden Vorteil ausgehen können, nämlich von der gewaltigen Ausbreitung des Englischen über die ganze Welt und davon, dass dieses „mangelnde Bedürfnis nach besonderen Pflegestätten für die Sprache“ viele andere Aktivitäten freigesetzt habe41. Dennoch wies Stern-Rubarth gerade auch auf die überlegenen britischen kulturpropagandistischen Einrichtungen hin, die außer den allgemein bekannten Institutionen noch existierten und die sehr oft, besonders verglichen mit den französischen Institutionen, nicht deutlich genug wahrgenommen würden. Dazu gehörten z. B. nicht nur das Royal Colonial Institute und das Institute for Oriental Studies, die Royal Asiatic Society und ein von England unterhaltenes besonderes Orientalisches Seminar in Peking, sondern auch neuere Einrichtungen wie u. a. das im Krieg gegründete Englisch-Portugiesische Institut in Lissabon und ein ganzes Netzwerk von fast sechzig britischen Handelskammern im Ausland, die mit ihren Monatsberichten und breiten Angeboten an Fach- und falls nötig auch mit Sprachkursen für andere Staaten und Gesellschaften attraktive kulturpolitische Arbeit leisteten. Stern-Rubarth gab hier erstaunliche neueste Zahlen von 1917 wieder, die er gerade aus dem zuvor erschiene38

Ebd., 74. Vgl. Thymian Bussemer, Propaganda. Konzepte und Theorien. Mit einem Vorwort von Peter Glotz. 2., überarbeitete Aufl. Wiesbaden 2008, 102 ff. 40 E. Stern-Rubarth, Die Propaganda (Anm. 1), 77. 41 Ebd., 74. 39

Edgar Stern-Rubarth und die deutsche Propaganda im Ersten Weltkrieg

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nen Buch von Paul M. Rühlmann über Kulturpropaganda42 übernehmen konnte: so z. B. die Tatsache, dass Großbritannien allein in China 1.445 englische Missionsschulen mit mehr als 32.300 Schülern und die USA dort sogar 1.992 Missionsschulen mit über 44.300 Schülern unterhielten, die auch von den Regierungen in London und in Washington D. C. Unterstützung erhielten43. Es ging ihm mit dieser kurzen Auflistung darum, nicht nur die britische Kriegspropaganda als solche, sondern darüber hinaus auch die dicht gestaffelten kultur- und handelspolitischen Dauereinrichtungen dieses Landes in ihrer alltäglichen friedlichen Arbeit und in ihrer ständigen kommunikativen Austauschfunktion aufzuzeigen und damit neben der Kriegspropaganda der letzten Jahre auch das gleichsam generelle kulturpolitische Volumen Englands und der Vereinigten Staaten als grundlegende und überlegene Leistung zu unterstreichen. Er wollte damit auch den während des Kriegs verzerrten Dimensionen der britischen Propaganda wieder ein realistischeres und gerechteres Bild gegenüberstellen. Seine außerordentliche Analysefähigkeit hat Stern-Rubarth in den folgenden Jahren als Publizist, als Lehrer an der Berliner Hochschule für Politik und mehr und mehr auch als international gefragtem politischen Ratgeber Gustav Stresemanns und Aristide Briands große Anerkennung verschafft44. Auf dem Gebiet der Öffentlichkeitsarbeit und als Kenner der öffentlichen Meinung und der Zeitungswissenschaft war er zu einer Autorität geworden, die sich auch als Generalsekretär der Deutsch-Französischen Gesellschaft und als Mitherausgeber der Deutsch-Französischen Rundschau wie auch als Vorstandsmitglied der Fédération Internationale des Journalistes einen Namen gemacht hat. War er schon ab 1905 journalistischer Mitarbeiter Gustav Stresemanns, so versuchte er noch im Sommer 1932 durch Gründung des „Deutschen Nationalvereins“ ein Bündnis gegen den Nationalsozialismus zustande zu bringen, was aber misslang. Zu dieser Zeit zeigte sich auch schon sehr deutlich, dass seine differenzierte Auffassung von Propaganda mit der des NS nichts gemein hatte. Die Pervertierung der Propaganda durch den Nationalsozialismus hat später auch aufgrund der Vorarbeiten Stern-Rubarths u. a. der aus Deutschland stammende australische Historiker Ernest K. Bramsted beschrieben45. Stern-Rubarth galt daher nach seiner auf nationalsozialistischen Druck hin erfolgten Emigration nach England 1936 und seiner vorübergehenden dortigen Internierung 1939/40 in den Jahren danach als ein willkommener Propagandaberater britischer Stellen, die ihn dann auch bei der folgenden demokratischen Neuordnung Deutschlands, bei Fragen der Entnazifizierung, der politischen Umerziehung und der Aufhebung Preußens zu Rate zogen. Es scheint auch, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg einer der Fürsprecher Konrad Adenauers als Kandidat für politische Führungsaufgaben im Nachkriegsdeutschland war. Er hatte Adenauer schon 1928 anläss42

Paul M. Rühlmann, Kulturpropaganda. Charlottenburg 1919. E. Stern-Rubarth, Die Propaganda (Anm. 1), 77 f. 44 Vgl. V. Veltzke, Playing Lawrence (Anm. 4), 214 f. 45 Ernest K. Bramsted, Goebbels and National Socialist Propaganda 1925 – 1945, Ann Arbor (Michigan State UP) 1965, XV und XXI. 43

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lich der großen Kölner Ausstellung „Pressa“ persönlich kennengelernt und bereits damals den Kölner Oberbürgermeister als möglichen Kanzler der Republik vorgeschlagen. Eine andere herausragende Persönlichkeit, die Stern-Rubarth faszinierte, war der Reichsaußenminister und erste deutsche Botschafter in Moskau (1922 – 1928) Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau, über den er nach dessen Tod 1928 ein Jahr später eine eindrucksvolle Biographie veröffentlichte46. Das Thema bot Stern-Rubarth zugleich auch die Möglichkeit, sich mit dem neuen sowjetischen Modell von Agitation und Propaganda („Agitprop“) zu befassen und damit seine Auffassungen auch von einer anderen weltanschaulichen Seite einmal zu überprüfen. Als Stern-Rubarth mitten im Kalten Krieg 1963 80 Jahre alt wurde, waren die Probleme der Propaganda und der Öffentlichkeitsarbeit so aktuell wie in den Jahrzehnten zuvor. Das zeigten auch die Beiträge angesehener Publizisten in der ihm gewidmeten Festschrift, in der sein alter Kollege aus den Berliner Jahren der Weimarer Republik, Bundespräsident Theodor Heuss, ein herzliches Grußwort an den Jubilar richtete47. Damit hatte sich ein Kreis geschlossen. Der junge, mit dem Eisernen Kreuz II und I dekorierte Weltkriegsleutnant von 1914 war inzwischen zu einem hochangesehenen Nothelfer und Ratgeber der im Aufbau befindlichen Bundesrepublik geworden und wurde 1957 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz und 1963 auch mit dem Stern zum Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Stern-Rubarth starb im Alter von 89 Jahren am 26. Januar 1972 in London. Er hatte bis zuletzt in dem Haus Church Crescent 45 in Finchley gewohnt, dem Heim im Grünen, das er nach der Emigration und dem gerade noch gelungenen Vermögenstransfer von 1936 erwerben konnte. Der britische Neubürger besaß aber in Deutschland noch viele Freunde und blieb – immer ein analytischer Kopf – über die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik bis zuletzt bestens im Bilde. Man könnte Stern-Rubarth eigentlich nicht nur als einen Kommunikationsexperten, wie er es als Kriegsoffizier in einer anderen Kultur, als Leiter des „Wolffschen Telegraphenbureau“, als Pressesprecher, Berater und Vermittler der Reichsregierung war, sondern insgesamt als ein veritables Kommunikationsgenie bezeichnen.

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Edgar Stern-Rubarth, Graf Brockdorff-Rantzau. Wanderer zwischen zwei Welten, Berlin 1929. 47 Günter Kieslich/Walter J. Schütz (Red.), Publizistik. Festschrift für Edgar Stern-Rubarth, Bremen 1963, 5.

IV. Studentengeschichte

Studentisches Verbindungswesen an der Universität Königsberg im 19. und frühen 20. Jahrhundert – Anmerkungen zu einem wenig beachteten Thema Von Matthias Stickler, Würzburg Die Geschichte der Albertus-Universität Königsberg i. Pr. ist bisher vergleichsweise wenig erforscht1; dies gilt auch und vor allem für die Geschichte des dortigen studentischen Korporationswesens. Die Studentengeschichte gehört zu einer modernen Universitätsgeschichte, weil Studenten stets integraler Bestandteil der Universität waren, auch wenn ihnen bis 1919 gesetzlich garantierte Mitwirkungsrechte überwiegend fehlten2. Für das lange 19. Jahrhundert und noch die Zwischenkriegszeit bis 1933 gilt, dass die studentischen Verbindungen in der Regel normgebend für das soziale Leben der Studenten waren, einer solchen anzugehören war der Normalfall. Auch wenn selten mehr als 50 % der Studenten korporiert waren3, in großen Universitätsstädten wie Berlin, München oder Leipzig sogar noch weniger, so waren die Verbindungen dennoch eine dominierende Größe an den Hochschulen. Diese sehr alte, überaus wandlungsfähige studentische Sozialisationsform verfestigte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Entstehung generationenübergreifender Verbände nach dem Muster bürgerlicher Vereine, wobei gleichzeitig eine Pluralisierung im Hinblick auf Weltanschauung und Brauchtumsformen festzustellen ist. So entstanden neben konfessionellen (v. a. katholischen) Verbindungen akademische 1 Vgl. zuletzt Christian Tilitzki, Die Albertus-Universität Königsberg. Die Geschichte von der Reichsgründung bis zum Untergang der Provinz Ostpreußen. Bd. 1: 1871 – 1918, München 2012; Matthias Stickler, Königsberger Universitätsgeschichte 1805 bis 1870 – Anmerkungen zu einem wenig erforschten Thema, in: Wilhelm Schmiedebergs „Blätter der Erinnerung“ (1835 – 1839). Ein Beitrag zur studentischen Memorialkultur an der Albertus-Universität Königsberg, hrsg. von Hans Peter Hümmer/Michaela Neubert (Einst und Jetzt – Sonderband 2013), Neustadt/Aisch 2013, 7 – 19. Dort auch umfassende Literaturangaben. 2 Vgl. Matthias Stickler, Universität als Lebensform? Überlegungen zur Selbststeuerung studentischer Sozialisation im langen 19. Jahrhundert, in: Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910, hrsg. von Rüdiger vom Bruch unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 76), München 2010, 149 – 186; dort auch ausführliche Diskussion von Quellen und Literatur. 3 Vgl. hierzu die Angaben bei Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 76), Göttingen 1988, nach 116, sowie die Tabelle in: Wende und Schau. Des Kösener Jahrbuchs erster Jahrgang, Frankfurt am Main 1930, o. S.

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Gesang- und Turnvereine sowie wissenschaftlich orientierte Vereine aller Art, die zunehmend das Lebensbundprinzip einführten und in jeweils unterschiedlich starker Ausprägung die äußeren Formen des Verbindungsstudententums übernahmen. Lebensbundprinzip heißt, dass die Verbindungen, auch wenn sie teilweise weiterhin Verein hießen, sich als Gemeinschaften von Studenten, den sogenannten Aktiven, und berufstätigen Altmitgliedern, den sogenannten Alten Herren oder Philistern, verstanden. Im Hinblick auf die äußeren Formen unterscheidet man die farbentragenden (zumeist dreifarbiges Band und Mütze) von den nicht farbentragenden oder „schwarzen“ Verbindungen; letztere führen aber mehrheitlich dennoch Farben im „Bierzipfel“, einem Schmuckanhänger in Verbindungsfarben, und tragen bei feierlichen Anlässen den „Wichs“, die traditionelle studentische Festtracht. Außerdem gibt bzw. gab es neben den Mensuren schlagenden bzw. mit der Waffe Satisfaktion (Genugtuung) gebenden Verbindungen4 zunehmend solche, die dies ablehnten, zu nennen sind hier v. a. die konfessionellen Verbindungen. Bei der Bestimmungsmensur handelt es sich um eine – im Unterschied zur Satisfaktion mit der Waffe – bis heute praktizierte vereinbarte Form des Zweikampfs, dem kein Ehrenhandel zugrunde liegt und der, so die Überzeugung der schlagenden Verbände, der Charakterbildung der Mitglieder dient. Zwar gab es, auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass dieses offiziell in jeder Form strafbar war, immer wieder Kritik am Schlagen, doch blieb der Waffenstudent in der klassischen Phase der deutschen Universität dennoch der Inbegriff deutschen Akademikertums. Im Unterschied zu heute musste nicht er sich rechtfertigen, sondern der, der den Zweikampf ablehnte. Angesichts des wachsenden akademischen Antisemitismus, den seit den 1880er Jahren vor allem die Vereine Deutscher Studenten propagierten und der zunehmend auch in die anderen Korporationsverbände, v. a. die waffenstudentischen, einsickerte, entstanden seither auch jüdische sowie paritätische (d. h. solche, die Christen und Juden aufnahmen) Verbindungen, die mehrheitlich schlagend waren. Ebenso übernahmen Ausländer und nationale Minderheiten in Deutschland, v. a. die Polen, das Modell Verbindung, dieses strahlte aus in die östlichen Nachbarstaaten Deutschlands. Seit der Zulassung von Frauen zum Studium schlossen sich ab 1900 Studentinnen in wachsender Zahl zu Verbindungen zusammen und gründeten Dachverbände. Seit der Reichsgründung gab es auch immer mehr nicht korporative studentische Vereine und Verbände, die allerdings überwiegend nicht die Bedeutung gewannen wie die Verbindungen. 4

Zum Waffenstudententum hat Jürgen Kloosterhuis umfassend gearbeitet, vgl. von ihm v. a.: Pudel und Partien. Studentisches Fechten und staatliches Mensurverbot im korporationsgeschichtlichen Wandel, untersucht am Beispiel der Hallenser Neoborussia von 1849 bis 1936, in: Beiträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität 1502 – 2002, hrsg. von Hermann-J. Rupieper, Halle 2002, 340 – 376; „Vivat et res publica“. Staats- und volksloyale Verhaltensmuster bei waffenstudentischen Korporationstypen, in: „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens, hrsg. von HarmHinrich Brandt/Matthias Stickler (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, 8), Würzburg 1998, 249 – 271; Preußisch Dienen und Genießen. Die Lebenszeiterzählung des Ministerialrats Dr. Herbert du Mesnil (1875 – 1947), Berlin 1998.

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I. Forschungsstand, Quellenlage und Archivbestände Zum Königsberger Verbindungswesen liegen bisher überwiegend Überblicksdarstellungen vor5 sowie eine Vielzahl von (Selbst-)Darstellungen der (ehemals) Königsberger Verbindungen6. Letztere sind von unterschiedlicher Qualität, häufig handelt es sich um im weitesten Sinne der Gattung „Festschriftenliteratur“ zuzurechnende Traditionsquellen. Neu vorgelegt wurde kürzlich eine kommentierte Edition des sogenannten „Albums Schmiedeberg“7, die vor allem deshalb einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Königsberger Studentenschaft darstellt, weil sie einzigartige 5 Vgl. v. a.: Hans-Georg Balder, Korporationsleben in Königsberg. Studenten an der Albertina 1544 – 1945, Hilden 2010; Kurt U. Bertrams (Hrsg.), Als Student in Königsberg, Erinnerungen bekannter Korporierter, Hilden 2006; Ludwig Biewer, Studentisches Leben an der Universität Königsberg von der Wende zum 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus. Ausgewählte Beispiele, in: Preußen als Hochschullandschaft im 19./20. Jahrhundert, hrsg. von Udo Arnold, Lüneburg 1992, 45 – 85; Klaus Bürger, Die Studenten der Universität Königsberg 1817 – 1844, in: ebd., 13 – 44; Emil Popp, Zur Geschichte des Königsberger Studententums, 1900 – 1945 (Beihefte zum Jahrbuch der Albertus-Universität Königsberg/Pr., XII), Würzburg 1955 [Nachdruck Hilden 2004]; Thomas Thamm, Korporationsstudententum in Königsberg, Preußen, 1918 bis 1945, Würzburg 1995 (bei dieser gelungenen kleinen Studie handelt es sich um eine bei Laetitia Boehm entstandene Münchner Magisterarbeit); Rüdiger Döhler, Die Königsberger Korporationen, in: Einst und Jetzt 52 (2007), 160 – 176. 6 Vgl. etwa: Rüdiger Döhler/Jürgen Herrlein/Amella Mai u. v. a. (Bearb.), Verzeichnis sämtlicher Mitglieder des Corps Masovia 1823 bis 2005, Potsdam 2006; Rüdiger Döhler, Corps Masovia. Die 175jährige Geschichte Königsbergs ältester und Potsdams erster Korporation im 21. Jahrhundert, München 2005; Hans Lippold, Die Königsberger Corps Scotia (1829 – 1847), Borussia (1829 – 1847), Normannia I (1833 – 1847), Normannia II (1873 – 1889), Baltia I (1834 – 1840) und Pappenhemia (1824 – 1841), in: Einst und Jetzt 13 (1968), 80 – 92; Siegfried Schindelmeister, Die Albertina und ihre Studenten 1544 bis WS 1850/51 und Die Geschichte des Corps Baltia II zu Königsberg i. Pr. [1851 – 1934]. Erstmals vollständige, bebilderte und kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden mit einem Anhang, zwei Registern und einem Vorwort von Franz-Friedrich Prinz von Preußen, hrsg. von Rüdiger Döhler/Georg von Klitzing, München 2010. Vgl. ferner: Ludwig Biewer/Reinhold Kreck, Festschrift zum 100. Königsberger und 28. Mainzer Stiftungsfest des Vereins Deutscher Studenten Königsberg-Mainz vom 16. bis 19. Mai 1985, Mainz 1985; Johannes Born (Hrsg.), Festschrift zur Erinnerung an die Gründung des K. St. V. Borussia-Königsberg in Köln vor 100 Jahren 1875 – 1975, Münster 1975; N. N., Festschrift zum 100jährigen Stiftungsfest der Königsberger Burschenschaft „Gothia“ 78 Göttingen vom 25.–28. Juni 1954, Göttingen 1954; Otto Fünfstück, Littuania, dir gehör’ ich, Hamburg 1966; Franz-Josef Kossendey, Kurze Geschichte des K. St. V. Tannenberg im KV, in: „… das ist Rheinfranken Art“. 90 Jahre K. St. V. Rheno-Frankonia im KV zu Würzburg und kurzgefaßte Geschichte des K. St. V. Tannenberg im KV, hrsg. von K. St. V. Rheno-Frankonia im KV, Würzburg 1982, 281 – 290; Georg Mielcarczyk, Geschichte der KDStV (im CV) Tuisconia in Bonn, früher Königsberg und des Ostpreußischen Altherrenverbandes des CV, o. O. 1956. Eine ausführliche Zusammenstellung der verfügbaren Literatur nach dem Stand von 1995 bietet: T. Thamm, Korporationsstudententum in Königsberg (Anm. 5), 233 – 235. 7 H. P. Hümmer/N. Neubert (Hrsg.), Wilhelm Schmiedebergs „Blätter der Erinnerung“ (Anm. 1). Das Album Schmiedeberg gehört den Gattungen Memorialliteratur und Memorialkunst an, worauf bereits das Titelblatt „Blätter der Erinnerung“ anspielt. Wilhelm Schmiedeberg (ca. 1815–nach 1865), Student der Rechte und Philosophie, hatte das Album in den Jahren 1835 bis 1839 zur Erinnerung an seine Studienjahre an der Albertina angelegt.

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Einblicke in das Studentenleben der Vormärzzeit eröffnet, einer Epoche also, in der sich das Verbindungswesen noch nicht in Gestalt der heutigen Verbände verfestigt hatte. Charakteristisch für die meisten vorliegenden Arbeiten ist es, dass sie in der Regel nicht aus originären Archivquellen gearbeitet sind, sondern sich zumeist auf Zeitzeugenberichte und/oder Traditionsquellen stützen. Dies ist eine Folge der bisherigen Archivlage, die im Folgenden kurz dargelegt werden soll8: Die Universität Königsberg verfügte bis 1945 nicht über ein eigenes Archiv, sondern gab ihre Akten in gewissen Abständen an das Königsberger Staatsarchiv ab, wo sie als Depositum verwaltet wurden. Diese Bestände wurden gegen Ende des Zweiten Weltkrieges evakuiert und dabei zerstreut. Aus der vorhandenen Literatur9 konnte geschlossen werden, dass im Wesentlichen drei Standorte überprüft werden mussten: Göttingen, wo sich ein Teil der Bestände der Albertina von 1953 bis 1979 befunden hatte, das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, wohin die Göttinger Bestände anschließend verbracht wurden, und das polnische Staatsarchiv Allenstein (Archiwum Panstwowe w Olsztynie). Die Nachforschungen ergaben, dass sich in Göttingen kein Königsberger Archivgut mehr befindet. Im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin fanden sich konkrete Akten zur Königsberger Studentenschaft bisher nicht, doch ist, aufgrund der Tatsache, dass jene, wie erwähnt, integraler Bestandteil des universitären Lebens war, davon auszugehen, dass sich in den umfangreichen Personal- und Verwaltungsakten studentengeschichtlich relevantes Material befindet. Darauf verweist auch eine wichtige Veröffentlichung von Jürgen Kloosterhuis, in der dieser eine umfangreiche Übersicht von im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz vorhandenen Quellen zur Universitäts-, Studenten- und Korporationsgeschichte vorgelegt hat10. Genauere Aussagen werden erst nach noch durchzuführenden intensiveren Archivrecherchen möglich sein. Umfassende Bestände zur Geschichte des Königsberger Verbindungswesens gibt es insbesondere im polnischen Staatsarchiv Allenstein/Olsztyn, wohin im Zuge der 8 Der folgende Exkurs stützt sich auf die Ergebnisse eines von mir 2013 am Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg durchgeführten und aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestags vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien durch eine Bundeszuwendung gemäß § 96 BVFG geförderten Drittmittelprojekts. Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang insbesondere den zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im BKM und im Bundesverwaltungsamt für die gute Zusammenarbeit sowie meinem Schüler Henning Wachter M. A., der die notwendigen Archivreisen und Recherchearbeiten übernommen hat. 9 Vgl. hierzu v. a. Bernhart Jähnig, Verlagerung der Königsberger Archivbestände von Göttingen nach Berlin, in: Der Archivar 34 (1981), 400 – 402; C. Tilitzki, Die Albertus-Universität Königsberg (Anm. 1), 4 und 11; Beata Wacławik, Das Archiv der Albertus-Universität Königsberg im Bestand des Staatsarchivs in Olsztyn (Allenstein), in: Biuletyn Polskiej Misji Historycznej/Bulletin der Polnischen Historischen Mission 6/2011, 91 – 105. 10 Jürgen Kloosterhuis, „Vivant membra quaelibet!“ Quellen zur Universitäts-, Studentenund Korporationsgeschichte im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz unter besonderer Berücksichtigung der Universitäten und Technischen Hochschulen Halle a. S., Breslau und Danzig. Teil II: Studenten zwischen Volk und Staat, 1808 – 1934, in: Einst und Jetzt 58 (2013), 159 – 556.

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Evakuierung Archivbestände der Albertina verbracht wurden. Unsere Recherchen ergaben, dass die Königsberg-Archivalien in Allenstein für die Erforschung der Geschichte der Universität Königsberg von allergrößter Bedeutung sind. Ihr Umfang übertrifft in mancher Hinsicht die heute in Berlin verwahrten Bestände: Insgesamt 1189 Archiveinheiten aus allen Epochen der Universitätsgeschichte von der Gründung 1544 bis zum Ende der 1930er Jahre konnten identifiziert werden. Diese spiegeln die gesamte Bandbreite des universitären Lebens wieder: Verwaltungsakte, Personalunterlagen, Güterverwaltung, Lehrtätigkeit, Beziehungen zur Landeshoheit und zur städtischen Umgebung, studentisches Vereins- und Verbindungswesen sowie studentisches Leben und anderes. Von besonderem Interesse für die Studentengeschichte ist der Fund des als Folge der Kriegseinwirkungen verloren geglaubten vollständigen Archivs des Corps Littuania, welches den Zeitraum 1836 bis 1934 umfasst. Die 1829 als Corpslandsmannschaft gegründete und nach 1945 im neu gegründeten Corps Albertina Hamburg aufgegangene Studentenverbindung spiegelt in herausragender Weise die Besonderheiten des Königsberger studentischen Lebens wider. Das Archiv der Littuania umfasst auch Akten des Königsberger Seniorenconventes (SC) – also des örtlichen Zusammenschlusses der Königsberger Corps –, so dass mit Hilfe dieser Bestände auch Aussagen möglich sein werden, die über dieses eine Corps hinausgehen. Insofern existiert für Forschungen zur Geschichte der Königsberger Studentenschaft jetzt erstmals seit 1945 eine wirkliche Quellenbasis. II. Von der Allgemeinheit zur pluralistischen Studentenschaft – Grundzüge der Entwicklung des Verbindungswesens an der Albertina Die Albertina gehörte Ende des 18. Jahrhunderts zu den kleineren unter den Hochschulen Preußens. Zwischen 1805 und 1870 wandelte sie sich dann von einer dem frühneuzeitlichen Universitätsmodell verhafteten „Hohen Schule“ zu einer modernen Forschungsuniversität, blieb aber gleichwohl eine regionale Hochschule von mittlerer Größe und Ausstrahlung. Die fachlichen Schwerpunkte verlagerten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts weg von Theologie und Rechtswissenschaften hin zur Medizin und zur Philosophischen Fakultät, die bis 1937 auch die Naturwissenschaften umfasste. 1943 entstand aus der Naturwissenschaftlichen Fakultät heraus eine sechste, landwirtschaftswissenschaftliche Fakultät. Die Studenten der Albertina stammten trotz dieses partiellen Wandels allerdings nach wie vor überwiegend aus der Provinz Ostpreußen. Insofern rekrutierten die Königsberger Verbindungen ihren Nachwuchs überwiegend aus der Region11, was ihnen ein entsprechendes Gepräge gab. Dies änderte sich teilweise nach dem Ersten Weltkrieg, als im Zuge der Neukonstruktion der regionalen Identität Ostpreußens unter deutschnationalen und einer tendenziell slawophoben Grenzlandideologie verpflich-

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Vgl. hierzu T. Thamm, Korporationsstudententum in Königsberg (Anm. 5), 74 ff.

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teten Vorzeichen12 der Albertina die Rolle einer „Grenzlanduniversität“ zugesprochen wurde, ein Nimbus, der innerhalb der Studentenschaft lebhaften Widerhall fand13. In der Tat stiegen die Studierendenzahlen seit Mitte der 1920er Jahre kräftig an, doch blieb auch jetzt die Zusammensetzung der Studentenschaft mehrheitlich (d. h. zu ca. zwei Dritteln) regional geprägt14. Analysiert man die Entwicklung der Studierendenzahlen über den Zeitraum von 1830 bis 1941 hinweg15, so fallen folgende Zäsuren auf: Bis Ende der 1860er Jahre betrug die Gesamtstudentenzahl durchweg weniger als 500 (im SS 1866 496), seither war ein allmählicher Anstieg zu beobachten, der im SS 1883 mit 929 Studierenden einen ersten Höhepunkt erreichte. Diese erste Expansionsphase fällt wohl nicht zufällig zusammen mit der Durchsetzung von Reformen in der Albertina in den 1860er Jahren, durch welche diese ihren exklusiv protestantischen Charakter endgültig verlor16. Nach einem vorübergehenden Einbruch (WS 1892/93 641 Studierende) ging es seither wieder bergauf, im WS 1905/06 wurde mit 1032 Studierenden erstmals die Tausendermarke erreicht, im SS 1913 waren es bereits 1636. Der Erste Weltkrieg führte zu einem erneuten Rückgang (WS 1914/15 1257 Studierende), nach 1918 stiegen die Zahlen aber wieder an und erreichten im WS 1920/21 mit 2665 Studierenden einen erneuten Gipfelpunkt. Zu erklären ist dieser an allen deutschen Universitäten zu beobachtende Höchststand mit der Rückkehr der Kriegsheimkehrer, wodurch mehrere Jahrgänge vorübergehend parallel studierten. Folglich gab es seither wieder einen Rückgang bis Mitte der 1920er Jahre (WS 1925/26 1445 Studierende), seither stiegen die Studentenzahlen, auch als Folge der erwähnten Grenzlandarbeit, wieder, um im SS 1931 einen weder vorher noch nachher erreichten Gipfelpunkt von 4182 Studierenden zu erreichen. Seither war ein allmählicher Abwärtstrend (WS 1938/39 1088 Studierende) zu beobachten – dies auch als Folge der NS-Hochschulpolitik – bevor durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein erneuter Tiefpunkt erreicht wurde: Im WS 1939/40 gab es gerade einmal noch 223 Studierende, seither stieg deren Zahl wieder auf zuletzt 1116 Studierende. Studentinnen gab es an der Albertina seit dem WS 1908/09. Deren Anteil stieg seither von 1,23 % bis 8,23 % im SS 1914, um während des Krieges nochmals auf ca. 11 % bis 12 % zu steigen. Nach 1919 ging der Frauenanteil zwar erneut zurück (SS 1924 9,72 %), stieg aber seither deutlich an bis auf einen Gipfelpunkt von 22,55 % im WS 1931/32; die Zunahme der Gesamtzahl der Studierenden an der Al12

Vgl. hierzu Robert Traba, Ostpreußen – die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität 1914 – 1933 (Klio in Polen, 12), Osnabrück 2010; leider behandelt Traba in dieser Studie die Albertina kaum. 13 Vgl. T. Thamm, Korporationsstudententum in Königsberg (Anm. 5), 79 ff. 14 Vgl. ebd., 79. 15 Vgl. hierzu die Angaben bei Hartmut Titze, Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830 – 1945 (Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, 1.2.), Göttingen 1995. 16 Vgl. hierzu M. Stickler, Königsberger Universitätsgeschichte 1805 bis 1870 (Anm. 1), 14 f.

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bertina hing also auch mit der Erhöhung der Bildungsbeteiligung der Frauen zusammen. Nach 1933 ging der Frauenanteil etwas zurück (WS 1934/35 18,68 %), erreichte aber im SS 1935 einen Spitzenwert von 22,66 %. Seither verharrte er bei 17 % bis 21 %, stieg aber vor dem Hintergrund des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs nochmals deutlich an: von 21,51 % im ersten Trimester des Jahres 1940 bis auf 37,72 % im ersten Trimester des Jahres 1941. Der Ausländeranteil erhöhte sich langsam aber stetig seit den späten 1860er Jahren von 3,36 % (WS 1867/68) zur Jahrhundertwende auf 5,15 % (WS 1900/01). Ein weiterer kräftiger Anstieg war seither bis 1914 zu verzeichnen (SS 1913 15,59 %) – ein deutliches Indiz für die gestiegene wissenschaftliche Bedeutung der Albertina. Daran konnte diese nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr anknüpfen: Ab 1920 stieg der Ausländeranteil von 2,91 % (SS 1920) auf einen Gipfelpunkt von 8,5 % im WS 1927/28, um dann wieder zurückzufallen auf durchschnittlich 6 % bis 7 %. Möglicherweise ist dieser Befund neben der Problematik der schleppenden Rückkehr Deutschlands in die internationale Scientific Community als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der damit verbundenen internationalen Isolierung auch zu erklären mit der bereits erwähnten, tendenziell xenophoben Grenzlandideologie. Die Geschichte des Königsberger Verbindungswesens weist im Vergleich zu den anderen Universitäten im deutschsprachigen Raum einige Besonderheiten auf, die eine Folge der relativen Randlage der Albertina und der eben beschriebenen Rahmenbedingungen sind. So ist etwa auffällig, dass ganz offensichtlich die freimaurerisch beeinflussten Studentenorden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an der Albertina nicht Fuß fassen konnten. Die alten Landsmannschaften oder Nationalkollegien verschwanden wohl um 1800 endgültig. Dauerhafte Strukturen hatten diese aufgrund des fehlenden Lebensbundprinzips und der Unwägbarkeiten des kantonalen Rekrutierungsverfahrens ohnehin nicht ausbilden können. Die Unterdrückungsmaßnahmen der Obrigkeit, die sich mit Phasen der Duldung abwechselten, taten ein Übriges. Bis weit ins 19. Jahrhundert hielt sich in Königsberg dagegen eine aus dem frühneuzeitlichen Studentenwesen stammende Übung, nämlich die halbjährliche Wahl zweier sogenannter Entrepreneurs aus dem Kreise der Gesamtstudentenschaft, die die studentischen Veranstaltungen leiteten, insbesondere die im Winter stattfindenden Studentenbälle17. Seit Ostern 1817 war es an der Albertina üblich, dass die Studenten den sogenannten „Albertus“, ein in Metall geprägtes Bild Herzog Albrechts von Preußen, als Abzeichen trugen, welches sie als akademische Bürger auswies. Dieser Brauch hielt sich bis ca. 188018. Kennzeichnend für die Königsberger

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Vgl. hierzu H.-G. Balder, Korporationsleben in Königsberg (Anm. 5), 106 – 117. Vgl. E. Popp, Zur Geschichte des Königsberger Studententums (Anm. 5), 109. Emil Popp hatte vor dem Ersten Weltkrieg in Königsberg studiert, war Alter Herr der Burschenschaft Germania (heute Hamburg) und verfasste dieses Buch nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch wenn ein nostalgischer und bisweilen apologetischer Grundzug unverkennbar ist und die Darstellung deutlich vom Zeitgeist der frühen 1950er Jahre gekennzeichnet ist, handelt es sich bei Popps Schrift doch um eine wichtige, von einem Zeitzeugen mit Insiderkenntnissen ver18

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Studentenschaft war auch die Besonderheit, dass sich alle Studenten duzten und dieser Duz-Comment auch von Philistern gepflegt wurde im Verhältnis zu den jeweiligen Consemestern, ohne Rücksicht auf die Verbindungszugehörigkeit19. An der Entstehung der Burschenschaft bzw. am Wartburgfest waren Königsberger Studenten nicht beteiligt20, allerdings nahmen 1818 je zwei von ihnen am ersten und zweiten Burschentag in Jena teil21. Es gab an der Albertina allerdings eine sogenannte Allgemeinheit, also einen lockeren Zusammenschluss aller Studenten, die jedoch keinen korporativen Charakter hatte. Diese nannte sich auch nach 1819 noch Burschenschaft, wobei diese Bezeichnung als „Studentenschaft“ zu verstehen ist22. Unter dem Dach dieser Allgemeinheit entstanden seit den 1820er Jahren an der Albertina Kränzchen landsmannschaftlichen Charakters23, die vielfach auch kantonale Rekrutierungsmuster hatten: 1820 die Lithuania für die Studenten aus „Preußisch Lithauen“ (d. h. nordöstliches Ostpreußen)24, ebenfalls 1820 die Drengfurtia, benannt nach der ostpreußischen Kleinstadt Drengfurt; diese Gründung war möglicherweise, auch wegen des Namens, eine Parodie auf das Landsmannschafterwesen25. Ebenfalls 1820 wurden gegründet Masovia (für die Studenten aus Masuren) und – vielleicht auch erst 1822 – eine Pomesania für die Studierenden aus Pomesanien, d. h. dem östlich von Weichsel und Nogat gelegenen Teil Westpreußens26. Burschenschaftlich beeinflusst war möglicherweise die 1824 gegründete Pappenhemia. 1829 gründeten sich Scotia und Borussia. Die Kränzchen trennten sich bald von der Allgemeinheit, um selbständige Landsmannschaften zu werden. Ein zweiter Versuch, im Zusammenhang mit dem Frankfurter Wachensturm von 1833, die Königsberger Allgemeinheit in eine Burschenschaft umzuwandeln, scheiterte; im Gefolge der Auflösung der Königsberger Burschenschaft entstanden 1834 bzw. 1835 die Landsmannschaften Baltia (1)27 und Normannia (1). fasste Traditionsquelle. Zum Albertus-Brauchtum vgl. auch H. P. Hümmer/N. Neubert (Hrsg.), Wilhelm Schmiedebergs „Blätter der Erinnerung“ (Anm. 1), 28. 19 Vgl. E. Popp, Zur Geschichte des Königsberger Studententums (Anm. 5), 105 f. 20 Vgl. hierzu H.-G. Balder, Korporationsleben in Königsberg (Anm. 5), 118 f. 21 Vgl. ebd., 119 f. und 121 f. Ob man daraus auf die Existenz einer Königsberger Burschenschaft im Wortsinne schließen kann, wie der Burschenschaftshistoriker Hermann Haupt meint (vgl.: Zur Geschichte der ältesten Königsberger Burschenschaft 1817 – 1819, in: Burschenschaftliche Blätter 32 [WH 1917/18] 6, 85 f.) ist allerdings unklar. Falls ja, hörte diese nach den Karlsbader Beschlüssen auf zu bestehen; vgl. hierzu ebd. und H.-G. Balder, Korporationsleben in Königsberg (Anm. 5), 123 – 126. 22 H.-G. Balder, Korporationsleben in Königsberg (Anm. 5), 126 f. 23 Vgl. hierzu Rüdiger Döhler/Hans Peter Hümmer, Das Korporationswesen Königsbergs vor 1840, in: H. P. Hümmer/N. Neubert (Hrsg.), Wilhelm Schmiedebergs „Blätter der Erinnerung“ (Anm. 1), 21 f. 24 Vgl. T. Thamm, Korporationsstudententum in Königsberg (Anm. 5), 159. 25 Vgl. ebd., 158. 26 Vgl. ebd., 161. 27 In Klammern gesetzte einstellige arabische Ziffern kennzeichnen Verbindungen gleichen Namens, die in keiner Kontinuität miteinander stehen.

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In dieser Zeit, in der das Verbindungswesen noch gekennzeichnet war von unübersichtlichen Mitgliedschaftsverhältnissen und, damit zusammenhängend, häufig kurzer Lebensdauer der Einzelverbindung, nahm die Mehrzahl der Königsberger Landsmannschaften ein spezifisches Corpsprinzip an: Mitglieder der Landsmannschaften konnten ab dem 3. Semester in den engeren Kreis der Verbindung gewählt werden und wurden damit Corpsburschen. Diese Verbindungen nannten sich seither Corpslandsmannschaften, ein Selbstverständnis, das es so nur in Königsberg gab. Entsprechend lang dauerte es, bis die Corpslandsmannschaften sich dem 1848 gegründeten Kösener Senioren-Convents-Verband (KSCV) anschlossen: Seit 1855 bezeichneten sich die Corpslandsmannschaften als Corps, aber erst 1865 trat der Königsberger SC dem KSCV bei28. Bedeutsam für die Integration der Königsberger Corps in den KSCV war das von 1873 bis 1889 bestehende Corps Normannia (2), das viele Studenten „aus dem Reich“ anzog und bestrebt war, das Königsberger Brauchtum an die Kösener Gepflogenheiten anzupassen – ein Unterfangen, das viel Streit verursachte und zum Verschwinden spezifisch Königsberger Bräuche, wie etwa das Duzen oder das Tragen des Albertus, führte29. Die Burschenschaft fasste Ende der 1830er Jahre endgültig an der Albertina Fuß: 1838 entstand das burschenschaftlich orientierte Kränzchen Hochhemia, dessen Name von einem „Bierdorf“ bei Königsberg herrührt. Diese Gründung erfolgte im Zusammenhang mit der Stiftung der „Allgemeinheit Albertina“, die sich als Gegengewicht zu den Corpslandsmannschaften sah und unter ihrem Dach auch die Bildung von Kränzchen zuließ. Aus der Albertina gingen u. a. die Kränzchen „Gothia“ (1, 1839) und „Germania“ (1843) hervor. Letztere ist die älteste bis heute bestehende Königsberger Burschenschaft (heute in Hamburg). Eine dauerhafte burschenschaftliche Organisation vor Ort gab es in Königsberg erst seit 1881, als die 1879 gegründete Burschenschaft Alemannia (heute Kiel) dem im gleichen Jahr gegründeten „Allgemeinen Deputierten-Convent“ (ADC, seit 1902 „Deutsche Burschenschaft“, DB) beitrat. Diesem traten 1885 auch Germania und die 1854 gegründete Gothia (2) bei. Corpslandsmannschaften und Burschenschaften dominierten seit den 1840er Jahren die Königsberger Studentenschaft, wobei man sich allerdings darüber im Klaren sein muss, dass sich die unterschiedlichen Verbindungstypen damals noch nicht zu klar voneinander abgrenzbaren Lagern verfestigt hatten. Dieser Prozess setzte erst seit der Reichsgründung ein. Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist die Entwicklung der bereits erwähnten Landsmannschaft Littuania, die 1828 gegründet wurde und sich seit 1836 als Corpslandsmannschaft bezeichnete. 1848 spaltete 28 Im Album Schmiedeberg konnten Mitglieder der Corpslandsmannschaften Baltia I, Borussia, Masovia, Littuania, Normannia I, Pappenhemia, Scotia und des Kränzchens Hochhehmia nachgewiesen werden. Sehr wahrscheinlich ist auch, dass es ein Kränzchen studierender Polen (aus dem Russischen Reich) gab, möglicherweise eine Landsmannschaft Polonia; vgl. H. P. Hümmer/N. Neubert (Hrsg.), Wilhelm Schmiedebergs „Blätter der Erinnerung“ (Anm. 1), 27. Schmiedeberg selbst gehörte der Baltia (1) an. 29 Vgl. H.-G. Balder, Korporationsleben in Königsberg (Anm. 5), 343 f.; E. Popp, Zur Geschichte des Königsberger Studententums (Anm. 5), 104 ff.

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sich Littuania in einen Minderheitenflügel, der corpsstudentisch ausgerichtet war – die wegen ihres grün-silber-roten Bandes nun so genannte „Silber-Litthuania“ – und einen Mehrheitsflügel, der dies ablehnte und wegen seines grün-weiß-roten Bandes als „Tuch-Littuania“ bezeichnet wurde. Die „Silber-Litthuania“ musste 1866 wegen fehlenden Nachwuchses den Aktivenbetrieb einstellen, während die „Tuch-Littuania“ als Landsmannschaft fortbestand, aber dem 1868 gegründeten Dachverband „Deutsche Landsmannschaft“ (DL) nicht beitrat, sondern verbandsfrei blieb. 1894 wurde die „Tuch-Littuania“ dann doch ein Corps, schloss sich dem KSCV an und nahm die meisten noch lebenden Alten Herren der „Silber-Litthuania“ auf30. Die Verfestigung des Königsberger Verbindungswesens durch den Beitritt zu Dachverbänden muss auch vor dem Hintergrund der seit der Reichsgründung auch in Königsberg einsetzenden Pluralisierung des Verbindungswesens31 gesehen werden. Vor 1871 hatte es an der Albertina neben den sechs etablierten Verbindungen – den Burschenschaften Germania, Gothia (2) und Arminia (3), den Corps Masovia und Balia (2) und der „Tuch-Littuania“ – nur zwei nicht farbentragende Vereine gegeben, den 1859 gegründeten Naturwissenschaftlich-Pharmazeutischen Verein (ab 1888/89 farbentragende „Freischlagende Verbindung Markomannia, 1893 suspendiert) und seit 1868 den nicht farbentragenden Akademisch-Theologischen Verein, der 1898 dem Eisenacher Kartell Akademisch-Theologischer Vereine beitrat und 1928 die Bezeichnung Verbindung sowie den Namen „Wartburg“ annahm. Die bisherige Dominanz von Corps/Landsmannschaften und Burschenschaften schwand seit der Reichsgründung immer mehr32; an der Albertina fasste nahezu das gesamte Spektrum des deutschen Verbindungswesens Fuß: Den Anfang machte 1874 der nicht farbentragende Akademische Gesangverein, welcher allerdings erst 1905/06 dem Sondershäuser Verband Deutscher Sängerverbindungen (SV) beitrat. 1875 wurde im Kontext des Bismarckschen Kulturkampfs mit der nicht farbentragenden Borussia die erste katholische Verbindung an der Albertina gegründet, die 1877 in den Kartellverband der katholischen Studentenvereine Deutschlands (KV) aufgenommen wurde. Ebenfalls 1875 gründete sich ein Akademischer Turnverein, der von 1876/77 bis 1885 dem Kartellverband der Akademischen Turnvereine angehörte; 1884 wurde der Name Teutonia angenommen und der Verein 1885 in eine Burschenschaft umgewandelt, die dem ADC beitrat. 1877 wandelte sich die 1860 gegründete Burschenschaft Arminia in ein Corps um und wurde unter dem Namen Hansea Mitglied des KSCV. 1879 wurde die bereits erwähnte Burschenschaft Alemannia gegründet. Ebenfalls 1879 folgte der anfangs nicht farbentragende Akademisch-Medizinische Verein, der 1888 farbentragend wurde und sich 1895/96 dem Goslarer 30 Zur komplizierten Geschichte der Littuania – die sich auch in den unterschiedlichen Schreibweisen des Verbindungsnamens widerspiegelt – vgl. im Überblick H.-G. Balder, Korporationsleben in Königsberg (Anm. 5), 332 – 334. 31 Vgl. M. Stickler, Universität als Lebensform? (Anm. 2), 171 ff. 32 Vgl. hierzu und zum Folgenden H.-G. Balder, Korporationsleben in Königsberg (Anm. 5), 297 – 370; T. Thamm, Korporationsstudententum in Königsberg (Anm. 5), 131 – 166; E. Popp, Zur Geschichte des Königsberger Studententums (Anm. 5), 103 – 153.

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Kartellverband naturwissenschaftlicher und medizinischer Vereine anschloss. 1921 benannte sich der Verein um in Landsmannschaft Marko-Natangia und trat 1923 der DL bei. Ebenfalls 1879 wurde der nichtfarbentragende „Akademisch-Wissenschaftliche Verein“ gegründet, der 1882 den Verband Akademisch-Landwirtschaftlicher Vereine (VALV, seit 1921 Naumburger DC) mitbegründete und sich 1901 den Namen Agronomia gab; 1922 legte Agronomia Farben an und trat als Corps dem Rudolstädter SC bei, den sie aber bereits 1929 wieder verließ, nachdem die Aktivitas suspendiert hatte. 1881 folgte der nicht farbentragende „Verein für neuere Philologie an der Albertina“, der 1897 in einen Akademisch-Neuphilologischen Verein umgewandelt wurde, 1899 Farben annahm und sich 1901 in eine Allgemeinwissenschaftliche Verbindung Markomannia umwandelte; 1904 wandelte sich Markomannia in eine Turnerschaft um und trat dem Vertreter-Convent (VC) der farbentragenden und schlagenden Turnerschaften bei. 1882 wurde der nicht farbentragende Akademische Verein Fridericiana gegründet, der 1884 (endgültig 1891) Farben annahm, sich seit 1889 Franconia nannte und 1900 als Turnerschaft dem VC beitrat. 1883 wurde der nichtfarbentragende Akademische Verein für allgemeine Wissenschaft (AWV) gegründet, der erst allmählich korporative Formen und 1896/97 den Namen Albertia annahm; Albertia gehörte zu den Mitbegründern des späteren Rothenburger Verbands schwarzer schlagender Verbindungen. 1885 wurde die farbentragende Reformburschenschaft Cheruscia gegründet, die noch im gleichen Jahr dem Allgemeinen Deutschen Burschenbund (ADB) beitrat. Ebenfalls 1885 wurde der nichtfarbentragende Verein Deutscher Studenten gegründet und in den Kyffhäuser-Verband aufgenommen. 1897 entstand der farbentragende Akademische Turnverein Frisia, der als erster Königsberger Bund in den VC aufgenommen wurde. Ebenfalls 1897 wurde mit der farbentragenden Tuisconia die zweite katholische Verbindung an der Albertina gegründet und zwei Jahre später in den Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen (CV) aufgenommen. 1898 wurde der „Historisch-Geographische Verein an der Albertina“ gegründet, der ein Jahr später dem Verband Historischer Vereine an deutschen Hochschulen und bei dessen Gründung 1910 dem Deutschen Wissenschafter-Verband (DWV) beitrat. Nach dem Ersten Weltkrieg benannte sich der Verein zunächst um in „Historisch-Geographische Verbindung“, dann in „Historisch-staatswissenschaftliche Verbindung“ und nahm 1925 den Namenszusatz „Hohenstaufen“ an. 1899 wurde von ausgetretenen Mitgliedern der Albertia die farbentragende „Allgemein-Wissenschaftliche Verbindung“ Cimbria gegründet, die sich 1907 in eine Turnerschaft umwandelte und 1908 dem VC beitrat. 1900 wurde der nichtfarbentragende Akademische Turnverein Ostmark gegründet, der sich seit 1908 „Turnverbindung“ nannte und dem Akademischen Turnbund (ATB) angehörte. 1903 entstand, nachdem frühere Versuche 1856 und 1883/84 gescheitert waren, der christlich orientierte, farbentragende und nichtschlagende Königsberger Wingolf und wurde 1906 in den Dachverband aufgenommen. 1904 wurde der aus einem nicht korporativen akademischen Verein „Theodor Herzl“ hervorgegangene nicht farbentragende Verein Jüdischer Studenten gegründet, der 1906 dem Bund Jüdischer Corporationen (BJC) beitrat, welcher 1914 im Kartell Jüdischer Verbindungen aufging; in diesem Zusammenhang erfolgte die Umbenennung in

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„Verbindung“ und die Annahme des Namens Maccabaea. 1905 wurde von Angehörigen der Cheruscia eine weitere Reformburschenschaft namens Arminia gegründet, die 1906 in den ADB aufgenommen wurde, diesen Verband aber 1926 wieder verließ und als Landsmannschaft in die DL eintrat. 1912 wurde die 1897 gegründete vertagte farbentragende Freiburger jüdische Verbindung Friburgia an der Albertina rekonstituiert; Friburgia gehörte dem Kartell-Convent der Verbindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens (KC) an. 1913 entstand aus einem 1909 gegründeten Verein die erste Frauenverbindung an der Albertina, der nicht farbentragende Studentinnenverein im Verband der Studentinnenvereine Deutschlands (VStD), der allerdings nur bis 1920 bestand. Auffällig an der Entwicklung des Verbindungswesens zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg in Königsberg sind vor allem folgende Befunde: Es war zu einer geradezu explosionsartigen Vermehrung der Verbindungen von 8 auf 36 gekommen, in den ersten Jahrzehnten vor allem nichtfarbentragende, häufig wissenschaftlich orientierte, korporative Vereine, die als Alternative zu den Corps und Burschenschaften gegründet wurden. Die erste genuin farbentragende Gründung war die Reformburschenschaft Cheruscia. Insofern gelang es den traditionellen Verbindungen an der Albertina noch recht lange, ein Quasi-Monopol auf das Farbentragen zu wahren. Zu beobachten ist allerdings auch, dass die Vereine sich über einen längeren Zeitraum hinweg in vielen Fällen zu farbentragenden und schlagenden Verbindungen hinentwickelten. Besonders profitierte von diesem Trend der VC der Turnerschaften. Dass zwei katholische Verbindungen entstanden, vermag angesichts der Tatsache, dass das Ermland überwiegend katholisch und damit die Albertina auch Landesuniversität für die ostpreußischen Katholiken war, nicht verwundern, ebenso wenig nach dem oben zu den Vereinen gesagten, dass die farbentragende Tuisconia die jüngere war. Auffällig ist allerdings, dass sich der Wingolf in Königsberg so schwer tat. Hierfür dürften vor allem zwei Gründe maßgeblich sein: Die katholischen Studenten fanden eine korporative Heimat wohl in der Regel bei Borussia und Tuisconia, für die protestantischen waren andere Verbindungstypen offenbar attraktiver. Bemerkenswert ist auch, dass jüdische Verbindungen in Königsberg erst nach 1900 entstanden und paritätische überhaupt nicht vorhanden waren. Dieser Befund könnte zu der Feststellung von Popp passen, dass der wachsende akademische Antisemitismus seit den 1880er Jahren, in dessen Kontext ja die Gründung des Königsberger VDSt gehört, an der Albertina nur wenig Resonanz fand33. Ganz ähnlich verhielt es sich offenbar auch in Bezug auf die katholische Minderheit: Aggressiv bekämpft wie etwa in Jena oder Hannover wurden die katholischen Verbindungen an der Albertina, so scheint es, nicht34. Letztlich existierte vor dem Ersten Weltkrieg in Königsberg nahezu das gesamte Spektrum des deutschen Verbindungswesens, mit, im Vergleich zu anderen preußischen Universitäten, drei charakteristischen Ausnahmen: Nicht vertreten

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E. Popp, Zur Geschichte des Königsberger Studententums (Anm. 5), 48 – 50 und 115. Ebd., 114 f.

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waren die farbentragenden Sängerschaften und die DL sowie der, ähnlich wie der Wingolf, christlich orientierte Schwarzburgbund. Wie bereits erwähnt, stellten auch in den Hochzeiten des Verbindungswesens die korporierten Studenten nicht unbedingt die Mehrheit in der Gesamtstudentenschaft. Dieser Befund zeigt sich auch an der Albertina: Im SS 1900 gehörten von 871 Studenten insgesamt etwa 390 einer Verbindung an, also knapp 45 %. Schlüsselt man die Zahlen nach Verbindungstypen auf, so fällt auf, dass die je vier Corps und Burschenschaften mit 63 bzw. 60 Aktiven insgesamt vergleichsweise schwach waren. Die beiden katholischen Verbindungen Borussia (33 Aktive) und Tuisconia (29 Aktive) konnten hier problemlos mithalten. Die stärkste Verbindung am Ort war mit 40 Aktiven der VDSt, ebenfalls stark waren der Akademische Gesangverein (20 Aktive) und die wissenschaftlich orientierten Vereine bzw. Verbindungen (zusammen 115 Aktive)35. Vor dem Hintergrund der realen Mehrheitsverhältnisse verwundert es nicht, dass immer wieder versucht wurde, das Potential der nicht korporierten Studenten, die traditionell „Kamele“, „Muli“ (= Esel) oder „Finken“ genannt wurden, insbesondere gegen die Corps und Burschenschaften zu mobilisieren und in Anknüpfung an bereits erwähnte ältere Traditionen einen Zusammenschluss aller Königsberger Studenten auf der Grundlage der Gleichberechtigung aller zu erreichen. Im WS 1884/85 wurde ein sogenannter Ausschuss gewählt36, der als eine Art Geschäftsführung der Königsberger Studentenschaft fungieren sollte. Beteiligt an diesem Projekt waren auch kleinere, v. a. nichtfarbentragende Studentenverbindungen, z. B. der VDSt. Allerdings scheiterte der Versuch bereits vier Jahre später am Widerstand einzelner Verbindungen und der Gleichgültigkeit der Nichtkorporierten. Einen gewissen Ersatz für die fehlende Gesamtorganisation stellte seit der Jahrhundertwende der sogenannte Palaestra-Convent dar: Bei der Palaestra37 handelte es sich um ein Gemeinschaftshaus für alle Königsberger Studenten, welches 1894 bis 1898 errichtet worden war; es gab dort Gemeinschaftsräume, Bibliotheken, Klubzimmer für jede Verbindung und umfassende Möglichkeiten, sich sportlich zu betätigen. Die Finanzmittel für diesen einzigartigen Bau hatte der Arzt und Gutsbesitzer Fritz Lange, Alter Herr der Burschenschaft Gothia (2), der von 1878 bis 1900 in den USA lebte, gespendet. Auch wenn sich die von US-amerikanischen Traditionen beeinflusste Idee einer egalitären akademischen Lebensgemeinschaft ohne Rücksicht auf Verbindungszugehörigkeit nicht realisieren ließ, vielmehr nach der Jahrhundertwende die meisten Verbindungen Konstanten oder eigene Häuser erwarben38, so machte die Nutzung der Palaestra doch eine Selbstverwaltung nötig, an der neben der Freien Studentenschaft alle Korporationen außer den Corps beteiligt waren39.

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Vgl. H.-G. Balder, Korporationsleben in Königsberg (Anm. 5), 209. Vgl. ebd., 196 und 202. 37 Vgl. E. Popp, Zur Geschichte des Königsberger Studententums (Anm. 5), 15 – 17. 38 Ebd., 138. 39 Vgl. H.-G. Balder, Korporationsleben in Königsberg (Anm. 5), 209 f. 36

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Eine zweite Welle von Verbindungsneugründungen können wir vor dem Hintergrund steigender Studentenzahlen nach dem Ersten Weltkrieg beobachten: 1921 wurde die bereits 1914 gegründete nichtfarbentragende Akademische Ruder-Verbindung in den Akademischen Ruderbund (ARB) aufgenommen; sie nahm 1927/29 den Namen Alania an. Bereits vor 1920 waren zwei neue katholische Verbindungen entstanden: 1916 die farbentragende Verbindung Katholischer Deutscher Studentinnen Adalberta, die dem Verband der Katholischen Deutschen Studentinnenvereine (VkdStV) angehörte, und 1919 die nichtfarbentragende neustudentische Studentinnenverbindung Hochland, die dem von der Jugendbewegung beeinflussten Hochland-Verband angehörte. 1925 wurde mit dem Bund deutscher Studentinnen Regiomontana eine weitere farbentragende Frauenverbindung gegründet, die sich dem rechtsgerichteten „Deutschen Verband akademischer Frauenvereine“ (DVAF) anschloss; 1927 kam noch die nichtfarbentragende Freie Katholische Studentinnenvereinigung Radegund hinzu und ca. 1931 der ebenfalls nichtfarbentragende zionistische Studentinnenverein Königsberg. Nach Kriegsende zogen auch die waffenstudentischen Verbände nach, die vor 1914 an der Albertina noch nicht vertreten gewesen waren: 1920 wurde die farbentragende Landsmannschaft Prussia gegründet, die sich der DL anschloss, 1921 die farbentragende Sängerschaft Altpreußen in der Deutschen Sängerschaft. Doch auch die katholischen Verbände legten nach: 1927 entstand durch Teilung der Borussia ein zweiter KV-Verein an der Albertina, der den Namen „Tannenberg“ annahm – ein Beleg dafür, dass die Grenzlandideologie nun auch bei den katholischen Verbänden Fuß gefasst hatte. Dies zeigen auch die erstmalige Gründung eines Mitgliedsvereins des nichtfarbentragenden katholischen UnitasVerbandes, ebenfalls 1927, der sich Unitas-Ostland nannte, und die Gründung der katholisch-neustudentischen Verbindung Deutschordensland im Hochland-Verband nach 1931. Der Grenzlandideologie war ebenfalls verpflichtet die 1928 gegründete farbentragende und nichtschlagende „Grenzlandverbindung Marienburg“, mit der der christliche Schwarzburgbund erstmals an der Albertina Fuß fasste. Außerdem kamen völlig neue Arten von Verbindungen auf, etwa der 1925 gegründete verbandsfreie farbentragende und nichtschlagende Akademische Verein Organum, dem vor allem Musikstudenten angehörten und der neben einem Männerbund auch einen eigenen Frauenbund umfasste, oder die 1927 gegründete farbentragende und schlagende Akademische Fliegerschaft Preußen, die dem seit 1924 bestehenden Akademischen Fliegerring beitrat. Neugründungen waren auch die farbentragenden Hochschulgilden Skuld (gegründet 1921) und Hermann Balk (gegründet 1928); erstere lehnte Alkohol und Tabak ab und gehörte dem Großdeutschen Gildenring an, letztere der Deutschen Gildenschaft, beides Verbände, die in der Tradition der Wandervogelbewegung standen, dem überkommenen Verbindungswesen kritisch gegenüber standen und stark rechtsgerichtet waren. In den Kontext des rechten Flügels der Jugendbewegung gehörten auch die im WS 1926/27 gegründete Akademische Freischar und der 1926 gegründete Wehrbund Harringa, der wie Skuld abstinent war. Der Grenzlandideologie besonders verpflichtet war die 1927 gegründete Grenzmannschaft Ostpreußen in der Deutschen Grenzmannschaft, die 1930 Farben annahm. Be-

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reits 1928 war an der Königsberger Handelshochschule die völkisch ausgerichtete, farbentragende und schlagende Wehrschaft Sugambria gegründet worden, die seit 1934 auch Studenten der Albertina aufnahm. Im WS 1929/30 konstituierte sich der bereits 1905 gegründete nicht korporative Akademische Sportklub Königsberg als nichtfarbentragende und nichtschlagende Verbindung, nahm einige Zeit später den Namen Curonia an und trat 1932 dem Verband der akademischen Sportverbindungen bei, aus dem er im WS 1933/34 wieder austrat. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich seit 1914 das Königsberger Verbindungswesen weiter pluralisierte; 1933 gab es an der Albertina 46 Verbindungen, 10 mehr als 20 Jahre zuvor, bemerkenswert ist vor allem die Zunahme der Frauenverbindungen. Analysiert man die Mitgliederzahlen der Königsberger Verbindungen in der Zeit der Weimarer Republik40, so stellt man fest, dass der Organisationsgrad im Vergleich zum Kaiserreich gestiegen war: Zählt man Aktive und Inaktive zusammen, waren im WS 1930/31 2214 Studierende, also gut zwei Drittel der Gesamtstudentenschaft Mitglied einer Verbindung. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass wahrscheinlich nicht alle Inaktiven am Ort waren, wird man davon ausgehen können, dass ca. die Hälfte der Königsberger Studenten einer Verbindung angehörten41. Differenziert man nach Einzelverbindungen bzw. Verbänden, fällt auf, dass zu den 10 größten Verbindungen der Albertina die vier Burschenschaften Alemannia (122 Aktive und Inaktive), Teutonia (102), Germania (100) und Gothia (95) gehörten, ferner die Landsmannschaft Marko-Natangia (90), die katholische Tuisconia (84), die Landsmannschaft Prussia (84), die Sängerschaft Altpreußen (78), der VDSt (78) und die Turnerschaft Markomannia (77); erst auf Platz 11 kommt mit Littuania (75) das erste Kösener Corps. Das heißt: Gewinner des Mitgliederzuwachses waren in erster Linie farbentragende Verbindungen, vor allem Burschenschaften, Landsmannschaften und Turnerschaften und – an einer mehrheitlich protestantischen Universität – die katholische Tuisconia sowie als einziger nichtfarbentragender Bund der VDSt. Erstaunlich ist, dass die nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Landsmannschaft Prussia und die Sängerschaft Altpreußen vorne liegen, diese waren offensichtlich für junge Studierende überproportional attraktiv. Bezieht man die Altherrenschaften in die Analyse ein, werden auch längerfristige Trends deutlich: Sieht man von dem kaum erforschten Akademischen Verein Organum ab, dessen 411 Mitglieder daher rühren, dass zum Königsberger Altherrenverband auch die Philister des Berliner Brudervereins gehörten, waren die zehn größten Königsberger Verbindungen die katholische Borussia (335), der VDSt (323), die Corps Littuania (317) und Masovia (313), die Burschenschaften Germania (291), Gothia (286), Teutonia (280) und Alemannia (222) sowie die Turnerschaft Markomannia (252) und die katholische Tuisconia (251). Das heißt: Auf der Gewinner40 Vgl. die von T. Thamm, Korporationsstudententum in Königsberg (Anm. 5), 169 f. recherchierten Zahlen für das WS 1930/31. 41 Vgl. ebd., 76. H.-G. Balder, Korporationsleben in Königsberg (Anm. 5), 261 nennt niedrigere Zahlen als Thamm und gibt für die späten 1920er Jahre einen Organisationsgrad von 26 % an, wobei nicht ganz klar ist, auf welche konkreten Daten er sich bezieht.

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seite sehen wir erneut die Burschenschaften, den VDSt, die Turnerschaft Markomannia und die katholischen Verbindungen, bei Littuania und Masovia wirkt sich nun die Tatsache aus, dass beide Corps sehr alt waren (1829 bzw. 1830 gegründet) und deshalb entsprechend größere Altherrenschaften besaßen. Unter dem Strich bestätigt sich aber auch hier die Tendenz, dass erstens, gemessen an den Mitgliederzahlen, die Bedeutung der Corps im waffenstudentischen Bereich abnahm und sich zweitens an der Albertina die katholischen Verbindungen und der VDSt als feste Größen etabliert hatten. Trotz dieser nicht zu leugnenden Blüte gab es auch unter bürgerlichen Studierenden Kritik am Verbindungswesen. So schrieb der spätere Bundesaußenminister Gerhard Schröder, der 1929 ein Semester in Königsberg Jura studierte und Keilgast bei der Burschenschaft Cheruscia, der Verbindung Albertia, der Akademischen Turnverbindung Ostmark und beim Corps Agronomia war, an seine Familie über seine Eindrücke von einem Besuch bei Agronomia: „Verkehrsgast möchte ich da gerne werden, aber aktiv? Sicher nicht, in den alten Formen ist’s überholt“ und teilte in einem späteren Brief mit: „Ich hab mir die Sache reiflich überlegt: Ich gebe dadurch, dass ich nicht aktiv werde, manches auf. Einen festen Kreis muß ich mir […] natürlich selbst schaffen, aber ich hab mir so eine akadem[ische] Freiheit bewahrt und länger als ein Semester werde ich hier wohl kaum bleiben.“42 Ganz offensichtlich war Schröder zu der Überzeugung gelangt, dass sich das Verbindungswesen, wie er es in Königsberg kennengelernt hatte, überlebt habe. Die Korporationen dominierten nach 1918 auch in Königsberg die neu entstandenen studentischen Selbstverwaltungsorgane, zumal es seither auch signifikant weniger Konflikte zwischen ihnen gab als vor dem Krieg. Anknüpfend an zahlreiche gescheiterte Versuche der Vorkriegszeit hatten 1919 in Würzburg die demokratisch legitimierten Vertreter aller lokalen Studentenvertretungen des Deutschen Reiches, Österreichs und des Sudetenlandes die „Deutsche Studentenschaft“ (DSt) als gemeinsames Dach gegründet43. Diese wurde von den Ländern und den Universitäten als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt. Erst vor dem Hintergrund des sich seit Mitte der 1920er Jahre vollziehenden Rechtsrucks in der Studentenschaft wurde diese Anerkennung zuerst von Preußen und dann den meisten anderen Ländern ab 1927 wieder rückgängig gemacht44. Die nicht korporativen Studentenvereinigungen – nach dem Ersten Weltkrieg bildeten sich auch zunehmend politische Gruppen –

42 Zitiert Nach Torsten Oppelland, Gerhard Schröder (1910 – 1989). Politik zwischen Staat, Partei und Konfession (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, 39), Düsseldorf 2002, 43. 43 Vgl. Harald Lönnecker, „Vorbild … für das kommende Reich“. Die Deutsche Studentenschaft (DSt) 1918 – 1933, in: GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte, Bd. 7, Köln 2004, 37 – 53. 44 Vgl. hierzu im Überblick etwa Matthias Stickler, Zwischen Reich und Republik. Zur Geschichte der studentischen Verbindungen in der Weimarer Republik, in: „Der Burschen Herrlichkeit“ (Anm. 4), 85 – 108.

Studentisches Verbindungswesen an der Universität Königsberg

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waren mehr oder weniger randständig45. Dies änderte sich mit dem 1926 gegründeten NS-Studentenbund, der nicht ohne Grund dezidiert nicht korporativ verfasst war und einen ideologisch fundierten Ausschließlichkeitsanspruch vertrat – bei Lichte besehen handelte es sich hierbei um den ersten Fall einer Studentenvereinigung „modernen“ Typs, die der Dominanz der Verbindungen etwas entgegensetzen konnte. Für die Albertina hat Thomas Thamm die Entwicklung des Verbindungswesens zwischen 1918 und 1945 eingehend untersucht46, an dieser auf der Basis gedruckter Quellen entstandenen grundlegenden Studie werden künftige archivgestützte Untersuchungen nicht vorbeigehen können. Thamm hat insbesondere den auch in Königsberg zu beobachtenden Konflikt zwischen einer sich immer mehr nach rechts entwickelnden Studentenschaft und den Institutionen des Weimarer Staates und das Unvermögen, der Korporationen, dem aufkommenden Nationalsozialismus etwas entgegenzusetzen, herausgearbeitet. Die jungen Verbindungsstudenten sahen in den Nationalsozialisten mehrheitlich keine Gegner47, was diesen die Möglichkeit eröffnete, sich der studentischen Verbindungen als Bündnispartner zu bedienen. Die NS-Herrschaft ab 193348 bedeutete für das überkommene Selbstverständnis der Studentenverbindungen insofern einen Bruch, als sich nun zeigte, dass die Nationalsozialisten ganz andere Vorstellungen vom universitären Leben hatten. In einer hierarchisch organisierten und weltanschaulich fundierten nationalsozialistischen „Führer-Universität“ hatten autonome Verbindungen bzw. ein pluralistisches System der studentischen Selbstorganisation keinen Platz mehr. Diese standen den Zielsetzungen der NS-Hochschulpolitik letztlich im Weg, wurden deshalb zunächst gleichgeschaltet und ab 1935 schließlich, sofern sie sich nicht selbst auflösten oder verboten wurden, in neue Organisationen, wie die NS-Kameradschaften, überführt. Die jüdischen Verbindungen und auch die Frauenverbindungen waren bereits 1933 zwangsaufgelöst worden. Diese Entwicklung vollzog sich analog auch an der Albertina, 1936 suspendierten als letzte waffenstudentische Verbindungen die Turnerschaft Markomannia und die Burschenschaften Teutonia und Germania. Die katholische Verbindung Borussia hielt sich noch bis 1938, deren Tochterverbindung Tannenberg soll illegal noch bis 1942 weiterexistiert haben49. Seit etwa 1942, als der ideologische Druck des NS-Regimes angesichts der Kriegslage immer mehr nachließ, kam es an einigen Universitäten, z. B. Würzburg, Leipzig, Tübingen und Bonn, zur Rekonstituierung früherer Verbindungen aus Kameradschaften heraus. Einen 45 In Königsberg existierten etwa die Hochschulgruppe der Deutschen Volkspartei, der Deutsche Demokratische Studentenbund, die Vereinigung republikanischer Studenten, die Sozialistische Studentengruppe, die Stahlhelm Studentengruppe und die Freiheitliche Studentenschaft; vgl. E. Popp, Zur Geschichte des Königsberger Studententums (Anm. 5), 209. 46 T. Thamm, Korporationsstudententum in Königsberg (Anm. 5). 47 Vgl. ebd., 103. 48 Vgl. Michael Grüttner, Die Korporationen und der Nationalsozialismus, in: „Der Burschen Herrlichkeit“ (Anm. 4), 125 – 143; ders., Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995. 49 T. Thamm, Korporationsstudententum in Königsberg (Anm. 5), 123 f., 136 und 151.

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solchen Fall gab es auch an der Albertina – die 1941 gegründete farbentragende „Freie schlagende Verbindung Daidalia“, die 1942 von der Altherrenschaft der Burschenschaft Gothia als neue Aktivitas übernommen wurde50. Wie solche Phänomene im Einzelnen zu beurteilen sind, ist unklar, hierzu bedarf es noch detaillierter Einzelforschungen, gerade auch für das Königsberger Beispiel. III. Fazit Der Beitrag verfolgte das Ziel, aufzuzeigen, dass Forschungen zur Geschichte des Verbindungswesens der Albertina ein wichtiger Beitrag für eine moderne Universitätsgeschichte sind. Nachdem jahrzehntelang die Quellenlage wegen des vermuteten weitgehenden Verlusts großer Teile des Universitätsarchivs der Albertina, und hierbei insbesondere der studentengeschichtlich relevanten Bestände, überschaubar war, hat sich mit der Wiederentdeckung der in Allenstein befindlichen Akten eine neue Situation ergeben; auch eingehendere Recherchen in den Berliner Beständen dürften erfolgversprechend sein. Vor diesem Hintergrund ist zu hoffen, dass der vorliegende Beitrag weitergehende archivbasierte Untersuchungen zur Königsberger Studentengeschichte anregt.

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Ebd., 127 f. und 138.

„Dem deutschen Vaterland und der Deutschen Burschenschaft zu dienen sind Selbstverständlichkeiten, die keiner besonderen Erwähnung bedürfen!“ Archivare, Bibliothekare und eine Standesorganisation Von Harald Lönnecker, Koblenz/Chemnitz Eine Geschichte der archivischen Fachverbände fehlt ebenso wie eine Monographie über die Archivtage1. Näher beleuchtet wurde – fast ist man geneigt zu sagen: selbstverständlich – bisher nur die Zeit des Nationalsozialismus2. Die Geschichte der Institutionen, der Archive wie der Verbände, zu denen sich Archivare zusammenschlossen, geriet nicht oder kaum ins Blickfeld3. Hier will der vorliegende Beitrag einen Baustein liefern. I. Studenten – Verbindungen – Burschenschaft In der Studentenschaft vereinen sich Aspekte einer juristisch, kulturell und gesellschaftlich relativ geschlossenen Gruppe: Zunächst ist das Studententum eine zeitlich begrenzte Phase im Leben junger Erwachsener, die ein ausgeprägtes, studentische Traditionen weitergebendes Gruppenbewußtsein aufweisen und daher 1 Zuletzt bemängelte dies Wilfried Reininghaus, Archivgeschichte. Umrisse einer untergründigen Disziplin, in: Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 61/4 (2008), 352 – 360, hier 355; zur Nachkriegsgeschichte des Vereins Deutscher Archivare (VDA) liegt vor Diether Degreif/Peter Dohms (Red.), 50 Jahre Verein Deutscher Archivare. Bilanz und Perspektiven des Archivwesens in Deutschland (Der Archivar, Beibd. 2), Siegburg 1998. 2 S. etwa Robert Kretzschmar/Astrid M. Eckert/Heiner Schmitt/Dieter Speck/Klaus Wisotzky (Red.), Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag in Stuttgart (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag, 10), Essen 2007. 3 Grundsätzlich und nach wie vor unverzichtbar zur Archivgeschichte als Geschichte von Institutionen, Beständen und Personen Adolf Brenneke, Grundzüge einer allgemeinen Archivgeschichte, in: ders., Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäischen Archivwesens, Leipzig 1953 (ND 1988), 105 – 436; der Autor gehörte der Burschenschaft Brunsviga Göttingen an; Harald Lönnecker, „Das Thema war und blieb ohne ParallelErscheinung in der deutschen Geschichtsforschung“. Die Burschenschaftliche Historische Kommission (BHK) und die Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung e. V. (GfbG) (1898/1909 – 2009). Eine Personen-, Institutions- und Wissenschaftsgeschichte (Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert [künftig zit.: DuQ], 18), Heidelberg 2009, 98, 184.

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wenig soziale Kontakte zu anderen Schichten pflegen. Studenten sind familiärer Sorgen weitgehend ledig, auf Grund des deutschen, wissenschaftlichen und nicht erzieherischen Studiensystems in ihrem Tun und Lassen ausgesprochen unabhängig und wegen ihrer vorrangig geistigen Beschäftigung wenig auf vorhandene Denkmodelle fixiert. Besonderen Nachdruck verleihen studentischem Engagement die berufliche, soziale und finanzielle Ungewißheit, der instabile Sozialstatus: Studenten sind noch nicht gesellschaftlich integriert und stehen daher auch Kompromissen weitgehend ablehnend gegenüber. In ihren politischen Ideen und Idealen neigen Studenten deshalb zum Rigorismus. Daraus resultiert, Gegner zu bekehren, oder, wenn das nicht möglich ist, sie niederzukämpfen oder zu vernichten. Zudem: Bis weit in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein begriffen die Gesellschaft wie die Studenten sich selbst als Elite, die als Akademiker die führenden Positionen des öffentlichen Lebens einnehmen würden, woraus letztlich das für eine Avantgarderolle unerläßliche Selbstbewußtsein entstand. Damit einher ging eine anhaltende Überschätzung der eigenen Rolle, aber auch eine Seismographenfunktion gesellschaftlicher Veränderungen. Mehr noch, studentische Organisationen, die akademischen Vereine und Verbindungen, hatten für die politische Kultur des bürgerlichen Deutschland von jeher eine Leitfunktion, spiegeln die Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens und sind mit den Problemen der einzelnen politischgesellschaftlichen Kräfte und Gruppen verzahnt4. 4

Harald Lönnecker, Quellen und Forschungen zur Geschichte der Korporationen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Ein Archiv- und Literaturbericht, in: „Klassische Universität“ und „akademische Provinz“. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Matthias Steinbach/Stefan Gerber, Jena 2005, 401 – 437, hier 402; ders., „In Leipzig angekommen, als Füchslein aufgenommen“ – Verbindungen und Vereine an der Universität Leipzig im langen 19. Jahrhundert, in: Die Matrikel der Universität Leipzig, Teilbd. II: Die Jahre 1833 bis 1863, hrsg. v. Jens Blecher/ Gerald Wiemers, Weimar 2007, 13 – 48, hier 14 – 16; ders., „Ehre, Freiheit, Männersang!“ – Die deutschen akademischen Sänger Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert, in: Chorgesang als Medium von Interkulturalität: Formen, Kanäle, Diskurse (Berichte des interkulturellen Forschungsprojektes „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“, 3), hrsg. v. Erik Fischer, Stuttgart 2007, 99 – 148, hier 99 f.; ders., Zwischen Völkerschlacht und Erstem Weltkrieg – Verbindungen und Vereine an der Universität Leipzig im 19. Jahrhundert (Jahresgabe der Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung e. V. (GfbG) 2007), Koblenz 2008, 8 – 11; ders., „… freiwillig nimmer von hier zu weichen …“. Die Prager deutsche Studentenschaft 1867 – 1945, Bd. 1 (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen [künftig zit.: ASH], 16), Köln 2008, 18 f.; ders.: Studenten und Gesellschaft, Studenten in der Gesellschaft – Versuch eines Überblicks seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Universität im öffentlichen Raum (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte [künftig zit.: VGUW], 10), hrsg. v. Rainer Christoph Schwinges, Basel 2008, 387 – 438, hier 392 – 396; ders., „Goldenes Leben im Gesang!“ – Gründung und Entwicklung deutscher akademischer Gesangvereine an den Universitäten des Ostseeraums im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Universität und Musik im Ostseeraum (Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft, 17), hrsg. v. Ekkehard Ochs/Peter Tenhaef/Walter Werbeck/ Lutz Winkler, Berlin 2009, 139 – 186, hier 140 f.; ders., Peregrinatio Academica. Beispiele nordwestdeutscher Bildungsmigration nach Halle, Jena und Göttingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 81 (2009), 271 – 296, hier 273 f.; ders., Deutsche studentische Zusammenschlüsse in Ostmitteleuropa zwischen

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Seit Beginn der mitteleuropäischen Universitätsgründungen im 14. Jahrhundert schlossen sich deutsche Studenten an der Hochschule zusammen5. Diese Zusammenschlüsse, die akademischen Verbindungen oder Korporationen, sind keine rein kulturelle Besonderheit der deutschsprachigen Hochschulen, sondern beruhen auf einer besonderen Entwicklung. Sie war seit dem späten Mittelalter durch den modus des freien Wohnens, Studierens und Lebens der Studenten und nicht zuletzt durch Territorialisierung geprägt, die ihren Ausdruck in den Staat und Kirche mit akademisch gebildeten Juristen und Klerikern versorgenden „Landesuniversitäten“ fand. Dies galt nach der Reformation jedoch nicht mehr für die katholisch gebliebenen oder neugegründeten Universitäten, wo Studium und Studenten einem mehr oder weniger strengen Reglement unterworfen wurden. Auf den nicht-katholischen Hochschulen entwickelte sich im 18. Jahrhundert, gebrochen durch die studentische, selbstdisziplinierend und verantwortungsethisch wirkende Reformbewegung ab etwa 1750, der Typus der Korporation, der für das 19. und 20. Jahrhundert bestimmend wurde. Sie war Integrations-, Symbol-, Ritual-, Hierarchisierungs-, Werte- und Weltanschauungs- sowie Lebensbundgemeinschaft. Da die neuhumanistische Universität Humboldts die selbständige geistige und sittliche Entwicklung des Studenten propagierte und das jugendliche Gemeinschaftsbedürfnis ignorierte, 1800 und 1920: Grundlagen – Quellen – Forschungen – Literatur, in: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 17 (2009 [2010]), 185 – 214, hier 186 f.; ders., „… der deutschen Studentenschaft und unserem Rechtsleben manchen Anstoß geben“ – Zwischen Verein und Verbindung, Selbsthilfeorganisation und Studienvereinigung. Juristische Zusammenschlüsse an deutschen Hochschulen ca. 1870 – 1918 (Rostocker Rechtsgeschichtliche Reihe, 13), Aachen 2013, 20 f.; ders., „Turner-Führer“ – Akademische Turnvereinigungen in Münster und ihre Vorstellungen von gesellschaftlicher Elite vom 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik, in: Westfälische Forschungen 63 (2013), 37 – 56, hier 40; ders., „… harmonische und tolerante Zusammenarbeit“? Das Czernowitzer Studentenvereinswesen 1875 – 1914, in: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 21 (2013), 269 – 317, hier 276; ders., „… der zu Recht bevorzugte unsichtbare Kreis, der sich nur den unsrigen erschließt“ – Studentische Korporationen zwischen Elitedenken und den Selbstverständlichkeiten der Zugehörigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Geheime Eliten? (Bensheimer Forschungen zur Personalgeschichte, 1), hrsg. v. Volkhard Huth, Frankfurt a. M. 2014, 183 – 203, hier 184 – 186; ders., „… am griechischen Kampf für die Freiheit“ beteiligt – deutsche Studenten und Griechenland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte (künftig zit.: GDS-A) 10 (2014), 47 – 70, hier 49; jeweils mit weiteren Nachweisen. 5 Hierzu u. im folgenden Harald Lönnecker, „… gilt es, das Jubelfest unserer Alma mater festlich zu begehen …“ – Die studentische Teilnahme und Überlieferung zu Universitätsjubiläen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Universitäten und Jubiläen. Vom Nutzen historischer Archive (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Leipzig, 4), hrsg. v. Jens Blecher/Gerald Wiemers, Leipzig 2004, 129 – 175, hier 132 f.; ders., Quellen und Forschungen (Anm. 4), 403 f.; ders., „In Leipzig angekommen“ (Anm. 4), 15; ders., Zwischen Völkerschlacht (Anm. 4), 11 f.; ders., Studenten und Gesellschaft (Anm. 4), 396 – 398; ders., Peregrinatio Academica (Anm. 4), 273 f.; ders., Zusammenschlüsse (Anm. 4), 187 f.; ders., „… der deutschen Studentenschaft“ (Anm. 4), 21; ders., „Turner-Führer“ (Anm. 4), 41 f.; ders., Czernowitzer Studentenvereinswesen (Anm. 4), 276 f.; ders., „… der zu Recht bevorzugte“ (Anm. 4), 186 f.; ders., „… am griechischen Kampf“ (Anm. 4), 50.

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bildete, aber nicht erzog, bot sich diesem Typus ein weites Feld von Ansprüchen, die er sich zu eigen machte und auszufüllen suchte. Verbindung war daher auch ein Bildungsinstrument und -element, das nach eigenem Verständnis eine Lücke als Korrektiv der akademischen Freiheit ausfüllte und im Rahmen einer innerkorporativen Charakterbildung die wissenschaftlich-berufliche Ausbildung der Universität abzurunden versuchte, zugleich aber auch die Erziehung für die Zugehörigkeit zur Oberschicht der deutschen Gesellschaft bezweckte. In einem Satz: „Die Universitäten unterrichteten, die Verbindungen erzogen.“6 Die studentischen Vereinigungen differenzierten sich immer mehr aus. Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts beherrschten Landsmannschaften und Orden die Studentenschaft. Sie stellten einen älteren Korporationstyp dar, korporativ-regionalistisch mit unpolitischer, geselliger Orientierung oder standen unter aufklärerisch-freimaurerischem Einfluß. Ihnen trat ab 1815 die Burschenschaft entgegen, ein neuer, assoziativ-nationaler Organisationstypus mit außeruniversitärer Orientierung an Nation und bürgerlicher Freiheit. „Burschenschaft“ bedeutete zuvor nicht mehr als „Studentenschaft“, erst ab diesem Zeitpunkt begann es einen bestimmten Korporationstypus zu bezeichnen, der sich selbst zunächst nicht als solcher verstand, sondern als Gesamtverband der organisierten Studierenden. Dieser Anspruch wurde bis um 1840 aufrechterhalten7.

6 Zusammenfassend u. mit weiteren Nachweisen Harald Lönnecker, „… nur den Eingeweihten bekannt und für Außenseiter oft nicht recht verständlich“. Studentische Verbindungen und Vereine in Göttingen, Braunschweig und Hannover im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 82 (2010), 133 – 162, hier 137; ders., Quellen und Forschungen (Anm. 4), 404 f.; ders., „In Leipzig angekommen“ (Anm. 4), 15 f.; ders., Studenten und Gesellschaft (Anm. 4), 399 f.; ders., Peregrinatio Academica (Anm. 4), 274; ders., Zusammenschlüsse (Anm. 4), 188; vgl. ders., Prager deutsche Studentenschaft (Anm. 4), 17 – 19; ders., „… gilt es, das Jubelfest“ (Anm. 5), 134 f. 7 Hierzu u. im folgenden H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 2 – 5; ders., Profil und Bedeutung der Burschenschaften in Baden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Von der Spätaufklärung zur Badischen Revolution – Literarisches Leben in Baden zwischen 1800 und 1850 (Literarisches Leben im deutschen Südwesten von der Aufklärung bis zur Moderne. Ein Grundriss, II), hrsg. v. Achim Aurnhammer/Wilhelm Kühlmann/Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2010, 127 – 157, hier 129 – 133; ders., Robert Blum und die Burschenschaft, in: Bundesarchiv (Hrsg.), „Für Freiheit und Fortschritt gab ich alles hin.“ Robert Blum (1807 – 1848). Visionär – Demokrat – Revolutionär, bearb. v. Martina Jesse/ Wolfgang Michalka, Berlin 2006, 113 – 121, hier 113; ders., Rebellen, Rabauken, Romantiker. Schwarz-Rot-Gold und die deutschen Burschenschaften, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Bonn (Hrsg.), Flagge zeigen? Die Deutschen und ihre Nationalsymbole [Ausstellungskatalog], Bielefeld/Leipzig 2008, 27 – 33; ders., „… der deutschen Studentenschaft“ (Anm. 4), 22 f.; ders., „Turner-Führer“ (Anm. 4), 42 – 44; ders., Czernowitzer Studentenvereinswesen (Anm. 4), 277 f.; ders., „… am griechischen Kampf“ (Anm. 4), 50 f.; die ältere Literatur: ders., „Unzufriedenheit mit den bestehenden Regierungen unter dem Volke zu verbreiten“. Politische Lieder der Burschenschaften aus der Zeit zwischen 1820 und 1850, in: Lied und populäre Kultur. Song and Popular Culture (Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs Freiburg i. Br., 48/2003), hrsg. v. Max Matter/Nils Grosch, Münster/New York/München/Berlin 2004, 85 – 131, hier 85 f.

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Die Burschenschaft wurzelte in den Freiheitskriegen, stand unter dem Einfluß von Friedrich Ludwig Jahn, Ernst Moritz Arndt und Johann Gottlieb Fichte, war geprägt durch eine idealistische Volkstumslehre, christliche Erweckung und patriotische Freiheitsliebe. Diese antinapoleonische Nationalbewegung deutscher Studenten war politische Jugendbewegung – die erste in Europa – und die erste gesamtnationale Organisation des deutschen Bürgertums, deren schwarz-rot-goldene Farben zu den deutschen wurden, die 1817 mit dem Wartburgfest die erste gesamtdeutsche Feier ausrichtete – wo mit den „Beschlüssen des 18. Oktober“ erstmals in Deutschland Grund- und Freiheitsrechte formuliert wurden – und die mit rund 3.000 Mitgliedern 1818/19 etwa ein Drittel der Studentenschaft des Deutschen Bundes umfaßte. Die zur nationalen Militanz neigende Burschenschaft, zu einem Gutteil hervorgegangen aus dem Lützowschen Freikorps, setzte ihr nationales Engagement in neue soziale Lebensformen um, die das Studentenleben von Grund auf reformierten. Aber nicht nur das: Die Studenten begriffen die Freiheitskriege gegen Napoleon als einen Zusammenhang von innerer Reform, innenpolitischem Freiheitsprogramm und Sieg über die Fremdherrschaft. Nationale Einheit und Freiheit wurden propagiert, Mannhaftigkeit und Kampfbereitschaft für das deutsche Vaterland. Dem Wartburgfest, der Gründung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft 1818 als erster deutscher überregionaler bürgerlicher Organisation und der Ermordung August von Kotzebues (1761 – 1819) durch den Burschenschafter Carl Ludwig Sand (1795 – 1820) folgten 1819 die Karlsbader Beschlüsse und die Unterdrückung der Burschenschaft. Sie wurde zu einer sich mehr und mehr radikalisierenden Bewegung an den deutschen Hochschulen, die bald mehr, bald weniger offiziell bestand. War in der Urburschenschaft neben der Sicherung des Volkstums nach außen die „Erziehung zum christlichen Studenten“ für den Innenbereich bestimmend gewesen und der Zusammenhang von Wartburg, Luther und Reformation 1817 mehr als deutlich geworden, so ließ der Frankfurter Burschentag 1831 die Forderung nach „christlich-deutscher Ausbildung“ zu Gunsten einer zunehmenden Politisierung endgültig fallen. Der Stuttgarter Burschentag faßte im Dezember 1832 einen Beschluß zur Tolerierung und Förderung revolutionärer Gewalt zum Zweck der Überwindung der inneren Zersplitterung Deutschlands. Das mündete in die Beteiligung am Hambacher Fest und am Preß- und Vaterlandsverein – der erste Versuch einer politischen Partei in Deutschland – sowie in den Frankfurter Wachensturm vom 3./4. April 1833, an dem vor allem Heidelberger, Erlanger, Würzburger und Münchner Burschenschafter beteiligt waren, und löste eine neue Welle der Verfolgungen durch die eigens eingerichtete Bundeszentralbehörde in Frankfurt a. M. bis in die vierziger Jahre hinein aus, die der älteren burschenschaftlichen Bewegung das Rückgrat brach und den Wiederaufstieg alter Korporationstypen –

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der Corps – und den Aufstieg neuer – etwa der jüngeren Landsmannschaften und Fach- und konfessionellen Vereinen und Verbindungen – ermöglichte8. Die Burschenschaft der späten 1820er und der 1830er Jahre wandelte sich zusehends. Einmal nahm der Verfolgungsdruck nach dem Frankfurter Wachensturm nochmals stark zu. Dazu veränderte sich das geistige Klima in einer sich herausbildenden bürgerlichen Öffentlichkeit, neue intellektuelle und literarische Strömungen wie die der Junghegelianer – hier war Arnold Ruge (1802 – 1880) führend, Burschenschafter in Halle, Jena und Heidelberg9 –, des „Jungen Deutschland“ – den Begriff prägte der Kieler und Bonner Burschenschafter Ludolf Christian Wienbarg (1802 – 1872)10 – und der französischen utopischen Sozialisten kamen auf, begleitet von einer fortschreitenden Industrialisierung und tiefgreifenden gesellschaftlichsozialen Umbrüchen. Der anhaltende Akademikerüberschuß der dreißiger und vierziger Jahre machte ein Studium zum Risiko. Oft war auf Jahre keine Anstellung in Staat und Kirche in Aussicht, was viele Studenten wiederum für die sozialen Probleme der Zeit sensibilisierte. Ausdruck fand dies im „Progreß“, einer in unterschiedlichen Ausprägungen auftretenden burschenschaftlichen Reform- und Erneuerungsbewegung11. Der Einfluß der Burschenschaft auf das nationale Bewußtsein der Deutschen, ihren Einheits- und Freiheitswillen, ist überhaupt nicht hoch genug zu veranschlagen, vielfach haben die Burschenschaften dieses Bewußtsein erst geschaffen, machten es „Vom Elitebewußtein zur Massenbewegung“12: viele der führenden Liberalen des Vormärz’ und weit darüber hinaus waren Burschenschafter13 und in 8 H. Lönnecker, Studenten und Gesellschaft (Anm. 4), 405 – 407; ders., „In Leipzig angekommen“ (Anm. 4), 15 – 18; ders., Zusammenschlüsse (Anm. 4), 190; ders., „… der deutschen Studentenschaft“ (Anm. 4), 23; ders., „… am griechischen Kampf“ (Anm. 4), 52; ders., „… nur den Eingeweihten bekannt“ (Anm. 6), 141; ders., Robert Blum (Anm. 7), 113; ders., „Unzufriedenheit“ (Anm. 7), 86 – 88; zu konfessionellen Verbindungen und Vereinen zuletzt zusammenfassend ders., „Demut und Stolz, … Glaube und Kampfessinn“. Die konfessionell gebundenen Studentenverbindungen – protestantische, katholische, jüdische, in: Universität, Religion und Kirchen (VGUW, 11), hrsg. v. Rainer Christoph Schwinges, Basel 2011, 479 – 540. 9 Bundesarchiv, Koblenz, DB 9: Deutsche Burschenschaft, (1726)1815–ca. 1960 (künftig zit.: BAK, DB 9), M. Burschenschafterlisten, Ruge, Arnold; Helge Dvorak, Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft, Bd. I: Politiker, Teilbd. 1 – 8, Heidelberg 1996 – 2014, hier I/5, 143 – 145. 10 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Wienbarg, Ludolf Christian; Dvorak, Lexikon (Anm. 9) I/6, 297 – 300. 11 H. Lönnecker, „In Leipzig angekommen“ (Anm. 4), 26 f.; ders., Zwischen Völkerschlacht (Anm. 4), 38 f.; ders., Peregrinatio Academica (Anm. 4), 291 f.; ders., Burschenschaften in Baden (Anm. 7), 131 f.; ders., Robert Blum (Anm. 7), 116. 12 Wolfgang Hardtwig, Vom Elitebewußtein zur Massenbewegung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland 1500 – 1840, in: ders., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500 – 1914. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1994, 34 – 54, hier 47 ff. 13 Zahlreiche Beispiele in H. Dvorak, Lexikon (Anm. 9); Peter Kaupp (Hrsg.), Burschenschafter in der Paulskirche. Aus Anlaß der 150. Wiederkehr der Frankfurter Nationalver-

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der Revolution von 1848/49 spielte die Burschenschaft noch einmal eine wichtige Rolle14. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entpolitisierten sich die Burschenschaften zumindest äußerlich und näherten sich bei aller gegenteiligen Rhetorik immer mehr dem traditionellen, vor allem von den Corps repräsentierten Korporationstypus mit eher gesellschaftlich-sozialem Schwerpunkt an, der nach 1850 und endgültig nach der Reichsgründung 1871 bestimmend wurde15. Die Zugehörigkeit zu einer studentischen Korporation war für zahlreiche Akademiker und viele führende Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts ein konstitutives Element ihres späteren Lebens, das nicht überschätzt, keinesfalls aber auch unterschätzt werden sollte16. Teilweise kannte man sich schon „aus der Schulzeit am selben Gymnasium, teilweise im selben Jahrgang“. Viele waren „miteinander vertraut […] Sie festigten dies Verhältnis durch Zugehörigkeit zur gleichen Burschenschaft oder pflegten, wenn sie an verschiedenen Orten studierten, untereinander brieflich zu verkehren und sich gegenseitig zu besuchen. Sie erweiterten den Kreis ihrer Freunde und Gleichgesinnten durch gemeinsame burschenschaftliche Aktivität und durch den Wechsel der Universitäten und die damit verbundene Mitwirkung im neuen bur-

sammlung 1848/49 im Auftrag der Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung (GfbG), o. O. (Dieburg) 1999; s. a. Egbert Weiß, Corpsstudenten in der Paulskirche (Einst und Jetzt. Jahrbuch des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung [künftig zit.: EuJ], Sonderheft 1990), München 1990; Heinrich Best/Wilhelm Weege, Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 8), Düsseldorf 1996, erwähnen entsprechende Zugehörigkeiten zuweilen, wissen sie aber nicht einzuordnen. 14 H. Dvorak, Lexikon (Anm. 9); P. Kaupp, Burschenschafter (Anm. 13); zusammenfassend zuletzt: Björn Thomann, Die Rolle der Burschenschaften in Jena, Bonn und Breslau in der Revolution 1848/49, in: 200 Jahre burschenschaftliche Geschichte. Von Friedrich Ludwig Jahn zum Linzer Burschenschafterturm (DuQ, 16), hrsg. v. Günter Cerwinka/ Peter Kaupp/ Harald Lönnecker/Klaus Oldenhage, Heidelberg 2008, 312 – 401; ders., „Das politische Gewissen der deutschen Burschenschaft“ – Geschichte und Gesichter der Breslauer Raczeks in Vormärz und Revolution, in: „… ein großes Ganzes …, wenn auch verschieden in seinen Teilen“ – Beiträge zur Geschichte der Burschenschaft (DuQ, 19), hrsg. v. Helma Brunck/ Harald Lönnecker/Klaus Oldenhage, Heidelberg 2012, 147 – 428. 15 H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 1), 4 f.; ders., „… am griechischen Kampf“ (Anm. 4), 53; grundlegend Manfred Studier, Der Corpsstudent als Idealbild der Wilhelminischen Ära. Untersuchungen zum Zeitgeist 1888 bis 1914 (ASH, 3), Schernfeld 1990; Silke Möller, Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“. Studentische Sozialisation im Deutschen Kaiserreich 1871 – 1914 (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, 4), Stuttgart 2001, 109 f. 16 Vgl. H. Lönnecker, Robert Blum (Anm. 7); beispielhaft: ders., „… die Zugehörigkeit ist von größter Bedeutung für die Hochschul-Laufbahn“ – Mitgliedschaft in studentischen Verbindungen und Vereinen als Qualifikationsmerkmal für die Berufung von Professoren, in: Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas (VGUW, 12), hrsg. v. Christian Hesse/Rainer Christoph Schwinges, Basel 2012, 257 – 284.

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schenschaftlichen Umfeld. So bildete sich ein Netzwerk der Kommunikation und Nahverhältnisse, in das viele einbezogen waren.“17

Das Aufnahmebegehren – man mußte kooptiert werden – war einmal ein politisch-weltanschauliches Bekenntnis zu einer Gesinnungsgemeinschaft. Ebenso wichtig war zum anderen der Anteil des „ursprü[n]gliche[n], meist durch emphatische Freundschaft bestimmte[n] Beziehungsgefüge[s] einer Studentenverbindung“, der allerdings kaum meßbar ist. Prägend ist auf jeden Fall diese Doppelung, „bezogen auf die Verbindung als einer Gemeinschaft mit verbindlichen Idealen und Werten und auf deren Mitglieder, die meist untereinander als enge Freunde verbunden waren“18. Deutlich wird das Beziehungsgeflecht einer bürgerlichen Elite, die durch gemeinsame edukative Sozialisation geprägt ist. Im Gegensatz zum ausgehenden 18. Jahrhundert und den zeitgleich sich etablierenden Corps und jüngeren Landsmannschaften erfolgte die gesellschaftliche Verflechtung in der Burschenschaft aber nicht nur sozial, durch gemeinsame Identität und Mentalität, sondern auch kulturell, zivilisatorisch und politisch, durch eine gemeinsame Zielvorgabe, einen ideologischen Gleichklang. Zur weiteren Verdichtung trugen gemeinsame Weltbilder, Interessen, Zukunftsentwürfe und identische Kommunikationsmuster bei sowie das Bewußtsein, das Moment der Geschichte auf seiner Seite zu haben. Man empfand sich gegenseitig als glaubwürdig und authentisch, woraus wiederum Zusammenarbeit, Verständnis, Affinität, Vertrautheit und Freundschaft entstand bzw. entstehen konnte. Übereinandergelegt und quer über Dritte und Vierte verbunden, ergaben die vielen verschiedenen Linien ein Netz, das seine Belastbarkeit und Dauerhaftigkeit immer wieder bewies. Mentale Nähe nivellierte noch nach Jahren die geographische Distanz und wurde politik- oder sonst wirkungsmächtig, erhielt politische, gesellschaftliche oder ökonomische Relevanz, auch dort, wo man es nicht vermuten würde19. II. Ein Forschungs- und Beziehungsnetz War die historische Wirkmächtigkeit der Burschenschaft unbestritten, so gab es jedoch am Ende des 19. Jahrhunderts jenseits der Broschüren- und Festschriftenli-

17

Kurt Selle, Oppositionelle Burschenschafter aus dem Lande Braunschweig in der Zeit von 1820 bis 1848, in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 80 (1999), 101 – 141, hier 139 f. 18 Severin Roeseling, Burschenehre und Bürgerrecht. Die Geschichte der Heidelberger Burschenschaft von 1824 bis 1834 (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, 12), Heidelberg 1999, 147. 19 H. Lönnecker, „… der deutschen Studentenschaft“ (Anm. 4), 431 f.; ders., „… der zu Recht bevorzugte“ (Anm. 4), 188 f.; ders., „… am griechischen Kampf“ (Anm. 4), 53 f.; ders., „… nur den Eingeweihten bekannt“ (Anm. 6), 160 f.; ders., Burschenschaften in Baden (Anm. 7), 145.

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teratur kaum ernstzunehmende Forschung zu ihrer Geschichte20, noch eine Institution, die sich dieser annahm. Nach dem Muster der historischen Landeskommissionen entstand daher mit verschiedenen Vorläufern ab etwa 1885 am 13. April 1909 die Burschenschaftliche Historische Kommission (BHK), die heutige Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung e. V. (GfbG)21. Die Gründer waren fast alle Fachhistoriker, darunter der Generaldirektor der preußischen Staatsarchive, Prof. Dr. Reinhold Koser (1852 – 1914), ein „überaus begeisterte[r] Burschenschafter“, der u. a. das Bundeslied seiner Burschenschaft Silesia Wien dichtete. Seit 1898 war Koser Historiograph des preußischen Staates, mithin Nachfolger des Burschenschafters Heinrich von Treitschke in dieser Funktion22. Beteiligt war auch sein Doktorand Friedrich Meinecke (1862 – 1954), Mitglied der Burschenschaft Saravia Berlin, zunächst Archivar, dann Professor in Straßburg, Freiburg i. Br. und Berlin, Begründer der politischen Ideengeschichte, einer der wichtigsten Vertreter der Geistesgeschichte, 1948 erster Rektor der Freien Universität Berlin, deren Historisches Institut nach ihm benannt ist23. Dabei war auch der an der Wiener Universität lehrende Heinrich von Srbik (1878 – 1951), Alter Herr der Burschenschaft Gothia Wien, Exponent einer großdeutschen Geschichtsauffassung, dessen monumentale Metternich-Biographie heute nach wie vor ein Standardwerk zum Thema ist24. Neben zahlreichen weiteren Bibliothekaren und Archivaren war Hauptgründer, Vorsitzender und wichtigster Mann der BHK der kommende Altmeister der burschenschaftlichen Geschichtsforschung, der Direktor der Universitätsbibliothek Gießen, Geheimer Hofrat Prof. Dr. Herman Haupt (1854 – 1935), Mitglied der Burschenschaft Arminia Würzburg, Ehrenmitglied der Burschenschaften Germania und Frankonia Gießen sowie Saxonia Hannoversch Münden25. Da Literatur und Quellen für die Erforschung der burschenschaftlichen Geschichte nur unter größten Schwierigkeiten zu beschaffen waren, hatte sich seit etwa 1890 und verstärkt seit 1904/05 ein Netzwerk von Archivaren und Bibliothe20 Als Überblick zuletzt: H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), S. 338 und öfter; Klaus Oldenhage (Hrsg.), 200 Jahre burschenschaftliche Geschichtsforschung – 100 Jahre GfbG – Bilanz und Würdigung. Feier des 100-jährigen Bestehens der Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung e. V. (GfbG) am 3. und 4. Oktober 2009 in Heidelberg. Vorträge des Kolloquiums (Jahresgabe der Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung e. V. (GfbG) 2009), Koblenz 2009. 21 H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3); ders., „… welfischen Umtrieben vorzubeugen“ – Die Burschenschaftliche Historische Kommission und die Gründung der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 1909/10, in: GDS-A 9 (2011), 99 – 112. 22 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Koser, Reinhold; H. Lönnecker, BHK/ GfbG (Anm. 3), 38 f., 42 f.; ders., „… welfischen Umtrieben“ (Anm. 21), 100. 23 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Meinecke, Friedrich; H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 41; ders., „… welfischen Umtrieben“ (Anm. 21), 101. 24 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Srbik, Heinrich von; H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 55 f.; ders., „… welfischen Umtrieben“ (Anm. 21), 101. 25 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Haupt, Herman; H. Lönnecker, BHK/ GfbG (Anm. 3), 11 – 21 und öfter; ders., „… welfischen Umtrieben“ (Anm. 21), 100 f.

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karen herausgebildet, die Haupt in Gießen zuarbeiteten und auch untereinander vernetzt waren26. Persönliche Nähe, Freundschafts- und Vertrauensverhältnisse entstanden durch die Zugehörigkeit zur Burschenschaft und waren vielfach ein Anknüpfungspunkt27. Ein eifriger Zulieferer wurde so Dr. Pius Dirr (Arminia München), 1903 Direktor des Stadtarchivs Augsburg, 1917 in gleicher Position am Münchner Stadtarchiv, zugleich Mitglied der Kommission für bayerische Landesgeschichte, bekannter jedoch als bayerisches Landtagsmitglied28. Die Stadtarchivare der Hansestädte Hamburg und Bremen, Anton Hagedorn (Bubenruthia Erlangen)29 und Wilhelm von Bippen (Alemannia Bonn)30, trugen bei und es arbeitete Staatsarchivar Dr. Max Bär (Germania Leipzig) mit, seit 1897 Leiter des Staatsarchivs Osnabrück, 1901 Gründungs-Direktor des Staatsarchivs Danzig, von 1912 bis 1921 Direktor des Staatsarchivs Koblenz. Sein „Leitfaden für Archivbenutzer“ (1896) wies ihn als Kenner aus und machte ihn zum gefragten Korrespondenten31. Das Osnabrücker Staatsarchiv leitete auch Geheimer Archivrat Dr. Georg Winter 26 Dazu und im folgenden mit weiteren Nachweisen: H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 96 – 105; ders., „… welfischen Umtrieben“ (Anm. 21), 103 – 105; entsprechender Schriftverkehr in: BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), 1893 ff. 27 Zu Vertrauen als historische Kategorie zuletzt Ute Frevert, Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, München 2013, 75 ff.; Jörg Baberowski (Hrsg.), Was ist Vertrauen? Ein interdisziplinäres Gespräch (Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel, 30), Frankfurt a. M./New York 2014. 28 Entsprechender Schriftverkehr in: BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), 1893 ff.; Dirr (1875 – 1943), Führer der Liberaldemokratischen Fraktion im Landtag, arbeitete 1919 auch die bayerische Verfassung mit aus; BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Dirr, Pius; H. Dvorak, Lexikon (Anm. 9) I/1, 206 f.; Hans-Dieter Krüger (Bearb.), Artur Kulak (Hrsg.), Gemeinschaft prägt. 160 Jahre Münchener Burschenschaft Arminia-Rhenania 1848 – 2008, München 2008, 216, 404; Wolfgang Leesch, Die deutschen Archivare 1500 – 1945, 2 Bde., München/London/New York/Paris 1985 u. 1992, hier 1, 124, 142; 2, 121 f. 29 Hagedorn (1856 – 1932) war Privatsekretär Leopold von Rankes und Vorstandsmitglied des Hansischen Geschichtsvereins, 1891 – 1923 Leiter des Hamburger Stadtarchivs; BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Hagedorn, Anton; Ernst Höhne, Die Bubenreuther. Geschichte einer deutschen Burschenschaft, Erlangen 1936, S. 232, Nr. 1747; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 132; 2, 216. 30 Bippen (1844 – 1923) war 1875 – 1914 Leiter des Stadtarchivs, er veröffentlichte u. a. das fünfbändige „Bremer Urkundenbuch“ (1873 – 1902) und eine dreibändige „Geschichte der Stadt Bremen“ (1892 – 1904); BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Bippen, Wilhelm von; Hermann Entholt, Zum Gedächtnis Wilhelm von Bippens, in: Hansische Geschichtsblätter 49 (1924), I–VII; NDB 2 (1955), 251; Alemannen-Album 1969. Mitgliederverzeichnis der Burschenschaft Alemannia zu Bonn ab 1844, o. O. o. J. (1969), 30, Nr. 349; Otto Oppermann, Die Burschenschaft Alemannia zu Bonn und ihre Vorläufer. Geschichte einer deutschen Burschenschaft am Rhein, 3 Bde., Bonn 1925 u. 1928, hier 1, 240, 385 f.; 2, 472; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 126; 2, 66 f. 31 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Bär, Max (1855 – 1928); [Hirschfeld, Adolf/Franke, August], Geschichte der Leipziger Burschenschaft Germania 1859 – 1879. Festgabe zum zwanzigsten Stiftungsfeste am 25., 26., 27. und 28. Juli 1879, o. O. o. J. (Leipzig 1879), 73, Nr. 285; Emil Knaake/Wolfgang Thiele/Valerian Tornius/Hans Leonhardt (Bearb.), Geschichte der Leipziger Burschenschaft Germania 1818 – 1928, Leipzig o. J. (1928), 217; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 41, 53, 62, 93 f., 102; 2, 43.

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(Germania Breslau), der Haupt über 20 Jahre lang aus verschiedenen Archiven zuarbeitete, zudem Mitglied der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt war sowie Vorsitzender des Vereins für Geschichte und Altertumskunde des Herzogtums und Erzstifts Magdeburg32. 1908 bis 1911 wirkte auch Eduard Reibstein (Brunsviga Göttingen) am Staatsarchiv Osnabrück33, ebenso zwischen 1903 und 1931 Erich Fink, Mitglied der Burschenschaften Dresdensia Leipzig und Hannovera Göttingen, 1916 Direktor des Staatsarchivs, zugleich Leiter des Osnabrücker Stadtarchivs34. Wie Reibstein war Dr. Hermann Grotefend Mitglied Brunsvigas, bekannt durch seinen Klassiker der Historischen Hilfswissenschaften, das bis in die Gegenwart immer wieder neu aufgelegte „Taschenbuch der Zeitrechnung“. Er war zuvor am Frankfurter Stadtarchiv tätig und leitete seit 1887 das mecklenburgische Landesarchiv, das Geheime und Hauptarchiv in Schwerin, wo sich u. a. die wesentlichen Unterlagen zur Rostocker Burschenschaft befinden35. Ebenfalls Brunsviga gehörte Dr. Adolf Brenneke an, der am Staatsarchiv in Hannover tätig war und später Staatsarchivdirektor in Berlin wurde. Seine aus dem Nachlaß herausgegebene

32 Winter (1856 – 1912) war Assistent Leopold von Rankes, dessen nachgelassene Schriften (Weltgeschichte, 1887/88) er herausgab, 1878 Dr. phil., 1879 im Geheimen Staatsarchiv in Berlin, 1881 in Düsseldorf, 1882 in Marburg, 1892 in Magdeburg, 1896 in Stettin, 1898 Archivrat, 1901 in Osnabrück, 1903 Archivdirektor, 1906 in Magdeburg, 1910 Geheimer Archivrat; er arbeitete vor allem über Friedrich den Großen, gab aber auch den 4. Bd. des „Pommerschen Urkundenbuchs“ (1903) heraus; Winter war Mitglied der Nationalliberalen, 1907 und 1910 kandidierte er erfolglos für den Reichstag, 1895 Stadtverordneter in Magdeburg, Gegner der Sozialdemokratie; BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Winter, Georg; H. Dvorak, Lexikon (Anm. 9) I/8, S. 377 f.; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 29, 47, 66, 68, 93; 2, 672; Georg Liebe, Georg Winter † 1. September 1912, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg. Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde des Herzogtums und Erzstifts Magdeburg 47 (1912), 169 – 170. 33 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Reibstein, Eduard (1875–vermißt 1914); Günther Stucken (Hrsg.), Göttinger Brunsvigen seit 1848. Festschrift zum 160. Stiftungsfest der Burschenschaft Brunsviga, o. O. o. J. (Aachen 2008), 54, Nr. 548; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 53, 93; 2, 480. 34 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Fink, Erich (1866 – 1950); Werner Reusch (Bearb. u. Hrsg.), Stammrolle der Leipziger Burschenschaft Dresdensia 1853 – 1937, o. O. (Ratingen) 2008, 440, Nr. 316; N. N., Nachruf auf Erich Fink, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück 64 (1950), VI; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 53; 2, 153. 35 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Grotefend, Hermann (1845 – 1931); W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 38, 61; 2, 201; G. Stucken, Göttinger Brunsvigen (Anm. 33), 26, Nr. 206; Friedrich Stuhr, Hermann Grotefend zum Gedächtnis, in: Mecklenburgische Jahrbücher 95 (1931), I–XII; Andreas Röpcke, Hermann Grotefend als Archivleiter, in: Archiv und Geschichte. Festschrift für Friedrich P. Kahlenberg (Schriften des Bundesarchivs, 57), hrsg. v. Klaus Oldenhage/Hermann Schreyer/Wolfram Werner, Düsseldorf 2000, 95 – 114.

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„Archivkunde“ (1953) ist ein Standardwerk zum Thema36. Dem Breslauer Staatsarchiv standen nacheinander Prof. Dr. Colmar Grünhagen (Arminia auf dem Burgkeller Jena) und Geheimer Archivdirektor Dr. Otto Meinardus (Germania Jena) – zugleich Vorsitzender des Vereins für die Geschichte Schlesiens, 1897 Mitgründer der Historischen Kommission für Nassau – vor37, das Königsberger Staatsarchiv leitete 1887 bis 1921 Geheimer Archivdirektor Dr. Erich Joachim (Germania Leipzig, Raczeks Breslau), zugleich Gründer und Vorsitzender der Vereinigung Alter Burschenschafter (VAB) Königsberg und seit 1901 Vorsitzender des Geschichtsvereins von Ost- und Westpreußen, der auch die Matrikel und die Promotionsverzeichnisse der Albertina in drei Bänden zwischen 1910 und 1917 herausgab38. Joachim war auch Obmann des Preußischen Sängerbundes, Mitglied des Gesamtausschusses des Deutschen Sängerbundes – der am 21. September 1862 gegründeten, bis in die Gegenwart größten Chororganisation der Welt –, Ehrenvorsitzender des Königsberger Sängervereins, dem er 1907 bis 1914 vorsaß, und leitete 1914 das Sängerfest des Preußischen Sängerbundes in Danzig39. Entsprechend interessierte sich Joachim für die gemeinsamen Wurzeln und Zusammenhänge von bürgerlichen Gesangvereinen und Burschenschaft in der deutschen Nationalbewegung40. Ähnlich war es bei einem der Chronisten des Bayerischen Sän-

36 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Brenneke, Adolf (1875 – 1948); NDB 2 (1955), 586; G. Stucken, Göttinger Brunsvigen (Anm. 33), 52, Nr. 523; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 29, 41, 52, 86; 2, 80 f.; s. Anm. 3. 37 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Grünhagen, Colmar (1828 – 1911); Otto Meinardus, Zu Colmar Grünhagens Gedächtnis, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 46 (1912), 1 – 65; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 35; 2, 203 f. – BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Meinardus, Otto (1854 – 1918); Konrad Wutke, Otto Meinardus. Ein Lebensbild, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 53 (1919), 1 – 28; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 29, 35, 41, 53, 64, 117; 2, 394 f. 38 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Joachim, Erich (1851 – 1923); ebd., C. II. 1. VAB, Orte: Königsberg i. P., o. L.; Hirschfeld/Franke, Leipziger Germania (Anm. 31), 70, Nr. 199; E. Knaake u. a., Germania Leipzig (Anm. 31), 212; W. Leesch, Archivare (s. Anm. 28) 1, 63, 68, 117; 2, 286 f.; Siegfried Meier, Archivdirektor a. D. Geheimrat Dr. phil. Joachim 70 Jahre alt, in: Deutsche Sängerbundeszeitung 13 (1921), 182 – 183. 39 Ebd., 182. – Zum Deutschen Sängerbund, seinen Mitgliedsbünden und -vereinen, seit 2005 Deutscher Chorverband, mit weiteren Nachweisen Dietmar Klenke, Der singende „deutsche Mann“. Gesangvereine und deutsches Nationalbewußtsein von Napoleon bis Hitler, Münster/New York/München/Berlin 1998; ders., Der Gesangverein, in: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, hrsg. v. Etienne François/Hagen Schulze, München 2001, 392 – 407. 40 Vgl. zusammenfassend: Harald Lönnecker, Deutsches Männerchorwesen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Ein Überblick über Entstehung, Entwicklung, Untergang, in: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 20 (2012), 419 – 470; ebd., 451 f., zu Joachim; s. a. Harald Lönnecker, „Danzig sei deutsch, sei deutsch bis zum Tod!“ Danziger Sängerschafter in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in: EuJ 55 (2010), 183 – 218, hier 184; ders., „Hüter deutscher Kultur, Pflegstätte deutschen Geistes“ – Studentischer Gesang und die Politik der Konfrontation am Beispiel der Sängerschaft Normannia zu Danzig (1905 – 1934/35), in: Geschichte der Musikkultur in Danzig und Westpreußen. Perspektiven einer transnationalen Forschung (Berichte des inter-

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gerbundes, Hans Bachmann (Bubenruthia Erlangen), im Hauptberuf Archivar im bayerischen Reichsarchiv in München41. Dort wie in Wien erfolgte „die zunächst summarische Durchsicht der Repertorien“, die Staatsarchive in Wiesbaden, Darmstadt und Karlsruhe schlossen sich an42. „Die deutschen Staatsarchive taten jetzt insgesamt ihre Pforten weit auf.“43 Über Jahre wirkten Haupts Bemühungen, noch 1922 übersandte „Dr. phil. C. A. Endler, Redariae Rostock, wissenschaftl. Hilfsarbeiter am Hauptarchiv“ in Neustrelitz, ihm „ein Verzeichnis des hier vorhandenen Materials“ und bemerkte: „Falls Sie eine Bearbeitung irgend einer Sache aus diesen Akten oder Auszüge wünschen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung. […] Jedenfalls hielt ich es für meine Pflicht, der burschenschaftlichen historischen Kommission Mitteilung zu machen […]“.44

Überall gab es zur Mitarbeit bereite Burschenschafter, die Liste läßt sich fast beliebig erweitern. Dr. Carl Knetsch, Alter Herr der Turnerschaft Philippina Marburg und seit 1908 am dortigen Staatsarchiv tätig, Verfasser einer Geschichte seiner Verbindung, stellte der BHK Listen korporierter Archivare zusammen, die Herman Haupt und seinen Mitstreitern als Korrespondenten dienen konnten45. Zudem waren die Archivare über verschiedene Berufsverbände und den Deutschen Archivtag

kulturellen Forschungsprojektes „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“, 5), hrsg. v. Erik Fischer [im Druck]. 41 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Bachmann, Hans (1848 – 1904); E. Höhne, Bubenreuther (Anm. 29), 213, Nr. 1628. 42 BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), BHK-Bericht über das Jahr 1910/11; N. N., Burschenschaftliche Historische Kommission. Bericht über das Jahr 1910/11, in: Burschenschaftliche Blätter (künftig zit.: BBl) 25/11 – 12 (1911), 283 – 284, hier 283. 43 P[aul] Wentzcke, Die Gründung der Burschenschaftlichen Historischen Kommission, in: BBl 27/2 (1913), 29 – 32, hier 30. 44 BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), Endler an Herman Haupt, 14. 11. 1922. – Carl August Endler (1893 – 1957) war BHK- und GfbG-Mitglied, Mitgründer der Historischen Kommission für Mecklenburg, einer der produktivsten und vielseitigsten mecklenburgischen Landesgeschichtsforscher, der die erste zusammenfassende Geschichte von MecklenburgStrelitz schrieb, zuletzt Direktor der Mecklenburgischen Landesbibliothek in Schwerin; BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Endler, Carl August; Peter-Joachim Rakow, Endler, Carl August, Dr. (1893 – 1957), in: Mecklenburg-Strelitz. Beiträge zur Geschichte einer Region, Bd. 2, bearb. v. Frank Erstling, Friedland i. Meckl. 2002, 444 – 446; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 89; 2, 139. 45 BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), Knetsch an Haupt, 20. 6. 1910; zu Knetsch (1874 – 1938), 1929 bis zu seinem Tode Leiter des Staatsarchivs Marburg, Mitglied des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, 1917 – 1922 Vorsitzender von dessen Zweigverein in Marburg, 1903 Mitglied der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, seit 1918 deren Vorstandsmitglied, 1929 bis zu seinem Tode Schatzmeister: Ewald Herzog, Karl Knetsch †, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 62 (1940), 5 – 17; Helge Kleifeld, Dr. phil. Carl Knetsch, in: ders., Das Philipperarchiv. Findbuch für den Bestand 311/7 Philippina im Hessischen Staatsarchiv Marburg, Essen 2004, XXVII–XXVIII; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 41, 64, 67, 117; 2, 319 f.; BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), Mitgliederkartei, 1928 – 1935/36.

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vernetzt, der erstmals am 25. September 1899 in Straßburg stattfand46. Am Rande gab es stets eine besondere Zusammenkunft der Archivare, die Burschenschafter waren47. Ebenso war es beim 1900 gegründeten „Verein Deutscher Bibliothekare“, der in diesem Jahr den ersten Deutschen Bibliothekartag in Marburg ausrichtete48. Unter Haupts Vorsitz gab es ein eigenes Treffen für Burschenschafter, was sich fortan jedes Jahr wiederholte49, und das nach 1923 der vor allem als Schriftsteller und Romanautor hervorgetretene Robert Hohlbaum, Alter Herr der Burschenschaften Stiria Graz, Silesia Wien, Carolina Prag und Germania Leoben sowie Ehrenmitglied der Leipziger Sängerschaft Arion und der Wiener Universitäts-Sängerschaft Ghibellinen, leitete50. Regelmäßige Unterstützung fand er bei einem Bundesbruder, einem weiteren Mitglied Stirias, Wilhelm Fischer, Direktor der Landesbibliothek Graz, bekannt als „Grazer Stadtpoet“ und Obmann des Steiri46 BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), Vorstand/Vorsitzender; ebd., N. Nachlässe: Herman Haupt; ebd., N. Nachlässe: Paul Wentzcke; s. Anm. 1. 47 24. 9. 1900 in Dresden; 22. 9. 1902 in Düsseldorf; 8. 8. 1904 in Danzig; 24. 9. 1905 in Bamberg; 24. 9. 1906 in Wien; 14. 9. 1907 in Karlsruhe; 20./21. 9. 1908 in Lübeck; 8. 9. 1909 in Worms; 6./7. 9. 1910 in Posen; 4./5. 9. 1911 in Graz; 9./10. 9. 1912 in Würzburg; 4./5. 8. 1913 in Breslau; 27. 9. 1920 in Weimar; 11. 9. 1922 in Aachen; 8. 9. 1924 in Münster i. W.; 31. 8./1. 9. 1925 in Regensburg; 16. 8. 1926 in Kiel; 29./30. 8. 1927 in Speyer; 27./28. 8. 1928 in Danzig; 8./9. 9. 1929 in Marburg a. d. Lahn; 15.–17. 9. 1930 in Linz a. d. Donau und Wien; 12. 9. 1932 in Stuttgart; 3./4. 9. 1933 in Königsberg i. P.; 2./3. 9. 1934 in Wiesbaden; 18./19. 9. 1936 in Karlsruhe; 22. 9. 1937 in Gotha; BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), Vorstand/Vorsitzender; ebd., N. Nachlässe: Herman Haupt; ebd., N. Nachlässe: Paul Wentzcke; das setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort; auch andere Vereinigungen, etwa Rotary, trafen sich bei dieser Gelegenheit; ebd. 48 Zur Geschichte des Vereins und seiner Tagungen Engelbert Plassmann/Ludger Syré (Hrsg.), Verein Deutscher Bibliothekare 1900 – 2000. Festschrift, Wiesbaden 2000; Felicitas Hundhausen (Bearb.), Verein Deutscher Bibliothekare 1900 – 2000. Bibliographie und Dokumentation, Wiesbaden 2004. 49 Entsprechende Hinweise und Schriftverkehr in BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), 1899 ff.; die Satzung des Deutschen Bibliothekartages entwarf der Burschenschafter Wilhelm Erman; ders., Satzungen des Deutschen Bibliothekartages (Entwurf), Berlin 1899; zu Erman s. Anm. 66. 50 BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), 1923 ff.; Hohlbaum (1886 – 1955) schrieb zahlreiche Studentenromane und war seit 1913 (Ober-)Bibliothekar an der Wiener Universitätsbibliothek, 1937 Direktor der Stadtbibliothek Duisburg, 1942 der Landesbibliothek Weimar, deren Bestände er durch Auslagerung weitgehend rettete; BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Hohlbaum, Robert; Johann Sonnleitner, Die Geschäfte des Herrn Robert Hohlbaum. Die Schriftstellerkarriere eines Österreichers in der Zwischenkriegszeit und im Dritten Reich (Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, 18), Wien/ Köln 1989; Roland Bärwinkel, „Erzähler von Europäischem Ruf“ und „Zierde der Bibliothek“. Die Thüringische Landesbibliothek Weimar in der Amtszeit Robert Hohlbaums von 1942 bis 1945, in: Weimar-Jena: Die große Stadt 6/2 (2013), 114 – 142, ebd. 6/3 (2013), 205 – 235; NDB 9 (1972), 504 f.; Alexandra Habermann/Peter Kittel, Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare. Die wissenschaftlichen Bibliothekare der Bundesrepublik Deutschland (1981 – 2002) und der Deutschen Demokratischen Republik (1948 – 1990) (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderheft, 86), Frankfurt a. M. 2004, 70 f.

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schen Schriftstellerbundes51. In diesem Zusammenhang sticht auch Prof. Dr. Georg Wolfram (Teutonia Jena) besonders hervor, da er sowohl auf den Archiv- wie auf den Bibliothekartagen erschien. Er war zuerst im elsaß-lothringischen Archivdienst tätig – zuletzt Direktor des Staatsarchivs Metz – und wurde im Frühjahr 1909 zum Leiter der Universitäts- und Landesbibliothek Straßburg, im Kaiserreich die drittgrößte deutsche Bibliothek, berufen. Er war Mitgründer und Vorstandsmitglied der unter dem Protektorat des Kaisers stehenden Gesellschaft für lothringische Geschichts- und Altertumskunde, deren „Jahrbuch“ er herausgab, sowie Mitgründer der Kommission zur Herausgabe lothringischer Geschichtsquellen52. Als Gießener Bibliotheksleiter verfügte Haupt über ausgezeichnete fachliche und oft freundschaftliche Beziehungen, äußerst eng war die Zusammenarbeit etwa mit August Wilmanns in Berlin – Generaldirektor der Königlichen Bibliothek, Alter Herr der Burschenschaft Alemannia Bonn und ein Lehrer Meineckes53 –, der mehr und mehr von Prof. Dr. Arthur Kopp (Teutonia Königsberg), Dr. Adolf Langguth (Germania Jena) und Dr. Wilhelm Altmann (Germania Marburg) unterstützt wurde, Bibliothekare bzw. Oberbibliothekar an der Königlichen Bibliothek54. Altmann war vormals an den Universitätsbibliotheken in Breslau und Greifswald tätig, später bekannt als Musikhistoriker und Gründer der Musikabteilung der preußischen Staatsbibliothek. Langguth, der auch eine umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit auf den Gebieten der Pädagogik, Literaturgeschichte und Biographik entfaltete und eifriger Beiträger zu den „Burschenschaftlichen Blättern“ war, wirkte vor seinem Eintritt in den Bibliotheksdienst acht Jahre als Erzieher des späteren Herzogs von 51

Fischer (1846 – 1932) war 1870 – 1919 an der Landesbibliothek tätig, seit 1901 als ihr Direktor, Erzähler in der Tradition der Heimatkunst, schrieb zahlreiche historische Novellen und Romane; BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Fischer, Wilhelm; Sonja Katharina Tschernitz, Wilhelm Fischer (1846 – 1932) – der „Grazer Stadtpoet“. Darstellung von Leben und Werk einer Künstlerpersönlichkeit im Graz der Jahrhundertwende mit besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Fischers Wirken im kulturellen Leben seiner Zeit, Diplom-Arbeit Graz 1997. 52 H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 26, 101 f., 119, 236 – 238, 243, 247, 259, 281, 291, 345, 371, 383. 53 Wilmanns (1833 – 1917) war 1870 außerordentl. Professor und Leiter der Universitätsbibliothek Freiburg, 1871 ordentl. Professor in Innsbruck, 1873 in Kiel, 1874 in Königsberg, dort auch Leiter der Universitätsbibliothek, 1875 Leiter der Göttinger Universitätsbibliothek, 1886 – 1905 Generaldirektor der Königl. Bibliothek in Berlin; BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Wilmanns, August; Karl Bader, Lexikon deutscher Bibliothekare im Haupt- und Nebenamt, bei Fürsten, Staaten und Städten (Zentralblatt für Bibliothekswesen, 55), Leipzig 1925, 284. 54 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Altmann, Wilhelm (1862 – 1951); Alexandra Habermann/Rainer Klemmt/Frauke Siefkes, Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare 1925 – 1980 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderheft, 42), Frankfurt a. M. 1985, 4 f. – BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Kopp, Arthur (1860 – 1918); Heike Binder, Arthur Kopp (1860 – 1918), eine erste Würdigung, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 26 (1981), 141 – 152; K. Bader, Bibliothekare (Anm. 53), 134. – BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Langguth, Adolf (1851 – 1908); K. Bader, Bibliothekare (Anm. 53), 143.

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Sachsen-Altenburg. Das erwies sich jetzt als überaus nützlich hinsichtlich des Zugangs zu Bibliotheken und Archiven in Thüringen55. Ganz ähnlich war es bei Geheimrat Prof. Dr. Heinrich Eggeling (Teutonia Jena), 1866 bis 1880 Erzieher der Prinzen Ernst und Friedrich von Sachsen-Meiningen, seit 1884 Kurator der Universität Jena, der Universitätsbibliothek und -archiv für Haupt öffnete und sogar die Aktenversendung nach Gießen erlaubte56. Als Schwiegersohn des Braunschweiger Verlagsbuchhändlers Georg Westermann hatte Eggeling zudem beste Beziehungen im deutschen Verlagswesen57. Daneben arbeitete Haupt Prof. Dr. Adam Schneider (Alemannia Gießen) zu, Bibliothekar an der Universitäts- und Landesbibliothek in Straßburg – Georg Wolfram war sein Chef –58, Dr. Hermann Reuter (Alemannia Bonn), Bibliothekar an der Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf59, und Dr. Paul Rhode (Gothia Königsberg) an der Stadtbibliothek Königsberg, wo er zugleich Stellvertreter Erich Joachims im VAB-Vorstand war60. Geheimer Regierungsrat Dr. Reinhard Mosen (Germania Jena), Sohn des Dichters und Verfassers des AndreasHofer-Liedes Julius Mosen (Alte Germania Jena), war Oberbibliothekar an der Großherzoglichen Landesbibliothek in Oldenburg61, Dr. Otto Hartwig (Alte Germania und Arminia Marburg) war Direktor der Universitätsbibliothek in Halle, der erste hauptamtliche in ihrer Geschichte, dessen Katalog bis in die Gegenwart 55

H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 102. BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), Eggeling an Haupt, 5. 2. 1911; vgl. Herman Haupt, Aus Jenaischen studentischen Stammbüchern, in: BBl 22/8 (1908), 179 – 185, hier 179 mit Anm.; s. a. Striedinger: Versendung von Archivalien, in: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 55 (1907), 90 – 103. 57 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Eggeling, Heinrich (1838 – 1911); Stefan Gerber, Die Universität Jena 1850 – 1918, in: Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert (Hrsg.), Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850 – 1995, Köln/Weimar/Wien 2009, 23 – 253, hier 62, 95, 160. 58 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Schneider, Adam (1860 – 1931); S. war zuletzt Direktor der Universitäts- und Landesbibliothek; A. Habermann u. a., Bibliothekare (Anm. 54), 302; Paul Wentzcke (Hrsg.), Burschenschafterlisten. Geschichte und Mitgliederverzeichnisse der burschenschaftlichen Verbindungen im großdeutschen Raum 1815 bis 1936, Bd. 2: Straßburg – Gießen – Greifswald, Görlitz 1942, 131, Nr. 101. 59 Reuter (1880 – 1970) war seit 1906 in Düsseldorf an der Stadtbibliothek tätig und ab 1928 Direktor der Stadt- und Landesbibliothek, nach 1933 Retter der Heinrich-HeineSammlung; BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Reuter, Hermann; A. Habermann u. a., Bibliothekare (Anm. 54), 272 f.; Alemannen-Album (Anm. 30), 52, Nr. 683. 60 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Rhode, Paul (1856 – 1913); ebd., C. II. 1. VAB, Orte: Königsberg i. P., o. L.; N. N., Stammrolle der Königsberger Burschenschaft Gothia zu Göttingen, o. O. (Göttingen) 1979, 21, Nr. 282; Siegfried Meier, Paul Rhode, in: BBl 28/6 (1913), 145 – 146; K. Bader, Bibliothekare (Anm. 53), S. 207. 61 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Mosen, Reinhard (1843 – 1907); Altherrenverband der Jenenser Germanen e. V. (Hrsg.), Verzeichnis der Ehrenmitglieder (Alten Herren und Inaktiven) der Burschenschaft Germania zu Jena, o. O. o. J. (1925), 6, Nr. 157; K. Bader, Bibliothekare (Anm. 53), 173; vgl. Helge Dvorak, Zur Erinnerung an Julius Mosen, in: BBl 99/3 (1984), 69 – 70; Detlev Storz, Julius Mosen und Deutschlands vergessene Freiheit, in: BBl 116/3 (2001), 104 – 109. 56

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grundlegend ist und seit 2002 digitalisiert wurde62. Geheimer Hofrat Dr. Alfred Holder (Frankonia Heidelberg, Alemannia Bonn), Vorstand der Hof- und Landesbibliothek in Karlsruhe, war vor allem durch die Herausgabe der altenglischen Kirchengeschichte Bedas, der Dänengeschichte des Saxo Grammaticus und des Walthariusliedes sowie als Entdecker des „Anecdoton Holderi“, eines ostgotischen Fragments aus dem ersten Viertel des 6. Jahrhunderts, bekannt geworden63. Der Altertumswissenschaftler Geheimer Hofrat Prof. Dr. Karl Zangemeister (Alemannia Bonn) war Direktor der Heidelberger Universitätsbibliothek. Seit 1894 war er Mitglied der Zentraldirektion des Königlichen Archäologischen Instituts in Berlin64. In dieser Funktion arbeitete er mit Prof. Dr. Adolf Erman – Gründer der „Berliner Schule“ der Ägyptologie und Direktor des Ägyptischen Museums – zusammen65, dessen Bruder Wilhelm als Direktor der Universitätsbibliotheken in Bonn, Breslau und Berlin wirkte66. Ein dritter Bruder war Geheimer Rat Prof. Dr. Heinrich Erman, Ordinarius für Römisches Recht in Münster, der „sichtlich lebhaftes Interesse“ für die burschenschaftliche Geschichte hatte67. Die Brüder gehörten alle der Burschenschaft Germania Leipzig an, und besonders Adolf knüpfte für Haupt Beziehungen in Berlin, etwa zu Prof. Dr. Julius Lessing (Arminia Berlin), dem Direktor des Kunstgewerbemuseums, der ein reges Interesse an Studentika

62 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Hartwig, Otto (1830 – 1903); Rudolf Bonnet (Bearb.), Die Toten der Marburger Burschenschaft Arminia, Teil 1, Frankfurt a. M. 1926, 4, Nr. 3; K. Bader, Bibliothekare (Anm. 53), 96; vgl. Rotraut Fischer/Christina Ujma, Von der Lahn an den Arno. Otto Hartwig (1830 – 1903), ein hessischer und Hallenser Bibliothekar in Italien, in: Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft 7 (1997/2001), 66 – 84. 63 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Holder, Alfred (1840 – 1916); NDB 9 (1972), 525 f.; K. Bader, Bibliothekare (Anm. 53), 111 f.; Franz Dor, Dr. Alfred Holder. Oberbibliothekar der Landesbibliothek in Karlsruhe, in: ders., Edle Männer unserer Heimat. Schlichte Lebensbilder, Karlsruhe 1920, 130 – 140; Daniel Feuling, Alfred Holder 1840 – 1916, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 157 (1916), 469 – 479. 64 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Zangemeister, Karl (1837 – 1902); K. Bader, Bibliothekare (Anm. 53), 292 f. 65 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Erman, Adolf (1854 – 1937); NDB 4 (1959), 598 f.; A. Hirschfeld/A. Franke, Leipziger Germania (Anm. 31), 73, Nr. 275; E. Knaake u. a., Germania Leipzig (Anm. 31), 216; Bernd Ulrich Schipper (Hrsg.), Ägyptologie als Wissenschaft. Adolf Erman (1854 – 1937) in seiner Zeit, Berlin/New York 2006. 66 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Erman, Wilhelm (1850 – 1932); NDB 4 (1959), 600; A. Habermann u. a., Bibliothekare (Anm. 54), 71; Friedhelm Golücke, Verfasserlexikon zur Studenten- und Hochschul[Universitäts-]geschichte. Ein bio-bibliographisches Verzeichnis (ASH, 13), Köln 2004, 94 f.; A. Hirschfeld/A. Franke, Leipziger Germania (Anm. 31), 69, Nr. 176; E. Knaake u. a., Germania Leipzig (Anm. 31), 211; s. a. Hartwig Lohse (Hrsg.), Wilhelm Erman. Erinnerungen (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 38), Köln/Weimar/Wien 1994. 67 BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), Wilhelm Hopf an Herman Haupt, 14. 7. 1909; zur Person: ebd., M. Burschenschafterlisten, Erman, Heinrich (1857 – 1940); A. Hirschfeld/ A. Franke, Leipziger Germania (Anm. 31), 73, Nr. 282; E. Knaake u. a., Germania Leipzig (Anm. 31), 216; H. Lönnecker, „… der deutschen Studentenschaft“ (Anm. 4), 17, 91.

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hatte und an der Vorbereitung der ersten deutschen Studentenkunstausstellung 1908 mitwirken sollte, die auch aus etlichen deutschen Archiven schöpfte68. III. Paul Wentzcke Der wohl engste Mitarbeiter Haupts war Paul Wentzcke (1879 – 1960), seit 1909 BHK/GfbG-Vorstandsmitglied und ab 1930 Haupts Nachfolger als Vorsitzender69. Er war der Sohn eines häufig versetzten preußischen Proviantamtsdirektors und verbrachte seine Jugend in Wesel a. Niederrhein, Verden a. d. Aller und Straßburg i. Elsaß. Dort und in Rastatt besuchte er das Gymnasium, wo er 1899 das Abitur bestand. Anschließend leistete Wentzcke sein Jahr als Einjährig-Freiwilliger beim 1. Unterelsässischen Infanterie-Regiment Nr. 132 und nahm parallel – erst in Straßburg, dann in Berlin – das Studium der Geschichte, Germanistik, Geographie und Staatswissenschaften bei Harry Bresslau (Brunsviga Göttingen; Akademischer Gesangverein Arion Straßburg im Sondershäuser Verband deutscher Sängerverbindungen70) und Friedrich Meinecke auf. Mit Beginn seines Studiums wurde Wentzcke Mitglied der Burschenschaft Alemannia Straßburg, heute Hamburg. Später wurden ihm noch die Ehrenmitgliedschaften der Burschenschaften Marchia Köln bzw. Bonn und Germania Würzburg verliehen. 1904 promovierte Wentzcke bei Friedrich Meinecke mit einer Dissertation über den Straßburger Publizisten und Diplomaten Johann Frischmann (um 1612 – 1660). Dies deutet bereits auf die deutsch-französische Problematik hin, die ihn sein gan68 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Lessing, Julius (1843 – 1908); Barbara Mundt, Julius Lessing und Justus Brinckmann, in: Jahrbuch des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg, Neue Folge, 14 (1995/1997), 97 – 102; zur Studentenkunstausstellung mit weiteren Nachweisen: H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 105, 147. 69 Hierzu und im folgenden: ebd., 21 – 29 und öfter; Harald Lönnecker, Die Burschenschafterlisten – eines „der wichtigsten Hilfsmittel für die Kenntnis der deutschen politischen und Geistesgeschichte“. Zur Entstehung und Entwicklung eines Gesamtverzeichnisses deutscher Burschenschafter, in: Herold-Jahrbuch, Neue Folge 14 (2009), 153 – 170, insbesondere 155 – 159; ders., Die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die Internationale Presseausstellung Pressa (Köln 1928) als Frontabschnitt im Kampf gegen Frankreich, in: Die Pressa. Internationale Presseausstellung Köln 1928 und der jüdische Beitrag zum modernen Journalismus/The Pressa. International Press Exhibition Cologne 1928 and the Jewish Contribution to Modern Journalism, Bd. 1, hrsg. v. Susanne Marten-Finnis/Michael Nagel (Die jüdische Presse – Kommunikationsgeschichte im Europäischen Raum/The European Jewish Press – Studies in History and Language, 12 = Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 64), Bremen 2012, 119 – 147, insbesondere 119 – 135; ders., Vom Osten lernen? West- und Saarkampf 1919 – 1935, in: Fritz Hellwig. Saarländer, Deutscher, Europäer. Eine Festschrift zum 100. Geburtstag (DuQ, 20), hrsg. v. Klaus Malettke/Klaus Oldenhage, Heidelberg 2012, 82 – 143, hier 97, 115 – 120. 70 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Bresslau, Harry (1848 – 1926); H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 22, 41, 107, 120 – 122, 143, 156, 371, mit weiteren Nachweisen; zum Sondershäuser Verband mit weiteren Nachweisen ders., „… den Kern dieses ganzen Wesens hochzuhalten und … zu lieben“. Theodor Litt und die studentischen Verbindungen, in: Theodor-Litt-Jahrbuch 4 (2005), 189 – 263, hier 189, 197 f.

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Paul Wentzcke, 1935 (Zeichnung von Walter Petersen) Quelle: Bundesarchiv, Koblenz, DB 9: Deutsche Burschenschaft

zes Leben lang begleitete. 1905 legte Wentzcke die Prüfung für das höhere Lehramt ab. Seit 1904 war er Mitarbeiter der Kommission zur Herausgabe der elsässischen Geschichtsquellen, trat 1906 in den Archivdienst des Reichslandes71 und wurde nach der Erstellung der Regesten der Bischöfe von Straßburg bis zum Jahre 1202 (1908) und der Geschichte der Stadt Schlettstadt (1910) 1911 kaiserlicher Archivar in Straßburg. 1912 zum Direktor des weitgehend erst aufzubauenden Stadtarchivs Düsseldorf berufen, war er 1925 bis 1935 zusätzlich Leiter des dortigen Historischen Museums, seit 1914 Mitglied des Redaktionsausschusses und später Herausgeber des „Düsseldorfer Jahrbuchs“, der „Schriften des Historischen Museums und des Archivs der Stadt Düsseldorf“ und anderer ortsgeschichtlicher Periodika sowie seit 1928 Vorsitzender – später Ehrenmitglied – des Düsseldorfer Geschichtsvereins, was ihm 1959 die durch die Stadt Düsseldorf verliehene „Lacomblet-Medaille für hohe Verdienste um die Pflege geschichtlichen Sinnes am Nie71 Zur Ernennung Wentzckes zum Hilfsarbeiter am Bezirksarchiv des Unterelsaß in Straßburg: BBl 21/2 (1906), 51.

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derrhein“ einbrachte. In Düsseldorf war Wentzcke Mitglied der örtlichen VAB, zeitweise deren Vorsitzender72. Am Ersten Weltkrieg nahm Wentzcke ab 1914 teil, kämpfte bei Nancy/Epinal, Ypern und vor Verdun, wurde verwundet und kehrte 1918 als Major d. R. und mit beiden Eisernen Kreuzen zurück. Nicht zuletzt bedingt durch sein Arbeitsgebiet engagierte er sich vielfältig in den Auseinandersetzungen mit Frankreich und Belgien. Er bestritt stets den französischen Anspruch auf Elsaß-Lothringen, war einer der eifrigsten Bekämpfer separatistischer Neigungen im Rheinland – während des Ruhrkampfs 1923 war von der Besatzungsmacht ein Preis auf seine Ergreifung ausgesetzt – und war maßgeblicher Initiator der rheinischen 1.000-Jahr-Feiern 1925. Die Krönung der diesbezüglichen Bemühungen und Arbeiten war sein Buch „Tausend Jahre Rheinland im Reich“ (1925, 2. Aufl. 1927). Ganz in diesem Sinne wirkte er auch als Mitglied des „Wissenschaftlichen Ausschusses zur Vorbereitung der Internationalen Presseausstellung (Pressa)“, die von Mai bis Oktober 1928 in Köln stattfand. Daneben hatte Wentzcke unzählige weitere Funktionen – u. a. gründete er den Rotary-Club Düsseldorf mit und war Sekretär des Frankfurter Clubs –, war seit 1926 Mitglied – 1937 Senator – des Kleinen Rats der Deutschen Akademie in München sowie Vorstand von deren Grenzbücherei, Vorsitzender der Rheinischen Arbeitsgemeinschaft für Grenzlandforschung und Heimatkunde, Vorstandsmitglied des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, Vorstand der Düsseldorfer Ortsgruppe des Deutschen Schutzbundes für die Grenzund Auslandsdeutschen sowie Vorstandsmitglied des Frankfurter Vereins für Geographie und Statistik, der ihn 1957 zum Ehrenmitglied ernannte. 1934 erschien zwar noch seine Bilanz der Rheinfrage „Der Freiheit entgegen. Deutscher Abwehrkampf an Rhein, Ruhr und Saar“, aber bereits im Vorjahr war Wentzcke auf Grund des Reichsbeamtengesetzes und wegen seiner Weigerung zum Eintritt in die NSDAP in den Ruhestand versetzt worden. Die Ernennung zum Honorarprofessor an der Universität zu Köln – jahrelang vom Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer hintertrieben73 – war bereits 1932 beschlossen und wurde von den neuen Machthabern nicht rückgängig gemacht. Wentzcke neigte vor dem Ersten Weltkrieg den Nationalliberalen zu, in zwei umfangreichen Bänden arbeitete er über ihre Geschichte – „Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks“74 – und gründete im Dezember 1918 die rechtsliberale Deutsche Volkspartei in Düsseldorf mit, deren chancenloser Reichstagskandidat er 1924 war. Auch nach 1945 blieb Wentzcke dem politischen Liberalismus treu, er war einer der Mitgründer der FDP in Frankfurt a. M. und aktiv in ihrem „Politischen Arbeitskreis“. Umgekehrt hegte er zeitlebens eine tiefe Abneigung gegen den po72

BAK, DB 9 (Anm. 9), C. II. 1. VAB, Orte: Düsseldorf, o. L. Zum katholisch korporierten Adenauer mit weiteren Nachweisen H. Lönnecker, „Demut und Stolz“ (Anm. 8), 534. 74 Vorarbeiten und Manuskripte in: BAK (Anm. 9), Kleine Erwerbungen, Nr. 303: Paul Wentzcke (1879 – 1960), 1848 – 1902, 1916 – 1925. 73

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litischen Katholizismus, vor allem in seiner rheinischen Form, dessen Ziel eines von Preußen losgelösten Rheinlandstaates innerhalb Deutschlands ihm angesichts der Bedrohung durch Frankreich nur eine Spielart des Landesverrats zu sein schien. 1935, mit der Übernahme der Leitung des Wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt und als Herausgeber des „Elsaß-Lothringischen Jahrbuchs“ – in beiden Fällen Nachfolger des ihn fördernden Georg Wolfram –, näherte sich Wentzcke wieder seiner vertrauten Thematik und nahm zugleich einen Lehrauftrag für Landesgeschichte mit Beschränkung auf das Grenz- und Auslandsdeutschtum an, den er 1941 bis 1945 in ähnlicher Form auch in Heidelberg inne hatte. Als das Institut 1940 an die neue Reichsuniversität Straßburg verlegt wurde, behielt Wentzcke seine Frankfurter Honorarprofessur und richtete im Auftrag des Generaldirektors der Preußischen Staatsarchive die „Publikationsstelle West“ ein, in der bis Kriegsende wissenschaftliche Zeitschriften des westlichen Auslands ausgewertet wurden. 1944 erfolgte der Entzug des Frankfurter Lehrauftrags aus politischen Gründen, der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS beobachtete ihn, seit Ende 1944 weilte Wentzcke zur Kur in Baden-Baden. Vom 21. Juli bis zum 6. November 1945 wurde er kurzzeitig mit der kommissarischen Leitung des Stadtarchivs Frankfurt betraut, obwohl er offiziell seit Jahresanfang im Ruhestand und im Frühjahr kurzzeitig von den Franzosen inhaftiert und nach Paris verbracht worden war75. Seine Entlassung erfolgte umgehend, da ihm „nur wissenschaftliche Tätigkeit, aber keine Propaganda“ nachgewiesen wurde76. Trotzdem betrachtete Wentzcke die französische Kulturpolitik in Deutschland mit höchstem Mißtrauen, schien sie ihm doch „vor allem vergessen machen [zu] wollen, dass das Elsaß und Lothringen ebenso wie die Saar und die ganzen Rheinlande deutsch war, ist und bleibt“77. Seine große Arbeitskraft ließ ihn unterschiedliche Vorhaben und Themen gleichzeitig betreiben: Quellenveröffentlichungen, Bibliographien, kultur-, verfassungs- und militärgeschichtliche Studien, zuletzt über Herzog Karl V. von Loth75 Wentzckes „Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft 1945“ in: Bundesarchiv/Militärarchiv, Freiburg i. Br., (Teil-)Nachlaß Paul Wentzcke (1879 – 1960), 1945. 76 BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), Wentzcke an Horst Bernhardi, 11. 4. 1953. – Zu Bernhardi (1916 – 1996), Staatsanwalt, Burschenschaft Frisia Göttingen, 1971 – 1986 GfbGVorsitzender: H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 181 f., 300, 326, 333 – 335, 369, 373, 383, 400, 403, 407, 409 f. 77 BAK, DB 9 (Anm. 9), O. GfbG (BHK), Wentzcke an Harry Gerber, 2. 8. 1955. – Zu Gerber (1888 – 1959), Mitglied der Burschenschaften Arminia auf dem Burgkeller Jena und Arminia Frankfurt, 1926 am Stadtarchiv Frankfurt a. M., 1938 – 1945 dessen Direktor, gleich Wentzcke ein burschenschaftlicher Multifunktionär: H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 6), 237 – 243 und öfter. – Wentzcke zu einseitig auf die „Westforschung“ reduzierend und seine nationalliberale Grundeinstellung verkennend Sven Woelke, „Der Freiheit entgegen.“ Paul Wentzcke und der Westen des Deutschen Reiches in Zeiten der französischen Besatzung (1918 – 1930/35), Magisterarbeit Bonn o. J. (2006); Stefan Laux/Sven Woelke, Paul Wentzcke, in: Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, hrsg. v. Michael Fahlbusch/Ingo Haar, München 2008, 740 – 743.

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ringen, den Sieger von Wien 1683 (1943). Umso härter traf Wentzcke das 1945 ausgesprochene Verbot wissenschaftlicher Betätigung durch die Besatzungsmächte. 1949 wurde er als völlig unbelastet eingestuft. Sein Lehrauftrag wurde auf allgemeine Geschichte erweitert – Vorlesungen und Übungen hielt er bis 1956 –, zugleich wurde er Vorstandsmitglied der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, wenig später Mitglied des Verwaltungsrats und des Vorstands des aus der Deutschen Akademie 1951 hervorgehenden GoetheInstituts. Von der allgemeinen Geschichtsforschung herkommend, hatte Wentzcke von Friedrich Meinecke den Anstoß erhalten, sich dem Zusammenhang zwischen der deutschen National- und Einheitsbewegung und ihren meist der Burschenschaft zuzurechnenden Führern zu widmen, ein Thema, dem er lebenslang besondere Aufmerksamkeit in seinen rund 400 größeren und unzähligen kleineren Veröffentlichungen zuwandte. Bereits im ersten Band der von der BHK begründeten Reihe, den „Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung“ (Heidelberg 1910), veröffentlichte er einen umfangreichen Aufsatz über Heinrich von Gagern, Heidelberger und Jenaer Burschenschafter und 1848/49 Präsident der Frankfurter Nationalversammlung78. 1919 erschien Wentzckes Geschichte der frühen oder Urburschenschaft samt deren Vorgeschichte, 1927 sein gleichfalls von der BHK herausgegebenes Buch über „Die deutschen Farben“, das ein Standardwerk im Flaggenstreit zwischen den Anhängern von Schwarz-Weiß-Rot und Schwarz-Rot-Gold als Farben der Weimarer Republik wurde und noch 1949 den Parlamentarischen Rat bei der Wahl der schwarz-rotgoldenen Bundesflagge beeinflußte. Daran schlossen sich eine Bibliographie der Flugschriften zur deutschen Verfassungsgeschichte von 1848 bis 1851, der später eine mehrbändige Briefsammlung deutscher Liberaler von 1871 bis 1890 und eine Geschichte der Revolution von 1848/49 folgte79. Die Niederlage von 1918 ließ ihn sich wieder verstärkt der Geschichte der Rheinlande und Elsaß-Lothringens zuwenden. Die Preußische Akademie der Wissenschaften verlieh ihm 1929 ihre Leibniz-Medaille. Bereits als Student interessiert, war Wentzcke seit 1900 bzw. 1908/09 in die Arbeit der BHK eingebunden. Die Hauptversammlung wählte „Archiv-Assistent Dr. Wentzcke“ 1911 in den Vorstand, 1912 wurde er Schriftführer. Im folgenden Jahr rückte er zum Geschäftsführer auf, was er 17 Jahre lang blieb. 1930 trat Wentzcke für die nächsten 30 Jahre die Nachfolge Herman Haupts als BHK/GfbG78 Zur Geschichte Heinrich von Gagerns. Seine Burschenschafterzeit und seine deutsche Politik, in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. 1, hrsg. v. Herman Haupt, Heidelberg 1910, 162 – 239; Wentzckes zahlreiche Gagern-Arbeiten würdigt zuletzt Frank Möller, Heinrich von Gagern. Eine Biographie, Habilitationsschrift Jena 2004. 79 Das Manuskript der Revolutionsgeschichte in BAK, DB 9 (Anm. 9), N. Nachlässe: Paul Wentzcke; das Buch war auch die GfbG-Jahresgabe 1937; ebd., O. GfbG (BHK), GfbG/ Archiv: Tagungen und Vorträge, Rundschreiben v. 20. 11. u. 6. 12. 1937.

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Vorsitzender an, zugleich nahm er das Amt des Schriftführers wahr. Bereits für die Bände 7 (1921) und 13 (1932) der „Quellen und Darstellungen“ war er Mitherausgeber, Band 14 (1934) bis 17 (1940) Alleinherausgeber. 1957 regte Wentzcke die Fortsetzung in den „Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert“ an, wobei ihm an einer stärkeren Betonung der deutschen Nationalbewegung gelegen war, gerade auch unter den aktuellen Gegebenheiten der Teilung Deutschlands. Der Frankfurter Stadtarchivar Wolfgang Klötzer nannte ihn entsprechend einen „Historiker der deutschen Einheit“, deren Wiedererringung ihm tiefes Anliegen war80. IV. Standesorganisation, Fach- und Interessenverein Die Breite des Engagements und die Ämterfülle Paul Wentzckes ist derart beachtlich, daß eine seiner Gründungen bisher fast völlig außerhalb des Blickfelds blieb, die 1925 entstandene „Vereinigung deutscher nichtstaatlicher Archivare“ (VdnA). Wentzcke war nicht nur der maßgebliche Gründer, sondern auch lange Jahre Vorsitzender81. Die VdnA ist eine direkte Folge der 1924 gegründeten „Vereinigung der deutschen staatlichen Archivare“ (VdsA), deren Nachfolger seit 1946 der „Verband deutscher Archivare“ bzw. „Verband deutscher Archivarinnen und Archivare“ (VdA) ist, der erste überregionale und archivspartenübergreifende Fach- und Berufsverband des deutschen Archivwesens82. Vor 1924 gab es nur regionale Verbände wie die 1896 gegründete „Vereinigung thüringischer Archivare“ oder den „Verband der wissenschaftlichen Beamten an preußischen Staatsarchiven“83. Die nähere Untersuchung korporativer Zugehörigkeiten würde hier manches offenbaren, etwa zeigte Reinhold Koser anscheinend besonderes Engagement84.

80 Wolfgang Klötzer, Historiker der deutschen Einheit: Paul Wentzcke, in: BBl 74/8 – 9 (1959), 192 – 194. 81 S. Anm. 69; bruchstückhaft läßt sich die VdnA-Geschichte rekonstruieren aus BAK, DB 9 (Anm. 9), N. Nachlässe: Paul Wentzcke; ein eigenes VdnA-Archiv scheint nicht zu existieren. 82 D. Degreif/P. Dohms, Verein Deutscher Archivare (Anm. 1); s. a. http://www.vda.archiv.net/ (Stand: 15. 5. 2014). 83 Ebd. 84 Bis hin zur Einflußnahme bei der Verleihung von Honorarprofessuren, etwa an den elsaß-lothringischen und späteren Reichsarchivar Hans Kaiser (1874 – 1952), Alter Herr der Burschenschaft Alemannia auf dem Pflug Halle; BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Hans Kaiser, Burschenschaft der Pflüger-Halle zu Münster, Archiv, Personalia: Kaiser, Hans; H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 22, 113 f., 118 – 122, 129, 139, 143, 163, 174, 184, 297, 371, 386, 390; ders., Vom Osten (Anm. 69), 111 f.; ders., „… die Zugehörigkeit“ (Anm. 16), 266 – 274; ders. (Bearb. u. Hrsg.), Max Flemmings „Geschichte der Verbindung Pflug-Halle 1841 – 1860“ (Manuskript Halle 1944). Ein Beitrag zur Geschichte der christlichen Burschenschaft [in Vorbereitung].

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Die VdnA-Gründung war notwendig, weil die VdsA sich im wesentlichen auf die wissenschaftlich ausgebildeten Archivare im Reichs- und Landesdienst beschränkte. Wentzcke war das ein Dorn im Auge, zumal er aus dem Reichsdienst kam und sich als nunmehr in städtischen Diensten stehender Archivar abgewertet und düpiert fühlte. Er erstrebte eine ähnliche, auf Gleichberechtigung zielende Zusammenfassung und Vertretung für die kommunalen Archivare, die Kollegen in Adels- und Familienarchiven, in Kirchen und Wirtschaft, an Hochschulen, Stiftungen usw.85 Dabei bediente er sich der ihm zugänglichen Netzwerke, vorrangig Burschenschafter, und legte den Schwerpunkt auf die Stadtarchivare, wahrscheinlich weil er hier, da selbst auf diesem Feld tätig, auch ehestens einen Anknüpfungspunkt hatte86. Der Leiter des Stadtarchivs Frankfurt a. M. etwa war seit 1887 ein guter Freund Herman Haupts, Archivdirektor Dr. Rudolf Jung (1859 – 1922), Mitgründer und Vorsitzender der Frankfurter Historischen Kommission, der später auch Wentzcke angehören sollte87. Jungs Amtsvorgänger, Hermann Grotefend, war Haupt ebenfalls eng verbunden88. Vor allem über Haupt und ihre gemeinsamen Aktivitäten lernte Wentzcke sie näher kennen und stand im beständigen wissenschaftlichen und mehr und mehr auch freundschaftlichen Austausch. Zudem war ein enger Mitarbeiter und Stellvertreter Jungs sowie sein Nachfolger Dr. Otto Ruppersberg (1877 – 1951). Er stammte aus Marburg, besuchte dort Schule und Universität, war seit 1895 Mitglied der Marburger Burschenschaft Arminia – der bereits sein Vater angehörte – und äußerst eng in Haupts und Wentzckes Forschungen eingebunden. Seit 1909 war Ruppersberg als Archivar in Frankfurt und leitete ab 1922 das Stadtarchiv89. Zugleich war er Vorsitzender des „Frankfurter 85 Kontakte zu Wirtschaftsarchivaren vermittelte Wentzcke etwa Otto Pich (1857 – 1939), seit WS 1876/77 Mitglied der Burschenschaft Rugia Greifswald, 1888 – 1918 Archivar bei der Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation (AGFA) in Berlin; BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Pich, Otto; Jens Carsten Claus, Die Mitglieder der Greifswalder Burschenschaft Rugia 1856 – 1944, in: „… ein großes Ganzes“ (Anm. 14), 429 – 515, hier 463, Nr. 237. 86 Vgl. BAK, DB 9 (Anm. 9), N. Nachlässe: Paul Wentzcke. 87 W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 130; 2, 290 f.; Otto Ruppersberg, Rudolf Jung. Nachruf in der Gedenkfeier des Vereins am 26. Oktober 1922, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst (künftig zit.: AfFGuK) 32 (1925), 1 – 11; Schriften und Aufsätze Robert Jungs, in: AfFGuK 32 (1925), 12 – 19; s. a. H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 74, 98. 88 S. Anm. 35. 89 Dazu und im folgenden: BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Ruppersberg, Otto; Rudolf Bonnet (Bearb.), Die Toten der Marburger Burschenschaft Arminia, Teil 4, Frankfurt a. M. 1960, 17, Nr. 17; Harry Gerber, Nachruf. Otto Ruppersberg zum Gedächtnis, in: Der Archivar 4 (1951), Sp. 142 – 144; N. N., Nachruf Otto Ruppersberg, in: AfFGuK 40 (1951), 7 – 8; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 48, 95, 130; 2, 510 f.; Wolfgang Klötzer (Hrsg.), Sabine Hock/Reinhard Frost (Bearb.), Frankfurter Biographie. Personengeschichtliches Lexikon, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1994 u. 1996, hier 2, 228 f.; Konrad Bund, 1436 – 1986. 550 Jahre Stadtarchiv Frankfurt am Main. Eine Kurzübersicht über seine Bestände (Mitteilungen aus dem Frankfurter Stadtarchiv, 3), Frankfurt a. M. 1986, 14, 53, 190, 223; Konrad Schneider, Das Stadtarchiv Frankfurt 1933 bis 1945, in: R. Kretzschmar u. a., Archivwesen (Anm. 2), 372 – 384, hier 372 f.

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Vereins für Geschichte und Landeskunde“ – in dieser Funktion gab er 1929 bis 1938 das „Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst“ heraus – und der Frankfurter Historischen Kommission. Er gehörte der VAB Frankfurt an und bekleidete im Laufe der Jahre zahlreiche Ämter in Vorstand und Ausschüssen. Als die VAB Frankfurt 1925/27 bis 1933 den Vorsitz des Gesamtverbands der VAB übernahm, war Ruppersberg Beisitzer im Vorortvorsitz und stellvertretender Vorsitzender90. Ein weiterer Stellvertreter war nach 1935 Wentzcke, der Ruppersberg wiederum zum Vorstand des Wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer zuzog91. Dabei waren beide seit Studententagen als Abgeordnete ihrer Burschenschaften auf Burschentagen und in verschiedenen Ausschüssen miteinander bekannt und eng befreundet. Als VdnA-Mitgründer war Ruppersberg Vorstandskollege Wentzckes und half über Jahre bei der Organsiation der Tagungen92. Auch Ruppersberg Nachfolger als Direktor des Stadtarchivs, Prof. Dr. Harry Gerber, war Burschenschafter und ähnlich stark engagiert93. Das Wentzcke zum VdnA-Vorsitzenden gewählt wurde hing auch damit zusammen, daß die Vereinigung gute Beziehungen zum Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine anstrebte, dessen Vorstandsmitglied Wentzcke war94. Sein ehemaliger Chef Georg Wolfram hatte im Gesamtverein als Vorstandsmitglied und Vorsitzender großen Einfluß und war der Organisator eigener burschenschaftlicher Tagungen am Rande der Mitgliederversammlungen95, die seit den 1920er Jahren immer auf die Tagungsorte des Deutschen Archivtags fielen. Sie möglichst grenznah oder in Österreich zu veranstalten, war auch eine gewollte politische Demonstration für Revision und Anschluß96. Daraus machten weder Wolfram noch Wentzcke noch andere ein Hehl97. 90

BAK, DB 9 (Anm. 9), C. II. 1. VAB, Vorort, Frankfurt a. M., 1925 – 1932/33; ebd., C. II. 1. VAB, Orte: Frankfurt a. M., o. L. 91 Ebd. 92 S. Anm. 89; H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 74 – 76, mit weiteren Nachweisen. 93 Zu Gerber s. Anm. 77. 94 S. Anm. 69; vgl. BAK, DB 9 (Anm. 9), N. Nachlässe: Paul Wentzcke, Wentzcke an Ruppersberg, 25. 6. 1928 (Abschrift); zum Gesamtverein Alfred Wendehorst, 150 Jahre Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 138 (2002), 1 – 65; der Gesamtverein wurde 1852 von einem Burschenschafter, Hans von und zu Aufseß (1801 – 1872), gegründet; H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 63, 389. 95 BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Wolfram, Georg; s. Anm. 52. 96 A. Wendehorst, Gesamtverein (Anm. 94), 22; s. Anm. 47. 97 Wolfram war ein „Deutschnationaler“, für den auch die Geschichtswissenschaft einen Beitrag zur „Wiedererringung deutscher Größe“ zu leisten hatte; A. Wendehorst, Gesamtverein (Anm. 94), 22; BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Wolfram, Georg (1858 – 1940); charakteristisch etwa Georg Wolfram, Die Aufgaben der örtlichen Geschichtsvereine im Rahmen der großen gesamtdeutschen Bewegung, in: Düsseldorfer Jahrbuch 36 (1930/31), 183 – 192; das Jahrbuch wurde von Wentzcke herausgegeben; Wolfram hatte seinen Freund Wentzcke wiederum als seinen Nachfolger in der Direktion des Instituts der Elsaß-Lothringer favorisiert; s. Anm. 69.

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Gleichfalls gute Beziehungen zum Gesamtverein strebte eine lose Vereinigung an, die, auch von Wentzcke initiiert, als Vorläufer der VdnA betrachtet werden kann, zu der sich aber kaum Nachweise finden98 : der „Archivars-Verein“ (AV). Wentzcke plante zunächst, auch die Bibliothekare einzubeziehen – erster Ansprechpartner war der Burschenschafter Hermann Reuter, Bibliothekar an der Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf und folglich gewissermaßen „nebenan“ wirkend99 –, hatte damit aber keinen Erfolg. Die bibliothekarischen Vereine waren organisatorisch bereits zu verfestigt, als das ein Zusammengehen mit ihnen möglich gewesen wäre. Wahrscheinlich war der „Widerspruch zwischen Archivar und Bibliothekar“, die Unterschiedlichkeit beider Berufsfelder, auch zu groß100. Zudem wurde der AV niemals eingetragener Verein, unsicher, ob er überhaupt eine gewisse Vereinsstruktur erreichte. Der AV wurde auf dem Deutschen Archivtag am 5. August 1913 in Breslau gegründet, unmittelbar nachdem Wentzcke im Vorjahr zum Direktor des Stadtarchivs Düsseldorf berufen worden war. Er wurde von den etwa 20 Mitgliedern, in der Regel Stadtarchivare, zum Vorsitzenden gewählt, Stellvertreter wurde Otto Ruppersberg. Notwendig war die Gründung Wentzcke zu Folge, weil „die Herren Kollegen der deutschen Bundesstaaten uns in den Städten, will ich einmal sagen, nicht für gleich nehmen“101. Die Motivation war folglich der bei der VdnA-Gründung 1925 nicht unähnlich. Bereits vor der Gründung scheint Wentzcke Herman Haupt mit seinem Plan vertraut gemacht zu haben, auch, daß er vornehmlich eine engere Vernetzung der Stadtarchivare im Auge habe, nachdem andere wenig oder kein Interesse signalisiert hatten. Haupt reagierte positiv, beglückwünschte Wentzcke und Ruppersberg, war wohl auch vom Enthusiasmus der beiden jungen Archivare beeindruckt. Haupt machte Wentzcke außerdem auf den Umstand aufmerksam, daß der Gedanke eines eigenen Verbands der kommunalen Archive und Archivare nicht neu war. Nach seiner Ansicht vertrat ihn zuerst Karl Gustav Schmidt (1829 – 1892)102. Er war kein Archivar, sondern „Schulmann und Geschichtsforscher“103. Nach Studium und 98

Außer anscheinend in: BAK, DB 9 (Anm. 9), N. Nachlässe: Paul Wentzcke. Zu Reuter s. Anm. 59; Reuter war auch in der VAB Düsseldorf engagiert, u. a. als Vorstandsmitglied und Mitglied verschiedener Ausschüsse; BAK, DB 9 (Anm. 9), C. II. 1. VAB, Orte: Düsseldorf, o. L. 100 BAK, DB 9 (Anm. 9), N. Nachlässe: Paul Wentzcke, Reuter an Wentzcke, 11. 8. 1910. 101 BAK, DB 9 (Anm. 9), N. Nachlässe: Paul Wentzcke, Wentzcke an Hagedorn, 14. 1. 1912. 102 Ebd., Haupt an Wentzcke, 29. 12. 1912. 103 Hierzu und im folgenden: BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Schmidt, Karl Gustav; ADB 54 (1908), 100 – 102; E[rnst]. A[ugust]. Gries, Hercynia-Heidelberg im Bunde mit dem Christlich-burschenschaftlichen Progreß, 2 Bde., Bad Essen 1935 u. 1936, hier 2, 74, Nr. 201; Harald Lönnecker (Bearb.), Ernst August Gries. Progreß-Burschenschaft Hercynia Göttingen 1845 – 1867/68 (Veröffentlichungen des Archivs der Deutschen Burschenschaft, Neue Folge, 15), Koblenz 2014, 24, Nr. 202. 99

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Promotion zum Dr. phil. in Berlin und Göttingen – dort schloß er sich der Burschenschaft Hercynia an – wurde er Gymnasiallehrer in Hildesheim, Göttingen, Hannover, Nordhausen i. Thür. und Halberstadt, wo er schließlich lange als Direktor des Domgymnasiums wirkte. Dazu war er Stadtverordneter, Mitglied des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde und der Historischen Kommission der Provinz Sachsen. Bekannt wurde er vor allem durch die Herausgabe des zweibändigen „Urkundenbuchs der Stadt Halberstadt“ (1878 u. 1879) und des vierbändigen „Urkundenbuchs des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe“ (1883, 1884, 1887 u. 1889). Herman Haupt hatte Schmidt bereits 1887 auf die Mitarbeit an der burschenschaftlichen Geschichte angesprochen, einer Bitte, der sich Schmidt nicht verschloß. Eine der ersten größeren Veröffentlichungen Schmidts war das „Urkundenbuch der Stadt Göttingen“ in zwei Bänden. „Durch sein Bemühen wurde das Stadtarchiv zu Göttingen, das früher nur wenig für geschichtliche Zwecke benutzt war, dem Studium erschlossen und in den Jahren 1863 und 1867 die beiden von ihm bearbeiteten bis zu Ende des 15. Jahrhunderts reichenden Bände des Göttinger Urkundenbuchs herausgegeben.“104 Die Arbeit im Göttinger wie später im Halberstädter Stadtarchiv scheint Schmidt angeregt zu haben, über Möglichkeiten des Vergleichs zwischen verschiedenen städtischen Überlieferungen nachzudenken. Dabei schwebte ihm vorrangig eine wissenschaftliche Zusammenarbeit vor, aber er dachte auch an einen Interessenverband. Beratend stand ihm dabei ein „Bundesbruder“ zur Seite, der gleichfalls Hercynia Göttingen angehörende Friedrich Wigger (1825 – 1886)105, auch er in engem Kontakt mit Herman Haupt. Wigger war gleich Schmidt zunächst Lehrer am Gymnasium Fridericianum in Schwerin i. Meckl. gewesen, wurde 1861 Archivregistrator am Großherzoglichen Geheimen und Hauptarchiv, zugleich Vorleser des Großherzogs, und stieg bis zum Geheimen Archivrat auf. Er soll sich auch für das Schweriner Stadtarchiv interessiert haben, bekannt wurde er als Vorstandsmitglied und Vorsitzender des Vereins für Mecklenburgische Geschichte sowie durch seine zahlreichen Veröffentlichungen zur Landesgeschichte, daneben war er seit 1860 Herausgeber der „Mecklenburgischen Annalen“, seit 1880 der „Mecklenburgischen Jahrbücher“ sowie des „Mecklenburgischen Urkundenbuchs“ (14 Bde., 1863 – 1886) und der „Geschichte der Familie von Blücher“ (3 Bde., 1870, 1878, 1879). Spätestens seit der Mitte der 1880er Jahre, vielleicht auch früher, hatte es Beziehungen zwischen Schmidt und Wigger zum Bremer Stadtarchivar Wilhelm von Bippen gegeben, der seinerseits und ebenso wie Rudolf Jung der AV-Gründung sehr wohlwollend begegnete und den mit ihm näher befreundeten Hamburger Stadtar-

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BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Schmidt, Karl Gustav. Hierzu und im folgenden: BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Wigger, Friedrich; E. A. Gries, Hercynia-Heidelberg (Anm. 103) 2, 79, Nr. 244; H. Lönnecker, Hercynia Göttingen (Anm. 103), 28 f., Nr. 245. 105

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chivar Anton Hagedorn auf das Projekt aufmerksam machte106. Allerdings ließen sowohl Bippen wie Hagedorn durchblicken, daß sie als Hanseaten und Archivare von „Bundesgliedern des Deutschen Reichs“ sich als auf einer anderen Stufe stehend begriffen, an die Wentzcke im rheinischen Düsseldorf, in der preußischen Provinz, nicht heranreiche. Sie wurden auch nur assoziierte AV-Mitglieder, unterrichteten sich über die Aktivitäten und verfolgten sie107. Dafür reagiert Pius Dirr aus Augsburg positiv108, aus Osnabrück Erich Fink109. Hermann Grotefend sicherte Unterstützung zu, da er mit einem städtischen Archiv aus seiner Frankfurter Zeit vertraut sei, zudem es seinem jungen Nachfolger Ruppersberg schuldig sei, ihm „helfend […] beizuspringen“110. Bezeichnend, daß es sich beim Kern des AV nur um Burschenschafter handelte. Das konnte sogar dazu führen, daß sich Archivare unter ausdrücklichem Hinweis auf ihre Zugehörigkeit zur Burschenschaft an Wentzcke wandten und fragten, was es mit dem neuen Verein auf sich habe111. Das war etwa der Fall bei Hermann Hoogeweg (Arminia Breslau), der zwischen 1894 und 1910 am Staatsarchiv Hannover wirkte, später Leiter des preußischen Staatsarchivs in Wetzlar, und der 1908 das „Verzeichnis der Stifter und Klöster Niedersachsens vor der Reformation“ und 1901 bis 1911 die Bände 2 bis 6 des „Urkundenbuchs des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe“ veröffentlichte112. Ebenso wollte Friedrich Philippi (Alemannia Bonn) nähere Einzelheiten wissen, 1888 bis 1897 am Staatsarchiv Osnabrück, später Honorarprofessor und Leiter des Staatsarchivs Münster, der zusammen mit Max Bär zwischen 1892 und 1902 das vierbändige „Osnabrücker Urkundenbuch“ herausgab, dazu Vorsitzender des „Historischen Vereins zu Osnabrück“ war113. 106

BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Bippen, Wilhelm von. BAK, DB 9 (Anm. 9), N. Nachlässe: Paul Wentzcke, Bippen an Wentzcke, 20. 8. 1913; ebd., Hagedorn an Wentzcke, 18. 8. 1913. 108 Ebd., Dirr an Wentzcke, 22. 3. 1913. 109 Ebd., Fink an Wentzcke, 12. 4. 1913. 110 Ebd., Grotefend an Wentzcke, 12. 4. 1913. 111 Ebd., Hoogeweg an Wentzcke, 4. 10. 1913; ebd., Philippi an Wentzcke, 13. 4. 1914. 112 Zu Hoogeweg (1857 – 1930), BHK- bzw. GfbG-Mitglied und gleichfalls in das Netz Herman Haupts eingebunden: BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Hoogeweg, Hermann; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 53; 2, 268; H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 280. 113 Zu Philippi (1853 – 1930), nicht nur BHK- bzw. GfbG-Mitglied, sondern auch vielfältig in den VAB Osnabrück und Münster aktiv: BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Philippi, Friedrich; ebd., C. II. 1. VAB, Orte: Osnabrück, o. L.; ebd., C. II. 1. VAB, Orte: Münster i. Westf., o. L.; W. Leesch, Archivare (Anm. 28) 1, 93; 2, 453; Wilfried Reininghaus, Friedrich Philippi. Historiker und Archivar in wilhelminischer Zeit – eine Biographie (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, 15), Münster i. W. 2014; s. a. Friedrich Philippi, Rückblick auf die Thätigkeit des historischen Vereins zu Osnabrück während der ersten 50 Jahre seines Bestehens. Vortrag gehalten in der Generalversammlung am 12. November 1897, in: Mittheilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück 22 (1897), 280 – 304; vgl. Ludwig Schirmeyer, 100 Jahre „Verein für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück“, in: ebd. 62 (1947), 9 – 64. 107

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Eine Ausnahme in diesem Kreis war als Nicht-Burschenschafter Prof. Dr. Hermann Oncken, Alter Herr der Landsmannschaft Spandovia Berlin in der Deutschen Landsmannschaft, auch bekannt als nationalliberaler Politiker und politischer Publizist, der sich in der Weimarer Republik für die Außenpolitik des Burschenschafters Gustav Stresemann einsetzte. 1906 wurde Oncken Ordinarius für Neuere Geschichte in Gießen und gehörte zu Haupts Freundeskreis114. Maßgeblich gefördert wurde die schnelle Annäherung durch Hermanns Onkel Wilhelm Oncken (Frankonia Heidelberg), der von 1870 bis zu seinem Tode Geschichte in Gießen lehrte, mit Haupt befreundet war und eng mit ihm zusammenarbeitete. Dazu kam der jüngere Oncken aus dem Archivdienst, 1891 bis 1894 war er wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Großherzoglichen Haus- und Zentralarchiv in Oldenburg, wodurch sich erste Beziehungen zu Haupt ergaben. 1892 war er Mitbegründer und 1894 bis 1904 Schriftleiter des „Jahrbuches für die Geschichte des Herzogtums Oldenburg“, zur 300-Jahr-Feier der Universität Gießen gab er 1908 „Der hessische Staat und die Landesuniversität Gießen“ heraus, 1913 erschien von ihm der Aufsatz „G. G. Gervinus und das Programm seines Lebens im Jahre 1832“ in Band 4 der von Haupt, später von Wentzcke herausgegebenen „Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung“115. Oncken wandte sich Anfang 1914 an Wentzcke mit der Bitte um nähere Auskunft116. Danach verlor er jedoch das Interesse oder sein Antwortschreiben ist nicht überliefert. Schon im Vorfeld der Gründung machte sich Wentzcke Gedanken darüber, welche Zwecke der AV verfolgen sollte117. So sollte er die Beziehungen zwischen den Archivaren vertiefen, wissenschaftlich wie persönlich, dem Austausch dienen über alles, was einen Archivar interessieren könnte. Dazu sollte es mehr oder weniger regelmäßige Treffen geben, entweder am Rande des Archivtags oder provinzweise, wenn der Verein denn einmal, so die Hoffnung, mehr Mitglieder zählen würde. Als solche kamen nur wissenschaftliche, also universitär ausgebildete Archivare in Frage, und es war darauf zu dringen, daß an den kommunalen Archiven auch nur solche angestellt würden, deren Besoldung ihrer Ausbildung zu entsprechen habe. Der AV war folglich auch als Standes- und Interessenvertretung gedacht. Außerdem war er großdeutsch orientiert, war offen für Österreicher und Deutsche aus dem Baltikum. Aus Kronstadt in Siebenbürgen erkundigte sich etwa der Leiter der Stadtverwaltung, Magistratsrat Johann Ernst Hintz, in dessen Zuständigkeit das

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Über den er wohl in Kontakt mit Wentzcke kam; vgl. BAK, DB 9 (Anm. 9), M. Burschenschafterlisten, Haupt, Herman. 115 Heidelberg 1913, 2. Aufl. 1966, 354 – 366; zu Hermann (1869 – 1945) und Wilhelm Oncken (1838 – 1905) mit weiteren Nachweisen H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), XV, 30, 38, 49, 64, 124. 116 BAK, DB 9 (Anm. 9), N. Nachlässe: Paul Wentzcke, Wentzcke an Oncken, 22. 2. 1914; das Anschreiben Onckens fehlt. 117 Hierzu und im folgenden: BAK, DB 9 (Anm. 9), N. Nachlässe: Paul Wentzcke, Wentzcke an Ruppersberg, 28. 6. 1913; vgl. ebd., Ruppersberg an Wentzcke, 2. 10. 1913.

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Harald Lönnecker

Stadtarchiv fiel118, auch er ein Burschenschafter119. Hintz, der den AV als ein weiteres Band begrüßte, welches die Deutschen jenseits der engeren Reichsgrenzen angesichts der aus Rußland dräuenden panslawistischen Gefahr mit dem Reiche verbinde, trieb offensichtlich weniger Archivisches als Politisches um120. Wentzcke versicherte ihn des dauernden Beistands der Reichsdeutschen und sagte für den AV zu: „Dem deutschen Vaterland und der Deutschen Burschenschaft zu dienen sind Selbstverständlichkeiten, die keiner besonderen Erwähnung bedürfen!“121 Er ahnte wohl kaum, daß wenige Monate später der Erste Weltkrieg beginnen würde. Er fegte auch den AV hinweg. V. Schluß Paul Wentzcke war seit seiner Studentenzeit fest in das burschenschaftliche Beziehungs- und später Forschungsnetzwerk eingebunden, die Zugehörigkeit war konstitutiv für sein ganzes Leben122 – und er wird damit nicht allein gewesen sein. Als BHK/GfbG-Vorstandsmitglied und -Vorsitzender nutzte er es nicht nur für wissenschaftliche Zwecke, zur Beförderung und Verfolgung eigener Forschungsvorhaben, sondern auch in anderer Hinsicht, so zur Gründung archivarischer Fachverbände, 1913 des Archivars-Vereins und 1925 der Vereinigung deutscher nichtstaatlicher Archivare. Hier läßt sich exemplarisch ein korporativ geprägter Einfluß auf Organisationen erkennen, die auf den ersten Blick aber auch gar nichts mit Studentenverbindungen zu tun zu haben scheinen. Immerhin gewährt es einen Blick auf Personen, Umstände und Strukturen, deren Zugehörigkeit symbolisierende „Selbstverständlichkeiten“ fast „nur den Eingeweihten bekannt und für Außenseiter oft nicht recht verständlich“ sind. Hier erfolgt keine explizite Dokumentation, sondern „Formen der Vergesellschaftung, deren Kohäsion weithin auf der Kenntnis von wenig artikulierten Symbolen beruht“, und die von etlichen Zeitgenossen als „normal“ empfunden wurden123. Jenseits von offiziellem Umgang und Schriftverkehr wird ein Netzwerk sichtbar, das sich dem Nichtzugehörigen verschließt. Es tritt schlaglichtartig ein Phänomen hervor, das bei entsprechender Quellenlage sicherlich auch in anderen Bereichen 118

Ebd., Hintz an Wentzcke, 11. 4. 1914. Zu Hintz (1845 – 1920), Alter Herr der Burschenschaft Olympia Wien, mit weiteren Nachweisen H. Lönnecker, Männerchorwesen (Anm. 40), 437 – 440. 120 S. Anm. 118. 121 BAK, DB 9 (Anm. 9), N. Nachlässe: Paul Wentzcke, Wentzcke an Hintz, 2. 5. 1914. 122 S. o. I. Studenten – Verbindungen – Burschenschaft; III. Paul Wentzcke. – Im Juni 1938 kreidete die Dienststelle des Stellvertreters des Führers Wentzcke an, er „war mit Stresemann bekannt, wenn nicht gar befreundet. Er ist immer national eingestellt gewesen und hat sich nach seiner Übersiedlung nach Frankfurt [1935] vom politischen Leben völlig zurückgezogen. Sein persönlicher Verkehr erstreckt sich in erster Linie auf seine Bundesbrüder (Burschenschaft), die sich von der neuen Entwicklung innerhalb der Studentenschaft abseits halten, bzw. diese ablehnen. Es ist bekannt, dass er besonders auch mit jüdisch versippten Herren verkehrt.“; H. Lönnecker, BHK/GfbG (Anm. 3), 292. 123 H. Lönnecker, „… nur den Eingeweihten bekannt“ (Anm. 6), 134; ders., „… der zu Recht bevorzugte“ (Anm. 4), 201. 119

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auszumachen wäre124. Verbindungszugehörigkeit schuf persönliche Nähe und Vertrauensvorschüsse, gab Auskunft über die gesellschaftliche und politische Verortung eines Gegenübers und damit über die soziale Paßfähigkeit. Es entstanden Netze der Kommunikation und Nahverhältnisse, die viele Personen einbezogen125. Illustriert wird im konkreten Fall einmal mehr das Gewicht, welches studentische Verbindungen und Vereine im 19. und 20. Jahrhundert hatten. Sie waren einer der wesentlichsten Faktoren der Lebenswelt und Vernetzung von Studierenden und Studierten, von Akademikern im gesellschaftlich-sozialen Umfeld und zählten „zu den mächtigsten sozialen Formationen ihrer Zeit“, wie der Soziologe Norbert Elias (1897 – 1990) – selbst Verbindungsmitglied in Breslau – schon vor bald einem Vierteljahrhundert bemerkte126. Allerdings muß man sie „lesen“ und erkennen können, eine Fähigkeit, die immer mehr abhanden zu kommen scheint127. 124 Etwa unter Nordisten, Ägyptologen usw.; für Juristen H. Lönnecker, „… der deutschen Studentenschaft“ (Anm. 4); für Historiker ders.: Ein „seltsames Mittelding … zwischen histor. Verein und Kommission“. Historische Fachvereine an deutschen Hochschulen ca. 1870 – 1935 [in Vorbereitung]; zu akademisch gebildeten Landwirten bereitet Herr Björn Thomann, M.A., Siegburg b. Bonn, eine Dissertation vor; für die Landesgeschichte wies zuletzt KarlUlrich Gelberg, München, darauf hin, der besonders die Netzwerke herausstellte, „die sich etwa in Studentenverbindungen bildeten und in Philisterrunden fortbestanden, und die in der personenbezogenen Forschung bislang ungenügend beachtet würden“; Tagungsbericht „Neue landesgeschichtliche Ansätze zur Erforschung der Weimarer Republik. Personen – Institutionen – Infrastruktur“, München, 6.–7. 3. 2014, in: H-Soz-u-Kult, http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id=5397 (Stand: 30. 5. 2014). 125 eispielhaft: Harald Lönnecker, Deutsches Lied und Politik. Der Sänger Johannes Hohlfeld (1888 – 1950) – ein unbekannter Aspekt der Biographie eines bedeutenden deutschen Genealogen, in: Herold-Jahrbuch, Neue Folge 7 (2002), 153 – 188; ders., „Bruder in Paulo!“ – Netzwerke um Rudolf Kötzschke, in: 100 Jahre Landesgeschichte (1906 – 2006). Leipziger Leistungen, Verwicklungen und Wirkungen (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 38), hrsg. v. Enno Bünz, Leipzig 2012, 121 – 157; ders., „… der deutschen Studentenschaft“ (Anm. 4); ders., Robert Blum (Anm. 7); ders., „… die Zugehörigkeit“ (Anm. 16); ders., Theodor Litt (Anm. 70); ders., Netzwerke der Nationalbewegung – Das Studenten-SilhouettenAlbum des Burschenschafters und Sängers Karl Trebitz, Jena 1836 – 1840, in: „Deutschland immer gedient zu haben ist unser höchstes Lob!“ Zweihundert Jahre Deutsche Burschenschaften. Eine Festschrift zur 200. Wiederkehr des Gründungstages der Burschenschaft am 12. Juni 1815 in Jena (DuQ, 21), hrsg. v. dems., Heidelberg 2015, 473 – 666. – Zu ergänzen wäre dies um die Zugehörigkeit zu Freimaurerlogen, Casino- und Museumsgesellschaften usw.; vgl. StefanLudwig Hoffmann, Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840 – 1918 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 141), Göttingen 2000; Alf-Rüdiger Schmuker, Mittelpunkt der akademischen Geselligkeit im 19. Jahrhundert. Das Tübinger Museum, Magisterarbeit Tübingen 1989; ders./Sebastian Kolb, Die Museumsgesellschaft Tübingen. Ein Mittelpunkt kultureller Geselligkeit, Tübingen 1992. 126 Norbert Elias, Zivilisation und Informalisierung. Die satisfaktionsfähige Gesellschaft, in: Norbert Elias. Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Michael Schröter, Frankfurt a. M. 1989, 61 – 158, hier 112 f. 127 Zu den Gründen, vor allem der prosopographischen Kärrnerarbeit: Harald Lönnecker, Rolantia/Arminia Darmstadt (1857 – 1864). Ein Beitrag zur Frühgeschichte technischer Studentenvereinigungen, in: EuJ 59 (2014), 315 – 382, hier 315; ders., Quellen und Forschungen (Anm. 4), 407; ders., „… der zu Recht bevorzugte“ (Anm. 4), 200 – 202; vgl. ders., „… nur den Eingeweihten bekannt“ (Anm. 6), 134.

V. Archivwesen und Archivwissenschaft

Ein Fürst als Heraldiker – Herzog Ernst Bogislaw von Croy (1620 – 1684) Von Ludwig Biewer, Berlin In unserer Zeit werden Wappen, wenn sie denn überhaupt Beachtung finden, häufig entweder nur noch als zur Kunst und zur Kunstgeschichte gehörend angesehen oder als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen von dem Fach Geschichte betreut. Rechtlich oder gar politisch, also im öffentlichen Raum, haben sie keine Bedeutung mehr – sieht man einmal von dem eher bescheidenen und häufig nicht wirklich gepflegten öffentlichen Wappenwesen ab, das sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die Ebene der Kommunen und kommunalen Gebietskörperschaften beschränkt1. Das war früher bis in das 19. Jahrhundert hinein anders. Vom Hochmittelalter bis weit in die Neuzeit boten die Wappen Möglichkeiten zur herrscherlichen und staatlichen Selbstdarstellung und Repräsentation, drückten sie tatsächliche oder angestrebte Machtfülle aus, etwa in den sogenannten Anspruchswappen, und waren von erheblicher staatsrechtlicher Bedeutung2. Deshalb war es nur fast selbstverständlich, dass sich auch Herrscher und Angehörige von Herrscherfamilien, handelnde Politiker und hohe Beamte – entsprechendes Interesse und angemessene Intelligenz vorausgesetzt – mit Wappen beschäftigten. Dies gilt auch für den letzten Nachkommen des bis 1637 im Herzogtum Pommern3 regierenden Greifengeschlechts4, den 1 Leider immer noch gültig: Ludwig Biewer, Öffentliche und staatliche Heraldik in Deutschland – ein Vorbild? in: Genealogica & Heraldica. Report of the 20th International Congress of Genealogical and Heraldic Sciences in Uppsala 9 – 13 August 1992, Stockholm 1996, 120 – 131. – Mit der hier vorliegenden kleinen Studie greife ich ältere Überlegungen auf, vgl. ders., Wissenschaftliche Heraldik in Deutschland vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Einige biographische Skizzen, in: Vom Nutz und Frommen der Historischen Hilfswissenschaften. Beiträge der gemeinsamen Tagung des HEROLD mit seiner Fachgruppe „Historische Hilfswissenschaften“ anläßlich ihres fünfjährigen Bestehens am 5. Oktober 1999 im Museum Europäischer Kulturen in Berlin-Dahlem, hrsg. v. Friedrich Beck/Eckart Henning (HeroldStudien, 5), Neustadt a. d. Aisch 2000, 79 – 90, bes. 81 – 83. 2 Für das Spätmittelalter siehe dazu den überzeugenden Aufsatz von Werner Paravicini, Gruppe und Person. Repräsentation durch Wappen im späten Mittelalter, in: Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekt, hrsg. v. Otto Gerhard Oexle/Andrea von HülsenEsch, Göttingen 1998, 327 – 389. 3 Martin Wehrmann, Geschichte von Pommern. 2 Bde. (Deutsche Landesgeschichte, 5), 2. Aufl. Gotha 1919/21, Neudruck in einem Band Augsburg 1992; Dietmar Lucht, Pommern. Geschichte, Kultur und Wirtschaft bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs (Historische Landeskunde im Osten, 3), Köln 1996; Hans Branig, Geschichte Pommerns. Teil I: Vom

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Ludwig Biewer

Herzog Ernst Bogislaw von Croy (1620 – 1684)5. Schon seine Zeitgenossen rühmten neben seiner tiefen Frömmigkeit, von der noch heute zum Beispiel die von ihm 1669 Werden des neuzeitlichen Staates bis zum Verlust der staatlichen Selbständigkeit 1300 – 1648. Teil II: Von 1648 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bearb. u. hrsg. v. Werner Buchholz (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V, 22 I und II), Köln/Weimar/ Wien 1997/2000; Deutsche Geschichte im Osten Europas. Pommern, hrsg. v. Werner Buchholz, Berlin 1999; Ludwig Biewer, Kleine Geschichte Pommerns (Kulturelle Arbeitshefte, 37), 2. Aufl. Bonn 1999; Pommern im Wandel der Zeiten, hrsg. v. Jan M. Piskorski, Stettin 1999; Geschichte Pommerns im Überblick, hrsg. v. Joachim Wächter im Auftrag der Gesellschaft für pommersche Geschichte, Altertumskunde und Kunst e. V., Greifswald 2014. 4 Martin Wehrmann, Genealogie des pommerschen Herzogshauses (Greifswalder Abhandlungen zur Geschichte des Mittelalters, 11), Stettin 1937; Adolf Hofmeister, Genealogische Untersuchungen zur Geschichte des pommerschen Herzogshauses, Greifswald 1938; Roderich Schmidt, Greifen, Geschlecht der Herzöge von Pommern, in: NDB 7, 29 – 33, auch in: ders., Das Historische Pommern. Personen – Orte – Ereignisse (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V, 41), Köln/Weimar/Wien 2007, 117 – 126; ders., Greifen, Dynastie der Herzöge von Pommern, in: Lexikon des Mittelalters 4, Sp. 1694 f.; Die Greifen. Pommersche Herzöge. 12. bis 17. Jahrhundert. Katalog zur Ausstellung 3. März bis 5. Mai 1996, Kiel 1996; Ralf-Gunnar Werlich, Greifen, in: Dynastien und Höfe, hrsg. v. Werner Paravicini, bearb. v. Jan Hirschbiegel/Jörg Wettlaufer (Residenzenforschung, 15, 1.1), Ostfildern 2003, 74 – 84; Oliver Auge, Identifikation durch Konflikt. Das Beispiel der pommerschen Greifendynastie, in: Bereit zum Konflikt. Strategien und Medien der Konflikterzeugung und Konfliktbewältigung im europäischen Mittelalter, hrsg. v. Oliver Auge/Felix Biermann/Matthias Müller/Dirk Schultze, Ostfildern 2008, 173 – 193; Die Herzöge von Pommern. Zeugnisse der Herrschaft des Greifenhauses. Zum 100-jährigen Jubiläum der Historischen Kommission für Pommern hrsg. v. Norbert Buske/Joachim Krüger/Ralf-Gunnar Werlich (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V, 45), Wien/Köln/ Weimar 2012; Dirk Schleinert, Pommerns Herzöge. Die Greifen im Porträt, Rostock 2012. 5 [Adolf] Häckermann, Croy: Ernst Bogislav, in: ADB 4, 616 f.; M. Wehrmann, Genealogie (Anm. 4), 129; Roderich Schmidt, Ernst Bogislaw, Herzog v. C., in: NDB 3, 428 f.; Max Hein, von Croy, Ernst Boguslaw, Herzog, in: AltprBiographie 1, 117; Die Greifen (Anm. 4), 93 – 96; Zygmunt Szultka, Ksia˛ze˛ Ernest Bogusław von Croy (1620 – 1684), Stolp 1996; Ludwig Biewer, Ernst Bogislaw Herzog von Croy (1620 – 1684). Statthalter in Pommern und in Preußen, in: Das Preußenland als Forschungsaufgabe. Eine europäische Region und ihre geschichtlichen Bezüge. Festschrift für Udo Arnold zum 60. Geburtstag, gewidmet von den Mitgliedern der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, hrsg. v. Bernhart Jähnig/Georg Michels, Lüneburg 2000, 133 – 149 (überarbeitete, erweiterte und bebilderte Fassung in: Varziner Heft Nr. 4, hrsg. v. Hans-Günter Cnotka, Kiel 2004, 4 – 36); interessant: Karl-Heinz Spieß, Erinnerung und Repräsentation (Greifswalder Universitätsreden N. F., 141), Greifswald 2010; jetzt nützlich und gut, da informativ, materialreich und quellennah Haik Thomas Porada, Zur Bedeutung von Konfession und Dynastie im Leben des letzten Bischofs von Cammin, Ernst Bogislaw von Croy, in: Christi Ehr vnd gemeinen Nutzen Willig zu fodern vnd zu schützen. Beiträge zur Kirchen-, Kunst- und Landesgeschichte Pommerns und des Ostseeraums. Festschrift für Norbert Buske, hrsg. v. Michael Lissok/Haik Thomas Porada (Beiträge zur Kirchen-, Kunst- und Landesgeschichte Pommerns, 18), 3 Bde., Schwerin 2014, Bd. 2, 511 – 572. – Der Nachlass des Herzogs befindet sich im GStA PK in Berlin-Dahlem in der dortigen VI. Hauptabteilung und bildet den größten und wesentlichen Teil des dort lagernden Bestandes des Familienarchivs der Herzöge von Croy, der von Porada fruchtbringend genutzt wurde. Die Akten sind frei zugänglich und umfassen etwa 150 Nummern. Sie sind durch ein Findbuch von etwa 1894/95 erschlossen; siehe: Familienarchive und Nachlässe im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Ein Inventar, bearb. v. Ute Dietsch (Veröf-

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gestiftete mächtige Orgel im Dom zu Kammin zeugt6, seine große Bildung und Gelehrsamkeit. Die Croy sind ein ur- und hochadeliges Geschlecht7 römisch-katholischer Konfession, das sich nach dem gleichnamigen Dorf bzw. der Herrschaft Croy in der Grafschaft Ponthieu in der Picardie benennt. Die Abstammung der Familie, die schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts erwähnt wird, von dem ungarischen Königshaus der Aparden ist nicht belegt, und die gesicherte Stammreihe beginnt erst mit dem Jahre 1287. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte trat die Familie in nahe Beziehungen zu den großen Herzögen von Burgund (1364 – 1477) samt deren in höchster kultureller Blüte stehendem Hofe. Sie teilte sich in zwei Hauptlinien und weitere Äste. Die Angehörigen der älteren Linie des Hauses wurden 1533 Herzöge von Aerschot in Brabant, 1574 Markgrafen (Marquis) von Harvé und 1594 in den Reichsfürstenstand erhoben, eine Würde, die eine andere Linie schon 1486 erlangt hatte, eine weitere erst 1664 erreichen sollte. Ein Ast der zweiten Linie, der noch heute grünt, nennt sich nach einer erworbenen spanischen Herrschaft Croy-Solre. Die kleine Herrschaft wurde 1590 vom spanischen König zur Grafschaft und 1677 zum Fürstentum erhoben. 1768 bestätigte der König von Frankreich die Herzogswürde für die frühere Herrschaft Croy. – Dieser reichsfürstliche Zweig Dülmen-Croy der jüngeren Linie erhielt bei dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 als Entschädigung für seine verlorenen niederländischen Gebiete den restlichen Besitz des hochstiftmünsterischen Amtes Dülmen. In diesem Teil Westfalens wirkt die Familie bis heute erfolgreich und genießt entsprechend großes Ansehen8. – Das Stammwappen der Croy zeigt in Silber drei rote Balken und auf dem Helm mit rot-silbernen Decken zwischen einem rot-silbernen Adlerflug einen schwarzen Brackenrumpf mit goldenem Halsband. Das Wappenbild des Schildes ist einfach, was auf ein hohes Alter schließen lässt; das Wappen geht mindestens auf das Ende des 13. Jahrhunderts zurück. Es könnte auf das altungarische Wappen anspielen, das seit etwa um 1200 in Gebrauch ist: von Rot und Silber siebenmal geteilt9. Karl Philipp von Croy (1549 – 1613), der Großvater unseres „Helden“, hatte 1574 den Titel eines Markgrafen von Harvé erworben und wurde in demselben Jahr in den fentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Arbeitsberichte, 8), Berlin 2008, 19; freundliche Auskunft des zu ehrenden Jubilars vom 13. 3. 2014, Gz. 2244/14-Dir. 6 Eindrucksvolle Abb. dieser großartigen Orgel z. B. in Pommern. Zeitschrift für Kultur und Geschichte 46 (2008) Heft 4, rückwärtige Umschlagseite. 7 Gothaischer Genealogischer Hofkalender nebst diplomatisch-statistischem Jahrbuche 1913, Gotha 1913, 121 – 123; Heinrich Neu, Croy, Herzöge von, in: NDB 3, 425 f.; Adelslexikon, bearb. v. Walter von Hueck, Bd. 2 (Genealogisches Handbuch des Adels, 58), Limburg an der Lahn 1974, 375 f. 8 Davon zeugt zum Beispiel das alles andere als wissenschaftliche, dafür aber unterhaltsame Buch von Désirée Nick, Fürstliche Leibspeisen. Gerichte mit Geschichte, Köln 2012, 154 – 161. 9 Hugo Gerard Ströhl, Österreichisch-Ungarische Wappenrolle, 3. Aufl. Wien 1900, Nachdruck bearb. v. Michael Göbl, Schleinbach 2010, 9 und Tafel XI.

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Reichsfürstenstand erhoben; die Markgrafschaft wurde 1627 Herzogtum. Sein Enkel Ernst Bogislaw wurde in Finstringen in Lothringen, in der gleichnamigen reichsunmittelbaren Herrschaft im Teilbesitz der Croy, am 26. August 1620 geboren und starb in Königsberg in Preußen am 7. Februar 168410. Seine Eltern waren Ernst Herzog von Croy und Aerschot, geb. 1577, der als kaiserlicher General im Lager vor Oppenheim am Rhein schon am 7. Oktober 1620 starb – vermutlich ohne seinen Sohn je gesehen zu haben – und Anna11, eine Prinzessin aus dem Greifenhause und Schwester von Bogislaw XIV. Herzog von Pommern († 1637), mit dem sein Geschlecht im Mannesstamm erlosch. Sie war das elfte und jüngste Kind Herzog Bogislaws XIII. von Pommern-Stettin (1544 – 1606) und seiner ersten Gemahlin Clara oder Klara von Gifhorn oder von Braunschweig-Lüneburg (1550 – 1598), Witwe von Fürst Bernhard VII. von Anhalt12, und war im Schloss zu Barth in Vorpommern am 3. Oktober 1590 geboren worden; sie starb am 7. Juli 1660. Mit Anna, die alle ihre Geschwister überlebte, lebte das Greifengeschlecht zunächst fort, was ihr nicht nur zutiefst bewusst, sondern auch große und ehrenvolle Verpflichtung war. Dass sie nicht nur gebildet und sozial engagiert, sondern auch wirklich klug und vor allen Dingen durchsetzungsfähig war, beweist allein schon die Tatsache, dass sie in Übereinstimmung mit ihren herzoglichen Brüdern erreichte, dass nach dem Ehevertrag die möglichen Kinder des Paares und deren Nachkommen evangelisch-lutherisch erzogen werden sollten. Dabei ist auch zu bedenken, dass ihr Mann den reformatorischen Lehren und Gedanken nicht allzu ferne stand. In demselben Vertrag wurden Anna Schloss und Herrschaft Finstringen in Lothringen als Leibgedinge zugesprochen. Die Hochzeit erfolgte nach Bugenhagens pommerscher Kirchenordnung in Stettin am 4. August 1619. Nach dem Tod des Vaters sorgte Herzog Bogislaw XIV. von Pommern rechtzeitig für seinen Neffen, der mit seiner verwitweten Mutter nach schweren Auseinandersetzungen mit ihrer römisch-katholischen Verwandtschaft in Lothringen schon 1622 zu ihm nach Stettin gekommen war. Ernst Bogislaw wurde mit den Herrschaften Naugard und Massow versorgt und 1633 zum designierten Bischof von Kammin gewählt, konnte aber wegen schwedischer Ein- und brandenburgischer Ansprüche sowie der Machtpolitik beider Länder das Amt nie antreten. 1634 schrieb er sich an der Universität Greifswald ein, wo der Nachkomme der Greifenherzöge umgehend zum „rector magnificentissimus“ gewählt wurde. Dem nur einjährigen Studium folgte eine mehrjährige Reise, eine Art „Kavalierstour“, durch Westeuropa und Polen. Von ihr kehrte er auch nicht zurück, als am 10. März 1637 sein Onkel und Gönner Bogislaw XIV. starb. – 1650 endlich verzichtete er mehr oder weniger widerwillig in einem Vergleich mit dem Kurfürsten von Brandenburg und neuen Landes10 Zu den lothringischen Wurzeln von Herzog Ernst Bogislaw von Croy Haik Thomas Porada, Finstringen an der Saar – Auf pommerschen Spuren in Lothringen, Teile I und II, in: Pommern. Zeitschrift für Kultur und Geschichte 46 (2008) Heft 4, 2 – 8 und 47 (2009) Heft 1, 8 – 15. 11 [Karl Theodor] Wenzelburger, Croy: Anna v. C., in: ADB 4, 614 – 617. 12 Friedrich Wagnitz, Klara von Gifhorn (1550 – 1598). Die Mutter der letzten Pommernherzöge (Stettiner Hefte, 3), Kiel 2000.

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herrn in Hinterpommern auf die hohe geistliche Würde gegen eine stattliche Entschädigung, die er aber nie in vollem Umfang erhalten sollte. Unmittelbar danach unternahm Ernst Bogislaw, der vielleicht doch bei aller Großzügigkeit der Entschädigung eine für ihn herbe Enttäuschung überwinden und verarbeiten musste, ausgedehnte Reisen u. a. nach Dänemark, Frankreich und Italien. Obwohl er zeitlebens im Grunde ein frommer und gottesfürchtiger Mann war, gab er sich damals zeitweise den Genüssen des allzu Irdischen hin. Eine Folge davon war, dass ihm in Stralsund von der aus Rostock stammenden Bürgertochter Dorothea Levius ein unehelicher Sohn geboren wurde, dem er nach dem eigenen nie gekannten Vater den Namen Ernst geben ließ13. An ihm hing Ernst Bogislaw viele Jahre mit großer Liebe, sollte er doch auch einst die von ihm so gepflegte Tradition der Greifen weiterführen. Von Ernst wird noch zu reden sein. Der Friede von Osnabrück als Teil des Westfälischen Friedens von 164814 bestimmte, dass Vorpommern mit Rügen, Stettin, Gartz, der Odermündung, Usedom und Wollin nebst einem Streifen auf dem rechten Oderufer mit Damm, Gollnow und Greifenhagen zur Krone Schwedens kamen, die auch den Platz (Sitz und Stimme) der pommerschen Herzöge als Reichsstand auf den Reichstagen und im obersächsischen Reichskreis einnahm. Der König von Schweden war seither auch Herzog von Pommern. – Das ursprünglich allein erbberechtigte Kurfürstentum Brandenburg unter dem tatkräftigen Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten (reg. 1640 – 1688)15, erhielt den verbleibenden Teil Hinterpommerns und, entgegen den Rechten von Ernst Bogislaw von Croy, das Kamminer Stiftsland. Von diesem territorialen Zugewinn konnte Brandenburg erst nach rund fünf Jahren Besitz ergreifen, denn 13 Karl Bruns, Die Verhandlungen bei der Übernahme des Statthalterschaft des Herzogs Ernst Bogislav von Croy im Herzogtum Preussen und die Verfassung Preussens im Jahre 1670, Hildesheim 1919, 15 Anm. 3. 14 Die Literatur zum Westfälischen Frieden ist nach dem Jubiläumsjahr 1998 nicht mehr zu übersehen. Siehe: Bibliographie zum Westfälischen Frieden, hrsg. v. Heinz Duchhardt, Münster 1996; siehe ferner Heinz Duchhardt, Westfälischer Friede und internationales System im Acien Régime, in: HZ 249 (1989), 529 – 543; ders., Reich und europäisches Staatensystem seit dem Westfälischen Frieden, in: Alternativen zur Reichsverfassung in der frühen Neuzeit?, hrsg. v. Volker Press (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 23), München 1995, 179 – 187; ders., Das Feiern des Friedens. Der Westfälische Friede im kollektiven Gedächtnis der Friedensstadt Münster, hrsg. v. Stadtarchiv Münster, Münster 1997; Der Westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Umfeld, Rezeptionsgeschichte, hrsg. v. Heinz Duchhardt (HZ, Beihefte N. F. 26), München 1998; 1648: Krieg und Frieden in Europa, hrsg. v. Klaus Bußmann/Heinz Schilling (Ausstellung Münster/Osnabrück 1998), 3 Bde., München 1998; Konrad Repgen, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, Paderborn 1998; ders., Der Westfälische Friede: Ereignis und Erinnerung, in: HZ 267 (1998), 615 – 647; ders., Der Westfälische Friede. Ereignis, Fest und Erinnerung, Opladen 1999; Heinz Duchhardt, Der Westfälische Friede im Fokus der Nachwelt, Münster 2014. 15 Gerhard Oestreich, Friedrich Wilhelm. Der Große Kurfürst, (Persönlichkeit und Geschichte, 65) Göttingen/Zürich/Frankfurt am Main 1971; Ernst Opgenoorth, Friedrich Wilhelm. Der Große Kurfürst von Brandenburg. Eine politische Biographie. 1. Teil: 1620 – 1660. 2. Teil: 1660 – 1688, Göttingen/Frankfurt am Main/Zürich 1971/78; Barbara Beuys, Der Große Kurfürst. Der Mann, der Preußen schuf, Reinbek bei Hamburg 1980.

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Schweden hielt Hinterpommern noch einige Jahre besetzt. Erst 1653 wurde im Rezess von Stettin die Grenze mit Brandenburg endgültig festgelegt. Dabei erhielt Schweden zu allem Übel die Hälfte der Einkünfte aus den hinterpommerschen Seezöllen zugesprochen. – Gegen die Maßnahmen des neuen Landesherrn zur Eingliederung in den brandenburgischen Kurstaat, insbesondere gegen die Entrichtung von Abgaben für das in dem Kurfürstentum seit 1644 errichtete stehende Heer – die von Berlin oder richtiger Cölln an der Spree dirigierten Steuerkommissare waren die ersten brandenburgischen Beamten, mit denen Pommern Bekanntschaft schließen musste –, erhob sich eine kraftvolle ständische Opposition, insbesondere des Adels, die der Kurfürst erst besänftigen musste. In dem ersten Nordischen Krieg von 1655 bis 1660, in dem u. a. der Große Kurfürst, der für seine Länder auch eine gute Stellung als Seemacht anstrebte, Schweden von deutschem Boden zu vertreiben versuchte, stand in Hinterpommern, soweit es an Brandenburg gefallen war, Herzog Ernst Bogislaw aus Solidarität mit seinen adeligen Standesgenossen, aus eigenem Standesbewusstsein, aber auch aus Liebe zu dem ihm zur Heimat gewordenen Pommern auf der Seite der Opposition gegen den Großen Kurfürsten, die Hinterpommern neutral halten wollte. Da er dabei entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Souveräns mit dem polnischen König 1656/57 verhandeln ließ oder doch zumindest entsprechende Fühler duldete und nicht verhinderte, fiel er bei Kurfürst Friedrich Wilhelm in Ungnade, wenn auch nur vorübergehend. Seine Gesuche an den Landesherrn um ein angemessenes Amt und gar sein Werben um die Hand von Louise, der Schwester des Kurfürsten, wurden abschlägig beschieden. Nach schwierigen und lange anhaltenden Verhandlungen einigte sich der Kurfürst mit den hinterpommerschen Ständen 1665 dahingehend, dass diese seine Landesherrschaft anerkennen mussten, die Einrichtungen von Garnisonen des brandenburgischen stehenden Heeres hinnahmen und die entsprechenden Abgaben entrichteten, dafür aber Privilegien bestätigt erhielten, u. a. die Grundherrschaft, ihre Steuerpflicht sowie die ständische und auch kommunale Selbstverwaltung betreffend. Fortan konnte sich der Große Kurfürst des Besitzes von Hinterpommern sicher sein. Deshalb konnte er das gerade erledigte hohe Amt seiner Stellvertretung in Hinterpommern einem seiner bisherigen Widersacher, Herzog Ernst Bogislaw von Croy anbieten, der dies mit Schreiben vom 14. Dezember 1664 dankend annahm. Ab 1665 stand Ernst Bogislaw im Dienst des Kurfürstentums Brandenburg und des Landesherrn; er wurde Statthalter in Hinterpommern16. Dieses Amt hatte er de jure bis Anfang 1678 inne. Da er aber 1670 auch Statthalter im Preußenland bzw. Ostpreußen wurde17, übte er sein Amt in Pommern de facto seit 1670 nicht mehr aus und hielt sich dort kaum noch auf. – Ernst Bogislaws Statthalterschaft sollte auch eine zusätz16 Dietrich Kausche, Zur Geschichte der brandenburg-preußischen Statthalter, in: FBPG 52 (1940), 1 – 25; Hans Branig, Die Statthalter von Pommern, in: BllDtLdG 99 (1963), 135 – 152, bes. 136 – 138, Abdruck des Bestallungs-Reskripts des Kurfürsten für seinen Statthalter vom 17. 2. 1665, 147 – 149. 17 Sie dazu die in Anm. 13 zitierte Greifswalder Dissertation von K. Bruns.

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liche Entschädigung für die entgangene Bischofswürde sein und nicht zuletzt der Beruhigung des bis dahin oppositionellen Adels dienen, eine Hoffnung, die nicht trog. Sitz des Vertreters des Kurfürsten war seit 1653 Kolberg. Dort stand er der gesamten Verwaltung vor, leitete die Sitzungen der Landtage, führte den Vorsitz beim Hofgericht und kontrollierte die Verwaltung der Domänen, der landesherrlichen Besitzungen. Als besondere Aufgaben hatte er ein Auge auf das Heerwesen, sorgte für die starke Garnison in Kolberg und überwachte die Tolerierung des reformierten Bekenntnisses; dabei musste er gelegentlich gegen unduldsame lutherische Geistliche vorgehen. Er erhielt ein Gehalt von 2800 Reichstalern, das später auf 2000 Reichstaler gesenkt wurde. Als nunmehr treuer Gefolgsmann sorgte er dafür, dass die einstige Adelsopposition, die allmählich in das immer moderner werdende Territorien integriert wurde, treu zur Fahne des Großen Kurfürsten hielt18. Mit der Ernennung zum Statthalter in Preußen, das im Vertrag von Labiau 1656 aus der Lehnshoheit Schwedens und in den Verträgen von Wehlau und Bromberg vom Herbst 1657 aus der Lehnshoheit Polens entlassen und damit souverän geworden war, was dann im Frieden von Oliva vom 3. Mai 1660 bestätigt und garantiert wurde, wurde das Gehalt von Ernst Bogislaw, der seinen Sitz im Schloss zu Königsberg nahm, auf 4000 Reichstaler verdoppelt19. Allerdings vermehrte sich auch seine Arbeit, galt es doch, in diesem von der Zentrale an der Spree entlegenen reichen Territorium den Monarchen so zu vertreten, dass seine Stellung fast der eines Staatsoberhauptes gleich kam. Mit der Instruktion des Kurfürsten und Herzogs wurde dem neuen Statthalter – das Amt war im Preußenland erst 1657 eingerichtet worden – wieder besonders die Fürsorge für die reformierte Konfession und deren Schutz sowie die Sorge für alle Sparten des Militärs ans Herz gelegt. Selbstverständlich sollte er auch alle Regierungs- und Verwaltungskollegien kontrollieren. Der feierliche Empfang in Königsberg konnte über die Schwierigkeiten, denen sich der Statthalter gegenübersah, nur vordergründig hinwegtäuschen. Der Landesherr und sein Statthalter strebten für Preußen regelmäßige Einnahmen an, in den Städten eine indirekte Verbrauchsteuer (Akzise) und auf dem Lande eine leicht zu überwachende Grundsteuer, eine Hufenkontribution. Nur mit solchen festen Einnahmen konnte ein stehendes Heer unterhalten werden. Das Ziel wurde Ende der 1670er 18 Gerd Heinrich, Ständische Korporationen und absolutistische Landesherrschaft in Preußisch-Hinterpommern und Schwedisch-Vorpommern (1637 – 1816), in: Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Ergebnisse einer internationalen Fachtagung, hrsg. v. Peter Baumgart unter Mitwirkung von Jürgen Schmädeke (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 55), Berlin/New York 1983, 155 – 169; Werner Buchholz, Die pommerschen Landstände unter brandenburgischer und schwedischer Landesherrschaft 1648 – 1815. Ein landesgeschichtlicher Vergleich, in: Land am Meer. Pommern im Spiegel seiner Geschichte. Roderich Schmidt zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Werner Buchholz/Günter Mangelsdorf (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V, 29), Köln/ Weimar/Wien 1995, 427 – 455; generell: Wolfgang Neugebauer, Standschaft als Verfassungsproblem. Die historischen Grundlagen ständischer Partizipation in ostmitteleuropäischen Regionen, Goldbach 1995. 19 D. Kausche (Anm. 16), 15.

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Jahre erreicht. Die Staatsräson verlangte eine kompromisslose Eingliederung des Preußenlandes, da es trotz aller Verwüstung und Verelendung insbesondere im ersten Nordischen Krieg das reichste Land der Monarchie war, aber die wenigsten Steuern und Abgaben aufbrachte, eine Folge der egoistischen Politik der Stände. Als Ernst Bogislaw 1670 ins Land kam, fand er es fast in offenem Aufruhr gegen den Landesherrn vor. Die von der Ritterschaft beherrschten Stände protestierten gegen seine Ernennung. Die Adelsopposition erreichte in den Jahren 1669 bis 1671 den Höhepunkt ihrer Macht, die erst 1672 mit Gewalt und Rechtsverstößen gebrochen werden konnte. Trotzdem kam es ein Jahr später erneut zum Konflikt. Der Kurfürst, der ein Mitspracherecht der Stände im Prinzip bejahte und akzeptierte, dabei allerdings auf den Vorrang des Landesherrn pochte, ließ mehrere Regimenter in Preußen einmarschieren und einquartieren, auch auf den Gütern des Adels. Rücksichtslos wurde die schon für 1670 angeordnete Hufenkontribution eingetrieben. Der Statthalter verhandelte vermittelnd mit den Ständen über eine nachträgliche Bewilligung. Königsberg, das sich besonders hartleibig und zahlungsunwillig zeigte, wurde 1674 im Handstreich von den landesherrlichen Truppen besetzt. Nach der Zahlung der Abgaben wurden der vorher entwaffneten Stadtmiliz ihre Waffen wieder zurückgegeben, weil Croy eine Politik des Kompromisses und der Deeskalierung betrieb. Im Herbst 1674 wurde die Hufenkontribution wieder bis 1680 von einer von den Ständen bewilligten Steuer abgelöst. Die ständische Opposition ließ nach und erstarb gegen Ende der 1670er Jahre; Anfang der 1680er Jahre kam sie schließlich ganz zum Erliegen20. Wie in Pommern wurden in Preußen der standesbewusste Adel und die Stände vom Landesherrn allmählich, zielstrebig und erfolgreich in den modernen Staat mit stark absolutistischen Zügen eingegliedert, freilich ohne dass sie ihr Dasein, ihren Einfluss und ihre Bedeutung gänzlich verloren. Diese Befriedung war nicht zuletzt der Erfolg der zähen Vermittlungen und Verhandlungen von Ernst Bogislaw, Herzog von Croy. – Als Statthalter war er also in Pommern und im Preußenland alles andere als vorsichtig, tatenlos und eher phlegmatisch21, sondern bewies großes Geschick insbesondere im Umgang mit den durchaus nach wie vor selbst- und machtbewussten Ständen. Aus dem Jahr 1665, in dem Herzog Ernst Bogislaw Statthalter in Hinterpommern wurde, stammt nun ein ebenso interessanter wie hübscher Beleg für seine Gelehrsamkeit und seine Kenntnisse auf dem Gebiete der Heraldik. Der Große Kurfürst herrschte über ein heterogen zusammengesetztes Gebilde, das sich immer wieder änderte und aus ganz unterschiedlichen Territorien bestand und das noch weit davon entfernt 20 Zur Geschichte Ostpreußens in jener Zeit siehe z. B. Bruno Schumacher, Geschichte Ostund Westpreußens, 6. Aufl. Würzburg 1977, 170 – 179; Ernst Opgenoorth, Herzog Friedrich Wilhelm? Das Herzogtum Preußen unter dem Großen Kurfürsten, in: Preußen und Berlin. Beziehungen zwischen Provinz und Hauptstadt, hrsg. v. Udo Arnold, Lüneburg 1981, 83 – 97; Hartmut Boockmann, Deutsche Geschichte im Osten Europas. Ostpreußen und Westpreußen, Berlin 1992, 296 – 306. 21 So sinngemäß bzw. wörtlich M. Wehrmann, Geschichte von Pommern, Bd. 2 (Anm. 3), 168.

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war, so etwas wie ein einheitlicher Staat zu sein. – Kurfürst Friedrich Wilhelm konnte auch die Herrschaften Bütow und Lauenburg erwerben. Das waren Gründungen des Deutschen Ordens, wovon in der Stadt Bütow bis heute die zwischen 1399 und 1405 erbaute beeindruckende Ordensburg zeugt. Die beiden Städte und Burgen fielen mit den sie umgebenden Landen, die eine höchst wechselvolle Geschichte hatten, 1455 an Pommern. Nach kriegerischen Auseinandersetzungen erkannte der polnische König 1490 die beiden Herrschaften als Pfandbesitz von Pommern an, und 1526 wurden sie erbliche Lehen der Krone Polens in pommerschem Besitz. 1657 kamen sie, die nach dem Aussterben des pommerschen Herzoghauses im Mannesstamm 1637 als erledigte Lehen an die Krone Polens heimgefallen waren, mit den schon in anderem Zusammenhang erwähnten Verträgen von Wehlau und Bromberg von Polen als freie Mannslehen an den Großen Kurfürsten. Der Frieden von Oliva vom 3. Mai 1660, der den ersten Nordischen Krieg beendete, der seit 1655 ausgefochten worden war, bestätigte die mit den Verträgen von Labiau, Wehlau und Bromberg erreichte Souveränität Brandenburgs über das Herzogtum Preußen und über die Lande oder Herrschaften Bütow und Lauenburg, die Teile von brandenburgisch Hinterpommern wurden, und zwar recht entlegene. Der Große Kurfürst hatte ein feines und ausgeprägtes Gespür für die Aussagekraft von Symbolen und damit auch von Wappen, wovon nicht zuletzt die von ihm 1684 veranlasste und in Gang gesetzte heraldische Ausgestaltung des Wappensaales im Schloss zu Köpenick zeugt22. Aus Repräsentationsgründen und als Symbol seiner Herrschaft war er bestrebt, alle von ihm regierten Territorien in seinem Wappen vertreten zu sehen. Für Lauenburg und Bütow ließen sich keine Wappen feststellen. Deswegen wandte sich der große Hohenzoller ratsuchend an den Herzog von Croy, um dessen Gelehrsamkeit er wusste und dessen Mutter sich immer wieder fürsorglich um die beiden Herrschaften gekümmert hatte. Mit Schreiben vom 2. April 1665 nahm der Herzog gegenüber einem kurfürstlichen Beamten Stellung. Da auch er keine Wappen für Bütow und Lauenburg nachweisen konnte, schlug er vor, für diese recht randständigen Teile der Monarchie neue Wappen anzunehmen, und unterbreitete mehrere Vorschläge: „So stünde zu dero Gnstem. belieben: wegen dieser beyden orter etwan in iederm der beyden Felder einen thurm zu führen, deren der erste wegen lawenburgk ein schildlein in der mitten und in demselben einen lewen (wor von der Statt den nahmen) der ander wegen Bütaw auch ein schildlein und darauff ein Creutz welches diese statt (halte weil sie von den Creutzherren fundieret zugleich mit führett) […]. Die Farben köndten des einen turms gelb im blawem und des andern roth im weissen Felde, die Schildlein, aber im ersten roth mit einem weissen lewen, im andern weiss mit einem Schwarzen Creutz wie der Preussische Creutz-Orden geführet, sein.“ Er trug auch Alternativen vor: „würde meines erachtens, auch nicht übel kommen, an statt der türme 2 thiere etwan lewen oder Greiffen zu führen. Eß müste aber auf den Fall [in] den lawenburgischen schild hinter dem thiere zum Unterscheidt ein strom gemahlet werden, dieweil diese Statt nach etzlicher, und zwahr der versten22 Jörg Bretscher, Der Wappensaal im Schloss Köpenick, in: Archivum Heraldicum 95 (1981), 2 – 14, 39 – 45.

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digsten meinungen, nicht vom lewen, sondern von dem vorbeylauffenden Strohm Leba den nahmen hatt, und also nicht Lawenburgk Sondern Lebeburgk heissen sollte. Und köndte also das felt gelb der strom blaw und der lewe oder Greiff roth sein und in den beiden vorder Tatschen einen rothen thurm halten. Im Bütawschen köndte das felt blau und der lewe oder Greiff gelb sein: der ein kleines weisses schildlein mit einem schwartzen Creutz in den beyden forderen tatschen hielte. […] die farben können aber nach belieben geendert werden, wie woll Sie nach anlass der wapenkunst und der davon geschriebenen Bücher gesetzet, damit nichtes falsches oder auch konfuses darin komme. Ob aber F. Durchl. lieber lewen alß Greiffen erwehlen wollen stehett zu dero Gnädigstem belieben: Zu dem lewen giebt der, wie woll durch ihrthum eingeführete nahme der Statt lawenburgk anlass: zu den Greiffen aber, dass diese örter so eine geraume Zeit zu Pommern gehöret und sonst vordehm und dasieder ein stükk von Pommerellen gewesen, welche beyde provintzien meist Greiffen im Wappen führen: Jedoch würde mancher die türme vor die thiere erwehlen, weil F. Durchl. schon ohnedas so viele lewen und greiffen in dero wapen führen und diese Verenderungen dahero den augen annehmblich sein würde, wie denn auch nicht Ungemein dass Große Herren und Potentaten thürme in ihren wapen führen: alß Castilien, Portugal und andere.“ In einer Nachschrift zu diesem Schreiben bot sein Verfasser ein ausführliches Gutachten an, das dann auch angefordert wurde, aber nur ohne Datierung, dafür aber mit einer Skizze des Kurfürstlichen Wappens überliefert wurde. Unter dem Kurhut sollten in einem mehrfach gespaltenen und dreifach geteilten Schild mit Herzschild demnach in der untersten Reihe, dem Schildfuß, in dem vierten und fünften Feld, so die Zählung von Croy, nach heutiger die Plätze 21 und 2523, die Wappen für die „Länder lawenburgk und Bütow gesezet werden, alß in dem 4. dass Lauenburgische ein Rother Thurm im gelben felde, das Schildlein wieder gelb vnd der Löwe roth, welcher füglich alß zurücksehend zu bilden, weil das von selbiger Statt bisshero gebräuchliche Wappen einen also zurücksehenden lewen vorstellet. In dem 5. aber ein gleichmessiger Thurm etwan schwarz mit weissem Felde, das Schildlein darauf weiss, das Creuz aber schwarz, so wie der Teutsche Orden in Preussen das Creuz hiebevor geführet, von welchem diese Statt ohne Zweiffel bey ihrer fundation das Wapen erhalten“24. 23

Der Herzog verwandte hier ganz zeitgemäß die etwas komplizierte, damals und in der Heraldik lange übliche Zählweise der Felder bzw. Plätze eines mehrfach gespaltenen und geteilten Wappens. Zählt man auf die heute in der Wappenwissenschaft übliche Weise, so wären es innerhalb des Schildfußes der 2. und 6. Platz, innerhalb des gesamten Wappens aber der 21. und 25. Platz; vgl. Jürgen Arndt/Werner Seeger, mit Wappenskizzen von Lothar Müller-Westphal, Wappenbilderordnung (Symbolorum armorialium ordo) (J. Siebmacher’s großes Wappenbuch B/ I), 2. Aufl. Neustadt an der Aisch 1996, 44 und 275. 24 Abdruck der einschlägigen Äußerungen des Herzogs bei Gustav A. Seyler, Geschichte der Heraldik (Wappenwesen, Wappenkunst, Wappenwissenschaft), Nürnberg 1885 – 1890, unveränderter Nachdruck in einem Bd. Neustadt an der Aisch 1970, 551 – 771 (J. Siebmacher’s Großes und allgemeines Wappenbuch, Einleitungsband, Abt. A), bes. 607 – 610, hier 608 f., die erwähnte Wappenskizze 609; Erwähnung und ganz knappes Zitat aus den Ausführungen des Herzogs bei Marian Czerner, Wappen auf den Sarkophagen der Herzogin Anna und des Herzogs Ernst Bogislaw von Croy, in: BaltStud N. F. 75 (1989), 85 – 103, hier 86;

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Der Herzog favorisierte demnach folgende Lösung: für Lauenburg in Gold einen roten Zinnenturm, belegt mit einem goldenen Schildchen, darinnen ein rückwärts schauender roter Löwe, also ein redendes Wappen (Lauenburg gleich Lewen- oder Löwenburg!), und für Bütow in Silber einen schwarzen Zinnenturm, belegt mit einem silbernen Schildchen mit einem durchgehenden schwarzen Balkenkreuz zur Erinnerung an die Gründung und die frühere Herrschaft des Deutschen Ordens. An dieser Stelle ist der Punkt gekommen, an dem ich meine früher geäußerte Feststellung, dass dieser Vorschlag keine Folgen gehabt hätte25, entscheidend korrigieren muss. Mein damaliges Urteil gilt nämlich nur für die ersten rund fünf Jahrzehnte nach dem Vorschlag von 1665. Dann fand er doch noch Eingang in die Staatsheraldik von Brandenburg-Preußen, wenn auch nur für kurze Zeit und eben erst viele Jahre nach dem Tod von Herzog Ernst Bogislaw und seines kurfürstlichen Auftraggebers. Das hat schon Ende des 19. Jahrhunderts einer der Großen der wiedererweckten heraldischen Wissenschaft ausgeführt, nämlich Maximilian Gritzner (1843 – 1902)26, wurde aber von mir – eigentlich unentschuldbar – damals übersehen. In einem seiner Standardwerke „Das Brandenburg-Preußische Wappen“ zeichnete Gritzner mehr oder weniger nebenbei den Weg der Wappenvorschläge von Herzog Ernst Bogislaw in die Staatsheraldik nach. Vor diesem Ziel des Herzogs aber lag noch ein wichtiges allgemeinhistorisches Ereignis, nämlich die Selbst-Krönung von Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, Herzog in Preußen, des ältesten Sohnes und Nachfolgers des Großen Kurfürsten, zum König in Preußen, als solcher Friedrich I.27, in Königsberg am 18. Januar 170128. Jetzt galt es, ein königliches Wappen zu schaffen29, und daran auszugsweiser Druck des Croyschen Gutachtens auch bei L. Biewer, Ernst Bogislaw Herzog von Croy (Anm. 5), 143 f. 25 Ebd., 144; L. Biewer, Wissenschaftliche Heraldik (Anm. 1), 83. 26 Ottfried Neubecker, Gritzner, Adolf Maximilian Ferdinand, in: NDB 7, 100; Biographisches Lexikon der Heraldiker und Sphragistiker, Vexillologen und Insignologen, bearb. v. Jürgen Arndt unter Mitwirkung v. Horst Hilgenberg/Marga Wehner (J. Siebmachers Großes Wappenbuch, H), Neustadt an der Aisch 1992, 159; Eckart Henning, Maximilian Gritzner, in: ders./Dietrich Herfurth, Orden und Ehrenzeichen. Handbuch der Phaleristik, Köln/Weimar/ Wien 2010, 181 f.; Ludwig Biewer, Heraldik in Berlin. Tradition und Traditionslosigkeit. Einige ausgewählte Beispiele. Karl-Heinz Spieß zum 4. Dezember 2013, in: AfD 59 (2013), 453 – 496, hier 473 f. 27 Wolfgang Neugebauer, Friedrich III./I. (1688 – 1713), in: Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., hrsg. v. Frank-Lothar Kroll, München 2000, 113 – 133; Frank Göse, Friedrich I. (1657 – 1713). Ein König in Preußen, Regensburg 2012. 28 Siehe z. B. Heinz Duchhardt, Das preußische Königtum von 1701, in: Festschrift für Eberhard Kessel zum 75. Geburtstag, hrsg. v. Heinz Duchhardt/Manfred Schlenke, München 1982, 82 – 101; ders., Die preußische Königskrönung von 1701. Ein europäisches Modell? in: Herrscherweihe und Königskrönung im frühneuzeitlichen Europa, hrsg. v. Heinz Duchhardt (Schriften der Mainzer Philosophischen Fakultätsgesellschaft, 8), Wiesbaden 1983, 82 – 95; Via Regia. Preußens Weg zur Krone. Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1998; Die preußische Rangerhöhung und Königskrönung 1701 in deutscher und europäischer Sicht, hrsg. v. Heide Barmeyer, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/ Brüssel/New York/Oxford/Wien 2002; Die landesgeschichtliche Bedeutung der Königsberger

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war zeitweise auch eine von dem neuen König geschaffene Hofbehörde beteiligt, die freilich sogleich nach seinem Tod von seinem überaus sparsamen Sohn und Nachfolger als überflüssig wieder aufgelöst wurde: das vom König Anfang 1706 errichtete Oberheraldsamt, das mit dem „Herault des Armes“ von 1702 und dem „Fiskal d’Armes“ von 1703 zwei Vorläufer hatte30. Das „große Königliche Wappen“ wurde schon zur Regierungszeit Friedrichs I. mehrfach geändert. Die wohl 1705 vom König genehmigte Form des Wappenschildes, die zum Beispiel auf der „Instruktion der Landräthe, Kreis-, Kriegs- und Steuerkommissarien bei Märschen der Königlichen Truppen“ vom 5. Januar 1706 nachweisbar ist, hatte unter der Königlichen Krone durch mehrfache Spaltung und sechsfache Teilung einschließlich dreier kleiner Mittelschildchen auf Haupt-, Herz- und Nabelstelle sowie Schildfuß nicht weniger als 34 Plätze31. Während das unterste Feld, der Schildfuß, dem roten Regalienfeld vorbehalten ist, weist die Reihe darüber drei Plätze auf, vom Betrachter aus gesehen links (heraldisch rechts) das Wappen von Bütow und in der Mitte das von Lauenburg, so wie sie der Herzog von Croy zuletzt vorgeschlagen hatte. In seiner an sich vorbildlichen Darstellung, in der er ausdrücklich auf die Urheberschaft von Herzog Ernst Bogislaw von Croy hinweist32, unterlief Gritzner freilich das Missgeschick, dass er Bütow und Lauenburg vertauschte, also Lauenburg in Silber den schwarzen Turm und Bütow in Gold den roten Turm zuwies. Richtig hingegen spricht er diese Schildplätze im Wappen von Prinz Christian Ludwig von Preußen (1677 – 1734) an, dem neunten und jüngsten Sohn des Großen Kurfürsten, in dessen ebenfalls um 1706 genehmigten Wappen, das viermal gespalten und fünfmal geteilt ist und ein Herzschildchen hat, unten über dem roten Schildfuß vom Betrachter aus gesehen links (heraldisch rechts) Lauenburg und rechts Bütow vertreten ist33. – Auch Markgraf Philipp Wilhelm von Brandenburg-Schwedt (1669 – 1711), der sechste Sohn des Großen Kurfürsten, hatte in seinem Wappen von 1706, das viermal gespalten und viermal geteilt mit Herzschildchen war, in denselben Plätzen wie in dem seines Bruders die heraldischen Symbole von Lauenburg und Bütow34. – 1707/1708 wurde das Königskrönung von 1701, hrsg. v. Bernhart Jähnig (Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 18), Marburg an der Lahn 2004. 29 Adlers Fittiche. Wandlungen eines Wappenvogels. Dokumentation einer Präsentation des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, bearb. v. Christiane Brandt-Salloum/ Rita Klauschenz/Jürgen Kloosterhuis/Christian Schwarzbach, Berlin 2008. 30 G. A. Seyler, Geschichte der Heraldik (Anm. 24), 629 – 634; Harald von Kalm, Das Oberheraldsamt. Die erste Adelsbehörde in Preußen, in: Deutsches Adelsblatt 30 (1991), 152 – 154; ders., Das preußische Heroldsamt (1855 – 1920). Adelsbehörde und Adelsrecht in der preußischen Verfassungsentwicklung (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 5) Berlin 1994, 18 – 26. 31 Maximilian Gritzner, Das Brandenburg-Preußische Wappen. Geschichtliche Darstellung seiner Entwicklung seit dem Jahre 1415, Berlin 1895, 137 – 140 mit Abb., „Fig.“, 92. – Das Buch ist mit zahlreichen Bildern gut und anschaulich illustriert, die aber allesamt „nur“ schwarz-weiß sind. 32 Ebd., 140, Anm. 12. 33 Ebd., 118 f. mit Abb. 85. 34 Ebd., 119 f. mit Abb. 86.

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„große Königliche Wappen“ wieder geändert, und von da an waren die Schöpfungen von Herzog Ernst Bogislaw von Croy in ihm nicht mehr vertreten35. Anlässlich der Übertragung der Statthalterschaft im Preußenland 1670 erfüllte der Große Kurfürst ein gegenüber dem Herzog gemachtes Versprechen. Er legitimierte dessen unehelichen Sohn und erhob ihn als Ernst von Croyengreiff in den Adelsstand. Dem Namen entsprach das Wappen des gerade Geadelten, das eine gelungene Kombination der Wappen der Familien derer von Croy und der Greifen ist: in Silber drei rote Balken, das Stammwappen der Familie Croy, belegt mit einem nach links gewendeten aufrechten roten Greifen, dem geminderten Wappenbild der Greifendynastie, das regulär nach rechts schaut36, belegt mit einem schräglinken blauen Bastardfaden; auf dem Helm mit rechts rot-silbernen und links blau-silbernen Decken zwischen einem rechts rot-silbernen und links silber-blauen Flug der Rumpf eines naturfarbenen wilden Mannes37. Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass dieses Wappen auf Herzog Ernst Bogislaw zurückgeht. Doch darf man dies bei seinen erwähnten heraldischen Interessen und Kenntnissen als recht sicher annehmen. Bemerkenswert ist, dass hier in einem deutschen Wappen zur Kennzeichnung der unehelichen Abkunft des Wappeninhabers das Bei- oder Minderzeichen bzw. die Brisur des Bastard35

Ebd. entsprechend Anm. 31 sowie 145 – 148 mit Abb. 94, 146. Von dieser Fassung des „Königlich Preußischen großen Wappenschilds“ gibt es im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz eine schöne farbige Darstellung aus der Überlieferung des Oberheraldsamts, die während meiner dortigen Dienstzeit von 1979 bis 1987, von dem damaligen Direktor gänzlich unge- und beachtet sowie noch nicht restauriert, in meinem dortigen Dienstzimmer hing und als Frontispiz in: Adelers Fittiche (Anm. 29), Beschreibung dieses Wappens ebd., 12 f., abgebildet ist. Trotz aller Schwierigkeiten und Irrungen mit dem damaligen Dienststellenleiter denke ich an meine Jahre im GStA PK und meine dortige erfüllte Tätigkeit gerne und dankbar zurück! 36 Theodor Pyl, Die Entwicklung des Pommerschen Wappens im Zusammenhang mit den Pommerschen Landesteilungen (Pommersche Geschichtsdenkmäler, 7), Greifswald 1894, ist als Quellen- und Materialsammlung nach wie vor unentbehrlich; dies gilt auch für Gustav A. Seyler, Wappen der deutschen Souveraine und Lande (Siebmacher’s großes und allgemeines Wappenbuch, I. Bd., 1. Abt., 2.–4. Teil), Nürnberg 1909/16/21, reprogr. Nachdr. mit Bd. I, 1. Abt., 5. Teil: Wappenwesen der deutschen Provinzen, Landesteile und Landesbehörden, Nürnberg 1929, unter dem Titel: Die Wappen der deutschen Landesfürsten (Siebmacher’s großes Wappenbuch, 2), Neustadt an der Aisch 1981, hier 57 – 80 und Tafeln 63 – 87; ferner z. B. Ivo Asmus, Überblick über die Entwicklung des pommerschen Wappens. Pommersches Familienarchiv 1992, Heft 2; Norbert Buske, Wappen, Farben und Hymnen des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Bremen 1993; Ludwig Biewer, Die Geschichte des pommerschen Greifenwappens. Ein Beitrag zur Staatssymbolik in den neuen Bundesländern, in: BaltStud N. F. 79 (1993), 44 – 57; ders., 800 Jahre pommerscher Greif, in: Der Herold. Vierteljahrsschrift für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften N. F. 14 (1993 – 1995), 251 – 257; seine früheren Studien ausführlich und weitschweifend zusammenfassend und wiederholend Ralf-Gunnar Werlich, „…welche den Greifen führen…“ – Das Geschlecht der Herzöge von Pommern und seine heraldischen Herrschaftssymbole, in: Die Herzöge von Pommern (Anm. 4), 163 – 254 mit zahlreichen guten s.-w. Abb. sowie Farbtafeln 427 – 450. 37 Beschreibung bei K. Bruns (Anm. 13), 15 in Anm. 6; farbige Abbildung des Wappens auf dem vorderen Deckel der Monographie von Z. Szultka (Anm. 5) nach einer Vorlage im GStA PK.

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fadens angewandt wurde. Diese Sitte ist zwar in der französischen, burgundischen, niederländischen und angelsächsischen Heraldik vornehmlich des Hochadels seit dem 15. Jahrhundert durchaus üblich, im deutschen Sprachraum hingegen ist dieser Brauch nicht heimisch geworden38. Vielleicht wollte der Wappenschöpfer, wer immer dies gewesen sein mag, damit auf die Herkunft der Familie Croy aus der Picardie hinweisen oder anspielen, doch muss das dahin gestellt bleiben. Denkbar oder gar wahrscheinlich ist es gleichwohl, zumal wenn das Wappen auf Herzog Ernst Bogislaw zurückgehen sollte. – Ob es wirklich vornehmlich diese Möglichkeit war, bei seinem Wechsel nach Preußen die Absicherung und Standeserhöhung für den geliebten Sohn erreichen zu können, die den Herzog von Croy zur Annahme der mit vielen Schwierigkeiten und großen Mühen verbundenen Statthalterschaft in Ostpreußen bewog, lässt sich nach dem derzeitigen Wissensstand nicht klären und ist eher unwahrscheinlich. Die Auseinandersetzungen jener Jahre um die Durchsetzung der landesherrlichen Gewalt im Nordosten der von den Hohenzollern regierten Territorien zermürbten den Herzog von Croy. Mehrfach dachte er an Rücktritt. Das geht aus seinem Briefwechsel mit dem ihm vertrauten pommerschen Landsmann Otto Reichsfreiherr von Schwerin (1616 – 1679) hervor39, der maßgeblichen Anteil an der Außenpolitik des Großen Kurfürsten hatte und seit 1658 als Oberpräsident an der Spitze des Geheimen Rats in Berlin bzw. Cölln an der Spree stand40, also modern gesprochen Ministerpräsident war. Persönlicher großer Kummer kam hinzu. Sein Sohn Ernst von Croyengreiff konvertierte in Rom 1678 zum Katholizismus und wurde Priester. Damit zerschlug sich die Hoffnung des Herzogs, sein Sohn könne die Tradition des Greifengeschlechts in Pommern weitertragen. Die väterliche Liebe schlug in unchristlichen Hass um, und der Sohn, der wohl 1700 in Rom starb, wurde 1681 enterbt. – Am 31. Januar 1681 bat der Statthalter wegen seiner schwachen Gesundheit um seine Entlassung. Es wurden ihm im Juni desselben Jahres aber nur Urlaub und eine Kur in Karlsbad genehmigt, aus der er im August erholt zurückkehrte und sich zunächst in Stolp aufhielt. Im Herbst 1681 kehrte er wieder nach Königsberg in Preußen zurück41. Die Kräfte von Herzog Ernst Bogislaw schwanden aber weiter dahin. Am 3. Juni 1681 schon hatte er, der 1660 nach dem Tod seiner Mutter wertvolle Kunstschätze von seinen Vorfahren aus dem Greifenhause geerbt hatte, sein Testament errichtet42. 38 Les combinations d’armoiries par les personnes privées – Les brisures de bâtardise. VIIIe Colloque international d’héraldique […] 1993, Canterbury 1995. 39 Teilabdruck bei Leopold von Orlich, Geschichte des Preußischen Staates im 17. Jahrhundert, Teil I, Berlin 1838, 251 – 268. 40 F[erdinand] Hirsch, Schwerin: Otto v. S., in: ADB 35, 754 – 763; Max Hein, Otto von Schwerin, Königsberg 1929; ders., Otto von Schwerin 1616 – 1679, in: Pommersche Lebensbilder IV, Köln/Graz 1966, 9 – 20; Bruno Schumacher, Schwerin, Otto Reichsfreiherr v., in: NDB 2, 657 f. 41 D. Kausche (Anm. 16), 16. 42 Ernst Bernheim, Das Testament des Herzogs Ernst Bogislaw von Croy vom 3. Juni 1861, in: Pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte 11 (1910), 195 – 217; siehe dazu auch Adolf

Ein Fürst als Heraldiker – Herzog Ernst Bogislaw von Croy

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Während vieles aus seinem Eigentum an den Kurfürsten von Brandenburg und dessen Familie fiel, stiftete er, seiner Neigung und der Verpflichtung der von ihm verehrten Familie seiner geliebten Mutter folgend, der Universität Greifswald, die damals eine Universität unter der Krone Schwedens war und die Erbstücke tatsächlich erst 1707 erhielt, u. a. eine Reihe seltener Bücher und weitere wertvolle Stücke. Dazu gehörte insbesondere ein 31 Quadratmeter großer, kostbarer Wirkteppich aus dem Schloss zu Wolgast, den Herzog Philipp I. von Pommern-Wolgast (1515 – 1560) – dieser kluge, gebildete und kunstsinnige Reichsfürst war der Vater des schon erwähnten Herzogs Bogislaw XIII. und damit der Urgroßvater von Ernst Bogislaw und führte 1534 zusammen mit seinem Onkel Barnim IX. von Pommern-Stettin (1501 – 1573) in ganz Pommern die Reformation ein – in Auftrag gegeben hatte und der nach Kartons sehr wahrscheinlich aus der Werkstatt von Lucas Cranach dem Älteren von 1553 ein Jahr später von dem Niederländer Peter Heymans angefertigt worden war. Er zeigt die pommerschen und sächsischen Fürstenfamilien zusammen mit den Reformatoren Martin Luther, Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen, dem „doctor pomeranus“, aus Anlass von Philipps Hochzeit mit Maria von Sachsen in Torgau im Jahre 1536, die von Martin Luther selbst vollzogen worden war, der denn auch im Mittelpunkt des Teppichbildes steht. Für dieses Zeugnis zur Reformationsgeschichte hat sich wegen der Schenkung durch Ernst Bogislaw die Bezeichnung „Croyteppich“ eingebürgert43. Wegen seines reichen Wappenschmuckes ist dieser außerordentlich schöne Teppich, der seit 2005 im Pommerschen Landesmuseum in Greifswald bewundert werden kann, nicht nur eine Quelle zur Reformationsgeschichte und zum religiös-weltanschaulichen Selbstverständnis der protestantisch gewordenen Dynastien der Wettiner und Greifen, sondern auch zur Heraldik in der frühen Neuzeit bzw. der deutschen (Hoch-) Renaissance44. Deshalb wurde auf ihn hier wenigstens kurz verwiesen, wo es doch um einen Dynasten und Heraldiker geht, ohne dessen Testament dieser kunstvolle Teppich vielleicht nicht mehr existieren würde. Dieses Kunstwerk erinnert bis heute an Herzog Ernst Bogislaw von Croy, während seine heraldische Bildung und seine einschlägigen wenigen Studien fast gänzlich vergessen sind.

Hofmeister, Der Kampf um die Ostsee vom 9. bis 12. Jahrhundert, 3. Aufl. hrsg. v. Roderich Schmidt (Libelli, 72), Darmstadt 1960, 31 – 34. 43 Zusammenfassend Horst-Diether Schroeder, Der Croy-Teppich der Universität Greifswald und seine Geschichte, Greifswald 2000. Zu dem reichen Kunstbesitz der Greifswalder Hohen Schule Birgit Dahlenburg, Kulturbesitz und Sammlungen der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald, Rostock 1995. 44 Eine Würdigung des Croy-Teppichs als heraldische Quelle und Kunstwerk der Renaissance wurde auch von mir versucht: Ludwig Biewer, „…Ohne goldene Fänge.“ Ein kleiner heraldischer Beitrag zum 550. Geburtstag der Universität Greifswald, einst älteste Universität der Krone Schwedens und in Preußen, in: Liber Amicorum Kjell Åke Modéer, hrsg. v. Bernhard Diestelkamp/Hans-Heinrich Vogel/Nils Jörn/Per Nilsén/Christian Häthén, Lund 2007, 65 – 86, hier 77 – 80; siehe ansonsten Otto Böcher, Die Luther-Rose. Martin Luthers Siegel und die Wappen der Reformatoren, und ders., Die Wappen der Reformatoren. Ein Nachtrag in: Ebernburg-Hefte 38 und 39 (2004 und 2005), 7 – 32, 57 – 60, hier 58 – 60; erster Teil mit kürzerem Nachtrag auch in: Genealogisches Jahrbuch 44 (2004), 5 – 25, hier 20.

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Zu Königsberg in Preußen starb am 7. Februar 1684 Ernst Bogislaw, Herzog von Croy, in einer Stadt und in einem Teil der Monarchie, die er nicht geliebt hat und die ihm große Schwierigkeiten bereitet haben. Ein nicht einfaches, aber buntes und auch recht erfolgreiches Leben, das von der Schwere der damaligen Zeit mitgeprägt wurde, war zu Ende gegangen. Wunschgemäß wurde er an der Seite seiner Mutter in der Schlosskirche zu Stolp begraben. Beider prächtige Sarkophage sind, fast möchte man sagen: selbstverständlich, mit Wappen geschmückt. Es ist aber leider nicht einmal ansatzweise zu belegen, dass dieser Schmuck auf den fürstlichen Wappenkenner zurückgeht45. Sein Sarg und ein prächtiges Epitaph erinnern dort, in seinem geliebten Pommern, bis heute an Leben und Wirken eines gläubigen, gelehrten, letztlich anständigen und doch eben auch sündigen Mannes, der sein Leben in Gottesfurcht vornehmlich drei Zielen gewidmet hatte: der Erhaltung und Weiterentwicklung des Andenkens an die Dynastie der Greifen sowie dem Wohle zweier großer historischer Kulturlandschaften, des Pommern- und des Preußenlandes.

45 M. Czerner, Wappen auf den Sarkophagen (Anm. 24), nimmt an, dass der Wappenschmuck der Sarkophage auf Herzog Ernst Bogislaw zurückgeht (ebd., Anm. 5, 86), wofür es aber eben keinen Beleg gibt.

Fridericus Rex in Wien. Die „Aktenbeuten“ von Landeshut und Glatz (1760) im Österreichischen Staatsarchiv Von Michael Hochedlinger, Wien Es läßt sich aufs Ganze gesehen leider nicht bestreiten: Das einst symbiotische Miteinander von Archiven und universitärer Geschichtswissenschaft scheint heute, da Quellennähe nicht mehr als Muss, ja sogar im Gegenteil als Zeichen intellektueller Unbedarftheit oder Phantasielosigkeit gilt, nachhaltig gestört. Beide Bereiche haben begonnen, sich auseinander zu entwickeln, man geht immer öfter getrennte Wege und will tunlichst ohne den einstigen Partner auskommen. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Die Archivare reagieren auf den fortschreitenden „Liebesentzug“ seitens der akademischen Geschichtswissenschaft, indem sie aus offensichtlichen Nöten Tugenden machen: Einerseits sieht man sich im Außenverhältnis gedrängt, die herablassende Skepsis gegenüber dem mittlerweile größten Nutzersegment, den „Amateuren“, die meist im glanzlosen Gewand des „Familienforschers“ auftreten, zu einer etwas bemühten Hochschätzung des informationssuchenden Servicestaatsbürgers zu sublimieren. Andererseits wird in der internationalen „archival community“ der in Kontinentaleuropa einst vorherrschende Typus des „HistorikerArchivars“ im Angesicht der drängenden Herausforderungen des elektronischen Zeitalters wenn nicht geächtet, so doch mehr und mehr marginalisiert. Der „Techniker-Archivar“ beherrscht zusehends – und immer selbstbewusster – die Szene1. I. Von den Aufgaben „historischer Archive“ Freilich gibt es Archive und Archivare, namentlich rein „historische“ Archive und ihre Exponenten, die diesem Zug der Zeit widersprechen und in Wort und Tat widerstehen müssen, da ihre Aufgabe in wesentlichen Bereichen eine andere ist als jene „lebender“, also dauernd wachsender Archive. Von Archivaren, die vom Alpdruck dauernden Behördenkontakts, laufender Schriftgutübernahme und punktgenauer Überlieferungsbildung befreit sind, darf billigerweise – neben der Erfüllung 1

Michael Hochedlinger, „Verdrossen und einsam“? Der Archivar im Spannungsfeld zwischen historischer Wissenschaft und „Benützerservice“, in: Scrinium 61/62 (2007/08), 83 – 105; ders., Miteinander – Gegeneinander – Nebeneinander? Archive und Geschichtswissenschaft im Schatten von „Erinnerungskultur“, Kulturgeschichte und Digitalisierungspopulismus. Eine Empörung, in: Scrinium 67 (2013), 27 – 63.

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der sonstigen archivischen Kernaufgaben, insbesondere einer besonders niveauvollen und eingehenden „Erschließung“ – gerade die engagierte Wahrnehmung des seit den 1990er Jahren leider auch in Deutschland und – mit Verspätung – in Österreich in die Kritik geratenen „Auswertungsauftrags“ erwartet werden. Ja die „Aufbereitung“ der latenten Quellenschätze wird sich wohl in dem Maße zu einem regelrechten „Auswertungsmonopol“ steigern, in dem die außerarchivische Forschung an der intensiven Arbeit mit Archivgut immer weniger Interesse zeigt und dazu, jedenfalls was das Vorschreibmaschinen-Zeitalter betrifft, durch eklatante Ausbildungsdefizite im Bereich der absterbenden Historischen Hilfswissenschaften auch vielfach gar nicht mehr in der Lage scheint. Es ist nicht anlassbedingte Schmeichelei, wenn hier – etwas neiderfüllt – ausgerechnet von österreichischer Seite festzustellen ist, dass das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz und sein wort- und schriftgewaltiger Direktor Jürgen Kloosterhuis die Mission eines „historischen“ Archivs „mit rein kulturell-wissenschaftlichem Auftrag“2 vollauf erfüllt haben. Fast fühlt man sich an die Glanzzeiten des preußischen Archivwesens im spätwilhelminischen Deutschland und während der Weimarer Republik erinnert, als Preußens Archive nicht passive Quellenlager, sondern vielmehr in enger Kooperation mit den Universitäten, Akademien und Vereinen Schaltstellen der historischen Forschung gewesen sind. Die Ära Kloosterhuis profitierte von der in den 1980er Jahren mit voller Wucht einsetzenden „Preußenrenaissance“, die die idealen Rahmenbedingungen für eine kritische, dabei vom exzessiven Ressentiment der ersten Nachkriegsjahrzehnte befreite Auseinandersetzung mit der Hohenzollernmonarchie schuf, ebenso wie von der „Wiedervereinigung“ 1989, die endlich auch die Zusammenführung der nach 1945 zerrissenen Bestände des Geheimen Staatsarchivs ermöglichte. Die Öffnung westlichen Forschern bisher nur schwer zugänglicher Bestände wirkte der sonst (außer vielleicht im Bereich der Zeitgeschichte) fast allenthalben feststellbaren Archivmüdigkeit unter Historikern eindeutig entgegen und traf sich glücklich mit Wolfgang Neugebauers nimmermüdem Plädoyer für eine verstärkte „Archivbindung“ der universitären Preußenforschung3.

2 So Norbert Reimann, Grußwort, in: Archivarbeit für Preußen. Symposion der Preußischen Historischen Kommission des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz aus Anlass der 400. Wiederkehr der Begründung seiner archivischen Tradition, hrsg. v. Jürgen Kloosterhuis (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz – Arbeitsberichte, 2), Berlin 2000, 10. 3 Zuletzt z. B. Wolfgang Neugebauer, Wozu preußische Geschichte im 21. Jahrhundert?, Berlin 2012. Vernichtung und Verschleppung von Archivgut im und nach dem Krieg dürften die Sensibilität für den Wert einer soliden archivalischen Materialgrundlage wohl zusätzlich erhöht haben. In Österreich hat sich demgegenüber ein gefährlicher embarras de richesse sedimentiert.

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Man würde sich ähnlich zielgerichtete „Archivarbeit“ auch anderswo wünschen. Denn nicht nur das Archiv in Berlin-Dahlem ist ein „Staatsarchiv ohne Staat“4, auch das Österreichische Staatsarchiv in Wien gehört im Grunde in die sonderbare Gruppe der Erbschaftsverwalter untergegangener Staaten: Drei der vier heute bestehenden Archivabteilungen verwalten nahezu ausschließlich den riesenhaften Schriftgutnachlaß aus der Zentralverwaltung der 1918 in seine Bestandteile zerfallenen Habsburgermonarchie und das Aktenerbe des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reichs5. Die Bestandsgruppe „Reichsarchive“ macht das Haus-, Hof- und Staatsarchiv am Minoritenplatz zur manchmal unwienerisch, also ungemütlich überlaufenen Pilgerstätte der „Reichsgeschichte“ ebenso wie der Rechtsgeschichte und der deutschen Landesgeschichte. Warum aber – anders als im Falle des national wie international über Jahrzehnte anathemisierten Preußen – der Ausbau des Österreichischen Staatsarchivs zu einem Forschungszentrum für die Geschichte des klischeeüberladenen Habsburgerreiches6, das auch die nach 1989 wieder frei werdenden Energien der übrigen Nachfolgestaaten der Donaumonarchie hätte bündeln und kanalisieren können, nicht wirklich gelungen ist bzw. gar nicht ernsthaft versucht wurde, müßte (und sollte) künftige Historiographie- und Archivgeschichte klären. Nach vielen Beispielen verspäteter Mimikry quer durch die konfliktgeladene Geschichte der österreichisch-preußischen Beziehungen, vom eisernen Ladestock über das Kantonsystem zum Zündnadelgewehr, ist freilich noch nicht alle Hoffnung verloren, dass dereinst auch auf dem weniger martialischen Gebiet der Archiv- und Geschichtswissenschaft befruchtende Impulse aus Berlin mutatis mutandis aufgenommen werden. II. Aktenbeuten Die dem Jubilar im Folgenden dargebrachte Miszelle zeigt an einem recht kuriosen Beispiel, dass die Wiener Archive nicht nur für die „Reichsgeschichte“, die im Zeichen der „Entpreußung“ nach 1945 die Hohenzollern- und Reichseinigungshagiographie als Leitdisziplin der deutschen Frühneuzeitforschung abgelöst hat, reiches Material bereit halten, sondern auch dem Preußenhistoriker Einiges zu bieten vermögen … zum Beispiel über 400 „originale“ Kabinettsordres und fran-

4 Jürgen Kloosterhuis, Ein „Staatsarchiv ohne Staat“ – Solitär unter den Staatsarchiven. Positionspapier zum Selbstverständnis und zu den Herausforderungen des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, in: Der Archivar 58 (2005), 252 – 254. 5 Zur österreichischen „Archivlandschaft“ vgl. Michael Hochedlinger, Österreichische Archivgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Papierzeitalters (Historische Hilfswissenschaften, 5), Wien 2013. 6 Michael Hochedlinger, Abschied vom Klischee. Für eine Neubewertung der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 1 (2001), 9 – 24.

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zösischsprachige Billets7 Friedrichs des Großen, deren recht verschlungene Wege bis in die Archivschachteln des Kriegsarchivs wir hier nachzeichnen wollen. Sie sind der Forschung durchaus nicht verborgen geblieben. Ein kleiner Teil wurde bereits Anfang der 1880er Jahre kurz nach ihrer „Entdeckung“ in Österreich publiziert, die Bearbeiter der „Politischen Correspondenz“ haben sie teilweise in die Editionsbände für 1759 und 1760 einbezogen (vgl. S. 510 f.). Das Corpus ist aber zahlenmäßig so beträchtlich, dass nicht nur eine archivdetektivische Rekonstruktion des Itinerars der Aktenbeute lohnt, sondern auch eine listenmäßige Erfassung der königlichen Schreiben, darunter einige Autographen (Abb. 2 und 3)8. Die Geschichte bietet eine Fülle von Beispielen dafür, dass Schrift- und Archivgut im Verlauf eines Krieges, oft noch auf dem Schlachtfeld selbst, in die Hände des Gegners fallen und zu – durchaus geschätztem – Beutegut werden kann. Solch papierene Trophäen wurden, einmal dem Kriegsherrn abgeliefert, oft besser betreut als die eigene Schriftgutproduktion aus dem Verwaltungsalltag und haben sich manchmal erstaunlich gut, bisweilen sogar unzerteilt, bis in unsere Tage erhalten9. Nicht selten wurden erbeutete Akten des Gegners propagandistisch verwertet. Man denke nur an den bellum chartaceum, den „Kanzleienstreit“, zwischen der protestantischen und der katholischen Seite in den Jahren 1621 – 1628, der auf der Grundlage erbeuteter Akten ausgefochten wurde10. Auch gezielte Schriftgutplünderungen in Verwaltungszentren des Gegners kamen immer wieder vor. 1648 erbeuteten etwa die Schweden bei der Einnahme Prags kurz vor Ende des Dreißigjährigen Krieges nicht nur Kunstschätze, sondern auch tonnenweise kaiserliche Akten, die nach der Rückübersiedlung des Hofes und der Zentralverwaltung nach Wien 1612 in der böhmischen Hauptstadt zurückgeblieben waren11. Napoleon I. ließ in mehreren europäischen Hauptstädten (so 1809 mit besonderer Gründlichkeit auch in Wien) feindstaatliche Archive und Registraturen systematisch beschlagnahmen, um sie in Paris einem megalomanischen Zentralarchiv einzuverleiben. Ausgliederung und Rücktransport zogen sich nach der Niederwerfung Frankreichs 1814/15 über Jahre, teilweise über Jahrzehnte hin, 7

Zum Aktenkundlichen vgl. Heinrich Otto Meisner, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig 1969, 150 – 153, und Jürgen Kloosterhuis, Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium, in: Archiv für Diplomatik 45 (1999), 465 – 563, hier 527 – 529. 8 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Kriegsarchiv (KA) Archivbehelfe 51 (Index über Autogramme und Siegel historischer Persönlichkeiten in Schriften des Kriegsarchivs) kennt nur drei Autographen. 9 Im Haus-, Hof- und Staatsarchiv sind etwa trierische und französische Provenienzen in Staatenabteilungen Deutsche Staaten – Trevirensia (1630 – 1635) und Teile der in der Schlacht von Nördlingen 1634 eroberten schwedischen Kriegskanzlei („Nördlinger Aktenbeute“) im Bestand Kriegsakten zu nennen. 10 Reinhold Koser (1852 – 1914) promovierte 1874 mit einer Dissertation zum Thema „Der Kanzleienstreit: Ein Beitrag zur Quellenkunde der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“. 11 Emil Schieche, Umfang und Schicksal der von den Schweden 1645 in Nikolsburg und 1648 in Prag erbeuteten Archivalien, in: Bohemia 8 (1967), 111 – 133.

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viel ging verloren12. Es war dies ein erster Vorgeschmack auf die großangelegten Archivraubzüge des NS-Regimes in fast allen Ländern, die von deutschen Truppen während des Zweiten Weltkriegs besetzt wurden. Natürlich wechselte auch in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Habsburgermonarchie und dem Preußen Friedrichs des Großen ab 1740 Schriftgut immer wieder den Besitzer, wobei die spektakuläreren Verluste auf preußischer Seite eintraten; nicht zuletzt weil der Roi-Connétable in höchsteigener Person im Feuer stand und im Gefecht nicht nur Leben und Gesundheit, sondern auch die Unversehrtheit der mitgeführten Registratur und Kanzlei riskierte. Berlin wurde zweimal – 1757 und wieder 1760 – unmittelbar bedroht bzw. sogar teilweise besetzt, doch nahmen Archive und Behördenregistraturen, in ihren wertvollsten Teilen nach Spandau geflüchtet, 1757 keinen Schaden. Die Österreicher agierten damals so „ritterlich“ bzw. waren so damit beschäftigt, die geforderte Kontributionssumme einzutreiben, dass sie gar nicht daran dachten, Pulver- und Gewehrfabriken zu zerstören oder die Staatskassen zu leeren, und sich am Ende sogar Hohn und Spott Friedrichs II. gefallen lassen mussten13. 1760 holten die verbündeten Russen und Österreicher diese Versäumnisse nach; auch die Königsschlösser, ganz besonders Charlottenburg, litten damals stark. Nicht wenige Offiziere ließen in Potsdam Souvenirs aus königlichem Besitz mitgehen14. Der Husarengeneral Emmerich Graf Esterházy (1722 – 1792) trieb es freilich zu bunt. Er hatte sich in Potsdam ansehnliche Mengen chinesischen Porzellans, Miniaturen, Gemälde, Bücher usw. unter den Nagel gerissen und wollte seine Beute unter Umgehung der Zollgesetze nach Wien senden. In Prag wurden die Gegenstände im Dezember 1760 als Schmuggelgut beschlagnahmt und die Wiener Behörden bis hinauf zur Kaiserin mit der Angelegenheit befasst. Maria Theresia befahl 12

Hanns Schlitter, Die Zurückstellung der von den Franzosen im Jahre 1809 aus Wien entführten Archive, Bibliotheken und Kunstsammlungen, in: MIÖG 22 (1901), 108 – 122; Richard Blaas, Die Tätigkeit der k. k. Aktenrückführungskommission in Paris 1814 und 1815, in: MÖStA 14 (1961), 18 – 41; Leopold Auer, Die Verschleppung der Akten des Reichshofrats durch Napoleon, in: Grundlagen der österreichischen Rechtskultur. Festschrift für Werner Ogris zum 75. Geburtstag, Wien/Köln/Weimar 2010, 1 – 13. 13 N. N. Thielen, Des k. k. Feldmarschall-Lieutenants Andreas von Hadik Zug nach Berlin 1757, in: ÖMZ 1835/1, 115 – 146; Victor Ritter von Pokorny, Der Zug Hadiks nach Berlin 1757, in: Organ des Wiener militär-wissenschaftlichen Vereines 8 (1874), 253 – 266, 395 – 412; Albert Naudé, Die Einnahme von Berlin durch die Oesterreicher im Oktober 1757 und die Flucht der königlichen Familie von Berlin nach Spandau, in: Märkische Forschungen 20 (1887), 3 – 24; Zur Geschichte der Einnahme von Berlin durch das Streifkorps des kaiserlichen Feldmarschall-Lieutenants Grafen Hadik im Oktober 1757, in: Urkundliche Beiträge und Forschungen zur Geschichte des preußischen Heeres 4 (1902), 49 – 62; Tibor Simányi, Die Österreicher in Berlin. Der Husarenstreich des Grafen Hadik anno 1757, Wien/München 1987. 14 Korrespondenz den Zug nach Berlin im Jahre 1760 betreffend, in: ÖMZ 1811/6, 3 – 58; Edith Kotasek, Feldmarschall Graf Lacy. Ein Leben für Österreichs Heer, Horn 1956, 49 – 52. Lacy selbst hatte im Sommer 1760 Kartenmaterial an die Preußen verloren, das Friedrich der Große ihm nach Kopierung zurückzustellen versprach. Handschreiben Friedrichs II. an Lacy (17. 8. 1760, französisch, Abschrift?): ÖStA, KA Alte Feldakten (AFA) 1760-VIII-179.

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die Rückgabe an den König von Preußen. Dieser ließ aber ausrichten, dass die unrechtmäßigen Besitzer die entwendeten Gegenstände nun gerne behalten könnten (Februar 1761)15. Sogar in der für Friedrich siegreichen Schlacht bei Soor (30. September 1745) erstürmten ungarische leichte Truppen das preußische Lager, erbeuteten die gesamte Bagage und nahmen neben zwei Kabinettssekretären, dem Leibarzt und der Lieblingshündin Biche noch zahlreiche weitere Mitglieder des Hofstaates Friedrichs II. und seines Bruders Heinrich gefangen, insgesamt 68 Personen. Den Bediensteten war es allerdings zuvor noch gelungen, einen Großteil der wichtigeren Papiere zu verbrennen; den Rest wussten die zügellosen Plänkler, die sich mehr mit den Weibspersonen des preußischen Trosses und besonders ausführlich mit den vorgefundenen Alkoholvorräten beschäftigten und schließlich das Lager anzündeten, sichtlich nicht zu schätzen und haben ihn wohl zu einem erheblichen Teil zerrissen und verkommen lassen. Die große Beute habe die Leute eben verdorben, schrieb ihr Kommandeur, „dan seer vüll Wein darbey gewesen“16. Die Überbleibsel wurden eingesammelt und gemeinsam mit den illustren Gefangenen dem österreichischen Oberbefehlshaber Karl Alexander von Lothringen (1712 – 1780) gleichsam als Trostpflaster übergeben, der sie großteils an seinen Bruder, Kaiser Franz I. Stephan, weitergab17. Soweit sich erkennen läßt, hat das damals erbeutete preußische Aktenmaterial nicht Eingang in die Wiener Archive gefunden. Ein Kopierbuch (Minütenbuch) der königlichen Kanzlei für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 27. September 1745 ist nur in Gestalt einer späteren Abschrift erhalten18. III. Die „preußischen Thermopylen“: Das Debakel von Landeshut (23. Juni 1760) Die ansehnlichste Aktenbeute machten die k. k. Truppen im Sommer 1760, als Feldzeugmeister Gideon Ernst von Laudon (1717 – 1790) die Preußen am Fuße des

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Carl Freiherr von Hock, Der österreichische Staatsrath 1760 – 1848, hrsg. v. Hermann Ignaz Bidermann, Wien 1879, 13; ÖStA, KA AFA Hofkriegsrat (HKR) 1761-II-2 (mit einer Spezifikation der beschlagnahmten Beute). 16 ÖStA, KA AFA Böhmen 1745-IX-44. 17 Karl von Lothringen an Kaiser Franz Stephan (2. und 4. 10. 1745) mit einer Liste der Gefangenen: ÖStA, KA AFA Böhmen 1745-X-1, ad 1 und 4; k. u. k. Kriegsarchiv (Oskar Criste), Oesterreichischer Erbfolge-Krieg 1740 – 1748, Bd. 7, Wien 1903, 593. 18 ÖStA, KA AFA Böhmen-Schlesien 1745-XIII-98 (Abschrift aus dem Besitz der Freiherren von Raigersfeld, Archiv Lustthal, Krain). Der österreichische Rechtshistoriker Arnold Luschin von Ebengreuth (1841 – 1932), Universitätsprofessor in Graz, hatte 1880 den Ankauf durch das Kriegsarchiv vermittelt. Der Kaufpreis betrug bescheidene 8 Gulden. Erst 1890 kam es aus den „Geheimakten“ der Kriegsarchivdirektion in den Bestand „Alte Feldakten“. ÖStA, KA Manuskripte zur Geschichte des Kriegsarchivs (MS/KA) Nr. 3 (Zuwachsprotokoll), fol. 517 (26. 9. 1890).

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schlesischen Riesengebirges bei Landeshut entscheidend aufs Haupt schlug und sodann die abgeschnittene Festung Glatz eroberte. Bis dahin hatte ein Jugendfreund Friedrichs II., der Refugié Heinrich August de la Motte Fouqué (1698 – 1774)19, seit 1742 Kommandant von Grafschaft und Festung Glatz, die schlesischen Grenzen gegen Böhmen mit einigem Erfolg gedeckt. Die vom König gegen den Rat Fouqués und in sehr ungnädigen Worten befohlene Wiederbesetzung und Verteidigung der zunächst aufgegebenen verschanzten Höhenrücken um das strategisch wichtige Landeshut (wie sich herausstellen sollte gegen eine dreifache österreichische Übermacht) endete in einer Katastrophe: Fouqués Korps von etwa 11.000 Mann wurde am 23. Juni 1760 in vielstündiger Schlacht völlig aufgerieben, über 8.000 Mann, darunter drei Generäle, gerieten in Gefangenschaft. Fast kein preußischer Soldat entkam20. Über die Umstände von Fouqués Gefangennahme wissen wir aus seinen 1788 vom Kriegs- und Domänenrat zu Königsberg Gottfried August Büttner (1741 – 1812) herausgegebenen panegyrischen „Mémoires“ im Detail Bescheid21. Man darf dem General der Infanterie glauben, dass er inmitten eines zum Karree formierten Bataillons bis zuletzt Widerstand leistete, ehe ihm das Pferd unter dem Leib weggeschossen wurde und österreichische Kavallerie endlich in den Verband einbrechen konnte. Soldaten, die ihren General zu schützen versuchten, wurden von den Löwenstein Dragonern niedergesäbelt. Fouqué war bereits an Stirn, Ellenbogen und Rücken erheblich verwundet, als sich feindliche Kavalleristen anschickten, auch ihn zu töten. Da warf sich Fouqués treuer Pferdeknecht Trautschke schützend über seinen Herrn und schrie (hoffentlich auf Deutsch): „Voulez-vous donc tuer le général en chef?“ Der junge Adolph Menzel hat die Szene 1840 in einem berühmten Holzstich (Abb. 1) für Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen festgehalten22. 19 Die einzige jüngere biographische Studie ist Piotr Pregiel, Francouzsky´ hugenot generálem Bedrˇicha II. H. A. de La Motte Fouqué, pocˇátky jeho vojenské dráhy a jeho podíl na pruském dobytí a pacifikaci Kladska, in: Historie a Vojenství 2000, 294 – 334 und 727 – 765. 20 Großer Generalstab – Kriegsgeschichtliche Abteilung II (Hrsg.), Der Siebenjährige Krieg 1756 – 1763. Landeshut und Liegnitz, Berlin 1913, 99 – 121; E. von Sodenstern, Der Feldzug des königlich preussischen Generals der Infanterie Heinr. August Baron de la Motte Fouqué in Schlesien, Kassel 1862; Alfred Ritter von Arneth, Geschichte Maria Theresias. Bd. 6: Maria Theresia und der siebenjährige Krieg 1756 – 1763, Wien 1875, 115 – 124. 21 Mémoires du Baron de la Motte Fouqué, général d’infanterie prussienne, 2 Bde., Berlin 1788, hier Bd. 2, 98 – 100 (dort die folgenden Zitate). Von hier fand die Schilderung Eingang in die gesamte Literatur. Vgl. z. B. schon Franz Jungbauer, Die Erstürmung des Lagers bei Landshut durch den k. k. Feldzeugmeister Baron Loudon am 23. Juni 1760, in: ÖMZ 1835/1, 268 – 295, hier 293; Rittmeister Blöchlinger, Oberst Voit von Löwenstein-Dragoner und die Gefangennahme des preussischen Oberbefehlshabers General de la Motte-Fouqué in der Schlacht bei Landshut am 23. Juni 1760, in: ÖMZ 1865/3, 274 f., und zuletzt Christopher Duffy, The Austrian Army in the Seven Years War. Vol. 2: By Force of Arms, West Irving 2008, 238 f. Zusätzlich ausgeschmückt bei E. v. Sodenstern, Feldzug (Anm. 20), 112 – 115. 22 Franz Kugler, Geschichte Friedrichs des Grossen, Leipzig 1840, 442.

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Abb. 1: Die Gefangennahme Fouqués (Holzstich von A. Menzel, vgl. Anm. 22)

Die Dragoner hätten sich dadurch wohl kaum beirren lassen, aber der Kommandant des Regiments Löwenstein, Oberst Karl Freiherr Voith von Salzburg aus fränkischem Rittergeschlecht, eilte nun herbei, gebot seinen Männern Einhalt und kümmerte sich ritterlich um den blutenden Fouqué. Dieser, von einem österreichischen Feldscher erstversorgt, konnte immerhin noch seinen Degen übergeben und das für den Ritt in die Gefangenschaft angebotene Paradepferd mit den Worten „Je risquerois de souiller ce bel équipage avec mon sang“ ablehnen. „Mon équipage ne peut que gagner à être teint du sang d’un héros“, soll Oberst Voith in dieser pathetischen Wechselrede geantwortet haben. Friedrich der Große, der am Debakel von Landeshut Mitschuld trug, musste das gegnerische Lob natürlich überbieten und rief, so berichten jedenfalls die Fouqué’schen Memoiren, auf die Nachricht von der Gefangennahme seines Freundes aus: „Fouqué est prisonnier, mais sa captivité lui fait autant d’honneur qu’à nous; il s’est défendu en héros.“ In den „Œuvres historiques“ verglich der König seinen Freund mit Leonidas, die Aktion von Landeshut mit der Verteidigung der Thermopylen. Erste Erkundigungen ergaben, dass Fouqué nicht tödlich verletzt war23. 23 Die Regimentsgeschichte der „Löwenstein Dragoner“ bietet leider keine ergänzende Information. Andreas Thürheim, Geschichte des k. k. achten Uhlanen-Regiments Erzherzog Ferdinand Maximilian, Wien 1860. Ein Augenzeuge der Vorgänge rund um die Gefangennahme Fouqués, Jakob de Cognazzo, Geständnisse eines oestreichischen Veterans in politischmilitärischer Hinsicht auf die interessantesten Verhältnisse zwischen Oestreich und Preußen während der Regierung des Großen König der Preußen Friedrichs des Zweyten, Breslau 1790, Bd. 3, 154 f., erzählt auch von einer unschönen Szene, in der ein österreichischer Offizier Fouqué verhöhnte. Wiedergegeben schon bei E. v. Sodenstern, Feldzug (Anm. 20), 115 mit Anm. 1.

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IV. Fouqués Gefangenschaft Der von Wundfieber geplagte Fouqué wurde zunächst von einem Offizier und zehn Dragonern nach Königgrätz eskortiert24, von hier nach Brünn und schließlich am 8. August 1760 nicht wie ursprünglich geplant zu den bereits seit längerem in Krems an der Donau internierten recht turbulenten preußischen Offizieren, sondern – auf eigenes Ersuchen – nach Bruck an der Leitha östlich von Wien, hart an der ungarischen Grenze, überstellt, denn hier und in Hainburg an der Donau saßen auch die Offiziere seines Korps ein. Fragen nach der Art der Fouqué zugedachten Behandlung wurden eindeutig verbeschieden: Der Freund des Königs war „wie die übrige Generals und Officiers mit aller politesse und Bescheidenheit zwar als Kriegsgefangener, keinesweegs aber wie ein Arrestant zu tractieren und hiebey umso weniger eine besondere Aufsicht nöthig ist, als von selben gleich allen übrigen Generals und Officiers, welche mit ihm gleiches Schicksal gehabt, bereits die Reverse außgestellet und in diesseithigen Handen befindlich seynd“.25 In Bruck war es jedoch bald mit der dick aufgetragenen Ritterlichkeit vorbei. Kriegsgefangene Offiziere und Soldaten (ja selbst Generäle) wurden in dieser Phase des Krieges kaum noch ausgewechselt und die Gemeinen natürlich auch für die Feindarmee zwangsverpflichtet. Anders als die riesige gegnerische Koalition konnte Preußen das Fehlen tausender Kriegsgefangener auf Dauer kaum verkraften. Die „Memoiren“ Fouqués führen die unerwarteten Härten seiner Gefangenschaft in der Habsburgermonarchie auf seinen noblen Charakter zurück, der ihm jede Unterwürfigkeit unmöglich gemacht habe – wohl ein Euphemismus für das, was uns die österreichischen Akten verraten: Der illustre Gefangene war ein sehr schwieriger und unbeherrschter Zeitgenosse, der überall aneckte26. Nicht unwahrscheinlich ist es ferner, dass der üblicherweise aus der Familiengeschichte abgeleitete Katholikenhass Fouqués und sein extrem hartes Regime in der Grafschaft Glatz nach dem wenig landesväterlichen Motto Oderint dum metuant die Österreicher und gerade Maria Theresia stark gegen ihn einnahmen. Friedrich der Große selbst hatte Ende der 1740er Jahre Fouqué ermahnen müssen, durch übertriebene Rigidität die preußische Herrschaft in Glatz nicht dauerhaft verhasst zu machen27. 24 ÖStA, KA AFA Korps Laudon 1760-XIII-24: Feldzugsjournal Korps Laudon, Generalsbefehl 27. 6. 1760. 25 Zur Unterbringung der preußischen Kriegsgefangenen von Landeshut ein Konvolut Akten in ÖStA, KA AFA HKR Juli 1760, hier bes. AFA HKR 1760-VII-2i (Zitat, Instruktion vom 8. 7. 1760). 26 Prominente Gefangene waren stets eine besondere Pein, so auch der 1702 von den Kaiserlichen in Cremona entführte Jugendfreund Ludwigs XIV., Marschall Villeroy, der gewaltige Schulden hinterließ. Vgl. Michael Hochedlinger, Die Gefangenschaft des François de Neufville, Herzog von Villeroy, Marschall von Frankreich, in Graz 1702, in: Blätter für Heimatkunde 68/4 (1994), 122 – 138. 27 Besonders kritisch das Bild Fouqués bei Alois Bach, Die Grafschaft Glatz unter dem Gouvernement des Generals Heinrich August Freiherrn de la Motte Fouqué 1742 – 60 [1834], hrsg. v. Franz Volkmer, Habelschwerdt 1885.

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Die Hinrichtung des Glatzer Schlosspredigers Andreas Faulhaber SJ (1713 – 1757) im Dezember 1757 wegen angeblicher Anstiftung preußischer Soldaten zur Desertion war in Wien umso weniger vergessen, als der Leichnam des Jesuitenpaters bei der Einnahme von Glatz durch die Österreicher Ende Juli 1760 immer noch am Galgen hing28. Friedrich Freiherr von der Trenck (1726 – 1794), dessen Kerkermeister Fouqué als Kommandant von Glatz 1745/46 gewesen war, wusste aus unmittelbarer Anschauung ebenfalls nichts Positives über den General zu berichten. Er sei „ein weltbekannter Menschenfeind“, sollte der Abenteurer in seinen Lebenserinnerungen schreiben29. Konkreter Auslöser für die 1761 eintretenden „Haftverschärfungen“ für Fouqué war ein eskalierender Streit um die Verpflegsgebühren der kriegsgefangenen preußischen Offiziere, die in der Schlacht von Landeshut alles Hab und Gut verloren hatten. Preußisches und sächsisches Geld wurde in den sehr teuren österreichischen Ländern nicht angenommen, die Preußen brauchten also wertbeständige holländische Dukaten30. Schon im Sommer 1760 hatte sich Fouqué mit der Bitte um hartes Geld an den kurbrandenburgischen Reichstagsgesandten in Regensburg, Erich Christoph Freiherrn von Plotho (1707 – 1788), gewandt und von diesem in der Tat 1.000 Dukaten erhalten. Von den Österreichern bezog der General monatlich 400 Reichstaler31. Als Retourkutsche für die in schlechter Münze erfolgende Bezahlung der österreichischen Gefangenen in Preußen wollte Wien nach drei Monaten ohne jede Soldauszahlung die preußischen Offiziere im August 1761 zur Annahme des Dukaten auf 8 Gulden (bei einem Kaufwert von 4 Gulden) zwingen. Fouqué machte sich als Höchstrangiger zum Anwalt seiner Offiziere, begann einen hitzigen Briefwechsel mit dem Hofkriegsrat, der obersten Militärbehörde in Wien, und lieferte sich heftige Auftritte mit Generalmajor Karl Graf Gastheim († 1785), der die Aufsicht über die preußischen Kriegsgefangenen in Österreich führte. 5.500 waren es alleine in Österreich ob und unter der Enns im September 1761, 5.000 hatte man schon in österreichische Uniformen gesteckt. Die preußischen Offiziere verweigerten die Annahme der herabgesetzten Verpflegsgelder, und Fouqué – der zuständige k. k. Kriegskommissar attestierte ihm wenig überraschend ein „hochtrabendes Gemüth“ – setzte auf die ihm vorgelegte 28

Über Faulhaber, dessen Seligsprechung ab etwa 1930 betrieben wurde, forschte der Glatzer Heimatkundler und Militärpfarrer Franz Albert (1876 – 1944) mit Unterstützung des Kriegsarchivs. ÖStA, KA Direktionsakten Zl. 974 und 1687/1926. Das Ergebnis war eher dürftig: Franz Albert, Was uns der Becher des P. Andreas Faulhaber erzählt, in: ArnesiusKalender 1928, 3 – 17. 29 Friedrich Freyherrn von der Trenck merkwürdige Lebensgeschichte, Neuaufl. Berlin 1787, Bd. 1, 76. 30 Der Konflikt um die Versorgung der preußischen Offiziere wird auch behandelt in Fouqués Mémoires (Anm. 21), Bd. 2, 105 – 107. 31 Plotho an Friedrich II. – Interzepte (Regensburg, 8. und 4. 9. 1760), Fouqué an Plotho (?) (Bruck an der Leitha, 17. 8. 1760): ÖStA, KA AFA Cabinettsakten (CA) 1760-IX-5, 5a und 11.

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Quittung eine freche Erklärung, in der er die „Advokatenkniffe“ und „Ränke“ der Österreicher geißelte. Die höchstpersönlich intervenierende Kaiserin-Königin war empört über das „respectvergessende Verfahren“ und „ohnanständige Betragen“ und ließ Fouqué noch Anfang September 1761 zur Strafe in die Festungsstadt Karlstadt in der kroatischen Militärgrenze verlegen32. Der preußische General sprach in seinen „Memoiren“ von einer Gefangenschaft wie in Sibirien und querulierte auch in Karlstadt munter weiter. Dabei waren die Haftbedingungen immer noch vergleichsweise gut. Fouqué logierte in einem geräumigen Quartier im Hause eines Majors des Karlstädter Grenzhusarenregiments und verfügte über ein ansehnliches Gefolge von 24 Köpfen, darunter einer seiner Söhne, seine Tochter Henriette Wilhelmine Augustine, verehelicht mit dem Kommandanten des Regiments Fouqué, Oberst Christoph Wilhelm von Nimschewski († 1764), zwei Enkelkinder, ein Sekretär, ein preußischer Leutnant als Adjutant, ein Chirurg und sogar ein eigener französischer Koch, durfte sich frei bewegen und korrespondierte sehr intensiv mit der Heimat, wobei freilich alle seine Briefschaften über Wien weitergeleitet und geöffnet wurden33. Der kommandierende General der Karlstädter Militärgrenze, Benvenuto Sigmund Graf Petazzi (1699 – 1784), ein besonders eifriger Katholik, wurde angewiesen, Fouqué gut zu behandeln. Dennoch sollte es in den folgenden eineinhalb Jahren der „Verbannung“ an die Türkengrenze sehr häufig zu Beschwerden und Vorhaltungen seitens des unfreiwilligen Gastes kommen. Noch im Februar/März 1763 beklagte sich der preußische General über Mangel an Brennholz, die Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit, ja über die harte Haltung der preußischen Kriegsgefangenen insgesamt. Eine Übersiedlung auf das nahegelegene Schloss Novigrad „zu Veränderung der Lufft“ wurde Fouqué im September 1762 abgeschlagen34. Friedrich II. reagierte auf die strenge Behandlung seines Freundes mit der verschärften Anhaltung von vier kriegsgefangenen k. k. Generälen in der Zitadelle von Magdeburg, wo Friedrich von der Trenck gerade in seiner Verzweiflung mit eigenem Blut Bibeln glossierte35. Diese Repressalie wiederum veranlasste Maria The32

Das Aktenmaterial zur „Affäre Fouqué“ in ÖStA, KA AFA HKR Kartons 744 (Konvolut 1761-VIII und 1761-IX) und 746 (Konvolut „Bestrafung des kriegsgefangenen Generalen La Motte Fouqué wegen respektwidrigem Benehmen“). Hofkriegsrat (HKR) Protokoll 1761, Bd. 939, fol. 1497. 33 ÖStA, KA HKR Protokoll 1761, Bd. 939, fol. 1494v: Hofkriegsrat an General Petazzi (9. 9. 1760). Der Eingang der Fouqué’schen Korrespondenzen beim Hofkriegsrat in Wien ist in den Protokollen der Behörde penibel vermerkt. 34 ÖStA, KA HKR Protokoll 1763, Bd. 959, fol. 217, 507; HKR Akten 1762 September 284/1; 1763 März 683/2. Darstellung der Gefangenschaft in Karlstadt in Fouqués Mémoires (Anm. 21), Bd. 2, 108 – 110. Die Ehegattin des bei Landeshut gefangen genommenen Generals Paul Joseph von Malachowsky (1713 – 1775) folgte diesem ebenfalls mitsamt Familie in die Kriegsgefangenschaft, um ihm Gesellschaft zu leisten. 35 Friedrich II. an den Vizekommandanten von Magdeburg (24. 9. 1761), in: Kurt Treusch von Buttlar/Otto Herrmann (Bearb.), Politische Correspondenz Friedrich’s des Großen,

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resia, in Tirol inhaftierte preußische Generäle in die unwirtliche Festung Kufstein zu verlegen, unter ihnen der Unterlegene von Maxen (1759), Generalleutnant Friedrich August von Finck (1718 – 1766), der nun den Militärkommandanten von Tirol und den Festungskommandanten von Kufstein mit wüsten Beschimpfungen überschüttete. Anders als im Falle Fouqués zog Wien bei Finck keine Konsequenzen und tröstete die Gescholtenen mit der Bemerkung, dass die in Rage gemachten Äußerungen „eben nicht so genau zu nehmen seynd“36. Als Friedrich II. die österreichischen Generäle im Dezember 1761 wieder in die „normale“ Kriegsgefangenschaft entließ, durfte auch General Finck nach Innsbruck zurückkehren. Auf den österreichischen Vorschlag, jede Kriegspartei möge ihre in der Hand des Gegners befindlichen Kriegsgefangenen selbst bezahlen, gingen die Preußen nicht ein. Wohl noch bedenklicher als Fouqués (verbale) Entgleisungen in der niederösterreichischen Provinz waren die öffentlichkeitswirksameren Beschuldigungen, die er in Briefen nach Preußen gegen die Österreicher erhob. Er muss das Ungemach der preußischen Kriegsgefangenen in so drastischen Worten geschildert haben, dass Markgraf Karl Friedrich Albrecht von Brandenburg-Schwedt (1705 – 1762) von Friedrich II. Weisung erhielt, direkt bei Feldzeugmeister Laudon zu intervenieren (September 1761)37. Wieder gingen in Wien die Wogen hoch. Die Staatskanzlei entwarf ein ungewöhnlich scharfes Antwortschreiben, das Laudon dem Gegner zu übermitteln hatte. Darin verbat man sich alle Unterstellungen, „da Höchstdenenselben [dem Markgrafen] so wenig als der ganzen Welt unbekant seyn kann, wer schon zu vier Mahlen wieder alle bonne foi und wieder alles Völckerrecht den Frieden gebrochen, wer das Blündern, Brennen und Verheeren nicht nur am ersten gestattet, sondern sogar anbefohlen, wer nicht nur die Gefangnen, sondern auch die unschuldigen Unterthanen anderer Reichsständen mit Schlägen, Hunger und harten Gefängnussen zum Dienstnehmen zwingen lassen“38. Der gesundheitlich angeschlagene Fouqué erlangte erst mit dem Frieden von Hubertusburg (15. Februar 1763) seine Freiheit wieder39. Im März 1763 verließ er Karlstadt mit sechs Transportwägen und reiste über Glatz nach Potsdam. Seinen Lebensabend verbrachte Fouqué, in regelmäßigem Briefkontakt mit seinem König, als Dompfründner in Brandenburg. Er war der Großvater des berühmten preußischen Dichters Friedrich Heinrich Karl de la Motte Fouqué (1777 – 1843), der seinem Ahnen ein biographisches Denkmal setzte40. Bd. 20, Berlin 1893, 624. – Werner Vogel, Die „Blutbibel“ des Friedrich Freiherr von der Trenck 1727 – 1794, Köln 2014. 36 ÖStA, KA AFA HKR 1761-XII-1. 37 Friedrich II. an Markgraf Karl (21. 9. 1761) in K. Treusch von Buttlar/O. Herrmann, Politische Correspondenz (Anm. 35), Bd. 20, 620 f., und ders. an dens. (21. 11. 1761), in: ebd., Bd. 21, Berlin 1894, 88. 38 ÖStA, KA AFA HKR 1761-X-9. 39 ÖStA, KA HKR Akten 1763 März 226/6. 40 Friedrich Baron de la Motte Fouqué, Lebensbeschreibung des königl. preuß. Generals der Infanterie Heinrich August de la Motte Fouqué, Berlin 1824. Die Informationen über

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V. Die (Akten-)Beute von Landeshut und Glatz Mit seiner Freilassung im März 1763 war Fouqués Dauerkonflikt mit Österreich noch lange nicht beigelegt. Im Gegenteil: Nun entbrannte ein jahrelanger Rechtsstreit um das Hab und Gut, das der General 1760 verloren hatte. Das Schlachtfeld von Landeshut war am 23. Juni 1760 nicht nur mit Toten und Verwundeten, sondern auch mit Trophäen aller Art übersät. Geschütze, Munitionswagen und vor allem als Beutestücke besonders begehrte Fahnen und Standarten fielen den Österreichern in großer Zahl in die Hände. Noch am Tag der Schlacht erging der Generalsbefehl, die Trophäen auf dem Kampfplatz einzusammeln, detailliert zu verzeichnen und Feldzeugmeister Laudon zu übergeben41. In seinen ersten Meldungen vom 23. und 24. Juni 176042, aber auch in einem ausführlichen Bericht über die Schlacht (25. Juni 1760)43 erwähnt Laudon neben den auf 8.284 veranschlagten kriegsgefangenen Preußen wohl 58 Geschütze, neun Haubitzen, 38 Munitionswagen, 34 Fahnen, zwei Standarten und die silbernen Pauken des Regiments von Platen44, von wichtigen Schriften spricht er allerdings nicht. Laudon entsandte zunächst Oberstleutnant Richard d’Alton (1732 – 1790) vom Grenadierbataillon Grün-Laudon, der sich im Kampf besonders ausgezeichnet hatte, zur mündlichen Berichterstattung an den Kaiserhof. Ihm folgte wenig später Artillerieoberstleutnant Johann Theodor von Rouvroy (1728 – 1789) mit den Trophäen. Am 27. Juni 1760 langte letzterer mit den Beutestücken in Wien an. Ein feierliches Te Deum in der Domkirche von St. Stephan unterstrich die Bedeutung, die man dem Triumph über die Preußen zumaß45. Gefangennahme (397 f.) und Gefangenschaft (405 – 417) gehen nicht nennenswert über die Angaben in den großväterlichen „Mémoires“ hinaus. 41 ÖStA, KA AFA Korps Laudon 1760-XIII-24: Feldzugsjournal Korps Laudon, Generalsbefehl 23. 6. 1760. Im Ort Landeshut kam es nach der Schlacht zu schweren Ausschreitungen der k. k. Armee. Laudon tadelte in einem eigenen Generalsbefehl die Plünderung, Misshandlung und sogar Ermorderung von Zivilisten in aller gebotenen Schärfe. Ebd., Befehl vom 28. 6. 1760, abgedruckt bei Wilhelm Edler von Janko, Laudon’s Leben, Wien 1869, 168 – 170. 42 ÖStA, KA AFA HKR 1760-VI-2c und 2 h: Laudon an Hofkriegsrat (23. bzw. 24. 6. 1760). Laudon an Staatskanzler Kaunitz (24. 6. 1760): ÖStA, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA) Kriegsakten Karton 360. Auch das Dankschreiben Maria Theresias (29. 6. 1760) schweigt zu den erbeuteten Akten, ebenso das eigenhändige Schreiben Kaiser Franz Stephans vom 30. 6.: ÖStA, KA AFA Korps Laudon 1760-VI-101 und 105. 43 ÖStA, KA AFA Korps Laudon 1760-VI-68 und Beilage 68 f. (Specification derer bey der am 23ten Juny 1760 von den Fouquetischen Corps in die dießeitige Kriegsgefangenschafft gerathenen Mannschafft wie auch erbeutheten Ehrenzeichen). 44 Die Trophäen werden wohl an das kaiserliche Zeughaus zu Wien gekommen sein, dessen Bestände später in das Heeresmuseum (heute: Heeresgeschichtliches Museum) eingingen. Genaueres lässt sich der Literatur nicht entnehmen. Friedrich von Leber, Wien’s kaiserliches Zeughaus, 2 Teile, Leipzig 1846, hier Teil 1, 83. 45 ÖStA, KA HKR Akten 1760 – 54/Juni 513/7 – 8, 514 und 515.

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Erst einer nicht gezeichneten Meldung vom 26. Juni 1760 entnehmen wir, dass gemeinsam mit General Fouqué auch eine Schatulle in österreichische Hände gefallen war, „in welcher sich alle Schrifften des Königs und [mit] ihme Foquet gepflogenen geheimen Briefwechsel, alle Riss von Glatz und denen übrigen schlesischen Vestungen“ befanden, angeblich sogar wichtige Stücke über preußische Feldzugsplanungen und gefährliche Intrigen Friedrichs II. an der Hohen Pforte in Konstantinopel46. Den Preußen war der Verlust wichtiger Schriftstücke und vor allem des im Verkehr mit Fouqué verwendeten Chiffreschlüssels möglicherweise schon früher bewusst als den Österreichern. „Den bisherigen schlesischen Gouvernementschiffre kann Ich“, so schrieb der König Mitte Juli, „bei jetzigen difficilen Umständen nicht mehr gebrauchen, wegen der Chatolle, so Fouqué verloren, und wegen der dechiffrirten Briefe, so er bei seinem Désastre in der Tasche gehabt“47. Zu diesem Zeitpunkt war die Landeshuter Aktenbeute, jedenfalls der staatspolitisch relevante Teil, schon längst in der Hauptstadt der Habsburgermonarchie angelangt. Laudon hatte die Papiere noch am Tag der Schlacht, wahrscheinlich durch d’Alton, seinem großen Förderer am Wiener Hof, Staatskanzler Wenzel Anton Graf von Kaunitz-Rietberg (1711 – 1794), übersandt und dabei besonders auf die Gefährlichkeit eines von Friedrich eben damals eifrig betriebenen preußisch-türkischen Zusammengehens aufmerksam gemacht. Schon am 29. Juni 1760 bestätigte Kaunitz den Eingang der übersandten „geheimen Correspondenz“, die er gerade einer eingehenden Durchsicht unterzog48. Die k. k. Vertretung am Bosporus erhielt mit Kurier Abschrift eines unter den erbeuteten Akten gefundenen Schreibens Friedrichs II. zur weiteren Verwendung übermittelt, doch konnte der Staatskanzler seinen „General Vorwärts“ beruhigen: Preußische Hoffnungen auf ein Eingreifen der Türken in den Krieg würden wohl nicht in Erfüllung gehen49. 46

ÖStA, KA AFA Korps Laudon 1760-VI-86d. Friedrich II. an Etatsminister Schlabrendorff (16. 7. 1760): Albert Naudé/Kurt Treusch von Buttlar (Bearb.), Politische Correspondenz, Bd. 19, Berlin 1892, 492. 48 ÖStA, KA AFA Korps Laudon 1760-VII-34a: Kaunitz an Laudon (29. 6. 1760). In einem Schreiben an Kaunitz vom 26. 6. 1760 bezieht sich Laudon nochmals auf die von ihm eingesandte Korrespondenz Friedrichs II., aus der angeblich der ganze Feldzugsplan der Preußen hervorging, was seiner Ansicht nach auch zu einer Änderung der eigenen Strategie zwinge: ÖStA, HHStA Kriegsakten Karton 360. Welch’ große Hoffnungen Friedrich auf ein Eingreifen des Sultans setzte, geht aus mehreren Schreiben des Königs an Fouqué hervor (Juni 1760), die letzteren nicht mehr erreichten. Sie sind u. a. abgedruckt bei E. v. Sodenstern, Feldzug (Anm. 20), 168 – 172. Vgl. auch Anm. 110. 49 Im Herbst 1762 war die Stimmung, jedenfalls bei den Militärbehörden, schon viel weniger gelassen. Fouqué wurde damals verdächtigt, die Aufmerksamkeit seines Königs nachdrücklich auf die von Truppen nahezu völlig entblößte Türkengrenze der Habsburgermonarchie gelenkt, aus Berlin beträchtliche Geldsummen erhalten und damit beunruhigende Manöver der Pforte provoziert zu haben: ÖStA, KA HKR Akten 1762 Oktober 831. Im Dezember 1762 trugen sich die Österreicher mit dem Gedanken, den schwierigen General nach Tirol zu verlegen, wo es nichts zu spionieren oder zu intrigieren gab. HKR Akten 1762 Dezember 761/ 2: Vortrag des Hofkriegsrates (24. 12. 1762). Maria Theresia lehnte ab („glaube nicht, das 47

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Wir wissen nicht im Detail, welche Schriftstücke sich in der Fouqué am 23. Juni 1760 abgenommenen Schatulle befanden, sehr wahrscheinlich nur die allerwichtigsten, allenfalls die Handschreiben des Königs, vermutlich aber nur die jüngeren. Den größten Teil seiner Privat- und Amtspapiere wird der General bei Feldzugsbeginn in der Festung Glatz zurückgelassen haben50. Doch auch hier waren die Schriften, wie sich bald zeigen sollte, nicht in Sicherheit. Am 26. Juli 1760 erstürmten die Österreicher nach kurzer Belagerung Glatz, nahmen die preußische Besatzung, über 2.000 Mann, gefangen und erbeuteten beträchtliche Vorräte an Lebensmitteln und Kriegsgerät sowie die Registraturen des Festungskommandos und der Grafschaftsverwaltung51. In einem vertraulichen Bericht an Kaunitz vom 26. Juli 1760 meldete Laudon außerdem die Sicherstellung sehr beträchtlicher preußischer Geldmittel, angeblich zehn Millionen52 ! Hinzu kam die Fahrhabe preußischer Offiziere, wobei die im Zeughaus auf der Alten Festung untergestellten Besitztümer Fouqués, der seinen Lebensmittelpunkt seit beinahe 20 Jahren in Glatz hatte, in jeder Hinsicht am schwersten wogen. Am Fouquet zu transportirn wäre, selben in Crain lieber zu schiken als nach Tyrol, wan es nöthig wäre“). – In Wahrheit erreichte Friedrich II. nur einen Handels- und Defensivvertrag mit dem Sultan (April 1761). Vgl. etwa Rudolf Porsch, Die Beziehungen Friedrichs des Großen zur Türkei bis zum Beginn und während des Siebenjährigen Krieges, Diss. Marburg 1897. 50 Die heute in Wien verwahrten königlichen Kabinettsordres an Fouqué weisen Zeichen registraturmäßiger Ablage auf (zum Teil durchgehende Einlaufnummerierung) und sind vielfach mit den zugehörigen Kuverts zusammengeheftet, die Inhaltsangaben tragen. Die in den „Mémoires“ abgedruckten Stücke brachte Büttner nach Vorlagen in Familienbesitz. Die Fouqué 1760 abgenommenen Papiere blieben ihm natürlich unzugänglich, der Wert der verlorenen Korrespondenz war Büttner aber klar. „Les papiers du général tombèrent entre les mains des Autrichiens à la prise de Glatz; & c‘est parmi ces papiers que se trouvoit la correspondance que Fouqué avoit eue avec le Roi depuis leurs premières liaisons, jusqu’à la guerre de sept ans. Puisse ce dépôt précieux être le partage de personnes, qui sachent en apprécier la valeur; il ne sera point alors perdu pour la postérité.“ Mémoires (Anm. 21), Avant-Propos, Bd. 1, ohne Paginierung. Korrespondenzstücke zwischen dem König und Fouqué auch bei Kurd Wolfgang von Schöning, Der Siebenjährige Krieg, Potsdam 1851, Bd. 2, und in den Œuvres de Frédéric le Grand XX: Correspondance de Frédéric II, roi de Prusse, Bd. 5, Berlin 1852, 109 – 171 (Correspondance de Frédéric avec le Baron de la Motte Fouqué, 1736 – 1773). Die Privatkorrespondenz aus der Zeit nach 1763 nochmals in deutscher Übersetzung bei Hans Droysen (Hrsg.), Der Briefwechsel Friedrichs des Großen mit der Gräfin Camas und dem Baron Fouqué (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 1), Köln/Berlin 1967. 51 Relation von der Belagerung der vorhin königl. Preußischen, nunmehro aber Kayserl. Königlichen Gräntz- und Haupt-Vestung Glatz, welche den 26. Julii 1760 […] so glücklich als tapfer erobert und nach 19jährigen preußischen Besitz wiederum aan [!] das allerdurchlauchtigste Ertz-Haus von Oesterreich zuruckgebracht worden (Druck): ÖStA, KA AFA Korps Laudon 1760-VII-70 ff. Die Eroberung der Festung Glatz durch die Österreicher in dem Jahre 1760, in: ÖMZ 1811/8, 57 – 62; Großer Generalstab, Siebenjähriger Krieg (Anm. 20), 167 – 172. Zur Festung Glatz sehr eingehend Eduard Köhl, Die Geschichte der Festung Glatz (Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis, 51), Würzburg 1972. 52 ÖStA, HHStA Staatskanzlei Vorträge 86: eigenhändiger (!) Vortrag Kaunitz’ (28. 7. 1760) mit dem Bericht Laudons an Kaunitz (26. 7. 1760).

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28. Juli 1760 berichtete der Bezwinger von Glatz, Feldzeugmeister Ferdinand Philipp Graf Harsch (1704 – 1792), über die Sicherstellung der Fouqué’schen Effekten, insbesondere Leinenzeug und Silbergeschirr, aber auch Möbel und Weine. Die leicht beweglichen Dinge wurden am Tag nach der Einnahme in die Stadt gebracht und dort in Gegenwart des kriegsgefangenen Fouqué jun. versiegelt. Bei dieser Gelegenheit fragte Harsch beim Hofkriegsrat in Wien an, ob die Beute nach Kriegssitte als „gute Prise“ zu betrachten sei oder aber an die Eigentümer bzw. ihre Angehörigen auszuliefern wäre53. Am 30. Juli folgte eine detailliertere Aufstellung, die zusätzlich sehr ansehnliche Barmittel und Schuldverschreibungen verzeichnete: eine Schatulle mit 14.374 Reichstalern in bar und 49.833 in Obligationen, eine Truhe mit weiteren 2.200 Reichstalern Bargeld, Quittungen usw. Hinzu kamen fünf Truhen mit Büchern und Schriften. Ein Teil war von den k. k. Truppen beim Eindringen in Stadt und Festung Glatz unter tatkräftiger Mitwirkung von Trossangehörigen, ja von preußischen Soldaten selbst geplündert und zerstreut worden. Die preußische Kriegskasse mit etwa 21.000 Talern soll damals verloren gegangen sein. Nur durch Offizierspatrouillen konnte weiteren Vandalenakten Einhalt geboten werden54. Bei Harsch waren sofort nach der Erstürmung Glatzer Untertanen vorstellig geworden, um über Fouqués drückendes Regime und seine „Erpressungen“ Klage zu führen. So tauchte gleich zu Beginn der Gedanke auf, die Beute eventuell für Zwecke der Wiedergutmachung zu verwenden. Sie sollte daher einstweilen beschlagnahmt bleiben, bis die Ergebnisse der Untersuchung vorlagen. Doch die Angelegenheit zog bereits weitere Kreise, als den Österreichern lieb sein konnte. Die Familie Fouqué reklamierte umgehend die Herausgabe ihres Besitzes. Der gefangene General selbst wandte sich noch am 6. August 1760 aus Brünn an den k. k. Oberbefehlshaber Leopold Josef Graf Daun (1705 – 1766). Er erinnerte dabei an ein angebliches Plünderungsverbot Laudons und Harschs Zusicherung, die sichergestellten Vermögenswerte ungeschmälert ausfolgen zu wollen. Letzterer hatte die Frage, ob es sich bei der Glatzer Beute um eine dem Sieger anheimgefallene Sache handelte, für sich selbst längst entschieden. Harsch argumentierte, dass Glatz im Sturm und nicht auf Kapitulation oder Akkord erobert worden sei, es sich also um Kriegsbeute im vollen Wortsinne handle. Immerhin hat Harsch der Tochter Fouqués, Frau von Nimschewski, ihr gehörendes Silber- und Leinenzeug übergeben und sie samt ihrem Bruder, der außerdem gegen Quittung 2.000 Gulden Bargeld 53 ÖStA, KA AFA HKR 1760-VIII-3d: Harsch an Hofkriegsrat (28. 7. 1760); Oberst Nimschewski an ? (7. 4. 1763): HKR Akten 1763 September 93. 54 ÖStA, KA AFA HKR 1760-VIII-3 und 3a: Harsch an Hofkriegsrat (30. 7. 1760) und Aufstellung der Fouqué’schen Effekten von Generalmajor Weichs (29. 7. 1760). Franz Wachter, Akten des Kriegsgerichts von 1763 wegen der Eroberung von Glatz 1760 und Schweidnitz 1761 (Scriptores Rerum Silesicarum, 16), Breslau 1897, 201 zu den verzweifelten, aber nicht ganz erfolgreichen Bemühungen der k. k. Generalität, Plünderungen zu verhindern. Ertappten Plünderern wurde ihr Beutegut jedenfalls abgenommen.

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erhielt, „mit verschiedenen sehr wohl beladenen Wägen“ dem Vater in die Kriegsgefangenschaft nach Niederösterreich nachreisen lassen55. Es ging um erkleckliche Geldsummen und recht ansehnliche Mobilien. Fouqué gibt in seinen „Memoiren“ den Wert seines bei Glatz in österreichische Hände gefallenen Vermögens mit 120.000 Talern an: Bargeld, mit Brillanten besetzte Goldtabatièren des Königs (von denen in den österreichischen Akten nie die Rede ist), Porzellan- und Silbergeschirr, eine ausgesuchte Bibliothek und eine angeblich auf 100.000 Taler zu schätzende Graphiksammlung in 33 Bänden aus dem Besitz König Friedrich Wilhelms I.56 VI. Glatz – Brünn – Wien Anfang September 1760 ordnete der Hofkriegsrat an, die verbliebenen Effekten Fouqués und anderer preußischer Offiziere von Glatz in die Festungsstadt Olmütz zu bringen und sie dort sicher zu verwahren. Zehn Wägen waren dafür nötig. Schon im Dezember 1760 mussten die 20 Koffer allerdings nach Brünn, in die Festung Spielberg, weitertransportiert werden, wo man sie im Beisein vertrauter Offiziere – zum wiederholten Mal innerhalb nur weniger Monate – durchsah und inventarisierte57. Die in Fouqués Wohnung in Glatz sichergestellten Pläne, Landkarten, Schriften und Kupferstiche sowie zwei Verschläge mit Büchern waren, so die mündliche Aussage Feldzeugmeister Harschs, bereits unmittelbar nach der Eroberung „zu Handen Ihro Majestät des Kaysers“ nach Wien überstellt worden58. Die seit Ende 1760 in Brünn eingelagerten Wertgegenstände gerieten schließlich in Vergessenheit, bis Interventionen von Vater und Tochter Fouqué im April 1762 Hofkriegsrat und Monarchin zwangen, sich erneut mit dem Streitfall auseinanderzusetzen. Frau von Nimschewski behauptete zum Verdruss der Österreicher außer55

Hofkriegsrat an Harsch (3. 8. 1760) und Bericht Harschs (16. 8. 1760): ÖStA, KA AFA HKR 1760-VIII-11. Sachverhaltsdarstellung des Generalmajors Vogelsang (3. 8. 1760): AFA Korps Laudon 1760-VIII-24. HKR Akten 1763 September 326 und 1763 November 71/4 (dabei Fouqué an Feldmarschall Daun, 6. 8. 1760). 56 Mémoires (Anm. 21), Bd. 2, 104. 57 ÖStA, KA HKR Protokoll 1760, Bd. 932, fol. 1491v (4. 9. 1760) und fol. 1633 (20. 9. 1760); Protokoll 1760, Bd. 932/2, fol. 1999 (11. 12. 1760), fol. 2051 (21. 12. 1760), fol. 2072rv (24. 12. 1760); Protokoll 1761, Bd. 937, fol. 1rv. 58 ÖStA, KA HKR Akten 1763 November 71/4: Vortrag des Hofkriegsrates (25. 4. 1762). Nach einer Note des Hofkriegsrates an die Staatskanzlei (3. 4. 1764) handelte es sich bei den direkt dem Kaiser zugeschickten Beutestücken um „aus den Händen der Stürmenden annoch gerettete Particularcharten und dergleichen Schrifften […] nebst 2 mit Büchern angefüllten Verschlägen“: HKR Akten 1764 April 112/5. Sohn und Tochter Fouqués wollten sich später daran erinnern, bei ihrer Ankunft in Brünn Anfang August 1760 auf einem Wagen den versiegelten Kasten mit den Karten und Plänen aus Glatz selbst gesehen zu haben. HKR Akten 1763 September 326 (Nimschewski’sche Promemorien, Sommer 1763).

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dem, sie habe eigentlich von Glatz nach Breslau reisen wollen, doch sei ihr dies von der k. k. Generalität in ungalanter Weise untersagt worden. In Wahrheit dürfte sie die Reise in die schlesische Hauptstadt wegen der dort befürchteten russischen Invasion gescheut haben. Dennoch reichten die Anschuldigungen aus, um interne Untersuchungen und unangenehme Befragungen der beteiligten Generäle bis hinauf zu Harsch und Laudon zu provozieren. Vielleicht hegte man auch in Wien selbst den Verdacht, dass sich einige aus der preußischen Beute bedient haben mochten59. Maria Theresia wollte zunächst geklärt wissen, ob Laudon oder Harsch der Familie Fouqué wirklich die Ausfolgung ihrer Effekten versprochen hätten. Kaum hatten die Generäle dies erwartungsgemäß verneint, war auch die Kaiserin-Königin wild entschlossen, das Fouqué’sche Vermögen als „gute Prise“ zu erklären und sogar die Fahrhabe zu Geld zu machen. Der Erlös sollte der Versorgung von Soldatenkindern zugute kommen. Eine solche Zweckwidmung, so Maria Theresia zynisch, müsse auch der Feind zu schätzen wissen. Die von der Monarchin angeregte Versteigerung schien dem Hofkriegsrat denn doch zu provokant, zumal die enge Beziehung zwischen Friedrich II. und Fouqué natürlich auch in Wien bekannt war und man daher neuerliche Repressalien gegen die eigenen Kriegsgefangenen befürchtete. Maria Theresia ließ sich überzeugen, die Beute blieb weiterhin unberührt auf dem Spielberg zu Brünn zwischengelagert. Ab Herbst 1762 in Glatz angestellte Nachforschungen ergaben außerdem, dass beileibe nicht der gesamte bewegliche Besitz Fouqués nach Olmütz bzw. Brünn abtransportiert worden war. Ein sehr stattlicher Rest – Bilder, Kupferstiche, Möbel, Wäsche, Bettzeug, Porzellan, Glasware, Zinn- und Kupfergeschirr, 279 Bücher, die kümmerlichen Reste einer einst wohlsortierten Bibliothek, Pferdegeschirr etc. – fand sich immer noch in der Gouverneursbehausung vor, wohl deshalb, weil auch die k. k. Interimsverwalter von Festung und Grafschaft Glatz Meublage und Wohnungsdekoration für ihren eigenen Alltag nicht entbehren wollten. Sogar auf „noch nutzliche Schrüfften“ wurde hingewiesen. Einen kleinen Teil schaffte man im Vorfeld der Räumung von Glatz nach Wien, der Löwenanteil kam offensichtlich nach Brünn zu den übrigen Fouqué’schen Effekten. In Privathäusern und Klöstern stöberten die Österreicher zudem dort untergestellte, von der lokalen Bevölkerung bislang verschwiegene Besitztümer anderer preußischer Offiziere auf, ja die Militärbehörden ließen sogar die von preußischen Offizieren bei der Stadt- und Landbevölkerung gemachten Schulden erheben60. 59

ÖStA, KA HKR Akten 1763 November 71/4: Vorträge des Hofkriegsrates (25. 4. 1762, 21. 7. 1762, 15. 9. 1762, 5. 10. 1762, 20. 5. 1763) sowie Harsch an Hofkriegsrat (16. 5. 1762) und Laudon an Hofkriegsrat (18. 5. 1762); Hofkriegsrat an Kolowrat (25. 10. 1762): HKR Akten 1762 Oktober 728/6. 60 ÖStA, KA HKR Akten 1763 Februar 67 und 1763 Juni 681/1 mit dem Ergebnis der kommissionellen Inventarisierung (Oktober 1762). Die in einem ersten Bericht erwähnten Schriften scheinen im Inventar leider nicht auf. Vortrag des Hofkriegsrates (5. 2. 1763) mit Bericht des Kommandanten von Glatz, Feldmarschall-Leutnant Gaisruck (28. 1. 1763): HKR Akten 1763 November 71/4; HKR Protokoll 1762 Bd. 946/1, fol. 1402.

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VII. Beseitigung der Spuren Der wiederhergestellte Frieden und die Freilassung Fouqués hätten nun Gelegenheit geboten, den in Brünn versiegelt verwahrten beweglichen Besitz des Generals an diesen zu retournieren. Doch Wien – oder sagen wir es ganz konkret: Maria Theresia – dachte gar nicht daran. In seinen „Mémoires“ behauptet Fouqué, die Kaiserin-Königin habe ihn eingeladen, auf seiner Rückreise aus Kroatien in Wien Station zu machen und dort seine Habseligkeiten zu beheben, doch habe er abgelehnt. „Il m’est impossible de baiser la main qui m’a si durement frappé“. Angeblich interessierte ihn die Rückgewinnung seiner in Glatz verlorenen, von den Österreichern gleichsam entweihten Besitztümer nicht mehr61. Hier haben den General bzw. seinen Hagiographen sichtlich Erinnerungsschwächen beeinträchtigt. Denn zum einen wurde Fouqué eigens ein k. k. Offizier entgegengeschickt, um zu verhindern, dass er auf seiner Heimreise Wien auch nur berührte62. Zum anderen setzten die Familie und die preußische Diplomatie nach dem Frieden von Hubertusburg in Wahrheit alle Hebel in Bewegung, um den Österreichern die Spolien von Glatz wieder zu entwinden. Nicht zufällig betraute Friedrich der Große nach dem Friedensschluss Fouqués Schwiegersohn Oberst von Nimschewski mit der Wiederinbesitznahme von Stadt und Festung Glatz. Schon Anfang April 1763 meldete sich dieser mit der Anzeige, dass die bei der Einnahme von Glatz 1760 gar nicht geplünderte Gouvernementsregistratur große Lücken aufwies. Die Reklamation wurde sogleich auf höherer Ebene geltend gemacht und Gegenstand einer lebhaften Korrespondenz zwischen den beiden Verhandlern des Hubertusburger Friedens, dem jüngst zum Staats- und Kabinettsminister ernannten Ewald Friedrich von Hertzberg (1725 – 1795) auf preußischer und dem Hofrat der Staatskanzlei Heinrich Gabriel von Collenbach (1706 – 1790) auf österreichischer Seite. Das Fehlen von wesentlichen Registraturteilen beim Glatzer Gouvernement, aber auch bei einzelnen Ämtern der Grafschaft qualifizierten die Preußen als Verstoß gegen Artikel IX des Friedensvertrages (Rückgabe aller Papiere, Briefschaften, Urkunden und Archive an Preußen), wobei Hertzberg nicht vergaß, „auf expressen königlichen Befehl“ auch die „vorenthaltenen Effekten und Gelder“ des Generals Fouqué zurückzufordern (Mai 1763). In Wien war zu diesem Zeitpunkt bereits allerhöchst dahingehend entschieden worden, Fouqués Besitztümer offiziell zur Kriegsbeute zu erklären. Gleiches galt für dem Husarengeneral Paul von Werner (1707 – 1785) im schlesischen Kloster Rauden abgenommene Wertgegenstände und

61 Mémoires (Anm. 21), Bd. 2, 110 f. General Finck hingegen drängte es nach seiner Freilassung, Maria Theresia persönlich und mündlich für die ihm während seiner Gefangenschaft erwiesene Huld (das Kufsteiner Intermezzo war sichtlich schon vergessen) zu danken. ÖStA, KA HKR Akten 1763 März 226/6. 62 ÖStA, KA HKR Protokoll 1763, Bd. 959, fol. 418, 524v.

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Papiere, die noch in Olmütz lagerten63. Hinsichtlich der Glatzer Behördenregistraturen musste Collenbach wider besseres Wissen erklären, dass diese beim Abzug der k. k. Truppen ohnedies an die preußischen Bevollmächtigten restituiert worden seien. Die Österreicher konnten zwar eine Übergabsquittung vorweisen, doch war klar, dass man nur einen Teil der 1760 vorgefundenen Schriften zurückgelassen hatte64. Wieder vergingen beinahe eineinhalb Jahre, in denen nichts weiter von den Effekten Fouqués und anderer preußischer Offiziere verlautete. Erst Ende Dezember 1764 tauchen sie neuerlich in den Akten des Hofkriegsrates auf. Der kommandierende General in Brünn General der Kavallerie Kajetan Graf Kolowrat-Krakowsky (1700 – 1769) wies auf die wenig erfreuliche Tatsache hin, dass der Beutetransport nach Brünn bei starkem Regenwetter erfolgt war und man die auf dem Spielberg eingelagerten Kisten seit damals nie ausgelüftet hatte. Um Schaden zu verhindern, schlug er vor, die versiegelten Behältnisse von einer Kommission öffnen und ihren Inhalt im Detail verzeichnen zu lassen. Der Hofkriegsrat stimmte zu, bat sich aber größte Diskretion aus65. Ende Januar/Anfang Februar 1765 wurden die insgesamt 56 Truhen oder „coffres“ auf dem Spielberg inventarisiert. Einige Kisten waren beschädigt und ihres Inhalts beraubt. Auch die Schriften wurden nun erstmals näher in Augenschein genommen, allerdings mit deutlich weniger Interesse als die Wertsachen. Neben den Beförderungsdekreten und -patenten Fouqués (vom Kadetten bis zum Generalleutnant), seinem versiegelten Testament, dem Heiratskontrakt seiner Tochter, Notizbüchern und Resten einer Bibliothek fanden sich auch Fragmente eines Regimentsarchivs und Militärkirchenbücher sowie chirurgische Instrumente und medizinische Fachliteratur, deren Rückstellung der Eigentümer, der Chirurg des Freibataillons Le Noble, bereits seit längerem forderte. Die lutherischen Bücher, Romane und andere „unnütze Schriften“ wollte die Inventarisierungskommission jedenfalls gleich im Festungsgraben verbrennen lassen66. 63

Die Werner’sche Beute enthielt ihrerseits Stücke aus dem Besitz des k. k. Feldmarschalls und Banus Croatiae Franz Leopold Grafen Nádasdy (1708 – 1783), die dieser entnehmen durfte. Inventar: ÖStA, KA HKR Akten 1767 34 April 360/1. Werners Papiere galten als wertlos. Werner hatte seine Karriere in habsburgischen Diensten begonnen und war erst 1750 von den Preußen abgeworben worden. 64 ÖStA, KA HKR Akten 1763 September 93; HHStA Staatskanzlei Notenwechsel Noten an den Hofkriegsrat Karton 3 (12. 9. 1763), Staatskanzlei Notenwechsel Noten vom Hofkriegsrat Karton 74 (6. 9. und 15. 9. 1763). – Feldzeugmeister Harsch erklärte am 20. Mai 1763, dass auch eine bis dahin vom Genieamt verwahrte Kiste mit „allerley Documenten“ unter den rückausgelieferten Akten gewesen sei. HKR Akten 1763 November 71/4. Fouqué selbst thematisierte im Dezember 1763 in einem Schreiben an Friedrich II. das in Glatz verlorene Vermögen, das „der Teufel, nämlich die Österreicher, in seinen Klauen festhält“. Fouqué an den König (22. 12. 1763): Mémoires (Anm. 21), Bd. 2, 133. 65 ÖStA, KA HKR Akten 1765 Januar 67. 66 Bericht Kolowrats (18. 2. 1765) mit Inventar (9. 2. 1765): ÖStA, KA HKR Akten 1767 34 März 441/1; 1763 Oktober 266, 1763 November 425; HKR Protokoll 1765, Bd. 972, fol. 118.

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Der Hofkriegsrat und vor allem sein Präsident Graf Daun standen der Absicht Maria Theresias, die Beute umstandslos zu Geld zu machen, weiterhin recht skeptisch gegenüber. Noch im November 1765 ließ Daun ernste Zweifel daran erkennen, ob namentlich die Fouqué’sche Equipage wirklich als „gute Prise“ betrachtet werden könne, und sprach sogar davon, dem preußischen General zumindest Geld und Geldeswert auszufolgen. Die Kaiserin-Königin wies den sichtlich nicht nur auf dem Schlachtfeld skrupulösen Daun umgehend in die Schranken und bekräftigte ihre Entschlossenheit, „diese Beute zu Erziehung deren armen Soldatenkindern“ zu bestimmen. Freilich war mit Bedacht vorzugehen, Publizität also unbedingt zu vermeiden. Die Barschaften und Silbersachen sollten eingeschmolzen und die übrigen Gegenstände unter der Hand veräußert werden. Die preußischen Schuldverschreibungen im Wert von fast 50.000 Reichstalern konnte man vor diesem Hintergrund natürlich nicht einlösen67. Ungeachtet dieses bedauerlichen Abschreibepostens war der zu erwartende Reinerlös immer noch ansehnlich genug, um auch andere Bewerber auf den Plan zu rufen. 1766 schien es, als ob die Ingenieurschule in Wien-Gumpendorf – Feldzeugmeister Harsch als ihr Oberdirektor und vor allem der Generalgeniedirektor und Schwager Maria Theresias, Karl Alexander von Lothringen, waren gewiss einflussreiche Fürsprecher – das Rennen machen würde68. Im März 1767 erging endlich Befehl, die immer noch in Brünn und Olmütz verwahrten Besitztümer der preußischen Generäle und Offiziere unter größter Geheimhaltung nach Wien zu transportieren. Selbst die gedungenen Kutscher sollten nicht wissen, was sie beförderten; die Verschläge wurden als „Schriften und Plans“ getarnt. Von den Mautbehörden verlangte der Hofkriegsrat sogar, die übliche Visitierung im Wiener Hauptmautamt zu unterlassen, was diese allerdings mit dem Hinweis ablehnten, dass nicht einmal Warenlieferungen für die kaiserliche Familie der Untersuchung entgingen, man also das Aufsehen nur noch vergrößern würde. Immerhin dirigierte man die Fuhren zum Amtsgebäude des Hofkriegsrates und examinierte sie erst hier. Bis Ende April 1767 waren alle vier Transporte in der Registratur der Behörde untergestellt69. Hofkriegsregistrator Johann Paul von Brean machte sich sogleich an die neuerliche Inventarisierung der Habseligkeiten und Schriften, insgesamt 56 Truhen aus der Glatzer Beute und zwei Truhen des Generals Werner. Bis ins letzte, intimste Detail nahm er die Effekten – Schlafröcke, Schnupftücher, Bettdecken, Korsette, gerahmte Kupferstiche, „schlecht gemahlte Landschafften ohne Rammen“ usw. – auf. Alle Edelmetallstücke sowie das preußische Bargeld wurden im Sommer und 67 ÖStA, KA HKR Akten 1767 34 Dezember 1: Vortrag Dauns (23. 11. 1765) und Resolution Maria Theresias. 68 ÖStA, KA HKR Akten 1766 Jänner 159 und Juli 385. 69 ÖStA, KA HKR Akten 1767 34 März 441/1, 1767 April 34 134/3, 162/1, 360/1, 475/ 4 – 5, 704/2, 1767 Dezember 34 426; HKR Protokoll 1767, Bd. 987, fol. 463v; AFA Hauptarmee 1760-VI-318 12 (Ingenieurmajor Bonomo an Feldzeugmeister Harsch, 6. 4. 1767).

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Herbst 1767 im Wiener Münzhaus umgeschmolzen, die übrigen Habseligkeiten im August 1767 in Wien versteigert. Nur jene Gegenstände, deren preußischer Ursprung zu erkennen war, behielt man zurück. Der Reinertrag belief sich auf fast 30.000 fl., die schließlich doch als anonyme Spende dem Militärwaisenhaus in Pettau zuflossen. Dieses erhielt auch die unverkäuflich gewesenen preußischen Kleidungsstücke70. VIII. Der Weg in die Archive Und die Schriften? In Wien hatte man noch während des Krieges begonnen, sich mit den erbeuteten preußischen Akten – soweit sie schon damals in die Hauptstadt geschafft worden waren – inhaltlich auseinanderzusetzen. Von der Korrespondenz Fouqués mit Friedrich II., die Kaunitz selbst auswertete, war bereits die Rede. Unter den Papieren des Generals fanden sich außerdem Conduitelisten seines Regiments, deren Grundmuster man nun auch in der Habsburgermonarchie für die Dienstbeschreibungen der eigenen Offiziere übernahm. Mit Handbillet vom 24. Dezember 1761 ordnete Maria Theresia an: „Derley Conduite-Listen sind auch bey meinen Trouppen einzuführen und einmal des Jahrs, nemlich nach der Herbst-Musterung, an den Hofkriegsrath einzusenden. […] Jedoch muß der Hofkriegsrath die gröste Sorgfalt tragen, daß bey dergleichen Conduitelisten keine Passionen oder Nebenabsichten unterlaufen“71. Auch in einem weiteren Punkt entfalteten in Glatz erbeutete Akten Vorbildwirkung: Die von den Preußen eingeführten Tabellen für die Seelenconsignation in der Grafschaft sollten ab 1762 als Modell für die noch etwas ungelenken ersten Volkszählungsversuche in der Habsburgermonarchie dienen72. Wirklich kriegswichtig mochten echte „Verschlusssachen“ unter den Beuteakten sein, namentlich die Instruktionen für die Generalmajore der Infanterie und Kavallerie und die Generalprincipia vom Kriege überschrieben mit „Königl. Preußische Maximen über die Hauptpunkte von denen größern Manoeuvres des Kriegs, wie solche von Sr. Majestät eigenhändig entworfen“ (28 Artikel)73. Als Sensation 70 ÖStA, KA HKR Akten 1767 34 März 441/1, 1767 34 Mai 466, 1767 34 August 655, 1767 34 Oktober 18 und 34, 1767 34 Dezember 1. 71 ÖStA, KA HKR Akten 1761 111 Dezember 520. Das Handbillet ummantelt eine „originale“ Conduiteliste des Füsilierregiments La Mothe Fouqué aus dem Jahre 1756 mit eigenhändigen Annotationen des Regimentschefs. Vgl. auch Zur Geschichte der Qualifikationsliste, in: Die Vedette (Beilage zum „Fremden-Blatt“) 53. Jahrgang, Nr. 1382 (2. 12. 1911), 1 f. 72 Anton Tantner, Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit, 4), Innsbruck u. a. 2007. 73 Johann Christoph Allmayer-Beck, Die friderizianische Armee im Spiegel ihrer Gegner, in: Friedrich der Große und das Militärwesen seiner Zeit (Vorträge zur Militärgeschichte, 8), Herford/Bonn 1985, 33 – 54 [nochmals abgedruckt in ders., Geschichte und Politische Bildung, Wien u. a. 2003, 177 – 195], hier 48 und 53. Nach den Œuvres militaires de Frédéric II, Berlin 1856, Bd. 1, XV war das nach Wien gelangte Exemplar der „Generalprincipia“ Teil der

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hat man diese Beutestücke sichtlich nicht eingestuft. Feldmarschall Daun erhielt zwar den Auftrag, zu den Generalprincipia Stellung zu nehmen, doch fiel sein Gutachten erstaunlich knapp und unengagiert-verhalten aus. „Diese Srifft meines Erachtens ist sehr interessant und auch profitable“, räsonierte der Feldmarschall, „allein ich finde unvorsichtig, das er die geheimeste Sachen seines Dienst so vielen Generalen communiciret hat.“74 Der erst 1767 aus Brünn angelieferte Rest der Schriften und „Bücher“ (worunter wir vielleicht auch Manuskripte verstehen sollten) wurde im Dezember dieses Jahres dem Hofkriegskanzleiarchiv „zur einsweiligen Aufbehaltung“ zugewiesen, das damals noch die Aufgaben einer Altregistratur erfüllte. Ein nicht näher bestimmter Teil – nicht nur die Generalprincipia – war allerdings bereits dem Hofkriegsratspräsidenten Grafen Daun bzw. seinem Nachfolger Feldmarschall Franz Moritz Graf Lacy (1725 – 1801) übergeben worden. Die im August 1767 unter Federführung des Registrators Brean angelegte „Conscription deren unter denen inventirt preußischen Effecten vorgefundenen Schrifften und Manuscripten“ zeigt, dass die interessantesten Stücke längst fehlten. Abgesehen von den bereits genannten Personaldokumenten Fouqués und verschiedenen Manuskripten (s. Anm. 106), waren nur noch zwölf königliche Kabinettsordres aus den Jahren 1742 – 1755, die sich großteils auf die Vermögenswerte Fouqués bezogen, vorhanden75. Dass die 1762 von der Kaiserin-Königin geäußerte Absicht, die erbeuteten Pläne und Schriften der Gumpendorfer Ingenieurschule zu überlassen, in die Tat umgesetzt wurde, darf bezweifelt werden76. Im Hofkriegskanzleiarchiv hatte man mit den „Foquetischen Schriften“, überwiegend Unterlagen aus der Verwaltung des Regiments Fouqué, wenig Freude. Sie wurden ab 1770 immer wieder in Berichten des Archivars an den Hofkriegsrat genannt, und zwar als Stücke, die man gefahrlos kassieren könne, da sie nie gebraucht würden77. Dazu kann es, wenn überhaupt, nur in Ansätzen gekommen sein, vielleicht im Zusammenhang mit der Zusammenführung der militärischen Dienststellen und ihrer Registraturen in einem eigenen Amtsgebäude 1775, bei welcher General Czettritz abgenommenen Schriften (vgl. Anm. 81). In der Tat gelangten mehrere Fassungen aus verschiedenen Aktenbeuten nach Wien. Unter der Signatur ÖStA, KA Memoires II/19 finden sich gleich drei Exemplare, zwei Abschriften, davon eine mit einer Abschrift einer Kabinettsordre Friedrichs II. an Fouqué (21. 6. 1759). Die 1874 aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv ins Kriegsarchiv gekommene Fassung trägt den Provenienzvermerk: „In der Chatoulle eines Dero in Gefangenschafft gerathenen Generalen gefunden worden, 23. Juni 1760“. 74 Dauns „Gutachten“ unter ÖStA, KA Memoires II/27. 75 ÖStA, KA HKR Akten 1767 34 Dezember 1: Weisung an den Registrator Brean (1. 12. 1767). Dabei das kommissionelle Schrifteninventar vom 8. 8. 1767. Die zwölf dort regestierten Kabinettsordres haben sich nicht erhalten. 76 Auf Vortrag des Hofkriegsrates vom 21. 7. 1762: ÖStA, KA HKR Akten 1763 November 71/4. 77 ÖStA, KA HKR Akten 1770 – 55 – 232, 1774 – 55 – 55 („von keinen Werth; diese Acta wären glatt zu cassiren“).

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Gelegenheit der Aktendschungel in recht brutaler Weise gelichtet wurde. Nach der wenig später erfolgten Umwandlung des Kanzleiarchivs in eine Urkundenkammer und ein Beweismittellager wanderten die alten Hofkriegsratsakten zurück zur Registratur, darunter auch nicht näher bestimmte „Fouketische Feldakten“78. 1781 bestanden die „General Fouquetschen Schriften“ jedenfalls aus zehn großen Faszikeln „Ordres, Correspondenzen, Rechnungsaufsätzen“, „gebundenen Manuskripten, Regulamenten und einen Kirchenbuche des Marggraf Heinrichischen Infanterieregiment seit Stiftung desselben“79. Aus dem bisher Gesagten wird mehr als deutlich, dass die Aktenbeuten von Landeshut und Glatz ab 1760 sukzessive zerteilt und so mit den Jahren völlig zerrissen wurden. Eine einigermaßen befriedigende Rekonstruktion ihres Inhalts ist heute nicht mehr möglich80, zumal auch bei der Gefangennahme anderer preußischer Generäle und Offiziere immer wieder Schriftstücke, sogar Kabinettsordres des Königs, in österreichischen Besitz kamen81, Korrespondenz auch interzipiert wurde und man bedeutende Schriftsätze wiederholt kopierte. Auch Laudon selbst hatte sichtlich sehr ansehnliche Teile der Aktenbeute von 1760 zurückbehalten. Als die Militärbehörde nach seinem Tod 1790 den Schriftennachlass des Feldmarschalls perlustrieren ließ, stieß man auch auf Korrespondenzen Friedrichs des Großen, des Prinzen Heinrich von Preußen sowie der Generäle Fouqué und Schwerin, die man der Registratur des Hofkriegsrates einverleibte und in die Akten des Siebenjährigen Krieges einteilte. Hinzu kamen zahlreiche Karten von Schlesien, ob preußischer Provenienz, wird nicht recht klar82. Ein 1975

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ÖStA, KA Materialien zur Geschichte des Hofkriegsrates 5: Instruction für das hofkriegsrätliche Einreichprotokoll, 11. Nachtrag (24. 9. 1777); HKR Akten 1777 – 32 – 348. 79 ÖStA, KA HKR Akten 1781 – 32 – 207 (Consignation). 80 Immerhin lassen sich die nicht zu zahlreichen Beutestücke aus der Zeit nach Juni 1760 ausschließen. So finden sich in den Feldakten (Cabinettsakten) zum Oktober 1760 u. a. Schreiben des englischen Gesandten, Andrew Mitchell, im November 1760 solche des Etatministers Schlabrendorff usw. 81 Ein größeres Konvolut müssen jene Stücke gebildet haben, die bei dem im Februar 1760 gefangen genommenen General Ernst Heinrich von Czettritz (1713 – 1782) sichergestellt wurden und überwiegend in den Nachlass des Feldzeugmeisters Beck gerieten, mit dem sie schließlich in die Hände des Hofkriegsrates gelangten. Z. B. ÖStA, KA Memoires VI/120: Instruktion für die Generalmajore der Kavallerie (16. 3. 1759, Ausfertigung), Memoires VIII/ 120: Verpflegstabella des gesamten königl. Preußischen Kriegsetats, Memoires IX/102: Verhaltensbefehle für die preuß. Trainknechte (15. 3. 1759), Memoires XVIII/25: Etat der preußischen Armee von 1757, Memoires XXII/175: Generaletat derer sämtlichen königlich preußischen Revenuen. Hinzu kommen etliche an Czettritz adressierte Kabinettsordres in der Hauptreihe der „Alten Feldakten“. – Preußische Interzepte, darunter Kabinettsordres Friedrichs II. an Generalmajor Christoph Hermann von Manstein (1711 – 1757), finden sich u. a. auch in ÖStA, HHStA Kriegsakten Karton 343. 82 ÖStA, KA HKR Akten 1790 – 32 – 321. Drei Kabinettsordres dieser Provenienz sind in ÖStA, KA AFA 1757-XIII-634 bis 636 nachweisbar. Im Familienarchiv Laudon (Bystrˇice pod Hosty´nem, heute Mährisches Landesarchiv Brünn) scheinen sich ebenfalls Schriften Fouqués

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im Wiener Kriegsarchiv künstlich gebildeter „Nachlass Laudon“ lässt davon nichts mehr erahnen. Hier findet sich immerhin ein Kuriosum, nämlich die Abschrift einer Kabinettsordre Friedrichs II. an Fouqué vom 5. Oktober 1754 samt einer sehr ausführlichen Beilage, in der es um die militärärztliche Behandlung von Hämorrhoiden in der preußischen Armee geht83. Splitter des Fouqué’schen Schriftenbestandes gelangten sogar in die kaiserliche Fideikommissbibliothek, so ein weiteres Manuskript der „Königl. Preussischen Maximen über die Haupt-Puncten von denen größeren Manoeuvres des Kriegs […] wie solche von Sr. Majestät eigenhändig entworfen“ oder eine Abhandlung zur preußischen Taktik mit zwei königlichen Begleitschreiben84. In der Autographensammlung der Nationalbibliothek lassen sich drei Schreiben Fouqués nachweisen, darunter eines an Friedrich II. aus dem Jahre 175785. Was in der Registratur des Hofkriegsrates die Zeiten überdauerte und als wertvoll qualifiziert wurde, sicherte sich das 1801 als kriegshistorische und militärwissenschaftliche Forschungsanstalt des Heeres gegründete k. k. Kriegsarchiv86 als Grundstock seines eigenen Auslesesarchivs. Dazu zählten auch Teile der Schriften Fouqués87. Die ausgiebigen Plünderungszüge der Offiziere des neuen Kriegsarchivs haben wohl ganze Provenienzen stark ausgedünnt oder sogar vollständig zerschlagen, doch wurde dadurch andererseits auch historisch wertvolles Schriftgut vor dem ebenfalls 1801 einsetzenden Wüten der hofkriegsrätlichen „Aktenvertilgungskommission“ gerettet, die damals der im eigenen Papier ertrinkenden Militärbehörde Luft verschaffen sollte88. Man darf annehmen, dass die heute verlorenen Teile der 1760 erbeuteten preußischen Regimentsregistraturen etwa zu diesem Zeitpunkt als „unnutz“ in die Stampfe wanderten. zu finden. Vgl. Vladimír Voldán (Red.), Státní archiv v Brneˇ. Pru˚vodce po archivních fondech, Prag 1966, Teil 3, 55. 83 ÖStA, KA Nachlasssammlung (NLS) Laudon Nr. 903 Nr. 1 (ehemals Memoires XXVII/ 2). 84 Jetzt Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB), Cod. Series Nova Nr. 12206 und 12053. 85 ÖNB, Autographensammlung 25/50 – 1 und 2, 447/28 – 1. Das Schreiben an Friedrich II. stammt angeblich aus den Beständen des Kriegsarchivs, das das Stück 1829/35 an die Autographensammlung der damaligen Hofbibliothek abgetreten haben soll. 86 Inventar des Kriegsarchivs Wien, 2 Tle. (Inventare Österreichischer Archive, VIII), Wien 1953. Besser immer noch Johann Langer, Das k. und k. Kriegs-Archiv von seiner Gründung bis zum Jahre 1900, Wien 1900. 87 ÖStA, KA Direktionsakten des Kriegsarchivs Karton 1: Consignation über die Akten abgelebter Generale, 15. 7. 1801 (Nr. 20); MS/KA Nr. 134: Consignation uiber die aus denen bei der k. k. hofkriegsräthlichen Registratur aufbewahrten Schriften des preußischen Generals la Motte Fouqué von der Direction des k. k. Kriegsarchivs bei Untersuchung zu ihren nötigen Gebrauch zurückbehaltenen Acten. 88 Oskar Regele, Die Aktenskartierung im Wiener Kriegsarchiv in alter und neuer Zeit, in: AZ 50/51 (1955), 217 – 221.

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Aus dem summarischen Übernahmsverzeichnis des Kriegsarchivs von 1801 wird aber auch offensichtlich, dass der Großteil der Aktenbeuten von Landeshut und Glatz nie an das Kanzleiarchiv bzw. die Registratur des Hofkriegsrates gelangt war. Dieser fand sich vielmehr im Nachlass des ebenfalls 1801 verstorbenen Hofkriegsratspräsidenten Graf Lacy, der auch nach seinem Rücktritt von der Behördenleitung 1774 die beherrschende „graue Eminenz“ in allen Militärfragen geblieben war und zu diesem Zweck sogar ein eigenes Sekretariat samt professioneller Registratur beigestellt erhalten hatte. Bei seinem Tod stieß die mit Sichtung seiner Papiere betraute Polizeihofstelle daher auf immens umfangreiches Nachlassschriftgut89, von dem nur ein Teil sogleich an den Hofkriegsrat ging (1802). Der Rest kam in das kaiserliche Kabinett, das zu einer Art „Schattenministerium“ aufgestiegene Zentralsekretariat des Herrschers, das das aktenmäßige Zusammenwirken zwischen dem Kaiser und den Zentralstellen koordinierte und betreute90. Hatte das herrscherliche Sekretariat, das sich ab dem frühen 18. Jahrhundert allmählich zu einer förmlichen Kabinettskanzlei verfestigte, anfangs nicht einmal das auf den kaiserlichen Schreibtischen sich bedenklich auftürmende Schriftgut ordentlich verwaltet91, so entwickelte es sich jetzt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sogar zu einer Art Sammelstelle für die Schriftennachlässe hochrangiger Beamter und Berater des Monarchen. Kaiser Franz II. (I.) war in jeder Hinsicht ein „Aktenmensch“ und hortete selbst riesige Mengen älteren und neueren Schriftguts (speziell solches vertraulichen Inhalts) in seinem Arbeitszimmer. Die seit Maria Theresia übliche Durchforstung (und Sicherstellung) der Nachlasspapiere von Staatsdienern92 wurde in seiner Regierungszeit – wenig überraschend – auf die Spitze getrieben. Hier nun, „in der unversiegbaren Senkgrube des Geheimen Cabinets“, geriet der Nachlass Lacys, wie es scheint, für zwei Jahrzehnte in Vergessenheit.

89 Zum Nachlaß Lacy vgl. eingehend Ludwig Bittner (Hrsg.), Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, 5 Bde., Wien 1936 – 1940, hier Bd. 2, 244 – 248. 90 Fritz Reinöhl, Geschichte der k. u. k. Kabinettskanzlei (MÖStA Ergänzungsband, 7), Wien 1963. 91 So war es möglich, dass Kaiser Karl VI. 1715 die vollgestopften Schreibtische und Büroschränke seiner Vorgänger Leopold I. und Joseph I. radikal ausräumen und einen Großteil ihres überaus wertvollen Inhalts, darunter hunderte Schreiben Ludwigs XIV. von Frankreich und des Prinzen Eugen von Savoyen, einfach verbrennen ließ. Vgl. Michael Hochedlinger, Fadesse oblige oder: die Macht der Triebe. Die Handzeichnungen Kaiser Josephs I. Aktenkundliche Beobachtungen an allerhöchstem Memorialschreibwerk, in: MÖStA 55 (2011), 785 – 814, hier 799. Das summarische Verzeichnis des damals massenhaft Vernichteten wirft ein besonders grelles Schlaglicht auf das Problem von Überlieferungslücken und -zufällen: ÖStA, HHStA Familienakten Karton 105. 92 Michael Hochedlinger, Von Schlössern, Käsestechern und Gesetzen. Zur Geschichte von (Adels-)Archivpflege und Archivalienschutz in Österreich, in: Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs (Hrsg.), Archivpflege und Archivalienschutz. Das Beispiel der Familienarchive und „Nachlässe“ (MÖStA, 56), Wien 2011, 43 – 176, hier 113 – 115.

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Ein Teil der Papiere war aber, so scheint es, dem 1801 zum Kriegs- und Marineminister ernannten Bruder des Kaisers, Erzherzog Karl (1771 – 1847), übergeben worden. Vom April 1808 datiert jedenfalls ein Verzeichnis von historischem Schriftenmaterial, das damals im Kriegsministerialbüro verwahrt wurde. Hier finden sich größere Segmente der Beuteakten von Landeshut und Glatz93 : ein Faszikel Schriften des Generals Fouqué aus den Jahren 1742 – 1760 und ganze Hundertschaften ausgefertigter Kabinettsordres Friedrichs des Großen (1756 – 1760) an den Vizekommandanten von Glatz und bösen Geist Fouqués, Johann Bartholomäus d’O (1707 – 1775?), die ungeachtet ihrer Zahl bis dahin merkwürdigerweise nirgendwo Erwähnung gefunden hatten94. Mit der Registratur des Kriegsministeriums, das sich zwischen 1801 und 1809 (mit Unterbrechungen) als oberste Instanz zwischen Hofkriegsrat und Kaiser schaltete, ehe es 1814 wieder völlig aus der Behördenstruktur verschwand, kam dieser Teil der Beuteakten sodann in die Altregistratur des Staatsrates, des obersten Beratungsgremiums in inneren Angelegenheiten95. 1821 wurde auch der im Kabinett wiederentdeckte Nachlassrumpf Lacy einer neuerlichen Sichtung unterzogen und offensichtlich ein weiteres Mal auf mehrere Behörden aufgeteilt96. 1826 legte das kaiserliche Kabinett dem Kriegsarchivs jedenfalls Verzeichnisse der Schriften Lacys vor, aus denen die Direktion nach eingehender Durchsicht die schönsten Stücke auswählte, darunter – neben militär93

ÖStA, HHStA Kabinettsarchiv Organisationsakten des Kabinettsarchivs B II, Nr. 1 – 4: Verzeichnis über Akten, die sich im Ministerialbüro vorfinden, aber in das kaiserliche Kabinett gehören (23. 4. 1808). 94 Über d’O vgl. Franz Albert, Johann Bartholomäus d’O, in: Festschrift zum 75. Geburtstag von Franz Volkmer, hrsg. v. Franz Albert, Habelschwerdt 1921, benutzt als selbständig paginierter Sonderdruck (25 S.). Als Piemontese war d’O zwar Katholik, an der Bedrückung der katholischen Bevölkerung von Glatz aber nach Albert mindestens genauso interessiert und beteiligt wie der Hugenotte Fouqué. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft wurde d’O wegen der überaus dilettantischen Verteidigung von Glatz 1763 zum Tode verurteilt, zu Festungshaft begnadigt und nach deren Verbüßung außer Landes geschafft. Albert hat für diese Arbeit das Wiener Kriegsarchiv nicht benützt. Er hielt sich an die Publikation von August Josef Nürnberger, Neue Dokumente zur Geschichte des P. Andreas Faulhaber, Mainz 1900, der im Kriegsarchiv arbeiten konnte. Vgl. ÖStA, KA Direktionsakten Zl. 170/1900. Außer den Kabinettsordres Friedrichs II. verwahrt das Kriegsarchiv von d’O noch: Dispositionen betreffend die Festung Glatz und ihre Deckung 1757/58 (AFA CA 1760XIII-37); Korrespondenzjournal des Festungskommandanten 1757 – 1760 (AFA CA 1760XIII-38); Journal der Festung Glatz 1756 – 1760 (AFA CA 1760-XIII-39), Schreiben Schlabrendorffs an d’O (AFA CA 1757-IX und 1758-VII-VIII) sowie einige Konzepte von Schreiben d’Os, u. a. auch an den König. 95 1817 übergab der letzte Leiter des Kriegsministeriums, gleichzeitig Chef der Militärsektion des Staatsrates, Feldmarschall Josef Maria Graf Colloredo (1735 – 1818), dem Staatsrat noch ein Paket mit Splittern der im Verzeichnis von 1808 erwähnten preußischen Beuteakten: ÖStA, HHStA Kabinettsarchiv Organisationsakten des Kabinettsarchivs B I, Nr. 1. 96 ÖStA, HHStA Kabinettsarchiv Organisationsakten des Kabinettsarchivs B II Lacy – Nachtrag 1821.

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wissenschaftlichen Schriften preußischer Provenienz (Reglements, Ordres de bataille, Instruktionen etc.) – 13 Kabinettsordres an Fouqué und General Adam Christoph von Flanss (1664 – 1748) aus den 1740er Jahren, 54 Originalschreiben des Königs an Fouqué aus dem Feldzugsjahr 1759 sowie Handschreiben des Prinzen Heinrich an Fouqué von 175997. Was dem Kriegsarchiv damals tatsächlich übergeben wurde, bleibt unklar. Der Löwenanteil wanderte wohl vom Kabinett zum Rest des Lacy-Nachlasses in der staatsrätlichen Registratur, wo durch Zugabe älterer Militaria aus der Kabinettskanzlei (überwiegend dort liegen gebliebene Eingaben, Denkschriften, unerledigte Vorträge usw.) ein regelrechtes „Militärkabinettsarchiv“ entstanden zu sein scheint98. Nach Aufhebung des Staatsrates im Revolutionsjahr 1848 kam es mit dem übrigen verwaisten Schriftgut an ein damals neu geschaffenes Archiv, das k. k. Geheime Kabinettsarchiv. Teile der preußischen Beuteakten erscheinen im Jahre 1850 ausdrücklich als Annex zu den „Militärakten“ des neuen Kabinettsarchivs99. Anfangs dem Ministerpräsidenten zugeordnet, wurde das Kabinettsarchiv 1851 dem Reichsrat („Reichsratsarchiv“), 1861 aber dem (jüngeren) Staatsrat unterstellt („Staatsratsarchiv“) und schließlich 1868 der Kabinettskanzlei angegliedert (neuerlich: „Kabinettsarchiv“), wo es in Josef Fischer einen tüchtigen Direktor und natürlich eigenes Personal erhielt, das den ihm zur Betreuung übertragenen Schriftenwust mit anerkennenswertem Erfolg ordnend und verzeichnend durchdrang. Fischer wandte seine Aufmerksamkeit auch dem Kern des persönlichen Schriftennachlasses Lacys zu, Schriften und Korrespondenzen höheren Interesses, die die Polizeihofstelle bereits bei der ersten Sichtung 1801 zu 21 Paketen zusammengeführt hatte, ordnete ihn neu und legte 1875 ein Verzeichnis an100. IX. Die Beuteakten im Kriegsarchiv Der Forschung blieb das Kabinettsarchiv fast völlig verschlossen. Unter immer stärker werdendem Druck, insbesondere von ungarischer Seite, die damals eine größere archivpolitische Offensive orchestrierte, gab Kaiser Franz Joseph schließlich nach und verfügte im Herbst 1885 die Auflösung des umstrittenen „Geheimarchivs“. Seine wertvollen Bestände wurden auf andere Archive, in erster Linie auf 97

ÖStA, KA MS/KA Nr. 102: Auswahlwünsche des Direktors des Kriegsarchivs Oberst Ernst betreffend den Nachlass Lacy (1826); Direktionsakten des Kriegsarchivs Karton 22 (Schreiben des Hofkriegsratspräsidenten, 27. 6. 1826). Heute sind erhalten in ÖStA, KA AFA CA 1759 Juli–September 31 Schreiben des Prinzen Heinrich an Fouqué, in AFA CA 1760 April–Mai 19 weitere Schreiben, ein isoliertes Schreiben unter AFA CA 1760-II-25 (Februar 1760). 98 Bittner, Gesamtinventar (Anm. 89), Bd. 2, 250 f. 99 ÖStA, HHStA Kabinettsarchiv Organisationsakten des Kabinettsarchivs B II, Nr. 1/4 und B II Lacy („Verzeichniß der aus dem Bureau der staatsrätlichen Militär-Section übernommenen […] Akten“). 100 ÖStA, HHStA Archivbehelf alt 312b.

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das Haus-, Hof- und Staatsarchiv und das Kriegsarchiv, aufgeteilt. Unter anderem erhielt das Kriegsarchiv 1885/86 die sog. „Kriegsminister-Lacy-Akten“, also die voll ausgebildete Registratur Lacys als „Militärberater“ der Kaiser Joseph II., Leopold II. und Franz II. aus den Jahren 1774 bis 1801, sowie die Akten und Geschäftsbücher des Kriegsministeriums unter Erzherzog Karl (1801 – 1814)101. Der persönliche Schriftennachlass Lacys im engeren Sinne und die (zivilen) Staatsratsakten kamen in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Hier hütete dessen Direktor Alfred von Arneth (1819 – 1897) schon seit 20 Jahren einen anderen Teil der Lacy’schen Papiere, über 400 Handschreiben Maria Theresias, Josephs II., Leopolds II., Alberts von Sachsen-Teschen und Feldmarschall Dauns, die zu unbekannter Zeit aus dem Nachlass gezogen worden waren. 1865/66 hatte man sie in der Bibliothek des damaligen „Staatsratsarchivs“ gefunden und nicht dem eigenen Bestand einverleibt, sondern dem quellengierigen Haus-, Hof- und Staatsarchiv übergeben. Arneth konnte gerade diese Korrespondenzen für seine seit 1864 erscheinende zehnbändige Monumentalbiographie Maria Theresias sehr gut brauchen; dafür blieben sie freilich weiterhin aus ihrem Provenienzzusammenhang gerissen, zum Teil bis heute. Der 1886 ins Haus-, Hof- und Staatsarchiv gelangte Nachlass Lacy enthielt allerdings nur mehr vernachlässigbare Spurenelemente der preußischen Aktenbeute, Abschriften von Korrespondenzsplittern zwischen Fouqué und dem König (1758/ 59) oder ein Ökonomiereglement für das Regiment Markgraf Heinrich von Preußen (1753)102. Zu diesem Zeitpunkt war der Großteil der Schrifttrophäen von Landeshut und Glatz längst an das Kriegsarchiv gelangt, das sich ab 1876 zu einem modernen und sehr niveauvollen kriegshistorischen Forschungs- und Publikationszentrum zu entwickeln begann. Es gab eine eigene Zeitschrift, die „Mittheilungen des k. k. Kriegsarchivs“, heraus und arbeitete mit Feuereifer an einem vielbändigen „Generalstabswerk“ über die „Feldzüge des Prinzen Eugen von Savoyen“ (1697 – 1736). Vor dem Hintergrund dieses Innovations- und Aktivitätsschubes erwachte auch der etwas abgeflaute Quellenappetit des Kriegsarchivs von neuem. Neben dem historischen Aktenmaterial, das in den Registraturen der Militärbehörden in Wien und in den Kronländern brach lag, waren natürlich auch die ungehobenen Schätze des Kabinettsarchivs von Interesse. Ungenügende Betreuung in den Raum stellend, ersuchte das Reichskriegsministerium als vorgesetzte Behörde des Kriegsarchivs im September 1878 um Überlassung der Militariabestände des Kabinettsarchivs. Schon einen Monat später wurden in der Tat 61 Faszikel chronologisch geordnete „Militärakten“ (1673 –

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ÖStA, KA Archivbehelf 336 (= alt MS/KA 280). ÖStA, HHStA Kabinettsarchiv Nachlass Lacy Karton 1 (F. II).

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1839) ausgeliefert, darunter 21 Bündel zu den Preußenkriegen mitsamt den (allerdings nie explizit genannten) Beuteakten103. Das Kriegsarchiv wahrte traditionell keine Provenienzen und fand sich damit in bester Gesellschaft. Es war Forschungsanstalt104, sein Archiv in erster Linie Arbeitsgrundlage für seine Studien, die man sich entsprechend mundfertig zurichtete. Im wesentlichen verfügte das Kriegsarchiv über zwei Kernbestände: die „Alten Feldakten“, ein künstlicher Sammelbestand aus Schriftstücken unterschiedlichster Herkunft in streng chronologischer Ordnung, mit dem sich die Schlachten und Kriegszüge bequem darstellen ließen, und die „Kriegswissenschaftlichen Memoires“, in die – nach Sachgebieten geordnet – alles eingeteilt wurde, was nicht in die Feldakten passte, überwiegend Material zur Struktur- und Organisationsgeschichte der kaiserlichen bzw. k. k. Armee, aber auch zu fremden Heeren105. Damit sind zugleich die Lagerorte der Ende 1878 ins Haus gelangten preußischen Beuteakten benannt: Die Korrespondenzen kamen zu den „Alten Feldakten“, Denkschriften, Reglements usw. je nach Inhalt in die jeweilige Betreffgruppe der „Memoires“106. Karten und Pläne könnten in die Kartensammlung Eingang gefunden haben107. 103

ÖStA, HHStA Direktionsakten des Kabinettsarchivs Zl. 10/1886; KA Direktionsakten Zl. 260/1878 und ad 260; MS/KA Nr. 3 (Zuwachsprotokoll), fol. 449 (31. 10. 1878); MS/KA 98 und 107. 104 Karl Zitterhofer, Die literarische Tätigkeit des Kriegsarchivs 1784 – 1909, in: ÖMZ 1909/2, 1717 – 1726; Oskar Regele, Die Geschichtsschreibung im Wiener Kriegsarchiv von 1779 (Kaiser Joseph II.) bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1918), in: Festschrift zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Haus-, Hof- und Staatsarchivs (MÖStA Ergänzungsband, 2), Wien 1949, Bd. 1, 732 – 743; Michael Hochedlinger, „Bella gerant alii …?“ On the State of Early Modern Military History in Austria, in: Austrian History Yearbook 30 (1999), 237 – 277. 105 Die Ursprungsprovenienzen sind allerdings mit eiserner Konsequenz auf den einzelnen Archivstücken vermerkt, so dass eine Rekonstruktion in vielen Fällen möglich ist und teilweise, etwa bei der Wiederherstellung zerschlagener Schriftennachlässe, auch wirklich unternommen wurde. 106 Nachzuweisen sind: Memoires II/5 Instruktion für die Generalmajors der Infanterie (1748; Abschrift; Nachlass Lacy); Memoires II/6: Instruktion für die Generalmajors der Kavallerie mit Begleitschreiben (1757; Nachlass Lacy); Memoires II/ad 6: Instruktion für die Generalmajors der Infanterie (1759; Abschrift); Memoires II/14: Ordres für die Formierung der preußischen Armee (1756); Memoires II/22: Friedrich der Große, Disposition, wie sich bei einer angehenden Bataille solle gehalten werden; Memoires II/43: Entretien du militaire prussien (1744); Memoires II/45: Sammlung preußischer Verordnungen (1743); Memoires IV/141: Nota, wie künftighin bei der preußischen Armee exerziert werden soll; Memoires VI/ 117: Anweisungen zum Angriff auf feindliche Armeen, Generalfouragierung; Memoires VI/ 120: Instruktion für die Generalmajors der Infanterie (1748, Abschrift); Memoires VIII/39: Befehle betreffend die preußische Armee 1756/57; Memoires IX/103: preußisches Marschreglement, Schema zur Marschliquidation 1752; Memoires XVIII/72: Dislozierung der preußischen Infanterie 1752; Memoires XVIII/74: dto.; Memoires XVIII/293: Memoire über die Organisation des Militärs in Preußen (Nachlass Laudon); Memoires XXVIII/36: Konzepte von Schreiben Fouqués an Friedrich II. (Oktober 1748–Oktober 1752; seit 1801 im Kriegs-

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Um die perfekte Ordnung der stückweise (!) verzeichneten und mit eingehenden Indices versehenen „Alten Feldakten“ der ersten Generation nicht durch Zulagen zu überlasten, waren spätere Zugewinne, namentlich von der Aktenvertilgungskommission überlassene Stücke aus der Registratur des Hofkriegsrates, in einer eigenen Nachtragsreihe „Hofkriegsrätliche Akten“ gesammelt worden. Die Übernahme von Material aus dem kaiserlichen Kabinett, das schon seit 1822 immer wieder Schriftgut und Karten an das Kriegsarchiv abgegeben hatte (etwa die bis dahin sekretierten Feldzugsgeschichten, die Generäle und Stabsoffiziere ab 1779 in kaiserlichem Auftrag verfasst hatten)108, und der spätere Zufluss aus dem Kabinettsarchiv machten schließlich die Eröffnung einer weiteren Nebenserie „Cabinettsakten“ ab 1740 erforderlich. Hier liegt noch heute der Großteil der Korrespondenz Friedrichs des Großen mit Fouqué109. Verschwunden sind die Ende Juni 1760 archiv). Eine sehr stattliche Anzahl von Schreiben des Feldmarschalls Schwerin und anderer preußischer Generäle und Offiziere an Fouqué aus den Jahren 1756 und 1757 in ÖStA, KA AFA 1756 XIII (Karton 593) und 1757 XIII (Karton 692), dabei finden sich auch abschriftliche königliche Kabinettsordres. Als Provenienz ist „Nachlass Daun“ angegeben. Über diesen dürften die Stücke schon 1801 ins Kriegsarchiv gelangt sein. Den bei Fouqué erbeuteten Akten weiters zuzuordnen: AFA CA 1747-XIII-4 (Sammelhandschrift zu verschiedenen französischen Militaria, seit 1801 im Kriegsarchiv), AFA HKR 1753-VII-1 (Denkschrift, was im Falle einer Belagerung der Festung Glatz erforderlich ist, 1753 mit späteren Nachträgen, bereits vor 1878 im Kriegsarchiv); AFA CA 1751-IX-1 (Bemerkungen über die preußischen Manöver vom September 1751); AFA CA 1752-I-1 (preußisches Marschreglement vom Januar 1751, Druck); AFA CA 1751-V-2a-2e (administrative Unterlagen betreffend die Festung Glatz); AFA CA 1752-IX-1 (Relation über die Manöver von Breslau 1752), AFA CA 1753-IX1 (Journal der preußischen Manöver bei Spandau 1753). 1821 noch im Nachlass Lacy: eine Ordre de bataille des Korps Fouqué vom Dezember 1758 (AFA CA 1758-XII-8), vier Ordres de bataille von 1759 (AFA CA 1759-II-1 1/2, 1759-III-4 1/2, 1759-III-13 1/2, 1759-III-25 1/2), eine Ordre de bataille von 1760 (AFA CA 1760-II-3a), Schreiben Braunschweig-Beverns (18. 2. 1759) mit Beilagen (AFA CA 1759-II-5 und 5a-5c). Eine spätere Abschrift nach Stükken aus dem Kriegsarchiv ist angeblich Memoires II/30: Korrespondenz Friedrichs des Großen mit Generalleutnant Fouqué zu taktischen Fragen (1758/59). – Im HHStA, Kabinettsarchiv Alte Kabinettsakten als Bd. 48: Nachrichten von Stiftung, Veränderung und Vermehrung derer Regimenter sowohl Cavallerie als Infanterie der königl. preußischen Armee von anno 1656 bis zu gegenwärtigen Zeiten (gebundene Handschrift). 107 In Frage kommen Karten in den Serien B IVa, G I c oder G VII. Unter ÖStA, KA Memoires XXVIII/9 erliegt ein Verzeichnis der Karten und Pläne, die 1766 im Nachlass Feldmarschall Dauns sichergestellt und sodann dem Hofkriegsrat übergeben wurden. Hier erscheinen u. a. eine Kriegskarte der Grafschaft Glatz, auf Befehl des preußischen Königs 1747 verfasst (Nr. 100), und eine weitere Karte der Grafschaft mit graphischen Hinweisen, wo und wie von dort aus Einfälle nach Böhmen möglich sind (Nr. 101). Dazu Memoires II/44 Rapport über alle nach Böhmen führenden Wege und Fußsteige im schlesischen Gebirge. 108 ÖStA, KA Archivbehelf 508a/1: Protocoll über die ausgearbeiteten Kriegsgeschichten Nr. 1, fol. 198. Vgl. auch KA MS/KA Nr. 2 (Zuwachsprotokoll), S. 15 (Akten zum Siebenjährigen Krieg) und S. 23 f. (Übernahme von Militärkabinettsakten 1783 und 1792 – 1814); Direktionsakten des Kriegsarchivs Zl. 189/1822 (Verzeichnis der aus dem Kabinett übernommenen Karten, Pläne und Schriften) und 346/1826. 109 Unklar ist der Verbleib von 1890 aus den „Curiosa“ in die Alten Feldakten (?) übernommenen Schreiben Friedrichs II. an verschiedene Adressaten (1757 – 1759). ÖStA, KA MS/ KA Nr. 3 (Zuwachsprotokoll), fol. 501. Bei den in KA Archivbehelfe 3 („Verzeichniß ueber

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Staatskanzler Kaunitz übermittelten Stücke, in denen der preußische König seine Feldzugspläne und das erhoffte Eingreifen der Türken thematisiert110. X. Erste wissenschaftliche Verwertung der Aktenbeute Kaum waren die Nachträge aus dem Kabinettsarchiv protokolliert und registriert (1879/80) sowie in die Bestandsübersichten eingetragen111, machte man sich an eine Teilveröffentlichung der 1760 erbeuteten Kabinettsordres Friedrichs des Großen, die in den Jahrgängen 1881/1882 der hauseigenen „Mittheilungen“ erscheinen konnte112. Das Kriegsarchiv war zwar damals noch vollauf mit den „Feldzügen des Prinzen Eugen“ beschäftigt, in Preußen aber hatten Johann Gustav Droysen (1808 – 1884), Max Duncker (1811 – 1886) und Heinrich von Sybel (1817 – 1895) eine Edition der „Politischen Correspondenz“ Friedrichs des Großen lanciert, deren erster Band 1879 erschien, natürlich ohne Berücksichtigung der in Wien verwahrten Beuteakten. Herausgeber und Bearbeiter der „Politischen Correspondenz“ wandten den im Kriegsarchiv schlummernden vielen hundert Kabinettsordres Friedrichs des Großen auch in den folgenden Jahren keine Aufmerksamkeit zu, vielleicht wirklich zum Ärger des Kriegsarchivs, das sich noch im Vorwort zum ersten Band seines neuen Generalstabswerks über den Österreichischen Erbfolgekrieg (1896) merkwürdig spitze Bemerkungen gegen die „Politische Correspondenz“ nicht verkneifen konnte. Das unvermutete Fehlen königlicher Schreiben verdunkle das ganze Werk „mit einem leisen Makel“, denn von den Benützern der Edition könne nicht noch er-

die in dem besondern Faszikel befindlichen zur Produktion bestimmten Originalakten mit der Unterschrift verschiedener Monarchen, Fürsten und der berühmtesten Generale nebst dem ältesten im Kriegs-Archiv befindlichen Aktenstück vom Jahre 1466“) regestierten Schreiben Friedrichs II. an Fouqué, Schwerin und Moritz von Anhalt aus dem Jahre 1756 handelt es sich um Stücke in der Hauptreihe der Feldakten, meist Abschriften. Die zwei königlichen Ordres (Ausfertigungen) an Fouqué vom 18. Juli 1756 nennt schon Gerson Wolf, Geschichte der k. k. Archive in Wien, Wien 1871, 171 als besondere Zimelien des Kriegsarchivs. 110 Teile liegen immerhin abschriftlich vor: ÖStA, KA AFA CA 1760-XIII-21 – 22 g. Das Meiste ist wohl im Bd. 19 der Politischen Correspondenz abgedruckt. Das zentrale Schreiben Friedrichs an Fouqué vom 4. 5. 1760 lässt sich in Wien nicht mehr nachweisen. Bei A. Naudé/ K. Treusch von Buttlar, Politische Correspondenz (Anm. 47), Bd. 19, 319 f. ist es nach dem Konzept abgedruckt. So auch Friedrich II. an Fouqué (20. 5., 26. 5., 28. 5., 30. 5., 5. 6., 6. 6., 11. 6., 14. 6., 19. 6., 20. 6., 22. 6., 23. 6. 1760): ebd., 360, 376, 377 f., 392, 398, 413 f., 420 f., 432 f., 435, 445 – 447, 451 f. 111 ÖStA, KA Archivbehelf 183 (alt MS/KA 114): Allgemeines Repertorium des im Kriegsarchive vorhandenen Akten-Materiales mit Angabe der darauf basirten Publicationen der österreichischen Militärzeitschrift und der Mitteilungen des Kriegsarchivs (1883). Vgl. auch Archivbehelfe 185 – 186. 112 Originalbriefe König Friedrichs II. im Kriegs-Archive zu Wien, in: Mittheilungen des k. k. Kriegs-Archivs 1881, 339 – 360, 480 – 497, ebd. 1882, 47 – 68.

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wartet werden, dass sie sich selbst auf die Suche „nach aus oder zu bestimmten Absichten nicht aufgenommenen Stücken“ machten113. Vielleicht war dies auch nur eine verspätete Abrechnung mit den „Austromachen“ unter der preußischen Historikerschaft, denen man in Wiener Archiven gerne die Grenzen aufzeigte. Die erbitterte Kontroverse, die ab den 1860er Jahren zwischen der borussisch-kleindeutschen „Schule“ und habsburgfreundlichen Historikern insbesondere um die Bewertung der Politik Wiens und Berlins gegenüber der Französischen Revolution tobte, war noch keineswegs vergessen. Das Haus-, Hofund Staatsarchiv zensurierte und kontrollierte zwar ohnedies bis 1918 das im Lesesaal vorgelegte Material, aber einen Heinrich von Treitschke (1834 – 1896) wollte selbst der sonst nach außen so liberale Alfred von Arneth (übrigens gegen den ausdrücklichen Wunsch des vorgesetzten Ministeriums!) überhaupt nicht zur Benützung zulassen, da er, Treitschke, „systemmäßig die Geschichtsschreibung zur Magd politischer Parteibestrebungen erniedrigt“114. Mit dem zum Leiter der preußischen Staatsarchive und Direktor des Geheimen Staatsarchivs aufgestiegenen Sybel musste man wohl oder übel zusammenarbeiten. Im Allgemeinen Archiv des Ministeriums des Innern ging die Preußenphobie des Leiters, Alexander Gigl (1821 – 1878), so weit, dass er sogar Leopold von Ranke (1795 – 1886) in den 1870er Jahren wichtige Archivalien zur „Schwiebuser Affaire“ bewusst vorenthielt, ohne selbst etwas aus den für die Hohenzollern sehr peinlichen Akten zu machen115. Doch die Zeiten änderten sich. Vorbehaltloses Lob ernteten daher seitens der Wiener Offizierskameraden die Abteilung für Kriegsgeschichte des Großen Generalstabs in Berlin, dessen Archiv und das preußische Generalstabswerk „Kriege Friedrichs des Großen“, dessen erster Band 1890 erschienen war. Hier werde erfolgreich vorexerziert, so das k. u. k. Kriegsarchiv anerkennend, dass der Ruhm Friedrichs des Großen eben nicht abhängig sei „von der grundsätzlichen Herabwürdigung seines Gegners Oesterreich“, wodurch sich die Berliner Kollegen deutlich „von der sonst herrschend gewordenen Schule preussischer Geschichtsschreibung“ abhoben, die der Habsburgermonarchie „überall in einer, über den positiven historischen Boden weit hinausgehenden, fast krankhaften politischen Feindseligkeit gegen Oesterreich, mit einem satten Grundton confessionellen Hasses“ begegnete. Immerhin wagte es die Direktion des Kriegsarchivs, „dem äusseren Er-

113

K. u. k. Kriegsarchiv, Oesterreichischer Erbfolge-Krieg 1740 – 1748, Bd. 1, Wien 1896, XI f. Der Bearbeiter der ersten Bände der „Politischen Correspondenz“, Reinhold Koser, scheint das Kriegsarchiv 1878 benützt zu haben. ÖStA, KA Direktionsakten Zl. 154/1878 ist leider nicht erhalten. 114 L. Bittner, Gesamtinventar (Anm. 89), Bd. 1, 186* f. 115 Dies berichtet Gigls Mitarbeiter und Nachfolger August Fournier (1850 – 1920), später Universitätsprofessor in Prag und Wien, der 1873 Ranke bei seinen Wiener Forschungen als Sekretär zur Hand gegangen war: August Fournier, Erinnerungen, München 1923, 106 und 130. Erst Albert Francis Prˇibram (1859 – 1942), ein Schüler Fourniers, hat die Akten Ende der 1880er Jahre auswerten und publizieren können.

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folge“ des Preußenkönigs den „überlegenen rechtlichen Standpunct“ Habsburgs entgegenzusetzen116. Mag sein, dass das Loblied auf den Berliner Generalstab in Teilen auch als eigeninteressierte Zurückweisung des im Rahmen des „Strategiestreits“ 117 geäußerten Vorwurfs ziviler Historiker, insbesondere Hans Delbrücks (1848 – 1929), zu lesen ist, Militärs fehle die Kompetenz zur Erforschung der älteren Kriegsgeschichte. In Österreich-Ungarn blieb das Monopol der Offiziers-Historiker jedenfalls völlig unangetastet. Die militärhistorischen Beziehungen zwischen Berlin und Wien waren so harmonisch, dass das Kriegsarchiv schließlich auf eine eigenständige Bearbeitung des Siebenjährigen Krieges überhaupt verzichtete und die preußischen Kollegen außerdem mit großzügigen Aktenentlehnungen unterstützte. Umgekehrt wurde den Österreichern, vertreten durch den Mitarbeiter der kriegsgeschichtlichen Abteilung des Kriegsarchivs Major, dann Oberst Maximilian Ritter von Hoen (1867 – 1940), nachmals Direktor des Kriegsarchivs, im Rahmen einer „Volksausgabe“ des preußischen Generalstabswerks (1907 – 1912) die Federführung eingeräumt118. Im Mai 1888 war endlich auch die Akademie der Wissenschaften zu Berlin über die deutsche Botschaft und das k. u. k. Ministerium des Äußern in Wien vorstellig geworden, um dem Bearbeiter der „Politischen Correspondenz“ Friedrichs des Großen ab 1755, Albert Naudé (1858 – 1896), den Zutritt zu den Beständen des Kriegsarchivs, insbesondere zur Fouqué-Korrespondenz der Jahre 1758 – 60 zu ermöglichen, was auch anstandslos bewilligt wurde119. Der neue Direktor des Kriegsarchivs, Leander von Wetzer (1840 – 1904), war zwar Generalstabsoffizier und kein ausgebildeter Historiker, führte aber sein Institut noch deutlich enger an die akademische Geschichtswissenschaft heran. Er gehörte allen wichtigen Histo116 Kriegsarchiv, Erbfolge-Krieg (Anm. 113), Bd. 1, XIII; k. und k. Kriegs-Archiv-Direction, Programm für die Bearbeitung des Werkes: Oesterreichischer Erbfolgekrieg 1740 – 1748, Wien 1892, 4. Angesichts der guten Zusammenarbeit mit dem preußischen Generalstab war dem Kriegsarchiv besonders daran gelegen, das eigene Generalstabswerk nicht als Konkurrenzunternehmen zu dem schon laufenden preußischen Pendant erscheinen zu lassen. Leider fehlen nähere Hinweise zu den Hintergründen der österreichisch-preußischen Zusammenarbeit. Allgemein Max von Duvernoy, Das Generalstabswerk über die Kriege Friedrichs des Großen, in: PreußJbb 104 (1901), 95 – 103; Martin Raschke, Der politisierende Generalstab. Die friderizianischen Kriege in der amtlichen deutschen Militärgeschichtsschreibung 1890 – 1914 (Einzelschriften zur Militärgeschichte, 36), Freiburg/Breisgau 1993. 117 Dazu allgemein Sven Lange, Hans Delbrück und der „Strategiestreit“. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 1879 – 1914 (Einzelschriften zur Militärgeschichte, 40), Freiburg/Breisgau 1995. 118 Generalleutnant z. D. von der Boeck, Preußen-Deutschlands Kriege von der Zeit Friedrichs des Großen bis auf die Gegenwart. Militär-politische Geschichte in Einzeldarstellungen. Die Kriege Friedrichs des Großen 1740 – 1745. Bd. 1: Maximilian Ritter von Hoen, Der erste und zweite schlesische Krieg, Berlin u. a. 1907; Bd. 2: Maximilian Ritter von Hoen/ Walter von Bremen, Der Siebenjährige Krieg, Berlin u. a. 1912. Hoen hätte ursprünglich auch Bd. 2 alleine verfassen sollen. 119 ÖStA, KA Direktionsakten Zl. 174/1888.

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rikergremien der Doppelmonarchie an und wurde sogar zum wirklichen Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften gewählt. Von seinen weitgespannten und mit einigem Stolz gepflegten Kontakten zeugt die in seinem Nachlass säuberlich abgelegte wissenschaftliche Korrespondenz mit Fachgenossen des In- und Auslandes. Auf den Besuch aus Preußen bereitete sich Wetzer gründlich vor. Die Schriftenabteilung des Kriegsarchivs erhielt Weisung, „ein genaues Verzeichniß der sämmtlichen von König Friedrich II. herrührenden Schreiben, Manifeste etc. […] aus den Jahren 1756 – 1763“ vorzulegen. Dann waren alle Schreiben auszuheben und für den Archivdirektor zur Einsichtnahme vorzubereiten. Dass Wetzer das Verzeichnis120 Naudé bei seinen Arbeitsbesuchen im Kriegsarchiv 1888 zugänglich machte, muss wohl bezweifelt werden. 1891 leistete er immerhin mit der Beantwortung eiliger Detailfragen zu einigen königlichen Kabinettsordres an Fouqué aus dem Jahre 1759, die im Band 18 der Politischen Correspondenz in sehr großer Zahl abgedruckt wurden, wertvolle Nothilfe121. Damit war das Kriegsarchiv auch schon in jene rasch eskalierende Fehde über die „Kriegsschuldfrage“ von 1756 verwickelt, die Naudé mit dem streitbaren Max Lehmann (1845 – 1929) austrug und die die gesamte preußische Historiker- und Archivarszunft spaltete122. Naudé hatte im Rahmen der Kontroverse in missverständlicher, für die Wiener Archivverantwortlichen problematischer Weise erklärt, die österreichischen Archive seien ihm nicht zugänglich gewesen (meinte damit aber nur: in der „Kriegsschuldfrage“). Lehmann, der immerhin den ersten Wienbesuch Naudés 1888 eingefädelt hatte, begehrte hierauf von Archivdirektor Wetzer genaue Auskunft über die Archivarbeit seines Kontrahenten, die ihm auch postwendend erteilt wurde. In der „Deutschen Literaturzeitung“ von 1894 fanden sich die peinlichen Archivquisquilien sogar öffentlich ausgebreitet123. Erst 1895 konnte Naudé, seit 1893 ordentlicher Professor an der Universität Marburg, im Kriegsarchiv zum strittigen Problemkomplex Quellenarbeit leisten, teilweise unterstützt durch studentische Hilfskräfte, so etwa 1895 durch seinen Schüler, den späteren Ordinarius für Neuere Geschichte in Frankfurt Georg Küntzel (1870 – 1945), und einheimische Kopisten. 1895 bewilligte Wetzer außerdem eine Aktenentlehnung an das Staatsarchiv Marburg. Dabei bereitete der Archivbenützer Naudé durchaus Ungelegenheiten. Im April 1895 verursachte er sogar einen archivinternen Skandal, als ruchbar wurde, dass er sich durch Bestechung des Armeedieners schon vor Beginn der Amtsstunden Zutritt 120 ÖStA, KA Konzepte über erteilte Auskünfte Nr. 240 (o. D.) mit dem Verzeichnis, das für den Zeitraum 1756 – 1763 auch als nützliche Grundlage für den S. 514 ff. präsentierten Anhang diente. 121 ÖStA, KA Direktionsakten Zl. 648/1891. 122 Darüber berichtet auch Friedrich Meinecke, Erlebtes 1862 – 1919, Stuttgart 1964, 108 f. 123 Korrespondenzen Wetzers mit Naudé und Max Lehmann im Nachlass Wetzer ÖStA, KA NLS Nr. 37/2 und 3.

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Abb. 2: Friedrich II. an Fouqué (11. Juli 1759; Anhang Nr. 373)

zum Archiv verschafft hatte, was aber vom Archivpersonal trotz strenger Befragung vehement bestritten wurde. Naudé kam nicht wieder, nur Küntzel arbeitete bis Anfang Mai 1895 weiter, ehe dieser ebenfalls ohne Abmeldung ausblieb, allerdings Material im verschlossenen Arbeitstisch zurückließ. Erst im September 1895 erklärte Küntzel, die Archivalien nicht mehr zu benötigen, verweigerte jedoch die Annahme von Notizen Naudés als ihn „nichts angehend“ (!). Man musste sie dem rechtmäßigen Besitzer nach Marburg nachschicken124.

124

ÖStA, KA Direktionsakten Zl. 520/1894, 151, 214 und 495/1895, 218/1896.

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Abb. 3: Kabinettsordre Friedrichs II. an Fouqué (21. März 1759; Anhang Nr. 252)

Der herzkranke Naudé überlebte den erbitterten „Historikerstreit“ nicht. Die Früchte der letzten Wiener Archivaufenthalte gaben Küntzel und Gustav Berthold Voltz (1871 – 1938), der langjährige Bearbeiter der „Politischen Correspondenz“, 1899 heraus125. Reinhold Koser, mittlerweile Nachfolger Sybels an der Spitze der preußischen Staatsarchive, lobte im Vorwort dieser Publikation die wohlwollende Unterstützung durch die Wiener Archive, insbesondere auch durch Wetzer und sein 125 Gustav Berthold Volz/Georg Küntzel (Hrsg.), Preußische und österreichische Acten zur Vorgeschichte des Siebenjährigen Krieges (Publicationen aus den k. preußischen Staatsarchiven, 74), Berlin 1899 (ND Osnabrück 1965).

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Kriegsarchiv. So konnte sich der reichlich aufgewirbelte Archivstaub wieder legen – auch auf die Kabinettsordres Friedrichs des Großen. Anhang: Kabinettsordres, Billets etc. Friedrichs II. aus der Aktenbeute von 1760 im Wiener Kriegsarchiv Nr.

Signatur

Adressat

Datum

1. 2.

AFA CA 1742-V-4 AFA CA 1742-VI-4

30. 05. 1742 MKA 1881 20. 06. 1742 MKA 1881

3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

AFA CA 1742-VII-1 AFA CA 1742-VII-3 AFA CA 1742-VIII-3 AFA CA 1742-XI-1 AFA CA 1742-XI-2 AFA CA 1742-XI-3 AFA CA 1742-XI-4 und ad 4 AFA CA 1742-XI-5 AFA CA 1742-XI-6 AFA CA 1743-III-1 AFA CA 1743-III-2 AFA CA 1743-IV-2 AFA CA 1743-X-2 und ad 2 AFA CA 1743-XI-1

17. 18. 19.

AFA CA 1744-I-4 AFA CA 1744-I-5 AFA CA 1744-IX-1

20.

AFA CA 1744-XI-4

21.

AFA CA 1744-XI-ad 4

22.

AFA CA 1744-XI-5

23.

AFA CA 1744-XI-ad 5

24. 25.

AFA CA 1744-XII-1 AFA CA 1744-XII-2

26. 27. 28. 29. 30. 31.

AFA CA 1744-XII-ad 2 AFA CA 1744-XII-3 AFA CA 1744-XII-5 AFA CA 1745-I-2 AFA CA 1745-II-1 AFA CA 1745-II-3

An Major von Buntsch An Oberst von Borcke (Kommandant des Regiments Flanss) An General von Flanss An Flanss An Borcke An La Motte Fouqué An Borcke An La Motte Fouqué An Flanss (mit Beilage) An La Motte Fouqué (frz.) An Borcke An Borcke An Borcke An Borcke An Hauptmann Jacobi mit PS An General der Infanterie von Marwitz (Abschrift) An Generalmajor Gröben An ? (Abschrift) Dekret an den Kommandanten zu Glatz An Etatsminister von Münchow (Abschrift) An Etatsminister von Münchow (Abschrift) Offene Ordre an alle Regimenter in der Festung Glatz Offener Befehl an Geheimrat von Planitz (Abschrift) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (chiffriert mit interlinearer Auflösung in Bleistift) An La Motte Fouqué (Abschrift) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué

05. 07. 1742 20. 07. 1742 18. 08. 1742 12. 11. 1742 13. 11. 1742 13. 11. 1742 14. 11. 1742 17. 11. 1742 27. 11. 1742 27. 03. 1743 27. 03. 1743 25. 04. 1743 31. 10. 1743 05. 09. 1743

Druck

MKA 1881 MKA 1881

MKA 1881 MKA 1881

MKA 1881

28. 01. 1744 29. 01. 1744 12. 09. 1744 22. 11. 1744 25. 11. 1744 25. 11. 1744 25. 11. 1744 05. 12. 1744 MKA 1881 06. 12. 1744 MKA 1881 06. 12. 1744 18. 12. 1744 29. 12. 1744 15. 01. 1745 MKA 1881 11. 02. 1745 MKA 1881 24. 02. 1745

Fridericus Rex in Wien Nr. 32. 33. 34. 35. 36.

Signatur AFA CA 1745-III-1 AFA CA 1745-III-3 AFA CA 1745-III-2 AFA CA 1745-III-4 und ad 4 AFA CA 1745-III-5

37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48.

AFA CA 1745-IV-1 und ad 1 AFA CA 1745-IV-2 und ad 2 AFA CA 1745-IV-3 AFA CA 1745-IV-4 AFA CA 1745-IV-6 AFA CA 1745-IV-7 AFA CA 1745-IV-9 AFA CA 1745-IV-10 AFA CA 1745-IV-11 AFA CA 1745-V-1 AFA CA 1745-V-3 AFA CA 1745-VI-1 und ad 1

49. 50. 51. 52.

AFA CA 1745-VI-2 AFA CA 1745-VI-4 AFA CA 1745-VI-ad 4 AFA CA 1745-VI-5

53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72. 73.

AFA CA 1745-VI-6 AFA CA 1745-VI-8 AFA CA 1745-VI-9 AFA CA 1745-VI-10 AFA CA 1745-VI-11 AFA CA 1745-VII-2 AFA CA 1745-VII-3 AFA CA 1745-VII-4 AFA CA 1745-VII-5 AFA CA 1747-XI-1 AFA CA 1747-XII-1 AFA CA 1747-XII-2 AFA CA 1748-I-1 AFA CA 1748-II-1 AFA CA 1748-III-1 AFA CA 1748-III-2 AFA CA 1748-IV-1 AFA CA 1748-V-1 AFA CA 1748-VI-1 AFA CA 1748-VI-2 AFA CA 1748-VII-1

Adressat An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué mit PS An Generalleutnant Lehwaldt (Oberbefehlshaber in der Grafschaft Glatz) An La Motte Fouqué (mit Beilage) An La Motte Fouqué (mit Beilage) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (eh, frz.) An La Motte Fouqué (chiffriert, mit beiliegender Dechiffrierung) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (eh, frz.) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit eh frz. Zusatz) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit eh Zusatz) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (Abschrift) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué Dekret an La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué

515 Datum Druck 02. 03. 1745 MKA 1881 16. 03. 1745 14. 03. 1745 22. 03. 1745 MKA 1881 30. 03. 1745 02. 04. 1745 08. 04. 1745 10. 04. 1745 12. 04. 1745 19. 04. 1745 20. 04. 1745 MKA 1881 24. 04. 1745 25. 04. 1745 30. 04. 1745 05. 05. 1745 20. 05. 1745 MKA 1881 07. 06. 1745 08. 06. 1745 [Juni 1745] 11. 06. 1745 13. 06. 1745 19. 06. 1745 24. 06. 1745 25. 06. 1745 26. 06. 1745 30. 06. 1745 05. 07. 1745 MKA 1881 08. 07. 1745 MKA 1881 11. 07. 1745 11. 07. 1745 27. 11. 1747 07. 12. 1747 19. 12. 1747 04. 01. 1748 23. 02. 1748 12. 03. 1748 28. 03. 1748 15. 04. 1748 04. 05. 1748 07. 06. 1748 MKA 1881 12. 06. 1748 18. 07. 1748

516

Michael Hochedlinger

Nr. 74. 75.

Signatur AFA CA 1748-VII-2 AFA CA 1748-VIII-1 und ad 1

76. 77. 78. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98. 99. 100. 101. 102. 103.

AFA CA 1748-IX-1 AFA CA 1748-IX-2 AFA CA 1748-X-1 AFA CA 1748-X-2 AFA CA 1748-X-3 AFA CA 1748-X-4 AFA CA 1748-X-5 und ad 5 AFA CA 1748-X-6 AFA CA 1748-X-7 AFA CA 1748-X-8 AFA CA 1748-X-ad 8 AFA CA 1748-XI-1 AFA CA 1748-XI-2 AFA CA 1748 – 11-ad 2 AFA CA 1749-I-1 und ad 1 AFA CA 1749-I-2 AFA CA 1749-I-3 und ad 3 AFA CA 1749-II-1 und ad 1 AFA CA 1749-II-2 AFA CA 1749-II-ad 2 AFA CA 1749-III-1 AFA CA 1749-III-2 AFA CA 1749-IV-1 AFA CA 1749-IV-2 AFA CA 1749-IV-3 AFA CA 1749-V-1 AFA CA 1749-VI-1 AFA CA 1749-VI-2 und ad 2

104. 105. 106. 107. 108. 109. 110. 111. 112. 113. 114. 115.

AFA CA 1749-VIII-1 AFA CA 1749-IX-1 AFA CA 1749-IX-2 AFA CA 1749-IX-3 AFA CA 1749-X-1 AFA CA 1749-X-2 und ad 2 AFA CA 1749-X-3 AFA CA 1749-XII-1 und ad 1 AFA CA 1749-XII-2 AFA CA 1750-I-1 AFA CA 1750-I-2 AFA CA 1750-III-2

Adressat An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit Instruction vor die Generalmajors von der Infanterie, Abschrift) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit PS) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué PS an La Motte Fouqué PS an La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué PS an La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit Beilage) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit Beilage) An La Motte Fouqué (mit Beilage) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué Dekret an La Motte Fouqué mit den preußischen Kriegsartikeln samt Erläuterungen PS an La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué Reskript an La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit Beilage) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit Beilage) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An Oberst von der Goltz An La Motte Fouqué

Datum Druck 25. 07. 1748 14. 08. 1745 15. 09. 1748 26. 09. 1748 01. 10. 1748 01. 10. 1748 01. 10. 1748 06. 10. 1748 13. 10. 1748 25. 10. 1748 28. 10. 1748 31. 10. 1748 31. 10. 1748 11. 11. 1748 14. 11. 1748 25. 11. 1748 20. 01. 1749 21. 01. 1749 o. D. 05. 02. 1749 10. 02. 1749 20. 02. 1749 29. 03. 1749 31. 03. 1749 01. 04. 1749 03. 04. 1749 24. 04. 1749 29. 05. 1749 21. 06. 1749 21. 06. 1749 14. 08. 1749 08. 09. 1749 11. 09. 1749 30. 09. 1749 03. 10. 1749 06. 10. 1749 20. 10. 1749 10. 12. 1749 12. 12. 1749 23. 01. 1750 30. 01. 1750 23. 03. 1750

MKA 1881

MKA 1881

MKA 1881 MKA 1881

Fridericus Rex in Wien Nr. 116. 117. 118. 119. 120. 121. 122. 123. 124. 125. 126. 127. 128. 129. 130. 131. 132. 133. 134. 135. 136. 137. 138. 139. 140. 141. 142. 143. 144. 145. 146.

Signatur AFA CA 1750-IV-1 AFA CA 1750-VII-1 AFA CA 1750-VII-2 AFA CA 1750-VII-3 AFA CA 1750-VIII-1 AFA CA 1750-VIII-2 AFA CA 1750-IX-2 AFA CA 1750-IX-3 und ad 3 AFA CA 1750 IX-4 AFA CA 1750-X-1 AFA CA 1750-X-2 AFA CA 1750-XI-1 AFA CA 1750-XII-1 AFA CA 1751-I-1 AFA CA 1751-I-2 AFA CA 1751-I-3 AFA CA 1751-II-1 und ad 1 AFA CA 1751-III-1 AFA CA 1751-III-2 AFA CA 1751-IV-1 AFA CA 1751-IV-2 AFA CA 1751-V-1 AFA CA 1751-V-2 AFA CA 1751-V-3 AFA CA 1751-VII-1 AFA CA 1751-VIII-1 AFA CA 1751-IX-2 AFA CA 1751-XII-1 AFA CA 1751-XII-2 AFA CA 1751-XII-3 AFA CA 1751-XII-4 und 4a

147. AFA CA 1751-XII-4b und 4c

148. AFA CA 1752-II-1 149. AFA CA 1752-III-1 und ad 1 150. 151. 152. 153.

AFA CA 1752-III-2 AFA CA 1752-IV-1 AFA CA 1752-VII-1 AFA CA 1752-XII-1

Adressat An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit Beilage) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit Beilage) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué PS an La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (frz., Abschrift) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit der geheimen Instruktion für die Generalmajore der Kavallerie, 14. 08. 1748, Ausfertigung) An La Motte Fouqué (mit der Instruktion für die Generalmajore der Infanterie, 14. 08. 1748, Ausfertigung) An La Motte Fouqué An Oberstleutnant von der Goltz, Kommandant des Regiments La Motte Fouqué (mit Beilage) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué

517 Datum Druck 02. 04. 1750 02. 07. 1750 11. 07. 1750 20. 07. 1750 03. 08. 1750 25. 08. 1750 09. 09. 1750 MKA 1881 05. 09. 1750 26. 09. 1750 08. 10. 1750 13. 10. 1750 02. 11. 1750 08. 12. 1750 04. 01. 1751 11. 01. 1751 22. 01. 1751 15. 02. 1751 MKA 1881 15. 03. 1751 16. 03. 1751 08. 04. 1751 15. 04. 1751 02. 05. 1751 10. 05. 1751 31. 05. 1751 08. 07. 1751 06. 08. 1751 27. 09. 1751 04. 12. 1751 06. 12. 1751 19. 12. 1751 27. 12. 1751

14. 08. 1748

17. 02. 1752 09. 03. 1752 30. 03. 1752 03. 04. 1752 07. 07. 1752 13. 12. 1752

518

Michael Hochedlinger

Nr. 154. 155. 156. 157. 158. 159. 160. 161. 162. 163. 164. 165. 166. 167. 168. 169. 170. 171. 172. 173. 174. 175. 176. 177. 178. 179. 180. 181. 182. 183. 184. 185. 186. 187. 188.

Signatur AFA CA 1753-III-1 AFA CA 1753-IV-1 AFA CA 1753-IV-2 AFA CA 1753-IV-3 AFA CA 1753-V-1 AFA CA 1753-V-2 AFA CA 1753-V-3 AFA CA 1753-VIII-1 AFA CA 1754-IX-1 NLS 903/1 AFA CA 1755-X-1 AFA CA 1756-I-2 AFA CA 1756-III-4 AFA CA 1756-VI-2 AFA CA 1756-VI-3 und 3a AFA CA 1756-VIII-8 AFA CA 1756-VI-4 AFA CA 1756-VI-5 AFA CA 1756-VI-6 AFA CA 1756-VI-7 AFA CA 1756-VI-8 AFA CA 1756-VIII-9 AFA CA 1756-VII-2 AFA CA 1756-VII-3 AFA 1756-VIII-9 AFA 1756-VIII-10 AFA CA 1756-VII-4 AFA CA 1756-VIII-4 AFA CA 1756-VIII-5 AFA CA 1756-VIII-10 AFA CA 1756-VIII-6 AFA CA 1756-VIII-8 AFA CA 1756-VIII-7 AFA CA 1756-IX-35 AFA CA 1757-II-1

Adressat An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An Oberstleutnant von der Goltz An Oberst von der Goltz An La Motte Fouqué (Abschrift) An La Motte Fouqué An Oberst von der Goltz An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (frz.) An La Motte Fouqué (mit Beilage) An Oberst Schenkendorf An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An Schenkendorf An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An Schenkendorf An La Motte Fouqué An Oberst Schenkendorf An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (frz.)

Datum 29. 03. 1753 16. 04. 1753 16. 04. 1753 26. 04. 1753 06. 05. 1753 19. 05. 1753 31. 05. 1753 30. 08. 1753 26. 09. 1754 05. 10. 1754 24. 10. 1755 18. 01. 1756 11. 03. 1756 03. 06. 1756 13. 06. 1756 19. 06. 1756 25. 06. 1756 25. 06. 1756 25. 06. 1756 27. 06. 1756 27. 06. 1756 01. 07. 1756 04. 07. 1756 12. 07. 1756 18. 07. 1756 18. 07. 1756 23. 07. 1756 03. 08. 1756 12. 08. 1756 12. 08. 1756 14. 08. 1756 19. 06. 1756 26. 08. 1756 03. 09. 1756 04. 02. 1757

189. 190. 191. 192. 193. 194. 195. 196. 197.

AFA CA 1757-II-2 und ad 2 AFA CA 1757-II-3 AFA CA 1757-II-5 AFA CA 1757-III-1 AFA 1757-XIII-633 AFA 1757-XIII-634 AFA 1757-XIII-635 AFA 1757-XIII-636 AFA 1757-XIII-659

PS an La Motte Fouqué mit Beilage An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (frz.) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An Ziethen (Abschrift)

04. 02. 1757 10. 02. 1757 19. 02. 1757 21. 03. 1757 27. 05. 1757 28. 05. 1757 31. 05. 1757 08. 06. 1757 28. 12. 1757

Druck MKA 1881

MKA 1881

MKA 1881 MKA 1881 MKA 1881

MKA 1881

MKA 1881 MKA 1881 PC 14

Fridericus Rex in Wien Nr. Signatur 198. AFA CA 1757-VI-44 199. 200. 201. 202. 203. 204.

AFA CA 1757-VII-3 AFA CA 1757-VII-4 AFA CA 1757-VII-8 AFA CA 1757-XII-12 AFA CA 1757-XII-13 AFA CA 1758-II-2

205. 206. 207. 208. 209. 210. 211. 212.

AFA CA 1758-II-3 und ad 3 AFA CA 1758-III-5 AFA CA 1758-IV-1 AFA CA 1758-IV-6 AFA CA 1758-IV-8 AFA CA 1758-IV-9 AFA CA 1758-IV-10 AFA CA 1758-IV-11

213. AFA CA 1758-IV-14 214. AFA CA 1758-IX-17 215. AFA CA 1758-X-10 216. AFA CA 1758-XII-9 217. AFA CA 1759-I-1 218. AFA 1759-XII-486 219. 220. 221. 222. 223. 224. 225. 226. 227. 228. 229. 230. 231. 232. 233. 234. 235.

AFA CA 1759-I-2 AFA CA 1759-I-3 AFA CA 1759-I-ad 3 AFA CA 1759-I-4 AFA CA 1759-I-5 AFA CA 1759-I-7 AFA CA 1759-I-9 AFA CA 1759-I-ad 9 AFA CA 1759-II-2 AFA CA 1759-II-3 AFA CA 1759-II-6 AFA CA 1759-II-ad 6 AFA CA 1759-II-7 AFA CA 1759-II-8 AFA CA 1759-II-9 AFA CA 1759-II-10 AFA CA 1759-II-11

Adressat An Oberst von Quadt und den Platzkommandanten von Glatz d’O An d’O (frz.) An d’O An d’O An d’O (teilweise eh) An d’O (frz., teilweise eh) An Fürstbischof von Breslau (Abschrift) An La Motte Fouqué (mit Beilage) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (eh, frz.) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué Instruction pour le général Fouquet (frz., eh?) An La Motte Fouqué (teilweise chiffriert, eh NT) An die regierende Herzogin von Sachsen-Gotha (Abschrift) An die Prinzessin von Ansbach (Abschrift) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An Generalmajor von Bredow (Abschrift) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An d’O An d’O (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué An d’O An La Motte Fouqué An d’O An La Motte Fouqué An d’O An d’O (frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An d’O (frz.)

519 Datum Druck 28. 06. 1757 MKA 1881 04. 07. 1757 05. 07. 1757 11. 07. 1757 29. 12. 1757 MKA 1881 30. 12. 1757 MKA 1881 15. 02. 1758 20. 02. 1758 21. 03. 1758 05. 04. 1758 18. 04. 1758 22. 04. 1758 22. 04. 1758 23. 04. 1758 24. 04. 1758

MKA 1881

MKA 1881 MKA 1881 MKA 1881 MKA 1881 PC 16 28. 04. 1758 MKA 1881 19. 09. 1758 16. 10. 1758 22. 12. 1758 MKA 1881 01. 01. 1759 01. 01. 1759 06. 01. 1759 08. 01. 1759 08. 01. 1759 09. 01. 1759 12. 01. 1759 25. 01. 1759 PC 18 30. 01. 1759 30. 01. 1759 15. 02. 1759 16. 02. 1759 21. 02. 1759 MKA 1882 21. 02. 1759 21. 02. 1759 23. 02. 1759 24. 02. 1759 26. 02. 1759 28. 02. 1759

520

Michael Hochedlinger

Nr. Signatur 236. AFA CA 1759-III-1 237. 238. 239. 240. 241. 242. 243. 244. 245. 246. 247. 248. 249. 250. 251. 252. 253. 254. 255.

256. 257. 258. 259. 260. 261. 262. 263. 264. 265. 266. 267. 268. 269. 270. 271.

Adressat An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An d’O (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué An d’O (frz.) An La Motte Fouqué An d’O An d’O (frz.) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT)

Datum Druck 01. 03. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-III-2 04. 03. 1759 AFA CA 1759-III-3 05. 03. 1759 AFA CA 1759-III-4 05. 03. 1759 AFA CA 1759-III-5 06. 03. 1759 AFA CA 1759-III-6 08. 03. 1759 AFA CA 1759-III-7 11. 03. 1759 AFA CA 1759-III-8 12. 03. 1759 AFA CA 1759-III-9 13. 03. 1759 AFA CA 1759-III-10 14. 03. 1759 AFA CA 1759-III-11 15. 03. 1759 AFA CA 1759-III-12 16. 03. 1759 AFA CA 1759-III-13 17. 03. 1759 AFA CA 1759-III-14 18. 03. 1759 AFA CA 1759-III-15 19. 03. 1759 AFA CA 1759-III-16 20. 03. 1759 AFA CA 1759-III-17 21. 03. 1759 PC 18 AFA CA 1759-III-18 23. 03. 1759 PC 18 AFA CA 1759-III-19 24. 03. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-III-20 und ad 20 An La Motte Fouqué (mit Instruktion 24. 03. 1759 für die preußischen Generalmajore der Kavallerie, Abschrift mit Unterschrift des Königs) AFA CA 1759-III-21 An d’O 24. 03. 1759 PC 18 AFA CA 1759-III-22 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) 26. 03. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-III-23 An d’O (frz.) 26. 03. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-III-24 An d’O (frz.) 26. 03. 1759 AFA CA 1759-III-25 An d’O (frz.) 29. 03. 1759 AFA CA 1759-III-26 An La Motte Fouqué 30. 03. 1759 PC 18 AFA CA 1759-III-28 An d’O (frz.) 31. 03. 1759 PC 18 AFA CA 1759-IV-2 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) 01. 04. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-3 An d’O (frz.) 02. 04. 1759 PC 18 AFA CA 1759-IV-5 An La Motte Fouqué (eh., frz.) 03. 04. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-6 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 03. 04. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-7 An d’O (frz.) 03. 04. 1759 AFA CA 1759-IV-8 An d’O (frz.) 04. 04. 1759 PC 18 AFA CA 1759-IV-10 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 06. 04. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-11 An d’O (frz.) 06. 04. 1759 PC 18 AFA CA 1759-IV-12 und ad 12 An d’O (frz., mit Beilage) 06. 04. 1759

Fridericus Rex in Wien Nr. 272. 273. 274. 275. 276. 277. 278. 279. 280. 281. 282. 283. 284. 285. 286. 287. 288. 289. 290. 291. 292. 293. 294. 295. 296. 297. 298. 299. 300. 301. 302. 303. 304. 305. 306. 307. 308.

Signatur AFA CA 1759-IV-14 AFA CA 1759-IV-16 AFA CA 1759-IV-17 und ad 17 AFA CA 1759-IV-18 AFA CA 1759-IV-19 AFA CA 1759-IV-20

Adressat An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An La Motte Fouqué (mit Beilage) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (eh, frz.)

521 Datum 07. 04. 1759 08. 04. 1759 08. 04. 1759 08. 04. 1759 09. 04. 1759 10. 04. 1759

Druck PC 18 PC 18

PC 18 PC 18 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-21 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) 11. 04. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-ad 21 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 11. 04. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-22 An d’O (frz.) 11. 04. 1759 AFA CA 1759-IV-24 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 12. 04. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-25 An d’O (frz.) 13. 04. 1759 AFA CA 1759-IV-26 An d’O (frz.) 14. 04. 1759 AFA CA 1759-IV-27 An d’O (frz.) 15. 04. 1759 PC 18 AFA CA 1759-IV-28 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 16. 04. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-29 An d’O (frz.) 16. 04. 1759 AFA CA 1759-IV-30 An d’O (frz.) 18. 04. 1759 AFA CA 1759-IV-31 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) 20. 04. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-32 und ad 32 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT, 20. 04. 1759 MKA 1882 Beilage) PC 18 AFA CA 1759-IV-33 und ad 33 An d’O (frz., Beilage) 21. 04. 1759 PC 18 AFA CA 1759-IV-35 An La Motte Fouqué 22. 04. 1759 AFA CA 1759-IV-36 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 22. 04. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-37 An La Motte Fouqué 23. 04. 1759 PC 18 AFA CA 1759-IV-38 An d’O (frz.) 23. 04. 1759 PC 18 AFA CA 1759-IV-39 An d’O (frz.) 25. 04. 1759 AFA CA 1759-IV-41 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 25. 04. 1759 PC 18 AFA CA 1759-IV-42 An La Motte Fouqué 26. 04. 1759 PC 18 AFA CA 1759-IV-43 An d’O (chiffriert) 27. 04. 1759 AFA CA 1759-IV-43a und 43b An d’O (teilweise chiffriert, Dechif- 04.1759 frierung) AFA CA 1759-IV-44 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) 28. 04. 1759 MKA 1882 PC 18 AFA CA 1759-IV-45 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 29. 04. 1759 PC 18 AFA CA 1759-IV-46 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 29. 04. 1759 PC 18 AFA CA 1759-V-1 An d’O (frz., mit eh Zusatz) 03. 05. 1759 PC 18 AFA CA 1759-V-2 An d’O (frz.) 04. 05. 1759 AFA CA 1759-V-4 An d’O (frz.) 05. 05. 1759 AFA CA 1759-V-5 An d’O (frz.) 05. 05. 1759 AFA CA 1759-V-6 An d’O (frz.) 06. 05. 1759 PC 18 AFA CA 1759-V-8 An d’O (frz., mit eh NT) 07. 05. 1759

522 Nr. 309. 310. 311. 312. 313. 314. 315. 316. 317. 318. 319. 320. 321. 322. 323. 324. 325. 326.

Michael Hochedlinger Signatur AFA CA 1759-V-9 AFA CA 1759-V-10 AFA CA 1759-V-11 AFA CA 1759-V-12 AFA CA 1759-V-14 und ad 14 AFA CA 1759-V-16 AFA CA 1759-V-18 AFA CA 1759-V-22 AFA CA 1759-V-24 AFA CA 1759-V-27 AFA CA 1759-V-30 AFA CA 1759-V-31 AFA CA 1759-V-34 AFA CA 1759-V-37 AFA CA 1759-V-38 AFA CA 1759-VI-2 AFA CA 1759-VI-3 AFA CA 1759-VI-4

Adressat An d’O (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz., Beilage) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz., mit eh NT) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT)

327. AFA CA 1759-VI-6 328. AFA CA 1759-VI-7

An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT) 329. AFA CA 1759-VI-8 An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT) 330. AFA CA 1759-VI-9 An d’O (frz., mit eh NT) 331. AFA CA 1759-VI-11 An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT 332. AFA CA 1759-VI-12 An d’O (frz.) 333. AFA CA 1759-VI-14 und ad 14 An La Motte Fouqué (eh, frz., Beilage) 334. AFA CA 1759-VI-15 An d’O (frz.) 335. AFA CA 1759-VI-16 und ad 16 An La Motte Fouqué (eh, frz., Beilage) 336. AFA CA 1759-VI-17 und ad 17 An d’O (frz., Beilage) 337. AFA CA 1759-VI-18 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 338. AFA CA 1759-VI-19 An d’O (frz.) 339. AFA CA 1759-VI-20 An La Motte Fouqué (frz.) 340. AFA CA 1759-VI-21 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 341. AFA CA 1759-VI-22 An d’O (frz., mit eh NT) 342. AFA CA 1759-VI-23 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 343. 344. 345. 346. 347. 348.

AFA CA 1759-VI-24 AFA CA 1759-VI-25 AFA CA 1759-VI-27 Memoires II/19 AFA CA 1759-VI-30 AFA CA 1759-VI-32

An d’O (frz., mit eh NT) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An La Motte Fouqué (frz.) An La Motte Fouqué (Abschrift) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An La Motte Fouqué (eh, frz.)

Datum 08. 05. 1759 09. 05. 1759 10. 05. 1759 11. 05. 1759 12. 05. 1759 14. 05. 1759 15. 05. 1759 18. 05. 1759 19. 05. 1759 22. 05. 1759 26. 05. 1759 27. 05. 1759 29. 05. 1759 31. 05. 1759 31. 05. 1759 03. 06. 1759 03. 06. 1759 04. 06. 1759

Druck

PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18

PC 18 MKA 1882 PC 18

04. 06. 1759 05. 06. 1759 PC 18 05. 06. 1759 MKA 1882 PC 18 05. 06. 1759 PC 18 06. 06. 1759 PC 18 07. 06. 1759 PC 18 09. 06. 1759 PC 18 09. 06. 1759 10. 06. 1759 PC 18 10. 06. 1759 12. 06. 1759 12. 06. 1759 14. 06. 1759 14. 06. 1759 14. 06. 1759 15. 06. 1759

PC 18

PC 18 PC 18 PC 18 MKA 1882 PC 18 16. 06. 1759 PC 18 17. 06. 1759 PC 18 20. 06. 1759 21. 06. 1759 22. 06. 1759 PC 18 24. 06. 1759 PC 18

Fridericus Rex in Wien Nr. Signatur 349. AFA CA 1759-VI-33 350. AFA CA 1759-VI-34 351. AFA CA 1759-VI-35 352. 353. 354. 355. 356.

AFA CA 1759-VI-39 AFA CA 1759-VI-40 AFA 1759-VI-335 und 335a AFA CA 1759-VI-41 AFA CA 1759-VII-1

357. 358. 359. 360. 361. 362. 363.

AFA CA 1759-VII-2 AFA CA 1759-VII-3 AFA CA 1759-VII-4 AFA CA 1759-VII-5 AFA CA 1759-VII-7 AFA CA 1759-VII-8 AFA CA 1759-VII-9

364. 365. 366. 367. 368.

AFA CA 1759-VII-10 AFA CA 1759-VII-11 AFA CA 1759-VII-14 AFA CA 1759-VII-15 AFA CA 1759-VII-16

369. 370. 371. 372. 373. 374. 375. 376. 377. 378. 379. 380. 381.

AFA CA 1759-VII-17 AFA CA 1759-VII-20 AFA CA 1759-VII-21 AFA CA 1759-VII-22 AFA CA 1759-VII-23 AFA CA 1759-VII-24 AFA CA 1759-VII-25 AFA CA 1759-VII-26 AFA CA 1759-VII-27 AFA CA 1759-VII-28 AFA CA 1759-VII-29 AFA CA 1759-VII-30 AFA CA 1759-VII-31

382. 383. 384. 385. 386. 397. 388.

AFA CA 1759-VII-34 AFA CA 1759-VII-35 AFA CA 1759-VII-36 AFA CA 1759-VII-37 AFA 1759-VII-285 AFA CA 1759-VII-40 AFA CA 1759-VII-41

Adressat An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT) An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (frz., Beilage) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT) An La Motte Fouqué (frz.) An La Motte Fouqué (frz.) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (frz.) An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) An La Motte Fouqué (frz.) An d’O (frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (eh, frz.) An La Motte Fouqué (frz.) An La Motte Fouqué (frz.) An La Motte Fouqué (frz., eh NT) An La Motte Fouqué (frz.)

523 Datum Druck 24. 06. 1759 PC 18 25. 06. 1759 PC 18 25. 06. 1759 PC 18 27. 06. 1759 28. 06. 1759 29. 06. 1759 30. 06. 1759 01. 07. 1759

PC 18 PC 18

PC 18 MKA 1882 PC 18 01. 07. 1759 PC 18 01. 07. 1759 02. 07. 1759 PC 18 02. 07. 1759 03. 07. 1759 PC 18 04. 07. 1759 PC 18 04. 07. 1759 PC 18 04. 07. 1759 05. 07. 1759 07. 07. 1759 PC 18 07. 07. 1759 08. 07. 1759 08. 07. 1759 09. 07. 1759 10. 07. 1759 10. 07. 1759 11. 07. 1759 11. 07. 1759 13. 07. 1759 14. 07. 1759 14. 07. 1759 14. 07. 1759 14. 07. 1759 16. 07. 1759 17. 07. 1759 18. 07. 1759 19. 07. 1759 20. 07. 1759 20. 07. 1759 22. 07. 1759 22. 07. 1759 23. 07. 1759

PC 18 PC 18 PC 18 PC 18

PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18

524 Nr. 389. 390. 391. 392. 393. 394. 395. 396. 397. 398. 399. 400. 401. 402. 403. 404. 405. 406. 407. 408. 409. 410. 411. 412. 413. 414. 415. 416. 417. 418. 419. 420. 421. 422. 423. 424. 425. 426. 427. 428. 429. 430.

Michael Hochedlinger Signatur AFA CA 1759-VII-44 AFA CA 1759-VII-45 AFA CA 1759-VII-46 AFA CA 1759-VII-47 AFA CA 1759-VII-48

Adressat An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (frz.) An La Motte Fouqué (frz.) An La Motte Fouqué (frz., teilweise chiffriert, Dechiffrierung beigeheftet) AFA CA 1759-VII-50 An La Motte Fouqué (chiffriert) AFA CA 1759-VII-52 An La Motte Fouqué AFA CA 1759-VII-53 An La Motte Fouqué AFA CA 1759-IX-24a und 24 b An La Motte Fouqué (chiffriert, mit Dechiffrierung) AFA 1759-IX-299 An La Motte Fouqué (eh, frz.) AFA CA 1759-IX-28 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) AFA 1759-IX-345 An La Motte Fouqué (mit eh frz. Zusatz) AFA 1759-IX-357 An La Motte Fouqué (eh, frz.) AFA CA 1759-IX-30 An La Motte Fouqué AFA CA 1759-IX-32 An La Motte Fouqué AFA CA 1759-IX-33 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) AFA CA 1759-IX-34 An La Motte Fouqué (eh, frz.) AFA CA 1759-X-2 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) AFA CA 1759-X-3 An La Motte Fouqué (eh, frz.) AFA CA 1759-X-5 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) AFA CA 1759-X-7 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) AFA CA 1759-X-10 An La Motte Fouqué (eh, frz.) AFA CA 1759-X-12 An La Motte Fouqué (eh, frz.) AFA CA 1759-X-14 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) AFA CA 1759-X-16 An La Motte Fouqué AFA CA 1759-X-17 An La Motte Fouqué AFA CA 1759-X-20 An La Motte Fouqué (frz.) AFA CA 1759-X-21 An La Motte Fouqué (frz.) [nicht bekannt] An La Motte Fouqué (frz.) AFA CA 1759-X-28 An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT) AFA CA 1759-X-33 An La Motte Fouqué AFA CA 1759-X-35 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) AFA CA 1759-X-38 An La Motte Fouqué (frz.) AFA CA 1759-X-41 An La Motte Fouqué (frz.) AFA CA 1759-X-44 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) AFA CA 1759-X-45 An La Motte Fouqué (eh, frz.) AFA CA 1759-XI-4 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) AFA CA 1759-XI-8 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) AFA CA 1759-XI-16 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) AFA 1759-XII-357 PS an Oberst Dingelstadt (Abschrift) AFA CA 1760-I-3 An d’O (frz.) AFA CA 1760-I-4 An La Motte Fouqué

Datum 24. 07. 1759 24. 07. 1759 24. 07. 1759 25. 07. 1759 26. 07. 1759

Druck PC 18 PC 18 PC 18 PC 18

27. 07. 1759 29. 07. 1759 PC 18 29. 07. 1759 19. 09. 1759 20. 09. 1759 PC 18 23. 09. 1759 PC 18 25. 09. 1759 PC 18 26. 09. 1759 26. 09. 1759 28. 09. 1759 28. 09. 1759 30. 09. 1759 01. 10. 1759 01. 10. 1759 03. 10. 1759 04. 10. 1759 05. 10. 1759 06. 10. 1759 07. 10. 1759 08. 10. 1759 08. 10. 1759 09. 10. 1759 10. 10. 1759 17. 10. 1759 19. 10. 1759 22. 10. 1759 24. 10. 1759 26. 10. 1759 28. 10. 1759 31. 10. 1759 31. 10. 1759 03. 11. 1759 07. 11. 1759 12. 11. 1759 31. 12. 1759 06. 01. 1760 07. 01. 1760

PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18

PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18

PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18 PC 18

PC 19

Fridericus Rex in Wien Nr. Signatur 431. AFA CA 1760-I-5 432. AFA CA 1760-I-7 433. 434. 435. 436. 437. 438. 439. 440. 441. 442. 443.

AFA CA 1760-I-9 AFA CA 1760-I-11 AFA CA 1760-I-14 AFA CA 1760-I-17 AFA CA 1760-I-18 AFA CA 1760-I-19 AFA CA 1760-I-21 AFA CA 1760-II-2 AFA CA 1760-II-3 AFA CA 1760-II-6 AFA CA 1760-II-7

Adressat An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (eh, frz.)

An La Motte Fouqué An d’O (frz.) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (frz.) An d’O (frz.) An La Motte Fouqué (frz.) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (frz., mit eh NT) 444. AFA CA 1760-II-9 An La Motte Fouqué 445. AFA CA 1760-II-10 An La Motte Fouqué 446. AFA CA 1760-II-13 An La Motte Fouqué 447. AFA CA 1760-II-14 An La Motte Fouqué 448. AFA CA 1760-II-15 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) 449. AFA CA 1760-II-16 und 16a-c An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT, Beilagen) 450. AFA CA 1760-II-17 An La Motte Fouqué 451. AFA CA 1760-II-19 An La Motte Fouqué 452. AFA CA 1760-II-24 An La Motte Fouqué 453. AFA CA 1760-II-26 und ad 26 An La Motte Fouqué (mit Beilage) 454. AFA CA 1760-II-28 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) 455. AFA CA 1760-II-29 An La Motte Fouqué (eh, frz.) 456. AFA CA 1760-II-30 An La Motte Fouqué 457. AFA CA 1760-III-2 An La Motte Fouqué 458. AFA CA 1760-III-3 An La Motte Fouqué 459. AFA CA 1760-III-11 An La Motte Fouqué 460. AFA CA 1760-III-12 An La Motte Fouqué 461. AFA CA 1760-III-13 und 13a-b PS an La Motte Fouqué (mit eh frz. NT, Beilagen) 462. AFA CA 1760-III-17 An La Motte Fouqué 463. AFA CA 1760-III-18 An La Motte Fouqué 464. AFA CA 1760-III-19 An La Motte Fouqué 465. AFA CA 1760-III-21 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) 466. AFA CA 1760-III-22 und ad 22 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT, Beilage) 467. AFA CA 1760-III-23 An La Motte Fouqué 468. AFA CA 1760-IV-3 und 3a-c An La Motte Fouqué 469. AFA CA 1760-IV-5 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) 470. AFA CA 1760-IV-7 An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) 471. AFA CA 1760-IV-8 An La Motte Fouqué

525 Datum Druck 08. 01. 1760 11. 01. 1760 MKA 1882 PC 19 13. 01. 1760 PC 19 16. 01. 1760 18. 01. 1760 PC 19 22. 01. 1760 PC 19 25. 01. 1760 PC 19 26. 01. 1760 PC 19 28. 01. 1760 01. 02. 1760 PC 19 02. 02. 1760 07. 02. 1760 08. 02. 1760 PC 19 09. 02. 1760 PC 19 09. 02. 1760 10. 02. 1760 11. 02. 1760 PC 19 11. 02. 1760 PC 19 12. 02. 1760 13. 02. 1760 14. 02. 1760 20. 02. 1760 21. 02. 1760 25. 02. 1760 25. 02. 1760 27. 02. 1760 01. 03. 1760 02. 03. 1760 10. 03. 1760 13. 03. 1760 13. 03. 1760

PC 19 PC 19 PC 19 PC 19

PC 19

17. 03. 1760 PC 19 23. 03. 1760 24. 03. 1760 26. 03. 1760 27. 03. 1760 28. 03. 1760 04. 04. 1760 05. 04. 1760 07. 04. 1760 08. 04. 1760

PC 19 PC 19 PC 19 PC 19 PC 19

526 Nr. 472. 473. 474. 475.

Michael Hochedlinger Signatur AFA CA 1760-IV-10 AFA CA 1760-IV-12 AFA CA 1760-IV-13 AFA CA 1760-XIII-21b, 22 und 22a

476. AFA CA 1760-IV-14 477. AFA CA 1760-IV-16 478. AFA CA 1760-IV-17 479. AFA CA 1760-IV-27 480. AFA CA 1760-XIII-22c 481. AFA CA 1760-V-9 und ad 9 482. AFA CA 1760-V-11 483. AFA CA 1760-XIII-22d 484. AFA CA 1760-V-21 und ad 21 485. AFA CA 1760-V-ad 28 486. AFA CA 1760-V-ad 31 487. AFA CA 1760-XIII-22e 488. AFA CA 1760-XIII-22 f 489. AFA CA 1760-XIII-22 g

Adressat An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) An La Motte Fouqué (frz., Abschrift) mit „Idées sur les projets de l’ennemi et sur nos opérations“ An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (eh, frz.), Abschrift unter AFA CA 1760-XIII-22b An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT) An La Motto Fouqué (Abschrift) An La Motte Fouqué (mit eh frz. NT und Beilage) An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué An La Motte Fouqué (teilweise chiffriert, mit eh NT, Beilage) An Prinz Heinrich von Preußen (frz., Abschrift) An Prinz Heinrich von Preußen (frz., Abschrift) An La Motte Fouqué (Abschrift) An La Motte Fouqué (Abschrift) An La Motte Fouqué (Abschrift)

Datum 11. 04. 1760 14. 04. 1760 15. 04. 1760 15. 04. 1760

Druck PC 19 PC 19 PC 19

17. 04. 1760 PC 19 21. 04. 1760 21. 04. 1760 PC 19 30. 04. 1760 PC 19 13. 05. 1760 14. 05. 1760 16. 05. 1760 18. 05. 1760 PC 19 21. 05. 1760 28. 05. 1760 29. 05. 1760 PC 19 04. 06. 1760 PC 19 07. 06. 1760 PC 19 10. 06. 1760 PC 19

NT = Nachtrag; eh = eigenhändig; PS = Postscriptum; frz. = französisch. MKA = Mittheilungen des k. k. Kriegsarchivs PC = Politische Correspondenz Friedrichs des Großen Wenn nicht anders angegeben, handelt es sich um „behändigte Ausfertigungen“.

Geschichtsverein und Historische Kommission, Archivinventarisation und Landesgeschichtsforschung: die Metamorphose des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg um 1900 Eine kommentierte Quellenedition Von Klaus Neitmann, Potsdam Der Verein für Geschichte der Mark Brandenburg1 wurde 1837 auf Grund der Initiative des Historikers und Archivars Adolf Friedrich Riedel als erster Geschichtsverein der 1815 geschaffenen Provinz Brandenburg in Berlin gegründet. Er erlebte in dem ersten Jahrzehnt seiner Tätigkeit bis zur Revolution von 1848 einen eindrucksvollen Aufstieg: Er vereinigte die brandenburgischen Landeshistoriker zum ersten Mal in einer eigenen Organisation und bot ihnen damit die Gelegenheit zur Vorstellung und Diskussion ihrer Untersuchungen, er stellte ein umfangreiches Arbeitsprogramm zur gezielten Förderung der Forschung auf, und er gab zur Veröffentlichung von deren Erträgen eine Zeitschrift, die „Märkischen Forschungen“, heraus. Er erfreute sich dabei der Unterstützung eines Kuratoriums, dem mehrere preußische Staatsminister angehörten und das seine Anstrengungen ideell und materiell unterstützte. Freilich stellte sich schon bald heraus, dass die großzügigen Perspektiven der Landesgeschichtsschreibung, wie sie Georg Wilhelm von Raumer 1832 in einem Aufsatz „Vorschlag zur Beförderung des Brandenburgischen Geschichtsstudiums“ entwickelt hatte, nicht durch eine entsprechende Wirksamkeit mit Leben gefüllt werden konnten. Anspruchsvolle Gemeinschaftsvorhaben auf den verschiedenen landesge1 Johannes Schultze, Der Verein für Geschichte der Mark Brandenburg. Ein Rückblick, in: FBPG 35 (1923), 1 – 20; Klaus Neitmann, Geschichtsvereine und Historische Kommissionen als Organisationsformen der Landesgeschichtsforschung, dargestellt am Beispiel der preußischen Provinz Brandenburg, in: Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Wolfgang Neugebauer (FBPG N. F., Beiheft 8), Berlin 2006, 115 – 181, bes. 117 – 129; ders., Adolph Friedrich Riedel, der Codex diplomaticus Brandenburgensis und der Verein für Geschichte der Mark Brandenburg. Aufgabenstellungen, Organisationsformen und Antriebskräfte der brandenburgischen Landesgeschichtsforschung 1830 bis 1848, in: Krise, Reformen – und Kultur. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, hrsg. v. Bärbel Holtz (FBPG N. F., Beiheft 11), 249 – 298; die folgenden Ausführungen beruhen auf diesen beiden Aufsätzen. – Da der Verfasser eine größere Studie zum Verein für Geschichte der Mark Brandenburg vorbereitet, werden hier die Quellen- und Literaturnachweise auf das notwendige Minimum beschränkt.

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schichtlichen Zweigen, wie sie Raumer vorgeschwebt hatten, wurden nicht in Angriff genommen, weil dafür die personellen und finanziellen Voraussetzungen fehlten: Einzelne Mitglieder konnten sich wegen ihrer beruflichen Anforderungen nicht allein auf sie konzentrieren, und die Anstellung einer wissenschaftlichen Kraft lag wegen des allzu schmalen Vereinsvermögens jenseits der Vorstellungskraft. So musste Generalsekretär Riedel bereits 1842 bemerken, dass „die bisherige Wirksamkeit des Vereins für vaterländische Geschichte […] nicht sowohl in der Ausführung gemeinschaftlicher Unternehmungen, als vielmehr hauptsächlich in der ermunternden Anregung zu Forschungen und Aufklärungen über Gegenstände der vaterländischen Geschichte, welche den einzelnen Mitgliedern durch das lebhafte Interesse der Gesamtheit an solchen Abhandlungen geboten wurden, [bestand]“2. Der Verein wirkte in erster Linie dadurch, dass die ihm angehörenden Wissenschaftler auf seinen regelmäßigen monatlichen Versammlungen über ihre nach ihren individuellen Neigungen verfolgten Untersuchungen berichteten und deren Ergebnisse schließlich in der Zeitschrift publizierten. Zur Unterstützung ihrer Bemühungen wurde eine eigene Bibliothek mit allmählich wachsendem Umfang eingerichtet. Die Revolution von 1848 drohte den Verein in seiner Existenz zu gefährden, da die politischen Turbulenzen die Mitgliedschaft zerstreuten und merklich zusammenschmelzen ließen. Der verbliebene Stamm entschloss sich aber allen Zweifeln zum Trotz zur Weiterführung der Aufgabe, auch wenn die Umstände ihm dabei nicht gerade entgegenkamen. Denn die schmale staatliche Förderung, die sich nach Auflösung des Kuratoriums auf die Vollendung von Riedels „Codex diplomaticus Brandenburgensis“ konzentrierte, und die geringen eigenen, aus Mitgliedsbeiträgen gespeisten Gelder verhinderten jegliche größere Unternehmung, und selbst die Weiterführung der Zeitschrift gelang nur sehr unvollkommen, indem ihre regelmäßige Herausgabe über etliche Jahre hinweg nicht mehr gesichert werden konnte. Eine gewisse Verbesserung trat erst 1877 ein, als der 1875 neu geschaffene Brandenburgische Provinzialverband, dem durch die sog. Dotationsgesetze die landschaftliche Kulturpflege übertragen worden war3, sich auf Antrag dazu verstand, 1.000 Mark für die Publikation des anstehenden Bandes der „Märkischen Forschungen“ zu bewilligen, und er gewährleistete in der Folgezeit ihr regelmäßiges Erscheinen durch ihre kontinuierliche Subventionierung. Neuen Schwung in Leben und Aktivitäten des Vereins brachte seit den 1880er Jahren der an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufene Nationalökonom Gustav Schmoller, einer der Hauptvertreter der Historischen Schule der Nationalökonomie, der sich die umfassende Erforschung der inneren Verhältnisse des brandenburg-preußischen Staates auf seine Fahnen geschrieben hatte. Mit tatkräftiger 2

Zitiert nach K. Neitmann, Adolph Friedrich Riedel (Anm. 1), 282. Vgl. Klaus Neitmann, Die Kulturverwaltung und Kulturpolitik der Provinz Brandenburg und die Begründung der brandenburgischen Provinzialarchäologie, in: Miscellanea Archaeologica III. Berlin und Brandenburg. Geschichte der archäologischen Forschung, hrsg. v. Jörg Haspel/Wilfried Menghin (Beiträge zur Denkmalpflege in Berlin, 22), Petersberg 2006, 179 – 189, hier 179 f. 3

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Unterstützung Friedrich Althoffs im Preußischen Kultusministerium baute er in Berlin geradezu ein Wissenschaftsimperium auf, dessen Mittelpunkt in der bei der Preußischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten, vom Ministerium großzügig finanzierten monumentalen Quellenedition „Acta Borussica. Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert“ lag. Von diesem Zentrum aus zog Schmoller weitere Kräfte, Gesellschaften und Personen in seinen Bann zur Ausweitung der von ihm ausgehenden wissenschaftlichen Bestrebungen, und dazu gehörte auch der Verein für Geschichte der Mark Brandenburg. Für ihn erreichte er einen ersten Erfolg dadurch, dass er dessen Zeitschrift auf eine neue finanzielle und inhaltliche Grundlage stellte. Die bisherige Folge der „Märkischen Forschungen“ wurde mit dem 20. Band 1887 abgeschlossen, und aus der Fusion mit der ebenfalls damals eingestellten „Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde“ erwuchsen 1888 die „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte (FBPG)“. Der Titel deutete die neue Richtung an: Die bisherige Konzentration auf die brandenburgische Landesgeschichte wurde erweitert um die (gesamt)preußische Geschichte, und unter dieser Voraussetzung erreichte Schmoller eine zusätzliche Bezuschussung durch das Kultusministerium. 1897 wurde die Finanzierung in der Weise umgestellt, dass der jährlich in zwei Heften erscheinenden Zeitschrift fortan Mittel der Acta Borussica zuflossen und sie „als eine Art von Hülfsorgan“ der Acta kleinere Aufsätze und Quelleneditionen von deren Mitarbeitern zur Entlastung und Ergänzung ihrer dickleibigen Bände aufnahm4. Die solide Finanzierung, der feste Stamm wissenschaftlicher Autoren sowie die Breite und Qualität der Forschungsarbeit und -berichterstattung bewirkten, dass die FBPG schnell in den Kreis der führenden geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften des Deutschen Reiches aufstieg. Schmollers Vorstellungen zur Ausweitung der landeshistorischen Wirksamkeit des Vereins reichten aber noch viel weiter; dazu unternahm er mit seinen Helfern im Jahr 1898 den entscheidenden, von (begrenztem) Erfolg gekrönten Vorstoß, der im Mittelpunkt dieser Betrachtungen steht, „um, längst gehegten Wünschen entsprechend, den Verein auf eine breitere Basis wissenschaftlicher Thätigkeit zu stellen“5. Den äußeren Anstoß gab die wegen der bevorstehenden Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches notwendige Revision der aus dem Jahr 1838 stammenden Vereinsstatuten, zu ihr gehörte insbesondere die neugefasste Beschreibung des Vereinszweckes. Die beiden unten im Quellenanhang vollständig edierten Anträge an den Landesdirektor des Brandenburgischen Provinzialverbandes von 1898 und 1901 führen mitten in die von Schmoller angestoßene Umgestaltung des Vereins hinein, sie offenbaren sowohl Motive und Ziele des angestrebten neuen landesgeschichtlichen Arbeitsprogramms als auch eine erste Zwischenbilanz der Bemühungen um seine Realisierung. Wie das Schreiben von 1898 mit seinen eingehenden Darlegungen verdeutlicht, sollte der wissenschaftliche Charakter des Vereins dem der Historischen Kommissionen, wie sie damals bereits in einigen preußischen Provinzen und deutschen Bundes4

Vorbemerkung, in: FBPG 10 (1898) [vor dem Titelblatt]. Mitteilung über eine Statutenrevision des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg, in: FBPG 12 (1899), 269 f., hier 269. 5

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staaten bestanden6, angeglichen werden, indem ein umfassendes landeshistorisches Forschungsprogramm aufgestellt und als zwingende Voraussetzung seiner Verwirklichung die verfügbaren Finanzmittel deutlich erhöht werden sollten. Worin bestand nach Ansicht unserer Verfasser die Vorbildlichkeit der Historischen Kommissionen und gleichartiger wissenschaftlicher Vereinigungen, der seit 1876 gegründeten Historischen Kommissionen für die preußische Provinz Sachsen, das Großherzogtum Baden, die Königreiche Württemberg und Sachsen und der 1881 gegründeten Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde für die preußische Rheinprovinz? Öffentliche Stellen wie Staatsregierungen, provinziale und kommunale Körperschaften und darüber hinaus Private stellen ihnen jährlich und regelmäßig aus ihren Haushalten feste Summen und zudem außerordentliche Zuwendungen, die je nach den individuellen Verhältnissen zwischen 3.000 und 20.000 Mark schwanken, zur Verfügung, so dass die jeweilige landesgeschichtliche Forschung in die Lage versetzt ist, ein gemessen an früheren Verhältnissen wesentlich ausgeweitetes Arbeitsfeld konzentriert und nachdrücklich mit ausgewiesenen Fachkräften zu beackern. Die Programme sehen zwei Schwerpunkte vor: zum einen die Inventarisierung des nicht-staatlichen Archivgutes außerhalb der Staatsarchive, also des zerstreuten Archivgutes von kleinen (staatlichen und kommunalen) Behörden, von Gemeinden, von Korporationen (wie Zünften oder Innungen) und von Privaten (wie Adelsgeschlechtern oder Einzelpersonen), zum anderen die Erarbeitung von Quelleneditionen, also die Herausgabe von erzählenden Quellen, Urkunden und Akten, und von Hilfsmitteln bzw. Nachschlagewerken wie Ortslexika, historischen Karten und Geschlechterbüchern. Die Historischen Kommissionen betrieben mithin, in heutiger Terminologie ausgedrückt, in erster Linie Grundlagenforschung: Sie sollten die archivalische Grundlage der Geschichtswissenschaft durch die Erfassung und Verzeichnung von Archivbeständen außerhalb der Staatsarchive, die bislang unbekannt und unzugänglich waren oder gar von Vernichtung bedroht wurden, wegen des historischen Gewichtes ihrer Bestandsbildner erheblich verbreitern. Und sie sollten wichtiges Quellenmaterial aus möglichst vielen Bereichen des geschichtlichen Lebens durch Editionen der Forschung bereitstellen und sie in ihren Anstrengungen durch die Erstellung von informativen Hilfsmitteln und Nachschlagewerken zwecks systematischer Aufarbeitung und Benutzbarmachung des historischen Stoffes unterstützen. Die Arbeitsergebnisse waren zu publizieren, damit sie von künftigen Generationen herangezogen und ausgewertet werden konnten. Forschungsarbeit und Publikationstätigkeit gehörten untrennbar zusammen. Wie die Darlegungen der Antragsteller belegen, hatte der Verein für Geschichte der Mark Brandenburg die Weiterentwicklung der deutschen Landesgeschichtsforschung im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts, die Vermehrung ihrer finanziellen Ressourcen ebenso wie die Verbreiterung ihrer inhaltlichen Aufgabenfelder auf6 Vgl. die Übersicht bei Hermann Heimpel, Über Organisationsformen historischer Forschung in Deutschland, in: Hundert Jahre Historische Zeitschrift 1859 – 1959. Beiträge zur Geschichte der Historiographie in den deutschsprachigen Ländern, hrsg. v. Theodor Schieder (HZ Sonderausg. 189 [1959]), München 1959, 139 – 222, hier 214 – 217.

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merksam verfolgt, wie etwa an seiner Beteiligung an den Debatten in ihren überregionalen Zusammenschlüssen, dem Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine und der Konferenz der landesgeschichtlichen Publikationsinstitute, abzulesen ist. Der Verein für Geschichte der Mark Brandenburg war gewillt, die Fortschritte, die andernorts im Deutschen Reich für Auswahl und Bearbeitung von Forschungsthemen wie für deren finanzielle Grundlegung erzielt worden waren, in die Provinz Brandenburg einzuführen. Es kam es ihm am Ende des 19. Jahrhunderts, als, wie ein Vereinsmitglied 1904 schrieb, „gerade die territorialpolitischen Studien während der letzten Jahre in so vielen Teilen Deutschlands [den verheißungsvollen Aufschwung] genommen“ hatten7, darauf an, die neuen wissenschaftlichen Standards auch in der Provinz Brandenburg durchzusetzen, denn es war die Einschätzung verbreitet, dass die brandenburgische Landesgeschichtsforschung hinter der anderer deutscher Lande in ihren wissenschaftlichen Leistungen merklich zurückgeblieben war; 1906 wurde in einer Vereinspublikation etwa über den „traurigen Zustande der Historiographie eines Landes“ geklagt, „das sich vor allen Nachbarterritorien unrühmlich dadurch auszeichnet, daß es noch keine Landesgeschichte besitzt, die auch nur den bescheidensten Ansprüchen unserer Tage genügt“8. Zur Bewältigung größerer und anspruchsvollerer wissenschaftlicher Herausforderungen war der Verein tatsächlich bislang außerstande gewesen, weder hatte er ein ausgedehntes Arbeitsprogramm entwickelt – sieht man einmal von Raumers „Wunschzettel“ aus der Vorgeschichte seiner Gründung ab – noch es gezielt und nachhaltig umzusetzen gesucht. Wollte er sich auf das geschichtswissenschaftliche Niveau der angesprochenen anderen Provinzen und Bundesstaaten begeben, musste er sich unweigerlich neue Finanzquellen erschließen. Dabei lag nichts näher als sich vorrangig an den Brandenburgischen Provinzialverband zu wenden. Das Preußische Kultusministerium schied aus, weil es die auf den Gesamtstaat bezogenen Vorhaben wie die Acta Borussica stützte – und dabei die FBPG gewissermaßen als deren Anhängsel – zum Nutzen des Vereins – mit berücksichtigte. Die Beförderung der Landesgeschichtsforschung oblag hingegen in Preußen den 1875 durch die Eulenburg-Gneistschen Reformen geschaffenen Provinzialverbänden. Die Preußische Archivverwaltung bzw. der Direktor der preußischen Staatsarchive Reinhold Koser pflegte Kontakte zum Brandenburgischen Provinzialverband, indem er einem seiner Mitarbeiter, dem Geheimen Staatsarchivar Louis Erhardt – dem sein damaliger Kollege Friedrich Meinecke in seinen Lebenserinnerungen eine warmherzige Schilderung gewidmet hat9 –, gestattete, im Nebenamt das Ar7 W. von Sommerfeld, Beiträge zur Verfassungs- und Ständegeschichte der Mark Brandenburg im Mittelalter. Erster Teil (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg), Leipzig 1904 [mehr nicht erschienen], IV. 8 Fritz Curschmann, Die Diözese Brandenburg. Untersuchungen zur historischen Geographie und Verfassungsgeschichte eines ostdeutschen Kolonialbistums (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg), Leipzig 1906, V. 9 Friedrich Meinecke, Autobiographische Schriften, hrsg. u. eingeleitet v. Eberhard Kessel (Friedrich Meinecke, Werke, VIII), Stuttgart 1969, 122 – 124. – Vgl. Eckart Henning/Christel

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chiv des Provinzialverbandes, das aus den spätmittelalterlichen und vor allem frühneuzeitlichen Urkunden und Akten der Kurmärkischen und Neumärkischen Stände bestand, zu betreuen. Der Verein selbst hatte den Faden zum Provinzialverband dadurch enger geknüpft, dass er dessen ersten, seit 1876 amtierenden Landesdirektor Albert von Levetzow 1882 zu seinem Vorsitzenden gewählt hatte. Unausgesprochen gingen die Antragsteller 1898 von den bestehenden persönlichen Verbindungen und ausgesprochen von der bestehenden Subventionierung der Vereinszeitschrift aus, und unter Hinweis auf das in anderen Teilen des Reiches angehobene geschichtswissenschaftliche Niveau suchten sie den Provinzialverband zur Vermehrung, ja zur Vervielfältigung seiner Förderung zu bewegen, indem sie adressenorientiert in ihre wissenschaftliche Programmbeschreibung Elemente aufnahmen, die an dessen Geschichts- und Traditionsbewusstsein zu appellieren und ihn dafür zu begeistern geeignet waren. Da der Provinzialverband 1875 die älteren, in den 1820er Jahren geschaffenen Provinzialstände und die damals umgewandelten kommunalständischen Korporationen der einzelnen historischen Landschaften der Mark durch Übernahme und Weiterführung ihrer wesentlichen Aufgaben faktisch abgelöst hatte, waren seine ständischen Ursprünge unverkennbar, und er wurde auf Grund seines Wahlrechtes und der sozialen Zusammensetzung seiner Führungskräfte weiterhin vom brandenburgischen Adel bestimmt. Nicht zufällig sprechen unsere Antragsteller durchgängig von den „Provinzialständen“, an die sie sich wenden, nicht vom „Provinzialverband“. Sie heben das historische Verdienst der märkischen Stände hervor, da „theils unter Mitwirkung der Stände, theils im Kampf mit ihnen das Königreich Preußen erwachsen ist“, sie erwähnen die Bedeutung der Archive brandenburgischer Adelsfamilien, „aus denen die Heerführer und höchsten Beamten des Staates hervorgegangen sind“, sie betonen die notwendige Erforschung der brandenburgischen Adelsgeschichte, und sie schlagen als eines ihrer wichtigsten wissenschaftlichen Vorhaben die Edition der älteren Stände- und Landtagsakten bis 1640 und die Darstellung der ständischen Geschichte und ihrer Verwaltungstätigkeit im 18. und frühen 19. Jahrhundert vor. Freilich wäre es ein schwerer Irrtum anzunehmen, der Vereinsvorstand habe aus purem Opportunismus zur Beförderung seiner Erfolgsaussichten die ständische Geschichte so sehr in den Vordergrund geschoben. Der Blick auf die Forschungen Schmollers, Hintzes und ihrer Schüler zur brandenburg-preußischen Staatsbildung der frühen Neuzeit zeigt unzweifelhaft, wie sehr sie sich dabei des ständischen Anteils trotz aller kritischer Bemerkungen bewusst waren und ihn eingehend, wie etwa die Arbeiten des Hintze-Schülers und Acta Borussica-Mitarbeiters Martin Haß belegen10, untersuchten. Wegeleben, Archivare beim Geheimen Staatsarchiv in der Berliner Kloster- und Neuen Friedrichstraße 1874 – 1924, in: JbBLG 29 (1978), 25 – 61, hier 45 (mit Lit.); Wolfgang Leesch, Die deutschen Archivare 1500 – 1945. Bd. 2: Biographisches Lexikon, München u. a. 1992, 145. 10 Wolfgang Neugebauer, Martin Hass (1883 – 1911), in: Herold-Jahrbuch N. F. 3 (1998), 53 – 71; ders., Martin Hass (1883 – 1911). Historiker Brandenburg-Preußens, in: Lebensbilder

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Die von den Antragstellern skizzierten Forschungsgebiete bleiben, wie außerdem nachdrücklich betont werden muss, nicht auf die Stände beschränkt. Ein konkretes Programm mit einzelnen Projekten wird von ihnen nicht vorgelegt, es kommt ihnen in der gegebenen Lage zuerst darauf an, einmal wesentliche Aufgabenfelder in einer umfassenden Überschau anzusprechen, um die Weite der anstehenden archiv- und landesgeschichtlichen Tätigkeit herauszustellen. Die Archivinventarisierung soll die in der Provinz zerstreuten archivalischen Quellen in der Hand von Behörden, Gemeinden, Familien ermitteln, verzeichnen und bekannt machen. Die Editionstätigkeit soll zunächst Riedels Codex diplomaticus Brandenburgensis verbessern und ergänzen, vor allem durch Urkunden- und Regestenwerke zu ausgewählten bedeutenden Städten, Klöstern und Stiften und vor allem durch Überschreitung der Riedelschen Zeitgrenze von 1450/1500 und Bearbeitung frühneuzeitlicher Quellen. Und gänzlich jenseits Riedels Werk sind andere, von ihm vernachlässigte oder unbeachtete Quellengruppen wie die älteren Urbare, Erbregister und Lehnbücher in Teilen zu veröffentlichen, die historische Kartographie durch die Erarbeitung von historischen Grundkarten und eines historischen Atlasses aufzubauen und zusätzliche „Kulturzweige und Institutionen, wie der Zünfte, des Handels, der Wirtschaft, des Steuerund Kreditwesens, der Gemeinde- und Kreisverfassung, der Gerichtsverfassung, des Kirchen- und Schulwesens“ zu untersuchen und darzustellen. Die Aufzählung der Wirtschafts-, Finanz-, Verfassungs-, Kirchen- und Bildungsgeschichte verdeutlicht besonders, dass die Verfasser vorrangig darauf abzielen, die vielseitigen Arbeitsbereiche der brandenburgischen Landesgeschichtsforschung zu umkreisen und die Notwendigkeit ihrer Bearbeitung zu unterstreichen, den Provinzialverband von der Notwendigkeit dieses wissenschaftlichen Schwerpunktes zu überzeugen, ihm aber nicht an dieser Stelle einzelne Vorhaben detailliert zu begründen. Die Forschungsergebnisse sind zu veröffentlichen, für ihre umfangreicheren Beiträge ist über die Vereinszeitschrift hinaus ein neues Forum in Gestalt einer eigenen Schriftenreihe mit loser Erscheinungsfolge ihrer einzelnen Bände zu schaffen. Unausweichlich läuft der Antrag auf die Skizzierung eines zweigeteilten Finanzierungsmodells hinaus. Vom Provinzialverband selbst erbittet der Verein die Steigerung seines Zuschusses von bislang 1.000 Mark auf künftig 3.000 bis 5.000 Mark jährlich, aus seiner Sicht sicherlich eine sehr moderate Summe, vergleicht man sie mit den angeführten Beträgen für die Historischen Kommissionen und Gesellschaften in anderen Provinzen und Bundesstaaten. Außerdem gedenkt der Verein noch die brandenburgischen Kommunen, Kommunalverbände und Adelsfamilien für sein Anliegen zu gewinnen, indem sie sich als seine Patrone zu regelmäßigen jährlichen Zahlungen von mindestens 50 Mark verpflichten sollen; dazu wünscht er sich brandenburgischer Archivare und Landeshistoriker. Landes-, Kommunal- und Kirchenarchivare, Landes-, Regional- und Kirchenhistoriker, Archäologen, Historische Geografen, Landesund Volkskundler des 19. und 20. Jahrhunderts (Brandenburgische Historische Studien, 16; zugl. Veröffentlichungen des Landesverbandes Brandenburg des Verbandes deutscher Archivarinnen und Archivare e. V., 4), hrsg. v. Friedrich Beck u. Klaus Neitmann, Berlin-Brandenburg 2013, 103 – 107.

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ein Empfehlungsschreiben des Landesdirektors an die potentiellen Patrone, um mit seiner Autorität unter den Trägern und Freunden des Provinzialverbandes für den Verein zu werben. Der gesamte Antrag enthält, wie aus dem Vorstehenden ersichtlich geworden sein dürfte, eine wohlüberlegte Konzeption. Sie ist nicht in Kreisen des Vereins erfunden worden, sondern sie übernimmt die wesentlichen Elemente der landesgeschichtlichen Organisation, wie sie seit den 1870er Jahren durch die Gründung Historischer Kommissionen geschaffen worden war, und wendet deren allgemeine Grundsätze auf die Provinz Brandenburg und die brandenburgische Landesgeschichtsforschung an. Die Sorgfalt der Antragsausarbeitung bezeugt das der Edition zugrunde liegende Konzept: Es ist vom Vereinsbibliothekar Louis Erhardt entworfen und sowohl von Reinhold Koser als auch von Gustav Schmoller sorgfältig redigiert worden, ohne dabei Erhardts Gedankenführung und Argumentationsgang irgendwie merklich zu verändern, aber unter feinsinniger Abänderung einzelner Formulierungen. Die beiden führenden Köpfe von brandenburg-preußischem Archivwesen und Geschichtswissenschaft standen damit hinter dem Vorhaben. Der Brandenburgische Provinzialverband verschloss sich nicht dem Anliegen des Vereins, auch wenn er in seinem Bescheid vom 2. Januar 189911 mit der von ihm bewilligten Beihilfe von 2.500 Mark die im Antrag genannte untere Summe noch unterschritt. Die Entscheidung war nach einem Gespräch Kosers mit dem Landesdirektor Otto von Manteuffel, Levetzows 1896 gewähltem Nachfolger, getroffen und vermutlich von Koser unter Hinweis darauf, dass die Preußische Archivverwaltung ebenfalls den Verein finanziell zu unterstützen gedenke, herbeigeführt worden. Im Jahr 1899 erhielt dieser vom Provinzialverband 2.500 Mark und von der Archivverwaltung 750 Mark. Die Maßnahmen zur Gewinnung zusätzlicher Patrone blieben ebenfalls nicht erfolglos, die von ihnen gewährten Mittel stiegen durch ihre Vermehrung von 450 Mark im Jahr 1899 auf 1.700 Mark im Jahr 190012. Das Vereinsvermögen stieg so innerhalb weniger Jahre, da die Bewilligungen des Provinzialverbandes und der Archivverwaltung entsprechend den Anträgen des Vereins jährlich in der 1899 zugesagten Höhe erneuert wurden und die Beiträge der Patrone wuchsen, auf einen zuvor unerreichten Stand an, allein von 1899 bis 1901 von ca. 3.000 auf 8.000 Mark. Da das Forschungs- und Publikationsprogramm erst anlief, wurden die jährlichen Mitteleingänge noch nicht sogleich vollständig benötigt, so dass ein Reservefonds für den Fall der notwendigen Überschreitung der Etatansätze eingerichtet wurde und ihm allein 1899 und 1900 insgesamt 4.500 Mark zugeführt werden konnten. Selbstverständlich oder geradezu automatisch wurden die Gelder vom Pro11

GStA PK, Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 224 E Verein für Geschichte der Mark Brandenburg, Nr. 143, fol. 20. 12 Vgl. die Darlegungen zur Finanzlage des Vereins in seinem Antrag an den Provinzialverband vom 16. Oktober 1901, unten Quellenanhang, Nr. 2. – Die Werbung neuer Patrone wurde einige Jahre später mit einem Rundschreiben des Vereins im November 1905 mit einigem Erfolg unter den altadligen Familien wie unter den Kreisen und Städten der Provinz erneuert, vgl. Sitzungsberichte des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg [im Folgenden zitiert: SB] 1905/06, 14, in: FBPG 19 (1906), und SB 1906/07, 12, in: FBPG 20 (1907).

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vinzialverband freilich noch nicht gewährt, schon im Jahr 1901 trat eine unerwartete Krise ein, als er in einem Schreiben an den Verein vom 16. April 1901 ziemlich unverhohlen die regelmäßige Fortführung seiner Unterstützung in Frage stellte. Unter Hinweis auf die für ein Vereinsprojekt, die historischen Grundkarten, getätigten Ausgaben wurde mit deutlicher Kritik bemerkt: „Die Kosten dieses Unternehmens scheinen doch im Laufe der Zeit sehr erhebliche Mittel in Anspruch zu nehmen, und es ist mir zweifelhaft, ob der Provinzialausschuß bei seinen für derartige Zwecke doch sehr beschränkten Mitteln in der Lage sein wird, die jetzt dreimal bewilligte Unterstützung mit jährlich 2500 M. auch fernerhin eintreten zu lassen“. Unter diesen Umständen sah sich der Verein veranlasst, am 16. Oktober 1901 in seinem üblichen Antrag auf Gewährung einer Beihilfe von 2.500 Mark weiter als in seinen Anträgen der beiden vorhergehenden Jahre auszuholen und ausgiebig den aktuellen Stand seiner wissenschaftlichen Vorhaben darzulegen, dafür sowohl die schon im Druck erschienenen als auch die vor dem Abschluss stehenden Werke zusammenstellen, nicht ohne zu betonen, dass die Forschungen bis zu ihrer Vollendung längerer Zeit bedürften und nicht schon kurz nach Inangriffnahme des neuen Programms mit zahlreichen Publikationen zu rechnen sei. Der Verein unterließ es auch nicht, auf seine beiden Ehrenpräsidenten hinzuweisen, die dem Führungspersonal des Provinzialverbandes entstammten, nämlich den derzeitigen Landesdirektor Manteuffel und den ehemaligen Landesdirektor und derzeitigen Vorsitzenden des Provinziallandtages Levetzow, und gab damit unterschwellig zu verstehen, dass diese beiden hohen Amtsträger vor den Kopf gestoßen würden, wenn man dem von ihnen anerkannten Verein die Mittel entziehe. Ferner wurde die Archivverwaltung gegen solche Pläne ins Spiel gebracht, die im Falle einer negativen Entscheidung des Provinzialverbandes mit dem teilweisen oder vollständigen Entzug ihrer Beihilfe drohen könne, da sie diese von der Unterstützung der landesgeschichtlichen Forschung durch die Provinzialverbände abhängig gemacht habe. Die Fortsetzung des erfolgreich angelaufenen Arbeitsprogramms stehe oder falle mit der Fortsetzung der regelmäßigen jährlichen Zuwendungen; ihre Verweigerung sei zumal zu diesem Zeitpunkt verhängnisvoll, denn „wir stehen jetzt eben im Begriff, nach den Mühen der Saat auf reichlichere Ernten hoffen zu dürfen“. So verblieb der Verein am Ende all seiner ausführlichen Erläuterungen und Begründungen nicht in der Defensive, sondern bat darum, nicht nur im Etatsjahr 1901, sondern „wenn möglich gleich für eine längere Reihe von Jahren“ jährlich mit 2.500 Mark unterstützt zu werden. Es versteht sich geradezu von selbst, dass die Darstellung der laufenden Arbeiten im Antrag im Hinblick auf den angestrebten Zweck etwas schönfärberischer ausfiel, als es den tatsächlichen Gegebenheiten entsprach, was man insbesondere erkennt, wenn man in der Abfolge der Jahresberichte und zugleich der Veröffentlichungen die Fortschritte in der Realisierung des Programms betrachtet. Trotz dieser Einschränkung sind die jährlichen Anträge aber höchst aufschlussreich, weil sie sowohl die Bemühungen und Anstrengungen des Vereins um die Entwerfung und Umsetzung eines umfangreichen Arbeitsplans als auch die dabei auftretenden sachlichen und personellen Schwierigkeiten und Probleme verdeutlichen. Für die fachliche Vor-

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bereitung und Betreuung der einzelnen Vorhaben und Publikationen war 1899 ein Arbeitsausschuss vorgesehen und eingesetzt worden13, die notwendige organisatorische Folge der ausgeweiteten Tätigkeiten, die Vorsitzender und Vorstand allein nicht mehr zu bewältigen vermochten; dem Ausschuss oblag seitdem die Konzipierung von Forschungsarbeiten, die Auswahl der Bearbeiter und die Betreuung der Untersuchungen bis hin zu deren Drucklegung. Der Verein stellte im Herbst 1901 eine ansehnliche Anzahl von Veröffentlichungen heraus, die hier kurz angesprochen werden sollen. Seine Zeitschrift, die FBPG, war kontinuierlich mit ihren aus zwei Heften bestehenden Jahresbänden fortgeführt worden. Acht Doppelsektionen der Historischen Grundkarten einschließlich dazugehöriger Kommentare zu insgesamt 16 brandenburgischen Städten waren ausgegeben worden, die Reihe wurde in den Folgejahren noch merklich vermehrt. Die Ermittlung der brandenburgischen Kirchenbücher, einer wichtigen Quellengruppe insbesondere für die Orts- und Familiengeschichte, war in der Planung einer dafür eingesetzten Kommission auf zwei Abteilungen, die erste für die Neumark, die zweite für die Kurmark, aufgespalten und durch eine auf Wunsch des Vereins vom Evangelischen Konsistorium der Provinz Brandenburg im Februar 1899 veranlasste Umfrage (mit Fragebogen) unter der märkischen Pfarrerschaft eingeleitet worden. Ein erstes Teilergebnis, die Erfassung der neumärkischen Kirchenbücher, war von dem rührigen Regionalhistoriker Paul Schwartz (in Berlin) innerhalb kürzester Zeit vorgelegt und schon 1900 in einem Heft des Vereins für Geschichte der Neumark veröffentlicht worden14. Die Kirchenbücher der Kurmark wurden von dem stadt- und landeshistorisch sehr wirksamen Oberlehrer an der „Saldria“, dem Gymnasium der Stadt Brandenburg/Havel, Dr. Otto Tschirch (1902 zum Professor ernannt)15, und insbesondere von Dr. Georg Vorberg bearbeitet. Letzterer publizierte 1905 die Beschreibung der Kirchenbücher aus der Generalsuperintendentur Berlin unter leichter inhaltlicher Erweiterung des ursprünglichen Programms16. Damit brach das Unterneh13 Mitteilung, in: FBPG 12 (1899), 270, vgl. die Satzung von 1899, § 15: „Für die Vorbereitung und Leitung besonderer wissenschaftlicher Unternehmungen kann der Vorstand sich durch Kooptation zu einem Arbeitsausschuß erweitern oder besondere Ausschüsse bilden.“ Die Zusammensetzung des Ausschusses Anfang 1902, dem damals u. a. Kurt Breysig, Reinhold Koser, Michael Tangl und Karl Zeumer angehörten, ist angegeben in den SB 1901/02, 40, in: FBPG 15 (1902). 14 Die Kirchenbücher der Neumark, der Kreise Oststernberg, Weststernberg, ZüllichauSchwiebus und Krossen, bearb. v. Paul Schwartz (Schriften des Vereins für Geschichte der Neumark – Die Kirchenbücher der Mark Brandenburg. Erste Abteilung), Landsberg a. W. 1900, zur Vorgeschichte des Vorhabens ebd. I f. – Vgl. die Hinweise von Otto Tschirch zur Entstehung und zum Inhalt des Werkes in der Mitgliederversammlung vom November 1900 in SB 1900/01, 5, in: FBPG 14 (1901). – Zu Schwartz vgl. Gebhard Falk, Paul Schwartz (1853 – 1940). Neumärkischer Regionalhistoriker und Pädagoge, in: Lebensbilder (Anm. 10), 480 – 484. 15 Klaus Heß, Otto Tschirch (1858 – 1941). Stadtarchivar und Stadthistoriker von Brandenburg an der Havel, in: Lebensbilder (Anm. 10), 380 – 385. 16 Die Kirchenbücher der vor 1874 aufgenommenen und konzessionierten Kirchengemeinschaften im Bezirke der General-Superintendentur Berlin (Stadtkreise Berlin, Charlot-

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men ab, weder das zweite neumärkische Heft der ersten Abteilung noch das zweite Heft der zweiten Abteilung über die Generalsuperintendentur der Kurmark mit großen Teilen des Regierungsbezirks Potsdam sind von dem Bearbeiter Vorberg wie angekündigt herausgebracht worden. Nachdem 1898 die Inventarisierung kleiner Archive und verstreuter Archivalien so sehr als wesentlicher Teil des neuen Programms herausgestellt worden war, ist der Leser des Antrages von 1901 ein wenig darüber verwundert, dass sie offensichtlich kaum vorangekommen war, dass nach jetzt abgeschlossener Organisation „dieser umfangreichen u. schwierigen Arbeit“ die Verzeichnung selbst „voraussichtlich“ im folgenden Jahr 1902 begonnen werden solle. Die damals unter Leitung des Geheimen Staatsarchivars Paul Bailleu17 stehenden Bestrebungen verliefen letztlich wegen der für die umfangreiche Aufgabe unzureichenden Mittel im Sande und führten zu keinerlei Ergebnissen18. Das Thema blieb über Jahrzehnte hinweg auf der Tagesordnung stehen. Ein neuer Anlauf wurde in den späten 1920er Jahren von der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin unternommen, aber schon bald wegen der Finanznöte in der Weltwirtschaftskrise wieder abgebrochen19. Erst die Schaffung eines vom Brandenburgischen Provinzialverband unterstützten Archivpflegersystems durch das Preußische Geheime Staatsarchiv schien in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre eine dauerhaft tragfähige Lösung herbeizuführen, jedoch fiel es dann dem Zweiten Weltkriege und seinen Folgen zum Opfer20. Die von einer im Geheimen Staatsarchiv befindlichen Materialsammlung zur historischen Geographie Deutschlands ausgehende, von Friedrich Meinecke angeregte Untersuchung der kirchlichen Geographie der Mark Brandenburg kam wegen des Wechsels des Bearbeiters erst im zweiten Anlauf in Fahrt; der ursprünglich vorgesetenburg, Rixdorf, Schöneberg und Teile der Kreise Nieder Barnim, Ost-Havelland und Teltow) und in den Kreisen Lebus und Stadt Frankfurt a. O. (General-Superintendentur der Neumark), bearb. v. Georg Vorberg (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg – Die Kirchenbücher der Mark Brandenburg. Zweite Abteilung, erstes Heft), Leipzig 1905. Zur Beschreibung der Aufgabe, ihrer Umsetzung und weiteren Planung vgl. die Einleitung Vorbergs ebd., 1 – 4. 17 Vgl. E. Henning/C. Wegeleben, Archivare (Anm. 9), 42; W. Leesch, Die deutschen Archivare (Anm. 9), 44 f. 18 Vgl. die Bemerkung Walter Friedensburgs, Kurmärkische Ständeakten, Bd. 1 (siehe unten Anm. 25), VI, aus dem Jahre 1913: „Sehr zu bedauern bleibt es, daß die Provinz Brandenburg noch nicht, wie es in verschiedenen anderen Ländern und Landesteilen Deutschlands neuerdings geschieht, an eine systematische Aufzeichnung des Inhalts der kleineren und Privatarchive herangetreten ist“. 19 K. Neitmann, Geschichtsvereine (Anm. 1), 152. 20 Klaus Neitmann, Provinzialarchiv innerhalb oder außerhalb des Zentralarchivs? Das „Staatsarchiv für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin“ zwischen Alltagsanforderungen und Zukunftsvisionen in der Weimarer Republik und NS-Zeit, in: Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus, hrsg. v. Jürgen Kloosterhuis/Sven Kriese (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft), Berlin 2015 (i. Druck).

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hene Dr. Friedrich Lau21, kurzzeitig Hilfsarbeiter am Geheimen Staatsarchiv, schied wegen seiner Versetzung erst zum Staatsarchiv Stettin, dann zum Staatsarchiv Düsseldorf aus und wurde von Dr. Fritz Curschmann, einem 1899 in Leipzig von Karl Lamprecht mit einer wirtschaftsgeschichtlichen Untersuchung über Hungersnöte im Mittelalter promovierten Mediävisten22, abgelöst. Dessen Manuskript über das Bistum Brandenburg wuchs sich unter der Hand von einer schmalen Übersicht zu einer gewichtigen Monographie aus, indem er seine beauftragte Untersuchung über die historisch-geographische Topographie, nämlich die äußeren und inneren Grenzen der Diözese Brandenburg, befördert durch glückliche Quellenfunde, um eine Darstellung von kirchlichem Steuerwesen, Verfassung und Verwaltung erweiterte. Seine Studie sollte bereits 1902 gedruckt werden, ging dann Ende 1903 in Druck und erschien endlich im Umfang von fast 500 Seiten Mitte 190623. Die Skizzierung des Projektes hatte beinhaltet, dass alle drei brandenburgischen Bistümer bearbeitet werden sollten, aber über Curschmanns vorzügliches und unübertroffenes Werk hinaus – mit dem er sich 1905 an der Universität Greifswald habilitiert hatte – ist es nicht weiter gediehen. Die 1898 so nachdrücklich herausgestellte Edition der Stände- und Landtagsakten der Mark Brandenburg wurde in Angriff genommen, allerdings veränderte der Bearbeiter Dr. W. von Sommerfeld, ein Nachwuchswissenschaftler an der Berliner Universität, ihren Charakter, indem er nicht eine Quellenedition vorbereitete, sondern eine kleine Monographie über die Verfassungs- und Ständegeschichte der Mark vor und unter den Askaniern niederschrieb, die als Einleitung zur Aktenedition dienen und Anfang 1902 erscheinen sollte. Doch andere berufliche Beschäftigungen Sommerfelds und die damit verbundene Habilitation an der Berliner Universität sowie seine vertiefte Behandlung der askanischen Zeit führten dazu, dass der tatsächlich im Juli 1902 mit dem ersten Teil der Untersuchung begonnene Druck erst 1904 wiederaufgenommen und vollendet wurde, allerdings, gemessen an den weitausgreifenden Absichten und Planungen des Verfassers, mit einem bruchstückhaften Teilergebnis. Von den von ihm angekündigten vier Teilen seiner Darstellung ist nur der erste publiziert worden, und die Edition von Urkunden und Akten der Stände aus dem 14. und 15. Jahrhundert, seine eigentliche Aufgabe, ist nie zustande gekommen24. Immerhin lag dem Verein gerade an der Edition der Ständetagsakten so viel, 21 E. Henning/C. Wegeleben, Archivare (Anm. 9), hier 50 f.; W. Leesch, Die deutschen Archivare (Anm. 9), 358 f.: Friedrich Lau (1867 – 1947), 1891 Promotion in Bonn, 1898 Archivhilfsarbeiter am Geheimen Staatsarchiv, 1900 Staatsarchiv Stettin, 1902 – 1932 Staatsarchiv Düsseldorf. 22 Werner Vogel, Fritz Curschmann (1874 – 1946). Geograf und Landeshistoriker, in: Lebensbilder (Anm. 10), 580 – 584. 23 F. Curschmann, Diözese Brandenburg (Anm. l8); zur Vorgeschichte und zum Charakter des Werkes vgl. das Vorwort des Verfassers, III–IX. 24 Vgl. die Vorträge Sommerfelds in den Mitgliederversammlungen, so im November 1899 über die Herausbildung der märkischen Landstände im 13. und 14. Jahrhundert (FBPG 13 [1900], 566 f.), im November 1901 über die Emanzipierung der Askanier von der Reichsgewalt und die Beseitigung der märkischen Burg- und Vizegrafen (SB Verein 1901/02, in: FBPG

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dass er das Gesamtvorhaben in zwei Teile aufspaltete und 1902 beschloss, eine zweite Reihe für die Zeit ab Kurfürst Joachim II. (1535 ff.) einzurichten und dafür einen zweiten Bearbeiter anzustellen, um so „ein schnelleres Erscheinen der eigentlichen Aktenpublikation aus der Blüthe-Zeit der Stände im 16. u. 17. Jahr[hundert] zu ermöglichen. […] So wird neben der Gründlichkeit auch für die größere Schnelligkeit der Publikation gesorgt werden“. Dieser zweite Bearbeiter, Walter Friedensburg, der damals gerade die Leitung des Preußischen Historischen Instituts in Rom abgegeben hatte und zum Direktor des Preußischen Staatsarchivs Stettin bestellt worden war, der sich durch die Herausgabe zahlreicher Bände der Nuntiaturberichte aus Deutschland in den 1890er Jahren als Editor einen Namen gemacht hatte, veröffentlichte dann unter Reduzierung des ursprünglich die Kurfürsten Joachim II. und Johann Georg umfassenden Zeitrahmens in zwei dicken Bänden „Kurmärkische Ständeakten aus der Regierungszeit Kurfürst Joachims II.“ von 1535 bis 1571 – also die Unterlagen aus der landesherrlichen Kanzlei wie aus dem ständischen Archiv über die verschiedenartigen Ständetage, über ihre Vorbereitung, Berufung, Verhandlungen, Beschlüsse und deren Durchführung – in überzeugender und vorbildlicher Weise 1913 und 1916 und legte damit wohl die bis auf den heutigen Tag beste Quellenedition für die brandenburgische Reformationszeit vor25. Die Weiterführung des Vorhabens über das Jahr 1571 hinaus, die nach der hier wiedergegebenen Vorstellung bis ins 17. Jahrhundert reichen sollte, ist dem Verein nicht mehr gelungen. Die 1925 gegründete Historische Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin griff mit gewandelten editorischen Vorstellungen das Vorhaben in den 1930er Jahren wieder auf und suchte es für die Nachfolger Joachims II. fortzusetzen, vermochte aber wegen ihrer prekären finanziellen Lage mit einer Monographie von Hellmuth Croon nur ein Teilergebnis zu erreichen26. Über die 1898 skizzierten und eingeleiteten Vorhaben hinaus kündigen die nachfolgenden jährlichen Anträge des Vereins an den Provinzialverband, gerade der von 1901, zusätzliche neue Projekte an. Zu ihnen kann man eigentlich nicht den 1901 erwähnten, noch im selben Jahr erschienenen dritten (und später, 1904, nachfolgenden vierten) Band der Geschichte des Kammergerichts in Brandenburg-Preußen aus der Feder Friedrich Holtzes (jun.) rechnen, der mit finanzieller Unterstützung des Vereins auf Grund des von ihm abgeschlossenen Verlagsvertrages herausgebracht wurde. Denn das große Werk war von Holtze unabhängig vom Verein und nicht in 15 [1902], 35), im Dezember 1902 über die standesrechtlichen Grundlagen der märkischen Ritterschaft (SB Verein 1902/03, in: FBPG 16 [1903], 63 – 65) und im April 1905 – nach dem Erscheinen seines Werkes – über die Anfänge der Grundherrlichkeit märkischer Vasallen („aus einer noch nicht zum Abschluß gelangten Untersuchung“; SB Verein 1904/05, in: FBPG 18 [1905], 12 f.). 25 Kurmärkische Ständeakten aus der Regierungszeit Kurfürst Joachims II., hrsg. v. Walter Friedensburg. Bd. 1: 1535 – 1550; Bd. 2: 1551 – 1570, München/Leipzig 1913/16; vgl. die Beschreibung des Editionsverfahrens und der Editionsgrundsätze in Bd. 1, V–IX. – Zur Vergabe des Auftrages an Friedensburg und zum ursprünglichen Ansatz vgl. SB 1902/03, 66 f., in: FBPG 16 (1903). – Zu Friedensburg vgl. W. Leesch, Die deutschen Archivare (Anm. 9), 167 f. 26 K. Neitmann, Geschichtsvereine (Anm. 1), 143.

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seinem Auftrag, sondern in dem des Kammergerichts verfasst worden, der Verein ermöglichte nur seinem Mitglied Holtze die Publikation der beiden Abschlussbände27. – Die Edition des Tagebuches des Dietrich Sigismund von Buch, eines für vertrauensvolle höfische, diplomatische und militärische Einsätze verwendeten Kammerjunkers des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, aus den Jahren 1674 bis 1683 wurde 1901 Dr. Ferdinand Hirsch, Professor am Königstädtischen Realgymnasium in Berlin, einem Kenner der Zeit des Großen Kurfürsten und Herausgeber von fünf Bänden der „Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg“, aufgetragen. Sie wurde von ihm nach Aufnahme der Arbeit zu Ostern 1902 innerhalb kurzer Zeit mit Abdruck des französischsprachigen Originaltextes sowie einer Einleitung über Handschrift, Verfasser, Beschaffenheit und Wert des Tagebuches vollendet und erschien in zwei Teilen 1904 und 190528. – Nach dem Antrag von 1901 sollte Curschmanns Geographie des Bistums Brandenburg wegen des engen sachlichen Zusammenhanges um eine Untersuchung der Säkularisation der geistlichen Güter in der Reformationszeit ergänzt werden. Ein Urkundenbuch zur märkischen Reformationsgeschichte einschließlich der Visitationsprotokolle und der älteren Kirchenordnungen war beabsichtigt und sollte dem Lizentiaten und späteren Privatdozenten Dr. Graebert übertragen werden. Von seinem Vorhaben (ebenso wie von der erwähnten Archivinventarisation) hieß es in dem im Januar 1904 vorgetragenen Jahresbericht vielsagend, dass „ein bestimmter Termin, bis zu dem mit der Publikation begonnen werden kann, noch nicht anzugeben“ sei29. Dieses – sachlich wohl begründete – Urkundenbuch hat nie das Licht der Welt erblickt. – Mit dem Oberlehrer an der 2. Städtischen Realschule und später am Luisenstädtischen Gymnasium in Berlin Professor Hermann Pieper, der neben seiner gymnasialen Lehrtätigkeit wissenschaftliche Studien betrieb und dabei durch Untersuchungen zur märkischen Landeshistoriographie des 16. Jahrhunderts hervorgetreten war, wurde die Edition der älteren märkischen Chroniken in insgesamt fünf Bänden vereinbart. Im Januar 1904 verlautbarte, Pieper wolle das zuerst fertigzustellende Ma27 Friedrich Holtze, Geschichte des Kammergerichts in Brandenburg-Preußen, 4 Bde. 1. Teil: Bis zur Reformation des Kammergerichts vom 8. März 1540; 2. Teil: Das Kammergericht von 1540 – 1688; 3. Teil: Das Kammergericht im 18. Jahrhundert; 4. Teil: Das Kammergericht im 19. Jahrhundert, Berlin 1890, 1891, 1901, 1904. Das Titelblatt der Teile 3 und 4 führt sie als „Veröffentlichungen des Vereins für die Geschichte der Mark Brandenburg“ an, die Unterstützung des Vereins wird von Holtze selbst in seinen Vorworten nicht erwähnt. – Zum Verfasser Friedrich Holtze (1855 – 1929) vgl. Paul Torge, Friedrich Holtze zum Gedächtnis, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 46 (1929), 149 – 151; Brandenburgisches Biographisches Lexikon, hrsg. v. Friedrich Beck/Eckart Henning, Potsdam 2002, 184. 28 Das Tagebuch Dietrich Sigismund von Buchs (1674 – 1683), hrsg. v. Ferdinand Hirsch, Bd. 1 – 2 (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg), Leipzig 1904/05. – Vgl. den Bericht Hirschs über seine Edition auf der Mitgliederversammlung vom November 1903, SB 1903/04, 85 f., in: FBPG 17 (1904). – Zum Herausgeber Ferdinand Hirsch (1843 – 1915) vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Hirsch (Zugriff 09. 02. 2015). 29 SB Verein 1903/04, 89, in: FBPG 17 (1904).

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nuskript für das erste Heft des fünften Band (Neumärkische Chroniken) bis Ende desselben Jahres abschließen und im Laufe des nächsten Jahres das erste Heft des ersten Bandes (geistliche Geschichtsschreibung des Mittelalters) folgen lassen30. Der Arbeits- und Finanzaufwand für ein derart großdimensioniertes Projekt war offenkundig von den Beteiligten nicht ausreichend bedacht und jedenfalls merklich unterschätzt worden, so dass am Ende der Bearbeiter über einige Vorarbeiten nicht hinausgelangte und überhaupt keine editorischen Ergebnisse, nicht einmal ein einziges Heft, geschweige denn einen einzigen ganzen Band zum Druck gab. – Als das Grundkarten-Unternehmen sich um 1905 nach der Ausgabe von 15 Doppelsektionen dem Abschluss näherte, hoffte man, danach den historischen Atlas der Provinz Brandenburg in Angriff nehmen zu können, der bereits 1898 unter den langfristigen Zielen der Vereinstätigkeit erwähnt worden war. Aber die Erwartung erwies sich als trügerisch, erst seit den späten 1920er Jahren konnte mit vermehrten Finanzen von der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin das anspruchsvolle Vorhaben eingeleitet und bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit ansehnlichen und gewichtigen Ergebnissen verfolgt werden31. Die 1901 für eine baldige Veröffentlichung angekündigten Regesten zu den Brandenburg betreffenden Prozessen des Reichskammergerichts, die von dem den sog. unteilbaren Bestand der Reichskammergerichtsüberlieferung verwahrenden Preußischen Staatsarchiv in Wetzlar bzw. dessen Leiter Dr. Hermann Veltmann32 bereitgestellt werden sollten, sind nie gedruckt worden. Die im Februar 1899 von der Mitgliederversammlung beschlossenen neuen Satzungen des Vereins sahen zur Erreichung seines Zweckes, der geschichtswissenschaftlichen Erforschung Brandenburgs, vier Mittel vor33. Drei von ihnen, die regelmäßigen Mitgliederversammlungen mit Vorträgen und Besprechung von Neuerscheinungen, wissenschaftliche Arbeiten in der Vereinszeitschrift und Sammlung einer Bibliothek, bestätigten die in den vorangegangenen Jahrzehnten seit der Vereinsgründung bestehende Praxis; die eigentliche Neuheit bestand in der „Unterstützung größerer wissenschaftlicher Unternehmungen durch Mitarbeit oder Geldhilfe und Nutzbarmachung der zerstreuten Archivalien der Provinz durch Herstellung von Verzeichnissen“. Die Archivinventarisation gedieh wie schon bemerkt überhaupt nicht, der eine 1898 so sehr betonte Arbeitsschwerpunkt des Vereins wurde von ihm nicht bewältigt. Sehr viel freundlicher sah die Bilanz ein halbes Jahrzehnt später im Bereich der landeshistorischen Forschungs- und Veröffentlichungsvorhaben aus. Der Verein umschrieb ein umfassendes Arbeitsfeld, auf dem er wenigstens einzelne kleinere oder größere Projekte aufgriff und durch die Gewinnung von geeigneten und interessierten Bearbeitern zu verwirklichen trachtete. Unter den ange30

Ebd.. – Zu Pieper vgl. Kurt Metschies, Hermann Pieper (1855 – 1931). Neumärkischer Regionalhistoriker und Pädagoge, in: Lebensbilder (Anm. 10), 484 – 487. 31 K. Neitmann, Geschichtsvereine (Anm. 1), 147 – 151. 32 W. Leesch, Die deutschen Archivare (Anm. 9), 632 f. 33 Satzungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg, in: FBPG 12 (1899), 270 – 274, hier 270 f.

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worbenen Kräften erscheinen sowohl universitäre und archivarische Nachwuchswissenschaftler, mehrfach auf dem Weg von der Promotion zur Habilitation befindlich, und Gymnasiallehrer mit ausgeprägter wissenschaftlicher Produktivität. Eine eigene Schriftenreihe wurde auf den Weg gebracht, in ihr wurden die Forschungserträge der vom Verein angeregten und begleiteten Arbeiten publiziert. Manche wissenschaftliche Träume platzten im Laufe der Zeit, wenn nur bescheidene Teilergebnisse oder Vorarbeiten zum eigentlichen Ziel erreicht wurden. Es ist zu beobachten, dass zuweilen die Projektplanungen die wissenschaftlichen Ansprüche und Arbeitsumfänge gravierend unterschätzten und die Bearbeiter durch den Schwierigkeitsgrad und das Ausmaß der Arbeit allzu sehr überforderten. In anderen Fällen führten die Berufswege die jungen Gelehrten von der brandenburgischen Landesgeschichte weg, bedingt u. a. durch eine neue Wirkungsstätte weit außerhalb Berlins und Brandenburgs, ließen sie wieder aus dem Umkreis des Vereins verschwinden und ihre Absichten zur Makulatur werden. Aber selbst wenn man diese Einschränkungen berücksichtigt, ist nicht zu leugnen, dass der Verein um 1900 das angestrebte Ziel, für die Provinz Brandenburg die Rolle einer (Landes)Historischen Kommission einzunehmen, erreicht hat. Seine finanzielle Grundlage wurde durch die Zuschüsse des Provinzialverbandes, der Archivverwaltung und der Patrone wenigstens so sehr verbreitert, dass er ein Forschungsprogramm mit Aussicht auf Realisierbarkeit aufzustellen, einzelne Gelehrte mit wissenschaftlichen Projekten aus dem Arbeitsfeld zu beauftragen und sie dafür zu honorieren, schließlich die Forschungsergebnisse in einer eigenen Schriftenreihe zu veröffentlichen vermochte. Die herausgegebenen Werke waren Quellenübersichten und Quelleneditionen ebenso wie Monographien aus zeitlich und sachlich sehr unterschiedlichen Themen der brandenburgischen Landesgeschichte. Auch wenn manche Pläne und Projekte sich früher oder später wieder verflüchtigten und keine sichtbaren Spuren hinterließen, auch wenn die Mittel für die Umsetzung mehrerer „Großprojekte“ nicht ausreichten, gehören zu den erschienenen Publikationen mehrere, die ihren Wert über die Jahrzehnte hinweg behauptet haben, unter den hier angesprochenen etwa die Monographie Curschmanns und die Edition Friedensburgs. Die auf Grund der äußeren Voraussetzungen gegebenen und fehlenden wissenschaftlichen Möglichkeiten des Vereins sind am besten an seinem gewichtigsten und folgereichsten, 1901 begonnenen Unternehmen abzulesen, an dem in den hier zugrunde gelegten beiden Anträgen des Vereins noch nicht erwähnten Askanierregesten Hermann Krabbos34, die andernorts in einer eigenen Untersuchung gewürdigt werden sollen. Die letzten beiden Jahrzehnte des Kaiserreiches waren die Glanzzeit in der Vereinsgeschichte, sein „goldenes Zeitalter“, in dem er wie kein anderer die brandenburgische Landesgeschichtsforschung mit dem wissenschaftlichen Niveau einer Historischen Kommission verkörperte. Die wirtschaftlichen und finanziellen Krisen der 34 Regesten der Markgrafen von Brandenburg aus askanischem Hause, bearb. v. Hermann Krabbo/Georg Winter, Leipzig/Berlin 1910 – 1955. – Werner Vogel, Hermann Krabbo (1875 – 1928). Brandenburgischer Landeshistoriker und Preußischer Staatsarchivar, in: Lebensbilder (Anm. 10), 81 – 86.

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Nachkriegs- und Zwischenkriegszeit verhinderten es, dass er das vor 1918 erreichte Niveau hielt – wenn er auch mit seiner Zeitschrift, mit den FBPG, auf die er seine Anstrengungen konzentrierte, weiterhin eine gewichtige Stellung innerhalb der brandenburg-preußischen Geschichtswissenschaft einnahm35. Quellenanhang 1. Der Vorstand des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg – [Albert] v. Levetzow, Prof. [Dr. Friedrich] Holtze, Prof. [Dr. Gustav] Schmoller – an den Landesdirektor der Provinz Brandenburg [Otto] v. Manteuffel: beantragt 1.: zu veranlassen, dass die Bibliothek des Vereins in den Räumen des Ständischen Archivs im Ständehaus in der [Berliner] Matthäikirchstraße gemäß dem Vorschlag des Ständischen Archivars Dr. [Louis] Erhardt zweckmäßiger aufgestellt wird; beantragt 2.: dass die Stände der Provinz Brandenburg den dem Verein gewährten jährlichen Zuschuss von 1000 Mark auf 3000 bis 5000 Mark erhöhen und den Selbstverwaltungskörperschaften der Provinz den Beitritt zum Verein als Patrone unter Leistung eines festen jährlichen Beitrages empfehlen, damit der Verein nach dem Vorbild der in anderen preußischen Provinzen und deutschen Bundesstaaten bestehenden Historischen Kommissionen die im Lande verstreuten Archivalien zu verzeichnen und Quellen, Hilfsmittel und Forschungen zur Geschichte der Mark Brandenburg, vorrangig die Stände- und Landtagsakten bis 1640, zu veröffentlichen vermag. Berlin, 1898 Oktober 1. GStA PK, I. HA Rep. 224 E Verein für Geschichte der Mark Brandenburg, Nr. 143, Bl. 1 – 18. – Halbbrüchig von Louis Erhardt niedergeschriebenes, von Reinhold Koser und Gustav Schmoller korrigiertes und ergänztes Konzept (wobei Schmoller die Bleistiftnotizen Kosers wiederholt unverändert mit seinem Füller nachgeschrieben hat); Korrekturen und Ergänzungen sind nur auswahlweise im Falle inhaltlichen Gewichtes in den Anmerkungen nachgewiesen. – Vermerk (von der Hand Erhardts) auf Bl. 1 über dem Beginn des Schreibens: Concipirt von Dr. Erhardt, die Abänderungen von Geh[eimem] Ober Reg[ierungs]Rat Dr. Koser (mit Blei) und von Prof. Schmoller. E[rhardt]. – Unterstreichungen entstammen der Vorlage. Berlin, 1. Octobera) 1898 An den Landesdirektorb) der Provinz Brandenburg Herrn Frei[her]r von Manteuffel Hochwohlgeb[oren]. Gesuch des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg um dauernde Beherbergung seiner Bibliothek und um Unterstützung der von ihm geplanten Publikationen.

35 Klaus Neitmann, Preußische Geschichtswissenschaft während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus im Spiegel der „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte“, in: Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und nach 1945, hrsg. v. Hans-Christof Kraus (FBPG N. F., Beiheft 12), Berlin 2013, 31 – 100.

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Ew. Hochwohlgeboren beehren wir uns das nachfolgende Gesuch nebst den Erwägungen, die dazu geführt haben, zu hochgeneigter, wohlwollender Berücksichtigung ganz ergebenstc) zu unterbreiten. Der Verein für Geschichte der Mark Brandenburg, der jetzt bereits auf eine sechzigjährige, wie wir wohl sagen dürfen, fruchtbared) Wirksamkeit für die Pflege der brandenburgischen Geschichte zurückblickt, hat sich für seine Bestrebungen auch der geneigten Unterstützung der Provinzial-Stände zu erfreuen gehabt. Durch den ihm von denselben gewährten Zuschuß von jährlich 1000 Mark ist die Herausgabe der Zeitschrift des Vereins mit ermöglicht worden, die zuerst unter dem Titel: „Märkische Forschungen“ in 20 Bänden, dann seit 10 Jahren in erweiterter Gestalt unter dem Titel „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte“ bis jetzt in 10 Bänden erschienen ist, – eine Zeitschrift, in der die werthvollsten Arbeiten zur Geschichte der Mark Brandenburg wie des Preußischen Staates niedergelegt sind, und die sich in ganz Deutschland des höchsten Ansehens erfreut. Wie Brandenburg unter den Provinzen des Königreichs, so nimmt unsere Zeitschrift unter den historischen Provinzial-Zeitschriften den ersten Rang ein. Eine fernere Gunst, die die Stände unserem Verein erwiesen haben, besteht darin, daß sie seiner Bibliothek36 schon seit einer langen Reihe von Jahren zuerst im alten Ständehause in der Spandauer Straße, danach auch in den neuen glänzenden Räumen in der Mathäikirchstraße ein Unterkommen gewährt haben. Für beide Begünstigungen haben wir den Ständen stets den aufrichtigsten Dank gezollt. Aber in beiden Beziehungen, sowohl hinsichtlich der publicistischen Thätigkeit des Vereins, wie wegen Unterbringung seiner Bibliothek, haben sich seit einiger Zeit so dringend neue Bedürfnisse geltend gemacht, daß wir uns jetzt genöthigt sehen, uns mit einem bezüglichen Gesuch an das Landesdirektorium und die Stände zu wenden. Was zunächst die Bibliothek betrifft, so ist dieselbe bisher in den Räumen des Ständischen Archivs unterbracht gewesen. Aber bei ihrem wachsenden Umfang ist allmählig das eine kleine Zimmer, das ihr eingeräumt worden ist, völlig unzulänglich geworden, so daß eine einigermaßen zweckmäßige Aufstellung sich nicht mehr ermöglichen läßt und die Bibliothek in den letzten Jahren geradezu unbenutzbar geworden ist. Wir haben uns nun kürzlich mehrfach bemüht, andere größere Räume zugewiesen zu erhalten, und der Herr Landesdirektor ist uns auch mit dem größten Wohlwollen entgegen gekommen. Aber die Unterhandlungen scheiterten immer daran, daß uns nur auf eine wahrscheinlich kurz bemessene Reihe von Jahren andere Räume angewiesen werden konnten, wir aber unmöglich größere Anschaffungen von Bücherschränken und Repositorien ohne eine gewisse Aussicht auf Dauer auf uns nehmen konnten. Unter diesen Umständen mußten wir in Erwägung ziehen, ob nicht in den bisherigen Räumen neben dem Ständischen Archiv dauernd ein besserer Platz für unsere Bibliothek zu gewinnen wäre, und die Besprechungen, die wir deswegen mit dem derzeitigen Verwalter des Ständischen Archivs, Herrn Dr. Erhardt, gehabt haben, lassen uns hoffen, daß diese Möglichkeit in der That besteht. Nach dem Dafürhalten Dr. Erhardts würde sich der Raum im Ständischen Archiv beträchtlich besser ausnutzen lassen, wenn die Wände ausreichender als bisher mit großen Repositorien bestellt, zum Theil auch Mittelrepositorien aufgestellt und für die Urkunden und Cli36 Zur Bibliothek vgl. die sehr knappen Hinweise bei K. Neitmann, Adolph Friedrich Riedel (Anm. 1), 281 f. – Die neuen Statuten des Vereins von 1899 zählten unter die vier Mittel zur Erreichung des Vereinszweckes, der brandenburgischen Landesgeschichtsforschung, die „Sammlung einer Bibliothek, die sich hauptsächlich aus Werken zur brandenburgisch-preußischen Geschichte und aus Druckschriften der mit dem Vereine im Tauschverkehr stehenden Gesellschaften zusammensetzt“. Satzungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg, in: FBPG 12 (1899), 270 – 274, hier 271.

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che’s besondere Schränke angeschafft würden. Es würde dann, ohne daß die Unterbringung und Benutzung des Ständischen Archivs im geringsten zu leiden brauchte, so viel Raum gewonnen werden, daß voraussichtlich zwei volle Wände des großen Mittelzimmers der Bibliothek des Vereins überlassen werden könnten, womit deren Bedürfnissen auf absehbare Zeit genügt sein würde. Die Aufstellungen im Einzelnen für Anschaffung der Repositorien pp. zu geben, hat sich Herr Dr. Erhardt bereit erklärt, und wird sein Gutachtene) gleichzeitig mit diesem unserm Schreiben dem Landesdirektorium überreicht werden. Unser erstes, ergebenstes Gesuch geht also dahin: Die Stände möchten genehm halten, daß die Bibliothek des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg auch in Zukunftf) mit dem Ständischen Archiv in denselben Räumen vereinigt bleibe, und daß für eine zweckmäßigere Aufstellung derselben durch die nach dem Vorschlag des Ständischen Archivars Dr. Erhardt zu treffenden Maßnahmen möglichst bald Fürsorge getroffen werde. Unser zweites Gesuch betrifft die Unterstützung der litterarischeng) Thätigkeit des Vereins. Obwohl bisher durch unsere Zeitschrift für die Geschichte der Mark Brandenburg Erspriesliches geleistet worden ist, so scheint doch diese Wirksamkeit den wissenschaftlichen Forderungen gegenüber, die jetzt überall in Deutschland laut geworden sind, nicht mehr ausreichend. In einer großen Anzahl preußischerh) Provinzen und einzelner deutscher Bundesstaateni) haben sich neuerdings, durch theilweise sehr beträchtliche Beihülfen der Regierungen beziehungsweise der provinzialenj) und kommunalen Körperschaften unterstützt, sogenannte Historische Commissionen gebildet, die sich die bessere Erschließung des historischen Materials der betreffenden Länder und Provinzen zur Aufgabe gemacht haben. So besteht in der Provinz Sachsen schon seit 1876 eine historische Commission, in Baden seit 1883, in Württemberg seit 1891, im Königreich Sachsen seit 1896, und neuerdings sind dazu historische Commissionen für Hannover, Nassau, Westphalen, Hessen-Waldeck und Thüringen gekommen. Für die Rheinlande vertritt die Stelle einer Commission die i. J. 1881 begründete Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. Diese unterk) der Gunst örtlicher Verhältnissek) besonders blühende Gesellschaft erhält einmal einen festen Jahresbeitrag der Provinz von 3000 Mark, zu dem sich noch sehr beträchtliche Extrabewilligungen für besondere Zwecke gesellen, die sich beispielsweise i. J. 1894 auf nicht weniger als 16000 M., i. J. 1895 auf 11000 M. beliefen. Und außerdem hat sie regelmäßige Patronatsbeiträge von Städten, Kreisen und Privaten im Betrage von über 10000 Mark jährlich. Die Historische Commission für die Provinz Sachsen erfreut sich seit 1892 eines Zuschusses des Provinzial-Landtages von jährlichk) 5000 Mark, zu dem gleichfalls noch bedeutende Sonderbewilligungen kamen. Ebenso erfreut sich die Schlesische Gesellschaft für Vaterländische Kultur von der Provinz eines Jahresbeitrages von 3000 Mark. Ueber noch beträchtlichere Mittel verfügen theilweise die historischen Commissionen in den ank) territorialem Umfangk) unsern Provinzen entsprechenden Staatenl) wie Sachsen und Baden. Sie haben durchschnittlich ein Jahresbudget von 15000 bis 20000 Mark. Beispielsweise erhält die historische Commission im Königreich Sachsen vom Landtag allein einen jährlichen festen Zuschuß von 10000 Mark. Diesen großen Aufwendungen entsprechend, haben die genannten Commissionen und Vereinigungen sich auch große Verdienste um die landesgeschichtlichen Forschungen erworben, allen voran die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, deren ganz vortreffliche Leistungen allgemein anerkannt sind. Die beiden Hauptaufgaben nun, die diese Commissionen, bezw. Gesellschaften und Vereine beschäftigen, bestehen einmal in Sammlung und Registrirung des im Lande zerstreuten, bei kleineren Behörden und bei Corporationen oder in den Händen von Privaten befindlichen Materials an Urkunden und Archivalien, und zweitens in der Publizirung der für die Geschichte des

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Landes werthvollsten Quellen und Hülfsmittel (Chroniken, Urkunden, Akten pp; Geschlechterbücher, Ortslexika, historische Karten pp.). Auch für die Mark Brandenburg sind diese beiden Aufgaben von größter Bedeutungm). Es ist sicher im Lande ein reiches noch wenig oder gar nicht ausgebeutetes Material an historischen Quellen, Urkunden, Akten, Memoiren, Briefe vorhanden sowohl in den kleinen Archiven von Gemeinden, Behörden und Corporationen, wie auf den Schlössern der alten brandenburgischen Familien, aus denen die Heerführer und höchsten Beamten des Staates hervorgegangen sind. Diesen Schatz gilt es zu heben, der bisher theils verborgen und unbenutzt geblieben ist, theils sogar Gefahr läuft, von den Besitzern nicht richtig gewürdigt und daher der Vernichtung preisgegeben oder an Autographensammler verstreut zu werden. Alles Vorhandene muß systematisch kurz verzeichnet, und das Wichtigste daraus, soweit es sich dazu eignet und von den Besitzern freigegeben wird, durch Publikation der allgemeinen Kenntniß zugänglich gemacht werden. Im Großherzogthum Baden besteht für diesen Zweck seit Jahren eine über das ganze Land verbreitete Organisation, die sich vortrefflich bewährt hat. Das ganze Land ist in eine Reihe von Pflegschaften getheilt, in denen, unter der Leitung eines mit derartigen Arbeiten vertrauten Historikers (Archivars) als Oberpfleger, eine größere Anzahl von Männern, die sich für die vaterländische Geschichte interessiren, Pfarrer, Lehrer, Gemeindebeamte pp. als Pfleger thätig sind, die alles wichtige historische Material in ihrem Bezirk aufführen und registriren, und die so gewonnenen Verzeichnisse dann in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins in besonderen Beiheften veröffentlichen. Die Arbeit ist jetzt schon weit vorgerückt und hat für die historische Forschung wie für die Weckung des historischen Sinns im Lande sich bereits höchst nützlich erwiesen. Dem Beispiel Badens sind u. a. Thüringen und die Rheinprovinz gefolgt. Auch unser Verein hat gerade jetzt in dieser Richtung bereits einenn) Anlauf genommen, indem er beschlossen hat, zunächst eine Verzeichnung der Kirchenbücher in der Mark Brandenburg, die theilweise für Lokal- und Familiengeschichte von erheblicher Bedeutung sind, in Angriff zu nehmen. Um aber auch jene andere größere Aufgabe der systematischen Verzeichnung des gesammten zerstreuten historischen Quellenstoffes der Provinz in die Hand zu nehmen, dafür reichen die unserm Verein jetzt zu Gebote stehenden Kräfte und Mittel leider nicht im Entferntesten aus. Die zweite große Hauptaufgabe der Historischen Commissionen und Vereine besteht in der Publikation von wichtigen Quellen und Hülfsmitteln für die Landesgeschichte. Auch in dieser Beziehung stehen wir in Brandenburg hinter andern Ländern und Provinzen zurück. Für die ältere Zeit besitzen wir zwar in Riedels Codex Diplomaticus eine umfangreiche und auch im Ganzen brauchbare Urkundensammlung; aber es ist doch allgemein anerkannt, daß diese Sammlung dringend der Verbesserung und Ergänzung bedarf, und jedenfallso) wäre eso) wünschenswerth, wenn für einzelne bedeutenderep) Städte, das gleiche für diep) größtenp) Klöster und Stifter besondere, neue Urkunden- und Regesten-Sammlungen veranstaltet würden, die dann über die Zeit von 1450 – 1500 hinaus zu gehen hätten; denn für diese ganze spätere Zeit hat der Codex von Riedel nur vereinzelte Stücke gebracht. Erwünscht wäre vork) Allem aber, außerhalb der dem Riedelschen Werk von vornherein gesetzten Grenzek), die Bearbeitung und theilweise Publikation der älteren Erbregister und Lehnbücher, desgleichen die Bearbeitung bestimmter Kulturzweige und Institutionen, wie der Zünfte, des Handels, der Wirthschaft, des Steuer- und Creditwesens, der Gemeinde- und Kreisverfassung, der Gerichtsverfassung, des Kirchen- und Schulwesens pp. Auch für die Geschichte der alten Geschlechter der Mark ist bisher verhältnismäßig wenig geschehen, und doch sind darunter Namen von allerhellstem Klangq). Eine Aufgabe ferner, deren Erfüllung speciell die Provinzialstände auf’s Lebhafteste interessiren wird und ein Ehrendenkmal für dieselben abgeben würde, ist die Veröffentlichung der

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alten Stände- und Landtagsakten. Die Wichtigkeit derartiger Arbeit fürk) die deutsche Verfassungsgeschichtek) ist allgemein anerkannt, und neuerdings ist auch in einzelnen Provinzen bereits ein Anfang damit gemacht, so in den Rheinlanden mit der Veröffentlichung der Jülich-Bergischen Landtagsakten, desgleichen in Hessen und im Königreich Sachsen. Für Brandenburg, die Provinz, aus der theils unter Mitwirkung der Stände, theils im Kampf mit ihnen das Königreich Preussen erwachsen ist, ist diese schon von Ranke dringend empfohlene Publikation doppelt nöthig und sollte sobald wie möglich in Angriff genommen werden. Was endlich die historische Geographie der Provinz betrifft, so ist kürzlich aus der Mitte unseres Vereins die Anregung zu einer Bearbeitung zunächst der kirchlichen Geographie Deutschlands im Anschluß an Vorarbeiten Menke’s ausgegangen37, und der Verein hat auch selbst die Mittel für die Bearbeitung der brandenburgischen Diöcesen bewilligt, obwohl seine Ersparnisse dadurch zum größten Theil erschöpft werden dürften. Für die Bearbeitung von historischen Grundkarten, die seit einigen Jahren auf Vorschlag Prof. Thudichum’s38 für ganz Deutschland in Angriff genommen sind, ist bisher, trotz der dankenswerthen Unterstützung seitens der Stände, Brandenburg gegen andere Länder im Rückstand. Daneben wäre, nach dem Vorgang der Rheinlande, die Herausgabe eines historischen Atlasses für die Provinz höchst wünschenswerth. Jedoch die erste und nothwendigste Vorbedingung für die Erfüllung aller dieser und ähnlicher Aufgaben ist eben die Beschaffung ausreichender Geldmittel, ohne die kein Schritt vorwärts gethan werden kann. Unser Verein glaubt nun, die im Vorhergehenden skizzirten Aufgaben, für die, wie bemerkt, anderwärts besondere Historische Commissionen gebildet worden sind, für die Provinz Brandenburg in der Hauptsache von sich aus in die Hand nehmen zu können, wenn es ihm gelingt, seine Einnahmen in der erforderlichen Weise zu vermehren. Wir können dafür aber nicht sowohl auf die Regierung und Staatsbehörden rechnen, die bereits durch andere, den ganzen Staat betreffende Aufgaben in Anspruch genommen sind, auchr) unsere Zeitschrift durch einen Betrag unterstützen, der früher direkt vom Kultusministerium, jetzt von der akademischen Kommission für die Acta Borussica gezahlt wirdr)39, sondern wir müssen uns vielmehr, da es sich hier um provinzielle Zwecke handelt, auch vor allem an die provinziellen Körperschaften und Behörden wenden. Unter diesen aber stehen wiederum in erster Linie die Provinzialstände, die ja auch, wie obige Zusammenstellung zeigt, in andern Provinzen für die gleichen Zwecke seit Jahren sehr erhebliche Opfer bringen. Würden die Stände der Provinz Brandenburg ihren bisher unserm Verein bewilligten Jahreszuschuß von 1000 M. auf etwa 3000 bis 5000 Mark erhöhen, so würde damit für uns die Grundlage geschaffen, um überhaupt der Erfüllung obiger Aufgaben näher treten zu können. Genügen würde allerdings auch diese Summe noch keineswegs. Wir würden vielmehr, wie die Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde und neuerdings auch andere Historische Commissionen (Nassau, Hessen-Waldeck pp), zugleichr) auf der Grundlage dieses provinzialständischen Zuschusses führend [?]r) versuchen müssen, auch die Städte, Kreise und angesehenen Familien der Provinz für unsere Zwecke zu interessiren und als Patrone unseres Vereins, die einen jährlichen, größeren Beitrag zahlen, zu gewinnen. Auch in dieser Beziehung könnten uns die Stände und speciell das Landesdirektorium durch ihre geneigte Vermittelung einen großen Dienst leisten, wenn sie eine Empfehlung un37 Friedrich Meinecke, Theodor Menke’s Kollektaneen zur historischen Geographie Deutschlands, in: HZ 80 (1898), 272 – 274. 38 Friedrich von Thudichum (1831 – 1913), Jurist, 1862 – 1901 Professor an der Universität Tübingen, „Vater der Grundkartenforschung“. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_von_Thudichum (Zugriff 09. 02. 2015). 39 Vgl. oben Anm. 4.

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serer Bestrebungen an die der Selbstverwaltung dienenden Körperschaften der Provinz richten wollten. Wir erlauben uns zus) diesem Zwecke den Entwurf zu einem eventuellen Anschreiben in der Anlages) ergebenst beizufügen. Wir unsererseits würden uns dagegen den Provinzialständen gegenüber verpflichten, in unser Programm in erster Linie eine Bearbeitung und Publikation der älteren Stände- und Landtagsakten bis 1640 aufzunehmen, denen sich dann eine Geschichte der Stände auch für die spätere Zeit, namentlich betreffs ihrer Verwaltungsthätigkeit im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, anschließen könnte. Im Uebrigen würden wir hinfort neben unserer Zeitschrift, gemäß den uns zur Verfügung stehenden Geldmitteln und Arbeitskräften, in loser Folge Publikationen und historische Forschungen zur Geschichte der Mark Brandenburg erscheinen lassen und, sobald es angeht, eine Organisation für die Verzeichnung des zerstreuten historischen Quellenstoffes der Provinz in’s Leben zu rufen suchen. Eine Arbeit, die in anderen Commissionen u. Vereinen, wie wir noch zum Schluß hinzufügen möchten, einen Theil ihres Arbeitsprogrammes zu bilden pflegt, nämlich die Inventarisierung der Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz, ist für die Mark Brandenburg bereits durch das Bergau’sche Werk40 erledigt, dessen Zustandekommen gleichfalls der Munifizenz der Stände zu danken ist. Wir erlauben uns aber zu bemerken, daß gerade dieses Werk auch ein Beweis ist, wie nöthig und zweckmäßig eine Concentrirung und Organisirung der landesgeschichtlichen Arbeiten für die Provinz ist, wie wir sie jetzt durch unsern Verein erstreben. Denn einmal sind werthvolle Materialien für Bergau, die in einer durch Herrn von Ledebur für unsern Verein in den vierziger Jahren veranstalteten Enquete zusammengebracht waren41, leider für obiges Werk ganz unbenutzt geblieben, und es unterliegt auch wohl keinem Zweifel, daß dasselbe überhaupt größere Vollendung erlangt und die darauf verwendeten, großen Kosten mehr gelohnt hätte, wenn hinter dem Herausgeber ein Verein wie der unserige gestanden hätte und die Arbeit allmählicher, als eine unter mehreren, und mit Heranziehung von zahlreicheren Kräften ausgeführt worden wäre. Auch dies Beispiel kann also nur zur Unterstützung unserer Vorschläge dienen. Unser zweites ehrerbietigstes Gesuch geht also dahin: Die Stände wollen ihren bisher dem Verein für Geschichte der Mark Brandenburg geleisteten Jahresbeitrag von 1000 M. auf etwa 3000 bis 5000 Mark jährlich erhöhen und zugleich den Selbstverwaltungskörpern der Provinz empfehlen, auch ihrerseits durch ihren Beitritt als Patrone unter Leistung eines festen jährlichen Beitrages unsern Verein zu unterstützen. Einer hochgeneigten Gewährung dieser unserer Petition entgegensehend, verharren wir ehrerbietigst Derr) Vorstand des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburgr) v. Levetzowt) Prof. Stoltze Prof. Schmollert)42

40 Inventar der Bau- und Kunst-Denkmäler in der Provinz Brandenburg, bearb. v. Rudolf Bergau, Berlin 1885; vgl. dazu K. Neitmann, Die Kulturverwaltung (Anm. 3), 180. 41 Vgl. G. Vorberg, Die Kirchenbücher (Anm. 16), 4; K. Neitmann, Adolph Friedrich Riedel (Anm. 1), 280. 42 Auf der Generalversammlung des Vereins am 8. Februar 1899 wurden der langjährige Vorsitzende v. Levetzow und der nach 40jähriger Tätigkeit zurückgetretene Generalsekretär Friedrich Holtze (sen.) zu Ehrenvorsitzenden und Schmoller zum Vorsitzenden gewählt. Mitteilung (Anm. 5), hier 270.

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Anlage N. N. Der Verein für Geschichte der Mark Brandenburg beabsichtigt sein Arbeitsprogramm zu erweitern, indem er einmal die in kleineren Archiven zerstreuten Urkunden und Archivalien der Provinz systematisch verzeichnet und ferner neben seiner Zeitschrift, den „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte“, besondere Publikationen veranstaltet, unter denen in erster Linie die alten Stände- und Landtagsacten, ferner Städtische Urkundenbücher, Urbarien, Lehnsregister, ein historischer Atlas der Provinz pp. in Aussicht genommen sind. Er bedarf dazu einer bedeutenden Vermehrung seiner Mittel und hofft dieselben, nach Vorgang anderer Provinzen (Rheinlande, Hessen pp), zum Theil in der Weise zu gewinnen, daß er die Selbstverwaltungskörper der Provinz, vor allem Städte und Kreise, und daneben angesehene Familien des Landes auffordert, dem Verein als Patron beizutreten, mit der Verpflichtung eines jährlichen festen Beitrages von mindestens 50 Mark. Wir bringen, dem Wunsche des Vereins entsprechend und seine Bestrebungen für die heimatliche Geschichtsforschung gerne unterstützend, diese Aufforderung hiermit zu Ihrer Kenntniß, und ersuchen Sie um gefällige Mittheilung, ob Sie geneigt sind, dem Verein für Geschichte der Mark Brandenburg als Patron beizutreten, bezw. von welcher Zeit ab und unter Leistung welchen Beitrages.

____ a) 1. October übergeschrieben über durchgestrichen: Juli. – b) den Landesdirektor korrigiert von Koser aus: das Landesdirektorium. – c) von Schmoller übergeschrieben über durchgestrichen: gehorsamst (die gleiche Korrektur noch mehrfach im Folgenden). – d) von Schmoller übergeschrieben über durchgestrichen: segensvolle. – e) dazu auf dem linken Rand von Erhardt vermerkt: [Concept dieses Gutachtens bei den Akten des Ständischen Archivs]. – f) auch in Zukunft von Koser auf dem linken Rand nachgetragen und von Schmoller übergeschrieben über durchgestrichen: dauernd. – g) litterarischen von Koser auf dem linken Rand nachgetragen und von Schmoller übergeschrieben über gestrichen: publizistischen. – h) preußischer von Koser auf dem linken Rand nachgetragen und von Schmoller übergeschrieben über durchgestrichen: von. – i) deutscher Bundesstaaten von Koser und Schmoller auf dem linken Rand nachgetragen statt des im Text Erhardts stehenden: Ländern Deutschlands. – j) provinzialen von Koser auf dem linken Rand und von Schmoller übergeschrieben über gestrichen: politischen. – k) bzw. k)–k) von Koser und Schmoller auf dem linken Rand nachgetragen. – l) von Koser und Schmoller übergeschrieben über: Ländern. – m) auf dem linken Rand die (durchgestrichene) Notiz Kosers: NB. Hier scheint es doch unerlässlich, des Codex dipl[omaticus] von Riedel zu gedenken u. darzulegen, wie sich die geplanten Unternehmungen zu diesen mit Provinz-Mitteln geförderten Publ[ikationen] verhalten sollen. – n) folgt gestrichen: kleinen. – o)–o) von Schmoller übergeschrieben über gestrichen: wenn es sich aus praktischen Rücksichten auch nicht empfiehlt, die ganze Arbeit noch einmal zu machen, so wäre es doch sehr. Dazu gehört die auf dem linken Rand stehende, durchgestrichene Notiz Kosers: Ich gebe anheim, dies zu streichen, um nicht Einsprüche [?] gegen uferlose Projekte [?] aufkommen zu lassen. – p) von Schmoller übergeschrieben nachgetragen. – q) folgt gestrichen: wie die Arnims und [……….] (wegen Streichung unleserlich); dazu gehört die auf dem linken Rand stehende, durchgestrichene Notiz Kosers: ist es opportun, zwei zu nennen, wo dann dutzende sich zurückgesetzt fühlen. – r)–r) von Schmoller auf dem linken Rand nachgetragen. – s)–s) von Koser und Schmoller auf dem linken Rand nachgetragen statt gestrichen: dafür ein etwa zu benutzendes Formular. – t)–t) Namenszeile von Koser auf dem linken Rand nachgetragen, sein eigener Namenszug von Schmoller nachgeschrieben.

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2. Der Vorstand des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg – Vorsitzender [Prof. Dr. Gustav Schmoller] und Stellvertretender Vorsitzender – an den Landesdirektor [der Provinz Brandenburg]: Beantragt, die dem Verein in den letzten Jahren gewährte Beihilfe von 2500 Mark auch im nächsten Etatjahr 1902 oder wenn möglich für mehrere Jahre zu bewilligen, und beschreibt zur Begründung sowohl die auf der Grundlage des im Herbst 1898 beschlossenen erweiterten Arbeits- und Publikationsprogramms veröffentlichten, betriebenen, eingeleiteten und geplanten landesgeschichtlichen Vorhaben zur Mark Brandenburg, u. a. die Herausgabe historischer Grundkarten, die Erfassung der Kirchenbücher, die Edition der Ständeakten, die Bearbeitung der kirchlichen Geographie, als auch die finanzielle Lage des Vereins in den Jahren 1899 – 1901. Berlin, 1901 Oktober 16. GStA PK, I. HA Rep. 224 E Verein für Geschichte der Mark Brandenburg, Nr. 143, Bl. 27 – 42. – Halbbrüchig von Louis Erhardt entworfenes, vor allem von ihm selbst und ferner zuweilen von zwei anderen Händen vielfach korrigiertes Konzept; die von stilistischen Erwägungen verursachten Korrekturen werden hier im einzelnen wegen ihres geringen inhaltlichen Gewichtes nicht wiedergegeben. – Ebd., Bl. 26, Reinkonzept (enthält nur den Anfang des Schreibens). Berlin, 16. October 1901. An den Landesdirektor pp. Gesuch des Vereins für Gesch[ichte] der Mark Brandenburg um weitere Gewährung der ihm bisher bewilligten jährlichen Beihülfe von 2500 M. Ew. Hochwohlgeboren bitten wir ehrerbietigst, die unserm Verein in den letzten Jahren gewährte Beihülfe von 2500 M. auch für das nächste Jahr hochgeneigtest bewilligen zu wollen. Zur Begründung unseres Gesuches erlauben wir uns, zugleich in Beantwortung der geehrten Zuschrift vom 16. April – J. No. 3724 C / V 1 D 243 – Folgendes geltend zu machen. Als unser Verein im Herbst des Jahres 1898 nach dem Vorbild der Historischen Commissionen in andern Provinzen sein Arbeitsprogramm zu erweitern und neben seiner Zeitschrift besondere Publikationen ins Leben zu rufen beschloß, mußte vor allem darauf Bedacht genommen werden, auch die Einnahmen des Vereins entsprechend zu erhöhen, da mit den bisherigen bescheidenen Mitteln an größere wissenschaftliche Unternehmungen nicht gedacht werden konnte. Erst durch die uns freigebig gewährten größeren Beihülfen der Stände und der Kgl. Archivverwaltung kamen wir daher überhaupt in die Lage, dem neuen Programm festere Gestalt zu geben, und wir haben dann auch nicht gezögert, es nach Kräften zu erfüllen. Die Arbeiten, für die zunächst Mittel aufzuwenden waren, waren einmal die Förderung der von dem Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine und von dem Verbande der deutschen Publikationsinstitute, dem auch unser Verein angehört, für ganz Deutschland nach einheitlichen Gesichtspunkten ins Werk gesetzte Herausgabe der historischen Grundkarten, und zweitens die gleichfalls von vielen provinzialgeschichtlichen Vereinen in Deutschland unternommene Registrirung der Kirchenbücher. Von den Grundkarten konnten wir bereits im Sommer vorigen Jahres 5 Doppelsektionen, von einem erläuternden Cirkular begleitet, zur Versendung bringen (Rathenow – Brandenburg, Spandau – Potsdam, Wittstock – Neu Ruppin, Rheinsberg – Oranienburg, Templin – Eberswalde), und zwei weitere Doppelsektionen sind im März dieses Jahres versandt worden (Berlin – Köpenick und Perleberg – Havelberg). Vor kurzem ist dann noch eine neue achte Doppelsektion (Schwedt – Freienwalde) erschienen, 43

In der benutzten Akte Bl. 25.

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deren Versendung wir jedoch bis zum Erscheinen einer oder zwei weiterer Sektionen aufgeschoben haben. Leider ist der Leiter dieser Arbeit, Herr Professor Dr. Brecher, im Frühling dieses Jahres ernstlich erkrankt und wird sich voraussichtlich längere Zeit von jeder Arbeit fernhalten müssen44. Er hat daher auch der Aufforderung, dem Herrn Landesdirektor oder dem Herrn Geh[eimen] Baurath Bluth gelegentlich im Landeshause persönlich nähere Erläuterungen zu den Grundkarten zu geben bisher nicht nachkommen können45, wird aber, wie er uns mittheilte, sobald sich seine Gesundheit gebessert hat, nicht verfehlen, das Versäumte nachzuholen. Die Ausgaben, die wir für die Grundkarten zu machen hatten, betrugen i. J. 1899 M. 1000, i. J. 1900 M. 686 u. i. J. 1901 bisher M. 616. Wir haben also in den letzten drei Jahren abzüglich eines uns vom Berliner Geschichtsverein geleisteten Zuschusses von 100 M. 2202 M. für die Grundkarten ausgegeben. Es ist dann aber auch der größere Theil dieser Arbeit vollendet, und wir sind in den Besitz einer Auflage von je 400 Exemplaren der ersten 8 Doppelsektionen gelangt. Die Enquete über die Kirchenbücher in der Provinz Brandenburg, die von Herrn Oberlehrer Dr. Tschirch (aus Brandenburg a/H) veranstaltet und mit der dankenswerthen Unterstützung des Königl. Konsistoriums glücklich durchgeführt wurde, ist für einen Theil des Regierungsbezirks Frankfurt bereits durch Vermittlung des Vereins für Geschichte der Neumark verarbeitet und das betreffende Heft, in dem diese Arbeit publicirt ist auch von uns zur Versendung gebracht worden46. Das bedeutend umfangreichere Material für die Kurmark und den Rest der Neumark ist jetzt gleichfalls in Bearbeitung genommen, und im nächsten Jahre wird das Heft erscheinen können47 und damit eine wichtige Quelle für orts- und familiengeschichtliche Forschungen der Mark erschlossen werden. Die Ausgaben für diese Arbeiten, die bisher nur unbedeutend waren (Fragebogen und Correspondenzen), werden im nächsten Jahre durch die Drucklegung des voraussichtlich ziemlich starken Heftes und das Honorar für den Bearbeiter (Herrn Dr. Vorberg) eine ziemlich bedeutende Summe ausmachen.

44 Adolf Brecher (1836 – 1901), Promotion 1862, seit 1868 am Sophien-Gymnasium und Realgymnasium in Berlin, zugleich Geschichtslehrer an der Preußischen Kriegsakademie, 1877 zum Professor ernannt; vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Brecher (Zugriff 09. 02. 2015). Brecher verstarb am 21. November 1901, vgl. den Hinweis in SB Verein 1901/02, 37 f., in: FBPG 15 (1902). Die Leitung des Grundkarten-Unternehmens wurde dann dem historischen Geographen Dr. Konrad Kretschmer, Privatdozent an der Berliner Universität und Lehrer an der Preußischen Kriegsakademie, übertragen, er gab 1902 zwei Doppelsektionen (Küstrin – Frankfurt a. O. und Landsberg a. d. W. – Zielenzig), 1903 drei Doppelsektionen (Garz – Königsberg/Nm., Pyritz – Soldin, Arnswalde – Friedeberg), 1904 zwei Doppelsektionen (Wriezen – Fürstenwalde, Crossen – Sommerfeld) heraus. Vgl. SB 1902/03, 65, in: FBPG 16 (1903); SB 1903/04, 88, in: FBPG 17 (1904); SB 1904/05, 7, in: FBPG 18 (1905). 45 Vgl. das Schreiben des Landesdirektors der Provinz Brandenburg an den Vorsitzenden des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg vom 16. April 1901, darin: „Es wird mir angenehm sein, wenn Herr Professor Dr. Brecher gelegentlich mich oder in meiner Abwesenheit den Herrn Geheimen Baurath Bluth im Landeshause Matthäikirchstraße No. 20/21 aufsuchen [wird], um über den praktischen Nutzen dieser Grundkarten nähere Erläuterungen zu geben“. Gustav Bluth (1828 – 1901), seit 1876 Landesbaurat bzw. (1891) Geheimer Baurat des Brandenburgischen Provinzialverbandes, später auch Provinzialkonservator. Dieter Hübener, Art. Bluth, Karl Rudolf Gustav, in: Brandenburgisches Biographisches Lexikon (Anm. 27), 54 f. 46 P. Schwartz, Kirchenbücher der Neumark (Anm. 14). 47 G. Vorberg, Die Kirchenbücher (Anm. 16).

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Im Anschluß an die Kirchenbücher-Enquete ist auch die Inventarisirung der kleinern Archive und der zerstreuten Archivalien der Provinz vorbereitet worden und die Organisation dieser umfangreichen u. schwierigen Arbeit ist soweit gefördert, daß voraussichtlich im nächsten Jahre mit der Verzeichnung selbst wird begonnen werden können. Für die von Herrn Dr. von Sommerfeld übernommene Publikation der Ständeakten der Mark Brandenburg hat sich der Bearbeiter nach dreijährigen tief eindringenden Arbeitsstudien das nöthige Fundament durch eine nunmehr druckfertig vorliegende Ausarbeitung über „Die territoriale und ständische Entwicklung der Mark Brandenburg unter den Askaniern“ geschaffen, und dieser als eine „Einleitung zur Publikation der Ständeakten“ zu bezeichnende Band des Dr. v. Sommerfeld wird voraussichtlich im Anfang des nächsten Jahres veröffentlicht werden können48. Es ist für unsern Verein ja besonders erfreulich und wird sich auch für die Publikation der Ständeakten später von großem Nutzen erweisen, daß Herr Dr. v. Sommerfeld seine Aufgabe so ernst wissenschaftlich erfaßt und die Vorgeschichte und Anfänge der Stände so eindringend und sorgfältig studirt hat. Ist dadurch auch das Erscheinen der Publikation verzögert worden, so wird sie dafür auch auf ein um so höheres wissenschaftliches Niveau erhoben und um so werthvoller werden. Um aber andererseits auch ein schnelleres Erscheinen der eigentlichen Aktenpublikation aus der Blüthe-Zeit der Stände im 16. u. 17. Jahr[hundert] zu ermöglichen, haben wir jetzt in Aussicht genommen, für die Zeit von Joachim II. ab eine zweite Serie der Landtagsakten einzurichten und dafür einen besondern zweiten Bearbeiter zu bestellen. So wird neben der Gründlichkeit auch für die größere Schnelligkeit der Publikation gesorgt werden. Die Bearbeitung der kirchlichen Geographie der Mark Brandenburg ist im vorigen Jahre nach Ausscheiden des Herrn Dr. Lau von Herrn Dr. Curschmann übernommen und zunächst für das Bisthum Brandenburg in den Vorarbeiten jetzt so weit gefördert, daß dieser Theil gleichfalls im nächsten Jahre wird zum Druck befördert werden können49. Daneben hat Herr Dr. Curschmann auch für die Säcularisation der geistlichen Güter in der Mark, eine Arbeit, die sich mit der kirchlichen Geographie im Mittelalter nahe berührt, schon eingehende Studien gemacht und das Material zu sammeln begonnen. Wir haben aber neuerdings ins [!] Aussicht genommen, zugleich ein umfassenderes Urkundenbuch zur Reformationsgeschichte der Mark Brandenburg, das bisher noch fehlt, einschließlich der Visitationsprotokolle und der älteren Kirchenordnungen, zu publiciren. Mit Herrn Dr. Graebert, einen für diese Arbeit durch seine bisherigen Studien vorzüglich vorbereiteten jungen Gelehrten, sind wir darüber bereits in Unterhandlungen getreten, die hoffentlich bald zum Abschluß gelangen werden. Die dem Herrn Oberlehrer Pieper übertragene Bearbeitung der älteren märkischen Chroniken ist durch Behinderung des Bearbeiters leider im letzten Jahre aufgehalten, wird aber hoffentlich bald wieder in Angriff genommen werden können. Zu diesen älteren Arbeiten gesellen sich nun noch eine Anzahl neuere, die größere Ausgaben theils in der nächsten Zeit verursachen werden, theils auch bereits verursacht haben. Zunächst haben wir von einem für die Geschichte der Mark Brandenburg wichtigen Werke unseres Mitgliedes, des Kammergerichtsraths Dr. Holtze, der Gesch[ichte] des Kammerger[icht]s in Brandenburg-Preußen, den 3ten Band unter unsere Publikationen aufgenommen und so durch den mit dem Verleger unsererseits abgeschlossenen Vertrag die Fortsetzung dieses verdienstlichen Werkes erleichtert. Der Band ist soeben erschienen und zur Versendung gebracht (an die Be-

48 W. v. Sommerfeld, Beiträge (Anm. 7). Zur Entstehungsgeschichte und Planung des Werkes vgl. das Vorwort des Verfassers S. III. 49 Siehe oben Anm. 8.

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förderer unseres Vereins unter gleichzeitiger Beifügung von Bd. 1 u. 2)50, und beläuft sich der uns dadurch erwachsene Kostenaufwand auf 1060 Mark. Sodann haben wir nach dem Vorgang anderer Provinzialvereine mit Herrn Geh[eimen] Rath Dr. Veltmann dem Leiter des Staatsarchivs in Wetzlar Verhandlungen angeknüpft wegen einer Zusammenstellung von Regesten der beim vormaligen Reichskammergericht geführten, auf Angehörige der Mark Brandenburg bezüglichen Processe. Eine derartige Zusammenstellung ist bereits vom Aachener Geschichtsverein für den dortigen Bezirk veröffentlicht und wird auch für die Mark Brandenburg namentlich für Ortsgeschichte und für die Geschichte der alten adligen Familien von großem Werthe sein. Wir glaubten daher auch die nicht unbeträchtlichen Kosten für dies Regestenwerk nicht scheuen zu sollen und hoffen es bereits im nächsten Jahre veröffentlichen zu können. Endlich haben wir die Publikation des Buch’schen Tagebuchs, einer für die Zeit des Großen Kurfürsten sehr wichtigen Quelle51, und mehrere andere Arbeiten, über die aber die Vorbesprechungen noch nicht zum Abschluß gelangt sind, in unser Programm aufgenommen. Neben allen diesen Arbeiten steht wie bisher im Mittelpunkt unserer Vereinsinteressen unsere regelmäßig forterscheinende Zeitschrift, die „Forschungen –“, von der wir wohl ohne Ruhmredigkeit sagen können, daß sie der Provinz ebenso wie unserm Verein zur Ehre gereicht. Sie verursacht uns aber andererseits auch bedeutende Kosten, die ohne Beihülfen von anderer Seite (der akademischen Kommission für die Acta Borussica) noch viel beträchtlicher sein würden. Wir resumiren, daß also in den letzten drei Jahren mit Unterstützung unseres Vereins erschienen sind: 3 Bände unserer Zeitschrift, 8 Doppelsektionen der historischen Grundkarten, ein Band des Holtze’schen Werkes über das Kammergericht u. 1 Heft Verzeichnisse der Kirchenbücher in der Neumark. In unmittelbarer Aussicht stehen für das nächste Jahr nicht weniger als vier Veröffentlichungen: der Einleitungsband zu den Landtagsakten von Dr. von Sommerfeld, die kirchliche Geographie der Mark Brandenburg, zunächst des Bisthums Brandenburg, von Dr. Curschmann, die Verzeichnung der Kirchenbücher in der Kurmark von Dr. Tschirch u. Dr. Vorberg, und die Regesten der Kammergerichtsprozesse für die Provinz Brandenburg von G[eheimem] R[ath] Veltmann. Vielleicht aber werden wir eine oder die andere dieser Arbeiten wegen der zu großen Ausgaben, mit denen sie unsern Etat belasten würden, noch um ein Jahr zurückstellen müssen, obwohl wir durch Ersparnisse in den letzten Jahren in den Besitz von Reserven gelangt sind, die uns jetzt zu Gute kommen werden und Aufwendungen auch über unsern Jahresetat hinaus ermöglichen. Unser Vereinsvermögen betrug im Anfang des Jahres 1899 etwas über 3000 Mark und ist seitdem auf über 8000 M. angewachsen. Unsere Einkünfte im Jahre 1899 betrugen etwas über 4500 M. und setzten sich in der Hauptsache zusammen aus: 2500 M. von den Provinzialständen, 750 M. von der Königlichen Archivverwaltung, 450 M. Patronatsbeiträge und 700 M. Beiträge der Mitglieder. Diesen Einnahmen standen etwa 2800 M. Ausgaben gegenüber, darunter 1000 M. für die Grundkarten, und über 1200 M. an den Verleger für unsere Zeitschrift. Im Jahre 1900 wuchsen die Einnahmen um mehr als 1000 Mark, hauptsächlich durch die Erhöhung der Patronatsbeiträge von 450 auf 1700 M. Andererseits aber erhöhten sich auch die Ausgaben für unsere Zeitschrift auf c. 1400 M. Immerhin konnten wir in den Jahren 1899 u. 1900 zusammen 4500 M. thesaurieren. Die Bildung eines solchen Reservefonds war aber auch durchaus nöthig, wenn wir für die naturgemäß von Jahr zu Jahr sich steigernden Ausgaben, die die Publication der jetzt unternommenen Arbeiten verursachen wird, gerüstet sein wollten. Im laufenden Jahre entsprechen unsere Einnahmen ziemlich denen im vorigen Jahre; die Ausgaben aber 50 51

Siehe oben Anm. 27. Siehe oben Anm. 28.

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haben sich bereits nicht unbeträchtlich erhöht, indem zu den Ausgaben für die Zeitschrift und für die Grundkarten noch die 1060 M. für den Holtze’schen Band hinzukamen. Vollends für das nächste Jahr aber stehen, wie oben angegeben, so beträchtliche Mehrausgaben in Aussicht, daß wir, unter Voraussetzung eines gleichen Jahresbudgets wie in den letzten beiden Jahren, nicht allein unsere Einnahmen völlig erschöpfen, sondern wahrscheinlich auch bereits auf unsere Reserven werden zurückgreifen müssen. Euer Hochwohlgeboren haben wir hiermit ein getreues Bild der bisherigen geistigen und materi[e]llen Entwicklung unseres Vereins gegeben. Als wir vor drei Jahren die neuen Arbeiten unternahmen, war vorauszusehen, daß wir nicht gleich mit einer ganzen Reihe von Publikationen würden an die Öffentlichkeit treten können, sondern daß die Früchte erst allmählich reifen und Jahre darüber hingehen würden, bevor sich die Erfolge unserer Bemühungen zeigten. So ist es allen Vereinen und Kommissionen in ähnlicher Lage gegangen. Auch der blühendste unter den historischen Vereinen, die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, hat, bei einer unser Jahresbudget um mehr als das Dreifache übersteigenden festen Einnahme, Jahre gebraucht, ehe er entsprechende Leistungen aufweisen konnte. Auch wir stehen jetzt eben im Begriff, nach den Mühen der Saat auf reichlichere Ernten hoffen zu dürfen. Voraussetzung dafür ist aber, daß wir auch hinfort auf die regelmäßigen höheren Jahreseinnahmen rechnen dürfen, ohne die wir unsere Arbeiten gar nicht hätten unternehmen können. Würden die Provinzialstände für das nächste Jahr die uns bewilligte Beihülfe ermässigen, so würde wahrscheinlich die Kgl. Archivverwaltung, die ihre Beiträge an die Vereine ausdrücklich davon abhängig gemacht hat, daß die landesgeschichtlichen Forschungen auch von den betreffenden Provinzen entsprechend unterstützt werden, auch ihrerseits die uns gewährte Beihülfe ermässigen oder ganz einziehen, und wir würden also doppelta) benachtheiligt werden. Wir glauben aber, nach den im Vorhergehenden von uns gegebenen Darlegungen, nicht daran zweifeln zu dürfen, daß die Provinz Brandenburg auch ferner unserm ihr so nahe verbundenen Verein, der die Ehre hat, als Ehrenpräsidenten an seiner Spitze den Herrn Landesdirektor und den Herrn Vorsitzenden des Provinzial-Landtagesb) zu führen, ihre Gunst nicht entziehen wird, und wir erneuern darum in ebenso dringender wie ehrerbietiger Weise unsere ergebenste Bitte: daß die Provinzialstände die dem Verein für Geschichte der Mark Brandenburg bisher gewährte Beihülfe von jährlich 2500 M. auch für das nächste Etatsjahr 1902, oder wenn möglich gleich für eine längere Reihe von Jahren, geneigtest weiter bewilligen wollen. Ehrerbietigst. der Vorstand des Vereins f[ür] G[eschichte] d[er] M[ark] Br[andenburg]. Vors[itzender] Stellvertr[etender] Vors[itzender]

_____ a) Mit Bleistift auf dem rechten Rand niedergeschriebene Korrektur anstelle der gestrichenen Formulierung doppelten Schaden haben. – b) daneben auf dem linken Rand gestrichen: Frhrr. von Manteuffel v. […] (unleserliches Wort) von Levetzow.

Vom Kriegseinsatz zur Friedensforschung? Johannes Papritz und die Restaurationsbemühungen um die Publikationsstelle Berlin-Dahlem in Coburg (1945 bis 1947) Von Martin Munke, Chemnitz I. Vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich das Aufgabenprofil der vom zunächst im preußischen, dann im reichs- und bundesdeutschen Staatsdienst beschäftigten Archivar und Historiker Johannes Papritz (1898 – 1992) betriebenen Forschungsarbeiten zumindest nach außen hin deutlich geändert: „Es kann nicht Aufgabe der deutschen Ostforschung sein, politische Fronten zu beziehen“1, formulierte er zum Abschluss einer Denkschrift, die sich mit den Zukunftsaussichten eben dieser „Ostforschung“2 befasste. Deren Ausrichtung hatte besonders mit Blick auf die vom Generaldirektor der preußischen Staatsarchive, Albert Brackmann (1871 – 1952) initiierte und später von Papritz geleitete „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“3 1 Johannes Papritz, Zur deutschen Ostforschung, 30. 8. 1949, in: Bundesarchiv (im Folgenden: BArch) Koblenz, B 137/1838 I. 2 Als Einführung in die in den letzten Jahren stark angewachsene Forschungsliteratur vgl. Hans-Christian Petersen, Ostforschung, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, URL: http://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53916.html [alle zitierten Internetadressen wurden zuletzt am 31. 5. 2015 besucht]; Markus Krzoska, Ostforschung, in: Ingo Haar/Michael Fahlbusch (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen. Unter Mitarb. von Matthias Berg, München 2008, 452 – 463; Corinna R. Unger, Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1945 – 1975 (Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bd. 1), Stuttgart 2007, 48 – 54, 56 – 69, 78 – 81. Zum Begriff siehe ebd., 31 – 35; Eduard Mühle, „Ostforschung“. Beobachtungen zu Aufstieg und Niedergang eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 46 (1997), H. 3, 317 – 350, bes. 324 – 331. 3 Dazu jetzt einführend Martin Munke, „… die Interessen des deutschen Volkstums zu stützen und zu fördern“. Die Publikationsstelle Berlin-Dahlem 1931/33 bis 1943/47, in: Sven Kriese (Hrsg.): Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die Preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beihefte, Bd. 13), Berlin 2015, 259 – 292, dort (262 – 268) auch Bemerkungen zum Forschungsstand. Mit ausführlichen Quellenzitaten außerdem Helmut Wilhelm Schaller, Die „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ und die deutsche Osteuropaforschung in der Zeit von 1933 bis 1945, in: Historische Mitteilungen 20 (2008), 193 – 216.

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nur wenige Jahre zuvor noch ganz anders ausgesehen. Die dezidiert politische Zielsetzung ihrer Arbeit wurde gerade von Brackmann immer wieder betont – die Publikationsstelle solle „wesentlich nur den Problemen des deutschen Volkstumskampfes gelten; sie ist wesentlich für die Auseinandersetzung mit Polen gedacht; diesem Zweck verdankt sie ihren Ursprung und für diesen Zweck ist sie auch von den politischen Behörden bestimmt“.4 Die Tätigkeit der Publikationsstelle ist damit einzuordnen in den Kontext einer Forschungsrichtung, die, u. a. in Reaktion auf die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Grenzverschiebungen des Versailler Vertrages entstanden, sich „aus einem deutschtumszentrierten Blickwinkel mit den Gebieten Ostmittel- und Osteuropas [befasste] und […] die dortigen Völker und Staaten nicht als gleichberechtigte Subjekte, sondern lediglich als Objekte der von ihr proklamierten deutschen Hegemonie in diesem Gebiet [betrachtete]“5. Grundlage dafür bildete das auf den Geographen Albrecht Penck (1858 – 1945)6 zurückgehende Paradigma des deutschen „Volks- und Kulturbodens“ in Ostmittel- und Osteuropa. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten erfuhr dieses Konzept eine breite Förderung. Zugleich stellten sich viele seiner politisch nationalkonservativ orientierten Vertreter bereitwillig in den Dienst des Regimes, wobei ihr Wirken im Zweiten Weltkrieg 4 Schreiben von Brackmann an den Juristen und Wirtschaftswissenschaftler Hans Raupach (1903 – 1997) über ein Manuskript für die Reihe „Deutschland und der Osten“ und allgemein die Arbeit der Publikationsstelle, 5. 6. 1937, BArch Berlin, R153/226, Tagebuchnummer 1686/ 37. – Die Wechselwirkungen mit den Forschungsaktivitäten im Umfeld des polnischen „Westgedankens“ (mys´l zachodnia) sind in den vergangenen Jahren verstärkt in das Blickfeld der Forschung gerückt. Vgl. im Zusammenhang Jörg Hackmann, Deutschlands Osten – Polens Westen als Problem der Geschichtsschreibung. Anmerkungen zu einer vergleichenden Historiographiegeschichte, in: Matthias Weber (Hrsg.), Deutschlands Osten – Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde (Mitteleuropa – Osteuropa, Bd. 2), Frankfurt am Main u. a. 2001, 209 – 235; Markus Krzoska, Deutsche Ostforschung – polnische Westforschung. Prolegomena zu einem Vergleich, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 52 (2003), Nr. 3, 398 – 419; Jan M. Piskorski, „Deutsche Ostforschung“ und „polnische Westforschung“, in: Berliner Jahrbuch für Osteuropäische Geschichte (1996), H. 1, S. 379 – 389; außerdem die Beiträge in Jan M. Piskorski/Jörg Hackmann/Rudolf Jaworski (Hrsg.), Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich. Mit einem Nachwort von Michael Burleigh (Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung, Bd. 1), Osnabrück/Poznan´ 2002. 5 H.-C. Petersen, Ostforschung (Anm. 2). Zur Abgrenzung des Konzepts von der Osteuropaforschung vgl. ders./Jan Kusber, Osteuropaforschung zwischen Osteuropäischer Geschichte und Ostforschung, in: Jürgen Elvert/Jürgen Nielsen-Sikora (Hrsg.): Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus (Historische Mitteilungen, Beihefte, Bd. 72), Stuttgart 2008, 289 – 312. 6 Vgl. im Zusammenhang einführend Hans-Dietrich Schultz: „Ein wachsendes Volk braucht Raum“. Albrecht Penck als politischer Geograph, in: Bernhard Nitz/Hans-Dietrich Schultz/Marlies Schulz (Hrsg.), 1810 – 2010. 200 Jahre Geographie in Berlin (Berliner Geographische Arbeiten, Bd. 115), 2., verb. u. erw. Aufl., Berlin 2011, 99 – 153; Alexander Pinwinkler, „Hier war die große Kulturgrenze, die die deutschen Soldaten nur zu deutlich fühlten…“. Albrecht Penck (1858 – 1945) und die deutsche „Volks- und Kulturbodenforschung“, in: Österreich in Geschichte und Literatur 55 (2011), 180 – 191.

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den „Höhepunkt der politischen Selbstinstrumentalisierung“7 bzw. „bereitwilligen politischen Funktionalisierung“8 bildete. Nach 1945 kam es jedoch zu einer vergleichsweise raschen Reinstitutionalisierung der entsprechenden Aktivitäten9, wobei die zugrundeliegenden Konzepte im Kontext des beginnenden „Kalten Krieges“ weitgehend unreflektiert fortgeschrieben wurden10 und eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle lange unterblieb11. 7 J. Hackmann, Deutschlands Osten (Anm. 4), 226. Vgl. im Zusammenhang auch Eduard Mühle, Ostforschung und Nationalsozialismus. Kritische Bemerkungen zur aktuellen Forschungsdiskussion, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2001), H. 2, 256 – 275. 8 Jörg Hackmann, „An einem neuen Anfang der Ostforschung“. Bruch und Kontinuität in der ostdeutschen Landeshistorie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Westfälische Forschungen 46 (1996), 232 – 258, hier 233. 9 Dazu C. R. Unger, Ostforschung (Anm. 2), 82 – 173; J. Hackmann, „An einem neuen Anfang“ (Anm. 8); Eduard Mühle, Institutionelle Grundlegung und wissenschaftliche Programmatik der westdeutschen Beschäftigung mit ,deutscher Geschichte‘ im östlichen Mitteleuropa (1945 – 1959), in: Jerzy Kłoczowski/Witold Matwiejczyk/Eduard Mühle (Hrsg.): Dos´wiadczenia przeszłos´ci. Niemcy w Europie s´rodkowo-wschodniej w historiografii po 1945 roku / Erfahrungen der Vergangenheit. Deutsche in Ostmitteleuropa in der Historiographie nach 1945 (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung, Bd. 9), Lublin/Marburg 2000, 25 – 65. 10 Den Anstoß für die heutige intensive Beschäftigung mit diesem Feld lieferte die erstmals 1988 erschienene Studie von Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, London 2002. Eine Beschäftigung unter ideologisierten Vorzeichen hatte zuvor in der Geschichtswissenschaft der DDR stattgefunden; vgl. dazu Christoph Kleßmann, DDR-Historiker und „imperialistische Ostforschung“. Ein Kapitel deutschdeutscher Wissenschaftsgeschichte, in: Deutschland-Archiv (2002), H. 1, 13 – 31; Stefan Creuzberger/Jutta Unser, Osteuropaforschung als politisches Instrument im Kalten Krieg. Die Abteilung für Geschichte der imperialistischen Ostforschung in der DDR (1960 bis 1968), in: Osteuropa 48 (1998), H. 8/9, 849 – 867. Auch in Polen wandte man sich dem Thema eher als in der Bundesrepublik zu; vgl. etwa Bernard Piotrowski, Propaganda i nauka niemiecka w III Rzeszy o Polsce i Europie Wschodniej na przykładzie berlin´skiej Publikationsstelle [Deutsche Propaganda und Wissenschaft über Polen und Osteuropa im Dritten Reich am Beispiel der Berliner Publikationsstelle], in: Studia Historica Slavo-Germanica 13 (1984), 129 – 162. 11 Die wenigen Ansätze einer internen Traditionskritik wurden zeitgenössisch entweder weitgehend ignoriert oder nur im kleinen Kreis verbreitet. Ein Beispiel für die erstgenannte Strategie bildet der Umgang mit einer Rede des Historikers am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin Werner Philipp (1908 – 1996); vgl. Werner Philipp, Nationalsozialismus und Ostwissenschaften, in: Nationalsozialismus und die deutsche Universität. Universitätstage 1966, Berlin [West] 1966, 43 – 62; dazu Hans-Christian Petersen, „Die Gefahr der Renazifizierung ist in unserer Branche ja besonders groß.“ Werner Philipp und die deutsche Osteuropaforschung nach 1945, in: ders./Jan Kusber (Hrsg.), Neuanfang im Westen. 60 Jahre Osteuropaforschung in Mainz (Beiträge zur Geschichte der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Neue Folge, Bd. 5), Stuttgart 2007, 31 – 52. Zunächst nur als Manuskript vervielfältigt wurde nach einer fast durchweg negativen Reaktion auf einer Tagung des Johann-Gottfried-HerderForschungsrates im März 1963 ein auf einem Aufsatz in der Historischen Zeitschrift basierendes Referat des Marburger Historikers Walter Schlesinger (1908 – 1984), das erst mehr als 30 Jahre später im Druck erscheinen sollte; vgl. Walter Schlesinger, Die mittelalterliche deutsche Ostbewegung und die deutsche Ostforschung, in: Zeitschrift für OstmitteleuropaForschung 46 (1997), H. 3, 427 – 457; dazu Klaus Neitmann, Eine wissenschaftliche Antwort auf die politische Herausforderung des geteilten Deutschland und Europa. Walter Schlesinger, die ost(mittel)deutsche Landesgeschichte und die deutsche Ostforschung (2012), wiederab-

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Zu den Protagonisten jener Reinstitutionalisierung zählte auch Johannes Papritz, der ab 1949 am Staatsarchiv Marburg wieder als Archivar tätig wurde und an der neu gegründeten Archivschule lehrte12. Beide Einrichtungen sollte er ab 1954 leiten. Daneben engagierte er sich im ebenfalls in Marburg ansässigen Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat, in dem die Vertreter der „Ostforschung“ ab 1949/50 wieder zusammenfanden, und als dessen Vizepräsident Papritz bis 1966 amtierte13. Sein eigentliches Ziel war es gewesen, die Bibliotheksbestände der Publikationsstelle – die er über das Kriegsende hinaus größtenteils hatte zusammenhalten können – einem solchen institutionellen Neuanfang zur Verfügung zu stellen, wo auch immer er letztlich stattfinden sollte. Seine entsprechenden Bemühungen – in deren Kontext auch die eingangs zitierte Denkschrift entstand – organisierte er von der Stadt aus, in die es die wenigen verbliebenen Mitarbeiter der Einrichtung Anfang 1945 verschlagen hatte, und in der wenige Jahre später der Jubilar Jürgen Kloosterhuis geboren werden sollte: das oberfränkische Coburg. Es scheint nicht ohne eine gewisse Ironie, dass für die Bestände, die kurz zuvor auch für kriegerische Zwecke eingesetzt wurden, nun u. a. eine Eingliederung in eine dort projektierte „Internationale Akademie“ bzw. ein „Institut für Völkerverständigung“ zur Debatte stand und sie nach den Verwerfungen des Weltkriegs hätten der Friedenssicherung dienen sollen. Parallel suchte Papritz jedoch weitere Anknüpfungspunkte für eine Fortsetzung seiner Forschungstätigkeiten, die in ihrer geplanten Ausrichtung näher an der Vorkriegsarbeit der Publikationsstelle orientiert waren. Die entsprechenden Entwicklungen sollen im Folgenden erstmals auch unter Nutzung von Coburger Archivbeständen nachgezeichnet und kontextualisiert werden14, um zugleich einen Beitrag zur gedruckt in: ders., Land und Landeshistoriographie. Beiträge zur Geschichte der brandenburgisch-preußischen und deutschen Landesgeschichte, hrsg. von Hans-Christof Kraus und Uwe Schaper, Berlin 2015, 293 – 355, bes. den Quellenanhang (342 – 355), der die Konflikte mit den Kollegen anschaulich darstellt. 12 Zur Biographie vgl. Fritz Wolff, Papritz, Johannes, in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), 56 f., URL: http://www.deutsche-biographie.de/ppn116157585.html; Nils Brübach, Johannes Papritz – eine Archivarsbiographie, in: Angelika Menne-Haritz (Hrsg.), Archivische Erschließung – Methodische Aspekte einer Fachkompetenz (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Bd. 30), Marburg 1999, 25 – 38; Thekla Kleindienst, Johannes Papritz, in: I. Haar/M. Fahlbusch (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften (Anm. 2), 463 – 467. 13 Die wichtige Rolle des Forschungsrats und der kurze Zeit später begründeten HerderInstituts bei der Reinstitutionalisierung der „Ostforschung“ ist nach wie vor nur ansatzweise analysiert worden, worauf H.-C. Petersen, Ostforschung (Anm. 2) zu Recht hinweist. Wichtige Vorstudien sind J. Hackmann, „An einem neuen Anfang“ (Anm. 8), passim; E. Mühle, Institutionelle Grundlegung (Anm. 9), 28 – 44; ders., „Ostforschung“, Ostmitteleuropaforschung und das Marburger Herder-Institut. Anmerkungen zu einem komplexen Beziehungsgeflecht, in: Krzysztof Ruchniewicz (Hrsg.), Dzieje S´la˛ska w XX w. w s´wietle badan´ młodych historyków z Polski, Czech i Niemiec [Geschichte Schlesiens im 20. Jahrhundert im Licht neuer Forschungen aus Polen, Tschechien und Deutschland], Wrocław 1998, 276 – 292, hier 276 – 284; einige Bemerkungen auch bei M. Munke, „Interessen des deutschen Volkstums“ (Anm. 3), 288 – 292. 14 Die knappe Skizze bei Helmut Wilhelm Schaller, Eine Osteuropabibliothek in Oberfranken. Die letzte Station der „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“, in: Archiv für Geschichte

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Analyse der frühen Versuche der Reinstitutionalisierung der „Ostforschung“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu leisten. Bevor das Geschehen in Coburg in mehreren Schritten entfaltet wird, soll zur Skizzierung der Voraussetzungen dieses Geschehens eingangs noch ein kurzer Blick nach Berlin geworfen werden, wo die Publikationsstelle jener Einrichtung zugeordnet war, der mehrere Jahrzehnte später Jürgen Kloosterhuis über fast 20 Jahre als Direktor vorstehen sollte. II. Aus einem „Forschungs-„ bzw. „Publikationsfond“ beim Staatsarchiv für die Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen hervorgegangen, war die Publikationsstelle seit 1932 beim Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem angesiedelt15. Ihre Gründung geht auf das von Albert Brackmann Mitte 1931 initiierte „Ostprogramm“ der preußischen Archivverwaltung zurück16. Beim Geheimen Staatsarchiv wurde damit ein „institutionelles Zentrum“17 der Ostforschung geschaffen. Die Einrichtung unterstand zunächst direkt Brackmann; nach dessen Ablösung und Versetzung in den Ruhestand18 wurde die Leitung 1936 seinem engen Mitarbeiter Papritz übertragen. von Oberfranken 91 (2011), 277 – 286, hier 280 – 286 beruht allein auf den Berliner Archivbeständen (BArch R153/961, 962: Ausweichstelle Coburg), aus denen sie wiederum ausführlich zitiert. J. Hackmann, „An einem neuen Anfang“ (Anm. 8), der sich dem Geschehen ebenfalls widmet (236 – 241), hat darüber hinaus auch die entsprechenden Unterlagen des Nachlasses von Papritz im Hessischen Staatsarchiv Marburg (HStAM 340) herangezogen, der für den vorliegenden Artikel ebenfalls genutzt wurde. Dazu tritt eine Auswertung der Akten des Bestandes „Institut für Völkerverständigung e.V.“ im Staatsarchiv Coburg (StACo). 15 Der folgende Abschnitt beruht auf Martin Munke, Publikationsstelle Berlin-Dahlem, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013, URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53902.html; zum Ganzen auch ders., „Interessen des deutschen Volkstums“ (Anm. 3), 268 – 283. – Die Einrichtung firmierte auf dem offiziellen Briefpapier als „Preußisches Geheimes Staatsarchiv, Publikationsstelle“ oder „Publikationsstelle beim Preußischen Geheimen Staatsarchiv“, später nur noch als „Publikationsstelle“. In der Forschung hat sich die Bezeichnung durchgesetzt, die hier auch im Titel verwendet wird. Die gängige Kurzbezeichnung lautete „Pu.-Ste.“ oder „PuSte“. 16 Vgl. einführend Torsten Musial, Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens in Deutschland 1933 – 1945 (Potsdamer Studien, Bd. 2), Potsdam 1996, 22 – 24; Johanna Weiser, Geschichte der preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter. Von den Anfängen unter Staatskanzler von Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1945 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beihefte, Bd. 7), Köln/Weimar/Wien 2000, 112 – 116. 17 T. Musial: Staatsarchive (Anm. 16), 53. 18 Dazu direkt Michael Burleigh, Albert Brackmann (1871 – 1952) Ostforscher. The Years of Retirement, in: Journal of Contemporary History 23 (1988), H. 4, 573 – 588. Eine Gesamtbiographie fehlt und ist angesichts der zentralen Rolle vom Brackmann in der deutschen „Ostforschung“ ein dringendes Desiderat der Forschung. Vgl. einführend Hans Goetting, Brackmann, Albert Theodor Johann Karl Ferdinand, in: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), 504 f., URL: http://www.deutsche-biographie.de/ppn118659715.html (noch ganz im Duktus der Nachkriegszeit und die Verdienste Brackmanns für die „Ostforschung“ hervorhebend); Jörg Wöllhaf, Albert Brackmann, in: Haar/M. Fahlbusch (Hrsg.): Handbuch der völkischen

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Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik in Berlin und Jena hatte Papritz beim alldeutsch geprägten Berliner Historiker Dietrich Schäfer (1845 – 1929) zu einem wirtschaftshistorischen Thema promoviert und war anschließend nach der Ausbildung für den höheren Archivdienst am Geheimen Staatsarchiv u. a. in Danzig tätig gewesen. Ab 1929 koordinierte er den Aufbau des Archivs der Grenzmark Posen-Westpreußen, ab 1931 dann denjenigen der Publikationsstelle. Die Finanzierung der neuen Einrichtung erfolgte durch das preußische und das Reichsministerium des Innern. Einfluss nahm ebenfalls das Auswärtige Amt, das stark mit in die „Volkstumsarbeit“ involviert war19. Zunächst hatte die Aufgabe der Publikationsstelle vorrangig in der Beobachtung und Bewertung der polnischen wissenschaftlichen Forschung über die deutschen Ostgebiete bestanden20. Sie nahm dabei „eine zentrale Funktion bei allen deutschpolnischen Auseinandersetzungen im Bereich der Vergangenheitskritik und der Behandlung von Fragen polnischer Territorialansprüche ein“.21 Mittel dazu waren die Förderung von Forschungsarbeiten der Mitarbeiter sowie die Übersetzung der Tagespresse und wissenschaftlicher Studien zur „Landes- und Volksforschung“ aus Polen und, später, anderen ost- und ostmitteleuropäischen Ländern, in einigen Fällen aber auch die Behinderung von Forschungstätigkeiten polnischer Historiker22. Die Mitarbeiter fertigten darüber hinaus Kartenmaterial und Bevölkerungskarteien an, sie erfassten slawische Ortsnamen im Deutschen Reich und erarbeiteten Vorschläge zu deren Umbenennung. Ein Beispiel hierfür ist das Bemühen der Publikationsstelle, Einfluss auf die Forschungsarbeit zum sorbischen Volk in der Ober- und Niederlau-

Wissenschaften (Anm. 2), 76 – 81; J. Weiser, Geschichte der preußischen Archivverwaltung (Anm. 16), 111 – 143; M. Burleigh, Germany Turns Eastwards (Anm. 10), passim. Der Nachlass ist im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem einsehbar (GStA PK, VI. HA Familienarchive und Nachlässe, Nl. Albert Brackmann). 19 Vgl. im Zusammenhang Tammo Luther, Volkstumspolitik des deutschen Reiches 1933 – 1938. Die Auslanddeutschen im Spannungsfeld zwischen Traditionalisten und Nationalsozialisten (Historische Mitteilungen, Beihefte, Bd. 55), Stuttgart 2004; Rudolf Luther, „Blau oder Braun?“ Der Volksbund für das Deutschtum im Ausland VDA im NS-Staat 1933 – 1937, Neumünster 1999. Die Verbindungslinien zur späteren Selektions- und Umsiedlungspolitik schildert Markus Leniger, Nationalsozialistische „Volkstumsarbeit“ und Umsiedlungspolitik 1933 – 1945. Von der Minderheitenbetreuung zur Siedlerauslese (Geschichtswissenschaft, Bd. 6), Berlin 2006. 20 Vgl. für die folgenden Abschnitte allgemein Irmtraut Eder-Stein/Kristin Hartisch, Einleitung, in: dies.: Publikationsstelle Berlin-Dahlem 1931 – 1945. Bestand R 153 (Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs 92), Koblenz 2003, URL: http://startext.net-build.de:8080/ barch/MidosaSEARCH/R153 – 18329/index.htm. 21 H. W. Schaller, Die „Publikationsstelle Berlin-Dahlem“ (Anm. 3), 195. 22 Dazu jetzt ausführlich Stefan Lehr, Restriktionen für polnische Historiker in preußischen Archiven? Die Behandlung der Benutzungsanträge polnischer Staatsbürger (1928 – 1939), in: S. Kriese (Hrsg.): Archivarbeit (Anm. 3), 221 – 258.

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sitz zu nehmen. Sie unterstützte dabei die Politik des NS-Regimes, die Sorben zur Assimilation zu zwingen23. Neben Brackmann und Papritz nahm der nach dem Zweiten Weltkrieg am Koblenzer Bundesarchiv tätige Wolfgang Kohte (1907 – 1984) als Stellvertreter von Papritz eine wichtige Leitungsrolle in der Publikationsstelle ein. Der Mitarbeiterbestand stieg über die Jahre ständig an. Aus einem anfänglichen Brackmann‘schen „Einmannunternehmen“ wurde eine Dienststelle, die im Januar 1935 bereits 20, im Februar 1943 über 50 und zum Kriegsende nominell mehr als 60 Mitarbeiter aufwies24. Den wissenschaftlichen Angestellten und Stipendiaten war dabei jeweils ein Land bzw. eine Region zur „Beobachtung“ zugeteilt, parallel arbeiteten sie an wissenschaftlichen Veröffentlichungen und arbeiteten den verschiedenen Karteien zu. Daneben existierten eine Bücherei, eine Zeitschriften- und Handschriftenabteilung, eine Kartenabteilung und eine Bildersammlung25 – Materialien, die im Zweiten Weltkrieg für die Selektions-, Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik im Osten herangezogen konnten. Zwar führten diese Materialien und die ihr zugrunde liegende „Volksforschung“ nicht unbedingt „aus eigener Logik“ zu dieser „rassisch begründeten Vernichtungspolitik […], schlo[ssen] diese allerdings auch nicht aus“26. All diese Tätigkeiten waren nur für den Dienstgebrauch deutscher Ministerien und nachgeordneter Verwaltungsbehörden, mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges auch für das Militär bestimmt – offiziell trat die Publikationsstelle nach außen hin nicht in Erscheinung. Als Geschäftsstelle der Nordostdeutschen (später Nord- und Ostdeutschen) Forschungsgemeinschaft (NOFG)27 – der zentralen Einrichtung der

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Dazu detailliert Frank Förster, Die „Wendenfrage“ in der deutschen Ostforschung 1933 – 1945. Die Publikationsstelle Berlin-Dahlem und die Lausitzer Sorben (Schriften des Sorbischen Instituts, Bd. 43), Bautzen 2007, bes. 117 – 162, 214 – 241. 24 Vgl. verschiedene Aufstellungen zum Personalbestand in: BArch R153/8, R153/1214 und R153/1232. 25 Vgl. die „Referatseinteilung“ vom 1. 6. 1937, BArch R 153/6, wobei der Begriff „Referat“ sich meist nur auf eine einzelne Person bezieht, sowie die verschiedenen Jahresberichte, etwa den Geschäftsbericht der Publikationsstelle für das Jahr 1937, BArch 153/1537, und den Geschäftsbericht der Publikationsstelle für das Jahr 1938, BArch R153/1549. 26 So Wolfgang Kessler, Die „Ostforschung“ und die Deutschen in Polen, in: NordostArchiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte, N. F. 9 (2000), H. 2, 379 – 411, hier 405; vgl. ebd., 405 – 407. 27 Dazu einführend jetzt Martin Munke, Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft (NOFG), in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015, URL: http://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32801; ausführlich (auch zur Publikationsstelle), wenngleich häufig recht apodiktisch argumentierend Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931 – 1945, Baden-Baden 1999, 178 – 247, 534 – 590, 737 – 769; als Materialsammlung wertvoll, jedoch mit vielen Fehlern im Detail und fragwürdigen Folgerungen auf schmaler Quellenbasis Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 143), 2., durchges. und verb. Aufl., Göttingen 2002, 182 – 305 (zur

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deutschen „Ostforschung“ – bereitete die Publikationsstelle zudem deren Konferenzen vor, organisierte Forschungsreisen und wirkte bei der Vorbereitung von Ausstellungen mit. Daneben entfaltete sie auch eine öffentlich wirksame Publikationstätigkeit – ein gewisser Widerspruch zur Arbeit „im Geheimen“, so dass bei dieser Tätigkeit der Begriff „Publikationsstelle“ nicht fallen durfte. Ausgangspunkt hierfür war ein Sammelband aus Anlass des Internationalen Historikerkongresses in Warschau im Sommer 1933, der die Positionen der deutsch-nationalen Geschichtsschreibung darstellen sollte28. Darüber hinaus wurden u. a. die Schriftenreihe Deutschland und der Osten (ab 1936) und die Zeitschrift Jomsburg (ab 1937) begründet und bis 1943 veröffentlicht. Eine Festschrift zum 70. Geburtstag von Brackmann29 versammelte „auf dem Höhepunkt des deutschen Vernichtungskrieges“30 in zwei Bänden programmatische Texte zur „Ostforschung“. Während des Krieges hatten besonders die Arbeiten an Kartenmaterial zugenommen. Einen starken zahlenmäßigen Anstieg erfuhren auch statistische Veröffentlichungen zu Volkstums- und Verwaltungsfragen in Osteuropa. Daneben verwaltete die Publikationsstelle ein Zweitexemplar der „Deutschen Volksliste“, welche die Grundlage für die Germanisierungsvorhaben in den annektierten Gebieten Polens bildete31. Mitarbeiter der Einrichtung waren an den Grenzziehungskommissionen für die „Reichsgaue“ Sudetenland, Danzig-Westpreußen und Wartheland beteiligt. Darüber hinaus befassten sie sich mit der Verbringung von Archivgut ins Reich, Papritz leitete die „Deutsche Archivkommission für Estland und Lettland“32. Zugleich profitierte die Einrichtung stark von den kulturellen Beutezügen des „Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg“ (ERR) in Ost-, aber auch in Westeuropa33. So wurde ihr beispielsweise 1940 die Bibliothèque Polonaise aus Paris vorläufig zur Verfügung gestellt. Eigentlich für Rosenbergs nie endgültig verwirklichte „Hohe Schule“ bekritischen Einordnung der Arbeiten vgl. Mühle, Ostforschung und Nationalsozialismus [Anm. 7], 259 – 270). 28 Albert Brackmann (Hrsg.), Deutschland und Polen. Beiträge zu ihren geschichtlichen Beziehungen. München, Berlin 1933. Vgl. dazu M. Burleigh, Germany Turns Eastwards (Anm. 10), 51 – 62. 29 Hermann Aubin/Otto Brunner/Wolfgang Kohte/Johannes Papritz (Hrsg.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem Ersten Weltkrieg, 2 Bde. (Deutschland und der Osten. Quellen und Forschungen zur Geschichte ihrer Beziehungen, Bde. 20 u. 21), Leipzig 1942/43. 30 H.-C. Petersen, Ostforschung (Anm. 2). 31 Vgl. dazu einführend Roland Borchers, Deutsche Volksliste, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2014, URL: http://ome-lexikon. uni-oldenburg.de/p32838. 32 Dazu ausführlich Stefan Lehr, Ein fast vergessener „Osteinsatz“. Deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 68), Düsseldorf 2007. 33 Dazu ausführlich Anja Heuss, Kunst- und Kulturgutraub. Eine vergleichende Studie zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frankreich und der Sowjetunion, Heidelberg 2000; Peter M. Manasse, Verschleppte Archive und Bibliotheken. Die Tätigkeit des Einsatzstabes Rosenberg während des Zweiten Weltkrieges, St. Ingbert 1997.

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stimmt, sollte die Publikationsstelle die etwa 130.000 Bände umfassende Sammlung zunächst erschließen und für ihre eigene Arbeit wissenschaftlich auswerten, was unter den Bedingungen des Krieges jedoch nicht vollständig vollzogen werden konnte. III. Der Kriegsverlauf war es auch, der aufgrund der zunehmenden Luftangriffe zum Ausweichen der Publikationsstelle zunächst ab Januar 1944 nach Bautzen und schließlich, im Frühjahr 1945, nach Coburg führte34. Am 10. Mai kam Papritz hier an, vier Tage später erfolgte seine Meldung beim amerikanischen Militärkommando. Darüber gab es einige Unklarheiten und Verwechslungen mit den im nahen Kloster Banz untergebrachten Bücherbeständen des ERR, so dass die Bibliothek im Juli 1945 zunächst durch die Besatzungsbehörden gesperrt und Papritz als Leiter abgesetzt wurde. Als Mitarbeiter bzw. Treuhänder waren noch der Historiker und Geograph Eugen Oskar Kossmann (1904 – 1998)35 und der Slawist und Fachbibliothekar Harald Cosack (1880 – 1960)36 sowie zwei Verwaltungskräfte hier beschäftigt, bei halbierter Arbeitszeit und verringerten Bezügen. Die provisorische Unterbringung der Büros und der verbliebenen Bücherbestände, die 710 laufende Meter umfassten37, erfolgte in mehreren angemieteten Räumlichkeiten in Coburg und Umgebung, u. a. in einem Gasthof im nordwestlich gelegenen Wiesenfeld und in den Lagerräumen einer örtlichen Papiergroßhandlung. Dabei ergaben sich neben der knappen personellen Situation zahlreiche praktische Probleme über undichte Dächer bis hin zu der Tatsache, dass sich ein Großteil der Regale der Einrichtung noch ein Jahr nach der Ankunft in 34 Vgl. zum Ganzen HStAM 340 Papritz, C 12 d 41, Nr. 1: Die PuSte in den Jahren 1945 – 47 (Daten), Aktennotizen über Verhandlungen mit der Militärregierung, Etatspläne (sic!); BArch R 153/961, Ausweichstelle Coburg. Dazu und zum Folgenden auch M. Munke, „Interessen des deutschen Volkstums“ (Anm. 3), 286 – 288. 35 Der in Ruda Bugaj in der Nähe von Lodz/Łódz´ geborene Kossmann, seit 1936 bei der Publikationsstelle, war nach dem Zweiten Weltkrieg im Auswärtigen Amt tätig Er bezeichnete sich noch Ende der 1980er Jahre in seinen Memoiren selbst als „Ostforscher“. Vgl. Oskar Kossmann, Es begann in Polen. Erinnerungen eines Diplomaten und Ostforschers, Lüneburg 1989; zur Person einführend M. Burleigh, Germany (Anm. 10), 73 f.; in fast hagiographischem Ton Edmund Effenberger, Kossmann, Eugen Oskar, in: Kulturportal West-Ost, URL: http://kulturportal-west-ost.eu/biographies/kossmann-eugen-oskar-2. Auch bei den weiteren Hinweisen auf dieses von der Stiftung Deutsche Kultur im östlichen Europa und der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen betriebene Internetangebot sind teilweise entsprechende Tendenzen zu beachten. 36 Der aus dem estnischen Pernau/Pärnu stammende Cosack – dessen Mutter in Coburg geboren war – arbeitete seit 1934 bei der Publikationsstelle. Er erhielt dann 1947 eine außerordentliche Professur für „Geschichte der Länder des Ostens“ an der Universität Rostock und ging 1951 in den Ruhestand. Zur Person einführend M. Burleigh, Germany (Anm. 10), 72 f.; Wilhelm Lenz (Hrsg.), Deutschbaltisches biographisches Lexikon. 1710 – 1960. Begonnen von Olaf Welding. Unter Mitarb. von Erik Amburger und Georg von Krusenstjern, Köln/ Wien 1970, 150 f. 37 HStAM 340 Papritz, C 12 d 54, Bibliothekskataloge der Pu.Ste.

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Coburg zusammen mit weiteren Bücherbeständen in einem Ausweichlager in Oberkotzau bei Hof befand38. Um die Weiterbeschäftigung von Papritz entspann sich in der Folge, parallel zum Spruchkammerverfahren vor der Spruchkammer Coburg Stadt, eine Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Militärregierung39. Bereits im Dezember 1945 hatte Papritz einen Antrag auf Prüfung seiner Absetzung gestellt. Dieser wurde zunächst nicht bearbeitet, so dass im Anfang Mai 1946 eine Nachfrage erfolgte. Zuvor war ihm Anfang Januar von den lokalen städtischen Behörden eine „vorläufige Genehmigung zur Weiterführung des Geschäftes“ erteilt wurden, die Ende März wiederum von der Militärregierung widerrufen wurde. Der Coburger Prüfungsausschuss kam in einer Sitzung Ende Mai zu einem anderen Befund – Ende Juni wurde Papritz durch das örtliche Arbeitsamt wieder in seine Rechte als Leiter der Publikationsstelle eingesetzt, was von der Militärregierung erneut abgelehnt wurde. Das Spruchkammerverfahren zog sich derweil noch hin, bis im September seitens des Oberbürgermeisters seine Vordringlichkeit erklärt wurde. In der Klageschrift vom 16. November wurde der Antrag auf die Einordnung von Papritz in die Gruppe 2 der „Belasteten“ gestellt. Die Spruchkammer kam jedoch am 29. November zu einem anderen Urteil und sprach Papritz auf der Grundlage der eidesstattlichen Versicherungen40 u. a. von Brackmann, Kossmann und Cosack, aber auch von Hildegard Schaeder (1902 – 1984)41, die Entlastung (Gruppe 5) zu. Zwei Monate später, am 20. Januar 1947, erlangte dieses Urteil mit der Bestätigung der Militärregierung seine Rechtsgültigkeit42. Zwischenzeitlich war damit begonnen worden, Bücherbestände, die aus den von Deutschland im Krieg besetzten Gebieten stammten, auszusortieren. Der Lagerraum in Wiesenfeld wurde im Februar oder März 1945 von US-amerikanischen Soldaten 38

Vgl. BArch R 153/962, Aktennotiz Papritz, 11. 6. 1946. Vgl. zum Folgenden StACo, Spruchkammer Coburg Stadt (Spk Co-St) P 13, Papritz, Johannes, K I 451/46, fol. 1, 8, 32, 37 f., 40 f., 80 – 82, 96 f., 115. 40 Vgl. ebd., fol. 16 – 31. 41 Die seit 1935 bei der Publikationsstelle beschäftige Schaeder hatte zu den wenigen Personen aus dem Kreis der „Ostforscher“ gehört, die sich, in ihrem Fall als Mitglied der „Bekennenden Kirche“, dezidiert gegen das NS-Regime stellten. Aufgrund ihrer Unterstützung jüdischer Personen war sie seit September 1943 in Berlin in Haft, ab Frühjahr 1944 dann im KZ Ravensbrück. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie u. a. als Honorarprofessorin an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main tätig. Vgl. einführend Heike Anke Berger, Deutsche Historikerinnen 1920 – 1970. Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik, Frankfurt am Main / New York, NY 2007, 95 – 109, 156 – 158, 175 f., 202 – 245, 271 – 276, 294 – 301. 42 Zur Entnazifizierungspraxis vgl. allgemein Clemens Vollnhals/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945 – 1949, München 1991; Clemens Vollnhals, Entnazifizierung. Politische Säuberung unter alliierter Herrschaft, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau, München 1995, 369 – 392; für das Beispiel Bayern Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, 2. Aufl., Berlin [West]/Bonn 1982. 39

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inspiziert, kleine Mengen an Büchen wurden konfisziert. In Oberkotzau wurden im April Kisten mit Beständen des Statistischen Landesamtes Lettland in Riga beschlagnahmt43. Im Juni 1946 erfolgte dann die vorläufige Freigabe der Bücherbestände durch Übertragung der Verantwortung von der Militärregierung an das Bayerische Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung. Letzteres hatte zum 31. Juli 1946 die Entlassung der verbliebenen Mitarbeiter angeordnet, da „die flüssigen Mittel der Einrichtung durch laufende Gehaltszahlungen seit der Besetzung nahezu erschöpft“ und „keine besonderen Aufgaben zu erfüllen [waren]“44. Cosack, der zu dieser Zeit als „Treuhänder“ für die Einrichtung amtierte, erreichte für Kossmann eine Umänderung der „Entlassung“ in eine „Beurlaubung“. Dies galt jedoch nicht für Papritz. Das Landesamt genehmigte nach Rücksprache aber zumindest eine Zusammenarbeit „außerhalb des Instituts“, da „Herr Papritz die Fäden von unserem Institut zu einer Reihe von Universitäten und Behörden gesponnen hat und diese in Händen hält, auch sonst Auskünfte, das Institut betreffend, geben kann“45. IV. Diese Kontakte waren dem Ziel gewidmet, eine institutionelle Anbindung der Publikationsstelle an eine bestehende Forschungseinrichtung und damit eine geregelte Fortsetzung ihrer Arbeit zu erreichen46. Papritz hatte sich in diesem Sinn u. a. an das Ministerium für Volksbildung, Kunst und Wissenschaft des neu gegründeten Landes Niedersachsen gewandt47, außerdem an die Hochschulabteilung in der Schulverwaltung der Stadt Hamburg48 und die Universität Münster49. Er selbst sah seine Zukunft weiterhin im Archivwesen und bewarb sich etwa um die Stelle des Leiters des Archivs der Hansestadt Lübeck, wobei er die Eingliederung der Bibliothek in dessen Bestände vorschlug50. Eine solche Eingliederung entspräche „der Aufgabe Lübecks, für die es vor nahezu 500 Jahren begründet wurde, als Vermittlerin zwischen dem deutschen Westen und dem Ostseeraum zu dienen“51. Da Papritz aufgrund der Haltung der Militärregierung offiziell nicht für die Publikationsstelle tätig war, wurden die persönlichen Verhandlungen vor Ort jeweils durch Kossmann oder, ab August 1946, Cosack geführt. 43

Vgl. BArch R153/962, Aktennotiz Cosack, 2. 5. 1946; Cosack an Militärregierung/Property Control Branch, 5. 6. 1946. 44 Ebd., Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung / Außenstelle Stadt- und Landkreis Coburg (Hertwig) an Publikationsstelle, 26. 7. 1946. 45 Ebd., Aktennotiz Cosack, 1. 8. 1946. 46 Vgl. auch J. Hackmann, „An einem neuen Anfang“ (Anm. 8), 236 – 239. 47 Vgl. HStAM 340 Papritz C 12 d 42, Nr. 1: Verhandlungen mit Göttingen 1946 – 1947. 48 Vgl. ebd., Nr. 2: Verhandlungen mit Hamburg 1946 – 1947. 49 Vgl. ebd., Nr. 6: Verhandlungen mit Münster 1946 – 1947. 50 Vgl. ebd., Nr. 4: Verhandlungen mit Lübeck 1946. 51 Ebd., maschinenschriftliche Fassung einer zuvor handschriftlich entworfenen Denkschrift, 4. 6. 1946, fol. 1 r.

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Die Arbeit der Publikationsstelle sollte bei alledem im kleineren Rahmen und unter anderer Bezeichnung fortgeführt werden: „Der Name des Instituts, der seinen Sinn verloren hat und leicht zu Mißdeutungen Anlaß gibt, ist in ,Institut für Geschichte und Länderkunde Nordosteuropas‘ oder ,Nordosteuropainstitut‘ zu ändern.“52 Polen als bisheriger eigentlicher Zielpunkt der Aktivitäten der Publikationsstelle fand nun keine prominente Erwähnung mehr, sondern wurde durch einen umfassenderen Regionalbegriff ersetzt. Eine programmatische Abkehr von der politisierten „Ostforschung“ war mit der begrifflichen Hinwendung zu „Europa“ – oder auch dem „Ostseeraum“ – freilich nicht unbedingt verbunden, der Blick auf den „deutschen Charakter“ der Region, zumal der ehemaligen Ostprovinzen, sollte erhalten bleiben – deren „Schicksal kann uns nicht gleichgültig sein, und ihre weitere Entwicklung, gleich welchen Verlauf sie nimmt, wird uns unmittelbar und zunächst angehen“.53 Eine kritische Distanzierung von der eigenen Tätigkeit in der Zeit vor 1945 erfolgte entsprechend nicht. Stattdessen wurden die „streng wissenschaftliche Haltung und Arbeitsweise des Instituts“, ein „zunehmende[r] Boykot[t] von seiten der Partei“ und die „häufige[n] Angriffe von seiten der SS“ hervorgehoben. Papritz selbst habe aufgrund seiner „antinationalsozialistischen Einstellung und Haltung“ ständig mit seiner Absetzung rechnen müssen54. Die entsprechenden Verhandlungen um eine Übernahme und Fortsetzung der Arbeit, bei denen vielfach an alte Kontakte angeknüpft werden konnte, waren in mehreren Fällen bereits recht weit gediehen. Papritz selbst erschien Göttingen55 als be-

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Ebd., Nr. 3: Denkschriften zur Bibliothek als Bestandteil der geplanten „Internationalen Volksakademie für Völkerverständigung“, 1a, fol. 2 r. 53 Ebd., Nr. 4, Denkschrift (Anm. 51), fol. 1 r/v. Die hier bereits vorsichtig anklingende Akzeptanz der politischen Tatsachen in Bezug auf die Ostgebiete sollte später auch im Vorfeld der Gründung des Johann Gottfried Herder-Forschungsrates aus den entsprechenden Denkschriften sprechen, selbst wenn nach wie vor das Aufrechterhalten zumindest einer „geistigen Verbindung“ zu den Hauptaufgaben der eigenen Tätigkeit gerechnet wurde; vgl. E. Mühle, Institutionelle Grundlegung (Anm. 9), 36 – 38. Vgl. auch J. Hackmann, „An einem neuen Anfang“ (Anm. 8), 252: „Die Berufung auf Europa […] konnte also mit einer Neuorientierung der Ostmitteleuropaforschung einhergehen, die die Nationen der Region als gleichrangig betrachtete, sie konnte aber auch auf bequeme Weise als Deckmantel für die deutschtumsgeschichtliche Traditionen dienen.“ 54 Alle Zitate in HStAM 340 Papritz, C 12 d 42, Nr. 4, Papritz an Fink, 3. 4. 1946, 4 – 6. Georg Fink (1884 – 1966) war zunächst im hessischen Archivdienst tätig gewesen. Ab 1919 arbeitete er im Archiv der Hansestadt Lübeck, das er ab 1933 leitete, bis er im Februar 1946 von der britischen Militärregierung entlassen wurde; vgl. einführend Hans-Bernd Spies, Georg Fink (1884 – 1966). Der Weg eines hessischen Archivars nach Lübeck, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde 67 (2009), 231 – 290. Zum Ganzen auch J. Hackmann, „An einem neuen Anfang“ (Anm. 8), 237 f. 55 Hier sollte sich mit dem Göttinger Arbeitskreis ein Zusammenschluss ostdeutscher Wissenschaftler gründen, der dezidiert revisionistische Zielsetzungen verfolgte und sich insofern vom Herder-Forschungsrat abhob, als solche Positionen bei letzterem nach außen hin nicht offensiv vertreten wurden; vgl. E. Mühle, Institutionelle Grundlegung (Anm. 9), 30 – 33; J. Hackmann, „An einem neuen Anfang“ (Anm. 8), 239 – 241, 243 – 245; Samuel Salzborn,

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sonders geeignet, da die Stadt „zur Zeit eine unvergleichlich größere Zahl von deutschen Wissenschaftlern als irgend eine andere deutsche Stadt aufzuweisen hat, die auf Grund ihrer speziellen Fachrichtung an der Bücherei aufs stärkste interessiert sind“56. Das Niedersächsische Finanzministerium stellte die Mittel für die Eingliederung der Bibliothek in die Göttinger Universitätsbibliothek in den Haushalt des Jahres 1947 ein. Papritz hätte hier als Bibliotheksdirektor amtieren sollen, eine Fortführung der Arbeit als Universitätsinstitut unter seiner Leitung wäre aufgrund seiner fehlenden Habilitation nicht möglich gewesen. Auch für Cosack und Kossmann waren Stellen vorgesehen57. Ähnlich positive Signale erklangen zeitgleich aus Münster. Nachdem die finanziellen Voraussetzungen zunächst nicht gegeben schienen, wurde die Übernahme im universitären Haushalt für 1947 eingeplant58. Papritz erschien eine Ansiedlung hier besonders erfolgversprechend: „Es wäre auch gewiss sinnvoll gewesen, wenn das zukünftige ,Institut für Geschichte und Landeskunde des Ostseeraumes‘ […] seinen Standort in Münster gefunden hätte, nachdem Westfalens große welthistorische Leistung eben im Ostseeraum lag und ihm noch heute sein Gepräge giebt[!]“.59 Eine weitere „norddeutsche Option“ bildete eine Angliederung an die Universität Hamburg. Hier verfügte Papritz über besonders aussichtsreiche Kontakte. Der aus Reval/Tallinn stammende Historiker und Archivar Paul Johansen (1901 – 1965)60 hatte hier 1940/41 eine Professur angetreten, die er 1946 nach kurzer Internierung wieder aufnahm. Für August 1946 war ein Gespräch mit Papritz in Coburg geplant,

Göttinger Arbeitskreis, in: I. Haar/M. Fahlbusch (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften (Anm. 2), 198 – 203. 56 HStAM 340 Papritz, C 12 d 42, Nr. 1, Paritz an Grimme, 1. 12. 1946. Adolf Grimme (1890 – 1963), 1933 seines Amtes enthobener Ministerialrat im Preußischen Kultusministerium und 1943 zu einer Zuchthausstrafe verurteilt, wurde nach seiner Einsetzung zum Beauftragten für das Erziehungswesen in der Britischen Zone erster Kultusminister des Landes Liedersachsen und später Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks; vgl. einführend Kai Burkhardt, Adolf Grimme. Eine Biographie (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beihefte, Bd. 11), Köln/Weimar/Wien 2007. 57 Vgl. HStAM 340 Papritz, C 12 d 42, Nr. 1, Papritz an Zierold, 1. 12. 1946; Zierold an Papritz, 4. 2. 1947. Kurt Zierold (1899 – 1989) hatte seit 1925 im Preußischen Kultusministerium gearbeitet. Ab September 1945 leitete er dann die Abteilung Wissenschaft und Kunst im Kultusministerium des Landes Niedersachsen, bevor er ab 1949 in führenden Positionen bei der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft bzw. der Deutschen Forschungsgemeinschaft tätig war; vgl. einführend Franz Letzeler, Zierold, Kurt, in: Kulturportal West-Ost, URL: http://kulturportal-west-ost.eu/biographien/zierold-kurt-2. 58 HStAM 340 Papritz, C 12 d 42., Nr. 6, Steinbicker an Papritz, 9. 1. 1947. Clemens Steinbicker (1920 – 2005) war 1946 als Kurator der universitären Sammlungen eingesetzt worden und hatte dieses Amt bis 1949 inne. 59 Ebd., Papritz an Steinbicker, 12. 3. 1947. 60 Vgl. einführend Hellmuth Weis, Johansen, Paul, in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), 580 f. und den Nekrolog von Georg von Rauch, in: Zeitschrift für Ostforschung 14 (1965), 727 – 731.

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um die Überführung der Bibliothek nach Hamburg zu koordinieren61. Noch wichtiger für diese Bemühungen war die Tatsache, dass Hermann Aubin (1885 – 1969) nach einer Lehrstuhlvertretung in Göttingen 1946 auf einen Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte in Hamburg berufen wurde. Aubin hatte neben Brackmann zu den prominentesten Mitglieder der NOFG gehört und sollte wenige Jahre später entscheidend die Gründung des Johann Gottfried Herder-Forschungsrates vorantreiben, dessen erster Präsident er wurde62. Mit Papritz stand er im brieflichen Austausch über die Hamburger Pläne, nachdem dieser um Unterstützung gebeten hatte. Aubin sorgte dafür, dass sich die Hamburger Schulbehörde, der die örtliche Universität unterstellt war, mit den zuständigen bayerischen Behörden in Verbindung setzte. Auch der Hamburger Oberbürgermeister wurde eingeschaltet63. Und so schien eine örtliche Zeitung Anfang 1947 melden zu können: „Auch die Publikationsstelle des ehemaligen Reichsarchivs, die sich seit dem Zusammenbruch in Koburg [!] befand, siedelt nach Hamburg über.“64 V. Bereits ein Jahr zuvor hatte eine Coburger Zeitung ganz ähnlich getitelt: „Eine Viertelmillion Bücher. Der Grundstock der ,Internationalen Volksakademie für Völkerverständigung‘“65. Waren diese Zahlen mit Blick auf die verbliebenen Bestände der Publikationsstelle auch weit übertrieben, so machte die Berichterstattung doch eine weitere Option für den Fortbestand der Einrichtung deutlich – nämlich ein Teil einer neu zu gründenden „Zentrale des deutschen Völkerverständigungswillens“66 zu werden, deren Eröffnung für den Herbst 1946 vorgesehen war. Dieses Projekt – das die Durchführung von Vorlesungen, die Veröffentlichung einer eigenen Zeitschrift sowie, unter Nutzung der Bestände der Publikationsstelle, die Einrichtung einer Bibliothek und eines Archivs vorsah – wurde durch den Coburger SPD-Bürger61 Vgl. HStAM 340 Papritz, C 12 d 42, Nr. 2, von Heppe an Papritz, 17. 7. 1946. Hans von Heppe (1907 – 1982), vor 1945 Jurist bei der Deutschen Reichsbahn und im Reichsverkehrsministerium, war von 1946 bis 1951 Referent für Hochschulen der Hansestadt Hamburg und beendete seine Beamtenlaufbahn als Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft; vgl. den Eintrag in: Munzinger Online. Internationales Biographisches Archiv, URL: http://www.munzinger.de/document/00000011566. 62 Zum aus Reichenberg/Liberec stammenden Aubin vgl. grundlegend Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 65), Düsseldorf 2005. Dort, 391 – 459, auch zahlreiche Informationen zur Reinstitutionalisierung der „Ostforschung“. Siehe außerdem Hans-Erich Volkmann, Historiker aus politischer Leidenschaft. Hermann Aubin als Volksgeschichts-, Kulturboden- und Ostforscher, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), H. 1, 32 – 49; knapp ders., Hermann Aubin, in: I. Haar/M. Fahlbusch (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften (Anm. 2), 58 – 62. 63 HStAM 340 Papritz, C 12 g 32, Papritz an Aubin, 9. 3. 1946. Vgl. auch E. Mühle, Für Volk und deutschen Osten (Anm. 62), 400 – 405. 64 Die neue Zeitung, 24. 1. 1947, 4, in: HStAM 340 Papritz, C 12 d 42, Nr. 2. 65 Coburger Main Post, 12. 2. 1946, in: Ebd., C 12 d 41, Nr. 4. 66 Neue Presse, 23. 2. 1946, in: Ebd.

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meister Ludwig Meyer (1886 – 1957) vorangetrieben, der nach 1933 in KZ-Haft in Dachau gesessen hatte, durch die Militärregierung im Mai 1945 zunächst zum Zweiten Bürgermeister und schließlich im Dezember 1945 zum Oberbürgermeister ernannt wurde. In diesem Amt wurde er durch den im Mai 1946 ersten neu gewählten Stadtrat bestätigt. Mit Blick auf die Tatsache, dass Coburg zu den frühen Hochburgen der NSDAP gezählt hatte – bereits im Juni 1929 errang die Partei hier eine absolute Mehrheit der Stadtratssitze –,67 wurde nach 1945 eine Reihe von Aktivitäten entfaltet, die einen demokratischen Neuanfang begleiten sollte. In diese Aktivitäten sollten auch Papritz und die Publikationsstelle eingebunden werden. Eine solche Einbindung in Coburg erschien für deren Leiter zunächst freilich wenig zielführend. Papritz hätte die Unterbringung entsprechend den zuvor geschilderten Aktivitäten gern „an einem Orte [gesehen], der ein lebhaftes wissenschaftliches Leben aufweist, das die Gewähr dafür bietet, daß die Bücherei von der Wissenschaft voll ausgenutzt wird“. Und diesem Anspruch „wird die Stadt allerdings nicht gerecht“68. Für die Zielsetzung eines Einsatzes für die Völkerverständigung schien ihm die Tätigkeit der Publikationsstelle gleichwohl geeignet, da deren Forschungsarbeiten „als Voraussetzung für die Kenntnis von den Nachbarn und damit für ein vernünftiges Verhältnis zu ihnen“69 dienen könnten. Dazu müsste jedoch eine Wirken auch jenseits der in Rede stehenden Eingliederung der Bibliothek garantiert werden, denn „eine rein bibliothekstechnische Eingliederung, die nur darauf aus ist, das vorhandene Material für eine gelegentliche Benutzung zur Verfügung zu halten, nicht aber es sachgemäß weiter auszubauen und durch eigene Forschung nutzbar zu machen, [würde] eine unverantwortliche Schmälerung der deutschen wissenschaftlichen Belange bedeuten“70. Diese Entscheidung zwischen reiner Bildungs- und institutionalisierter Forschungstätigkeit bildete auch eine Kernfrage bei den Planungsarbeiten zur Akademie, worauf später noch kurz einzugehen sein wird. Diese Planungsarbeiten zogen sich über einen längeren Zeitraum hin. Zwar hatte es bereits Anfang 1946 erfolgreiche Verhandlungen mit der bayerischen Staatsregierung gegeben, und auch der Presse – die Coburg daraufhin gleich zur „Keimzelle deutscher Demokratie“71 erklärte – war das Projekt im örtlichen Landestheater vorgestellt worden. Schon diese ersten öffentlichen Schritte riefen allerdings unter der Überschrift „Nächtlicher Spuk im 67 Vgl. zum Ganzen Hubertus Habel (Red.), „Voraus zur Unzeit“. Coburg und der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, Katalog zur Ausstellung der Initiative Stadtmuseum Coburg e. V. und des Staatsarchivs Coburg im Staatsarchiv Coburg, 16. Mai bis 8. August 2004, Coburg 2004; Joachim Albrecht, Die Avantgarde des „Dritten Reiches“. Die Coburger NSDAP während der Weimarer Republik 1922 – 1933 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 1008), Frankfurt am Main u. a. 2005. 68 HStAM 340 Papritz, C 12 d 41, Nr. 3, undatierte Denkschrift „1a“, fol. 1 v. In einer späteren Fassung „1b“ hieß es dann „[…] wird die Stadt allerdings weniger gerecht“. 69 Ebd., „1b“, fol. 1 v. 70 Ebd., undatierte Denkschrift „3“, 3. 71 Neue Presse, 10. 4. 1946, in: Ebd., Nr. 4.

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Theater“ auch Kritiker auf den Plan, welche die dafür bereitgestellten finanziellen Mittel lieber zur Unterstützung der Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten eingesetzt sehen wollten72. Daneben führten interne Probleme wie Veruntreuungen durch den amtierenden Generalsekretär zu Verzögerungen, auch die Genehmigung der Militärregierung stand noch aus. Auf der Generalversammlung der Coburger SPD im Oktober 1946 wurde so lebhaftes Bedauern darüber geäußert, dass die „Völkerverständigungsakademie noch nicht arbeitsfähig [ist]“73. Landrat Rudolf Kämmerer äußerte dennoch eine optimistische Prognose: „Jetzt endlich stehen wir vor der Genehmigung durch die Mil.Reg. in Bayern. Die Genehmigung durch das Staatsministerium in München ist bereits gegeben. In der vorbereitenden Akademiearbeit gab es nicht nur Schmutz und Dreck wie es außenstehende Leute behaupten, sondern viel Arbeit und Guts.“74 Nach einer ersten Tagung mit Dozenten verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen konstituierte sich im November 1946 dann ein „erweitertes Kuratorium“, das die Einrichtung der Akademie vorantreiben sollte. Neben Oberbürgermeister Meyer und Landrat Kämmerer waren weitere prominente SPD-Politiker der Region darin vertreten, etwa der Regierungspräsident von Mittelfranken Hans Schregle und der Coburger Stadtrat Paul Wüstrich. Der designierte Geschäftsführer der Akademie, Heinrich Timler, leitete zugleich die örtliche Geschäftsstelle der Sozialdemokraten. Dieses Posten sollte er zum 1. Dezember jedoch aufgeben, zumal er parallel auch die Geschäfte der neugegründeten Volkshochschule vor Ort leiten sollte. Zur Finanzierung der Akademie war bereits im Vorfeld die Einführung einer „Kulturabgabe“ beschlossen worden: Von jeder verkauften Eintrittskarte des Landestheaters und eines örtlichen Kabaretts waren 10 Pfennig für die Akademiearbeit verfügbar. Bislang waren so etwa 6.300 Reichsmark gesammelt worden, monatlich wurde mit Einnahmen von 1.500 RM geplant. Die Unterbringung sollte in Räumlichkeiten des Schlosses Ehrenburg erfolgen75. Vor allem die Rechtsform der zu gründenden Einrichtung war lange Zeit umstritten, weswegen konkretere Schritte bis ins Jahr 1947 auf sich warten ließen. Eine Körperschaft öffentlichen Rechts und eine Stiftung wurden schließlich aus verschiedenen Gründen verworfen. Auf der Basis eines Organisationsstatutes, das am 23. April vom bayerischen Kultusministerium genehmigt worden war, wurde im Oktober des Jahres der Zusammenschluss der Volksakademie und eines bereits bestehenden Freundeskreises in einem „Institut für Völkerverständigung Coburg e. V.“ beschlos72

Vgl. Demokratische Nachrichten, Nr. 2, 11. 4. 1946, in: Ebd. StACO, LA A 3769, Nachlass F 69 (Paul Wüstrich), Niederschrift über die 1. Generalversammlung der Sozialdemokratischen Partei Ortsverein Coburg am 13. Oktober 1946 im Großen Hofbräusaal zu Coburg, 7. Zu den finanziellen Unregelmäßigkeiten siehe den Revisionsbericht über die Buchführung der Internationalen Volksakademie für Völkerverständigung, Coburg, Heinrich Eduard Frede, 14.12.1946, in: Ebd. 74 Ebd., Niederschrift (Anm. 72), 8. 75 Vgl. ebd., Protokoll über die 1. Sitzung des erweiterten Kuratiriums [!] am 6. November 1946, 16.00 Uhr im Regimentszimmer des Rathauses, 7. 11. 1946. 73

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sen, dem Schregle vorstehen sollte. Seine Ziele wurden wie folgt formuliert: „Das Institut hat die Aufgabe, für die Verständigung und geistige Zusammenarbeit unter den Völkern zu arbeiten, in dem es die diesen Zielen dienlichen Wissenschaften und Künste pflegt und einer breiten Öffentlichkeit, insbesondere der Jugend, nahebringt. Es kann zu diesem Zwecke vor allem regelmäßige Vorlesungen abhalten. Organisatorisch kann es besondere Unterabteilungen bilden, die der Pflege eines einzelnen Wissenschafts- oder Kunstzweiges gewidmet sind.“76 Diesen Zwecken entsprechend war zunächst eine Reihe von Vorträgen geplant. Eingeladen werden sollten hierzu etwa der Theologe und prominente Vertreter der „Bekennenden Kirche“ Martin Niemöller (1892 – 1984) oder der Religionsphilosoph Romano Guardini (1885 – 1968); auch an den stellvertretenden US-amerikanischen Chefankläger beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Robert Kempner (1899 – 1993), wurde gedacht77. Die Fokussierung auf diese Vortragstätigkeit im Bereich politischer Bildung war freilich umstritten. Ähnlich wie Papritz sprach sich das Kuratoriumsmitglied Wilhelm Vershofen (1878 – 1960) für eine umfangreichere wissenschaftliche Arbeit aus78. Unterstützt wurde er dabei vom damaligen Direktor der Kunstsammlungen der Veste Coburg, Günter Grundmann (1892 – 1976), der von 1963 bis 1972 einer der Nachfolger von Hermann Aubin als Präsident des Herder-Forschungsrates werden sollte79. Im Rahmen einer Kuratoriumssitzung formulierte Grundmann mehrere Leitfragen für die zukünftige Arbeit des Instituts: „Weshalb sind bisher alle Versuche zur Völkerverständigung gescheitert? Woran liegt es, dass sich die Völker immer mehr entfremdet haben? Wo hat die Arbeit einzusetzen, um eine historisch fundierte und menschlich mögliche Annäherung der Völker zu ermöglichen?“ Diese Arbeit wurde als eine Aufgabe von geradezu welt76 StACo, Institut für Völkerverständigung e. V., 1, Niederschrift über die Sitzung des Arbeitsausschusses des Kuratoriums der Volksakademie für Völkerverständigung, Coburg, am 14.10.1947 um 17 Uhr im Rathaus. Zitat: §1 des Satzungsentwurfs von Stadtrechtsrat Scheringer. 77 Vgl. ebd., Niederschrift über die Sitzung des Kuratoriums am 27.11.1947, 16 Uhr in der Regimentsstube im Rathaus zu Coburg; Niederschrift über die Besprechung am 8. 12. 1947 um 18 Uhr in den Räumen der Ehrenburg. 78 Vgl. ebd., Exposé „Institut für Völkerverständigung“, 23. 12. 1947. Vershofen gehört zu den Begründern der Markt- und Konsumforschung in Deutschland. An der Handelshochschule Nürnberg war der junge Ludwig Erhard (1897 – 1977) sein Assistent; vgl. im Zusammenhang Clemens Wachter, Ludwig Erhard als Wissenschaftler und Dozent. Seine Tätigkeit an der Nürnberger Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und am Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 100 (2013), 637 – 672. 79 Der aus Hirschberg/Jelenia Góra stammende Grundmann hatte u. a. an der Technischen Hochschule Breslau/Wrocław gelehrt und wurde 1950 nach seiner Coburger Zeit Direktor des Altonaer Museums in Hamburg. Zudem übernahm er u. a. den Vorsitz der Vereinigung Deutscher Landesdenkmalpfleger und war Mitglied des Stiftungsrats des Ostdeutschen Kulturrats; vgl. einführend Bernhard Stasiewski, Günther Grundmann – Leben und Werk 1892 – 1976, in: Zeitschrift für Ostforschung 26 (1977), 1 – 17; Ernst Schremmer, Grundmann, Günther, in: Kulturportal West-Ost, URL: http://kulturportal-west-ost.eu/biographien/grundmann-gunther-2.

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geschichtlichen Ausmaßen wahrgenommen: „Wir müssen […] davon ausgehen, dass die heutige Situation nicht nur der europäischen Völker, sondern der Völker des ganzen Erdballs auf Verständigung miteinander angewiesen sind, wenn sie nicht – und das gilt vor allen Dingen für die europäischen Völker – in einem dritten Weltkrieg zugrunde gehen wollen.“80 Auch Papritz hatte sich zwischenzeitlich unter dem Eindruck der sich hinziehenden Verhandlungen mit anderen Stellen und der zahlreichen organisatorischen Schwierigkeiten für einen Verbleib der Publikationsstelle in Franken bzw. Bayern zumindest nach außen hin erwärmen können: „Wenn es [= Bayern] vielleicht auch dem Interessengebiet des Instituts nicht in so lebenswichtiger Verflechtung verbunden ist wie Norddeutschland, […] so haben sich die Voraussetzungen jetzt doch sehr gewandelt. Infolge der neuen Grenzen, Zonenbildungen und Evakuierungen ist Bayern den Fragen des Nordostens nahe genug gerückt […], zumal [es] an den Geschicken des Nordostens von früher mittelalterlicher Zeit an einen sehr erheblichen und durch die Jahrhunderte wirkenden Anteil genommen hat […].“81 Diese Fragen wurden von ihm – im Gegensatz zu anderen Protagonisten des Instituts – freilich nicht in den Kontext der Völkerverständigung gestellt, sondern mit Blick auf die Aufnahme der Vertriebenen und den zukünftigen Umgang mit den Ostgebieten für wichtig erachtet: „[…] und wenn auch die Neubürger Bayerns nicht zurückschauen und sich damit das Einleben nicht erschweren sollen, so läßt sich andererseits doch nicht bezweifeln, daß künftig nicht ganze deutsche Stämme zu völliger Geschichtslosigkeit verurteilt sein werden und daß Bayern an der Pflege dieser Überlieferung seinen Anteil wird nehmen sollen und wollen […].“82 Der Verwirklichung all dieser Vorstellungen waren freilich enge Grenzen gesetzt. Ende November 1947 war die Finanzierung durch die Kulturabgabe von den Regionalbehörden für nicht rechtmäßig erklärt worden83. Grundmann bemühte sich, von ihm für eine Mitarbeit vorgesehene Personen von der Zukunftsfähigkeit des Instituts zu überzeugen – immerhin gehe es darum, „in Deutschland nach diesem Kriege möglichst viele Zellen zu schaffen, die für den Frieden[,] also für die Verständigung der Völker und für den Ausgleich der Gegensätze sich einsetzen“84 Eine für Sommer 1948 geplante Arbeitstagung wurde jedoch immer wieder verschoben, wichtige Personen wie Vershofen zogen sich von der Mitarbeit zurück, vor allem auch daher, „dass man schon aus finanziellen Gründen heraus an die Verwirklichung einer tatsächlich effektiven Institutsarbeit nicht denken kann“85. Als infolge der Währungs80 StACo, Institut für Völkerverständigung e. V., 1, Referat von Prof. Dr. Grundmann in der Sitzung des Kuratoriums des Instituts für Völkerverständigung vom 14. Januar 1948, 2. 81 HStAM 340 Papritz, C 12 d 41, Nr. 3, undatierte Denkschrift „5“, 3. 82 Ebd. 83 Vgl. StACo, Institut für Völkerverständigung e. V., 1, Niederschrift über die Sitzung des Kuratoriums am 27.11.1947, 16 Uhr in der Regimentsstube im Rathaus zu Coburg. 84 Vgl. ebd., Grundmann an Victor Jungfer, 12. 4. 1948. 85 Ebd., Vershofen an Grundmann, 2. 3. 1948.

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reform vom Juni 1948 die Reserven des Instituts stark an Wert verloren86, die Tagung ganz abgesagt wurde und prominente Referenten wie der Oldenburger Bischof Wilhelm Stählin (1883 – 1975) – der wie Niemöller Mitglied der „Bekennenden Kirche“ gewesen war – wieder ausgeladen wurden, erklärte auch Grundmann gemeinsam mit dem Architekten und Dozenten an der Coburger Staatsbauschule Richard Teufel (1897 – 1958) seinen Rückzug aus dem Kuratorium87. Kurz zuvor hatte er bereits prognostiziert, „dass die Nichtabhaltung der Tagung praktisch die Weiterexistenz des Instituts überhaupt in Frage stellt und aus diesem Grunde dem Entschluss zu dessen Auflösung gleichkommt“.88 Damit sollte er Recht behalten – die archivalische Überlieferung zum Institut bricht an dieser Stelle ab, die bereits beantragte Eintragung des Vereins beim Amtsgericht Coburg ist dem bisherigen Kenntnisstand nach nicht zustande gekommen89. VI. Schon längst zerschlagen hatten sich zu diesem Zeitpunkt auch die Planungen, die Bibliothek der Publikationsstelle einzugliedern. Dies galt darüber hinaus zunächst für alle Bemühungen von Papritz, die Arbeit seiner Einrichtung aufrecht zu erhalten. Die Idee eines Neuanfangs in Hamburg, Göttingen, Münster oder Lübeck scheiterte an der Weigerung der US-amerikanischen Militärregierung, eine Überstellung in die britische Besatzungszone zu genehmigen. Versuche etwa von Aubin in Hamburg, über eine Einbeziehung der britischen Militärregierung die Amerikaner umzustimmen, blieben erfolglos90. Bereits im Januar 1947 waren die Bestände durch die Militärbehörden in Bayern erneut konfisziert worden. Papritz und Kossmann wurden in ein Militärlager in Oberursel verbracht und dort damit beauftragt, sie zu ordnen und zu katalogisieren. Ihr Verzeichnis listet um die 30.000 Bände (darunter ca. 1.000 Übersetzungen) und 3.000 Karten auf, die die Wirren der vergangenen Jahre überstanden hatten91. Im Rahmen dieser Tätigkeit versuchte Papritz, die Publikationsstelle den Amerikanern als ein mögliches Vorbild für den Aufbau eigener landeskundlicher Institute 86 Vgl. im Zusammenhang Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart, 2., überarb. und erw. Aufl., München 2011, 119 – 129; ausführlich Eckhard Wandel, Die Entstehung der Bank Deutscher Länder und die deutsche Währungsreform 1948. Die Rekonstruktion des westdeutschen Geld- und Währungssystems 1945 – 1949 unter Berücksichtigung der amerikanischen Besatzungspolitik (Schriftenreihe des Instituts für Bankhistorische Forschung e. V., Bd. 3), Frankfurt am Main 1980. 87 StACo, Institut für Völkerverständigung e. V., 1, Grundmann/Teufel an Kämmerer, 29.8.1948. 88 Ebd., unbetitelte Denkschrift, ohne Datum, 2. 89 Eine diesbezügliche Anfrage des Autors an das Coburger Amtsgericht wurde bisher nicht beantwortet. 90 Vgl. HStAM 340 Papritz, C 12 d 42, Nr. 2, Papritz an von Heppe, 12.3.1947; von Heppe an Papritz, 26.3.1947, 24.6.1947; E. Mühle, Für Volk und deutschen Osten (Anm. 62), 404 f. 91 HStAM 340 Papritz, C 12 d 55, Nr. 1, 2.

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jenseits der Spezialisierung monodisziplinärer Stellen darzustellen, da die „Kompliziertheit des modernen Lebens“ eine wissenschaftliche Einrichtung erfordere, die „jederzeit eine Sofortinformation über alle interessierenden Gebiete und Fragen ermöglicht, wie sie von keiner anderen Stelle beigebracht werden können. Mit der Bücherei und den Sammlungen der Publikationsstelle hat die amerikanische Armee ein wissenschaftliches Institut übernommen, das in dieser Hinsicht als Muster gelten kann.“92 Gerade die Niederlage des „Dritten Reiches“ wurde von ihm für die Begründung der Notwendigkeit einer solchen Einrichtung herangezogen, denn die „deutschen Erfahrungen vor und im zweiten Weltkrieg haben erwiesen, welche schwerwiegenden Fehler eine unzureichende Information zur Folge haben kann“. Gleichwohl hätten die Nationalsozialisten noch die richtigen Schlüsse gezogen, indem durch sie „alle geeignet erscheinenden landeskundlichen Institute in einem System zusammengefasst und z. T. mit großem Aufwand an Mitteln neu begründet [wurden], sodass für jedes Land oder Ländergruppe ein besonderes Institut zuständig war. Die wissenschaftlichen Einrichtungen, wie sie von der Publikationsstelle in langjähriger entwickelt worden waren, dienten dabei als Muster“93. Die 1943 erfolgte Angliederung der Publikationsstelle an das Reichssicherheitshauptamt und mithin die Unterstellung unter die SS, die Papritz im Entnazifizierungsverfahren noch als Bedrohung für Leib und Leben empfunden hatte, wurde hier in ganz anderem Licht geschildert, ja als nachahmenswerte Maßnahme dargestellt. Und so nimmt es nicht wunder, dass neben britischen Royal Institute of International Affairs auch die nationalsozialistische Reichsstiftung für Länderkunde als Vorbild aufgeführt wurde94. Immer wieder war es die vorgebliche bisherige Wissenschaftlichkeit der Arbeit seiner Einrichtung, die als Hauptkriterium auch für ihre zukünftige Ausrichtung diente. Dies führte gerade vor dem Hintergrund der positiven Hervorhebung der Zentralisierungsmaßnahmen der SS zu im Nachhinein geradezu absurd anmutenden Wertungen. Gerade die geplante Indienstnahme für die Friedensarbeit im Rahmen der Coburger Akademie bzw. des Coburger Instituts wurde von Papritz nämlich als Bedrohung eben dieser Wissenschaftlichkeit aufgefasst: „Wert lege ich besonders darauf, daß die streng wissenschaftliche Haltung und Arbeitsweise des Instituts […] 92 HStAM 340 Papritz, C 12 d 41, Nr. 6, unbetitelte Denkschrift, 1948, 1 f. Dort auch die folgenden Zitate. 93 Vorsichtige traditionskritische Äußerungen an diesem Ort, die etwa von einer „Isolation“ der deutschen Historikerschaft durch die NS-Politik sprechen, sind gerade auch vor dem Hintergrund der hier zitierten Passagen mit J. Hackmann, „An einem neuen Anfang“ (Anm. 8), 238 wohl als taktisch motiviert zu werten. 94 Zu dieser Dienststelle im RSHA (Amt VI G) und ihrem Leiter, dem österreichischen Historiker und Geographen Wilfried Krallert (1912 – 1962), vgl. einführend Michael Fahlbusch, Wilfried Krallert (1912 – 1969). Ein Geograf und Historiker im Dienst der SS, in: Karel Hruza (Hrsg.), Österreichische Historiker 1900 – 1945, Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Portraits, Wien/Köln/Weimar 2008, 793 – 836. Siehe außerdem ders.: Reichssicherheitshauptamt Abteilung VI G (Reichsstiftung für Länderkunde), in: I. Haar/M. Fahlbusch (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften (Anm. 2), 545 – 555.

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erhalten bleibt. Dies durchzusetzen war in den vergangenen Jahren manchmal nicht leicht, auch sehe ich im Rahmen der hiesigen Akademie eine neue Veranlassung gegeben, politische Forderungen an unsere wissenschaftliche Arbeit zu stellen und bin deswegen nicht wenig beunruhigt. Hoffentlich täusche ich mich.“95 Seine Befürchtungen sollten sich dahingehend nicht erfüllen, als die Sammlungen der Publikationsstelle ab November 1947 in die USA verbracht wurden, wobei der Großteil in die Kongressbibliothek in Washington D.C. gelangte96. Die Pläne von Papritz zu einer wenn auch eingeschränkten Aufrechterhaltung „seiner“ Einrichtung schienen zunächst gescheitert, bis sie nur wenige Jahre später in Form der von Hermann Aubin mit Unterstützung von Papritz vorgetrieben Gründung des Johann Gottfried Herder-Forschungsrats in Marburg – dann unter Verwendung des Ostmitteleuropa-Begriffs – doch noch einen Erfolg zeitigen sollten97. Auch die Überreste der Bibliothek blieben nur etwa zehn Jahre verstreut. Von Ende der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre gelangten Teile davon in die Bestände des Herder-Instituts. Im Oktober 1964 folgte der Hauptteil im Umfang von etwa 21.000 Bänden, wobei ein kleiner Teil in Washington verblieb. Der Großteil der Sammlung befand sich nun wieder in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Leiters der Publikationsstelle, der ja seit 1949 im Archivwesen in Marburg tätig war, und konnte im Rahmen der Aktivitäten des Herder-Instituts und des Forschungsrats wieder für wissenschaftliche Arbeiten herangezogen werden. Dass viele der daran beteiligten Forscher noch für viele Jahre in alten Denkkategorien und Deutungstraditionen verhaftet blieben, wurde erst viel später thematisiert – waren die meisten doch davon überzeugt, „[…] das für ihre Zeit vermeintlich Richtige getan [zu] haben“.98

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Papritz an Fink (Anm. 54), 3 f. Vgl. dazu und zum Folgenden David Zimmer, Gestempelte Bücher. Ein mutmasslicher [sic!] Raubgut-Bestand in der Bibliothek des Herder-Instituts in Marburg, in: Bibliothek. Forschung und Praxis 33 (2009), Nr. 1, 88 – 92; M. Munke, „Interessen des deutschen Volkstums“ (Anm. 3), 288 f. 97 Vgl. E. Mühle, Institutionelle Grundlegung (Anm. 9), 34 f.; ders., Für Volk und deutschen Osten (Anm. 62), 408 – 416; J. Hackmann, „An einem neuen Anfang“ (Anm. 8), 241 – 243, 245 – 252. 98 Włodzimierz Borodziej, „Ostforschung“ aus der Sicht der polnischen Geschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 46 (1997), 405 – 426, hier 426. 96

Von der Fahne gegangen! Rückblick auf meine Dienstzeit im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz 1970 – 1983 Von Eckart Henning, Berlin Als ich in Berlin(-Wilmersdorf) geboren wurde, lebte Kaiser Wilhelm II. noch im niederländischen Exil, aber es „nützte“ mir nichts mehr, wie er, an einem 27. Januar das Licht der Welt erblickt zu haben: Weder erhielt ich einen Taler aufs Sparbuch (wie angeblich alle in der Monarchie an diesem Tag Geborenen), noch gab es für den künftigen Pennäler, wie für alle übrigen, an Kaisergeburtstagen schulfrei. Die Duplizität unserer Geburtstage amüsierte später nur noch den Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, als er mir die Betreuung des Brandenburg-Preußischen Hausarchivs (bis heute im Mitbesitz des Hauses Hohenzollern) antrug. Preußen gab es bei meiner Geburt immerhin noch, wenn auch nur mit Hermann Göring als preußischem Ministerpräsidenten und dem Finanzminister Johannes Popitz, alle anderen Ministerien waren ja längst „verreichlicht“. Als Evakuierte und bald auch Berliner Bombengeschädigte lebten meine Mutter und ich – mein Vater war an der Front – ab 1943 zumindest weiter in einer preußischen Enklave, nämlich fern ab von Berlin im Thüringer Wald, wo man postalisch seinem Absendeort Schleusingen noch stets den „Regierungsbezirk Erfurt“ hinzufügen musste, obwohl oder weil es weit südlich des Rennsteigs liegt. Als die nach dem Kriege glücklich wiedervereinte und vor allem „zuzugsberechtigte“ Familie 1947 nach Berlin (-Tempelhof) zurückkehren durfte, wo einst die elterliche Wohnung stand, fand sie sich im US-Sektor wieder, nicht mehr in Preußen. Unser Um- bzw. Rückzugsjahr war das Todesjahr dieses Staates, den der Alliierte Kontrollrat am 25. Februar durch das Gesetz 46 sang- und klanglos mit der Sündenbock-Begründung auflöste, Preußen sei „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen“. Daß ich einmal in dessen „überlebendem“ Zentralarchiv, einem Staatsarchiv ohne Staat, landen würde, ahnte ich damals – obschon als Schüler fest entschlossen, Geschichte zu studieren – natürlich nicht. Im Herbst 1967 betrat ich zum ersten Male das „Preußische Geheime Staatsarchiv“ in der Dahlemer Archivstraße – so stand und steht es jedenfalls unterhalb des Giebels – und zwar als FU-Student, der, wie die meisten Besucher vor und nach ihm, eine gewisse Scheu zu überwinden hatte, einfach mal zu klingeln. Ich war damals auf der Suche nach seltener Literatur über „meine“ Henneberger, die einst als gefürstete Grafen im besagten Schleusingen residierten, und über die ich nun

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meine Staatsexamensarbeit schreiben wollte. Im Berliner Gesamtkatalog hatte man mir als Standort „GStA“ nachgewiesen, und dort angekommen, wurde ich zunächst vom Pförtner, völlig richtig, in die Dienstbibliothek geschickt, wo ich zum ersten Mal meiner klugen und hilfreichen (späteren) Frau begegnete. Sie stellte schnell fest, daß die gesuchte Zeitschrift eines thüringischen Geschichtsvereins zwar gar nicht zum Buchbestand des Archivs gehörte – und dann nicht einmal „ausleihbar“ gewesen wäre –, wohl aber zu dem des nach Kriegsende dort wieder ansässigen „Herold, Vereins für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften“, dessen Mitglieder sehr wohl ihre Bücher ausleihen durften. Ungesäumt erklärte ich meine (studentisch verbilligte) Mitgliedschaft und zog beglückt und buchbepackt mit meinen Schätzen nach Hause. Des Weiteren wurde ich schon im nächsten Jahr von den alten Herren dieses Vereins postwendend in den Vorstand katapultiert und zum stellvertretenden Schriftführer gewählt, und zwar mit der Zuständigkeit gleich für die gesamte Bibliothek. So machte man den Bock zum Gärtner! Ich hatte zwar das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (wie es seit 1963 hieß) gesucht, aber den schon damals fast hundert Jahre alten Verein Herold gefunden, der noch im Südflügel des Verwaltungsgebäudes in der Archivstraße 12 – 14 seine Geschäftsstelle im I. Stock (Zimmer 107) und in den Kellern des Verwaltungsgebäudes auch seine große, vom Archiv vertraglich bestens betreute Bibliothek mit wertvollen alten hilfswissenschaftlichen, aber eben auch landesgeschichtlichen Beständen unterhielt. Es war die Zeit der 68er-Unruhen an der Freien Universität Berlin, an der ich nach bestandenem Staatsexamen für das höhere Lehramt (Geschichte 1. Fach) zunächst als Tutor und Hilfsassistent, dann als wissenschaftlicher Assistent am altgermanistischen Lehrstuhl von Prof. Dr. Ingeborg Schröbler vor allem mit der zunächst unbeabsichtigten Verlegung ihrer Lehrveranstaltungen (ins Dekanat, in Schulen, Zollämter, den RIAS etc.), oft sogar mit polizeilicher Einlaßkontrolle, beschäftigt war, da sie häufig durch Institutsbesetzungen, durch studentische Rollkommandos (Go-ins bzw. teach-ins), durch Sprechchöre oder Stinkbomben an der Abhaltung ihrer Vorlesungen und Seminare gehindert wurde; als Exponent der „Notgemeinschaft für eine freie Universität (NofU)“ verschrien, galt sie Vielen als „einziger Mann in der Philosophischen Fakultät“. Mir gelang es zwar noch, eine politologische Ergänzungsprüfung zum Staatsexamen und ein Magister-Examen (in der Neueren Germanistik bei der Privatdozentin Dr. Katharina Mommsen) abzulegen, nicht aber meine Dissertation über „Maß und Gewicht in den deutschsprachigen Urkunden des 13. Jahrhunderts“ (am Corpus altdeutscher Originalurkunden) voranzutreiben, so dass ich mich schließlich resignierend als Studienreferendar beim Senator für Volksbildung registrieren ließ. In dieser Zeit nahm ich nicht nur regelmäßig an den monatlichen – schon nach Tausenden (!) zählenden – Sitzungen der Heroldmitglieder, sondern auch an denen ihres Vorstandes teil, die im Geheimen Staatsarchiv in der späteren „Ratsstube“ neben der Geschäftsstelle des Vereins im Raum 43 stattfanden; sie besuchte ziemlich regelmäßig auch sein Ltd. Archivdirektor, der dem Verein nur qua Amt und

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später allerdings als Korrespondierendes Mitglied angehörte. Das war damals der in der Dienstvilla auf dem Archivgelände wohnende, liebenswürdige Schlesier Dr. Gerhard Zimmermann, dem ich in solchen Sitzungen und dann beim Aufbau der Säkularausstellung des Herold „Lebendige Heraldik – lebendige Genealogie“ (1869 – 1969) im GStA durch mein hilfswissenschaftliches Interesse auffiel, so dass er mich fragte, ob ich nicht als Archivreferendar in den höheren Dienst seines Hauses treten wolle. Eine solche Ehre zog ich dem Lehrberuf natürlich vor, und leichtsinnig versprach ich, meine Dissertation schnell abzuschließen, was sich freilich nach meiner (ersten) Eheschließung, neben einem Praktikum und der Abordnung als Archivreferendar (1970 – 1972) an die Marburger Archivschule und nach einem Themenwechsel noch recht lange, nämlich bis 1980, hinzog. Zunächst stellte sich dort die zwar verständliche, aber rechtlich unzulässige Frage nach dem Ersatz des Doktors durch den Magister. Da nach dem Bundesausbildungsgesetz (vom 7. 6. 1966) entweder ein staatlicher oder ein akademischer Abschluß (§§ 2 u. 5) zur Einstellung „auf Lebenszeit“ genügte, hatte ich bereits „Übersoll“ geleistet. Heute ist wohl der Magister bei der Hälfte aller Archivreferendare an die Stelle des Doktors getreten – damals war ich der erste und in den Augen der Archivschule eher bedauerliche „Fall“. Als ich meinen Dahlemer Archivdienst am 5. Januar 1970 gemeinsam mit Dr. Bernd Stegemann, also als Referendars-Duo, antrat, plauderte der Chef mit uns ausgiebig und überraschend über seine Kriegserlebnisse als verwundeter (und deshalb ausgeflogener) Stalingradkämpfer und teilte uns sodann unserem Ausbildungsleiter Dr. Werner Vogel zu. Von diesem erhielt ich meinen ersten, stets mit Berliner Witz garnierten Unterricht in Verwaltungsgeschichte und Paläographie an Hand eben erst erworbener v. d. Marwitz-Briefe, Unterrichtsfächer, die mir im Geschichtsstudium kaum begegnet waren. Er wies mir auch einen Lehrbestand aus dem ehem. preußischen Ministerium für öffentliche Arbeiten (Repositur 93) zu, von dem ich in meinem Berliner Praktikumsquartal dann 95 Nummern verzeichnete (ein zweites Quartal folgte nach der Marburger Prüfung). Es handelte sich dabei um Verkehrsakten, etwa um die Planungsunterlagen einer frühen Eisenbahn von Leipzig nach Dürrenberg im Jahre 1840, stets in einem recht befremdenden Höflichkeitsstil abgefaßt: So beendete z. B. der sächsische Geschäftsträger v. Hohenthal in seinen „Citissime“ zu befördernden Berichten regelmäßig floskelhaft mit: „Der Unterzeichnete, einer geneigten Rückäußerung gewärtig, benutzt mit besonderem Vergnügen auch diesen Anlaß, um Sr. Exzellenz die Versicherung seiner ausgezeichneten Hochachtung zu erneuern“. Doch nicht nur der Stilwandel fiel dem Anfänger auf, er lernte erstaunt, neben dem sächsischen auch einen preußischen Bahnhof in Leipzig kennen, den es dort noch heute gibt, ganz ohne Preußen! Unter der Aufsicht von Winfried Bliß übte ich noch ziemlich ungeschickt den m. W. in keinem Lehrbuch nachschlagbaren preußischen „Archivknoten“ zum Paketieren von Archivalien. Bliß führte mich außerdem in sein Spezialgebiet, die archivische Kartenkunde, ein und Johann Caspar Struckmann in das Lesen älterer französischer Texte. Meine erste Recherche (an die erinnere ich mich bis heute!) galt einer An-

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frage der (West-)Berliner Schlösserverwaltung nach dem Orden de la Générosité, eine andere der Entstehung des Ortsnamens „Topper“ im Kreise Crossen/Oder, eine dritte kam von dem bis heute bestehenden Französischen Konsistorium. Ferner musste ich in der noch keineswegs beendeten Nachkriegszeit immer wieder Beschäftigungsnachweise für Rentenanträge ausstellen, meist für Bombengeschädigte oder Lastenausgleichsberechtigte, die alle Unterlagen verloren hatten. Ergänzt wurde das Ausbildungsprogramm durch Referentenbesprechungen, Werkstattbesichtigungen, Magazin- und Bibliotheksführungen, Dienst im Forschungssaal, Mitarbeit in den Referaten usw., unterstützt von hilfsbereiten Kollegen, unter denen sich damals als Projektmitarbeiter auch der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, Dr. Walter Momper, befand, sowie der Editor der Gestapo-Akten, der Militärhistoriker Dr. Robert Thévoz. Nachdem es Bernd Stegemann und mir von Berlin aus gelungen war, im Marburger Ortsteil Ortenberg je ein Appartement (Huteweg 3) vis-à-vis vom Landgrafenschloß zu mieten, sah die Welt für mich und meinen Kollegen ab 1. April 1970 bereits ziemlich hessisch aus: Wir und mit uns 22 weitere Teilnehmer des gut besetzten 11. Referendarkurses der Archivschule versammelten uns im Konferenzsaal und anschließend in unseren Schulräumen des ausgebauten Dachgeschosses im Staatsarchiv Marburg am Friedrichsplatz 15 um dessen Direktor, Prof. Dr. Kurt Dülfer, damals noch Chef beider Einrichtungen und Dozent für Verwaltungsgeschichte – der uns allerdings nur begrüßte und uns auf eine, wie wir fanden, ziemlich unnötige mehrtägige Besichtigungstour durch die Universitätsbibliothek, das Bildarchiv Foto-Marburg und den Deutschen Sprachatlas bis hin zur „Oberhessischen Presse“ schickte. Interesse fand immerhin der Besuch im Rechenzentrum der Philipps-Universität, weniger die spätere Einführung in die Programmiersprache „Fortran“. Aushelfen mußten die Referendare bei der Datenverarbeitung durch das „Ablochen“ des Projekts „Hetrina“ (Verkauf hessischer Truppen nach Amerika), da das Staatsarchiv in den vielen Anfragen amerikanischer Familienforscher allmählich zu „ertrinken“ drohte. Der eigentliche Unterricht an der Archivschule ging erst am 15. April 1970 so „richtig“ los: Dominiert war er über alle Marburger Semester hinweg von der höchst wandlungsfähigen, mal gutgestimmten, mal schlechtgelaunten, aber stets schlagfertigen Persönlichkeit von Prof. Dr. Walter Heinemeyer (Philipps-Universität), dessen anspruchsvolle Urkundenlehre (lateinisch und mittelhochdeutsch) an mehreren Wochentagen, morgens um 8.00 Uhr, die meiste Vorbereitungszeit in Anspruch nahm, während alle anderen Fächer von uns eher aufsässig „abgesessen“ wurden. Das waren Archivtechnik (Dr. Albrecht Eckhardt mit Herrn Ritterpusch), Archivwissenschaft (Dr. Eckhart Götz Franz), Französisch (Dr. Hans Philippi), Genealogie, Sphragistik, Heraldik (Dr. Karl E. Demandt), Geschichtliche Landeskunde (Dr. Friedrich Cramer), Paläographie und Formenkunde neuzeitlichen Schriftguts (Dr. Hans-Enno Korn), Rechtsgeschichte (Dr. A. Eckhardt), Wirtschaftsgeschichte (Dr. Ottfried Dascher) und Rechtskunde (Dr. Dr. Siegfried Dörffeldt, Wiesbaden) usw., manchmal aufgelockert durch Gastdozenten, von uns als

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„Wanderprediger“ abgetan. Als recht lebendig ist mir allerdings die Numismatik von Prof. Dr. Peter Berghaus (Münster) in Erinnerung geblieben, als besonders langweilig die Reprographie von Dr. Wolfgang Kohte (Bundesarchiv Koblenz). Nur die fakultativen kunsthistorischen Lehrausflüge von Prof. Dr. Harald Keller (Frankfurt/M.) haben die meisten von uns begeistert, der auf hohem Niveau, aber für unseren Beruf vielleicht entbehrlich, „Kunstdenkmäler als Zeugnisse deutscher Geschichte“ unterrichtete; sie führten u. a. zum „Wetterauer Tintenfaß“, zum Wildunger Altar oder in den damals gerade verblüffend farbig restaurierten Speyerer Dom. Nach vielen theorielastigen Studiensemestern an den verschiedenen bundesdeutschen, seltener ausländischen Universitäten wollten eigentlich alle Kursteilnehmer nur noch fertig bzw. „praktisch“ werden, jedenfalls nicht weiter auf einer Marburger Schulbank sitzen; auch meinten wir hochmütig, manchmal sogar zutreffend, mit dem jeweiligen Forschungsstand besser vertraut zu sein als unsere ergrauten und oft überheblich dozierenden Archivräte, die keinerlei didaktische Ausbildung besaßen. In den Zwischensemestern schlossen sich die von Franz geleiteten praktischen Ordnungsübungen an, die bei uns weit mehr Anklang fanden als seine Vorlesungen. Zur Teilnahme am 10. Internationalen Kongreß für genealogische und heraldische Wissenschaften in Wien und der eindrucksvollen Hundertjahrfeier des „Adler“ am 20. September 1970 im Marmorsaal von Klosterneuburg erhielt ich immerhin von der Archivschule Urlaub und vom GStA sogar – damals vielbeachtet! – als Referendar eine Auslandsdienstreise spendiert. Anfang Oktober 1970 holte ich mein „Großes Latinum“ am Friedrichs-Gymnasium in Kassel nach. Zur Niederkunft meiner Frau bekam ich im Februar 1971 noch eine Extra-Heimfahrt nach Berlin und einen zusätzlichen Sonderurlaub gewährt. Entsprechendes Glück bzw. Heimatpech, wie man will, hatte ich aber mit dem Ziel der archivwissenschaftlichen Studienfahrt im Juni 1971, die unser Kurs statt einer anstehenden Auslandsreise nach Paris zum Stage technique – viel interessanter! – nach Berlin durchsetzte; im Mittelpunkt standen die damals noch im Reichstagsgebäude aufgebaute Ausstellung „1871 – Fragen an die deutsche Geschichte“ (Diskussion mit Prof. Dr. Lothar Gall) und natürlich Archivbesichtigungen ohne Ende. Eine letzte Unterbrechung meiner Marburger Zeit bot schließlich ein anderer Stage beim Bundesarchiv in Koblenz, wo uns gerade noch Präsident Wolfgang A. Mommsen, ein gefürchteter Vor- und Nachlaßjäger, mitreißend in sein Metier einführte; andere Kollegen, wie Dr. Heinz Boberach, stellten uns NS-Quellen vor, auf dem Ehrenbreitstein auch Filme zur Olympiade 1936 oder „Kolberg“, den ersten farbigen „Durchhalte“-Film aus dem Jahre 1944/45. Nach so viel Abwechslung und manchen Feiern als Gast auf den Häusern unserer Verbindungsreferendare holte uns schließlich der Marburger Ernst der Lage in Gestalt der 2. Staatsprüfung ein. Zuvor hatte sich unter uns Referendaren Unruhe ausgebreitet, die in schriftlichen Reformvorschlägen – weniger Mediävistik, mehr Öffentlichkeitsarbeit, weniger Kunst- und Landesgeschichte, mehr Kernkompetenz usw. – unseres Kurses gipfelten; nicht die ersten Modernisierungsversuche dieser

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Art, wie wir bald erfuhren, die anschließend aber unsere Heimatverwaltungen und auch den Beirat der Archivschule Marburg beschäftigten, vor allem aber den eigentlich vorhersehbaren Effekt hatten, Direktor und Dozenten nachhaltig zu verärgern. Das sollte sich auch in den Abschlußnoten und einigen Wiederholungsprüfungen der Archivschule als Denkzettel für die „Haupträdelsführer“ niederschlagen. Der zu den Examina eigens angereiste Ausbildungsleiter des GStA, der sich sogar genötigt sah, gegen das Verfahren Einspruch einzulegen, bemerkte schließlich: „Mein Gesamteindruck von der Prüfung geht dahin, daß die Zensierung der Leistungen überaus streng erfolgte und nicht frei von Emotionen war“ (W. Vogel v. 22.11.71). Fast alle Absolventen des 11. Lehrgangs haben im bundesdeutschen Archivwesen später leitende Stellen bekleidet. Aus Marburg zurück, wurden mir im Geschäftsverteilungsplan des Geheimen Staatsarchivs vom Januar 1972 in Berlin zunächst im Direktionsbereich „besondere Aufgaben“ zugeteilt, während mich der nächste vom Mai 1973 bereits als „Archivrat z. A. und Leiter des Referates I“ (u. a. für das Staatsministerium und das Brandenburg-Preußische Hausarchiv) auswies und als Vertreter meinen künftigen Chef benannte: „Dr. Friedrich Benninghoven, Referat II“ (später wurde es Dr. Ludwig Biewer). Mein Mitarbeiter war Archivoberinspektor Johann Caspar Struckmann, der Ende März 1974 allerdings auf eine Halbtagsstelle wechselte. Außerhalb der Beratungs- und Recherchetätigkeit für Besucher war ich selbst an der Anwärterausbildung in Chronologie und Formenkunde neuzeitlichen Schriftguts beteiligt (u. a. von Cornelia Bobbe, Heidemarie Gräber verh. Nowak, Günther Käker, Ursula Schäfer und Jörg Schmalfuß im gehobenen Dienst und Dr. Klaus Dettmer, Dr. Herrmann, Dr. Andreas Nachama, Dr. Ursula Wagner verh. Benninghoven sowie Eva Wirsing im höheren Dienst). Außerdem wurde Ende 1974 eine „Erwerbsabteilung“ meinem Referat hinzugefügt (so lt. Protokoll der Referentenbesprechung v. 2. Juli 1975, TOP 2) und ich schließlich zum „Saalreferenten“ ernannt (bis 1981 dann Dr. Bernhart Jähnig diese Aufgabe übernahm), stets tatkräftig darin unterstützt von Winfried Bliß; in dieser Funktion drängte ich übrigens 1975 erfolgreich auf die Einführung von Benutzerblättern in den Akten (sogen. Rotuli), auf den Ankauf von Garderobenschränken statt Kleiderständern im Forschungssaal und 1978 auch auf den zweier Lesegeräte mit Rückvergrößerung („ohne“ gab es diese Geräte bereits seit acht Jahren, doch führten sie zu beständigen Markierungsproblemen bei Anschlußaufträgen an die Bildstelle). Erste Dienstreisen unternahm ich u. a. zum 48. Deutschen Archivtag (1973) nach Würzburg und auf Wunsch des Stiftungspräsidenten zur Begutachtung von 167 Aquarellen beim Grafen Czarkowski-Golejewski am Ammersee. Ich war also nicht eben unbeschäftigt, doch hatte ich schon in meinem Anfangsjahr als Betreuer von „Archivbehörden“ (Repositur 178) nichts Eiligeres zu tun, als auf den Einzugstermin des GStA in sein neues Dahlemer Dienstgebäude am 24. März 1924 hinzuweisen, der sich 1974 zum 50. Male jährte, sowie darauf, daß nun genau einhundert Jahre seit seiner Vereinigung mit dem Ministerialarchiv (1874 – 1974) verstrichen seien! Daran hatte man, o Schreck!, im Hause nicht ge-

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dacht, aber man konnte noch schnell (nach „Bismarck in der Karikatur“ 1968/69, dem Norddeutschen Bund als „unbekanntem deutschen Staat“ 1970/71, „Hardenberg“ 1972/73 und „Copernicus“ 1973/74) die am 15. März 1974 eröffnete KantAusstellung, jedenfalls mündlich, zur Jubiläums-Ausstellung befördern, beschloß aber auch, das Doppeljubiläum zu einer Selbstdarstellung in Form eines Archivführers zu nutzen – zumal der GStA-Text in der allgemeinen Broschüre der Stiftung Preußischer Kulturbesitz von Mal zu Mal kürzer ausfiel. Meinem Referentenentwurf vom 18. Dezember 1973 entsprechend, griff Dr. Zimmermann diese Vorschläge auf und berief ein Komitee aus dem Antragsteller und Frau Dr. Cécile Lowenthal-Hensel (Öffentlichkeitsarbeit) sowie Dr. Kurt-Georg Böhne als Zuarbeiter. Trotz oder gerade wegen der knappen Zeit und vorherigen Eingriffen in die Archivtektonik (insbesondere Umbenennung der bisherigen IX. Hauptabteilung von „Karten- und Bildersammlung“ in „Bildersammlung“ und der XI. in „Karten“, auch von Anhängen der Repositur 90 mit Buchstaben A–Q), gelang es eben noch rechtzeitig, den „GStA“-Archivführer 1974 zur Verabschiedung Zimmermanns in den Ruhestand (nach rd. 20 Dienstjahren) zum 31. Juli 1974 fertig zu stellen, desgleichen eine Vitrinen-Ausstellung (mit kleinem Katalog) zur Archivgeschichte von J. C. Struckmann zu eröffnen, während mein eigener Jubiläumsbericht 1975 verspätet im „Archivar“ erschien. Leider mußte Struckmann seine Arbeitszeit weiter reduzieren, um noch ein mit der Promotion abgeschlossenes Geschichtsstudium aufzunehmen, so daß unser gemeinsames Langzeitprojekt zum preußischen diplomatischen Corps 1815 – 1870 (mit aktiver Versandunterstützung durch das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn und Dienstreisen Berlin-Bonn) nur ungenügend vorankam bzw. erst viel später durch ihn zum Abschluß gelangte (2003). Stattdessen erhielt mein Referat in Ergänzung seiner Halbtagsstelle nun die im gehobenen Archivdienst ausgebildete Christel Wegeleben ab 1. Mai 1974 zugeteilt (bis 1977), mit der ich u. a. gemeinsam die Archivarsviten der letzten hundert Jahre (1874 – 1974) prosopographisch für das GStA aufzuarbeiten und zu publizieren begann. Als weiterer Mitarbeiter dieses rechercheintensiven Referats ist ab 1. Juli 1975 der höchst effektive, später ebenfalls noch promovierte und leider allzu früh verstorbene Harald Reissig zu nennen (ab Januar 1978 nur noch mit 20 statt 36 Wochenstunden beschäftigt), ab 1977 Cornelia Bobbe und halbtags auch die Mitarbeiter des Forschungssaals, Karl Holz und Horst Padovani, insbesondere für die zahlreichen Verweise auf kriegsbedingt ausgelagerte Merseburger Bestände, für viele Adreßbuchauskünfte, für Abgaben an Heimatortskarteien etc. und serielle Verzeichnungsaufgaben. Auch im damals nur locker besetzten Saal saßen meist nur Besucher (1975 waren es 752), die mit der Suche nach Versorgungsnachweisen beschäftigt waren, oder Familienforscher, für deren Anliegen ich stets ein offenes Ohr hatte, wie das mit Wolfgang Ribbe gemeinsam produzierte Herold- „Handbuch der Genealogie“ (1972) bzw. mehrere Auflagen unseres „Taschenbuchs für die Familiengeschichtsforschung“ (1975 ff.) zeigen. Daneben fasste die lange Zeit stagnierende Preußen-Forschung erst zögernd wieder Fuß, so dass ich für mein damaliges Ressort vor allem Themen

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der Gestapo-Forschung, zur preußischen Schulgeschichte, Hohenzollern-Biographien und Schlesien-Themen sowie die Suche nach Exponaten zu Ausstellungszwecken nennen kann. Der Anteil an wissenschaftlichen Benutzern belief sich 1975 lediglich (oder immerhin?) auf 48 %, unter ihnen auch immer sogen. Reisekader aus Ost-Berlin, die keine knappen West-Devisen für Übernachtungskosten benötigten. Bereits 1973 wurde das GStA vom Präsidenten zum Stiftungsarchiv bestimmt und übernahm 1979 und 1982 mit entsprechenden Übernahmeprotokollen die von Frau Prof. Dr. Irene Kühnel-Kunze gesicherten Dokumente zum Schicksal der Berliner Museen in der Kriegs- und Nachkriegszeit, u. a. der US-Monuments and Fine Arts Section und der bundesdeutschen Kulturminister-Konferenz sowie acht weitere Dokumenten-Kästen (77 bzw. 63 Nummern). Von 1977 – 1983 durfte ich als reguläre Referatsaufgabe die Arbeit von Dr. Kühnel-Kunze, der ehemaligen Assistentin Wilhelm v. Bodes, in der früheren Küche (später in den geräumten Zimmern des Mendelssohn-Archivs der Staatsbibliothek) der Direktorenvilla des GStA, Archivstraße 11, redaktionell unterstützen. Angesichts des vorgerückten Alters der Autorin sollte ich auf Wunsch des Stiftungspräsidenten Hans Georg Wormit (später von Prof. Dr. Werner Knopps) bzw. von Vizepräsident Peter Hofmann ihre langwierigen und akribischen Arbeiten für die Monographie „Bergung – Evakuierung – Rückführung, die Berliner Museen in den Jahren 1939 – 1959“ (Berlin 1984) begleiten und vor allem bei der Ordnung ihrer Unterlagen bzw. der „Einrichtung des Anlagenteils“ helfen; meine Frau fertigte zusätzlich ein ausführliches Personenregister an – trotz einer Warnung von Dr. Rudolf Elvers: „Irene frißt Sie mit Haut und Haaren!“. Aus der Darstellung „der Listenreichen“, wie man die immer noch recht energische Dr. K.-K. nannte, sind gut dokumentierte Memoiren im Sachgewand erwachsen, die mir die aufregenden Kriegs- und Nachkriegserfahrungen noch einmal im Zeitrafferverfahren vor Augen führten. Ich bin dankbar, an bald zwei Vormittagen in der Woche zum Ergebnis beigetragen zu haben, auch wenn es mich, sehr zum ständigen Verdruß des GStA-Direktors, neben meinen übrigen Aufgaben daran hinderte, auch noch an der Verzeichnung von Beständen des ehem. Staatsarchivs Königsberg/Pr. mitzuwirken. Sie durften glücklicherweise 1978 von Göttingen (Staatliches Archivlager) ins GStA verlagert werden, um dessen Quellenbasis zu verbessern, die im Frühjahr 1972 nur noch 3,5 laufende Regalkilometer ausmachte; eine Ausnahme bildete die Revision des fünften Göttinger Transports vom März 1979 der Abteilungen 43 – 82 des Etatministeriums (mit 20.000 Nrn.) und mein daraus erwachsenes Repertorium der Stadt Treuburg (Marggrabova) im Amt Oletzko, EM XX, mit dem ich mich aus preußischen Diensten verabschiedete. Inzwischen erwachte die Preußen-Forschung vollends zu (internem) Leben, genauer gesagt im Jahre 1974, als das GStA unter dem Titel „Glanz und Schatten – Preußens Könige 1701 – 1918“ auf Vorschlag von Frau Dr. Cécile Lowenthal-Hensel eine Hohenzollern-Ausstellung plante, zu deren Vorbereitung die Neuverzeichnung des Hausarchivs abgeschlossen sein mußte. Leider wurde das Projekt vom Berliner Senat schon ein Jahr später wieder „abgewürgt“, insbesondere durch Kultussenator Gerd Löffler (SPD), der als Mitglied des Stiftungsrats die preußischen

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Militarismus-Ressentiments der Alliierten teilte; lakonisch stellte das Protokoll der GStA-Referenten vom 24. September 1975 dazu fest: „Die Aussichten für diese Ausstellung sind nunmehr nicht mehr günstig“. Stattdessen lud Wormit, der Löfflers Ansicht bestritt und das GStA zu einer Entgegnung aufforderte, am 28. Februar 1976 erstmals zu einer Arbeitstagung über „Preußische historische Forschung“ ins Archiv ein und verwies in seiner Eröffnungsansprache auf das Vermächtnis Leusch, dessen Erträge künftig solche Forschungen befördern sollten. So kam es lt. Protokoll zur Gründung einer „Informationsstelle zur preußischen Geschichte“ beim GStA und zur Ernennung des Direktors als „Geschäftsträger“ mit dem Ziel, eine „Sammelstelle für die Aktivitäten, Ratschläge und Empfehlungen in allen Bereichen der preußischen Geschichte“ einzurichten, sowie zur Planung einer Veröffentlichungsreihe; ein ebenfalls bundesweit projektierter Führer durch alle preußischen Archivbestände fand allgemeine Zustimmung, ist aber m. W. Desiderat geblieben. Bereits im Folgejahr kam es am 26. Februar zur Umwandlung der Informationsstelle in die „Preußische Historische Kommission“ und zur Gründung der „Neuen Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte“. Als Kommissionsvorsitzender wurde nach Mitteilung der Arbeitsgemeinschaft Historischer Forschung das Beiratsmitglied der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Prof. Dr. Oswald Hauser (Aachen/Kiel), gewählt, in den Arbeitsausschuß GStA-Direktor Dr. Friedrich Benninghoven (2. Vorsitzender) sowie die Professoren Walter Hubatsch (Bonn), Manfred Schlenke (Mannheim) und Hans-Joachim Schoeps (Erlangen). Daß die Preußen in der Tat auch offiziell im Kommen waren bzw. das Thema wohl schon in der Berliner Luft lag, zeigte nun ein von der „BZ“ groß herausgestellter Vorschlag des in Ostpreußen geborenen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Dietrich Stobbe (SPD), vom Mai 1977, nämlich tatsächlich Preußen und seine Hohenzollern (analog der in Stuttgart so überaus erfolgreich exhumierten Staufer!) zum Gegenstand einer großen historischen Ausstellung in West-Berlin zu machen. Bald fragte sich Stobbe allerdings (im Vorwort zum Katalog), „welcher Teufel mich denn geritten habe“, als ihn die eigene Partei deswegen heftig kritisierte (insbesondere der inzwischen zum SPD-Landesvorsitzenden gewählte ehem. Kultussenator Löffler), obwohl Stobbes Vorschlag zugleich „eine Woge der Zustimmung auslöste“, so dass er nicht mehr zurückgenommen werden konnte1. Sofort griffen Sebastian Haffner in seinem „Stern“-Buch „Preußen ohne Legende“ (1977) und beide Historische Kommissionen das Thema auf, nämlich die (ältere) Historische Kommission zu Berlin unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Otto Büsch, die im November 1978 eine Tagung über „das Preußenbild in der Geschichte“ veranstaltete, und „unser Kommissiönchen“, wie sich Verwaltungsdirektor Willy Ludwig auszudrücken beliebte, das im Februar 1979 Sitzungen zum Thema „Staat und 1

Allen Angaben liegen private Aufzeichnungen, Kalender und Konzepte zugrunde. Die angesprochenen Arbeiten sind bibliographisch korrekt nachschlagbar in meinem Verzeichnis der Veröffentlichungen 1969 – 2014, abgedruckt in der 3., nochmals erweiterten Auflage der „Auxilia historica, Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen“, Köln 2015, 640 – 700.

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Individuum in Preußen“ anberaumte. Den Teilnehmern beider Tagungen ging es, wie ich als damaliger Gast bezeugen kann, nur darum, mit der Legendenbildung aufzuräumen und dafür die Rolle und Existenz Preußens, wie schon Leopold v. Ranke, im europäischen Rahmen zu sehen sowie die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte stärker in die Betrachtung einzubeziehen. Ziel der wiedererwachenden, nach dem 2. Weltkrieg so lange gemiedenen Preußen-Forschung war und blieb die Darstellung seiner Geschichte und deren Vermittlung: Inzwischen war aber die Zahl derer, die sich gegen eine Kollektivschuld Preußens am Weltkrieg wandte und nach einer mehrdimensionale Betrachtungsweise riefen, im Wachsen begriffen. Über die Anfänge dieses Staates im 17. Jahrhunderts zur Zeit des Großen Kurfürsten war man sich größtenteils einig, aber schon die Frage nach dem Geist des alten Ordenslandes, der vielen erloschen erschien, wurde ebenso kontrovers diskutiert, wie die These vom brandenburgischen Kernland als der „Wiege Preußens“. Während die einen weiterhin die dominante Rolle des Hauses Hohenzollern hervorhoben und in Preußen eher ein dynastisch-bürokratisches Kunstprodukt erblickten, verwiesen andere auf dessen protestantisch geprägten Staatsgedanken oder die Toleranz als Staatsraison („suum cuique“), ferner auf aufklärerischen Reformeifer und auf Pflichterfüllung ohne Eigennutz (sog. Dienstgesinnung); wieder andere warnten vor dem Untertanengeist im Obrigkeitsstaat (dem sog. Kadavergehorsam). Dem Primat der Innenpolitik stand eine die ungeschützte Mittelage stets berücksichtigende Außenpolitik gegenüber. Die Verreichlichung Preußens wurde ebenso diskutiert wie die Prussifizierung des Reiches. Ein „temperierter Borussismus“ sollte durch Gesellschaftsgeschichte (Entstehung der Führungseliten) ersetzt werden, sozusagen Hubatsch durch Wehler. Einig war man sich zumindest darin, daß nicht nur das nationalsozialistische Interesse an Preußen (Tag von Potsdam) oder am „Durchhaltefriedrich“, sondern auch das Thema Preußentum und Widerstand mit einzubeziehen sei, wie es 1981 die große, heiß umstrittene „PreußenAusstellung“ im Berliner Martin-Gropius-Bau denn auch tat. Preußen hatte seinen Mißbrauch endlich überlebt! Im Kontrast zu Hitlers Selbstüberschätzung erinnerte man sich wieder an Moltkes Wesensbeschreibung preußischer Selbstbescheidung: „Mehr sein als scheinen, viel leisten, wenig hervortreten“. Als die Ausstellung eröffnet wurde, war Stobbe schon nicht mehr, sondern bereits Richard v. Weizsäcker Berlins Regierender Bürgermeister, der unserer eingemauerten Halbstadt den klugen Rat erteilte, „das geschichtliche Phänomen Preußen aus der Sphäre emotionaler Verherrlichung ebenso herauszulösen wie aus unkritischer Abneigung“, so jedenfalls im Geleitwort zum Ausstellungsführer. Neben den erwähnten, vom GStA unterstützten Projekten über preußische Archivare (mit C. Wegeleben) und zum preußischen diplomatischen Corps (von J. C. Struckmann) muß noch als drittes privates Vorhaben die seit 1978 im Jahrbuch für die historische Forschung angekündigte Auswahlbibliographie Friedrich der Große 1786 – 1986 genannt werden, die meine Frau mit mir als Co-Autor zu dessen 200. Todestag (1988) im Verlag Walter de Gruyter herausbrachte. Sie ist insofern aus ihrer Berufspraxis als Leiterin der Dienstbibliothek bzw. meiner als Archivar er-

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wachsen, als wir in Beratungsgesprächen mit Besuchern häufig Gelegenheit hatten, das Fehlen einer Bibliographie dieses Königs zu bedauern, der seit 1980 mit Erich Honeckers Erlaubnis wieder Unter den Linden „ritt“. Wir hofften, mit unserem Arbeitsergebnis (vor allem nach Auswertung der in West-Berlin greifbaren Sekundärliteratur) dazu beitragen zu können, daß der Forschungsstand wieder besser erkennbar wird bzw. künftige Neuerscheinungen nicht mehr – aus bloßer Unkenntnis der (meist) älteren Forschung – hinter ihrem Erkenntnisziel zurückbleiben mussten, vielleicht auch viele weniger beachtete Einzelfragen an Interesse gewinnen würden. Der ursprüngliche Plan einer Hohenzollern-Bibliographie als Vorstufe zu einer preußischen ließ sich damals leider nicht realisieren und bleibt ein Desiderat der Forschung bzw. wäre wohl nur im Rahmen eines Projekts der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu schultern. Gleichwohl hat Gabriele Jochums, damals ebenfalls Bibliothekarin am GStA, dafür gewichtige Bausteine mit ihren vom Archiv geförderten Bibliographien der Könige Friedrich I. (2009) und Friedrich Wilhelm I. (2005) in Preußen geliefert; auch ihre Zusammenstellung der Literatur über den Großen Kurfürsten ist in Vorbereitung. Der Erwerbungsreferent dieses Staatsarchivs, dem ja notabene nicht nur sein Staat abhanden gekommen war, sondern das auch kriegsbedingt in den Verlagerungsorten den größten Teil seiner Archivalien einbüßte (da sie bis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auf DDR-Gebiet jedenfalls unerreichbar blieben), ein solcher Referent war im Autographenhandel zum Erfolg verurteilt. Zumindest wurde von ihm erwartet, dass er mit den zumeist großzügig bemessenen Ankaufs-, gelegentlich sogar mit Sondermitteln, zu vertretbaren Marktpreisen auf den verschiedenen Auktionen „Ersatz“ erwarb. Damit ging er nach einer gewissenhaften, aber oft sinnlosen Alteigentumskontrolle (seit Ende 1975) im Rahmen der vom GStA-Direktor bewilligten Limits einer verantwortungsvollen, abwechslungsreichen und mit zahlreichen Dienstreisen verbundenen Aufgabe nach. Bei den Versteigerern Bassenge (Berlin), Brandes (Braunschweig), Dörling (Hamburg), Hagedorn (Limburg), Hartung & Karl (München), Hauswedell & Nolte (Hamburg), Schneider (Essen), vor allem aber bei J. A. Stargardt (Marburg/L.), bei Tenner & Zisska (Heidelberg) und Venator (Köln), um nur die damals wichtigsten Autographenhändler zu nennen, war er ein häufiger Gast, stand aber auch mit vielen Auslandsfirmen in London und Paris wegen der dort noch angebotenen preußischen Archivalien in ständiger Verbindung – und das waren nicht wenige! Sie stammten oftmals aus alliierten Plünderungen in den Auslagerungsorten der Nachkriegszeit und wurden nach Ablauf von 30 Jahren vermehrt angeboten, doch selbst einstweilige Verfügungen von Staatsanwälten, während der Vorbesichtigungen erwirkt (etwa beim Nachweis formgenauer Rasuren des eisernen GStA-Ovalstempels auf Briefen Friedrichs des Großen an Voltaire oder Maupertuis), brachten die verlorenen Kinder zumeist nicht wieder in ihr Elternhaus zurück, sondern verdrängten das Angebot eher ins Ausland. Als zweckmäßiger erwiesen sich direkte Verhandlungen mit den derzeitigen Besitzern. Ein Vorkaufsrecht, wie in Frankreich, gibt es in der Bundesrepublik Deutschland nicht, lediglich die Möglichkeit des Auktionators,

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„unter Vorbehalt“ zuzuschlagen. Selbst bei plausiblem Nachweis von Altbesitz halfen sich die Einlieferer gern mit der schwer zu entkräftenden Schutzbehauptung, dass sie oder ihre Vorbesitzer ihre Stücke schon längst gutgläubig erworben und somit (nach zehn Jahren) rechtmäßig „ersessen“ hätten. Selbst wenn es zwischen dem Auktionshandel und dem GStA über ein „griffiges Stück“ zum Prozeß gekommen wäre, hätte ein positives Gerichtsurteil als Pyrrhussieg eher eine abschreckende Wirkung auf den Markt gehabt. Gleichwohl kamen durch Ankäufe viele und oftmals auch erstrangige, regelmäßig im Akzessionsjournal des GStA verzeichnete Stücke zusammen, manchmal sogar durch Vermittlung des Handels selbst, der als Hehler um seinen Ruf fürchtete und sich natürlich das GStA als solventen Kunden erhalten wollte, zumal es nicht selten auch noch für andere staatliche Sammlungen in Amtshilfe oder verdeckt über Agenten handelte. Leider ist es aus Raumgründen schlechterdings nicht möglich, hier einen Überblick zu geben, doch sei zumindest pars pro toto mein Frühjahrsbesuch in Genf 1982 bei der Firma „L’Autographe“ erwähnt, bei der ich von Signore Saggiori für 70.000 DM die Korrespondenz Friedrichs des Großen (256 Schreiben) mit seinem Festungsbaumeister Gontzenbach über Graudenz aus den Jahren 1775 – 1786 für das GStA erwerben konnte, aus anderer Quelle später übrigens auch die Fortsetzungskorrespondenz Friedrich Wilhelms II. von 1786 – 1798. Beides dürfte aus dem verbrannten Potsdamer Heeresarchiv „gerettet“ worden sein. Das war allerdings ein Spitzenpreis, der in vielen anderen Fällen nicht entfernt in solcher Höhe fällig wurde, nicht einmal für Staatsverträge, vermittelt aus New York, über die Teilnahme Preußens am Spanischen Erbfolgekrieg (1701/02) oder, vermittelt aus Paris, mit der Hohen Pforte (1790). Neben all diesen Auktionserwerbungen gab es aber auch private Autographen-Angebote, nicht selten z. B. von den aus der DDR in die BRD einreisenden Rentnern zur Aufbesserung ihres „Westgelds“ (das reichte bis zu ganzen Privatnachlässen mit Preußenbezug, wie z. B. von Th. Effenberger, Franz Jahn, Prinzessin Henriette v. Preußen, Kurt Reutti) oder Sammlungen (z. B. von Herbert Adam mit 16.989 Einzelstücken!, von Lassahn-Spruth, der Familien v. Massow und v. Nostiz, Briefe v. Tzschoppes). Gelegentlich für „echt“ angebotene Faksimiles der Königin Luise, Napoleons III., Bismarcks oder Diktatbriefe Goethes habe ich hoffentlich stets als solche erkannt. Sehr selten gab es sogar behördliche Abgaben an das GStA, als sich z. B. das damalige Pädagogische Zentrum ab 1974 in zwei Raten von dem großen Aktenbestand (1.760 Pakete) seiner preußischen Lehrerseminare und Präparandenanstalten, einschließlich aller Jahresberichte und Festschriften, trennte; sie bilden künftig die solide Grundlage für eine Gesamtdarstellung der preußischen Pädagogik vom 18.–20. Jahrhundert. Neue Erwerbungen sorgten folglich für neue Verzeichnungsarbeiten, neben solchen an älteren, aber riesigen Splitterbeständen, die bei Bergungsarbeiten nach dem 2. Weltkrieg noch aus den bombenzerstörten oder einsturzgefährdeten Reichsund preußischen Dienstgebäuden der Berliner Innenstadt gerettet werden konnten, manchmal gar von verwaisten Schreibtischen in Amtsstuben, teilweise aus Kellern,

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in denen noch das Lösch- oder schon das Grundwasser stand. Das waren größtenteils archivreife Akten, die von ihren Behörden „für alle Fälle“ zurückbehalten wurden, aber auch kurrente Bestände, die nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes herrenlos geworden waren, aber zumindest teilweise noch vom Sowjetischen in den US-Sektor und unter Zimmermanns Leitung ins zuständige, größtenteils noch leere „Hauptarchiv für Behördenakten“ (wie es damals hieß) verbracht werden konnten. Die meisten Reichsakten wurden 1969 ans Bundesarchiv zuständigkeitshalber abgegeben bzw. gegen preußische eingetauscht. Einige Akten preußischer Provenienz, wie der wertvolle Bergungsbestand der Bau- und Finanzdirektion („Baufi“), wurden erst 1955 auf Wunsch des damals noch die Dienstaufsicht führenden Berliner Senats, aber gegen den vehementen Widerstand von GStA-Direktor Dr. Hans Bellée und des die Fachaufsicht führenden Bundesarchivs, dem neugebildeten West-Berliner Landesarchiv als archivalisches „Startkapital“ übergeben – und leider selbst nach der Wende nicht mehr zurückverlangt, wie von mir schon 1977 vergeblich angeregt. Doch das Gros der in situ geretteten Preußenakten gelangte damals noch ins GStA und wurde erst nach und nach im Referat I verzeichnet. Wegen der besseren Anschaulichkeit seien wenigstens einige dieser Bestände genannt, etwa die erwähnten Annexakten des Preußischen Staatsministeriums, darunter die Sitzungsprotokolle, die Hochschullehrer-Ernennungen, die Akten der für die Weimarer Zeit viel zu selten herangezogenen Pressestelle, des Vierjahresplans und der Geheimen Staatspolizei, aber auch die Akten des preußischen Kultusministeriums, darunter viele Einzelreposituren, wie die des Instituts für Meereskunde, des Seminars für Orientalische Sprachen, der Klosterkammer Hannover, der Monumenta Germaniae historica (in den siebziger Jahren als Depositum der Zentraldirektion in München zurückverlangt), der Akademie des Bauwesens, der Akademie der Wissenschaften usw. So ist man selbst zu „meiner“ Zeit im GStA noch keineswegs arbeitslos gewesen, wonach sich Außenstehende, darunter liebe Kollegen anderer Archive, gelegentlich „mitfühlend“ erkundigten. Das galt auch für wertvolle Restbestände (z. B. die Hohenzollern-Testamente) des Brandenburg-Preußischen Hausarchivs, die das Referat in Zusammenarbeit mit der Generalverwaltung des vormals regierenden preußischen Königshauses (J. F. v. Strantz), Herrn Dr. Anton Ritthaler und seiner Frau in München sowie dem Burgarchiv Hohenzollern betreute. Vor allem die Königsreposituren wurden von Mitarbeitern nach und nach neu verzeichnet, die, wie beim Jubiläum der Königin Luise, auch zu einer kleinen, aber gut besuchten Berliner Vitrinenschau bzw. zu einer mit Leihgaben versehenen großen Mülheimer Luisen-Ausstellung verwendet werden konnten. Erfolgreicher war ich mit meiner von der GStA-Leitung aufgegriffenen Anregung, dem „Berliner Kongreß“ von 1878 eine größere GStA-Ausstellung zu widmen. Personell verstärkt wurden solche und andere Arbeiten anfangs durch ERPMittel, deren Helfer im Haus den sinnigen Spitznamen „Erbsen“ führten, später fortgesetzt durch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm des Senators für Soziales in Berlin, um ungelernte Kräfte entsprechend unterzubringen und ihr Arbeitsergebnis

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unter Aufsicht des Fachpersonals zu stellen; so beschäftigte ich nicht ohne Erfolg die Opernsängerin Elisabeth Zimmermann, den mit seiner silbernen Ferse kokettierenden Dramaturgen Carl Alson (Komponist des Erfolgsschlagers „Icke, icke und Berlin, wir sind een Pärchen!“), die Damen Tiller, Vensler und Köter („ohne h“, denn „ein Unterschied müsse sein“) oder den schlesischen Prinzenerzieher und Altphilologen Marschall v. Solicki, die alle zur Erfassung serieller Akten, der Erstellung einfacher Namenslisten, zum Sortieren von Zeitungsausschnitten, zur Durchsicht von Adressbüchern usw. meinem Referat durchaus gute Dienste leisteten und das soziale Spektrum des GStA erfreulich bereicherten. Ich lernte damals, dass besonders fachfremdes Personal durch Anerkennung ohne gängelnde Kontrollen durchaus besser als durch dauernde Beanstandungen und Mißbilligungen zu motivieren ist! Die Arbeit in einem historischen Archiv, das angeblich „ohne“ eigene Bestände auskommen musste, bot mir aber auch die sehr dankbar empfundene Chance, im höheren Dienst nach altem preußischen Archivbrauch zumindest sieben Jahre lang, von 1972 – 1978, ebenso wie meine damaligen Kollegen, an präsenzfreien Nachmittagen (in meinem Falle von Montag bis Donnerstag, ab 13.00 Uhr) zu Hause oder in anderen Archiven, Bibliotheken oder Museen ungehindert forschen oder relevante Bestände einsehen zu können. In dieser Zeit ist nicht nur meine dienstlich zugesagte Dissertation über „Die gefürstete Grafschaft Henneberg-Schleusingen im Zeitalter der Reformation“ (Köln 1981) fertig geworden, nachdem ich noch im April 1977 eine DDR-Archivreise ins thüringische Staatsarchiv Meiningen mit Besuch der im Sperrgebiet zum fränkischen Grabfeld gelegenen Stammburg dieses Geschlechts unternehmen konnte. Es sind auch viele hilfswissenschaftliche und andere, z. T. im Aufsatzband „Archivalien und Archivare Preußens“ (Berlin 2012) versammelte oder dort nur aufgelistete Hohenzollern-Themen in Angriff genommen geworden, so zur Rettung der „Loggia Alexandra“ des Prinzen Carl v. Preußen in Glienicke (mit Herzeleide Henning). Ich habe damals das heute noch bestehende „Herold-Jahrbuch“ begründet und bald mit Werner Vogel gemeinsam die Herausgeberschaft bzw. Schriftleitung des „Jahrbuchs für brandenburgische Landesgeschichte“ übernommen. * Als ich in den sechziger Jahren in Berlin an der Freien Universität, dann in Marburg/L. und Wien begann, Geschichte zu studieren, wunderte man sich darüber im Bekanntenkreis, aber auch in der Öffentlichkeit war das Desinteresse an Geschichte ganz allgemein. Am Friedrich-Meinecke-Institut (damals in der Altensteinstraße 40 in Dahlem) konnte ich weder Carl Hinrichs noch Gerhard Oestreich mehr über Preußen hören, Hans Herzfeld hörte gerade auf, und Walter Bußmann berührte das Thema nur dann, wenn er über „seinen“ Bismarck oder den 1. Weltkrieg sprach. Die Preußendämmerung hatte das Institut in ihrer Spätphase vollkommen erfasst. Der Erinnerungskultur, insbesondere ihren literarischen und autobiographischen Quellen (wie Memoiren, Tagebüchern, Briefen), bin ich erst bei

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Gastveranstaltungen des amerikanischen Historikers Gordon A. Craig und bei der Germanistin Katharina Mommsen begegnet, bei der ich, wie oben erwähnt, deswegen noch den Magister „baute“ (vgl. Abdruck in meiner Aufsatzsammlung „Selbstzeugnisse. Quellenwert und Quellenkritik, Berlin 2012). Leider sah es auch im GStA gar nicht viel besser aus, als ich dort als Referendar eintrat, jedenfalls von den oben erwähnten Ausnahmen abgesehen, wie Walter Hubatsch, Hans-Joachim Schoeps, auch Eberhard Kessel, Manfred Schlenke oder Wolfgang Stribny. Aktenlesenden Historikern begegnete man im Forschungssaal des Archivs damals höchst selten. Ganz allmählich wurde das Preußenthema, wie oben geschildert, wiederentdeckt und noch sehr vorsichtig behandelt, bis es endlich die Wiedervereinigung auf neu gewonnener (Merseburger) Quellenbasis wieder in Schwung brachte. Doch da war ich längst „von der Fahne gegangen“ und sah mich in die Verantwortung gestellt, in einem „lebenden“ Archiv die historische Überlieferung deutscher Grundlagenforschung zu gestalten. Im archivarischen Provenienzdenken befangen, sah ich im Übergang in mein neues Amt als Direktor des Archivs der Max-PlanckGesellschaft aber kaum einen Dienstherrenwechsel, ich vertauschte die schwarzweiße Flagge Preußens mit der gelb-grünen, die der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft von jenem Hohenzollern verliehen wurde, dessen Namen sie trug, und die seit 1914 auch von ihrer Erbin, der Max-Planck-Gesellschaft, zu all ihren Hauptversammlungen gehißt wird. Mit meinem alten staatlichen Wirkungskreis verbindet mich bis heute die urkundlich verliehene Berechtigung, den Titel eines „Archivoberrates a.D.“ zu führen. Die von mir einst betreuten Aktenbestände des preußischen Kultusministeriums, hier des Seminars für Orientalische Sprachen, waren für Jürgen Kloosterhuis Anlaß, sich 1976 erst schriftlich, dann persönlich für die Arbeit an seiner Dissertation über „Friedliche Imperialisten“ (1994) von mir beraten zu lassen. Bei seinem Besuch im Nordflügel des GStA überraschte ihn mein kolonial ausstaffiertes Dienstzimmer. Besonders den „gewaltigen Elefantenfuß“, der mir mal als Papierkorb, mal als Schirmständer diente, erwähnte er noch 30 Jahre später in einem Grußwort. Heute befindet er sich wieder – viel angemessener! – im Nachlaß seines Jägers, des deutschen Gouverneurs Heinrich Schnee.

Die Gründung der Archivberatungsstelle der preußischen Provinz Sachsen im Spannungsfeld staatlicher und kommunalpolitischer Interessen Von Ulrike Höroldt, Magdeburg Seit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gab es in der damaligen preußischen Provinz Sachsen ebenso wie in den anderen preußischen Provinzen eine Archivberatungsstelle, deren Aufgabe es war, sich um die nichtstaatliche Überlieferung der Provinz zu kümmern. Eine systematische Untersuchung der Archivberatungsstelle dieser Provinz steht, anders als für andere Provinzen1, bislang noch aus. Die Verfasserin hat sich kürzlich an anderer Stelle mit dem Weiterwirken der Archivberatungsstelle der Provinz Sachsen nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Bedeutung für die Sicherung der Adelsarchive aus der Bodenreform beschäftigt2 und dabei festgestellt, dass auch über die Anfänge der Archivberatungsstelle der Provinz Sachsen noch keine grundlegende wissenschaftliche Untersuchung vorliegt3. Die Entstehung eines ein1 Institutionalisierte Archivberatungsstellen gab es bereits seit den 1920er Jahren in Schleswig-Holstein, Westfalen (1927) und dem Rheinland (1929), vgl. Lotte Knabe, Die Archivpflegeorganisation in der Provinz Sachsen, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle für die Provinz Sachsen und für Anhalt 15 (1939), 408 – 417, hier 408 f.; Untersuchungen liegen insbesondere vor zu den Archivberatungsstellen im Rheinland (Wilhelm Kisky, Die Archivberatungsstelle und die nichtstaatlichen Archive der Rheinprovinz, in: Rheinisches Archivwesen und die Archivberatungsstelle der Rheinprovinz, Jg. 1929/1930, Heft 9/10, 6 – 16; 50 Jahre Archivberatungsstelle Rheinland 1929 – 1979, 13. Archivheft der Archivberatungsstelle Rheinland, Köln 1979; 80 Jahre Archivberatung im Rheinland, Archivhefte 38, Bonn 2009; ferner Klaus Wisotzy, Der Vollmer-Kisky-Streit. Nicht nur ein Kapitel rheinischer Archivgeschichte, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 210 [2007], 181 – 222) und in Westfalen (Norbert Reimann, Die Sorge um die Archive als Aufgabe der landschaftlichen Kulturpflege in Westfalen, in: Der Märker 45 [1996], 139 – 153). Wisotzy thematisiert auch bereits das Spannungsfeld von Staats- und kommunaler Selbstverwaltung im Dritten Reich. 2 Ulrike Höroldt, Das Weiterwirken der Archivberatungsstelle der Preußischen Provinz Sachsen und ihre Bedeutung für die Sicherung der Adelsarchive aus der Bodenreform, in: Thüringische und Rheinische Forschung. Bonn – Koblenz – Weimar – Meiningen, Festschrift für Johannes Mötsch zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Norbert Moczarski/Katherina Wittler, Leipzig und Hildburghausen 2014, 446 – 462. 3 Einige Hinweise finden sich bei Frank Boblenz, Bestand der Archivberatungsstelle der Provinz Sachsen des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar erschlossen, in: Archive in Thüringen, Heft 23 (2002), 30 – 33; Josef Hartmann, 125 Jahre Historische Kommission 1876 – 2001, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für SachsenAnhalt 23 (2001), Sonderdruck, v. a. 24 f.; Josef Hartmann, Zum Gedenken an Dr. Charlotte Knabe, in: Sachsen und Anhalt 18 (1994), 607 – 611; Jörg Brückner/Christoph Volkmar,

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heitlich aufgebauten Systems von Archivberatungsstellen in Preußen, die sich im Spannungsfeld zwischen der Generaldirektion der Preußischen Staatsarchive, den Staatsarchiven der Provinzen, den Historischen Kommissionen bzw. den daraus hervorgehenden Landesgeschichtlichen Forschungsstellen, den Provinzialverwaltungen, den Städten und Landkreisen sowie dem nationalsozialistischen Staat abspielte, soll im Folgenden für das Gebiet der Provinz Sachsen etwas näher beleuchtet werden4. Ebenso wie in anderen Regionen gehen auch auf dem Gebiet der preußischen Provinz Sachsen die Bemühungen um eine Pflege und Zugänglichmachung des nichtstaatlichen Archivguts, also des Archivguts von Kommunen, Kirchengemeinden, Stiften und Klöstern, Privatpersonen und adligen Gütern, bis weit in das 19. Jahrhundert zurück. Neben dem Provinzialarchiv Magdeburg, seit 1867 Staatsarchiv Magdeburg5, spielte auch die Historische Kommission für die Provinz Sachsen, seit dem Jahr 1900 auch für Anhalt, hierbei eine bedeutende Rolle. In ihrer ausführlichen Darstellung der Archivpflegeorganisation der Provinz Sachsen im Jahrbuch „Sachsen und Anhalt“ der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle (Historischen KomQuellenreichtum mit Zukunft? Die Perspektiven der Adelsarchive im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, in: Sachsen und Anhalt 26 (2014), 217 – 231, hier 217 f.; Zeitgenössische Berichte über die Gründung und die Arbeit der Archivberatungsstelle finden sich im Mitteilungsblatt der Provinz Sachsen, 7. Jg., Heft 8 (1937), 14; 8. Jg., Heft 6 (1938), 7 – 13; 11. Jg., Heft 8 (1941), 67 f. usw. sowie in einigen Bänden des Jahrbuches Sachsen und Anhalt der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle (Historischen Kommission) für die Provinz Sachsen, vgl. insbesondere L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), 408 – 417, vgl. auch Anm. 73. 4 Die Überlieferung der Archivberatungsstelle für die Provinz Sachsen wird größtenteils im Landesarchiv Sachsen-Anhalt (künftig: LASA; das bisherige Landeshauptarchiv SachsenAnhalt führt seit Sommer 2015 nunmehr die Bezeichnung Landesarchiv Sachsen-Anhalt), Abteilung Magdeburg verwahrt: Bestand C 96 II Archivberatungsstelle der Provinz Sachsen, 1920 – 1954. Die Archivpflegeakten zu den einzelnen Kreisen und Städten wurden bereits digitalisiert und sind im Internet verfügbar unter www.recherche.lha.sachsen-anhalt.de/Query. Die entsprechende Überlieferung für die Kreise und Städte im Regierungsbezirk Erfurt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nach Thüringen abgegeben und wird heute im Hauptstaatsarchiv Weimar verwahrt, vgl. dazu F. Boblenz, Bestand (Anm. 3), 30 – 33; weitere Hinweise auf die Archivberatung finden sich in den mit dem Bestand C 96 II korrespondierenden Beständen des Landesarchivs Sachsen-Anhalt: C 96 I Historische Kommission für die Provinz Sachsen und für Anhalt, C 96 IV Konservator der Denkmale der Provinz Sachsen und C 22 Staatsarchiv Magdeburg. Band 1, die ursprünglich hier angelegte Akte zur Archivpflege mit der Signatur F 2b Gen., wurde offenbar später in die Registratur der Archivberatungsstelle überführt und trägt heute die Signatur C 96 II, Nr. 13; Bd. 2 befindet sich im Bestand C 22 unter Nr. 221 (Bd. 2) und enthält fast nur Drucksachen. Die korrespondierende Überlieferung des Generaldirektors der Staatsarchive findet sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin (GStA), I HA Rep. 178, hier v. a. Nr. 1064: Archivberatungsstelle Magdeburg und die Archivpflege in der Provinz Sachsen 1934 – 1944. 5 Gesamtübersicht über die Bestände des Landeshauptarchivs Magdeburg, Bd. 3.2., Ekkehard Fischer/Josef Hartmann u. a. (Bearb.), Halle 1972 (Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung des Landes Sachsen-Anhalt, Reihe A, Bd. 7), 132; Zur älteren Geschichte des Provinzial- bzw. Staatsarchivs vgl. Hellmut Kretschmar/Walter Friedensburg, Geschichte des Staatsarchivs Magdeburg. Manuskript im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, [um 1922].

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mission) von 19396 weist Dr. Charlotte (Lotte) Knabe, seit 1. April 1939 verantwortliche Archivarin für die Archivberatungsstelle, insbesondere dem Staatsarchiv bzw. den Staatsarchiven die führende Rolle zu. Die Sorge um das nichtstaatliche Archivgut, so Knabe, sei so alt wie das preußische Archivwesen selbst. Nach ihrer Einschätzung war die Provinz Sachsen nach den führenden Provinzen Rheinland und Westfalen die dritte Provinz, in der die Archivpflege in Angriff genommen worden sei. Sie verweist insbesondere auf die Verdienste des Magdeburger Archivleiters Georg Adalbert von Mülverstedt (1857 – 1898)7, dem es zu verdanken sei, dass wichtige kirchliche und kommunale Bestände geordnet und zugänglich gemacht worden seien. Er habe als erster den Gedanken an eine Inventarisation nicht staatlicher Archivalien verfolgt. Zum zweiten nennt sie die Historische Kommission, die in ihrer Sitzung im Jahre 1899 die planmäßige Pflege und Betreuung des nichtstaatlichen Archivguts als ihre vordringlichste Aufgabe betont und die Inventarisation nach dem Vorbild Westfalens und des Rheinlandes beschlossen habe. Tatsächlich hat die Historische Kommission bereits seit ihrer Gründung die Sicherung und Erhaltung nichtstaatlicher Archive als eine Aufgabe von allgemeiner, öffentlicher Bedeutung angesehen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten verfolgt, bevor es 1899 zu dem genannten Beschluss zur Inventarisierung kam. Anders als die späteren Bemühungen um eine Archivberatungsstelle der Provinz Sachsen schloss man hier von Anfang an auch das Land Anhalt ein, obwohl der förmliche Beitritt Anhalts zur Kommission erst im Jahre 1900 erfolgte. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Historische Kommission seit ihrer Gründung im Jahre 1876 in enger Anbindung an das Staatsarchiv agierte. Daneben wirkten stets auch Vertreter des Provinzialverbandes in der Kommission mit, die ihrerseits organisatorisch eine Einrichtung des Verbandes war8. Es ist also davon auszugehen, dass Staatsarchiv und Historische Kommission an einem Strang zogen. Zugleich verweist die Verbindung der Kommission mit dem Provinzialverband bereits auf einen weiteren Akteur in den Bemühungen um die Archivpflege. Tatsächlich wurde mit Inventarisierungsarbeiten der Kommission für mehrere Kreise begonnen, und zwar durchgängig durch Mitarbeiter des Staatsarchivs, so durch Eduard Ausfeld und Felix Rosenfeld 1901 – 1902 mit dem Kreis Wolmirstedt und ab 1906 mit den Kreisen Jerichow I und II, und 1913 – 1915 durch Walter Möllenberg mit dem Kreis Neuhaldensleben. Die Ergebnisse dieser von August 1913 bis Juli 1914, also unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, erfolgten Bereisung wurden in dem ersten und einzigen Band der „Inventare der nichtstaatlichen Archive der Pro6

L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), 408 f. Walter Friedensburg, George Adalbert von Mülverstedt, in: Mitteldeutsche Lebensbilder 2, Magdeburg 1927, 336 – 352; Antje Herfurth, George Adalbert von Mülverstedt in: NDB, Bd. 18, Berlin 1997, 516 f. 8 Vgl. zur Gründung, Zusammensetzung und Entwicklung der Historischen Kommission J. Hartmann, 125 Jahre (Anm. 3), v. a. 9 – 15, mit Fußnote 21, zur Inventarisierung 24 f.; zum Beschluss von 1899 ferner Eduard Ausfeld, Inventarisation nichtstaatlicher Archive in der Provinz Sachsen und in Anhalt, in: Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 49 (1901), 207 f. (zitiert nach Hartmann); sowie die einschlägige Akte im Bestand LASA, C 96 I, II B Nr. 37. 7

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vinz Sachsen“ noch während des Ersten Weltkrieges 1917 durch die Historische Kommission veröffentlicht, interessanterweise mit Unterstützung der preußischen Archivverwaltung9. Ziel der Inventarisierung war zunächst nur eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Archive, nicht ihre Ordnung oder Verzeichnung. Nur die Urkunden vor 1500, auf die man besonderen Wert legte, wurden regestiert. Weitere Bände waren geplant und, wie oben erwähnt, teilweise bereits angearbeitet oder sogar fertig bearbeitet, wurden aber infolge des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen nicht mehr gedruckt10. Anders als in anderen Ländern wurde diese Reihe in der Provinz Sachsen auch später nicht fortgesetzt11. Parallel zu den Aktivitäten der Kommission trieb auch das Staatsarchiv Magdeburg seine eigenen Bemühungen weiter, wenn auch mit etwas anderem Schwerpunkt. So bot das Staatsarchiv bereits seit dem späten 19. Jahrhundert den Eigentümern von Archivgut adliger Provenienz die Möglichkeit, dieses als Depositum im Staatsarchiv zu deponieren. Durch derartige Depositalverträge konnten mehrere adlige Überlieferungen gesichert werden. Andere Möglichkeiten waren die zeitweilige Deponierung und Erschließung im Staatsarchiv mit anschließender Rückgabe oder die Verfilmung von Urkundenbeständen12. Des Weiteren sicherte man in Privathand befindliche Urkunden durch Abschrift13. Daneben kamen auch Schenkungen oder Ankäufe vor. Auch andere nichtstaatliche Archive, z. B. von Kirchengemeinden14 oder Kommunen, konnten im Staatsarchiv deponiert werden. In den Jahren 1907 bis 1911 bereisten Archivare des Staatsarchivs die Stadtarchive des Archivsprengels nahezu flächendeckend. Im Ergebnis dieser Reisen wurden neun Stadtarchive ins Staatsarchiv überführt, da die Städte die Betreuung nicht sicherstellen konnten oder wollten.

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Walter Möllenberg (Bearb.), Inventare der nichtstaatlichen Archive der Provinz Sachsen, Bd. 1 Regierungsbezirk Magdeburg, Heft 1: Kreis Neuhaldensleben, hrsg. von der Historischen Kommission der Provinz Sachsen und des Herzogthums Anhalt mit Unterstützung der Königlichen Preußischen Archivverwaltung, Halle a. d.S. 1917, vgl. dazu auch Josef Hartmann, Publikationen der Historischen Kommission, in: Jahrbuch Sachsen und Anhalt 18 (1994), 83 – 124, hier 98; J. Hartmann, 125 Jahre (Anm. 3), 24 f., setzt diese Inventarisierung der Kommission deutlich in Bezug zu der Arbeit der späteren Archivberatungsstelle. 10 J. Hartmann, 125 Jahre (Anm. 3), 10. 11 Die Reihe der Inventare nichtstaatlicher Archive des Rheinlands, begonnen 1941, bringt es bis heute auf 54 Bände, jedoch größtenteils Editionen oder Regestenwerke, keine kreisweiten Nachweise. 12 Vgl. H. Kretschmar/W. Friedensburg, Geschichte (Anm. 5), 144; J. Brückner/Ch. Volkmar, Quellenreichtum (Anm. 3), 217. Ein Beispiel für solche heute noch im Landeshauptarchiv verwahrte Überlieferungen ist das Gutarchiv Leitzkau-Althaus, 1909 deponiert, vgl. dazu Jörg Brückner/Andreas Erb/Christoph Volkmar (Bearb.), Adelsarchive im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt. Übersicht über die Bestände (Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung des Landes Sachsen-Anhalt, Reihe A, Bd. 20), Magdeburg 2001, Einleitung, 28. 13 So Möllenberg in einem Bericht von 1930, LASA, C 96 IV, Nr. 261. 14 Im Einvernehmen mit dem Konsistorium wurden in den zwanziger Jahren verschiedentlich Urkunden und andere kirchliche Unterlagen im Staatsarchiv deponiert, LASA, C 22, Nr. 202.

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Dabei handelt es sich durchgängig um Deposita unter vollständiger Wahrung der Eigentumsrechte15. Neben der reinen Inventarisierung stand hier also bereits der Gedanke einer Sicherung des nichtstaatlichen Archivguts im Vordergrund. Die Notwendigkeit dazu wurde durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen eher verstärkt – genannt wird hier u. a. die Gefahr der finanziell lohnenden Verwertung des Papiers als Altmaterial –, zugleich fehlten gerade in diesen Jahren die notwendigen Ressourcen sowohl im Staatsarchiv als auch in der Historischen Kommission. Hinzu kam der grundsätzliche Interessenskonflikt des Kulturgutschutzes, nämlich der Widerspruch zwischen dem kommunalen bzw. privaten Eigentum an Archivgut und den übergreifenden Bemühungen um dessen Schutz und Zugänglichmachung16. Dennoch haben Archivare des Staatsarchivs, wie einer Denkschrift Möllenbergs von 1930 zu entnehmen ist (s. dazu unten), in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg (erneut) sämtliche städtischen Archive der Provinz bereist, ausgestattet mit Vollmachten der Regierungspräsidenten. In der Folge wurden auf der Grundlage dieser Reiseberichte die Neuordnung und Verzeichnung der städtischen Archivalien unter der Aufsicht des Staatsarchivs durchgeführt. Abschriften dabei entstandener Findhilfsmittel wurden im Staatsarchiv gesammelt17. Die erwähnte Unterstützung durch die Regierungspräsidenten zeigt, dass das Staatsarchiv für den Zugang zu den Kommunalarchiven der Legitimation durch die Kommunalaufsicht bedurfte und sich nicht ohne weiteres in städtische Angelegenheiten einmischen konnte. Interessanterweise blieb diese Aktion, anders als die Inventarisierung der Historischen Kommission, auf die Kommunalarchive beschränkt. Andere nichtstaatliche Archive waren offenbar davon nicht betroffen. Der Gedanke an eine Fürsorge für die nichtstaatlichen Archive blieb also auch unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges und der Nachkriegszeit virulent. Zu Beginn der dreißiger Jahre, noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, scheint es dann zu einem ernsthaften Vorstoß seitens des Staatsarchivs Magdeburg im Hinblick auf die Einrichtung einer Archivpflegeorganisation gekommen zu sein. Am 25. April 1930 übersandte der Landeshauptmann der Provinz, also der höchste Beamte des Provinzialverbandes, dem Staatsarchiv eine Denkschrift über die Archivberatungsstelle der Provinz Westfalen18, die bereits 1927 in Anbindung 15 Vgl. dazu H. Kretschmar/W. Friedensburg, Geschichte (Anm. 5), 144, 159, der auch noch ältere kommunale Deposita erwähnt; J. Brückner/Ch. Volkmar, Quellenreichtum (Anm. 3), 217 mit Fußnote 1; vgl. auch Möllenberg im Bericht vom 1. Juli 1930, LASA, C 96 IV, Nr. 261. Otto Korn, Übersicht über die Bürgerbücher (vgl. unten Anm. 95), 310, spricht ferner von einer Umfrage unter den Stadtarchiven 1907. Im Bestand Staatsarchiv des Landesarchivs Sachsen-Anhalt finden sich mehrere Aktentitel zu diesem Komplex, vgl. LASA, C 22, Nr. 219, 244: Inhaltsverzeichnisse der fremden (nicht staatlichen) Archive der Provinz Sachsen, aufgenommen durch die Historische Kommission, Nr. 270 – 274 Städtische Archive. 16 So weist Knabe (Archivpflegerorganisation, Anm. 1, 408), Vorwürfe gegen eine „Verschleppung“ von Urkunden durch die Staatsarchive zurück. 17 Diese Findhilfsmittel sind heute noch vorhanden, LASA, Slg. 12. 18 „Die Archivberatungsstelle der Provinz Westfalen und ihr Ausbau zu einem Landesarchivamt“ von Archivdirektor Dr. Glasmeier an den westfälischen Provinziallandtag, 1930,

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an den dortigen Provinzialverband eine feste Form gefunden hatte, mit der Bitte um Rückäußerung. Dr. Walter Möllenberg, seit 1923 Direktor des Magdeburger Staatsarchivs, nutzte die Gelegenheit, seine Überlegungen in Bezug auf die Archivpflege in der Provinz Sachsen ausführlich darzulegen19. Er führt aus, wie sinnvoll es sei, „wenn auch unsere Provinzialverwaltung die provinzielle Archivpflege in ihren Aufgabenkreis einbeziehen und Massnahmen hierfür treffen würde, die den besonderen Verhältnissen der Provinz Sachsen entsprechen“. Zunächst rekapituliert er die bisherigen Bemühungen des Staatsarchivs und der Historischen Kommission auf diesem Gebiet, wobei er deutlich macht, dass die Maßnahmen des Staatsarchivs von staatlicher Seite, d. h. vom Preußischen Ministerpräsidenten als Chef der preußischen Archivverwaltung, gedeckt und folglich auch von den Regierungspräsidien unterstützt worden seien. Sodann beschreibt er ausführlich die verschiedenen nichtstaatlichen Archive der Provinz in ihrer jeweiligen spezifischen Lage, darunter auch die kirchlichen Archive, von denen die evangelischen durch das Konsistorium im Einvernehmen mit dem Staatsarchiv in letzter Zeit aufgrund von Fragebögen inventarisiert worden seien, sowie die Guts- und Familienarchive, bei denen er insbesondere auf die Patrimonialgerichtsakten hinweist. Schließlich skizziert er seine Vision einer systematischen Archivpflege durch die Schaffung einer Archivberatungsstelle nach dem Muster anderer Provinzen, von denen er die Rheinprovinz, Westfalen und SchleswigHolstein ausdrücklich nennt. Interessanterweise hält er die Situation in der Provinz Sachsen am ehesten der in Schleswig-Holstein für vergleichbar, „wo ebenso wie bei uns die im Rheinland und besonders in Westfalen dominierenden Adelsarchive eine vergleichsweise untergeordnete Rolle unter den nichtstaatlichen Archiven spielen“. Diese Auffassung entspricht nicht den späteren Schwerpunkten der Arbeit. In Bezug auf die institutionelle Anbindung schlägt Möllenberg eine Angliederung an die Historische Kommission vor, also nicht wie in Westfalen an den Provinzialverband. Organisatorisch sollte dies durch die Bildung eines entsprechenden Fachausschusses im Anschluss an die Kommission geleistet werden. Dieser sollte sich aus „den der Historischen Kommission angehörenden fachmännisch vorgebildeten Archivaren“ zusammensetzen, bei denen jedoch ein deutliches staatliches Übergewicht bestand20. Die Leitung der Archivpflege sah Möllenberg bei dem Direktor des Staatsarchivs Magdeburg, also bei sich selbst. Konsequenterweise sollte daher die Geschäftsstelle im Staatsarchiv Magdeburg eingerichtet werden, in dem man ja bereits über umfangLASA, C 96 II, Nr. 13, fol.1 – 14; zur Archivberatung in Westfalen, vgl. L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), 408 – 417. 19 LASA, C 96 IV, Nr. 261; C 96 II, Nr. 13, fol. 15 ff.; zu Möllenberg vgl. Heiner Lück, Archivar im Dienst der Landesgeschichte: Walter Möllenberg (1879 – 1951), in: Sachsen und Anhalt 24 (2003/2004), 37 – 55. Er betrachtet darin auch Möllenbergs Wirken in der NS-Zeit und attestiert ihm keine besondere Affinität zu deren Zielen, die über die übliche, für Amtsinhaber nicht vermeidbare Anpassung hinausging, 50 – 54. 20 Das Mitgliederverzeichnis der Kommission für die Jahre 1926 – 1934, bei J. Hartmann, 125 Jahre (Anm. 3), 48, nennt vierzehn Archivare, von denen sieben im Juli 1930 der Kommission nicht mehr oder noch nicht angehörten, drei der verbleibenden sieben waren Mitarbeiter des Staatsarchivs Magdeburg, einer des Anhaltischen Staatsarchivs Zerbst.

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reiches Material zur Archivpflege in der ganzen Provinz verfüge. Den Aufgabenkreis der Archivberatungsstelle stellte er sich analog dem des Konservators der Denkmale der Provinz vor, eine Analogie, die sich auch in der westfälischen Denkschrift findet. Nach einer Ermittlung sämtlicher nichtstaatlicher Archive der Provinz müsse deren Eintragung in eine entsprechende, stets kurrent zu haltende Kartei erfolgen. Darüber hinaus müsse eine dauernde Betreuung der Archive, die Sicherung ihrer Bestände durch eine geeignete Unterbringung sowie die Erschließung ihrer Inhalte durch Ordnung und Verzeichnung der Archivalien vorgenommen werden. Eine dauernde Beaufsichtigung durch systematische Archivbereisungen durch Fachleute sei erforderlich. Darüber hinaus sah Möllenberg auch bereits die Notwendigkeit des Einsatzes von örtlichen Archivpflegern, die anzuwerben, anzuleiten und ggf. durch Kurse im Staatsarchiv aus- und fortzubilden seien. Schließlich sollten weiterhin Inventare erstellt und zum Druck gebracht werden. Für die Umsetzung dieser Pläne waren nach Einschätzung Möllenbergs entsprechende Mittel erforderlich, die er jedoch für geringer einschätzte als die im Rheinland oder in Westfalen eingesetzten. Woher diese Mittel kommen sollten, sagt er nicht explizit. Er dürfte aber an den Provinzialverband gedacht haben, da das Schreiben an den Landeshauptmann gerichtet war, er eingangs die Rolle der Provinzialverwaltung bereits betont hatte, und auch die Historische Kommission, der er die Archivberatung angliedern wollte, durch den Provinzialverband getragen wurde21. Der Landeshauptmann dankte Möllenberg mit Schreiben vom 22. Sept. 1930 für seine „wertvollen Vorschläge“, auf die er zurückkommen wollte, „sobald es die finanziellen Verhältnisse“ zuließen. Dies ist aber, soweit in den Akten erkennbar, nicht erfolgt22. Es ist also davon auszugehen, dass der Vorstoß Möllenbergs zunächst im Sande verlief. Dies konstatiert auch dieser selbst, als er in einem Bericht von 1934 erläutert: „Nach dem Kriege ist die Inventarisationsfrage sowohl vom Staatsarchiv als auch von der Provinzialverwaltung gelegentlich aufgeworfen und erörtert worden, ohne daß es indessen gelang, sie wirklich in Fluß zu bringen“23. Interessant an Möllenbergs Skizze ist, dass er, angeregt durch das westfälische Beispiel, aber mit anderer Akzentsetzung bzgl. der Rolle des Staatsarchivs, die Auffassung vertrat, dass sich an der Archivpflege verschiedene Ebenen von der Historischen Kommission bis zum Provinzialverband beteiligen sollten, und das Staatsar21 Die Ausfertigung des Schreibens findet sich in der Überlieferung des Landeshauptmanns, interessanterweise in einer Akte des Bestandes „Konservator der Denkmale“, LASA, C 96 IV, Nr. 261, Schreiben vom 1. Juli 1930 mit Eingangsstempel 4. Juli 1930; zur Kommission J. Hartmann, 125 Jahre (Anm. 3), 12 ff. 22 LASA, C 96 IV, Nr. 261 vom 22. Sept. 1930; C 96 II Nr. 13; im Jahre 1932 erschien jedoch in erster Auflage ein „(Gesamt-)Verzeichnis der Museen, Heimat- und Geschichtsvereine, Büchereien, Archive und Lichtbildstellen in der Provinz Sachsen und in Anhalt“, das auch die Kommunal- sowie wichtige Adels- und Kirchenarchive aufführt. Es wurde herausgegeben vom „Verband zur Förderung der Museumsinteressen in der Provinz Sachsen und in Anhalt“, dessen Geschäftsstelle im Landeshaus in Merseburg saß, also beim Provinzialverband, und hatte seinen Fokus primär auf den Museen, zur 2. Auflage 1935 vgl. unten Anm. 36. 23 GSTA, I HA Rep. 178, Nr. 1064, fol. 1, Schreiben vom 31. Juli 1934.

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chiv zwar durch die Geschäftsstelle und die Personalunion seines Leiters mit dem Vorsitzenden des Fachausschusses einen erheblichen Einfluss haben sollte, der Eindruck eines rein staatlichen Aufsichtsinstrumentes aber vermieden wird. Dies ist umso bemerkenswerter, als Möllenbergs Schreiben in die Phase Ende der zwanziger Jahre/ Anfang der dreißiger Jahre fiel, als die zentrale preußische Archivverwaltung den Entwurf eines Archivschutzgesetzes vorlegte, das eine umfassende direkte Kontrolle der staatlichen über die nichtstaatlichen Archive vorsah. Diese Bemühungen scheiterten in der Weimarer Republik, wurden dann aber nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verstärkt wieder aufgenommen. Dabei konzentrierte man sich in den Jahren 1933 bis 1936 auf ein engeres Archivschutzgesetz, das eine weitreichende staatliche Aufsicht über nichtstaatliches Archivgut zum Ziel hatte. Unter anderem sollte in jedem Staatsarchiv ein wissenschaftlicher Archivar als „leitender Schriftgutpfleger“ mit weitreichenden Befugnissen eingesetzt werden24. Im Vorgriff auf dieses Gesetz wurden bereits vielfältige Regelungen erlassen, die in die Provinzen, so auch in die Provinz Sachsen hineinwirkten. Hintergrund des nun verstärkt und von verschiedenen Seiten einsetzenden Interesses an der Sicherung und Zugänglichmachung des nichtstaatlichen Archivguts war insbesondere die durch die völkische Ideologie der Nationalsozialisten beförderte sogen. „Sippenkunde“, d. h. eine systematische genealogische Forschung25. Bereits am 1. Aug. 1933 erging durch den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ein Erlass zur Sicherstellung von Schriftdenkmälern. Die Beteiligung der Landkreise erfolgte über die Regierungspräsidien, wie eine Anfrage Möllenbergs vom 19. Sept. 1933 beim Regierungspräsidenten in Merseburg nach dem Stand der Umsetzung dieses Erlasses zeigt. Der Regierungspräsident sandte dieses Schreiben am 28. Sept. 1933 an die Landkreise und kreisfreien Städte mit der Aufforderung, die Urkunden gemäß Ziffer 1 des Erlasses im Einvernehmen mit dem Staatsarchiv sicherzustellen, und bat das Staatsarchiv, Anträgen dieser Stellen auf Sicherung der Schriftdenkmäler zu entsprechen26. Es wird deutlich, dass das Staatsarchiv hier noch nicht unmittelbar tätig werden konnte, sondern auf die Zuarbeit der Kommunen bzw. der Kommunalaufsicht angewiesen war. Ein weiterer Erlass, diesmal des Finanzministers im Namen des Ministerpräsidenten, vom 22. Juni 1934 betraf die Behördenüberlieferung, bei der nach Mitteilung des Generaldirektors 24 Zu archivgesetzlichen Bestrebungen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, vgl. Norbert Reimann, Archivgesetzgebung im Nationalsozialismus, in: ders. u. a., Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag Bd. 10), Essen 2007, 45 – 56, hier 46 f.; Ders., Kulturgutschutz und Hegemonie. Die Bemühungen der staatlichen Archive um ein Archivalienschutzgesetz in Deutschland 1921 bis 1972. Veröffentlichungen des westfälischen Archivamtes, Münster 2003, 5 ff. 25 Dies wird in den verschiedenen Erlassen, Stellungnahmen, Bestimmungen und Berichten immer wieder betont, vgl. dazu im Folgenden; interessanterweise drohte der rheinischen Archivberatungsstelle gerade in dieser Zeit die Auflösung, vgl. W. Wisotzky, Der VollmerKisky-Streit (Anm. 1), 194 ff. 26 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 1 und 2, Erlass G.I. No. 2033 G II U I M.

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der Staatsarchive Aussonderungen und Vernichtungen ohne Rücksprache mit dem Staatsarchiv erfolgt seien und daher, auch im Zusammenhang mit der Umsetzung von Bestimmungen zum Luftschutz, wertvolles Material verloren gegangen sei. Künftig seien die Staatsarchive zu beteiligen. Diese Regelung sollte auch für die Kommunen gelten, soweit nicht hauptamtlich verwaltete kommunale Archive vorhanden waren27. Eine Verfügung bezüglich des sippenkundlich relevanten Schriftguts der Handwerksinnungen, das ebenfalls dem Schutz der Staatsarchive unterstellt wurde, erging am 27. Nov. 1934, ein entsprechender umfassender Erlass des Wirtschaftsministers, auf Grund von Vereinbarungen mit dem Innenministerium, der Archivverwaltung und der Reichsstelle für Sippenforschung erarbeitet, datiert vom 31. Juli 193528. In einem grundlegenden Erlass des Preußischen Ministerpräsidenten vom 11. Febr. 1935 wurden zwei weitere Probleme angesprochen. Zum einen habe das starke Interesse für Familienforschung dazu geführt, dass an manchen Orten durch Privatpersonen oder auch auf Veranlassung kommunaler Verwaltungen sogen. Kreisarchive sich um das Schriftgut bäuerlicher oder bürgerlicher Familien bemühten. Diese Sammlungen seien den Staatsarchiven zu melden, damit die fachliche Aufsicht sichergestellt wurde. Zum anderen wandte er sich gegen die Verbringung von Privatarchiven ins Ausland. Im Vorgriff auf das geplante Archivschutzgesetz sollten derartige Versuche unterbunden werden. Die Landräte wurden angewiesen, ein Verzeichnis der wertvollen Privatarchive anzulegen und die Besitzer vor solchen Versuchen zu warnen29. In Reaktion auf diesen Erlass fragte das Staatsarchiv, durch den Oberpräsident informiert, bei den Regierungspräsidenten nach bereits bestehenden derartigen Kreisarchiven und betonte, dass dort nur Unterlagen verwahrt werden dürften, für die das Staatsarchiv nicht zuständig sei30. Auch die sippenkundlich sehr bedeutsame Kirchenbuchüberlieferung war Gegenstand von Erlassen des Reichsjustizministers. Abschriften entsprechender Verzeichnisse sollten dem Staatsarchiv eingereicht werden31. Am 24. Dez. 1935 folgte ein Erlass des Reichs- und Preußischen Ministers für Ernährung und Landwirtschaft zur Sicherung des Archivguts aufgesiedelter Güter, das den Staatsarchiven anzubieten sei32. In den verschiedenen Erlassen wird deutlich, dass den Staatsarchiven in dieser Phase zwar bereits eine zentrale Rolle im Archivschutz zukam, dass aber die Ermittlung des gefährdeten Archivguts in den Landkreisen durch diese selbst zu erfolgen hatte, und das Staatsarchiv nicht direkt auf die Archivalien anderer Träger zugreifen konnte. Daher waren 27

LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 3, Erlass IC 1620/8, 6. LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 32. Er wurde den Staatsarchiven von der Generaldirektion am 28. Aug. 1935 übersandt. 29 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 5, Erlass St.M.A.V. 359; eine entsprechende Verfügung bzgl. der Kreisarchive war Ende 1934 auch bereits durch den Generaldirektor der Staatsarchive ergangen (fol. 4); zum Thema auch L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), 414 f. 30 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 6; Antworten fol. 10 f. 31 Erlasse vom 8. Mai 1935 und 12. März 1936 – IV b 186 – LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 53 ff. 32 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 38, 43 ff., 49 f., 52, Erlass VII 37809/35; vgl. dazu U. Höroldt, Weiterwirken (Anm. 2), 450. 28

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an der Entstehung dieser Erlasse verschiedene Ministerien sowie die Generaldirektion der Preußischen Staatsarchive, an der Umsetzung neben den Staatsarchiven die Oberpräsidenten, die Regierungspräsidenten sowie die Landkreise und der Provinzialverband beteiligt. Der Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive, der in engem Kontakt mit den zuständigen Ministerien stand, versuchte einheitliche Regelungen für alle preußischen Provinzen durchzusetzen und drang auf einen zügigen Ausbau der Archivpflege unter der Leitung der Staatsarchive. Auf entsprechende Nachfrage berichtete Möllenberg am 31. Juli 1934 nach Berlin, dass es in der Provinz Sachsen bisher nicht möglich gewesen sei, eine umfassende Archivpflegeorganisation aufzubauen, da dafür weder von der Provinzialverwaltung noch von der Archivverwaltung Mittel zur Verfügung gestellt worden seien. Die Pflege des nichtstaatlichen Archivwesens nennt er „ein altes Schmerzenskind des Magdeburger Staatsarchivs“33. Diesmal betont er jedoch, „daß Archivpflege nur unter Leitung und Mitwirkung des Staatsarchivs ausgeübt werden“ könne und dürfe; durchaus eine Akzentverschiebung gegenüber der früheren Stellungnahme von 1930. Er betont ein verstärktes Interesse an den Archivalien in der letzten Zeit, so dass nun gelegentlich Persönlichkeiten im Staatsarchiv erschienen, die Rat und Hilfe in Archivpflegeangelegenheiten erbäten und erhielten. Dies wertet er als einen sich von selbst ergebenden ersten Anfang zu einer Organisierung der Archivpflege, deren weiterer Ausbau dringend geboten erscheine, „wenn sich nicht Persönlichkeiten und Instanzen einschalten sollen, die die Interessen der Archivverwaltung – sehr zum Schaden der Sache – vielfach durchkreuzen“. Der erste Teil des Satzes, also die Dringlichkeit eines Ausbaus, ist in der Berliner Akte unterstrichen und am Rand von zeitgenössischer Hand das Wort „Allerdings“ vermerkt. Man kann vermuten, dass es sich bei den „Persönlichkeiten und Instanzen“ um die sich überall verstärkt in die Archivpflege einmischenden Sippenämter handelte34. Die Ratsuchenden waren vermutlich entweder Privateigentümer von Archivgut oder Vertreter von Kommunen oder Kirchen, deren Archivgut aufgrund der anlaufenden Sippenforschung in den Fokus des Interesses gerückt war. Die weitere Archivpflege möchte Möllenberg mit der Inventarisierung der nichtstaatlichen Archive verknüpfen, und bittet dafür um finanzielle Unterstützung durch die preußische Archivverwaltung. In dem Fall hofft er auch auf einen Zuschuss durch die Provinzialverwaltung, den er demnächst beantragen wolle. Personell kündigt er an, Archivpflege wie Inventarisation Herrn Staatsarchivrat Dr. Kühne übertragen zu wollen35, nennt also hier erstmals einen eigenen direkt für die Archivpflege zuständigen Beamten 33 GSTA, I HA Rep. 178, Nr. 1064, fol. 1, Schreiben vom 31. Juli 1934; im Rheinland versuchte man seitens der Archivberatungsstelle die Einbeziehung der Staatsarchive in die Archivberatung mit Hinweis auf deren konkurrierendes Eigeninteresse zurückzuweisen; vgl. dazu W. Wisotzy, Der Vollmer-Kisky-Streit (Anm.1), 198. 34 Vgl. dazu auch W. Wisotzy, Der Vollmer-Kisky-Streit (Anm. 1), 198. 35 GStA, I HA Rep. 178, Nr. 1064, fol. 1. Bereits 1936 erscheint jedoch Dr. Otto Korn (s. zu ihm unten Anm. 56) in dieser Funktion, da Kühne im Juni 1936 nach Koblenz versetzt wurde, vgl. Wolfgang Leesch, Die deutschen Archivare 1500 – 1945, Bd. 2, München 1992, 347.

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seines Hauses. Anders als in seiner Denkschrift von 1930 sieht Möllenberg nunmehr also nicht mehr die Historische Kommission, sondern direkt den Provinzialverband als Partner beim Aufbau einer Archivpflege, deren Leitung jetzt aber eindeutig beim Staatsarchiv liegen sollte, das dazu einen eigenen Beamten und eigene Haushaltsmittel benötige. Seine optimistische Einschätzung in Bezug auf eine Unterstützung durch die Provinzialverwaltung erfüllte sich jedoch nicht36. Im Gegenteil wurde die Beteiligung des Provinzialverbandes zunächst eher zurückgedrängt. Man setzte vielmehr auf ein System ehrenamtlicher und freiwilliger Mitarbeit von Archivpflegern, wie es sie in einigen der Provinzen bereits gab. Am 21. Juni 1935 regte der Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive Albert Brackmann37 in einem vertraulichen Schreiben an die Staatsarchive an, diese sollten in Erwartung des Archivschutzgesetzes, das ihnen voraussichtlich die Aufsicht über das nichtstaatliche Archivgut ihres Bezirkes übertragen und ferner die Anlage einer Schriftgutschutzrolle vorschreiben werde, bereits mit der Erfassung des nichtstaatlichen Schriftguts beginnen. Auch wenn jedem Staatsarchiv dazu zusätzliches wissenschaftliches Personal in Aussicht gestellt wurde, wird die Notwendigkeit einer baldigen Ernennung von Archivpflegern vor Ort betont, insbesondere um den Wünschen der amtlichen Sippenforschung entgegenzukommen. Die Staatsarchive werden um Bericht gebeten, welche Schritte man seit einer Tagung in Wiesbaden im vergangenen Herbst bereits unternommen habe, um in Einvernehmen mit der Provinzialverwaltung die erforderlichen Einrichtungen zu schaffen38. Für die Provinz Sachsen hatte ein solches System von Archivpflegern bisher nicht existiert, obwohl Möllenberg es in seiner Denkschrift von 1930 bereits angesprochen hatte. In einem auf den 24. Juli 1935 datierten Berichtsentwurf, den er wegen des am 25. Juli 1935 in Magdeburg eingehenden grundlegenden Erlasses über die „Einrichtung einer Archivpfleger-Organisation“ vom 15. Juli 1935 nicht absandte, erläutert Möllenberg 36 Im kommenden Jahr, am 6. Sept. 1935, berichtete er, dass in diesem Etatjahr keine Unterstützung zu erlangen gewesen sei, GStA, I HA, Rep. 178, Nr. 1064, fol. 2. Jedoch erschien 1935 die zweite, erweiterte Ausgabe des 1932 erstmals erschienenen, von dem beim Provinzialverband ansässigen „Verband zur Förderung der Museumsinteressen“ herausgegebenen „Verzeichnis der Museen, Heimat- und Geschichtsvereine …“ (2. erw. Aufl., Merseburg 1935, vgl. oben Anm. 22). Während die Ausgabe von 1932 eine Reaktion auf die Notzeiten nach dem Ersten Weltkrieg darstellte, nimmt die erweiterte 2. Auflage ausdrücklich auf die „Zeiten machtvollen Aufschwunges“ nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Bezug (Einleitung S. IV, in der Bibliotheksausgabe des Landesarchivs Sachsen-Anhalt ist dieser Passus zu DDR-Zeiten überklebt worden) und hebt das Engagement des Staates, auch das finanzielle hervor. Eine Archivberatungsstelle wird in diesem Verzeichnis unter den Institutionen noch nicht erwähnt. Bei einer 1940 geplanten Neuauflage war dagegen die Einbeziehung der Archivberatungsstelle ausdrücklich erwünscht (LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 310). 37 Vgl. zu ihm Georg Winter/Eckart Henning, Die Leitung der Preußischen Archivverwaltung 1810 – 1945, in: Eckart Henning, Archivalien und Archivare Preußens, Berlin 2013, 80 – 86, hier 85 mit Fußnote 15; W. Wisotzky, Der Vollmer-Kisky-Streit (Anm. 1), 189 Fußnote 60 mit weiterer Literatur. 38 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 21.

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seine Vorstellungen, die von den Berliner Plänen deutlich abweichen, ausführlich. Danach hegte er inzwischen offenbar grundsätzliche Bedenken gegen eine Archivpflegerorganisation, da er fürchtete, die lokalen Archivpfleger, die in der Provinz Sachsen für 50 Stadt- und Landkreise zu ernennen seien, könnten aus Eigeninteresse an den Quellen eher gegen als für das Staatsarchiv wirken39. Er verweist auf die besonderen Verhältnisse in der Provinz. Die Zahl der nichtstaatlichen Archive sei hier, abgesehen von denen der leichter zu kontrollierenden Städte, weniger beträchtlich. Dies habe bereits die Inventarisation durch die Historische Kommission ergeben, weshalb man diese auf die größeren Guts- und Familienarchive habe beschränken wollen. Diese Archive wolle man verstärkt mit dem Staatsarchiv verbinden, v. a. wegen der für die Erbhof- und Familienforschung unentbehrlichen Patrimonialakten und Akten öffentlichen Rechtscharakters. Die anderen Aufgaben der Archivpflege erschienen demgegenüber geringfügig. Man habe gegenüber den Provinzialinstanzen stets betont, dass das Staatsarchiv Träger der Archivpflege in der Provinz sein müsse40. Die hier betonte Bedeutung der Adelsarchive für die nichtstaatliche Überlieferung sowie die Hervorhebung der Rolle des Staatsarchivs weichen von Möllenbergs früherer Einschätzung ab. Es wird deutlich, dass der Aufbau des Archivpflegersystems, wie es der Generaldirektion vorschwebte, für ihn nicht alternativlos war, und er eine direkte Archivpflege durch das Staatsarchiv mit dazu eingestellten Mitarbeitern und ggf. in Analogie zur Denkmalpflege in Anbindung an die Provinzialverwaltung vorgezogen hätte. Archivpfleger wollte er nur dort einsetzen, wo ein amtliches Bedürfnis bestand. Dies entsprach jedoch nicht den Vorstellungen der Generaldirektion. In den mit Erlass vom 15. Juli 1935 übersandten „Richtlinien für die Archivpfleger-Organisation“ wird die Einrichtung einer Organisation von ehrenamtlichen Archivpflegern nach dem Vorbild der Provinz Grenzmark-Posen-Westpreußen verpflichtend gemacht41. Als Grund für die Notwendigkeit ihrer Einrichtung wird die erhöhte Bedeutung der Heimat- und Sippenforschung und deren Bedarf an zugänglichen Quellen genannt. Die Archivpfleger sollten zur „Unterstützung der Kommunalaufsichtsbehörden sowie der staatlichen Archivverwaltung“ auf Vorschlag des zuständigen Staatsarchivs vom Oberpräsidenten im Einvernehmen mit dem Generaldirektor der Preußischen Archive und nach Prüfung der politischen Zuverlässigkeit ernannt werden. Dort wo ein solches System noch nicht existiere, sollte es durch die Staatsarchive in Zusammenarbeit mit dem Oberpräsidenten bzw. den Regierungen eingerichtet werden, wo es bereits vorhanden war, sollte es angepasst werden. Die Staatarchive hatten den Schriftgutschutz zu leiten, und sollten als Geschäftsstelle und anweisende Stelle gegenüber den Archivpflegern agieren. Während also staatliche Stellen der Archivverwaltung ebenso wie der Provinzialregierung stark beteiligt waren, 39

Hier trifft sich Möllenbergs Haltung mit der des Leiters der Rheinischen Archivberatung Wilhelm Kisky, der die Archivpflegerorganisation ebenfalls ablehnte, W. Wisotzy, Der Vollmer-Kisky-Streit (Anm.1), 201. 40 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 22 f., zur nicht erfolgten Absendung fol. 30. 41 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 24 – 29; Erlass fol. 24, Richtlinien fol. 25 ff.

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wurde die Rolle der provinziellen Selbstverwaltung und der Landkreise auf die Mitwirkung bei der Rekrutierung der Pfleger und die notwendige finanzielle Unterstützung reduziert, die zudem nach Artikel 13 der „Richtlinien“ durch die Staatsarchive im Einvernehmen mit der preußischen Archivverwaltung erst zu erwirken war. Die Aufgabe, diese Mittel einzuwerben, wurde also dem jeweiligen Staatsarchiv selbst übertragen und nicht direkt angeordnet. Der Grund dafür könnte darin liegen, dass diese im Vorgriff auf das geplante Archivschutzgesetz aufgestellten Richtlinien formal allein vom Generaldirektor der Preußischen Archive erlassen wurden und nicht die Form eines ministeriellen Erlasses hatten. Direkte Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung waren daher nicht möglich. In den „Richtlinien“ werden ferner die Grundzüge der Organisation festgelegt. Interessant ist insbesondere die hier deutlich werdende Vorstellung von der Rolle der Archivpfleger. Es handelte sich um ein „Ehren- oder Vertrauensamt“, aber gegenüber öffentlich-rechtlichen Stellen sollten die Archivpfleger zugleich „Vertreter und Beauftragte der staatlichen Aufsichtsbehörden“ sein, die durch einen entsprechenden Ausweis gegenüber der Selbstverwaltung legitimiert werden sollten. Privaten Eigentümern sollten sie „mit Rat und Tat“ zur Seite stehen und diese als „Treuhänder der Volksgesamtheit“ auf ihre Pflichten als Eigentümer der Quellen hinweisen. In schwierigen Fällen war auch eine Sicherung durch Deponierung im Staatsarchiv möglich, jedoch unter striktem Eigentumsvorbehalt der Archivträger. Überhaupt sollten die Pfleger alles vermeiden, was den Archivträgern in Rechtsfragen oder sonst zum Nachteil gereichen konnte. Eine Ordnung und Verzeichnung der Bestände durch die Archivpfleger war nicht vorgesehen, wohl aber eine Unterstützung in diesem Bemühen. Die Rolle der Archivpfleger als Beauftragte wird auch darin deutlich, dass sie zur regelmäßigen Berichterstattung verpflichtet waren, und die Akten des einzelnen Pflegers bei einem personellen Wechsel „in geordnetem Zustand mit besonderem Übergabeprotokoll“ an den Nachfolger zu übergeben waren. Die „Richtlinien“ entsprachen weitgehend dem Inhalt der Anweisungen für die Archivpfleger der Provinzen Grenzmark und Brandenburg und sollten gemäß oben genannten Erlasses auch als Grundlage für die entsprechenden Anweisungen der übrigen Staatsarchive dienen. Tatsächlich liegen sie auch dem vom Staatsarchiv Magdeburg bis Mitte 1936 erarbeiteten Entwurf eines 1. Rundschreibens mit der „Anweisung an die Archivpfleger“ zugrunde42, die jedoch später eine bedeutsame Änderung erfuhr. Entgegen den Intentionen des Generaldirektors der Preußischen Archive zu einem einheitlichen Aufbau der Archivpflege, verfolgte Möllenberg weiterhin eigene Vorstellungen. So übersandte er nicht nur seine nicht nach Berlin abgegangene abweichende Stellungnahme vom 24. Juli 1935 kenntnishalber dem zuständigen Beamten

42 LASA, C 96 II, Nr. 46; das Exemplar des Erlasses in der Akte Nr. 44 diente Bleistiftspuren zufolge offenbar als direkte Grundlage. Laut Rundschreiben wurde die Archivpflegeorganisation „Vom Staatsarchiv in Magdeburg … ins Leben gerufen“.

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beim Oberpräsidium43, sondern erkundigte sich auch im September 1935 bei den anderen preußischen Staatsarchiven nach den dort von der Provinzialverwaltung für die Archivpflege aufgewandten Mitteln, deren Verwaltung und dem organisatorischen Aufbau44. Dies lässt vermuten, dass sich Möllenbergs Bedenken nicht nur gegen die Ernennung der Archivpfleger selbst richteten, sondern auch dagegen, dass den Staatsarchiven in dem Erlass vom 15. Juli 1935 eine erhebliche Rolle in der Archivpflege zugewiesen wurde, ohne dafür entsprechendes Personal und Haushaltsmittel zu erhalten, und dass das Verhältnis zwischen Staatsarchiv, Archivpflegern, Landkreisen und Stellen der staatlichen und der Provinzialverwaltung nicht wirklich klar geregelt war. Ein gutes Beispiel dafür ist die Reaktion des Oberpräsidenten – hier als Leiter der staatlichen Provinzialregierung –, auf die Bitte nach finanzieller Unterstützung in Umsetzung der Beschlüsse, die Möllenberg trotz seiner Bedenken vornehmen musste. Der Oberpräsident erklärte, zunächst die einschlägigen gesetzlichen oder ministeriellen Bestimmungen bzgl. der Ernennung der Archivpfleger abwarten zu wollen, und verwies auf fehlende Haushaltsmittel sowie darauf, dass gemäß der „Richtlinien“ nicht die Oberpräsidien, sondern die Provinzial- und Kreisverwaltungen als Geldgeber für die Archivpflege vorgesehen seien45. Tatsächlich bildeten die Landkreise den eigentlichen Bezugsrahmen der nun aufzubauenden Archivpflege, da die Archivpfleger auf der Ebene der Kreise zu bestellen waren. Eine Zustimmung der Landräte bzw. der kommunalen Verbände zu diesem Vorgehen war daher unerlässlich. Diese standen einer solchen Organisation jedoch durchaus skeptisch gegenüber, v. a. aus zwei Gründen. Zum einen lehnte man Vorstöße, die einen zusätzlichen Einsatz von Haushaltsmitteln vorsahen, generell eher ab. Gravierender aber war der andere Aspekt, nämlich der sensible Bereich der kommunalen Selbstverwaltung. Dies erfuhr auch Möllenberg, als er sich Anfang 1936 in Umsetzung der Erlasse aus Berlin mit der Bitte an die Landräte wandte, zur Deckung der Kosten der örtlichen Archivpfleger 100 Reichsmark in die jeweiligen Haushalte einzustellen, und parallel den Oberpräsidenten und die Regierungspräsidenten um Unterstützung zur Durchsetzung dieser Bitte bat46. Dies veranlasste den Regierungspräsidenten in Magdeburg darauf hinzuweisen, dass die Bewilligung dieser Mittel 43

LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 30, Schreiben an den Oberpräsidenten vom 30. Juli 1935. Er ist hier nicht als Leiter des Provinzialverbandes, sondern in seiner Hauptfunktion angesprochen. 44 LASA, C 96 II, Nr. 11; C 96 II, Nr. 13: Auf die Abfrage gingen verschiedene Antworten ein, die ein Spektrum aufzeigen, das von einer bestehenden Archivberatungsstelle mit festem Etat (Rheinprovinz) bis zum völligem Fehlen einer Unterstützung (z. B. Königsberg, Hannover) reichte. Die Verwaltung der Mittel erfolgte teilweise durch die Archivberatungsstellen selbst (Rheinprovinz, hier Teile der Kosten direkt durch die Provinzialhauptverwaltung übernommen), teilweise durch die Provinzialverwaltung (Westfalen) und teilweise auch durch die Landesgeschichtliche Forschungsstelle (Pommern) bzw. Historische Gesellschaft (SchleswigHolstein). 45 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 30, Schreiben Möllenbergs an den Oberpräsidenten vom 30. Juli 1935; fol. 31, Antwort des Oberpräsidenten. 46 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 39, Schreiben vom 2. Jan. 1936.

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eine freiwillige Selbstverwaltungsangelegenheit der Kreise sei, die er als Aufsichtsbehörde nicht unmittelbar beeinflussen könne. Er plane jedoch, die Sache bei einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft der Landräte zur Sprache zu bringen47. Ähnlich reagierte der Regierungspräsident in Erfurt48. Sprecher der Bedenken der kommunalen Seite war der Obmann der Arbeitsgemeinschaft für Verwaltungsfragen der Landkreise des Regierungsbezirks Magdeburg und des Landes Anhalt (Provinzialdienststelle Sachsen einschließlich Anhalt des Deutschen Gemeindetags), Landrat Dr. Theodor Parisius aus Calbe49. Er vertrat die Auffassung, dass eine Zustimmung der Landkreise zu der erbetenen Kostenbeteiligung nur unter bestimmten Bedingungen erfolgen könne50. Diese betrafen insbesondere eine Kofinanzierung des preußischen Staates sowie den Verbleib des Archivguts in den Kreisen51. Trotz entsprechender Zusicherungen des Staatsarchivs, das dies gewährleistet sei52, ließ sich der Konflikt nicht so schnell beilegen. Der Schriftwechsel zwischen Möllenberg und Parisius zieht sich von Januar bis August 1936 hin. Mehrfach sah Möllenberg sich genötigt, in seinen Antwortschreiben auf das „höheren Ortes“, d. h. beim Reichsminister des Innern sowie dem dortigen Sachverständigen für Rasseforschung und dem Generaldirektor der staatlichen Archive Preußens und Leiter des Reichsarchivs, bestehende politische Interesse an der Archivpflege im nationalsozialistischen Staat hinzuweisen, und zu betonen, dass es keine Sonderregelung für die Provinz Sachsen geben könne53. Man vermutete im Staatsarchiv, so ist einer handschriftlichen Randnotiz auf einem der Schreiben zu entnehmen, dass Parisius in den Landkreisen gegen die Archivpflege mobil machte, während einige Landkreise wohl bereits von sich aus Mittel zur Verfügung gestellt hatten54. Im September 1936 lenkte Parisius offenbar zunächst ein und erklärte, bei der Tagung der Arbeitsgemeinschaft die Bereitstellung der Mittel nunmehr empfehlen zu wollen. Dem Antwortschreiben Möllenbergs ist zu entnehmen, dass nur zwei Kreise die Zahlung bisher direkt verweigert hatten (nämlich der Mansfelder Gebirgskreis und der Kreis Zeitz), während siebzehn Kreise noch zö47

LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 40, Schreiben vom 8. Jan. 1936. Die Regierungspräsidenten in Erfurt (LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 42, 48) und Merseburg (fol. 48) hatten die Erlasse offenbar nicht direkt erhalten und fragten daher im Staatsarchiv nach. In seinen Antwortschreiben verwies Möllenberg analog zu seiner Haltung gegenüber Parisius auf die Bedeutung der Archivpflege im Dritten Reich. Auch später scheinen gerade im Erfurter Regierungspräsidium noch erhebliche Unsicherheiten in Bezug auf die Organisation der Archivpflege bestanden zu haben, Nr. 44, fol. 113, Schreiben vom 28. Juni 1937. 49 Vgl. zu ihm http://www.uni-magdeburg.de/mbl/Biografien/0520.htm (16. 5. 2015). 50 Vgl. den Schriftverkehr zwischen ihm und Möllenberg, LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 41 ff. 51 Schreiben des Obmanns Dr. Parisius vom 5. Febr. 1936, LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 51, ähnlich im Schreiben des Regierungspräsidenten von Magdeburg vom 6. März 1936, ebd. fol. 56. 52 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 61v ff. Danach solle jedes Staatsarchiv einen zusätzlichen Beamten nur für die Archivpflege erhalten und darüber hinaus die gesamte Leitung und Geschäftsführung übernehmen. Auch der Provinzialverband habe Mittel v. a. für die Schulung in Aussicht gestellt. 53 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 41v, 42v, 53v, 62. 54 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 61 ff. 48

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gerten55. Anfang Oktober lud der Regierungspräsident von Magdeburg zu einer Dienstversammlung der Landräte am 26. Okt. 1936 ein, auf der Möllenberg gemeinsam mit dem nunmehr für die Archivpflege vorgesehenen Archivrat Dr. Otto Korn56 selbst auftreten sollte. Nach Korns Bericht über die Versammlung lag der Hauptkritikpunkt der Kreise bei der Stellung der Archivpfleger als „Organ der Aufsichtsbehörde“57. Auch Parisius verknüpfte die Zusage der Landkreise, die er am 6. Nov. 1936 für diese abgab, nicht nur auf einem Hinweis auf die erfolgte Erfüllung der benannten Einlassungen der Landkreise, sondern auch mit der ausdrücklichen Bedingung, dass „die Archivpfleger nicht die Stellung eines Organs der Aufsichtsbehörde erhalten“ dürften und die Dienstanweisung entsprechend abzuändern sei58. Möllenberg war bereit, der Forderung nach Abänderung der Anweisung nachzugeben, verwies aber darauf, dass nicht abschätzbar sei, was das geplante Archivschutzgesetz bringen werde. Zugleich wird in seinem Schreiben die Zwischenstellung der Archivpfleger zwischen Staatsarchiv und Landkreisen sowie ihre vielfältige Funktion auf verschiedenen Ebenen deutlich: „Die Aufsichtsbehörde kann in einigen Fällen gewiß das Staatsarchiv sein, in anderen ist der Landrat Aufsichtsbehörde, so gegenüber den kleineren Städten und Gemeinden, gegenüber den Innungen ist z. B. der Pfleger Vertreter der Handwerkskammern bzw. der Kreishandwerkerschaften, gegenüber den Pfarreien Vertreter des Konsistoriums, für den Fall, dass sich dieses der allgemeinen Archivpflegeorganisation anschließt“. Der Pfleger müsse mit entsprechenden Machtmitteln ausgestattet sein, sonst verpuffe das Ganze. Möllenberg beklagt ferner, wie schwer es sei „im Rahmen der von Berlin aus erteilten Anweisungen den Sonderwünschen, die in der Provinz geäußert werden, gerecht zu werden“59. Die schließlich erfolgte Zusage durch Parisius galt zunächst nur für die Landkreise im Regierungsbezirk Magdeburg und in Anhalt, nicht für Merseburg und Erfurt, auf deren jeweils eigene Arbeitsgemeinschaft verwiesen wird. Hier bat Möllenberg um direkte Verständigung der Obmänner, da er aus den Reaktionen der Landkreise von Abstimmungen zwischen den Arbeitsgemeinschaften wusste60. Diesem Wunsch kam Parisius nach, jedoch erneut mit dem Hinweis auf die Frage der Aufsichtsbehörde Staatsarchiv. Aus seiner Sicht genüge es, wenn die Regierungspräsidenten und das Anhaltische Staatsministerium als (Kommunal)-Aufsichtsbehörde auf die Notwendigkeit der Archivpflege hinweisen und die Bürgermeister um Unterstützung ersu55 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 63, Schreiben vom 18. Sept. 2015 und Antwort von 23. Sept. 1936. 56 Otto Korn war zum 1. April 1934 vom Staatsarchiv Marburg an das Staatsarchiv Magdeburg versetzt worden, wo er bis 1943 tätig war, danach wurde er nach Düsseldorf versetzt, vgl. die Personalakte LASA, C 22, Nr. 327; W. Leesch, Die deutschen Archivare (Anm. 35), 330. 57 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 65, fol. 71. 58 LASA, C 96 II, Nr. 44. fol. 67. Korn vermerkte am Rand des Schreibens, man könne vielleicht „Beauftragter“ einsetzen, eine andere Hand ergänzte „Vertreter und Beauftragte“, also die Formulierung, die bereits in den Richtlinien vom 15. Juli 1935 gestanden hatte. 59 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 68v-70. 60 Ebda.

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chen würden. Hier zeigt sich, dass es gerade die Übertragung einer Aufsichtsfunktion gegenüber den Kommunen an eine Fachbehörde neben der normalen Kommunalaufsicht war, die Parisius ablehnte61. Auf sein Betreiben wurde der Entwurf der „Anweisung für die Archivpfleger“ für die Provinz Sachsen schließlich dahingehend geändert, dass die Archivpfleger gegenüber den öffentlich-rechtlichen Körperschaften nicht mehr als „Vertreter und Beauftragte der staatlichen Aufsichtsbehörden“, sondern als „lediglich Sachverständige und Mittelsmänner des Staatsarchivs“ bezeichnet wurden, wie Möllenberg in einem entsprechenden Anschreiben an die Obmänner der beiden anderen Regierungsbezirke vom 10. Dez. 1936 ausführt62. Die Änderung wurde mit dem Zweiten Rundschreiben vom 11. Dez. 1936 publik gemacht und in das Formular für die Ausweise der Pfleger übernommen63. Wie grundsätzlich diese Änderung war, zeigt ein Bericht über die Sitzung der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle am 17. Dez. 1936, auf der Otto Korn die Archivpflege vorstellte, in einer Akte der Kulturabteilung der Provinzialverwaltung. Dort verstand man Korns Ausführungen so, dass man in der Provinz Sachsen eine Organisation der Archivpflege plante, nach der das Staatsarchiv als fachliche Aufsicht, die Provinzialverwaltung als Rechnungsstelle und die Landräte als Ausführende der eigentlichen Beaufsichtigung der Archivpflege vorgesehen seien. Mit dieser Organisation stehe die Provinz Sachsen bisher einzig da, da die Archivpflege in den übrigen Provinzen, wie in Münster, bürokratisch zentral organisiert sei64. In diesen Kontext gehört wahrscheinlich die Anfrage Möllenbergs vom 9. November 1936 beim Staatsarchiv Münster nach dem Aufbau der dortigen Archivpflege. Sie enthält den ausdrücklichen Hinweis, dass die Provinzialverwaltung der Provinz Sachsen die Archivpflege in der Provinz nach westfälischem und nicht nach pommernschem Muster aufbauen wollte65. Eine ähnliche, aber allgemeiner formulierte Anfrage sandte die Provinzialver61 Auch nach Klärung dieser Grundsatzfragen versuchte Parisius weiterhin Einfluss auf die Archivpflege zu behalten und den Einfluss des Staatsarchivs zurückzudrängen. Er berief bereits im Januar 1937 eine Tagung der Archivpfleger seines Kreises nach Calbe ein, an der Dr. Korn als Vertreter des Staatsarchivs teilnahm. Parisius ernannte zudem einen Verbindungsmann der Archivpfleger zum Landrat. Korn stimmte den zu, jedoch mit dem Hinweis, dass das Staatsarchiv sich vorbehielte, auch weiterhin direkt mit den Archivpflegern in Kontakt zu treten, GStA, I HA, Rep. 178, Nr. 1064, fol. 5 ff., auch publizistisch äußerte sich Parisius, LASA, C 96 II, Nr. 13. 62 LASA, C 96, Nr. 44, fol. 73; vgl. auch den Bericht zum Stand der Archivpflege von Otto Korn vom 15. Febr. 1937, nach dem die Probleme, nachdem man Parisius habe überzeugen können, weitgehend beseitigt waren. Widerstand komme nur noch von wenigen, u. a. vom Mansfelder Gebirgskreis, fol. 91 f. 63 2. Rundschreiben z. B. in LASA, C 96 II, Nr. 46; vgl. ferner Bericht Otto Korns zum Stand der Archivpflege vom 15. Febr. 1937, C 96 II, Nr. 44, fol. 94; die Formulierung findet sich auch noch in den endgültigen, nach dem Erlass vom 4. Aug. 1937 (s. dazu unten) entwickelten Ausweisen. Dies entsprach nicht dem von der Generaldirektion vorgegebenen Text (ebd. fol. 201). 64 LASA, C 96 II, Nr. 231, Bericht vom 19. Dez. 1936. 65 LASA, C 96 II, Nr. 11 vom 9. 11. 1936. Das Antwortschreiben der westfälischen Archivberatungsstelle vom 17. Nov. 1936 findet sich in LASA, C 96 II, Nr. 13: Danach war die westfälische Archivberatungsstelle eine selbstständige behördliche Einrichtung, die von der

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waltung selbst am 19. Januar 1937 an die westfälische Provinzialverwaltung66. Dies zeigt, dass die Provinzialverwaltung mit dem erreichten Stand nicht ganz einverstanden war und eine direktere Anbindung der Archivpflege an den Provinzialverband anstrebte, die sich nicht auf die Funktion einer Rechnungsstelle beschränkte. Die finanzielle Beteiligung durch den Provinzialverband, eine der Voraussetzungen für die Zustimmung der Landkreise, hatte Möllenberg Mitte 1936 beantragt. Dieses Geld wollte er insbesondere für die Durchführung von Tagungen und Schulungen für die Archivpfleger einsetzen, die ihm ein besonderes Anliegen waren. Nach den Erkenntnissen aus anderen Provinzen hielt er 4.000 RM für angemessen; sofern möglich, sollten kurzfristig für das laufende Jahr 1.500 RM zur Verfügung gestellt werden. Auch die Landesgeschichtliche Forschungsstelle (Historische Kommission) hatte auf seinen Antrag Geld für die Archivpflege eingestellt, was er aber nicht für ausreichend hielt. Zudem wollte er die Etats künftig trennen, mit der interessanten Argumentation, dass bei der Archivpflege das Land Anhalt nicht beteiligt sei, da es seine Archivpflege selbständig betreiben wolle67. Schließlich wurden für 1937 in den Etat des Provinzialverbandes 3.000 Reichsmark eingestellt, während man für die gegenwärtigen Arbeiten den Etat der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle für ausreichend erachtete. Interessanterweise verdoppelte die Provinzialverwaltung Mitte 1937 den Haushaltsansatz für 1938, im Vorgriff auf einen Ministerialerlass, „welcher den Provinzen den notwendigen Spielraum und Einfluß verspricht“68. Solange dies noch nicht der Fall war, suchte man seinen Einfluss auf die Organisation und die Verwendung der Gelder auf andere Weise zu wahren. So vereinbarten das Staatsarchiv Kulturabteilung der Provinzialverwaltung getragen wurde und über einen eigenen festen Etat verfügte. Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter war der Staatsarchivdirektor. 1936 hatte er die alleinige Leitung, „und zwar in allen geschäftlich(en) und Verwaltungssachen im Einvernehmen mit dem Dezernenten für Kulturpflege bei der Provinzialverwaltung“, zugleich war er seit Mitte 1937 auch Leiter des Vereinigten westfälischen Adelsarchive. Die Mitarbeiter des Staatsarchivs waren ehrenamtliche Mitarbeiter der Archivberatung. Daneben gab es vier festbesoldete wissenschaftliche Hilfsarbeiter und eine Bürokraft der Archivberatungsstelle im Staatsarchiv sowie eine technische Kraft für die Lichtbildstelle. 66 LASA, C 96 IV, Nr. 231, Schreiben vom 19. Jan. 1937. 67 Da sich die Archivpflegeorganisation auf die preußische Provinz Sachsen bezog, war das eigenständige Land Anhalt formal nicht in deren Aufbau einbezogen. Es gab jedoch von Anfang an eine enge Zusammenarbeit. Das Anhaltische Staatsarchiv in Zerbst mit seinem Direktor, Archivrat Specht, setzte sich beim Anhaltischen Staatsministerium in Dessau dafür ein, die dortige Archivpflege eng an die der benachbarten Provinz anzuschließen bzw. nach dem Vorbild der preußischen aufzubauen. Möllenberg unterstützte dies durch die Übersendung von Formularen und Rundschreiben. Auch eine Zusammenarbeit bei den Archivpflegeschulungen wurde vereinbart. Angelegenheiten der Archivpflege wurden auch in direkten Beratungen der beiden Archivdirektoren besprochen, vgl. dazu die Korrespondenzen zwischen Möllenberg, Specht und dem Anhaltischen Staatsministerium, LASA, C 96 II, Nr. 11; C 96 II, Nr. 47; sowie den Bericht von Otto Korn vom 15. Febr. 1937, C 96 II, Nr. 44, fol. 95; vgl. ferner L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), 414. 68 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 58; C 96 IV, Nr. 261; Schreiben vom 28. Juli 1936 sowie Aktenvermerk; C 96 IV, Nr. 231, Auszug aus dem Haushaltsplan von 1937. Die Verwaltung der Gelder erfolgte zunächst über das Konto des Staatsarchivs.

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und der Vertreter des Provinzialverbandes, Landrat Dr. Berger, die Errichtung eines Statuts für die Organisation der Archivpflege und die Einberufung eines Beirates, dem der Direktor des Staatsarchivs, der zuständige Referent des Landeshauptmanns und ein Vertreter der Kommunen angehören sollten69. Diese Form der Einbindung des Provinzialverbandes war in den Berliner Vorgaben nicht vorgesehen. Er stellt also offenbar eine eigene Absprache zwischen dem Magdeburger Staatsarchiv und der Provinzialverwaltung der Provinz Sachsen dar70. Die Rolle der Historischen Kommission, Ende 1934 nach nationalsozialistischem Prinzip umgestaltet und in „Landesgeschichtliche Forschungsstelle“ umbenannt, in der Archivpflege konzentrierte sich seit 1935 zunehmend auf die Veröffentlichung von Berichten über die Archivpflege, die zumeist auf Erhebungen des Staatsarchivs oder später der Archivberatungsstelle zurückgingen71. In diesen Kontext gehört der Beschluss der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle, das Jahrbuch „Sachsen und Anhalt“ durch Berichte über Archivangelegenheiten weiter auszubauen. Gleich in Band 11 (1935) findet sich unter dem Titel „Archivnachrichten“ mit dem Untertitel „Nachrichten aus nichtstaatlichen Archiven der Provinz Sachsen und Anhalts“ ein umfangreicher, nicht namentlich gekennzeichneter Beitrag, in dem für jedes Stadtarchiv sowie für bedeutendere Herrschafts- oder Adelsarchive ein kurzer Sachstandsbericht gegeben wird, der wiederum auf eine Umfrage des Staatsarchivs zurückging72. Auch in den kommenden Jahren erschienen weitere Berichte in den Jahrbüchern73. Eine eigene Rolle im Rahmen der Archivpflege spielte die Kommission 69

LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 92, Bericht von Otto Korn zum Stand der Archivpflege vom 15. Febr. 1937. 70 Es hatte nach einer Regelung von 1933 bei der Archivberatungsstelle der Provinz Westfalen ein ähnliches Gremium (ohne Beteiligung der Landräte) gegeben, hier Vorstand genannt. Dieses war aber 1936 faktisch nicht mehr aktiv, LASA, C 96 II, Nr. 13, Schreiben der westfälischen Archivberatungsstelle vom 17. Nov. 1936. 71 Laut dem erwähnten Bericht Möllenbergs vom 6. Sept. 1935 war bei der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle ein kleiner Betrag im Haushaltsvorschlag eingesetzt worden, der aber aufgrund der angespannten Finanzlage der Forschungsstelle in diesem Jahr nicht in Anspruch genommen werden konnte, GStA, I HA, Rep. 178, Nr. 1064, fol. 2; zur Situation der Kommission nach 1933 vgl. Nachrichten. Landesgeschichtliche Forschungsstelle für die Provinz Sachsen und für Anhalt (Historische Kommission), in: Sachsen und Anhalt 11 (1935), 279 – 281; dazu J. Hartmann, 125 Jahre (Anm. 3), 19 f. 72 Nachrichten aus nichtstaatlichen Archiven der Provinz Sachsen und Anhalts, in: Sachsen und Anhalt 11 (1935), 283 – 294. Diese Berichte beruhten auf einer umfangreiche Umfrage des Staatsarchivs vom 12. April 1935 nach wichtigen Zugängen und Neuerwerbungen, erwähnenswerten Neuordnungen von Beständen und neu angelegten Findhilfsmitteln und sonstigen erwähnenswerten Neuerungen (LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 7 ff.). Offenbar reagierten nicht alle angeschriebenen Archive auf diese sehr kurzfristige Abfrage, was aus Sicht des Verfassers des Artikels erneut die Notwendigkeit einer umfassenden Archivpflege deutlich machte, „eine große Aufgabe gerade in unserer Zeit (283). Ebenso wird in den Berichten verschiedentlich auf den Ariernachweis und die Sippenforschung Bezug genommen, die die Archive stark beschäftigten, 283, 289. 73 L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), in: Sachsen und Anhalt 15 (1939), 408 – 417; Tätigkeitsbericht 1935 – 1939, ebd. 418 – 431; Organisation der staatlichen Archivpflege,

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nicht mehr, blieb ihr aber infolge personeller Überschneidungen und durch die Veröffentlichungen weiterhin eng verbunden74. Parallel zu den Verhandlungen über die grundsätzliche Organisation und die Finanzierung der Archivpflege erfolgte bereits seit Winter 1935 die Auswahl und Berufung der Archivpfleger in den Kreisen nach den Richtlinien vom 15. Juli 1935. Bei der Auswahl wurde ebenso viel Wert auf die politische wie auf die fachliche Eignung der Kandidaten gelegt. Es sollten Persönlichkeiten ernannt werden, die sich möglichst bereits als Heimatforscher bewährt hatten, allgemeines Vertrauen im Bezirk genossen und politisch zuverlässig waren. Die fachliche Eignung sollte das jeweilige Staatsarchiv im Blick haben; für die „politische Zuverlässigkeit“ sollten aufgrund der Vorschlagsliste des Staatsarchivs durch den Oberpräsidenten, der die Ernennung im Einvernehmen mit dem Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive vornehmen sollte, Gutachten eingeholt werden. In Umsetzung dieser komplexen Vorgaben bat Möllenberg mit Schreiben vom 12. Nov. 1935 die Landräte der Provinz um Benennung geeigneter Persönlichkeiten75. Ab Februar 1936 legten diese dem Staatsarchiv über die Regierungspräsidien ihre Vorschläge vor76. Auf Nachfrage des Oberpräsidenten teilte Möllenberg am 3. Okt. 1936 mit, die Verhandlungen mit den Pflegern seien vollständig abgeschlossen, die Liste werde demnächst vorgelegt. Zur selben Zeit bat auch die Gauleitung Halle-Merseburg der NSDAP um Übersendung einer Liste der vom Staatsarchiv bestellten Archivpfleger, um diese Gauleiter Jordan zu unterbreiten77. Am 14. Dez. 1936, nach grundsätzlicher Klärung der Finanzierung durch die Landkreise78, übersandte Möllenberg die vorläufige Liste der Pfleger an den Oberpräsidenten, die Regierungspräsidenten, den Landeshauptmann und die drei Gauleiter zusammen mit dem zweiten Rundschreiben, das aber wegen des Be-

ebd. 432 – 438; Nachrichten. Archivberatungsstelle der Provinz Sachsen, in: Sachsen und Anhalt 16 (1940), 373 – 379; vgl. ferner die Auflistung der Bürgerbücher in Bd. 13 (1937) (s. Anm. 95). 74 In den Nachrichten der landesgeschichtlichen Forschungsstelle für 1936 und 1937 wird berichtet, man habe bei den Sitzungen beschlossen, „Einrichtungen für die Erfassung des nichtstaatlichen Archivguts durch Begründung einer provinziellen Archivpflege zu treffen“; dies bezieht sich aber wohl auf die Einrichtung der Archivberatungsstelle, nicht auf eigene Einrichtungen der Kommission, Sachsen und Anhalt 13 (1937), 308. 75 LASA, C 96 II, Nr. 46, fol. 1. 76 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 55. 77 In demselben Schreiben empfahl dieser, auch das Material der Kampfzeit der nationalsozialistischen Bewegung und der Nachkriegszeit in die Arbeit der Pfleger einzubeziehen, wollte dies aber dem Museum der Nationalsozialistischen Bewegung in Halle zur Verfügung stellen. Möllenberg sagte dies zu. Im 3. Rundschreiben werden die Pfleger aufgefordert, solche Unterlagen an das Staatsarchiv zu melden, LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 66; C 96 IV, Nr. 261: 3. Rundschreiben; später wurde dies zurückgenommen. 78 Trotzdem hatten noch nicht alle Landräte die Finanzierung zugesagt, wie ein Schreiben Möllenbergs an diese unter demselben Datum zeigt. Darin weist er darauf hin, dass das letzte Hindernis durch die Änderung der Anweisung nun beseitigt sei; einige hatten sich aber noch Anfang 1937 nicht festgelegt, LASA, C 96 II, Nr. 46.

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zugs auf das Archivschutzgesetz noch vertraulich behandelt werden sollte79. Allerdings gab es noch einige offene Fragen im Hinblick auf die Größe der Pflegebezirke, für deren endgültige Festlegung Stellungnahmen der Pfleger eingeholt wurden. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten diese bereits seit längerem, ihre Ernennung war aber wegen der noch nicht abgeschlossenen politischen Prüfung nur vorläufig. Die Prüfung durch die Parteistellen war keineswegs nur formaler Natur und zog sich teilweise über mehrere Monate hin. An ihr waren die Oberbürgermeister und Landräte, die Kreisausschüsse, die Kreisleitungen der NSDAP, die Gauleitungen der Gaue HalleMerseburg und Magdeburg-Anhalt und in einzelnen Fällen sogar die Gestapo beteiligt. Hier wird erkennbar, dass der nationalsozialistische Staat auch auf diesem Gebiet seinen Einfluss bei der Personalauswahl geltend machte, zugleich aber auch, wie groß der Kreis der Beteiligten war. In mehreren Fällen musste das Staatsarchiv bei den Landräten nachhaken, wenn von dort gemachte Vorschläge von den Parteistellen abgelehnt wurden. Von den für den Gau Halle-Merseburg vorgeschlagenen Archivpflegern lehnten die Kreisleitungen sieben Personen ab, wie die Gauleitung dem Oberpräsidenten am 3. März 1937 mitteilte80. Einige der Ablehnungen akzeptierte dieser nach Rückfrage beim Staatsarchiv, bei anderen verwendete er sich für den weiteren Einsatz und wies darauf hin, wie schwer es sei, geeignete Personen für diese Aufgabe zu finden81. Der Generaldirektor der Preußischen Archive, seit September 1936 zunächst kommissarisch Ernst Zipfel82, leitete den Vorgang wegen der laufenden Verhandlungen über die Organisation der Archivpflege an das Reichs- und Preußische Innenministerium weiter. In seinem Schreiben an das Staatsarchiv Magdeburg vom 14. Juni 1937 werden die Grundzüge der nunmehr beim Ministerium in Planung befindlichen neuen Vorstellungen von der Archivpflege, die in einigen Wochen abgeschlossen werden sollte, deutlich. Danach sollte die Ernennung der Archivpfleger künftig durch den Staatsarchivdirektor auf Vorschlag der Landräte und im Einvernehmen mit dem Leiter des Provinzialverbandes erfolgen, d. h. ohne Beteiligung 79 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 74 ff.; merkwürdigerweise fragte die Gauleitung HalleMerseburg am 4. Jan. 1937 nach dem Stand, hatte das Schreiben also offenbar nicht erhalten, fol. 79. Ferner bat der Gausachbearbeiter für Sippenkunde um die Adressen der Archivpfleger, um den Kreissachbearbeitern für Sippenkunde die Zusammenarbeit zu ermöglichen. Die Beteiligung der Sippenämter wurden seitens der Archivpflege aber nicht nur begrüßt, sondern als Konkurrenz angesehen, vgl. Parisius in: „Der Gemeindetag“, 1937, LASA, C 96 II, Nr. 13. 80 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 103; vgl. auch ein internes Schreiben Korns an Möllenberg, LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 97; Der gesamte Vorgang wurde dem Generaldirektor der staatlichen Archive am 6. Juni 1937 vom Staatsarchiv Magdeburg zur Kenntnis gegeben, GStA I HA, Rep. 178, Nr. 1064, fol. 25 ff. 81 Stellungnahme Möllenbergs gegenüber dem Oberpräsidenten, LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 104 ff.; Schreiben des Oberpräsidenten an den Gauleiter vom 28. Mai 1937, in Abschrift, fol. 107 ff., von dort in Abschrift nach Berlin, GStA, I HA, Rep. 178, Nr. 1064, fol. 26; die Abstimmungen zogen sich noch länger hin, teilweise musste das Staatsarchiv Archivpfleger wegen der politischen Bedenken um Aufgabe des Amtes ersuchen, C 96 II, Nr. 44, fol. 120 ff., 137. 82 Zipfel war auch Direktor des Reichsarchivs Potsdam, vgl. G. Winter/E. Henning, Die Leitung (Anm. 37), 85.

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des Generaldirektors. Der Generaldirektor empfahl vor diesem Hintergrund, „die Prüfung der politischen Gesinnung und Zuverlässigkeit der Archivpfleger den Landräten zu überlassen“83. Neben der Berufung der Pfleger und der Aufbringung der Mittel waren die übrigen Vorbereitungen für den Aufbau der Archivpflegeorganisation in der Provinz Sachsen weiter gediehen. Ein erstes Rundschreiben, das faktisch die Arbeitsanweisung für die Archivpfleger der Provinz darstellte, war, wie oben erwähnt, durch das Staatsarchiv bereits in der ersten Jahreshälfte 1936 auf der Grundlage der Richtlinien von 1935 erarbeitet und Ende 1936 auf Druck der Kommunen geändert worden, weitere folgten84. Den Pflegern wurde von der Generaldirektion ein Ausweis zur Verfügung gestellt, der sie „zum Zutritt zu den Archiven und Registraturen (Aktenverwaltungen) der Selbstverwaltung ermächtigt und den Privatpersonen, Vereinen und usw., die Besitzer von Archivalien oder Schriftgut sind, für diese Zwecke amtlich empfiehlt“.85 Nachdem die Pfleger zunächst vorläufige einfache Ausweise erhalten hatten, setzte man ab 1937 auf Lichtbildausweise86. Des Weiteren wurden Formulare entwickelt, darunter ein Personalbogen und verschiedene Vordrucke für Meldungen und Berichte sowie Fragebogen und Karteien87. Ende 1936 stand in der Provinz Sachsen die Archivpflegeorganisation kurz vor dem Abschluss, wie Möllenberg am 10. Dez. 1936 berichtete. Die offenen Fragen bzgl. der Finanzierung waren insofern geklärt, als die kleineren Kosten von den Kreiskommunalverwaltungen übernommen worden waren, die über die Landratsämter auch die Abrechnung vornahmen. Auch die Provinzialverwaltung hatte, wie oben erwähnt, im Haushaltsanschlag für 1937 eine Summe für die Archivpflege eingesetzt, die insbesondere für Schulungen bzw. Archivpflegertagungen vorgesehen war, deren erste für Oktober 1937 geplant wurde88. Für jeden der 52 Landkreise waren ein oder mehrere Archivpfleger ernannt worden. Es gab aber auch bereits erste Amtsniederlegungen und Vakanzen bei den Pflegern89. Anders als ursprünglich erwogen, waren die Kirchen nicht in das System eingebunden, sondern bauten eigene Archivpflegeorganisationen auf, die jedoch in 83 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 110 (Ausfertigung); GStA, I HA, Rep. 178, Nr. 1064, fol. 41 (Entwurf); dort auch Entwurf des Anschreibens an das Ministerium, „mit Bezug auf die Besprechung am 9. d. M.“, fol. 41v. 84 LASA, C 96 II, Nr. 46. Bis zum Erlass vom 4. Aug. 1937 ergingen sechs Rundschreiben. 85 Richtlinien für die Archivpfleger-Organisation vom 15. Juli 1935 (LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 25); fast gleichlautend Rundschreiben Nr. 1, z. B. C 96 IV, Nr. 261. 86 Anfrage des Staatsarchivs Magdeburg an die Generaldirektion vom 21. Aug. 1936, ob ein Lichtbild erforderlich sei, Antwort: ohne Lichtbild, GStA, I HA, Rep. 178, Nr. 1064, fol. 3 – 5, LASA, C 96 II Nr. 44, fol. 59 f.; zu den vorläufigen Ausweisen Bericht Korns vom 15. 2. 1937, ebda. fol. 94. 87 Vgl. dazu insbesondere die Anhänge der Rundschreiben, LASA, C 96 II, Nr. 46. 88 LASA, C 96 II, Nr. 11 Schriftwechsel mit dem Staatsarchiv Wiesbaden. Zu den Archivpflegertagungen vgl. die einschlägige Akte C 96 II, Nr. 47. Auch Restmittel aus den Landkreisen versuchte Möllenberg für die Archivpflegetagungen zusammenzuziehen, C 96 II, Nr. 46, Schreiben vom 20. März 1937. 89 Bericht Otto Korn vom 15. Febr. 1937, LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 93v.

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enger Anbindung an das Staatsarchiv standen90. Auch die inhaltliche Arbeit lief bereits seit längerem, gesteuert v. a. durch die Rundschreiben des Staatsarchivs, die bereits eine Vielzahl von Aktivitäten belegen91. Dazu gehörten die ersten Erhebungen für die sogen. Archivgutrolle92, die Erhebung über die im Sprengel vorhandenen Papiermühlen und Antiquariate93, die Bestandsaufnahmen der jüdischen Personenstandsquellen94 und der Bürgerbücher der Provinz95. Dabei erfolgten unabhängig von der Formulierung der Anweisungen durchaus weitreichende Eingriffe in kommunale Angelegenheiten, wie eine Weisung Möllenbergs an die Landräte vom 19. Juli 1937 zeigt, mit der er Aktenvernichtungen in den Gemeinden ohne Genehmigung des Staatsarchivs untersagte96. Nach Einschätzung Otto Korns stand die Organisation als solche bis Anfang 1937 und hatte die praktische Tätigkeit aufgenommen, teilweise war hervorragende Arbeit geleistet worden. Das Verdienst daran schreibt er nicht zuletzt den Bemühungen des Staatsarchivs zu, in Einvernehmen mit den Landräten den Pflegern den notwendigen Rückhalt zu geben und diese zugleich zu kontrollieren. Ganz ausgeschaltet hatte man, wie Korn ausführt, die Pfleger von der Beaufsichtigung staatlichen Archivguts97. Möllenbergs Befürchtungen bzgl. der Archivpfleger hatten sich demnach also nicht bestätigt. Dennoch erwies sich die Organisation der Archivpflege in Preußen als noch nicht ausreichend. 90 Nach dem Bericht Otto Korns vom 15. Febr. 1937 hatte das Konsistorium in Magdeburg zunächst angeregt, die staatlichen Archivpfleger auch zu kirchlichen Pflegern zu bestellen. Auf Intervention der Berliner Zentralstellen sei dies inzwischen nichtig geworden, da die evangelische Kirche eigene Pfleger bestellt habe, was Korn nicht für glücklich hält, LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 95; ferner C 96 II, Nr. 11; vgl. dazu auch L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), 413; seit 1936 wurden auch keine kirchlichen Unterlagen mehr als Depositum im Staatsarchiv angenommen und sogar einige zuvor im Staatsarchiv deponierte Kirchenbücher an die Kirche zurückgegeben, mit der Begründung, dass die Kirchen selbst zuständig seien und die steigende Anzahl der Auskunftsersuchen nicht mehr zu bewältigen sei, LASA, C 22, Nr. 202. 91 Vgl. dazu v. a. die Rundschreiben, LASA, C 96 II, Nr. 46. 92 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 76 (Schreiben vom 31. 1. 1936). Diese Erhebungen bildeten die Grundlage für die Generalkartei des nichtstaatlichen Archivguts, die bis heute existiert, aber natürlich nicht mehr kurrent ist, LASA, MD, C 96 II, Gliederungsgruppe 6; zu Ihrer Bedeutung J. Hartmann, Gedenken (Anm. 3), 208; L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), 410 f. 93 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 98. 94 LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 99 ff.; 115 ff.; 121 ff., 133 ff., Abstimmung mit dem Gesamtarchiv der Juden in Deutschland; C 96 II, Nr. 46, 4. Rundschreiben. 95 Dies erfolgte „einer Anregung der Reichsstelle für Sippenforschung folgend“ in Form einer Umfrage mit vorbereiteten Fragebögen. Die Ergebnisse wurden im Jahrbuch veröffentlicht: Otto Korn, Übersicht über die Bürgerbücher in der Provinz Sachsen, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für Sachsen und Anhalt, Bd. 13 (1939), 310 – 324; vgl. dazu auch C 96 II, Nr. 46, Schreiben vom 4. Juni 1937; sowie das 4. und 5. Rundschreiben an die Archivpfleger, ebda. 96 LASA, C 96 II, Nr. 44; GStA, I HA Rep. 178, Nr. 1064, fol. 46. 97 Bericht Otto Korns zum Stand der Archivpflege vom 15. Febr. 1937, LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 94 ff.; vgl. zum Umfang der seit 1936 durch die Archivgutpflege geleisteten Arbeiten auch L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), 411 f.

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Die in den Magdeburger Korrespondenzen erkennbaren Schwierigkeiten in Bezug auf die Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltung stellten ein übergreifendes Problem dar und waren Anlass für grundlegende Diskussionen auf Reichsebene bzw. in der preußischen Zentrale, die letztlich vor dem Hintergrund des scheiternden Archivschutzgesetzes zu einem veränderten Aufbau der Archivpflege führten. Dies spiegelt sich deutlich in einem Vorgang in den Akten des Generaldirektors. Unter dem Datum 26. Sept. 1936 gab der Regierungspräsident in Merseburg, also die staatliche Verwaltung, eine eigene als Rundschreiben Nr. 1 bezeichnete „Anweisung für Archivpfleger“ heraus mit der Weisung an Landräte, Oberbürgermeister und Polizeipräsidenten seines Regierungsbezirks, danach zu verfahren. Textlich handelte es sich dabei um das vom Staatsarchiv erarbeitete 1. Rundschreiben mit der bereits mehrfach erwähnten „Anweisung für die Archivpfleger“, das der Regierungspräsident jedoch mit eigenem Briefkopf veröffentlichte. Dagegen erhob nun der Deutsche Gemeindetag in Berlin mit Hinweis auf die geplante Einrichtung von Archivberatungsstellen nach rheinischem bzw. westfälischem Vorbild Einspruch beim Reichs- und Preußischen Innenminister98. Der nachfolgende Schriftwechsel zwischen der Preußischen Archivverwaltung und dem Innenministerium von Ende 1936/ Anfang 1937 macht deutlich, welche unterschiedlichen Vorstellungen von der Aufgabenverteilung bei der Archivpflege nach wie vor bestanden, aber auch welche Entwicklungen es insbesondere in Bezug auf die Rolle der Provinzialverbände seit dem Erlass von 1935 gegeben hatte, und welche Lösungen sich abzeichneten. Der Generaldirektor der Preußischen Archive, dem das Innenministerium sein Schreiben an den Oberpräsidenten der Provinz Sachsen vor Abgang mit der Bitte um Einverständnis zur Kenntnis gab, verwies auf die in Vorbereitung des Archivschutzgesetzes seit Jahren laufenden Bemühungen um den Aufbau einer Archivpflegerorganisation und betonte die notwendige Einbeziehung der Selbstverwaltung insbesondere bei der Finanzierung. Der deutsche Gemeindetag bzw. die von diesem vertretenen Provinzialverbände verfolgten nach Einschätzung Zipfels neuerdings eine scharfe Trennung von Archivgutschutz und Archivpflege und beanspruchten die Überlassung der letzteren an die Provinzialverbände. Dagegen setzten Preußische Archivverwaltung wie Reichsarchiv auf eine Integration von Archivgutschutz und Archivpflege als „eine unlösliche Arbeitsverbundenheit von Staatsarchiven und provinzialen Archivberatungsstellen (Personalunion)“. Der Generaldirektor bat daher dringend darum, die Aufbauarbeit der letzten Jahre insbesondere in der Provinz Sachsen, wo er infolge der Dringlichkeit selbst auf das Staatsarchiv eingewirkt habe, nicht zu zerstören. Das benannte Rundschreiben sei vor diesem Hintergrund als „sehr förderlich und geradezu als beispielhaft“ einzuschätzen. Weder das Rundschreiben noch die derzeit noch uneinheitliche Handhabung stellten ein Problem in Bezug auf die künftige Regelung dar, und eine Zurücknahme der getroffenen Maßnahmen würden einen allgemeinen Rückschlag und eine Verunsicherung weit über den Regierungsbezirk Merseburg hinaus bedeuten. Abschließend weist er darauf hin, dass ein Eingehen auf die Forderung des Gemeindetages diesem gegenüber der Archivverwaltung in den anstehenden Ver98

GStA, I HA Rep. 178, Nr. 1064, fol. 9 ff., Schreiben vom 28. Dez. 1936, mit Anlagen.

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handlungen über die Hauptfrage, die Übertragung der Archivpflege auf provinzielle Archivberatungsstellen, einen Vorteil verschaffen würde. Daher solle man bis zu den geplanten Neuregelungen die bisherigen Bemühungen weiterlaufen lassen, um einen nahtlosen Übergang sicherzustellen99. Interessant ist hier die Einschätzung Zipfels in Bezug auf die besondere Dringlichkeit der Archivpflege in der Provinz Sachsen und sein persönliches Einwirken auf das Staatsarchiv. Anfang März 1937 informierte Zipfel auch Möllenberg über diese Sache und wies ihn an, bzgl. der Einbindung der Provinzialverbände keine Einzelverhandlungen mehr zu führen, da die Frage übergreifend geregelt werden solle100. Die hier bereits angesprochenen Verhandlungen über das geplante Archivschutzgesetz, das auch in einer abgeschwächten Form von Hitler nicht unterzeichnet worden war101, führten dann nur wenige Wochen später zu neuen Direktiven aus Berlin. In einem vertraulichen Schreiben berichtete der Generaldirektor der Staatsarchive am 20. März 1937 von noch nicht übersehbaren Verzögerungen beim Erlass des Archivschutzgesetzes und bat darum, von neuen organisatorischen Maßnahmen hinsichtlich der Archivpflege abzusehen, um keine überflüssige, künftig abzuändernde Arbeit zu leisten. Dazu hatte es eine Referentenbesprechung im Ministerium gegeben, deren Protokoll er in der Anlage beifügte. Darin sind nochmals die Grundzüge der Archivpflege skizziert und insbesondere die Mitwirkung der (provinziellen) Selbstverwaltung und das Verhältnis von Archivgutschutz und Archivpflege, die man als nicht trennbar ansah, klargestellt. Die Archivpflege wird nun klar als Kulturaufgabe der (provinziellen) Selbstverwaltung bezeichnet. Die Provinzialverwaltungen sollten dazu eigene Verwaltungsstellen in den Archivberatungsstellen schaffen, deren geborener Leiter der Staatsarchivdirektor war. Die Archivpflegersysteme sollten an die Beratungsstellen angeschlossen werden, die Pfleger also ehrenamtliche Mitarbeiter der Provinzialverwaltung werden. Damit sollte die in Westfalen und Pommern bestehende Kombination aus Staatsarchiv und Archivberatungsstelle für alle Provinzen umgesetzt werden und dadurch die Mitwirkung der Selbstverwaltung in administrativer und finanzieller Hinsicht überall gewährleistet werden. Alle Vorbereitungen im Hinblick auf einen rein staatlichen Aufbau der Archivpflege seien einzustellen. Auch wenn hier noch keine endgültige Regelung festgeschrieben wurde, war damit einem staatlichen Alleingang eine Absage erteilt. Der Referent, Dr. Georg Winter, hatte der Übertragung der Pflegersysteme an die Beratungsstellen vorläufig zugestimmt, da diese nur pflegerische, aber keine hoheitlichen Funktionen 99

GStA, I HA Rep. 178, Nr. 1064, fol. 12 ff. GStA, I HA Rep. 178, Nr. 1064, fol. 14; LASA, C 96 II Nr. 44, fol. 96. In demselben Schreiben informierte Zipfel das Staatsarchiv in Magdeburg in Bezug die in Privathand befindlichen Patrimonialgerichtsbestände, dass bei den Verhandlungen über das Archivschutzgesetz inzwischen klar geworden sei, dass man hier juristisch nichts machen und nur vom Pflegerischen her weiter kommen könne, ggf. über die Archivgutrolle. 101 Nach langwierigen Verhandlungen seit Mitte des Jahres stand das Reichsarchivschutzgesetz Ende 1936 kurz vor dem Abschluss, wurde dann aber von Hitler nicht unterzeichnet, auch nicht in einer im März vorgelegten abgeschwächten Form, vgl. N. Reimann, Kulturgutschutz (Anm. 24), 13 ff.; Ders., Archivalienschutzgesetz (Anm. 24), 50 ff. 100

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ausüben sollten102. Die Ausführungen machen deutlich, dass der Erlass vom 15. Juli 1935 offenbar noch nicht zu einem einheitlichen System geführt hatte, so dass dieses, wie oben bereits mehrfach anklang, in intensiven Verhandlungen verschiedener staatlicher und kommunaler Stellen auf Reichs- und Preußischer Zentralebene weiterentwickelt werden musste. Insbesondere war die Rolle der Selbstverwaltung bisher offengeblieben, was, wie oben ausgeführt, zu den entsprechenden Problemen für das Staatsarchiv v. a. bei der Finanzierung führte. Dies sollte nun klar geregelt werden. Es dauerte allerdings noch bis August, bis die nun gefundene Regelung offiziell in Kraft tat. In Magdeburg verstand man den Hinweis auf die Rolle der Selbstverwaltung etwas weitergehend, wie der auf den Erlass vom 20. März 1937 hin von Dr. Otto Korn verfasste Bericht nach Berlin vom 25. März 1937 zeigt. Er betont die Bedeutung der Mitwirkung der Landräte, die als Vorsitzende der Kreisausschüsse auch Träger der Selbstverwaltung seien. Deren Mitarbeit habe sich bestens bewährt und zu einer breiten autoritativen, finanziellen sowie organisatorischen Unterstützung geführt, deren Abbruch man auch im Staatsarchiv inzwischen bedauern würde, eine interessante Veränderung gegenüber früheren Positionen. Allerdings musste er einräumen, den Landkreisen in Bezug auf die staatlichen hoheitlichen Funktionen der Pfleger entgegengekommen zu sein und auf massiven Druck der Kommunen die von der Generaldirektion empfohlenen Anweisungen für die Archivpfleger bei Punkt 4 entsprechend abgeändert bzw. abgeschwächt zu haben103. Hier zeigt sich, dass man im Magdeburger Staatsarchiv das Ergebnis der oben beschriebenen Auseinandersetzungen mit den Landkreisen und deren Vertreter Dr. Parisius inzwischen akzeptiert hatte, und nicht gefährdet sehen wollte104. Durch diese Änderung sah der Generaldirektor jedoch seine Kompetenz tangiert. In einem umgehenden Antwortschreiben vom 31. März 1937 monierte er, dass er über diese Vorgänge nicht umgehend informiert worden sei, da es sich um „ein Anschneiden grundsätzlicher Fragen“ handele, über die er bisher nur durch das Innenministerium in Vertretung der Wünsche der Selbstverwaltung unterrichtet war105. Mit den am 4. Aug. 1937 vom Reichs- und Preußischen Minister des Innern erlassenen einheitlichen „Richtlinien über die Zusammenarbeit der Staatsarchive und der Einrichtungen der gemeindlichen Selbstverwaltung an den Aufgaben der 102

LASA, C 96 II, Nr. 13, Schreiben vom 20. März 1937 mit anhängendem Protokoll; zu Georg Winter vgl. E. Henning, in: G. Winter/E. Henning, Die Leitung (Anm. 37), 80 f.; N. Reimann, Kulturgutschutz (Anm. 24), 10. 103 LASA, C 96 II, Nr. 13, Schreiben vom 25. März 1937; GStA, I HA Rep. 178, Nr. 1064, fol. 15. Randbemerkung: „warum hat das Staatsarchiv nicht darüber rechtzeitig berichtet“. 104 Dies spiegelt sich auch in der oben bereits erwähnten Darstellung von Lotte Knabe über die Archivpflegeorganisation der Provinz, in der sie betont, wie sehr man in der Provinz Sachsen von Anbeginn an die Landkreise einbezogen habe. Zugleich weist sie der Provinzialverwaltung die führende Rolle zu, L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), 409 f. 105 LASA, C 96 II, Nr. 13, Schreiben vom 31. März 1937; Entwurf GStA, I HA Rep. 178, Nr. 1064, fol. 16.

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landschaftlichen Archivpflege“106 fand die Entwicklung schließlich ihren Abschluss. Sie definierten klar die Aufgaben und Rollen von Staatsarchiven und Provinzialverwaltungen (als Teil ihrer Aufgaben bei der landschaftlichen Kulturpflege) und regelten einheitlich die Schaffung von Archivberatungsstellen als eigenständige Einrichtungen des Provinzialverbandes, zu deren Leiter der Direktor des zuständigen Staatsarchivs von der Provinzialverwaltung bestellt werden sollte. In dieser Funktion war der Leiter des Staatsarchivs wiederum dem Leiter des Provinzialverbandes verantwortlich. Wir haben hier also die durchaus interessante Regelung, dass ein staatlicher Beamter einem Organ der provinziellen Selbstverwaltung verantwortlich sein sollte, wobei dieses wiederum seit 1933 eigentlich Teil der staatlichen Verwaltung war. Die Archivpflegerorganisation wird bestätigt, die Ernennung der Pfleger erfolgte nun aber auf Vorschlag der Landräte durch den Staatsarchivdirektor in Einvernehmen mit dem Leiter des Provinzialverbandes, also ohne die zeitweilig vorgesehene Beteiligung des Generaldirektors. Gemeinden mit hauptamtlich oder fachmännisch verwalteten Archiven konnten von dem Archivpflegersystem ausgenommen werden. Die Regelungen erfolgten im Einvernehmen mit der Archivabteilung des Preußischen Staatsministeriums und nach Anhörung des Deutschen Gemeindetages, also anders als die „Richtlinien“ von 1935 unter Mitwirkung aller beteiligten Stellen. In weiteren Erlassen wurden einheitliche Briefköpfe vorgegeben, die die Doppelstruktur ausdrückten. Während der Briefkopf „Die Archivberatungsstelle des Landeshauptmanns der Provinz …“ die Archivberatung als eigene Behörde des Provinzialverbandes auswies, sollte der Staatsarchivdirektor als solcher bzw. dann als „Leiter der staatlichen Archivpflege“ unterschreiben. Des Weiteren wurden einheitliche Ernennungsurkunden, Pflegerausweise und weitere Formulare und Stempel eingeführt; ferner sollten die Archivberatungsstellen eine eigene Registratur mit umfangreichen Nachweisen über die Pfleger und die Abrechnung der Mittel führen und waren dem Provinzialverband berichtspflichtig107. Am 17. Aug. 1937 bestellte der Landeshauptmann der Provinz Prof. Möllenberg gemäß den Regelungen des Erlasses zum Leiter der Archivberatungsstelle der Provinz Sachsen108. Im Ernennungsschreiben betont er interessanterweise die damit einhergehende Vereinigung der Leitung der Archivberatungsstelle und der Landesgeschichtlichen Forschungsstelle als weiterer kultureller Einrichtung des Provinzialverbandes in einer Hand. Zeitgleich trat Möllenberg an die Provinzialverwaltung heran, beantragte die Einrichtung einer Archivberatungsstelle für die Provinz Sachsen gemäß oben genannten Erlasses und sogleich die Schaffung entsprechender Personalstellen für die Archivpflege, insbesondere für die Verzeichnung, die bei der Provinzialverwaltung etatisiert werden soll-

106

LASA; C 96 II, Nr. 44, fol. 125, Erlass V a I 380 III/37; RMBliV, 1325. LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 144, 147, fol. 178; Otto Korn, „Praktische Winke für die Archivpflege“, in: Mitteilungsblatt preußischer Archivverwaltung, 1938, 56. 108 LASA, C 96 II, Nr. 13, Schreiben des Oberpräsidenten (Verwaltung des Provinzialverbandes); nach Berlin gemeldet GStA, I HA Rep. 178, Nr. 1064, fol. 46. 107

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ten109. Auch in seinem Antwortschreiben auf die Ernennung betonte er, dass die „sog. Archivberatungsstelle110“ eine Neueinrichtung des Provinzialverbandes sei, also eine eigene Dienststelle, die dem Staatsarchiv angegliedert sei, mit eigenem Personal, die nun auch einen eigenen Haushalt benötige. Die Einrichtung der Archivberatungsstelle wurde am 11. Okt. 1937 mit dem Leiter der Kulturabteilung Dr. Berger vereinbart und in der Folgezeit umgesetzt111. Dem Oberpräsidenten hatte Möllenberg bereits am 18. Aug. 1937 weitgehenden Vollzug bei der Umsetzung des Erlasses gemeldet112. Aufgrund der bereits erfolgten Vorarbeiten und der bestehenden Pflegerorganisation konnte die Arbeit der Archivberatungsstelle in der Provinz Sachsen tatsächlich nahtlos weitergeführt werden, zunächst mit dem bereits damit befassten Personal des Staatsarchivs, zu dem nun aber zusätzliches Personal über den Etat der Archivberatungsstelle kam. Zum 1. April 1939 ernannte der Provinzialverband dann mit Frau Dr. Charlotte (Lotte) Knabe eine hauptamtliche, von der Provinzialverwaltung bezahlte Referentin für die Archivberatungsstelle, die organisatorisch dem Provinzialverband, fachlich jedoch Möllenberg unterstand113. Sie wurde von zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern, die extra für den „archivpflegerischen Außendienst“ ausgebildet wurden, unterstützt114. Seit 1939 firmierte die Archivberatungsstelle der Provinz Sachsen mit eigenständiger Bezeichnung und Briefkopf sowie eigenem Eingangsstempel115. Mit der Einrichtung der Archivberatungsstellen als gemeinsame Einrichtungen von Stellen der provinzialen Selbstverwaltung und staatlichen Stellen, deren Bindeglied der Direktor des Staatsarchivs in seiner Doppelfunktion war, endet zunächst die

109

LASA, C 96 II, Nr. 13, Schreiben vom 14. Aug. 1937 an das Oberpräsidium; Schreiben vom 17. Aug. 1937 an den Provinzialverband. – Otto Korn weist in seinem Artikel „Die Archivpflege in der Provinz Sachsen“, im Mitteilungsblatt 8. Jg., Heft 6 (1938), 7 – 13, darauf hin, dass die Verzeichnung nur von Fachleuten, nicht von den Pflegern vorgenommen werden dürfe. 110 LASA, C 96 II, Nr. 13, Schreiben vom 20. Aug. 1937. Möllenberg sah die Archivberatungsstelle als etwas neben der Archivpflegeorganisation Stehendes an und vermied länger den Ausdruck „Archivberatungsstelle“, weil er ihn für „schlecht gewählt“ hielt, LASA, C 96 II, Nr. 11, Schreiben vom 2. Sept. 1938 nach Wiesbaden.; GStA, I HA Rep. 178, Nr. 1064, fol. 46. 111 LASA, C 96 II, Nr. 13, Schreiben vom 5. Nov. 1937 an den Generaldirektor, Bericht von Otto Korn, der als Sachbearbeiter für die Archivberatung tätig blieb, vom 5. Nov. 1937. Zur Erarbeitung einer Satzung bzw. von Richtlinien LASA, C 96 II, Nr. 13 und IV, Nr. 261. 112 LASA; C 96 II, Nr. 13, Schreiben vom 14. Aug. 1937. 113 Charlotte (Lotte) Knabe arbeitete bereits seit 1937 auf diesem Feld und gehörte seit dem 1. Okt. 1938 offiziell zum Personal der Archivberatungsstelle; vgl. dazu U. Höroldt, Weiterwirken (Anm. 2), 449; J. Hartman, Gedenken (Anm. 3); zur Einstellung LASA, C 96 IV, Nr. 231. 114 L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), 412. 115 Anordnung des Oberpräsidenten der Provinz vom 7. März 1939, LASA, C 96 II, Nr. 13.

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Phase der Abstimmungen und Kompetenzstreitigkeiten116. Versuchen der Staatsarchive, die Archivpflege in alleiniger Verantwortung zu betreiben, wurde dadurch ebenso eine Absage erteilt wie Versuchen der kommunalen Seite oder des Provinzialverbandes, die Archivpflege gänzlich an sich zu ziehen. Diese Regelung in ihrem abgewogenen Verhältnis staatlicher und kommunaler Verantwortung und dem weitgehenden Verzicht auf staatliche Eingriffe in die kommunale Sphäre griff der Entwicklung in Bezug auf die Archivschutzgesetzgebung des Reiches vor, und wurde anders als diese tatsächlich und unmittelbar wirksam117. Die endgültige Lösung ist recht nah an den von Möllenberg entwickelten Plänen von 1930 – von denen er selbst freilich später zugunsten eines stärkeren Einfluss des Staatsarchivs abgerückt war – unterscheidet sich von diesen jedoch durch die direkte Einbindung der Archivberatung in die Provinzialverwaltung, während die Historische Kommission bzw. Landesgeschichtliche Forschungsstelle keine Rolle im organisatorischen Aufbau mehr spielte, sondern mit ihrem Jahrbuch primär als Publikationsorgan diente. Dennoch barg auch diese Organisation bereits den Kern künftiger Differenzen, da die Archivberatungsstelle aufgrund der eigenen Etatisierung innerhalb des Staatsarchivs einen gewissen Fremdkörper darstellte und in der Folgezeit durch die Einstellung eigenen Personals weiter anwuchs. Sie strebte daher zunehmend eine stärkere Eigenständigkeit gegenüber dem Staatsarchiv an, was von der Provinzialverwaltung, die die Archivberatung als eigene Dienststelle ansah, gefördert wurde. Diese Tendenzen, die den oben erwähnten Bestrebungen der durch den Deutschen Gemeindetag vertretenen Provinzialverbände um eine rein von ihnen, also ohne Beteiligung des Staatsarchivs, getragene Archivpflege bereits angelegt waren, wurden in der Provinz Sachsen jedoch erst in den letzten Kriegsjahren und in der Nachkriegszeit wirklich virulent118. Abschließend stellt sich die Frage, wie die Tatsache zu bewerten ist, dass die in den meisten Provinzen in unterschiedlicher Form bereits existierende Archivpflege gerade in der Zeit des Nationalsozialismus in ein weitgehend einheitliches System gebracht wurde, und welche Auswirkungen dies in der Provinz Sachsen hatte. In den Quellen wird immer wieder deutlich, dass der Grund für die besondere Sorge um das nichtstaatliche Archivgut in dieser Zeit in der Bedeutung lag, die diesen Quellen insbesondere im Bereich der Sippenforschung, einem zentralen Thema der nationalsozialistischen Ideologie mit sehr praktischen Folgen, zukam. Dies spiegelt sich auch in den Schwerpunkten, die die Archivpflege in der Provinz Sachsen v. a. in den ersten Jahren prägten, wie z. B. der Sorge um die Bürgerbücher, die Innungsakten

116 Dies gilt zumindest für die Provinz Sachsen. Im Rheinland dagegen eskalierte der Streit gerade jetzt und wurde zu einem Grundkonflikt zwischen Staat und Selbstverwaltung hochstilisiert, W. Wisotzy, Der Vollmer-Kisky-Streit (Anm. 1), 203. 117 Anfang 1938 wurde diesbezüglich ein stark veränderter, sehr auf Kulturgutschutz zielender Entwurf eines Reichsgesetzes vorgelegt, der die Freiwilligkeit der Archivpflege betonte und Zwangsmaßnahmen nur noch im Notfall zuließ, allerdings wiederum ohne Erfolg; N. Reimann, Kulturgutschutz (Anm. 24), 9 ff., 13 ff. 118 Vgl. U. Höroldt, Das Weiterwirken (Anm. 2), 451 ff.

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oder die jüdischen Personenstandsbücher119. Hinzu kam die nationalsozialistische Vorstellung des Vorrangs der Volksgemeinschaft vor den Interessen des Einzelnen, die Eingriffe in bisher private Bereiche oder Privateigentum ebenso wie in kommunale Selbstverwaltungsangelegenheiten legitimierte und alle einem gemeinsamen Ziel unterordnete120. Den weiteren Hintergrund bildeten damit die Bemühungen des nationalsozialistischen Staates, staatlichen Einfluss auch in Sphären zu gewinnen, die dem Staat bisher entzogen waren; im Bereich des Archivwesens galt dies v. a. für das geplante Archivschutzgesetz121. Die Auffassung, die Archivberatungsstellen seien von den Nationalsozialisten instrumentalisiert worden, trifft den Kern der Sache m. E. zumindest für die Provinz Sachsen daher nicht, da ihre Entstehung eben erst in der NS-Zeit erfolgte122. Etwas anders sieht es im Rheinland und in Westfalen aus, wo bereits lange vor 1933 entsprechende eigenständige Institutionen existierten und die Einmischung der zentralen staatlichen Stellen des NS-Staates als eher unerwünschter Eingriff in funktionierende Strukturen gedeutet wurden, die man seitens der Archivberatungsstelle und des Provinzialverbandes möglichst abzuwehren suchte123. In der Provinz Sachsen dagegen boten eben diese zentralen Bestrebungen erstmals die Möglichkeit, ein Arbeitsgebiet, um das man sich schon lange verstärkt hatte kümmern wollen – dies zeigt insbesondere die Denkschrift Möllenbergs von 1930 – nunmehr konsequent angehen zu können. Zugleich führte das sippenkundliche Interesse aber auch zu der drohenden Einmischung von dritter Seite, d. h. von Parteistellen bzw. von den durch die Nationalsozialisten unterstützten sippenkundlichen Organisationen, die man im Staatsarchiv abzuwehren suchte. Möllenbergs Befürchtungen gegenüber dem Archivpflegersystem dürften hier ihren Ursprung gehabt haben. Dies war für das Staatsarchiv ein Grund mehr, sich besonders zu engagieren und die eigene Rolle für die Archivpflege zu betonen. Dabei zeigten sich freilich bald auch abweichende Vorstellungen, die zu Konflikten führen konnten. Die von Möllenberg gegenüber Parisius und den Kommunen immer wieder angeführten „höheren Ortes“ bestehenden Interessen und Vorstellungen wurden m. E. von diesem nicht nur instrumentalisiert, um die Kommunen auf Linie zu bringen, sondern dürften 119 Vgl. zu diesem Hintergrund auch W. Wisotzy, Der Vollmer-Kisky-Streit (Anm. 1), 196 f. Zu den jüdischen Personenstandsbüchen und zu den Erbkrankenkarteien und ihrer erbbiologischen Nutzung L. Knabe, Archivpflegeorganisation (Anm. 1), 411 f. (ohne kritische Untertöne), und zur Zusammenarbeit mit NSDAP, SA und dem Gauarchivar des Gaus MagdeburgAnhalt, ebda. 414; vgl. auch die sehr einschlägigen Äußerungen Korns zur Sicherstellung der Archivalien der jüdischen Gemeinden, LASA, C 96 II, Nr. 11 von 19. 1. 1939. 120 Vgl. dazu z. B. die Rede Möllenbergs auf der 1. Arbeitstagung der Archivpfleger, in der er „eine neue Ethik des Besitzes“ im neuen Reich konstatiert, LASA, C 96 II, Nr. 47, oder die Einschätzung von Erich Neuß: „dass die Archivpflege aus dem nationalsozialisitschen Grundsatz der Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gesamtheit des Volkes erwachsen ist.“ LASA, C 96 II, Nr. 44, fol. 85 ff. 121 Vgl. dazu die Forschungen von Norbert Reimann (Anm. 24). 122 So z. B. F. Boblenz, Bestand (Anm. 3), 32. 123 Die bisher eigenständigen Organisationen des Provinzialverbandes wurden hier erst in der NS-Zeit organisatorisch mit dem Staatsarchiv verbunden, was zu erheblichem Streit führte, vgl. Anm. 116 und 124.

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auch für ihn selbst durchaus ein Problem dargestellt haben. Dies gilt umso mehr, da 1935 eine Umsetzung der Berliner Vorgaben von ihm erwartet wurde, ohne dass ihm dazu gegenüber den Kommunen entsprechende Machtmittel in die Hand gegeben wurden. Dadurch konnten diese nicht unerheblichen Einfluss auf die Entwicklung nehmen, wie die von Parisius durchgesetzte Änderung der Archivpflegeranweisungen zeigt. Hier liegt das eigentlich Erstaunliche an den Abläufen bei der Entstehung der Archivberatungsstellen, ebenso wie am Scheitern des zentralen Archivschutzgesetzes. Auch im totalitären und gleichgeschalteten NS-Staat konnte ein ideologisch begründetes und damit priorisiertes Vorhaben wie der Aufbau einer Archivpflegeorganisation in das Spannungsfeld staatlicher und kommunalpolitischer Interessen geraten124. Die Berücksichtigung der Belange der kommunalen Selbstverwaltung führte schließlich zu einer komplexen Lösung, bei der eine Einrichtung des Provinzialverbandes in Personalunion mit einer staatlichen Stelle und zusätzlich verbunden mit einer ehrenamtlichen Organisation entstand. Die Beharrungskraft politischer Organisationsformen, die der NS-Staat doch zu überwinden beanspruchte, erwies sich hier nochmals als sehr wirkmächtig.

124 Dies zeigen auch die Ereignisse im Rheinland, wo man sich auch nach dem grundlegenden Erlass vom 4. Aug. 1937 weiterhin vehement um den staatlichen oder provinzialen Aufbau der Archivberatung stritt, ohne dass der nationalsozialistische Staat durchgriff, vgl. W. Wisotzy, Der Vollmer-Kisky-Streit (Anm. 1), 199 ff.

Provenienz und Emergenz. Moderne Konzepte in der Archivwissenschaft Adolf Brennekes Von Angelika Menne-Haritz, Berlin Muss man heute noch über das Provenienzprinzip diskutieren? Eigentlich ist es doch akzeptiert als Grundlage des beruflichen Selbstverständnisses von Archivarinnen und Archivaren. Doch bei der Archivierung elektronischer Unterlagen, in Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern, oder auch beim Angebot strukturierter Recherchewerkzeuge für Archivgut im Internet, merkt man immer wieder, dass es nicht so einfach ist, sich über die Konsequenzen zu verständigen. Hiermit soll der Versuch gemacht werden, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, wie es dazu gekommen ist, um herauszufinden, welche Potentiale für die zukünftige Weiterentwicklung des Berufs darin stecken. Die heute noch gültigen Formulierungen des Provenienzprinzips geschahen mit Regulativen, etwa in Frankreich für die noch neuen Departementalarchive in der Mitte des 19. Jh. und in Preußen, zunächst für die oberste Verwaltungsebene, dann auch für die regionalen Archive Ende des 19. Jh.1 Damals legten es neue Erfahrungen mit der Zusammenführung von Unterlagen aus verschiedenen Behörden in einem Zentralarchiv nahe, Materialien mit gemeinsamer Herkunft auch im Archiv beieinander zu lassen und von den anderen Beständen zu trennen. In den preußischen Staatsarchiven schrieb das Regulativ von 1881 das Zusammenhalten der Unterlagen aus je einer Behörde vor und ergänzte, dass dabei die Ordnung und die Aktenzeichen beibehalten bleiben sollten, die ursprünglich verwendet worden waren. Ähnlich beschrieben es Handbücher, die um die Jahrhundertwende bei der Bewältigung der zunehmend komplexeren Anforderungen helfen sollten. In der niederländischen Anleitung für das Ordnen und Verzeichnen von Archiven2 sowie in dem englischen Manual of Archival Administration3 wurden die Verfahren ausformuliert und die Grundlagen erläutert. Beide Autoren stimmten weitgehend darin überein, dass bei der Übernah1 Hans Kaiser, Das Provenienzprinzip im französischen Archivwesen, in: Hans Beschorner (Hrsg.), Archivstudien. Zum 70. Geburtstage von Woldemar Lippert, Dresden 1931, 125 – 130; Johannes Schulze, Gedanken zum „Provenienzgrundsatze“, in: ebd. 225 – 236; Carl Gustaf Weibull, Archivordnungsprinzipien. Geschichtlicher Überblick und Neuorientierung, in: Archivarische Zeitschrift (zukünftig AZ) 42/43 (1934), 52 – 72. 2 Samuel Muller/Johan Adriaan Feith/Robert Fruin, Handleiding voor het Ordenen en Beschrijven van Archiven, Groningen 1898. 3 Hillary Jekinson, A Manual of Archival Administration, Oxford 1922.

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me ins Archiv das Schriftgut so aufgestellt werden sollte, wie es aus den Behörden übergeben worden war. Die Handbücher wurden in weitere Sprachen übersetzt und erhielten auch in anderen Ländern den Status von Standardwerken. In der heutigen Diskussion des internationalen Archivwesens spielt immer noch die „orignal order“ eine wichtige Rolle, oft mehr als seine Basis, das „principle of provenance“. So entstand und verbreitete sich das Provenienzprinzip als eine Anleitung für die Praxis, auch ohne den Anspruch einer wissenschaftlich überprüfbaren Begründung.4 In der praktischen Arbeit der Archive entstanden viele Kompromisse, weil die Anwendung der Regeln schwieriger war, als es zunächst aussah. In Frankeich setzte sich bei Beibehaltung des Herkunftszusammenhangs das Verfahren der einheitlichen Ordnung innerhalb der Bestände nach dem Cadre de Classement5 und eine Indexierung nach Sachbegriffen durch. Dieses Modell wurde später unter der Bezeichnung Fondsprinzip den anderen Verfahren gegenübergestellt, die ein Abbild der in der Behörde bei der Entstehung der Akten angelegten Ordnung herstellten und auch als Registraturprinzip bezeichnet wurden. Hier entstand eine erste Bruchkante in der Rezeption des Provenienzprinzips. Eine zweite Differenzierung kristallisierte sich um die Frage des Nutzens des Provenienzprinzips im Widerspruch von Verwaltungsinteressen und Unterstützung der Forschung heraus. Massiver Gegenwind entstand schließlich um den Begriff des organischen Wachstums. Sein Gebrauch kann allerdings durchaus als Einschnitt bewertet und als der erste Versuch einer wissenschaftlich tiefer gehenden Begründung der Archivwissenschaft gesehen werden. Diese drei Kontroversen sollen im Folgenden in ihren wesentlichen Zügen dargestellt werden, weil sie im Hintergrund des fachlichen Selbstverständnisses weiterhin eine Rolle spielen und ihre Klärung neue Spielräume für die Weiterentwicklung der Fachdisziplin schaffen kann. Dabei geschieht die Heranziehung von einigen früheren Darstellungen eher exemplarisch. Umfangreiche bibliographische Nachweise zum Thema finden sich in den angeführten Publikationen, vor allem aber in dem Beitrag von Bodo Uhl „Die Bedeutung des Provenienzprinzips für Archivwissenschaft und Geschichtsforschung“, dem diese Ausführungen viele Anregungen verdanken.6 Meist unbestritten war und ist die Forderung nach dem Zusammenhalten von archivischen Beständen entsprechend ihrer gemeinsamen Herkunft. Doch hat auch die innere Ordnung überhaupt etwas mit der Herkunft, also dem Provenienzprinzip zu tun? Anstoß zu einer Diskussion über diese Frage gab die posthume Publikation der Archivkunde von Adolf Brenneke durch Wolfgang Leesch 1953, der auch den 4 Für einen Überblick vgl. etwa die Konferenzbeiträge in: Kerstin Abukhanfusa (Hrsg.), The Principle of Provenance. Report from the First Stockholm Conference on Archival Theory and the Principle of Provenance 2 – 3 September 1993, Stockholm 1994; sowie Kerstin Abukhanfusa (Hrsg.), the Concept of Record. Report from the Second Stockholm Conference on Archival Science and the Concept of Record 30 – 31 May 1996, Stockholm 1998. 5 Direction des Archives de France (Hrsg.), La Pratique Archivistique Française, Paris 1993, 145 – 152. 6 Bodo Uhl, Die Bedeutung des Provenienzprinzips für Archivwissenschaft und Geschichtsforschung, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 61 (1998), 97 – 121.

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Titel des Buchs bestimmte. In dem Buch wie zuvor in den Vorlesungen Brennekes am Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung (IfA) am Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin in den dreißiger Jahren, auf denen das Buch beruhte, wurden zu Beginn die Fachbegriffe, darunter auch Provenienz, behandelt. Adolf Brenneke (1875 – 1946) hat in seinen Lehrveranstaltungen am damaligen IfA von dessen Gründung 1930 bis 1943 eine ganze Generation von Archivaren ausgebildet. Aus der Kenntnis der vielfältigen Archivlandschaft leitete er eine Typologie der Archivformen ab, die einen wichtigen Teil seiner Vorlesungen bildete. In seinem Nachlass finden sich vorbereitende Aufzeichnungen für die Lehrveranstaltungen. Dort fällt eine Notiz auf: „Theorien in ihrer vollen Bedeutung nur auf der Grundlage der Geschichte verständlich. Behandlung der Geschichte unter doppeltem Gesichtspunkte: vergleichend (typisierend) und individualisierend“.7 Dieser Gedanke kennzeichnete die Leitlinie seines Unterrichts und bestimmte sein Konzept der Provenienz. I. Der Geltungsbereich: äußere Abgrenzung und innere Ordnung der Bestände Als Richtschnur für die Einführung in das Fach dienten Brenneke die Thesen zur archivischen Fachterminologie, die Heinrich Otto Meisner dem Archivtag 1930 in Linz als Ergebnis einer Arbeitsgruppe vorgestellt hatte und die er 1934 unter dem Titel „Archivarische Berufssprache“ veröffentlichte.8 Dort führte er den Begriff des Archivkörpers ein, der die organisch gewachsenen Archivabteilungen im Gegensatz zu den künstlich geformten Sammlungen bezeichnen sollte. Die möglichen Formen des Archivkörpers differenzierte er weiter aus. Auf der identischen Grundlage der einheitlichen Herkunft als Abgrenzung von anderen Beständen seien nämlich zwei Formen erkennbar. Entweder seien die Bestände in ihrem Inneren verändert worden, dann handle es sich um das französische Fondssystem. Oder sie hätten nach dem preußischen System im Wesentlichen die innere Struktur beibehalten, wie sie in der Behörde entstanden sei. Die zweite Art nehme den Begriff des Organischen ernster und eigentlich träfe er auf sie allein zu. Diese Unterscheidung von 1930 nahm Adolf Brenneke zum Anlass, das Konzept des organischen Wachstums weiter auszuführen. Für ihn definierte das Provenienzprinzip die äußeren Grenzen des Bestandes aus dessen innerem Wachstum heraus, das von einem gemeinsamen Ziel bestimmt war. Es kennzeichnete die Unterlagen als Niederschlag der gemeinschaftlichen geschäftlichen Tätigkeit, weshalb sie die Geschäftseinteilung der Behörde widerspiegelten. Diese Eigenschaften brachte er auf den Begriff der Sachgemeinschaft im einzelnen Bestand, die mehr sei als eine Sachverwandschaft oder

7

NLA HStA, Hann, 91 Nachlaß Adolf Brenneke, Nr. 2/1. Korrespondenzblatt des Gesamtvereins 10 – 12 (1930), Sp. 237 – 238; Heinrich Otto Meisner, Archivarische Berufssprache, in: AZ 42/43 (1934), 260 – 280. 8

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Sachverbundenheit.9 Sachverwandschaft findet sich etwa in der Sammlung, Sachverbundenheit in Dossiers nach französischem Muster, in Sachakten, die unter gemeinsamem Betreff oft in chonologischen Serien geführt werden oder den case files von Verwaltungen in englischer Tradition. Die Sachgemeinschaft, die eine besonders enge Verknüpfung aller Teile bewirkte, drückte sich vor allem im Typ des Vorgang aus. Brenneke formulierte: „In diesem Sinne können wir Provenienz als Sachgemeinschaft auf der Grundlage der Herkunftsgemeinschaft definieren.“10 Daraus leitete er als Anleitung für die praktische Arbeit sein Konzept des freien Provenienzprinzips ab: „Doch können Archivalienmassen, in denen die Bedingungen des organischen Wachstums stecken, in eine solche Form gebracht werden, die dieses organische Wachstum zum Ausdruck bringt, selbst wenn sie nie eine solche Form gehabt haben.“11 Das beschreibt die Ordnungsarbeit als unabhängig vom tatsächlichen Ordnungszustand bei Übergabe der Unterlagen, allerdings mit dem Ziel, das Wachstum auszudrücken, und unter den Voraussetzungen des Nebensatzes, dass nämlich die Bedingungen des Wachstums in dem Material vorhanden sein müssen. Das machte die Anwendung abhängig von der genauen Analyse und Kenntnis der Unterlagen vor einer Ordnungsarbeit und von der Beherrschung den archivischen Methoden, das Wachstum zum Ausdruck zu bringen. So wurde auch die Rekonstruktion der Registraturverhältnisse Resultat eigener Entscheidungen der Bearbeiter auf der Grundlage vorangegangener eigener Analysen. Befreit wurde damit der archivarische Beruf von externen Vorgaben und erhielt Spielraum für seine eigenen Fachkompetenzen. Brenneke sah sein Konzept vorwiegend als Anpassung an die Praxis, die sich schon lange von der reinen Rekonstruktion der früheren Registraturordnung entfernt habe, weil sie oft für die Zwecke des Archivs wenig geeignet war. Doch formulierte er damit allgemein spürbare Erfahrungen in einer Weise, die sie gleichzeitig erklärten und schuf damit neue theoretische Ansätze der Archivwissenschaft. Mit der Formulierung des freien Provenienzprinzips kamen die eigenen Zwecke des Archivs ins Spiel, die über die Konservierung und Aufbewahrung der Akten hinausgingen und die deshalb auch in Widerspruch zu den Zwecken der Verwaltung geraten könnten, nämlich die Bereitstellung für die Nutzung durch Dritte. Diesen Zwecken diente die Offenlegung der Funktionen der Herkunftsstelle, auch wenn deren Registratur bei ihrer eigenen Ordnung des Materials einen anderen Zweck verfolgt habe – oder auch gar keinen. „Das Leben habe die Registraturen geschaffen, meinen die Niederländer; aber bei Lichte besehen, hat sie ein Registrator geschaffen, der einen Zopf trug“.12 Die niederländische Position beschränke sich auf die Äußerlichkeiten der Registratur. Wichtiger sei es, die tatsächliche Geschäftsordnung der Behörde im Blick zu haben, also die inneren Verbindungen. Brennekes Überlegungen haben ein klar erkennbares Ziel: Die Sichtbarkeit der Entstehungsbedingungen und 9

Adolf Brenneke/Wolfgang Leesch, Archivkunde. Leipzig 1953, 22. Ebd., 89. 11 Ebd., 22. 12 Ebd., 86. 10

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der inneren Zusammenhänge für die von außen kommenden Benutzer des Archivs herstellen zu können. Forscher sollen erkennen können, wie die Unterlagen entstanden sind, wie sie mit einander verbunden sind und wie Ihre Form und mögliche Aussagen durch ihre Entstehung beeinflusst wurden. Die Frage, ob das Provenienzprinzip die innere Ordnung der Bestände beeinflussen sollte, stellte sich nicht für Brenneke. Sie war durch seine Definition des Provenienzprinzips selbstverständlich bejaht. Genauso eindeutig wurde diese Frage von Heinrich Otto Meisner in dessen nachfolgenden Äußerungen verneint. Schon in dem oben genannten Zitat von 1930 unterschied er zwischen der äußeren Abgrenzung der Bestände nach Herkunft einerseits und benutzte den Begriff der Struktur für die innere Ordnung andererseits. Diese begriffliche Differenz, die er 1934 nicht erwähnte, verschärfte er inhaltlich in einer für die Archivgeschichte interessanten Kontroverse mit Gerhard Enders über Brennekes Thesen in den 50er Jahren. Meisner bezeichnete nun in Abgrenzung von Brenneke die innere Ordnung der Bestände bewusst als Strukturierung, die nichts weiter als ein Verfahren sei und mit der Provenienz nichts zu tun habe. Das geschah in einem Beitrag von 1955,13 einer Art vorgreifende Antwort auf einen Artikel von Gerhard Enders über Brennekes Archivkunde. Enders hatte das Manuskript zu seinem geplanten Beitrag, wie er selbst schrieb, Meisner zur Begutachtung übergeben und er verwies in der publizierten Fassung an zentralen Stellen auf eine Abstimmung mit Meisner, der offensichtlich starken Einfluss auf die endgültige Formulierung genommen hatte. Enders Aufsatz erschien 1956.14 Meisner hatte im Jahr zuvor bereits Passagen aus Enders Manuskript in seine eigene Argumentation übernommen und ablehnend dargestellt, ohne jedoch den Autor zu nennen. Zentrales Thema von Meisners Aufsatz war die Abwehr des Gedankens der inneren Ordnung der Bestände nach Entstehungszusammenhängen. So betonte er, dass die Bestimmung von 1881, nach der die Akten in der Ordnung belassen werden sollen, die sie im Geschäftsverkehr der Behörde erhalten hatten, sich auf einer anderen Ebene bewege als die Beachtung der Provenienz. Als Reaktion auf Schwierigkeiten mit der Rekonstruktion oder der Verwendung der vorhandenen Registraturordnung von Beständen habe Brenneke nun leider den „unglücklichen und falschen Namen“ des freien Provenienzprinzips geprägt. So sei doch auch das Fondsprinzip frei von der ursprünglichen Ordnung. Außerdem habe Brenneke nicht die neuen, auf der Dezimalklassifikation beruhenden Aktenpläne in der Verwaltung zur Kenntnis genommen. Sie kämen seinem Registraturideal bereits so nahe wie möglich. Mit deren Einsatz in der Verwaltung sei seine Forderung nach Abbildung der Geschäftsverhältnisse für zukünftige Bestände bereits erfüllt. 13

Heinrich Otto Meisner, Provenienz – Struktur – Bestand – Fonds. Ein Beitrag zur Archivterminologie, in: Archivmitteilungen 1955, Heft 3, 2 – 5, 3. 14 Gerhard Enders, Probleme des Provenienzprinzips, in: Staatliche Archivverwaltung im Staatsekretariat für Innere Angelegenheiten (zukünftig StAV) (Hrsg.), Achivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner, Berlin 1956, 27 – 44.

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Diese Abwehr der Nutzung des Provenienzprinzips für die innere Ordnung der Bestände einschließlich der damit verbundenen Eigenständigkeit archivarischer Analyse verfestigte sich im Archivwesen der DDR. So beschrieb das Lexikon von 1976, dass sich die innere Ordnung an dem von der Registratur vorgegebenen Schema oder an der Verwaltungsstruktur orientiere oder eine einheitliche Strukturvorgabe für verwandte Behörden nutze. Dort hieß es ausdrücklich „Für die innere Ordnung des Bestandes gilt das Provenienzprinzip nicht.“15 Betont wurde dieser Sachverhalt erneut von Lieselott Enders 1983. Sie verwies zur Unterstützung ihrer Argumentation darauf, dass es so in den OVG vorgeschrieben sei. Doch dort heißt es in deutlich engerer Verwandtschaft zu den Vorstellungen von Brenneke: „Die innere Ordnung eines Bestandes soll die Zusammenhänge und den Entstehungszweck der Akteneinheiten in einem klaren und übersichtlichen Bestandsaufbau deutlich hervortreten lassen.“16 Gerhard Enders würdigte in seinem Beitrag, auf den Meisner reagierte, die Leistung Brennekes als den Anschluss der Archivwissenschaft an das wissenschaftliche Denken in den Gesellschaftswissenschaften, in denen der Entwicklungsgedanke zum Durchbruch gekommen sei. Er habe nun in Weiterentwicklung des Begriffs Archivkörper von Meisner aus den 30er Jahren eine theoretische Begründung und klare Formulierung des Provenienzprinzips gefunden, die dem entspräche, was sich zuvor bereits in der Praxis durchgesetzt hatte.17 Brenneke verstehe den Archivkörper als diejenige Form eines Bestandes, die seine Entstehung am besten zum Ausdruck bringe. Enders schlug schließlich zusammen mit Meisner vier Unterprinzipien als Strukturierungsmöglichkeiten für die innere Ordnung der Bestände auf Grundlage der Herkunftsgemeinschaft vor, das Fondsprinzip, das strenge Registraturprinzip, das regulierende Registraturprinzip und das Verwaltungsstrukturprinzip, wobei er dem letzten in Klammern hinzufügte: „Brennekes Archivkörper“.18 Doch sei auch beim Verwaltungsstrukturprinzip nicht immer die Registraturordnung übernehmbar, „wie man es etwa am Teilbestand des Reichsinnenministeriums nach der Büroreform erkennen kann“.19 Mit dem Beispiel dieser Akten nahm er auf subtile Weise Meisners Argumentation den Wind aus den Segeln, da diese Abteilung von Arnold Brecht20 geleitet und als Musterregistratur für die Einführung der strukturierten Aktenpläne in der Büroreform der 20er Jahre ausgewählt worden war. Die Einführung der hierarchisch aufgebauten Aktenpläne hatte dort zumindest offenbar nicht die Wirkung, 15

StAV (Hrsg.), Lexikon Archivwesen der DDR, Berlin 1976, 223. Lieselott Enders, Das Provenienzprizip in Gegenwart und Zukunft, in: Archivmitteilungen 5 (1983), 151 – 153; StAV (Hrsg.), Ordnung- und Verzeichnungsgrundsätze für die staatlichen Archive der DDR, 1964, § 59. 17 G. Enders, Probleme des Provinienzprinzips (Anm. 14), 27. 18 Ebd., 40. 19 Ebd., 36. 20 Arnold Brecht, Die Geschäftsordnung der Reichsministerien, Berlin 1927. Die englische Übersetzung „Art and Technique of German Administration“ von 1940 ist Online mit Registrierung verfügbar. 16

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eine archivische Analyse und Ordnungsentscheidung überflüssig zu machen. Enders stellte sich deutlich auf die Seite Brennekes und unterstützte dessen Feststellung, „… gerade die moderne schematisierte Registratur nach Dezimalsystem kann kaum noch beanspruchen, das individuelle Leben der Behörde einzufangen“.21 Die Kontroverse über die eigentlich harmlos erscheinende Frage der Geltung des Provenienzprinzips nur für die Bestandsabgrenzung oder auch für die innere Ordnung berührte einen zentralen Punkt. Während Brenneke das in den Akten spürbare Leben, die Zielstrebigkeit der Vorgänge deutlich machen wollte, sollten die Bestände nach dem Verfahren der Strukturierung in der Vorstellung von Meisner bestätigen, was vor ihrer Entstehung als Verwaltungsstruktur vorhanden war. Einen Unterschied zwischen dem Leben in den Akten und vorausgegangenen Planungen und Erwartungen hat Brenneke nicht ausdrücklich angesprochen. Doch bei Meisner spielte diese Differenz offenbar eine Rolle. Er thematisierte sie jedoch ebenfalls nicht, sondern ignorierte sie ausdrücklich im selben Moment.22 Sie birgt sicherlich weitere Potenziale für heutige Fragen an die Archivwissenschaft etwa was verwaltungsinterne Kommunikationen in elektronischen Umgebungen angeht und die inneren Verbindungen der dabei entstehenden Aufzeichnungen. II. Die Differenz von Verwaltungsorientierung und Forschungsfreundlichkeit In der Praxis wird bei jeder Erschließungsarbeit eine Entscheidung über die innere Ordnung des jeweiligen Bestandes getroffen. Die Frage einer Ordnung nach Stichworten für mögliche Forschungsthemen stellt sich schon aus praktischen Erwägungen der Arbeitsökonomie kaum. Trotzdem wurde und wird sie diskutiert, nicht zuletzt wenn es um gemeinsame Projekte mit Bibliotheken oder um die elektronische Recherchierbarkeit des Archivguts geht.23 In der Diskussion um das Provenienzprizip wird immer wieder Forschungsfreundlichkeit durch Sachbezug der Erschließung gegen einen angeblich unverständlichen und zu viel Kenntnis über Verwaltung voraussetzenden Provenienzbezug ausgespielt. Allerdings war die Diskussion zu Beginn durchaus differenzierter als es aus heutiger Sicht oft erscheint. Auch dafür kann eine Kontroverse aus den 30er Jahren beispielhaft stehen. Georg Winter, der spätere erste Direktor des Bundesarchivs, nahm 1930 als junger Staatsarchivrat und Geschäftsführer des gerade entstehenden Instituts für Archivwissenschaft in Dahlem einen in der Zeitschrift Scandia erschienenen Aufsatz des Lan21

A. Brenneke/W. Leesch, Archivkunde (Anm. 9), 25. Ein besonderes Gespür für diese Differenz zeigte später Johannes Papritz bei der Beschreibung der Erschließung verschiedener Typen von Akten, wo er empfahl, den ursprünglichen Titel als Ausdruck der Erwartungen bei Anlage der Akten mit einem Titel zu kombinieren, der den daraus gewordenen Entstehungszweck deutlich macht. Johannes Papritz, Archivwissenschaft, Marburg 1982, Bd. 3, 2. Auflage, 277. 23 Angelika Menne-Haritz, Archivgut in digitalen Bibliotheken, in: Archivar 65 (2012), 248 – 257. 22

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desarchivars von Lund, Carl Gustaf Weibull, über Archivordnungsprinzipien zum Anlass,24 das Provenienzprinzip gegen diesen vermeintlich fundamentalen Angriff zu verteidigen.25 Weibull antwortete darauf in einem umfassenden Artikel in der Archivalischen Zeitschrift von 1934, dem die Redaktion eine Reaktion von Fruin aus den Niederlanden und eine erneute Antwort von Weibull beifügte.26 Zwar gab Winter zu, dass eine konsequente Anwendung des Prinzips der Rekonstruktion der Registraturverhältnisse bei Akten der modernen Verwaltung immer schwieriger würde. Und wenn der wissenschaftliche Archivar nicht mehr nur Registratorentätigkeit übernehmen wolle, müsse er die Akten weitergehend analysieren und sie tiefer erschließen, als es aus der äußeren Befolgung des Provenienzprinzips resultiere. Die archivarische Ordnungstätigkeit ließe sich inzwischen, „… vielleicht als eine große wissenschaftliche Analyse der Bestände definieren“.27 In seiner Argumentation durchaus moderater war der Beitrag in seiner Sprache allerdings teilweise deutlich konfrontativ. So waren ihm die schwedischen Registraturverhältnisse auf einer primitiveren Stufe befangen als die preußischen. Hier drückte sich ein Bild von gesetzmäßiger Entwicklung aus, das die Formen der Registraturverhältnisse in fortschreitender Entwicklung zu höheren Stufen sah und ihnen zudem eine Eigengesetzlichkeit zuschrieb. Auch wenn er betonte, dass eine Berücksichtigung der Verhältnisse der Verwaltungen, in denen das Schriftgut entstand und seine dadurch jeweils bedingten Formen bei solchen Diskussionen gewinnbringend sein könnten, nahm er doch dabei nur die Registraturverhältnisse in den Blick. Weibull erklärte sehr deutlich in seiner Antwort in der Archivalischen Zeitschrift, dass es ihm keinesfalls um eine Ordnung von Archivbeständen nach französischem Vorbild ging. Die Schriftgutstruktur, mit der schwedische Archive konfrontiert waren, bestand aus chronologischen Ein- und Ausgangsserien sowie einigen Sachaktenaktengruppen, von ihm als Dossiers bezeichnet, die sich an sie anschlossen. Was ihm vorschwebte war eine Gruppierung des gesamten Schriftguts nach den jeweiligen Gegenständen der Geschäfte. Dabei bezog er, wie es heute in Schweden immer noch üblich ist, in seinem Archivbegriff die laufende Schriftgutverwaltung mit ein. Ihm lag weniger an einer Umordnung der Archivbestände. Er befürwortete ausdrücklich, dass das Dossiersystem statt chronologischer Serien bereits breiter in den Verwaltungen eingesetzt werde. Ziel sei eine gezielte Recherche und schnellere Auffindung der Unterlagen, sowohl für die Forschung wie für die Verwaltung selbst. Robert Fruin unterstellte Weibull in seiner Antwort in der Archivalischen Zeitschrift, dass man nach dessen Vorstellungen die Bestände gleich ganz auflösen 24 Georg Winter, Archivordnungsprinzipien, in: Korrespondenzblatt (Anm. 8), Sp. 138 – 147, Sp. 140; vgl. dazu auch ders., Das Provenienzprinzip in den preußischen Staatsarchiven, in: Revista de la Biblioteca, Archivio y Museo del Ayuntamiento de Madrid 10, (1933), 180 ff. Das Manuskript dazu findet sich im Nachlass Georg Winter in Bundesarchiv, N1333 Winter, 53. 25 G. Winter, Archivordnungsprinzipien (Anm. 24), Sp. 144. 26 C. G. Weibull, Archivordnungsprinzipien, in: AZ 42 (1934), (Anm.1), 52 – 72. 27 G. Winter, Archivordnungsprinzipien (Anm. 24), Sp. 146.

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und alle Akten nach ihrem Betreff zusammenführen könnte. Er spitzte zu: „Man muss Farbe bekennen. Nimmt man den Herkunftsgrundsatz an, dann muss man sich auch an die alte Einteilung der Registraturen halten; gibt man ihn preis, dann gerät der ganze Herkunftsgrundsatz ins Schwanken.“ Weibull betonte zum Abschluss, es sei natürlich ausgeschlossen, Einteilungen zu schaffen, die keinen Zusammenhang mit den Wirkungsäußerungen der behandelten Behörde hätten. Er distanziert sich erneut deutlich vom französischen System. Der Entstehungszweck jedes Schriftstücks müsse in jedem Fall erhalten bleiben. Doch er nahm die Zuspitzung auf, wenn er die Schlussfolgerung Fruins grundsätzlich ablehnte, dass die Archive in erster Linie dazu bestimmt seien, die Verwaltungstätigkeit widerzuspiegeln. Denn seines Erachtens seien sie dazu da, bei Bedarf von der Forschung genutzt zu werden. Trotz inhaltlicher Annäherung wurde die Unvereinbarkeit beider Perspektiven bekräftigt. Wenn Winter oder Meisner eine strikte Anwendung des Provenienzprinzips mit schematischer Rekonstruktion der ursprünglichen Registraturordnung forderten, so kamen auch Positionen ins Gespräch, die seine völlige Abschaffung nahe legten, weil es die Benutzung erschwere. So setzte sich Gerhard Enders am Schluss des bereits genannten Artikels von 1956 mit dem Vorwurf der Forschungsfeindlichkeit des Provenienzprinzips auseinander, das er vehement gegen Gerhard Schilfert28 verteidigte. Nach sowjetischem Vorbild nämlich hielt der das Provenienzprinzip für nachrangig und nannte es allein nützlich für die Verwaltungsgeschichte. Enders hielt ihm entgegen, dass es keine Ordnung der Akten nach von außen herangetragenen Gesichtspunkten geben könne, „die der historischen Forschung schlechthin zweckdienlich ist. Eine Ordnung, die Untersuchungen nach einer bestimmten Fragestellung außerordentlich bequem gestaltet, wird Forschungen mit anderer Fragestellung erschweren, wenn nicht überhaupt verhindern“. Außerdem änderten sich die historischen Fragestellungen und was heute Antworten liefere, könnte sie morgen verschließen. Schließlich exzerpiere Forschung nicht nur Zeitungsausschnitte, Referentenentwürfe und Agentenberichte sondern wolle dem Weg, den die Akten selbst gegangen sind, folgen.29 Er meinte, es sei an der Zeit, dass an die Akten wieder quellenkritische Fragen gestellt werden, damit auch ihr Inhalt verstanden wird. Diese Auseinandersetzungen führten aus politischen Gründen in eine Sackgasse und die fachliche Diskussion kam weitgehend zum Stillstand. Sie reduzierte sich auf Versuche der Einigung zwischen West und Ost für eine gemeinsame Terminologie, deren Ergebnisse 1955 und in überarbeiteter Fassung noch einmal 1960, also kurz vor dem Mauerbau, mit 190 Begriffen in den von der Staatlichen Archivverwaltung der DDR herausgegebenen Archivmitteilungen unter der gemeinsamen Autorenschaft von Heinrich Otto Meisner aus der DDR und Wolfgang Leesch aus der Bundesrepu28

Gerhard Schilfert war seit 1952 Historiker an der Humboldt Universität und gleichzeitig Mitglied im wissenschaftlichen Beirat für Geschichte im Staatssekretariat für Hochschulwesen der DDR. 29 G. Enders, Probleme des Provenienzprinzips (Anm. 12), 43.

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blik veröffentlicht wurden. Eine Einigung auf den endgültigen Text war nicht einfach und er steckt voller Kompromisse. So sind das Provenienzprinzip als Ordnungsprinzip im Archiv und die Serienbildung in der Registratur gemeinsam im Abschnitt B: Strukturtypen dargestellt. Die ausführliche Fußnote 16, die auf den Betrag von Meisner von 1955 verweist, versucht, die Gliederung des Beitrags zu erklären. Auffallend ist jedoch, dass hier wie im Aufsatz von Meisner von 1955 die inneren Ordnungsmöglichkeiten in Abgrenzung von der Provenienz als Strukturformen vorgestellt werden, wenn auch mit einzelnen Änderungen in deren Systematik. Damit wurden sie jedoch erneut im Gegensatz zu den Positionen von Brenneke und Enders von einer eigenständigen fachlichen Leistung der Archivare auf Grund wissenschaftlicher Analysen ausgenommen. Trotz verschiedener Vorstöße in die Richtung der vollständigen Ersetzung des Provenienzprinzips durch andere Verfahren, nicht zuletzt durch die Deskriptorenverzeichnung,30 hat sie sich offenbar auch wegen der Widerständigkeit des Materials nicht durchsetzen können. Sowohl die von Meisner formulierte strickte Hinwendung zu den Vorgaben der in den Herkunftsstellen gebildeten Strukturen wie die Versuche, das Provenienzprinzip durch historische Perspektiven zu ersetzen, negierten allerdings die eigenständige Analyse und Entscheidung der Archivare und die Nutzung der archivarischen Fachkompetenz. In der Konsequenz bedeuteten sie die Schließung der Akten für unerwartete, neue Fragestellungen der Benutzer. Brennekes Präzisierung des Provenienzprinzips hatte stattdessen Wege gezeigt, die Widersprüchlichkeit zwischen Forschungsfreundlichkeit und Provenienz aufzuheben, indem beides mit einander vereinbar wurde. Er übernahm nicht die Frontstellung, sondern hob den Widerspruch auf. In den Mitschriften erscheint es deutlicher formuliert als in der publizierten Archivkunde: „Wir erkennen nicht den Vorzug des französischen Dossiersystems an wie Weibull, aber wir stehen auf seiner Seite gegen die Holländer. Starre Erhaltung aller Arten von Registraturformen ist für uns nicht das Wesentliche, sondern das lebendig Funktionierende, das dahinter steckt.“31 Die Sichtbarmachung der inneren Verbindungen in den Beständen ist das übergeordnete Ziel, das sich durchaus an den Verhältnissen in der Verwaltung orientiert, doch dabei hilft, das durch die eigenen Analysen des Archivguts erarbeitete Wissen darüber mit den Benutzern zu teilen und gerade damit das Verstehen der Unterlagen für von außen kommende Forscher zu erleichtern. Allerdings war klar, dass die Aufforderung zur Herstellung einer Ordnung, „… die das Leben widerspiegelt, wie es wirklich war“,32 nicht nur größere Freiheiten gab. Dazu kamen auch eine höhere Verantwortung und neue Anforderungen an die Archi30 StAV (Hrsg.), Leitfaden für Archivare. Ratgeber für die praktische Arbeit in den Verwaltungs-, Kreis- und Stadtarchiven, Berlin 1988, 165 – 66. 31 Geschichte des Archivwesens, maschinenschriftliche Mitschrift der Vorlesungen von Adolf Brenneke, ohne Autor und Datum. Bibliothek der Archivschule Marburg, Sign.: II A 141 cp., 144. 32 A. Brenneke/W.Leesch, Archivkunde (Anm. 9), 24.

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vare, die mit der Erschließung befasst waren. Sie müssten sich mit den Behördenfunktionen auseinandersetzen und untersuchen, welche Zusammenhänge in den Akten erkennbar seien. Denn: „Wirklich gute Archivkörper aufzubauen, zählt zu den schwierigsten Dingen. Dazu gehört nicht nur Wissen, dies schlägt auch ins Gebiet der Kunst, des Nachfühlens, des lebendigen Miterlebens, wie dies ja auch für die Geschichtsforschung nötig ist.“33 III. Die Relevanz des organologischen Konzepts für das Provenienzprinzip In Brennekes Vorlesungen hieß es: „Im Gedanken des Organismus ist der entwicklungsgeschichtliche Gedanke enthalten.“34 Darauf kam es ihm an. Doch der Begriff des Organischen, zur Zeit Brennekes verbreitet als Allegorie für Formen, die der Entwicklung des Lebens ähneln, genutzt, hat anders als erwartet, ein späteres Verständnis seines fachlichen Ansatzes eher behindert. Einen Anteil daran haben sicherlich die Distanzierungsbemühungen von Wolfgang Leesch bei der Herausgabe der Archivkunde. Er betonte in einer ausführlichen Fußnote bei der ersten Nennung des Begriffs, dass die Verwendung von Ausdrücken wie „organisch gewachsen“ und „künstlich geformt“ zur Unterscheidung der beiden gegensätzlichen Gruppen von archivalischen Ordnungsformen recht unglücklich sei und zu Missverständnissen Anlass geben könnte. Interessanterweise bezog er sich auf Meisner. Der habe schon 1930 darauf hingewiesen, dass bei dieser Einteilung der Begriff „organisch“ fehl am Platze sei. 1930 findet sich jedoch keinerlei inhaltliche Distanzierung Meisners, und ebenso in dem Beitrag zur Archivarischen Berufssprache von 1934 benutzte Meisner ihn genauso, wie es Brennekes Schilderung in der Archivkunde entsprach, während er ihn später allerdings vermied.35 Auch Gerhard Enders distanzierte sich 1956, allerdings etwas differenzierter, von dem Begriff. Das Provenienzprinzip hinge nicht von Organismusbegriff ab, meinte er, „… sei es der biologische der Holländer oder der philosophische Brennekes. Man sollte nicht mit biologischen Begriffen gesellschaftliche Gegebenheiten bezeichnen. … Die Gefahr, dass bei der Verwendung der Begriffe ,organisch‘, ,organisch gewachsen‘, ,Organismus‘ mehr als ein Vergleich, ein Bild gesehen wird, dass sich abwegige Vorstellungen einschleichen, ist meines Erachtens zu groß.“36 In seiner Archivverwaltungslehre, die er zuerst 1962 und 1967 in überarbeiteter Neuauflage als Lehrbuch veröffentlichte, versuchte Enders noch deutlicher Brenneke gegen mit dem Organismus-Begriff verbundene Vorwürfe zu verteidigen. Er habe zwar den biologischen Organismusbegriff der Holländer abgelehnt, trotzdem aber die Notwendigkeit gesehen, mit der archivischen Ordnungsarbeit einen Bestand zu bilden, der Aufgaben, Aufbau und Gliederung der Herkunftsbehörde zum Ausdruck bringt, weil jede Registratur, mag sie noch 33

Geschichte des Archivwesens (Anm. 31), 153. Ebd., 155. 35 A. Brenneke/W. Leesch, Archivkunde (Anm. 9), 20; Korrespondenzblatt, wie Anm. 8, Sp. 238; H. O. Meisner, Archivarische Berufssprache (Anm. 8). 36 G. Enders, Probleme des Provenienzprinzips (Anm. 14), 42. 34

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so unvollkommen gewesen sein, dem Archivgut ihren eigenen Charakter mitgegeben habe.37 Im letzten Halbsatz war es wieder da, das Konzept des lebendigen Wachsens, das nämlich Grundlage war für die jeweils zu erkennende Individualität. Die Ablehung des Begriffs des Organischen war bei Leesch wie Enders politisch begründet. Man argumentierte nicht gegen seine Aussage, sondern gegen seine Verwendung. In den gemeinsam von Leesch und Meisner 1960 vorgelegten „Grundzügen einer Archivterminologie“ erschien der Begriff „organisch“ nicht mehr. Hier wurde vom vorarchivischen Wachstum gesprochen. Das entsprach der Reduktion der Provenienz auf die Herkunftseinheit und ignorierte die Sachgemeinschaft, die nach Brenneke zentraler Bestandteil ihrer Bestimmung gewesen wäre. Mit dem Vermeiden des Begriffs wurde auch die damit ursprünglich verknüpfte Bedeutung in der deutschen Diskussion marginalisiert, während etwa in der amerikanischen Diskussion auch heute dagegen wie selbstverständlich vom „organic groth“ des „archival body“ gesprochen wird,38 allerdings mit einer deutlich weniger präzisen Bedeutung. Der Begriff des Organischen ist zentral für Brennekes theroretisches Konzept. Er ist das Scharnier zu anderen Wissenschaften, das der Archivwissenschaft ihre wissenschaftliche Grundlage geben kann. Die biologische Analogie übertrug den Wechsel von der Betrachtung der einzelnen physischen Objekte hin zum Leben als spezifischem Gegenstand auf andere Disziplinen. Für Brenneke bedeutete es, den Blick von den Einzelstücken in den Magazinen weg und hin zum Archivgut als Gesamtheit zu lenken. Einerseits verlor das einzelne Stück aus dieser Perspektive an Brillanz und individueller Bedeutung. Es wurde jedoch gleichzeitig unverzichtbar bei der Darstellung der dahinter liegenden Abläufe und erhielt dadurch seinen jeweils ganz besonderen Stellenwert. Die Verschiedenheit der Bestände war nicht mehr Hindernis für die Arbeit sondern interessantes Forschungsfeld. Das sich neu öffnende Gelände vielfältiger und überraschender Erscheinungen konnte durch Typisierung der Formen kartierbar gemacht und nutzbar werden. Dabei änderte sich allein der Blick. Die physischen Einheiten des Schriftguts blieben unverändert wie sie waren. Allerdings eröffnete sich damit eine neue Unabhängigkeit von ihren gewohnten Formen. Das Konzept des organischen Wachstums und des darauf fußenden freien Provenienzprinzips entfaltete ein besonderes Potential bei der Entwicklung neuer methodischer Ansätze zur Aufbereitung großer ungeordneter Aktenmassen, denen sich das Amerikanische Nationalarchiv kurz nach seiner Einrichtung 1934 gegenüber sah. Zuständig für deren Archivierung war Theodore R. Schellenberg. Ernst Posner39 ver37

Gerhard Enders, Archivverwaltungslehre, Berlin 1967, 111. Anne Gilliland bezeichnet etwa die „organic nature of records“ als eine der unverzichtbaren Prämissen archivarischer Arbeit. Anne J. Gilliland-Swetland, Enduring Paradigme, New Opportunities: The Value for the Archival perspective in the Digital Environment, Washington 2000, 10. 39 Angelika Menne-Haritz, Ernst Posner. Professionalität und Emigration, in: Sven Kriese (Hrsg), Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die Preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 12). Berlin 2015 [im Druck]. 38

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sorgte ihn, der in seiner menonitischen Familie noch deutsch sprach, seit seiner ersten Reise in die USA 1938 und vor allem nach seiner Emigration mit Literatur und Ideen aus Deutschland. Grundlage für das Interesse daran und ihre Wirksamkeit in den USA waren die weiter zurück reichenden Bemühungen Waldo G. Lellands,40 der seit seinem Besuch des Brüsseler Archivkongresses 1910 die Übernahme des Provenienzprinzips für ein professionelles Archivwesen in den USA propagierte und wesentlichen Anteil an der Errichtung des Nationalarchivs hatte. Schellenberg entwickelte in zahlreichen Broschüren sowie in seinem Handbuch für die australischen Archivare „Modern Archives“41 vor allem zwei Unterscheidungen des Provenienzprinzips weiter. Er brachte die in der deutschen Diskussion als Widerspruch zwischen Verwaltungsinteresse und Forschungsfreundlichkeit kaum zu vereinbarenden Ziele auf den Begriff von zwei zeitlich auf einander folgenden Stadien für die gleiche physische Einheit, dem Stadium des primary value bei der Entstehung in der Verwaltung und dem des secondary value bei der Auswertung im Archiv einschließlich des Einblicks in den primary value. Damit standen zwei Perspektiven gleichberechtigt neben einander, allerdings getrennt durch eine Grenze, die eine Übernahme der Akten in das Archiv an das Erlöschen des Primärinteresses koppelte und damit die Eigenständigkeit des Archivs betonte. Eine weitere Nutzung der Unterlagen durch die Verwaltung, etwa als Reservoir eigener Erfahrungen, war dann vergleichbar mit der Nutzung für die Forschung und konnte mit den gleichen Arbeitsmethoden vorbereitet werden. Bedeutete der Primärwert eine Schließung der Akten nach außen während ihrer Entstehung und Nutzung als interne Arbeitsinstrumente für die kooperative Erledigung von Aufgaben, erhielt der Sekundärwert seine Funktion durch ihre anschließende Öffnung nach außen für Dritte.42 Damit wurde das Archiv gleichzeitig auf die Bereitstellung und Herstellung der Benutzbarkeit der Akten fokussiert, der die Aufbewahrung und Erschließung nachgeordnet wurden.43

40 Peter J. Wash, Here’s Waldo. Leland and the Creation of an American Archival Culture, in: The American Archivist, Online Supplement, Founding Brothers: Leland, Buck, and Cappon and the Formation of the Archives Profession, in: The American Archivist, Vol. 74 (2011/Supplement): 404:1 – 27, URL: http://www2.archivists.org/sites/all/files/AAOSv074-Ses sion404.pdf. 41 Theodore R. Schellenberg, Modern Archives. Principles and Techniques, Chicago 1957, mehrere Reprints, URL: http://www.archivists.org/publications/epubs/ModernArchives-Schel lenberg.pdf. 42 Angelika Menne-Haritz, Schließung und Öffnung der Verwaltungsentscheidung: Funktionen schriftlicher Aufzeichnungen in der Verwaltung, in: Soziale Systeme 5 (1999), 137 – 158. 43 Wie sehr diese Aufgabe des Vorrangs für die physische Einheit die traditionelle Sicht schockierte, zeigte Hillary Jenkinsons Reaktion, der in einer Rezension von Schellenbergs „Modern Archives“ mit einer Portion britischem Humors schrieb: „The fact that a thing may be used for purposes, for which it was not intended – a hat for instance for the production of a rabbit – is not a part of its nature and should not, I submit, be made an element in its definition, though it it may reasonably affect its treatement.“ In: Journal of the Society of Archivists 1 (1957), 147.

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Die zweite Unterscheidung, die Schellenberg formulierte, war ebenfalls eine Präzisierung, die einen zuvor unlösbaren Widerspruch handhabbar machte. Er unterschied zwischen dem Evidenzwert und dem Informationswert der Akten. Die Information der Akten umfasst danach alles, was an Mitteilungen in ihnen vorhanden war, sei es an einzelne Personen oder an Gruppen gerichtet, sei es in Aktenvermerken, formlosen Notizen oder Berichten an vorgesetzte Stellen. Die Evidenz, als Begriff im amerikanischen Kontext stark juristisch konnotiert, war ein etwas schwierigerer und in diesem Zusammenhang ungewohnter Begriff, was sich besonders bei der Übersetzung seines Buchs durch Georg Winter mit Unterstützung durch Ernst Posner zeigte, die sich, wenn auch zögernd, auf den deutschen Begriff des Beweises als Entsprechung für das englische evidence einigten.44 Doch Schellenberg meinte Sichtbarkeit, die im Deutschen eher mit dem Adjektiv evident ausgedrückt wird. Etwas ist evident, es liegt also auf der Hand. Schellenberg hatte den Begriff direkt von Brenneke als englische Version der Sichtbarkeit übernommen. In einem fast wörtlichen Zitat aus Brennekes Archivkunde, jedoch mit unklarem Bezug, beschrieb er als Ziel der Archivierung das Sichtbarmachen der ursprünglichen Zusammenhänge in der Form der Bestände, selbst wenn die Akten zuvor nie in dieser Form gewesen sind. Evidenz bedeutete ihm die Sichtbarkeit des in den Akten repräsentierten Lebens. In Schellenbergs Situation war dieser Satz eine praktische Handlungsanleitung, weil die Aktenmassen, die er ins Nationalarchiv übernommen hatte, keine ursprüngliche Ordnung hatten und keine andere Vorgehensweise erlaubten. Das Nachdenken über seine Verfahren für die Lehrveranstaltungen, die er zusammen mit Ernst Posner in Washington oder später in Australien abhielt, schärfte sicherlich die Präzision der Formulierung. Mit dem Begriff der Evidenz wurde die Sichtbarkeit von einem sehenden Subjekt unabhängig und konstituierte eine Beobachtung von außen als Relation. Sie beendete zusammen mit einer Offenlegung der inneren Zusammenhänge zuverlässig deren weitere Entstehung oder Veränderung als ihre eigene Voraussetzung. Das Zusammenspiel von Evidenz und Informationen machte für Schellenberg das Archivgut aus. Es erlaubte, die in den Unterlagen vorhandene Information zweckgebunden zu sehen und einzuordnen. Indem Schellenberg beides, die Entstehung selbst und die Sichtbarkeit der Entstehung auf den Begriff brachte, löste er den Widerspruch, der im Bereich des Primärwertes die gleichzeitige Beeinflussung beider Seiten unmöglich machte, für die Sphäre des Sekundärwertes auf und machte ihn nutzbar. Dieser Schritt formulierte erneut die eigene Verantwortung der Archivare gegenüber dem Archivgut und befreiten sie aus der Funktion als Hüter oder Kustoden des Schriftguts, ohne andererseits in die Abhängigkeit von aktuellen, individuellen Forschungsinteressen zu geraten. Die Erhaltung der physischen Einheit in ihrer Form bei Beendigung des Primärzwecks erhielt neben Ordnung und Erschließung den Platz 44 Angelika Menne-Haritz, Der Reiter über den Bodensee. Georg Winter und die Übersetzung von Theodore R. Schellenbergs „Modern Archives“, in: Irmgard Becker e.a. (Hrsg.), Archiv – Recht – Geschichte. Festschrift für Rainer Polley, Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 59, Marburg 2014, 159 – 193; T. R. Schellenberg (Anm. 14), S. 14.

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eines zentralen Gegenstandes der Archivierung45. Denn nur die physische Erhaltung in der Form des Archivguts, die es bei der Übernahme ins Archiv hat, sichert seine gleichbleibende Evidenz und hält das Fenster zu dem in den Materialien vorhandenen Leben auf Dauer geöffnet. So verstanden, öffnet die Archivwissenschaft die Verwaltung in Aktion, um aus ihren eigenen Beobachtungen Schlüsse für die Ordnung der Akten zu ziehen. Genauso könnten die Beobachtungen auch der Verwaltung selbst nützen als eigene Erfahrungen, wenn sie effiziente Formen für eine ergebnisoffene interne Kommunikation sucht. Ein archivisches Analyseinstrumentarium könnte ihr dabei einen Vorrat an Formen einschließlich der Kenntnis ihrer Funktionen und Wirkungen auf die Kommunikation bereitstellen. Die Archive würden sich jedoch übernehmen, wenn sie der Verwaltung Anleitungen und Regelungen vorgeben oder sich als Records Manager betätigen wollten. Sie sind entweder integriert in den Bereich der Primärzwecke oder sie bereiten deren Spuren für die Sekundärzwecke auf, einschließlich der Evidenz der ursprünglichen Entstehung. Beide Seiten sind in den physischen Einheiten, den Akten vorhanden. Die Grenzen zwischen ihnen sind zwar für eine nachträgliche Beobachtung überwindbar, nicht aber für operative Handlungen. IV. Das Provenienzprinzip heute In der Brennekeschen Sicht umfasst das Provenienzprinzip die vollständige Verwaltungsarbeit, deren Teil die Registraturen sind. Die Verwaltungsarbeit lässt das Schriftgut so entstehen, wie es aktuelle Probleme lösen hilft. Ihre wesentliche Arbeitsform ist die gemeinschaftliche Produktion von Entscheidungen für offene Probleme, die entsprechend ihrem vordefinierten Aufgabenkreis von außen an sie herangetragen werden und deren Lösungen wiederum nach außen abgegeben werden. Organisatorische Strukturen und vorbestimmte Kommunikationsformen für den internen Gebrauch sichern die Verstehbarkeit innerhalb der Organisation. Die Form der Arbeit auf der Grundlage von Geschäftsordnungen und mit den in ihnen vorgegebenen Kürzeln unter Verwendung reduzierter Mitteilungsformen war ein Beispiel der Nutzung einer speziellen Prozessform, die deshalb gut untersucht werden kann, weil sie auf Papier stabilisierte Spuren hinterließ. Dabei hat die Reduktion des Vorrats an Mitteilungsformen die Präzision der internen Mitteilungen gerade in der Organisation der weiteren Schritte erhöht. Das ist besonders gut sichtbar in den Akten der Preußischen Verwaltung aus dem späten 19. Jh. und der Zeit vor der Büroreform der 20. Jahre. Hier entstand der Idealtypus des Vorgangs, den Brenneke offensichtlich vor Augen hatte und der es ermöglichte, die innere Funktionsweise der Entscheidungsfindung deutlich zu sehen. Er nutzte auf die Papiere gesetzte und schrittweise abgezeichnete interne Verfügungen, die einen sehr begrenzten Formenapparat nach Vorgabe der Geschäftsordnungen verwendeten. Damit war eine von 45 Hartmut Weber, Bestandserhaltung als Fach- und Führungsaufgabe in: Hartmut Weber (Hrsg.), Bestandserhaltung in Archiven und Bibliotheken, Stuttgart 1992, 135 – 155.

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dem verbalen Austausch über die zu lösenden Probleme unabhängige non-verbale, trotzdem aber stabilisierte und retentionsfähige Kommunikation über den Vorgang selbst möglich. Bei einem Blick in die Akten erkannte man gleich, was in der Sache bereits geschehen war und konnte so den Prozess, auch nach einer Pause wieder aufnehmen und weitere Schritte planen. Die Trennung der Kommunikationen über die Sache in sprachlicher Form von denjenigen über den Ablauf der Lösungsfindung mit einem eigenen, nichtsprachlichen und eng begrenzten Zeichenvorrat, war ein enormes Rationalisierungsmittel. Sie setzte die Verwaltung instand, verteilte Fachkompetenz in die einzelne Lösungsentwicklung für inhaltlich immer wieder neue, überraschend auftauchende Probleme zu integrieren. Sie förderte die Sachorientierung und einen effizienten Ressourceneinsatz einschließlich der unproblematischen Ausblendung persönlicher Befindlichkeiten von Beteiligten46 innerhalb des Prozesses. Die Stabilität und Retentionsfähigkeit der prozesskonstituierenden Vermerke machten die prozessintern zur Verfügung stehende Zeit handhabbar und erleichterte die Abstimmung mit externen Terminanforderungen. Schließlich modifizierten im Zuge der Herausbildung dieser Form der kooperativen Entscheidungsfindung auch die Registraturen ihre Aufgaben: aus der Verwahrung und Verwaltung der Aufzeichnungen wurde eine Logistikzentrale zur Umsetzung der Verfügungen durch Zustellung der Akten an die jeweils nächste Station, also zur Prozesskontrolle mit der Konzentration auf die Form des Prozesses ohne Ansehen der im einzelnen behandelten Probleme, die in der Verantwortung der Sachbearbeitung standen.47 Die Trennung zwischen Sachkommunikation und Prozesskommunikation fand nicht erst mit der Nutzung der Vorgangsform statt. Sie geschah und geschieht in jeder Gremiumssitzung, wenn ein Tagesordnungspunkt aufgerufen und diskutiert wird. In der preußischen Verwaltung war sie ein Erbe der Kollegialität, die sich erst nach der Einführung von Zuständigkeiten allmählich verschriftlichte. In Gremiensitzungen findet ebenfalls eine non-verbale Kommunikation über Anschlüsse und Erwartungen der Beiträge etwa mit Mimik, Gestik und Körperhaltung statt, wodurch ebenfalls eine von der äußeren Zeit abgekoppelte innere Zeit entsteht, deren Synchronisierung mit der externen Zeit manchmal schwierig wird. Doch wird diese kooperative Steuerung durch non-verbale Kommunikation in der Regel nur unbewusst wahrgenommen, weil man sich auf die Sache konzentriert. Sie ist genauso flüchtig 46 In der Sprache der Systemtheorie geschah das nicht zuletzt durch weitestgehende Reduktion der doppelten Kontingenz, die erreicht wurde durch den Ersatz verbaler Mitteilung mit bildhaften Zeichen oder das Layout auf den Seiten auf den einen Seite und auf der anderen Seite durch die Konstituierung der Adressaten auf Grund der Verteilung von Zuständigkeiten im Organisationsaufbau. 47 Dieser Funktionswandel ging den Bemühungen der Büroreform in den 20er Jahren voraus, die Registraturen gänzlich abzuschaffen und durch Sachbearbeiterablagen zu ersetzen. Damit wurden jedoch diese Ansätze zur Selbstorganisation, einschließlich der Vorgangsform inmitten hierarchischer Organisationen ausgebremst. Vgl. Angelika Menne-Haritz, Geschäftsprozesse in der öffentlichen Verwaltung. Grundlagen für ein Referenzmodell für Elektronische Bürosysteme. Schriftenreihe Verwaltungsinformatik 19, Heidelberg 1999, bes. 133 – 180.

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wie die Äußerungen selbst und nicht retentionsfähig, trotzdem gehört sie notwendig dazu. Stabile Schriftlichkeit in kollegialen Formen sichert meist die Fokussierung der Debatte mithilfe der Tageordnung und ihr Ergebnis mit dem Protokoll. Beides repräsentiert jedoch nicht die innere Sicht auf den Prozess, sondern nur eine von außen kommende Beobachtung. Das Leben der Debatte selbst ist nach Übergang zum nächsten Tageordnungspunkt vergangen und wird von den Beteiligten meist unterschiedlich erinnert. Gremiendiskussionen können Kreativität in Gang setzen. Doch als Form der Entscheidungsfindung haben sie erhebliche Nachteile bei der Verarbeitung höherer Komplexität der Probleme, bei der Nutzung von Fachkompetenz für die Lösungsfindung und bei der Umsetzung der Ergebnisse. Allerdings haben sie politisch oft gern gesehene Wirkungen wie die Integration der Beteiligten in die Entscheidung, auch wenn sie nicht zugestimmt haben oder die mangelnde Retentionsfähigkeit als Ausschluss nicht Anwesender sowie die Sicherung von Geheimhaltung.48 Das Archivgut aus einer Verwaltung, die ihre Arbeit vorwiegend in Gremiensitzungen erledigt, zeigt sich typischerweise in der Form von Protokollen und den eventuell getrennt davon abgelegten, zeitlich den Sitzungsterminen zugeordneten Vorlagen. In diesem Material finden sich selten Sachgemeinschaften. In ihnen steckt kaum etwas von den Bedingungen des organischen Wachstums, die Brenneke als Voraussetzung für die Bildung von offen einsehbaren Archivkörpern annahm. Für die Erschließung ist es trotzdem interessant, auf Spuren der Entstehungszwecke zu achten und die vorhandenen Zusammenhänge bei der Gestaltung der Findmittel zu berücksichtigen. Die vorgangsförmige Aufgabenerledigung und die auf Gremien gestützte Verwaltung repräsentieren zwei Typen von Entscheidungsprozessen, zwischen denen sich vielfältige Kombinationen finden lassen. Sie zeigen, dass es eine Relation zwischen der Form der Entscheidungsfindung und der Form der dabei entstehenden Unterlagen gibt. Entscheidungsprozesse kommunizieren intern über die zu behandelnden Sachen genauso wie über den Prozess selbst und seine Fortsetzung. Und sie nutzen für die eigene fortlaufende Konstitution neben der Weiterentwicklung des Problems und seiner Lösung Mündlichkeit und Schriftlichkeit in unterschiedlichem Ausmaß. Die Auswahl des Mediums geschieht nach der erwarteten Wirksamkeit für die verfolgten Zwecke der Entscheidungsfindung, also nach aktuellem Bedarf, nicht mit Blick auf eine spätere Nachvollziehbarkeit. Je mehr Schriftlichkeit jedoch für die intern genutzte, retentionsfähige Konstituierung des Prozesses selbst zum Bezug auf seine eigene interne Vergangenheit neben der Behandlung der Sache eingesetzt wird, um so effizienter kann die Verwaltung ihre Aufgaben erledigen und um so mehr Spuren hinterlässt der Prozess aus seiner Entstehung und seinem Ablauf. Und seine Sachorientierung zeigt sich in einer konzentrierten Widergabe seiner Schritte wie seiner Inhalte in der dabei entstandenen Akte. 48 Angelika Menne-Haritz, Herrschaftsdokumente der SED nach 1989/90 in Deutschland. Strukturelles Vergessen und seine Aufhebung durch Archivierung, in: Albrecht von Kalnein/ Carmen Everts, Zeitenwende und Gedächtnis. Epochenumbrüche, Aktenzugang und Geschichtsbilder im Vergleich, Tagungsband [im Druck].

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Der Begriff des Vorgangs repräsentiert selbst die zwei Seiten des Prozesses, indem er sowohl den Prozess als auch die dabei entstehenden Akten bezeichnet, beides eindeutig, nie aber gleichzeitig. Je nach Kontext wird eine Seite seiner Bedeutung ausgeblendet.49 Und so sind nach Abschluss des Prozesses aus seiner Sicht die dabei entstandenen Aufzeichnungen wertloses Altpapier. Doch aus der Sicht, die wissen will, was getan wurde und warum, sind sie so aussagekräftig wie kaum eine andere Aktenform. Die papiernen Vorgänge zeigen tatsächlich das von Brenneke so bezeichnete pulsierende Leben, das etwa in Protokollen weitgehend versteckt ist. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Konzept Brennekes vom freien Provenienzprinzip den Weg geöffnet hat zu einer modernen Sicht auf das Archivgut. In den drei geschilderten kontroversen Feldern hat sich seine Sicht als eine ganzheitliche Perspektive herausgestellt. Sie kann sowohl die Herkunftsgemeinschaft der Bestände wie auch ihre innere Prägung durch die jeweils eigenen Bedingungen der Entstehung erklären. Sie liefert die Wege zur Verknüpfung der zunächst als gegensätzlich gesehenen Vorzüge für die Verwaltung oder für die Forschung, indem sie nach Erledigung des ursprünglichen Entstehungszwecks nicht nur die Aufzeichnungen sondern vielmehr die vollständigen Kommunikationsereignisse, die zur gemeinschaftlichen Lösung eines Problems entstanden, deren Inhalte sowie deren Abfolge samt ihrer prozesshaften Verknüpfungen für Forschung und Verwaltung nutzbar macht. Und schließlich hat sie mit dem für die beschriebenen Kontroversen zentralen Begriff des Organischen am Beispiel des natürlichen Lebens ein Modell für eine zusammenfassende Erklärung der Verbindungen zwischen den Einheiten, die Entstehung neuer Elemente auf der Grundlage vorausgegangener Ereignisse und die jeweils neue Individualität der Erscheinungen trotz typisierbarer Formen gefunden. Für diese Art von Erscheinungen wird in der Kommunikationstheorie der modernen Soziologie oft der Begriff der Emergenz genutzt, um zu erklären, wie Ereignisse in einem nicht vorhersehbaren Kommunikationsprozess aneinander anschließen. Emergenz wird definiert als „… eine sich aus sich selbst konstituierende Sequenz von Ereignissen mit stets sich wandelnden ereignishaften Gegenwarten“.50 Die einzelnen Operationen der Beteiligten sind es selbst, die die Abfolge entstehen lassen. Das Kontinuum wird immer wieder neu hergestellt. Die Ereignisse sind untereinander zu einem Prozess verbunden, der sich in steten Bezug zur eigenen internen Vergangenheit organsiert und konstituiert, indem neue Ereignisse abhängig von den vorausgegangenen sind und selbst die Voraussetzungen für weitere Ereignisse schaffen. Das berührt jedoch allein in die Tatsache, dass sie entstehen, nicht ihren sachlichen Beitrag zum Inhalt der Kommunikationen. Für die Zukunft der Archivwissenschaft wird es wichtig sein, die modernen Konzepte der Archivwissenschaft zu nutzen, um die Funktionen elektronischer Kommu49

Angelika Menne-Haritz, Was ist der Vorgang und was steckt dahinter? Paradoxien im Entscheidungsprozess der Verwaltung, Speyerer Vorträge 49 (1999). 50 Armin Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Opladen 1993, 114.

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nikationen in den Entscheidungsprozessen der Verwaltung besser zu verstehen. Wie kann mit elektronischen Formen die Prozesshaftigkeit von Entscheidungen unterstützt werden? Oder führt ihr Einsatz zu Entscheidungsformen, die ihre Prozesshaftigtkeit vielleicht anders unterstützen oder eventuell ganz vermeiden? Sind emergente Prozesse in elektronischer Form möglich oder sind die Prozesse in jedem Fall durch die genutzte Software vorherdefiniert? Stellen sich neue Formen von Aufzeichnungen heraus, die eine Prozesskonstitution mit Informationsübermittlung verbinden können? Wie würden solche Verfahren mit der Komplexität der von der Verwaltung zu lösenden Probleme umgehen können? Margret Hedstrom sprach vor Jahren von den digitalen Inkunablen51 um anzudeuten, dass elektronische Aufzeichnungsformen noch in ihren allerersten Anfangsstadien stehen. Sind Nachrichten oder E-Mails, PDF-Versionen, Mitteilungen über Blogs oder Kommunikationen in sozialen Netzwerken vielleicht immer noch solche Anfangsstadien? Die Archivwissenschaft verfügt mit den vielfältigen Überlegungen aus den letzten hundert Jahren über einen Theoriefundus, den man nutzen kann. Von großer Bedeutung wären Fortsetzungen der begonnenen Typisierungen vorfindbarer historischer und aktueller Entscheidungsformen in der Verwaltung sowie des Gebrauchs von stabilisierten, während der Prozesse retentionsfähigen Aufzeichnungen. Sie in einer anschließend nutzbaren Form zu erhalten würde auch in elektronischen Umgebungen die Evidenz, also die Sichtbarkeit der Prozesse oder, politischer ausgedrückt, die Nachvollziehbarkeit und Transparenz der Verwaltung sichern. Gleichzeitig sollten die archivischen Verfahren so weiterentwickelt werden, dass sie ein Höchstmaß an Evidenz über die tatsächlichen Abläufe einschließlich ihrer Nutzung von elektronischen Kommunikationsmedien liefern können. Dann bleiben das Archivgut und damit auch das Archivwesen auch in Zukunft nützlich.

51 Margaret Hedstrom, Understanding electronic incunabula: a framework for research on electronic records, in: The American Archivist 54 no. 3 (1991), 334 – 354.

Schriftenverzeichnis Jürgen Kloosterhuis 1972 – 2015 Bearbeitet von Mario H. Müller, Chemnitz 1972 1. Cäsars Legionen im Gallischen Krieg (58 – 51 v. Chr.), in: Zinnfigur 21 (1972), 1 – 7, 30 – 34, 61 – 66.

1975 2. Stadt und Land Coburg im Siebenjährigen Krieg, in: Zinnfigur 24 (1975), 231 – 232, 249 – 250.

1981 3. Deutsche auswärtige Kulturpolitik und ihre Trägergruppen vor dem Ersten Weltkrieg, in: Kurt Düwell/Werner Link (Hrsg.), Deutsche auswärtige Kulturpolitik seit 1871. Geschichte und Struktur, Köln/Wien 1981, 7 – 36.

1983 4. „… an villen Orteren von allerseidtz Kriegsvolck verdorben“. Die Folgen des Spanisch-Niederländischen Krieges (1566 – 1609) für die Grafschaft Mark, in: Märker 32 (1983), 125 – 132, 162 – 173, 200 – 211.

1984 5. Die Bestände des Nordrhein-Westfälischen Staatsarchivs Münster. Kurzübersicht, erweiterte Neubearbeitung, 2. Aufl. bearb. von Hans-Joachim Behr/Jürgen Kloosterhuis Münster 1984; desgl. 3. Aufl. Münster 1990. 6. Im Spannungsfeld von Form und Inhalt. Herkömmliche Erschließung von Archivalien in der Bundesrepublik Deutschland, in: Archivpflege in Westfalen und Lippe 21 (1984), 11 – 15.

1985 7. Leibeigenschaft und Marktwirtschaft. Archivalien und Dokumente zur Gladbecker Geschichte aus dem Staatsarchiv Münster, Gladbeck 1985. 8. Vom Schnittpunkt ins Abseits. Die Samtstadt Lippstadt im Spiegel der kleve-märkischen und älteren brandenburg-preußischen Überlieferung, in: Archivpflege in Westfalen und Lippe 23 (1985), 7 – 29.

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Schriftenverzeichnis Jürgen Kloosterhuis

1986 9.

Kleve-Märkische Regierung, Landessachen. Findbuch, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Bd. 1: Sachtitelverzeichnung; Bd. 2: Spezialverzeichnung, Index und Konkordanz, Münster 1985 – 1986.

10. Fürsten, Räte, Untertanen. Die Grafschaft Mark, ihre lokalen Verwaltungsorganisation und die Regierung zu Kleve, in: Märker 35 (1986), 3 – 25, 76 – 87, 104 – 117, 147 – 164. 11. Nur „kleiner Krieg“. Der Frühjahrsfeldzug in Mähren 1742 nach Berichten preußischer Soldaten, in: Zinnfigur 34 (1986), 38 – 43, 66 – 61, 102 – 122.

1987 12. Zum Kennenlernen des Waffenbruders. Initiativen zur Vermittlung türkischer Kultur in Deutschland von 1914 bis 1918 durch Auslandsvereine, in: Klaus Kreiser (Hrsg.), Germano Turcica. Zur Geschichte des Türkisch-Lernens in den deutschsprachigen Ländern, Bamberg 1987, 101 – 107. 13. Kommunalwirtschaft des Provinzialverbandes Westfalen. Kanalbauten von 1893 bis 1906 als Mittel westfälischer Integrationspolitik, in: Karl Teppe (Hrsg.), Selbstverwaltungsprinzip und Herrschaftsordnung. Bilanz und Perspektiven landschaftlicher Selbstverwaltung in Westfalen, Münster 1987, 189 – 208. 14. „Territoriale Zugehörigkeiten“, in: Götz Bettge (Hrsg.), Iserlohn-Lexikon, Iserlohn 1987, 27 – 46. 15. „Steuer, Abgaben, Zölle“, in: Ebd., 79 – 85. 16. „Militär und Paramilitär“, in: Ebd., 458 – 468. 17. „Im Krieg verhieß das Läuten der Glocken nichts Gutes“, in: Hermine von Hagen/HansJoachim Behr (Hrsg.:), Bilderbogen der westfälischen Bauerngeschichte, Bd. 1, Münster 1987, 83 – 86. 18. „Fuhren und Fouragen im Siebenjährigen Krieg“, in: Ebd., 114 – 118. 19. „Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Armee“, in: Ebd., 258 – 260. 20. „Als preußische Soldaten hatten die Bauern einen besseren Stand“, in: Ebd., 261 – 263. 21. Iserlohn im Spiegel der Märkischen Register, in: Märker 36 (1987), 225 – 242.

1988 22. Rheinisch-Westfälische Quellen in französischen Archiven. Teil II: Karthographische Quellen bis zur Napoleonischen Zeit, bearb. von Jürgen Kloosterhuis/Ursula Schnorbus/ Reinhard Strecke, Detmold 1988. 23. Zwischen Hamm und Potsdam. Ausgewählter Nachdruck der „Charakterzüge und historischen Fragmente aus dem Leben des Königs von Preußen Friedrich Wilhelm III.“ von Rulemann Friedrich Eylert, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Paderborn 1988. 24. „Terra et dominio comitis de Marka“. Die Auswirkungen der Schlacht bei Worringen auf die Grafschaft Mark, in: Werner Schäfke (Hrsg.), Der Name der Freiheit 1288 – 1988. Aspekte Kölner Geschichte von Worringen bis heute, Köln 1988, 267 – 274.

Schriftenverzeichnis Jürgen Kloosterhuis

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25. Fürsten, Vögte, Hofesleute. Das Eigengericht Herbede im Rahmen der märkischen Lokalverwaltung, in: Bruno J. Sobottka (Hrsg.), Haus Herbede in Witten. Umfeld, Denkmal, Bedeutung, Witten 1988, 117 – 179. 26. „Soldaten aus Westfalen für Napoleons Kriegszüge“, in: Hermine von Hagen/Hans-Joachim Behr (Hrsg.), Bilderbogen der westfälischen Bauerngeschichte, Bd. 2, Münster 1988, 23 – 26. 27. „Jeder junge Mann mußte zu den ,Preußen‘“, in: Ebd., 44 – 47. 28. Der König kam nach Altena. Ausstellung des Kreisarchivs des Märkischen Kreises zur Erinnerung an den Besuch Friedrich Wilhelms II. in Altena vor 200 Jahren, in: Märker 37 (1988), 176 – 177.

1989 29. Zwischen Schwert und Pflugschar. Ausgewählter Nachdruck der „Atzendorfer Chronik“ von Samuel Benedikt Carstedt, bearb. von Eduard Stegemann, ausgewählt und eingeleitet von Jürgen Kloosterhuis, Paderborn 1989. 30. Westfalen-Preußen-Guestphalia. Die Beamten- und Pfarrerfamilien des preußischen Westfalen als gemeinschaftsbildende Faktoren der ersten Guestphalen-Kränzchen, in: Westphalen-Verein e. V. Halle/Saale (Hrsg.), 200 Jahre Corps Guestphalia Halle zu Münster, Münster 1989, 37 – 58. 31. „Symbolum: Grün, Schwarz, Weiß“. Quellen zur Geschichte der Guestphalen-Kränzchen in Halle und Erlangen, in: Ebd., 95 – 153.

1990 32. Zwischen Corps und Progress. Stichdaten zur Geschichte der Landsmannschaft im CC Neoborussia Halle zu Freiburg von 1849 bis 1872, Münster 1990. 33. Leichte Kavallerie „von besonderer Art“. Das Regiment Chevau Légers (27. Regiment Chasseurs à Cheval) unter dem Regiment des Herzogs Prosper Louis von Arenberg, in: Franz-Josef Heyen/Hans-Joachim Behr (Hrsg.), Die Arenberger. Geschichte einer europäischen Dynastie, Bd. 2: Die Arenberger in Westfalen und im Emsland, Koblenz 1990, 77 – 94. 34. Köln, Mark und St. Pankratius. Die politischen Beziehungen zwischen den Kölner Erzbischöfen und den Grafen von der Mark aus sakraler Sicht, in: Ferdinand Seibt/Gudrun Gleba/Heinrich Theodor Grütter/Herbert Lorenz/Jürgen Müller/Ludger Tewes (Hrsg.), Vergessene Zeiten. Mittelalter im Ruhrgebiet, Bd. 2, Essen 1990, 44 – 50. 35. Mark, Grafen von der, in: Neue Deutsche Biographie, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 16, Berlin 1990, 219 – 222.

1992 36. Bauern, Bürger und Soldaten. Quellen zur Sozialisation des Militärsystems im preußischen Westfalen, 1713 – 1803, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Bd. 1: Regesten, Bd. 2: Listen, Münster 1992. 37. Joachim Hans von Zieten, Husarengeneral. Ausgewählter Nachdruck der „Lebensbeschreibung Hans Joachims von Zieten, Kgl. Preußischen Generals der Kavallerie“, hrsg. von Louise Johanne Leopoldine von Blumenthal, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Paderborn 1992.

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38. Schwarz-Weiß-Grüne Landgemeinden. Senden und seine Verwaltung in der preußischen Provinz Westfalen, 1815 – 1914, in: Werner Frese/Christian Wermert (Hrsg.), Senden. Eine Geschichte der Gemeinde Senden mit Bösensell, Ottmarsbocholt, Venne, Senden 1992, 395 – 454. 39. Fürsten, Drosten, Amtsplakate. Untersuchungen zum „Klevischen Kanzleigebrauch“ des 16. Jahrhunderts, besonders am Beispiel Lünener Amtmannsbestallungen, in: Märker 41 (1992), 51 – 63, 112 – 126, 169 – 178.

1993 40. Freundschaften – Heiraten – Erbschaften. Die Brandenburger als Landesherren am Niederrhein und in Westfalen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Brandenburg, Rheinland, Westfalen. Historische Dokumente einer wechselseitigen Beziehung, Düsseldorf/Potsdam 1993, 33 – 39. 41. Militär, in: Nordrhein-Westfalen. Landesgeschichte im Lexikon, Düsseldorf 1993, 291 – 297.

1994 42. „Friedliche Imperialisten“. Deutsche Auslandsvereine und auswärtige Kulturpolitik, 1906 – 1918, 2 Bde., Bern/Frankfurt am Main 1993. 43. Ludwig Freiherr Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen, hrsg. von Hans Joachim Behr/Jürgen Kloosterhuis, Münster 1994. 44. „Westfaleneid“ und „Peines de Coeur“ – Vorgaben für Vinckes Landratsamt, in: Ebd., 19 – 34. 45. Aus Tagebuch und Aktenbänden – Schlüsseltexte von und über Vincke, in: Ebd., 537 – 728. 46. Vom Knabenbild zur Beamtenikone – Vincke-Porträts und Denkmäler, in: Ebd., 729 – 770. 47. Akteneditionen und Bewertungsfragen, in: Andrea Wettman (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung. Beiträge eines archivwissenschaftlichen Kolloquiums, Marburg 1994, 159 – 179. 48. Der „Klevische Kanzleigebrauch“. Beiträge zur Aktenkunde einer Fürstenkanzlei des 16. Jahrhunderts, in: Archiv für Diplomatik 40 (1994), 253 – 334.

1995 49. Index Märkische Register, Landessachen. Findbuch, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Münster 1995. 50. Soest und das Réfugié-Regiment de Varenne, 1686 – 1702, in: Soest. Geschichte der Stadt, Bd. 3: Zwischen Bürgerstolz und Fürstenstaat. Soest in der frühen Neuzeit, hrsg. von Ellen Widder, Soest 1995, 883 – 904. 51. Das preußische Offizierkorps von 1690 bis 1790 – in einer Datenbank, in: Zeitschrift für Heereskunde 49 (1995), 137. 52. Officiers, Cadets et Mousquetaires: Réfugiés in kurbrandenburgischen Diensten. Ein Beitrag zur Geschichte des Regiments de Varenne; zugleich zu den westfälischen Wurzeln des späteren Ersten Garderegiments zu Fuß, in: Zeitschrift für Heereskunde 49 (1995), 128 – 136.

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1996 53. Aus der Arbeit des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, hrsg. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 1996. 54. Zwischen Aufruhr und Akzeptanz. Zur Ausformung und Einbettung des Kantonsystems in die Wirtschafts- und Sozialstrukturen des preußischen Westfalen, in: Bernhard R. Kroener/ Ralf Pröve (Hrsg.), Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, München/Paderborn /Wien/Zürich 1996, 167 – 190. 55. Von Wesel nach Breslau und Minden. Fridericianische Militärpolitik an der Peripherie im Zusammenhang preußischer Staatsraison, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century. Transactions of the Ninth International Congress on the Enlightenment, Oxford 1996, 1379 – 1383. 56. Zwischen Garbeck und Lobositz. Ein westfälisch-märkischer Beitrag zur militärischen Sozial- und Ereignisgeschichte zur Zeit Friedrichs des Großen, in: Märker (45) 1996, 84 – 97.

1998 57. Preußisch Dienen und Genießen. Die Lebenszeiterzählung des Ministerialrats Dr. Herbert du Mesnil, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Köln/Weimar/Wien 1998. 58. „Vivat et res publica“. Staats- und volksloyale Verhaltensmuster bei waffenstudentischen Korporationstypen, in: Harm-Hinrich Brandt/Matthias Stickler (Hrsg.), „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens, Würzburg 1998, 249 – 271. 59. Entzifferung von „Couleur-Hieroglyphen“. Zur korporationsgeschichtlichen Auswertung eines Stammbuchs und eines Bilderalbums aus dem Umkreis der Hallenser Neoborussia, ca. 1855/56, in: Einst und Jetzt 43 (1998), 105 – 134.

1999 60. Neupreußen-Mensuren 1849 – 1999. Festgabe zum 150. Stiftungsfest der Landsmannschaft im CC Neoborussia Halle zu Freiburg, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 1999. 61. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium, in: Archiv für Diplomatik 45 (1999), 401 – 500. 62. Genie und Pension. „Mathematisches Calcul und Sinn für Ästhetik“, ein Projekt des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 36 (1999), 183 – 191. 63. Adler ruft Eule. Grußwort zum 175. Jubiläum des Landesarchivs – Landeshauptarchivs – Magdeburg, in: Landesarchiv Magdeburg – Landeshauptarchiv – 175 Jahre im Dienste von Wissenschaft und Verwaltung. Beiträge der Festveranstaltung am 4. November 1998, Magdeburg 1999, 29 – 32.

2000 64. Archivarbeit für Preußen. Symposion der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs preußischer Kulturbesitz aus Anlass der 400. Wiederkehr der Begründung seiner archivischen Tradition, hrsg. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2000.

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65. Von der Repositurenvielfalt zur Archiveinheit. Die Etappen der Tektonierung des Geheimen Staatsarchivs, mit Anhang: Die Tektonik des Geheimen Staatsarchivs, in: Ebd., 47 – 257. 66. Herberge für die Auxiliaren. Schlusswort zur Jubiläumstagung der Herold-Fachgruppe Historische Hilfswissenschaften am 5. Oktober 1999, in: Friedrich Beck/Eckart Henning (Hrsg.), Vom Nutz und Frommen der Historischen Hilfswissenschaften, Neustadt/Aisch 2000, 111 – 113.

2001 67. Das „Taschenbuch Romberg“. Die Grafschaft Mark in der preußischen Statistik des Jahres 1804, bearb. von Wilfried Reininghaus/Jürgen Kloosterhuis, Münster 2001. 68. Der Husar aus dem Buch. Die Zietenbiographie der Frau von Blumenthal im Kontext der Pflege brandenburg-preußischer Militärtradition um 1800, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 52 (2001), 139 – 168. 69. Victoria im Preußenjahr, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 38 (2001), 323 – 352.

2002 70. Pudel und Partien. Studentisches Fechten und staatliches Mensurverbot im korporationsgeschichtlichen Wandel, untersucht am Beispiel der Hallenser Neoborussia von 1849 bis 1936, in: Hermann-Josef Rupieper (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, 1502 – 2002, Halle/Saale 2002, 340 – 376. 71. Wege zum Archivgut „zwischen Königsberg und Kleve“. Neuzeitliche Aktenpublikationen in gesamtpreußischer Perspektive, in: Zwischen Tradition und Innovation. Strategien für die Lösung archivischer Aufgaben am Beginn des 21. Jahrhunderts. Beiträge zur Fachtagung der Staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen am 11. Dezember 2001 in Schloss Augustusburg, Brühl, und des 12. Internationalen Archivsymposions vom 14. bis zum 15. Mai 2002 in Düsseldorf, hrsg. vom NW Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Düsseldorf 2002, 45 – 61. 72. Hans Hermann von Katte, in: Brandenburgisches Biographisches Lexikon (BBL), hrsg. von Friedrich Beck/Eckart Henning, in Verbindung mit Kurt Adamy/Peter Bahl/Detlef Kotsch, Potsdam 2002, 214 – 215. 73. Porträts, Patente – und Probleme. Ein westfälisch-märkischer Beitrag zur militärischen Quellenkunde der preußischen Armee zwischen 1713 und 1806, in: Märker 51 (2002), 61 – 73. 74. Burschencomment und Mensurverbot. Quellen zur Geschichte des studentischen Fechtens an der Universität zu Halle a. Saale, in: Einst und Jetzt 47 (2002), 137 – 166. 75. Generalmarsch! Die Straßenschlacht zwischen Hallenser Korporationsstudenten und Arbeitern beim Rektoratswechsel 1862, in: Einst und Jetzt 47 (2002), 167 – 173. 76. Das Archivwesen im zehnten Jahr der deutschen Einheit – eine kritische Zwischenbilanz, in: Die Archive am Beginn des 3. Jahrtausends. Referate des 71. Deutschen Archivtags in Nürnberg, Siegburg 2002, 259 f.

2003 77. Legendäre „lange Kerls“. Quellen zur Regimentskultur der Königsgrenadiere Friedrich Wilhelms I., 1713 – 1740, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2003.

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78. Vorstellungen eines wunderlichen jungen Mannes. Die Akte Mendelssohn, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 40 (2003), 277 – 302. 79. Mittelalterliche Amtsbücher: Strukturen und Materien. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium, in: Friedrich Beck/Eckart Henning (Hrsg.), Die archivalischen Quellen. Eine Einführung in ihre Benutzung, 3. Aufl. Weimar 2003, 53 – 73. 80. „Lange Kerls“ aus aller Welt. Klischees und Konturen des Königsregiments, 1713 – 1740, in: Friedhild den Toom (Hrsg.), Königliche Visionen. Potsdam – eine Stadt in der Mitte Europas, Potsdam 2003, 99 – 113. 81. Le vrai portrait d’un officier prussien. Militärische Kostümkunde als Historische Hilfswissenschaft bei der Interpretation preußischer Offizierporträts des 18. Jahrhunderts, in: Eckart Henning/Regina Rousavy (Hrsg.), Die Historischen Hilfswissenschaften in Forschung und Lehre, Neustadt a. d. Aisch 2003, 74 – 90; dasselbe in: Rolf Wirtgen (Hrsg.), Das preußische Offizierkorps 1701 – 1806. Uniformierung – Bewaffnung – Ausrüstung. Katalog zur Sonderausstellung der Wehrtechnischen Studiensammlung, Koblenz 2004, 53 – 66. 82. Archivarius Lindhorst – ein Fachbeamter und Feuersalamander. Grußwort zur Eröffnung der Ausstellung „Meister Floh – Ein multimedialer Weltenbürger“, im Museum Nicolaihaus, 10. April 2003, in: Jahrbuch der Stiftung Stadtmuseum Berlin IX (2003), 320 – 322.

2004 83. Kabinetts-Minüten, in: Klaus Dettmer (Hrsg.), „Es wächst zusammen, was zusammengehört“. Beiträge zum Wissenschaftlichen Kolloquium zu Ehren von Jürgen Wetzel am 25. November 2003 im Landesarchiv Berlin, Berlin 2004, 25 – 62. 84. Donner, Blitz und Bräker. Der Soldatendienst des „armen Mannes im Tockenburg“ aus der Sicht des preußischen Militärsystems, in: Alfred Messerli/Adolf Muschg (Hrsg.), Schreibsucht. Autobiografische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735 – 1789), Göttingen 2004, 129 – 187. 85. Truppen – Bücher – Tradition. „Dem Mohr“ zum Geleit, in: Eike Mohr (Bearb.), Bibliographie zur Heeres- und Truppengeschichte des Deutschen Reiches und seiner Länder 1806 – 1933, Bissendorf 2004, V–VI.

2005 86. Casimirianum – Casimiriana. Festgabe der Schülerverbindung Casimiriana zu Coburg zum 400. Schul-Stiftungsfest des Gymnasiums Casimirianum zu Coburg, hrsg. vom Altherrenverband der Casimiriana zu Coburg e. V., Coburg 2005. 87. Katte. Ordre und Kriegsartikel. Aktenanalytische und militärhistorische Aspekte einer „facheusen“ Geschichte, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, N.F. 15 (2005), 27 – 65, 161 – 223. 88. Schwarz-Weiße Spurensuche. Preußisches in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in: Barbara Schneider-Kempf/Klaus-Peter Schuster/Klaus G. Saur (Hrsg.), Wissenschaft und Kultur in Bibliotheken, Museen und Archiven. Klaus-Dieter Lehmann zum 65. Geburtstag, München 2005, 433 – 442. 89. „Der alte und der junge König“. Warnungen vor einem „Preußen-Film“, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 42 (2005), 245 – 264. 90. ABC für „lange Kerls“, in: Porticus 11 (2005), 8 – 10.

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91. Lindhorst, Smith und Rilke zu Gast im „Turm der Blitze“. Grußwort zum 55. Dahlemer Archivgespräch im „Turm der Blitze“ anläßlich des 65. Geburtstages von Eckart Henning am 27. Januar 2005, in: Dahlemer Archivgespräche Bd. 11, Berlin 2005, 183 – 186. 92. „Die Lehre der Federkiele“. Grußwort des Direktors des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, in: Zehn Jahre Fachgruppe Historische Hilfswissenschaften, hrsg. von Peter Bahl/Friedrich Beck/Regina Rousavy/Waldemar Schupp, Neustadt/Aisch 2005, 9 – 18.

2006 93.

Katte. Ordre und Kriegsartikel. Aktenanalytische und militärhistorische Aspekte einer „facheusen“ Geschichte, Berlin 2006, 2., durchgesehene und erweiterte Aufl. Berlin 2011.

94.

Preußens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren, hrsg. von Bernhart Jähnig/Jürgen Kloosterhuis, Marburg 2006.

95.

Strukturen und Materien spätmittelalterlicher Amtsbücher im Spiegel von Ordensfolianten, in: Ebd., 85 – 121.

96.

Legendäre „lange Kerls“. Ausgewählte Quellen zur Regimentskultur der Königsgrenadiere Friedrich Wilhelms I., 1713 – 1740. Ein Hörbuch, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2006.

97.

Zum Beispiel Nummer Neun. Das Hamm-Soester Regiment zu Fuß und sein Platz in einer neuen preußischen Militärgeschichte, in: Norbert Wex (Hrsg.), Soester Schau-Plätze. Historische Orte neu erinnert, Soest 2006, 207 – 218.

98.

Platz für Preußen. Polemische Gedanken über den Wilhelmplatz und seine Generalsdenkmäler, in: Wolfgang Voigt/Kurt Wernicke (Hrsg.), Stadtgeschichte im Fokus von Kulturund Sozialgeschichte. Festschrift für Laurenz Demps, Berlin 2006, 85 – 105.

99.

Edition – Integration – Legitimation. Politische Implikationen der archivischen Entwicklung in Preußen, 1803 – 1924, in: Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, 83 – 113.

100. Vellinghausen, in: Manfred Groten/Peter Johanek/Wilfried Reininghaus/Margret Wensky (Hrsg.), Handbuch der historischen Stätten, Bd. 3: Nordrhein-Westfalen, 3., neubearb. Aufl. Stuttgart 2006, 1070 – 1071. 101. Ehrenzeichen, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern, hrsg. von Friedrich Jaeger, Teil 3, Stuttgart 2006, Sp. 83 – 85. 102. Feldzeichen, in: Ebd., Sp. 890 – 892.

2007 103. Adlers Fittiche. Wandlungen eines Wappenvogels, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 44 (2007), 323 – 342. 104. Verse von Fahnen und Frauen. Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung „Farben der Geschichte – Fahnen und Flaggen“ im Deutschen Historischen Museum am 26. April 2007, in: Zeitschrift für Heereskunde 71 (2007), 123 – 127. 105. Führungszeugnisse für Zietens Husaren, in: Klaus-Dieter Lehmann (Hrsg.), Vogel Phoenix. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2007, 330 – 331.

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106. competentia – traditio – spectaculum. Zur Buchvorstellung von Volker Schobeß: Die Langen Kerls von Potsdam. Die Geschichte des Leibregiments Friedrich Wilhelms I. 1713 – 1740, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 58 (2007) 195 – 198; dasselbe in: Militärmuseum Brandenburg-Preußen 4 (2008), 8 – 10; dasselbe in: Volker Schobeß: Friedrich der Große und die Potsdamer Wachtparade 1740 – 1786, Berlin 2009, 210 – 215. 107. Infanterie, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern, hrsg. von Friedrich Jaeger, Teil 5, Stuttgart 2007, Sp. 928 – 932. 108. Kadettenanstalt, in: Ebd., Teil 6, Stuttgart 2007, Sp. 243 – 246. 109. Kavallerie, in: Ebd., Sp. 526 – 530. 110. Weltliche Nahrung – Geistliche Speise. Zur Eröffnung der Ausstellung „Kirche im Dorf“, gezeigt vom Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz am 20. Juni 2002, in: Bernhart Jähnig (Hrsg.), Kirche und Welt in der frühen Neuzeit im Preußenland, Marburg 2007, 11 – 16.

2008 111. Bestandsgruppen-Analyse Generaldirektorium, Berlin 2008. 112. Krise, Reformen – und Finanzen. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, hrsg. von Jürgen Kloosterhuis/Wolfgang Neugebauer, Berlin 2008. 113. Adlers Fittiche. Wandlungen eines Wappenvogels. Dokumentation einer Präsentation des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, bearb. von Christiane Brandt-Salloum/Rita Klauschenz/Jürgen Kloosterhuis/Christian Schwarzbach, Berlin 2008. 114. Soldaten-Sextett. Polemische Gedanken über die Generalsdenkmäler auf dem Wilhelmplatz, in: Schadow-Gesellschaft Berlin e. V. (Hrsg.), Zur Wiederaufstellung der Generaldenkmäler von Johann Gottfried Schadow und anderen Bildhauern auf dem Zietenplatz, Berlin 2008, 41 – 47. 115. Fahnentücher, Frauengestalten. Vom Symbolgehalt militärischer Feldzeichen in der Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Herold-Jahrbuch N.F. 13 (2008), 149 – 161. 116. Das Militär, in: Rita Unfer-Lukoschik (Hrsg.), Italienerinnen und Italiener am Hofe Friedrichs II. (1740 – 1786), Berlin 2008, 230 – 234. 117. Die revidierte „Tafelrunde“. Geleitwort zur Eröffnung der Ausstellung „Die Italiener am Hofe Friedrichs II.“ am 13. Mai 2005, in: Ebd., 27 – 34. 118. Lineartaktik, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern, hrsg. von Friedrich Jaeger, Teil 7, Stuttgart 2008, Sp. 921 – 924. 119. Krise, Reformen – und Finanzen. Zur Eröffnung der Tagung der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz vom 6. bis 8. Oktober 2006, in: Jürgen Kloosterhuis/Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Krise, Reformen – und Finanzen. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, Berlin 2008, 17 – 22. 120. L’amour des trois lettres, in: PKS. Hommage an Peter-Klaus Schuster, hrsg. von Günther Schauerte/Bernd Ebert, Berlin 2008, 86.

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2009 121. Krise, Reformen – und Militär. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, hrsg. von Jürgen Kloosterhuis/Sönke Neitzel, Berlin 2009. 122. Neupreußen-Stiftungsfeste 1849 – 2009. Eine Bildergeschichte. Festgabe zum 160. Stiftungsfest der Landsmannschaft im CC Neoborussia Halle zu Freiburg, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2009. 123. Auf kritischer Wallfahrt zwischen Rhein und Weser. Justus Gruners Schriften in den Umbruchsjahren 1801 – 1803, bearb. von Gerd Dethlefs/Jürgen Kloosterhuis, Köln/Weimar/ Wien 2009. 124. Kritik vor der Krise. „Gedanken über militärische Gegenstände“ zweier preußischer Generale vor und nach dem Siebenjährigen Krieg, in: Jürgen Kloosterhuis/Sönke Neitzel (Hrsg.), Krise, Reformen – und Militär. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, Berlin 2009, 129 – 278. 125. Erinnerungen an Wagenführer, in: Kerstin Schlickmann/Roland Tummerer (Hrsg.), Heinrich Wilhelm Wagenführer (1690 – 1758). Erinnerungen an einen Potsdamer Königsgrenadier, Potsdam 2009, 11 – 24. 126. Preußen, Rheinland und Westfalen. Leitlinien einer Wechselbeziehung, in: Stephan Sensen/Eckhard Trox (Hrsg.), Wir sind Preußen. Die preußischen Kerngebiete in NordrheinWestfalen 1609 – 2009, Essen 2009, 5 – 9.

2010 127. Das Generaldirektorium als Kultusbehörde, in: Bärbel Holtz (Hrsg.), Krise, Reformen – und Kultur. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806, Berlin 2010, 23 – 46. 128. Marginal-Dekrete. Schlaglichter auf die Kabinettsregierung Friedrich Wilhelms I., in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N.F. 21 (2010), 219 – 272. 129. Klischee und Kontur. Moritz Levin Adolf von Winterfeld (1744 – 1819). Ein friderizianischer Kadett, Leutnant und Literat im Spiegel seiner (fast) verschollenen Autobiographie, in: Patrick Merziger/Rudolf Stöber/Esther-Beate Körber/Jürgen Michael Schulz (Hrsg.), Geschichte, Öffentlichkeit, Kommunikation. Festschrift für Bernd Sösemann zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2010, 311 – 324. 130. Neues vom Wagenführer. Ein exklusives Beispiel preußischer Militärsozialisation, in: Zeitschrift für Heereskunde 74 (2010), 183 – 194. 131. Lüdenscheid aus Cöllner Perspektive, in: Der Reidemeister Nr. 181, vom 13. Februar 2010, 1493 – 1498. 132. „Circulus Franconiae vivat!“ Neues aus der Vor- und Frühgeschichte der Casimiriana, in: Altherren-Verband der Casimiriana Coburg e. V. (Hrsg.), Bericht über das Jahr 2009, Coburg 2010, 17 – 22.

2011 133. Annäherungen an Friedrich Wilhelm I. Eine Lesestunde im Schloss Königs Wusterhausen, Berlin 2011. 134. Streifzug durch Brandenburg-Preußen. Archivarische Beiträge zur kulturellen Bildungsarbeit im Wissenschaftsjahr 2010, hrsg. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2011.

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135. Tektonik des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, bearb. von Rita Klauschenz/Sven Kriese/Mathis Leibetseder, hrsg. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2011. 136. Kriegsgericht in Köpenick! Anno 1730: Kronprinz – Katte – Königswort. Katalog zur Ausstellung „Kriegsgericht in Ko¨ penick!“ des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz und des Kunstgewerbemuseums der Staatlichen Museen zu Berlin im Schloss Ko¨ penick vom 29. Oktober 2011 bis zum 5. Februar 2012, bearb. von Jürgen Kloosterhuis/Lothar Lambacher, Berlin 2011. 137. Melle Klinkenborg, Geschichte des Geheimen Staatsarchivs vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, bearb. von Jürgen Kloosterhuis, Berlin 2011. 138. Der Schlüssel zum Geheimen. Die Tektonik-Geschichte des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, in: Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Streifzug durch Brandenburg-Preußen. Archivarische Beiträge zur kulturellen Bildungsarbeit im Wissenschaftsjahr 2010, Berlin 2011, 461 – 495. 139. Possidierende Probleme. Brandenburg-Preußen im Jülich-Klevischen Erbfolgestreit, 1609 – 1666, in: Ebd., 103 – 124. 140. „Friedrich der Große am Sarg des Großen Kurfürsten“. Der König im Spannungsfeld von Vorbild und Vergänglichkeit, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 47 (2011), 172 – 200. 141. Vivant membra quaelibet! Quellen zur Studenten- und Korporationsgeschichte im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, unter besonderer Berücksichtigung der Universitäten zu Halle a. S., Erlangen und Breslau, I. Teil: Burschenfreiheit und Staatsraison bis 1806, in: Einst und Jetzt 56 (2011), 29 – 84. 142. Ordre, Liste und Porträt. Identitätsstiftung und Traditionsbildung im preußischen Offizierkorps des 18. Jahrhunderts im Spiegel seiner Schrift- und Bildquellen, in: Hitotsubashi Journal of Law and Politics 39 (2011), 3 – 29.

2012 143. Schloss: Macht und Kultur. Entwicklung und Funktion Brandenburg-Preußischer Residenzen. Ergebnisse einer Tagung aus Anlass des fünfzigjährigen Jubiläums der Historischen Kommission zu Berlin am 19. und 20. Februar 2009, hrsg. von Jürgen Kloosterhuis/ Wolfgang Ribbe/Uwe Schaper, Berlin 2012. 144. „Donnerwetter, wir sind Kerle“. Glanz und Elend der Garden in Brandenburg-Preußen, 1476 – 1914, in: Ebd., 179 – 209. 145. Feuer auf der ganzen Linie! Waffentechnische, ausbildungsbedingte und kampfmentale Faktoren der Lineartaktik des 18. Jahrhunderts, in: Eberhard Birk/Thorsten Loch/Peter Andreas Popp (Hrsg.), Wie Friedrich „der Große“ wurde. Eine kleine Geschichte des Siebenjährigen Krieges 1756 – 1763, Berlin/Freiburg i. Br./Wien 2012, 158 – 162. 146. Katte, in: Jürgen Hohmuth/Simone Neuhäuser (Hrsg.), Friedrich – Fritz – Fridericus. Ein Handbuch zum König, Leipzig 2012, 90 – 92. 147. Fridericus-Rennen. Zur Buchvorstellung von Rainer Ehrt: Preußischer Bilderbogen. Berlin 2011, am 17. April 2002, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 63 (2012), 203 – 212.

2013 148. Archivische Sprengelkompetenz versus militärhistorische Deutungshoheit. (Militär-) Politische Implikationen in der Entwicklung des preußisch-deutschen Heeresarchivwesens.

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Schriftenverzeichnis Jürgen Kloosterhuis Eine archivgeschichtliche Dokumentation, in: Hans-Christof Kraus (Hrsg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und nach 1945, Berlin 2013, 171 – 218.

149. Für „Pfiffer“ war kein Platz in Preußen. Neues aus der Zeit der burschikosen Gymnasiasten, 1835 – 1838, in: Altherren-Verband der Casimiriana Coburg e. V. (Hrsg.), Bericht über das Jahr 2011, Coburg 2013, 35 – 43. 150. Vivant membra quaelibet! Quellen zur Studenten- und Korporationsgeschichte im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, unter besonderer Berücksichtigung der Universitäten und Technischen Hochschulen Halle a. S., Breslau und Danzig. II. Teil: Studenten zwischen Volk und Staat, 1808 – 1934, in: Einst und Jetzt 58 (2013), 159 – 556. 151. Pater Bruns: Von Potsdam ins Paradies. Zur Buchvorstellung von Raymundus Bruns, Erinnerungen an katholisches Ordensleben und Militärseelsorge in Preußen im 18. Jahrhundert, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2012, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 64 (2013), 159 – 164. 152. Voraussetzungen einer Geheimen Staatsarchiv-Geschichte. Geleitwort, in: Eckart Henning, Archivalien und Archivare Preußens. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 2013, 7 – 8.

2014 153. Kantonsystem und Regimentskultur. Katalysatoren des preußischen Militärsozialisationsprozesses im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Oppenheim-Vorlesungen zur Geschichte Preußens an der Humboldt-Universität zu Berlin und der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2014, 77 – 139.

2015 154. Menzel militaris. Sein „Armeewerk“ und das „Leuthen“-Bild im militärhistorischen Quellenkontext, Berlin 2015. 155. Militär und Gesellschaft in Preußen. Quellen zur Militärsozialisation 1713 – 1806. Archivalien in Berlin, Dessau und Leipzig, hrsg. von Jürgen Kloosterhuis/Bernhard R. Kroener/Klaus Neitmann/Ralf Pröve, bearb. von Peter Bahl/Claudia Nowak/Ralf Pröve. 3 Teile in 4 Bänden, Berlin 2015. 156. Wer darf welche Farben tragen? Neupreußische Couleurskandale in Halle a. S. 1859 und 1913. Eine Dokumentation aus den Akten des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz Berlin, in: Einst und Jetzt 60 (2015), 265 – 308. 157. Staatsarchiv ohne Staat. Das GStA in den ersten Nachkriegsjahren, 1945 bis 1947. Eine archivgeschichtliche Dokumentation, in: Sven Kriese (Hrsg.), Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die Preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933, Berlin 2015 (im Druck). 158. „Anno 1730“, 150 Jahre danach. Die Katte-Tragödie im Fontane-Spiegel, in: Hans-Christof Kraus/Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Literatur in Preußen – preußische Literatur?, Berlin 2015 (im Druck).

Die Autoren des Bandes Prof. Dr. Peter Baumgart, Julius-Maximilians-Universität Würzburg Prof. Dr. Winfried Baumgart, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Dr. Hans-Joachim Behr, Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv, Münster Dr. Ludwig Biewer, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin Prof. Dr. Helmut Börsch-Supan, Berliner Schlösserverwaltung, Berlin Prof. Dr. Kurt Düwell, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Prof. Dr. Frank Göse, Universität Potsdam Prof. Dr. Eckart Henning, Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin Dr. Michael Hochedlinger, Österreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv, Wien Dr. Bärbel Holtz, Humboldt-Universität Berlin Prof. Dr. Ulrike Höroldt, Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Magdeburg Prof. Dr. Hans-Christof Kraus, Universität Passau Prof. Dr. Bernhard R. Kroener, Universität Potsdam Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Technische Universität Chemnitz PD Dr. Dr. Harald Lönnecker, Bundesarchiv, Koblenz Prof. Dr. Angelika Menne-Haritz, Bundesarchiv, Berlin Martin Munke, M.A., Technische Universität Chemnitz Prof. Dr. Klaus Neitmann, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer, Humboldt-Universität Berlin Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Parzinger, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin Prof. Dr. Wilfried Reininghaus, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Dr. Leopold Schütte, Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv, Münster Prof. Dr. Matthias Stickler, Julius-Maximilians-Universität Würzburg Dr. Hendrik Thoß, Technische Universität Chemnitz Prof. Dr. Werner Vogel, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin Dr. Paul Widmer, Botschafter a. D., Bern Dr. Samuel Wittwer, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, Potsdam Dr. Manfred Wolf, Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv, Münster Dr. Ursula Wolf, Osteuropahistorikerin, Münster