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German Pages 240 Year 2015
Wolfgang Pauly
Gotthold Hasenhüttl Theologie und Kirche im Konflikt
gewidmet Frau Gabriele Wesselmann-Pauly in Liebe
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Dietlind Grüne, Mannheim Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandabbildung: Gotthold Hasenhüttl © Thomas Lohnes Satz: SatzWeise GmbH, Trier Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26740-8
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74018-5 eBook (epub): 978-3-534-74019-2
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I
Biografie und Werkgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . .
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II Der theologische Neuansatz Gotthold Hasenhüttls . . . .
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1.1 Kindheit und Jugend: Erste Wege zur Freiheit . . . . . . 1.2 Studium in Graz und Rom: Zwischen Restauration und Aufbruch zum Konzil . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Dozent in Tübingen: Theologische Aufbrüche mit Hans Küng und Joseph Ratzinger . . . . . . . . . . . . 1.4 Professor in Saarbrücken: Entfaltung einer kritischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Der Ökumenische Kirchentag in Berlin und die Folgen
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Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Notwendigkeit theologischer Neuansätze . . . . . . 1.2 Die Fragen Jean-Paul Sartres als Leitfragen Hasenhüttls Anthropologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der entfremdete Mensch – der Mensch als Frage . . . . 2.2 Die Antwort von Max Scheler . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Antwort von Rudolf Bultmann . . . . . . . . . . . 2.4 „Was eine Lehre vom Menschen leisten soll“ . . . . . . Die Wahrheit des Glaubens als möglicher Ort einer Antwort 3.1 Die Krise des Glaubens und der Religionen . . . . . . . 3.2 Glaube als relationaler Gesamtvollzug . . . . . . . . . . 3.3 Wahrheitsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Das Kriterium der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Das Sprachspiel des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Die Wahrheit als Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . Das Antwortmodell Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Warum Jesus Christus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Vollmacht Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Erfahrung einer umfassenden Befreiung . . . . . . 4.4 Reich Gottes – der Bereich Gottes . . . . . . . . . . . . 4.5 Umkehr als Bedingung und Kriterium der Freiheit . . .
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Inhalt
4.6 Die biblische Deutung Jesu Christi . . . . . . . . . . . 4.7 Die kirchliche Deutung Jesu Christi als Heilsbotschaft . Das Ereignis Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der geistesgeschichtliche Rahmen . . . . . . . . . . . . 5.3 Vom Ereignis zum Objekt – Aspekte des griechischen Gottesverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Zwischen Herr-Gott und Befreiungserfahrung – Aspekte des alttestamentlichen Gottesverständnisses . . 5.4 Die christliche Deutung der Gotteserfahrung . . . . . . 5.5 Der relationale Gott als Aussage vom Menschen . . . . Die Glaubensgemeinschaft und ihre sakramentalen Vollzüge 6.1 Das Modell einer Glaubensgemeinschaft bei Paulus . . 6.2 Von der Herrschaftsfreiheit zur Hierarchie . . . . . . . 6.3 Vollzüge der Glaubensgemeinschaft: Sakramente als Symbolhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Das Beispiel der Eucharistie . . . . . . . . . . . . . . . Zukunft – Spekulation oder liebevolle Hoffnung . . . . . . . 7.1 Die Gegenwart des Heils . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Der Tod und das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Freiheit und Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Die geerdete Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiheit konkret . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Das Modell Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Das Modell Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III Rezeption und Einladung zum Diskurs . . . . . . . . . . . 213 1 2 3 4 5
Der freie Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wahrheit des Lebens . . . . . . . . . . . . . Jesus Christus als Modell befreiten Lebens . . . . Gott als Sinn des Lebens . . . . . . . . . . . . . . Kirche als Lebensgemeinschaft befreiter Menschen
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Einleitung „Dieses Projekt braucht Mitdenkende und Mitdiskutierende; und gemäß seinem dialogischen Wahrheitsverständnis wird auch Hasenhüttl selbst sein Werk nicht als letztes Wort verstehen wollen. Kritiker wie Anhänger sollten ihm also nun die Ehre erweisen, in ein leidenschaftliches Gespräch mit ihm einzutreten.“ (Dankert 2002, S. 111) Diese Ermunterung von Jürgen Dankert zum Dialog mit dem theologischen Neuansatz des Saarbrücker Theologen Gotthold Hasenhüttl soll hier aufgegriffen und in kritischer Solidarität ausgeführt werden. Hasenhüttl hat sein umfangreiches Werk und seinen theologischen Neuansatz in den beiden Bänden „Glaube ohne Mythos“ (2001) systematisch dargestellt und im Band „Glaube ohne Denkverbote. Für eine humane Religion“ (2012, 2. erweiterte Auflage 2014) auch für theologische Laien verständlich zusammengefasst. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Hasenhüttl durch seine Einladung an evangelische Christen zur Teilnahme an der katholischen Eucharistiefeier mit Kommunionempfang beim ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003. Diese Einladung entsprang nicht einer spontanen Eingebung, sondern ist Konsequenz seines theologischen Ansatzes. Zentrum seiner – wie jeder – theologischen Reflexion ist und bleibt die Gottesfrage. Sie soll auch im Zentrum dieser Ausführungen stehen. Da aber von Gott nicht geredet werden kann, ohne über den Menschen nachzudenken, in dessen Handeln und Denken das Wort „Gott“ vorkommt, soll unsere Darstellung mit den Ausführungen Hasenhüttls zur Anthropologie beginnen. Die seit Karl Rahner geforderte „anthropologische Wende“ der Theologie, die allerdings bereits im zentralen christlichen Glaubensbekenntnis von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ausgesprochen ist, findet ihren Niederschlag darin, dass die Anthropologie hier vor den anderen Traktaten der Dogmatik behandelt wird. Dadurch wird auch deutlich, dass letztlich jede Theologie eine spezifische Form der Anthropologie ist. Dies entspricht Hasenhüttls grundlegender These, dass Aussagen über Gott Aussagen über den Menschen sind. Die kritische Rezeption vielfältiger theologischer Deutungsmodelle in Geschichte und Gegenwart ermöglicht es Hasenhüttl, eine eigenständige Position zu entwickeln. Diese kann dann wiederum in den Diskurs über das Wesen des Menschen und über die Funktion der Rede von Gott in der
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Einleitung
(Post-)Moderne aufgenommen werden. Insbesondere das immer wieder neu zu diskutierende Spannungsverhältnis zwischen dem Individuum, wie es exemplarisch in der Existenzphilosophie und deren theologischer Rezeption durch Rudolf Bultmann betrachtet wird, und der Gesellschaft – exemplarisch beschrieben in der kritischen Rezeption der Schriften von Karl Marx durch Jean-Paul Sartre – bildet für Hasenhüttl einen sein ganzes Werk durchziehenden Fragehorizont. Die existenziale Interpretation der Bibel durch Rudolf Bultmann ist folgerichtig auch das Thema von Hasenhüttls theologischer Promotion in Theologie, der Dialog mit JeanPaul Sartre steht im Zentrum der philosophischen Promotion. Gemäß seinem dialogischen Ansatz stellt Hasenhüttl in seiner Habilitation „Charisma. Ordnungsprinzip der Kirche“ (1969) die (Glaubens-) Gemeinschaft als eine dialektische Synthese von Person und Gemeinschaft dar, wie er sie in seinen beiden Promotionen entwickelt hatte. Auf die Breite und Diskursfähigkeit dieses Ansatzes verweisen bereits die unterschiedlichen theologischen Ausrichtungen der beiden Gutachter der Habilitationsschrift: des späteren Leiters der römischen Glaubenskongregation und nachfolgenden Papstes Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, und des Tübinger Dogmatikers Hans Küng, dem später von dieser Glaubenskongregation die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen werden sollte, wenn auch noch nicht unter dem Vorsitz Ratzingers. Wie sehr sich die Reflexion über den existenziellen Vollzug des Menschen mit gesellschaftlicher Praxis verbinden kann, zeigt Hasenhüttl mit seinen zahlreichen Forschungsreisen in fast alle Länder dieser Erde und seinem Engagement für die von Gesellschaft, Wirtschaft und Kirche Ausgeschlossenen. Auch darüber gibt er Rechenschaft in zahlreichen Werken, wie zum Beispiel in „Freiheit in Fesseln. Die Chance der Befreiungstheologie“ (1985) und „Schwarz bin ich und schön. Der theologische Aufbruch Schwarzafrikas“ (1991). Dass Hasenhüttl sich an seinem 80. Geburtstag im Jahr 2013 in Bangladesch für die Rechte der Textilarbeiterinnen einsetzt und bei seiner Rückkehr über deren Ausbeutung informiert, zeigt die aus Persönlichkeit und Werk resultierende Verbindung von Praxis und Theorie. Das Werk Hasenhüttls ist nicht zu verstehen ohne die von ihm über fünfzig Jahre lang als Priester praktizierte Seelsorge. Er segnete nicht nur Menschen, die ihren Lebensweg gemeinsam gehen wollten, und feierte über Jahrzehnte hinweg täglich die Eucharistie, sondern erwies auch zahl-
Einleitung
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reichen Menschen die letzte Ehre. Dabei begleitete er auch diejenigen zu ihrer letzten Ruhestätte, für die kein Priester offiziell zuständig war. In der Spannung zwischen der Vielfalt postmoderner Sinnangebote einerseits und der bereits vor hundert Jahren von Martin Buber beschriebene „Gottesfinsternis“ andererseits gibt es insbesondere in Westeuropa nicht viele eigenständige und insofern auch diskussionswürdige theologische Neuansätze. Das römische Lehramt, aber auch die Auswahlkriterien bei der Neubesetzung theologischer Lehrstühle sorgen für eine immer stromlinienförmigere Ausrichtung des Faches. Gerade aber die Vielfalt menschlicher Lebensweisen und die Pluralität der entsprechenden Sinnentwürfe in der Gegenwart erfordern einen Dialog mit und eine kritische Reflexion von Aussagen der Theologie und des kirchlichen Lehramtes. So erst könnte das alte Wort „kat-holon“, das „katholische“ Kennzeichen der christlichen Gemeinschaft, das ihre multidimensionale Grundstruktur aufzeigt, eine neue Bedeutung erlangen, die vielleicht noch nie so umfassend war wie gegenwärtig. Im 6. vorchristlichen Jahrhundert sprach der Philosoph Heraklit davon, dass gerade aus der Polarität und aus der ihr zugrunde liegenden Spannung die schönste Harmonie entstehen kann. (Post-)moderne Lebens- und Weltdeutung stehen in vielfacher Spannung zu tradierten Lebensformen und Glaubensaussagen der christlichen Kirchen. Spannung und Polarität aber müssen existenziell vom Einzelnen und organisatorisch von Institutionen aufgenommen und fruchtbar gestaltet werden. Die Stadtobrigkeit von Ephesus verbannte Heraklit wegen seiner Überzeugung aus der Heimat. Funktionsträger der katholischen Kirche entzogen Gotthold Hasenhüttl die kirchliche Lehrerlaubnis und verboten ihm die Ausübung seiner priesterlichen Berufung. Damals wie heute haben es neue Ideen schwer, sich gegenüber festgefahrenen Lebens- und Deutungssmodellen durchzusetzen. Die Konflikte verstärken sich noch, wenn durch alternative Gedanken die bisherigen Herrschaftsstrukturen und Machtverhältnisse hinterfragt werden. Neue theologische Konzeptionen sollten aber als Bereicherung und als kreative Erweiterung bisheriger Deutungen eines christlichen Lebensvollzuges verstanden werden. Letztes Kriterium ihrer Wahrheit und Richtigkeit ist dabei, ob sie zum Gelingen des menschlichen Lebens beitragen. Wie das Leben und Werk Jesu Christi eine Alternative gegenüber den Lebens- und Herrschaftsformen seiner Zeit darstellt, so könnte ein moderner Neuansatz neue Wege eines wirklich menschenwürdigen Lebens
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Einleitung
und Glaubens aufzeigen, der die Engführungen und Einseitigkeiten der bisherigen kirchlichen Lehre aufbricht. Eine Einführung in das Leben und Werk eines Theologen kann dessen zentralen Gedanken systematisch zusammenfassen und in ihrem Zusammenhang vorstellen. Jede Ausführung über einen Wissenschaftler und Autor sollte aber letztlich eine Anregung sein, dessen eigene Werke neu oder wieder neu zu lesen.
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Biografie und Werkgeschichte
1.1 Kindheit und Jugend: Erste Wege zur Freiheit Gotthold Nathan Ambrosius Hasenhüttl wurde am 2. Dezember 1933 in Graz, der Hauptstadt des österreichischen Bundeslandes Steiermark, als zweites Kind der Eheleute Franz Hasenhüttl (1888–1976) und seiner Ehefrau Margarete, geb. Simml (1903–1980) geboren. Bereits fünf Jahre zuvor war der erstgeborene Bruder Gottlieb (1928–1999) zur Welt gekommen. Die Herkunft des Namens „Hasenhüttl“ verdankt sich wohl der Belagerung von Graz im 1. österreichischen Türkenkrieg (1526–1566), in dem viele Nichtmuslime aus Serbien, Bosnien, Bulgarien oder Griechenland – also meist orthodoxe Christen – im osmanischen Heer vertreten waren. Viele Türken ließen sich nach dem Krieg auf dem Gebiet Österreichs nieder. Der türkische Name „Hasan“ könnte die Vorstufe des Namens „Hasenhüttl“ sein: „Das Haus des Hassan“ oder „Hassan-Haus“. Franz Hasenhüttl war Redakteur der Tageszeitung „Grazer Volksblatt“. Diese christlich-sozial ausgerichtete Zeitung war das Hauptorgan der steirischen Katholiken. Bis 1900 erschien sie unter dem Motto „Liebet die Wahrheit – die Tochter Gottes“. Herausgegeben wurde sie ab 1869 vom „katholischen Preßverein“ der Diözese Graz, der ab 1880 unter dem Namen „Styria“ publizierte. Gotthold Hasenhüttls programmatische Schrift „Kritische Dogmatik“ (1979) erschien später in diesem Verlag. Nachdem die Nationalsozialisten 1938 auch in Österreich die Macht übernommen hatten, musste das „Grazer Volksblatt“ an den „Südostdeutschen Zeitungsverlag“ in München zwangsverkauft werden. 1939 wurde das Erscheinen des Blattes eingestellt. Die Chefredakteure und Herausgeber waren inzwischen in ein Konzentrationslager deportiert, die Redakteure wie Franz Hasenhüttl fristlos entlassen worden. Für die Familie Hasenhüttl bedeutete dies, dass sie ein ganzes Jahr ohne Einkommen leben musste. Danach erhielt die vierköpfige Familie 120 Reichsmark im Monat, was heute etwa 600 Euro entspricht. Nur durch das Berufsunfähigkeitsgutachten eines befreundeten Arztes konnte verhindert werden, dass Franz Hasenhüttl dem Befehl zur Zwangsarbeit in einer Rüstungs- und Munitionsfabrik nachkommen musste. Als Sohn Gottlieb noch im März 1945 zum Militär einberufen wurde, konnte er untertauchen und so einem Einsatz in den letzten Kriegswochen entgehen.
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Biografie und Werkgeschichte
Margarete Hasenhüttl musste bereits nach der Eheschließung 1925 ihre bisherige Tätigkeit als Lehrerin aufgeben, wie es das österreichische Gesetz vorsah. Nur wenn ein Ehemann selbst im Schuldienst arbeitete, durfte seine Frau auch nach der Ehe diesen Beruf ausüben. Nachdem ihr Mann arbeitslos geworden war, besserte Margarete das Familieneinkommen durch Aushilfsarbeiten und Putzstellen auf. Die Söhne erinnern sich lebenslang an die Repressalien und Verfolgungen der Juden in ihrer Heimatstadt. Wie Sigmund Freud es anschaulich aus Wien berichtete, wurden Juden vom Gehsteig heruntergestoßen, wenn sie „arischen“ Volksgenossen begegneten, oder mussten gar mit einer Zahnbürste die Straße reinigen. Vergleichbare Vorfälle auch in Graz haben sich tief ins Gedächtnis der Hasenhüttl-Kinder eingegraben.
Sprechende Namen Die Namen der Söhne Gottlieb und Gotthold wurden wie bei vielen biblischen Vorbildern als „sprechende Namen“ verstanden: Die Kinder wurden als Geschenk des Himmels gesehen. Zugleich gaben die Namen der Hoffnung Ausdruck, dass die Söhne diesem Ursprung durch ihren konkreten Lebensvollzug – eben als Gott lieb und hold – gerecht werden würden. Wenn politisch engagierte Eltern im Dezember 1933 in Österreich ihrem neugeborenen Sohn den Zweitnamen Nathan gaben, war dies ebenfalls programmatisch zu sehen. Der jüdische Name bezog sich in dieser Zeit der Ausgrenzung zunächst auf Gotthold Ephraim Lessings Aufklärungsdrama „Nathan der Weise“ mit seinem Aufruf zu Toleranz und Respekt. Die Eltern haben aber auch stets auf die biblische Gestalt des Propheten Nathan verwiesen (vgl. 2. Sam. 11 ff.). Als gleichsam „verbeamteter“ Prophet am Hof von König David widerspricht Nathan unbeirrt seinem Herrn, wenn es um Ausbeutung, Verrat und Unrecht geht. David begehrt neben seinen zahlreichen Frauen auch noch Batseba, die Ehefrau des Hethiters Urija, und schickt diesen deshalb in den sicheren Tod in einer Schlacht. Nathan konfrontiert David mit der Geschichte von einem armen Mann, dessen einziges Schaf ihm von einem Reichen genommen wird, um dessen Gäste zu bewirten. Als David sich über das Verhalten dieses Mannes entrüstet, antwortet Nathan: „Du selbst bist dieser Mann“ (2. Sam. 12,7). Der Name „Nathan“ ist somit Programm: Widerspruch und Kritik an Autoritäten um einer gerechten Sache und des konkreten Menschen willen wird auch in der Familie Hasenhüttl hochgehalten. Diese Einstellung hat wohl ebenso bei der Wahl des dritten Vor-
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namens eine Rolle gespielt: Ambrosius. Der frühchristliche Kirchenvater (339–397) ist nicht nur bekannt als Bischof von Mailand und Lehrer des heiligen Augustinus, sondern auch wegen seines Widerstands gegen Handlungen und Entscheidungen des Kaisers Theodosius I. Zunächst widerspricht Ambrosius dem Kaiser 388, als dieser eine von Christen niedergebrannte Synagoge durch eine Geldsammlung auch bei Christen wiederherstellen lassen will. Er findet die Zerstörung der Synagoge gerechtfertigt, da sich die Religion der Juden mit dem Auftreten Jesu erledigt habe. Diese problematische Rechtfertigung der Zerstörung einer Synagoge steht im Gegensatz zu Ambrosius’ Aufruf zur Milde, als Theodosius I. im Jahre 390 im Hippodrom von Thessaloniki über 7000 Bewohner als Vergeltungsaktion für die Befreiung eines zum Tode Verurteilten hinrichten lassen will. Ambrosius interveniert, droht dem Kaiser mit der Exkommunikation und verweigert ihm den Eintritt in die Kathedrale. Theodosius zeigt zwar Reue und widerruft den Hinrichtungsbefehl, dies kommt aber für die inzwischen bereits Getöteten zu spät. Ambrosius wertet in beiden Beispielen die eigene Überzeugung höher als die von der jeder Autorität vorgegebenen Anordnungen. Dies ist auch ein charakteristisches Kennzeichen des späteren Namensträgers Gotthold Nathan Ambrosius Hasenhüttl.
Aufgeklärte Religion prägt den Alltag Die Religion prägte das Alltagsleben der Familie Hasenhüttl. Dazu gehört auch, dass Gotthold viele Jahre in der Pfarrkirche den Dienst des Ministranten versah – regelmäßig in der Frühmesse um 6.00 Uhr. Allerdings stellte er auch schon früh kritische Fragen an den Formalismus und das Zwanghafte gerade in der Liturgie vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil: „Als ich Ministrant war, konnte ich die Not der Priester erfahren, die leise – laut durften die Wandlungsworte nicht gesprochen werden, sie sind ja Glaubensgeheimnis – jedes Wort, ja jeden Buchstaben herauspressten, um ja die Gültigkeit der Wandlung und damit der Messe nicht in Frage zu stellen“ (2010, S. 56). Religiöse Praxis in der Familie war zugleich auch aufgeklärte Praxis. Die Weihnachtsgeschichte musste zum Beispiel nicht erst in den späteren Lebensjahren der Kinder entmythologisiert werden. Die Eltern empfanden es als Lüge, gegenüber den Kindern vom „Christkind“ zu sprechen, das die weihnachtlichen Geschenke bringe. Es wurde klar ausgesprochen, dass diese von den Eltern selbst kamen. Sie verstanden sie als Zeichen der Freude über das Geschenk der Menschwerdung
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Biografie und Werkgeschichte
Gottes und machten dies auch vor den Kindern deutlich. Einen Weihnachtsbaum lehnte man als heidnisches Symbol ab – nicht zuletzt auch wegen dessen Ideologisierung durch die Nationalsozialisten. Gottholds Besuch der Grundschule in Graz 1940–1944 wurde zunehmend überschattet von Fliegeralarm und Bombenabwürfen. Der Einmarsch der russischen Armee brachte schließlich Befreiung und neue Angst zugleich. Einen Vergewaltigungsversuch durch einen russischen Soldaten konnte die Mutter in letzter Minute nur durch die eigenen Tränen abwehren. Die Zeit unter der englischen Besatzungsmacht in Kärnten und in der Steiermark bis zur Erlangung der staatlichen Souveränität durch den Staatsvertrag von 1955 war die erste Phase des Wiederaufbaus. Eine umfassende kritische Auseinandersetzung mit den Geschehnissen unter dem Nationalsozialismus und im Krieg wurde in Österreich ebenso wenig geleistet wie in Deutschland. Diskutierte man in Deutschland noch Jahrzehnte darüber, ob der 8. Mai 1945 nun der Tag der Befreiung oder der Tag der Niederlage war, so streitet man in Österreich bis heute, wie die Geschehnisse von 1938 zu werten sind: War es ein Überfall oder der gerne hingenommener Anschluss an das Deutsche Reich? Die Zeit Gotthold Hasenhüttls im altsprachlichen Akademischen Gymnasium Graz bis zur Reifeprüfung 1952 war sowohl durch die damaligen gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten geprägt als auch durch die eigene stärker werdende persönliche Opposition gegen Bevormundung und Einschränkung von Freiheit. Die Autorität der Lehrer darf für ihn nur Autorität durch Sachkompetenz sein, niemals Autorität durch das Amt oder durch die Institution Schule. Kaum blieb Erinnerung an einen kreativen Unterricht oder an interessante Themen. Der Religionsunterricht war im Rückblick meist „ein Graus“. Häufig wurde in den hinteren Reihen der Klasse lieber heimlich Jean-Paul Sartre gelesen, als dass dem Unterricht Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
Franz Kafka als Wegweiser Ein beeindruckendes Leseerlebnis verbindet Hasenhüttl mit „Der Process“ von Franz Kafka (1883–1924), auf den in der Schule hingewiesen wurde. In Inhalt und Form entsprach dieses unvollendete und erst 1925 von Kafkas Freund Max Brod herausgegebene Werk der Lebenserfahrung vieler junger Menschen: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“ (Kafka 1971, S. 7). Die Auslieferung eines Menschen an eine undurch-
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schaubare Bürokratie, das unaufklärbare Verhängnis von Schuld und die Unmöglichkeit, weder durch eigenes Handeln noch durch eine Institution Recht und Gerechtigkeit zu bekommen, kennzeichnen nicht nur das Lebensgefühl junger Menschen in der Pubertät, sondern die Lebenserfahrung vieler Menschen in der Moderne zwischen Vermassung und Vereinsamung. „Meine Unschuld vereinfacht die Sache nicht“, muss Josef K. resigniert feststellen (Kafka 1971, S. 109 f.). „War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiss gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht“ (ebd., S. 165). Trotzdem siegt am Ende diese todbringende Logik: Genau ein Jahr nach der Verhaftung, am Vorabend des 31. Geburtstags des Prokuristen Josef K., wird dieser erstochen „wie ein Hund“ (ebd.). Kafka ist einer der von Hasenhüttl am meisten zitierten Belletristen. Zustimmen kann er dessen paradoxem Ausspruch auf die Frage nach Jesus Christus: „Das ist ein lichterfüllter Abgrund. Man muss die Augen schließen, um nicht abzustürzen“ (2001, Bd. I, S. 221). In Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ erkennt Hasenhüttl die Situation eines Menschen, dem kein metaphysisches Hilfsmittel zur Bewältigung seiner grundsätzlichen und unaufhebbaren Kontingenz mehr zu Verfügung steht: „kein Zeichen der versprochenen Erlösung war zu entdecken“ (ebd., S. 229). Die Erzählung „Vor dem Gesetz“, in der Kafka Motive der jüdischen Kabbala verarbeitet, wird Hasenhüttl zum Symbol für die Unzulänglichkeit kausalen und verobjektivierenden Denkens – und doch wird immer wieder versucht, Lebensfragen auf diesem Weg zu beantworten: „Die Bewegung des Ergründens geht nie zu Ende, solange wir leben; erst im Tod, wenn wir zugrunde gehen, hört das Begründenwollen auf“ (ebd., S. 699). Kleine Fluchten aus der Tristesse des Schulalltags bieten ein Tanzkurs und auch der Besuch des mit einem Verbot für Jugendliche belegten Films „Die Sünderin“. Der Regisseur Willi Forst schuf mit diesem 1951 uraufgeführten Film und durch die Besetzung der Hauptrolle mit Hildegard Knef einen von vielen Skandalen bekleideten Publikumserfolg – wobei der eigentliche Skandal nicht durch den Film selbst hervorgerufen wurde, sondern durch seine auch kirchlich geforderte und geförderte Diskriminierung. In „Die Sünderin“ möchte die ehemalige Prostituierte Marina durch Rückkehr in ihr früheres Gewerbe das Geld für die Behandlung ihres an einem Hirntumor erkrankten Freundes verdienen. In der Ausweglosigkeit der Krankheit verhilft sie schließlich dem Freund zu einem
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Biografie und Werkgeschichte
humanen Tod. Da ein Leben ohne den Geliebten für sie sinnlos ist, scheidet sie auch selbst aus dem Leben. „Beihilfe zum Tod“ und „Suizid“ waren die Schlagworte, mit denen versucht wurde, die Aufführung dieses Films zu boykottieren. Obwohl das Grazer Kino von zwei Polizisten bewacht wurde, damit sich keiner vor Vollendung seines 19. Lebensjahres Eintritt verschaffte, gelang dem 18-jährigen Hasenhüttl zum Erstaunen seiner Mitschüler der Eintritt. In der Bundesrepublik Deutschland ließ endgültig erst 1954 das Bundesverwaltungsgericht mit Berufung auf die Freiheit der Kunst die Vorführung dieses Films gegen erbitterten Widerstand des Klerus zu.
1.2 Studium in Graz und Rom: Zwischen Restauration und Aufbruch zum Konzil Nachdem er die Reifeprüfung abgelegt hatte, trat Hasenhüttl 1952 in das Priesterseminar der Diözese Graz ein und begann das Studium der katholischen Theologie zunächst an der Karl-Franzens-Universität in seiner Heimatstadt. Bereits ein Jahr später schickte ihn der Bischof der Diözese Graz (ab 1963 Graz-Seckau), Josef Schoiswohl (1901–1991; Diözesanbischof von 1954 bis 1968), zum Weiterstudium nach Rom. Hasenhüttls Studium an dem traditionsreichen „Pontificum Collegium Germanicum et Hungaricum“ bildete nicht nur die solide Grundlage seiner theologischen Ausbildung. Insbesondere die dortige Auseinandersetzung um das Verständnis des Werks von Thomas von Aquin (1225– 1274) und die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen von dessen Vermittlung in der Moderne beschäftigen ihn bis zur Gegenwart. Das „Germanicum“ wurde am 31. August 1552 auf Initiative von Ignatius von Loyola (1491–1556), dem Gründer des Jesuitenordens, von Papst Julius III. durch die Bulle „Dum solicita“ ins Leben gerufen. Es sollte ein wichtiges Glied in der Kette der Gegenmaßnahmen sein, mit der die katholische Kirche auf den Ausbruch der Reformation in Deutschland antwortete. Kardinal Giovanni Morone hatte als päpstlicher Legat Deutschland bereist und an den Reichstagen in Speyer und Worms teilgenommen. Er berichtete in Rom von vielen Missständen in der Kirche und dem praktischen Glaubensleben. Ignatius beschrieb selbst den Zweck der Neugründung des Instituts: „Zu Beginn sollen alle daran erinnert werden, dass das Kolleg zu dem Zweck errichtet wurde, dass in ihm Stu-
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denten unterhalten und unterrichtet werden, die den geistlichen Bedürfnissen Deutschlands, entsprechend dem Talent, das sie durch Gottes Güte erhalten haben, zu Hilfe kommen sollten“ (nach Feld 2006, S. 226). Die „geistlichen Bedürfnisse Deutschlands“ begründeten sich im 16. Jahrhundert nicht zuletzt aus der mangelhaften Ausbildung des Klerus und der Vernachlässigung der Spiritualität. Nach dem Modell des bereits ein Jahr zuvor gegründeten „Collegium Romanum“ und in enger Zusammenarbeit mit ihm sollten jetzt Priester und Seelsorger in Theorie und Praxis auf ihre Arbeit im deutschsprachigen Raum vorbereitet werden. 1580 vereinigte Papst Julius das Germanicum mit dem „Collegium Hungaricum“, was bis heute der offizielle Name kundtut. Ernsthaftes Studium, strenge Tageseinteilung, gemeinsames Chorgebet an den Sonn- und Feiertagen und eine möglichst gute Beherrschung auch der italienischen Sprache waren wichtige Ziele. Inhaltlich war das Kolleg stark an der Theologie des Thomas von Aquin ausgerichtet. Der in Lehre und Forschung und auch im praktischen Alltag häufig erlebten Offenheit und auch Internationalität steht eine andere Dimension des Lebens und Arbeitens im Germanicum entgegen: „Verbot außerhäuslicher mündlicher und schriftlicher Kontakte, Ausgang nur in Begleitung, Kontrolle der Korrespondenz durch den Rektor, und vieles andere, was nicht erst uns heute, sondern schon in damaligen Zeitgenossen als unerträglich und lächerlich erschien. Die meisten dieser Regeln blieben bis in die Zeit des II. Vatikanischen Konzils in Gültigkeit, um dann plötzlich und überhastet in der Versenkung zu verschwinden. Hinter diesem peniblen Regulierungswahn ist die Angst vor der Ansteckung durch Häresie oder Unsittlichkeit zu erkennen“ (Feld 2006, S. 225). Zu diesen „Regulierungswahn“ gehörte auch ein systematisches Bespitzeln und Aushorchen. Wer trotz Kenntnis eines meldepflichtigen Vorfalls nicht dem Rektor davon berichtete, erhielt letztlich dieselbe Strafe wie der Täter selbst. Allerdings wurden diese Regeln in der Zeit Hasenhüttls in Rom unter dem Rektor P. Franz von Tattenbach S.J. wesentlich liberaler umgesetzt. Die besondere Wertschätzung der spirituellen Ausbildung im Germanicum zeigt sich darin, dass schon seit Gründung der Einrichtung neben der Bestellung eines Beichtvaters ein „Praefectus rerum spiritualium“, ein Spiritual, eingesetzt wurde. Ob sich Spiritualität frei und kreativ entfalten konnte oder ob sie als Kontrolle benutzt wurde, hing nicht zuletzt an der Persönlichkeit der Männer, die mit dieser Aufgabe betraut wurden.
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Biografie und Werkgeschichte
Die Geschichte des Germanicums zeigt die Pendelbewegung zwischen solider Ausbildung und restaurativer Neuscholastik insbesondere im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die wissenschaftliche Qualität wurde auch dadurch gesichert, dass die Studierenden zusätzlich an der auf Ignatius von Loyola zurückgehenden und durch Papst Gregor XIII. 1584 neu gegründeten „Gregoriana“ studieren konnten. Auch die Zusammenarbeit mit dem 1928 gegründeten Päpstlichen Bibelinstitut mit seinen fortschrittlichen Exegeten war für viele – auch für Gotthold Hasenhüttl – ein großer Gewinn. Der spätere deutsche Kurienkardinal, Konzilstheologe und Leiter des Sekretariats für die Einheit der Christen, Augustin Bea (1881–1968), war von 1930 bis 1949 der modernen Fragen aufgeschlossene Leiter des Instituts. Fotos zeigen den Studenten Gotthold Hasenhüttl in der im römischen Stadtbild auffallenden roten Tracht der „Germanicer“. Viele Besuchergruppen aus Deutschland und Österreich führte er so durch die „ewige Stadt“. Er lobt noch heute die insgesamt gute Atmosphäre der Einrichtung. Von seinen Lehrern blieb ihm besonders der kanadische Jesuit Bernard Lonergan (1904–1984) im Gedächtnis. Dessen Werk „Theologie im Pluralismus heutiger Kulturen“ ist 1975 auch in deutscher Sprache erschienen. Internationale Kontakte aus allen Erdteilen erweiterten die Perspektive der Seminaristen. Zahlreiche Besuche im Haus regten zur Diskussion an. Hasenhüttl erinnert sich allerdings auch an weniger erfreuliche Begegnungen. Als der Wiener Altbischof Theodor Innitzer (1875–1955) Rom und das Germanicum besuchte, war im Gespräch insbesondere mit den österreichischen Seminaristen keine Revision seiner früheren theologischen und vor allem politischen Einstellungen erkennbar. Seine Unterstützung für den Austrofaschismus, seine Unterschrift unter die von Gauleiter Bürckel verfasste Erklärung zum Anschluss Österreichs an Deutschland, seine Kanzelverkündigung mit der Aufforderung, dass ein Katholik Adolf Hitler zu wählen habe, und sein Höflichkeitsbesuch bei diesem am 15. März 1938 im Hotel Imperial konnten mit den Seminaristen nicht diskutiert werden. Auch der Besuch von Julius Döpfner (1913–1976) im Germanicum blieb für Hasenhüttl unbefriedigend. Als junger Bischof von Würzburg (ab 1948), Berlin (ab 1957) und München (ab 1961) galt Döpfner vielen als fortschrittlicher Hoffnungsträger. Den Germanicern versucht er allerdings zu vermitteln, dass etwas, das der Papst verboten hat, keiner wei-
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teren Begründung und Diskussion bedarf und deswegen verboten bleiben müsse. Seine Zustimmung zum internen Bespitzelungssystem des Germanicums und sein Bestehen auf den Kuss des bischöflichen Ringes blieben zumindest für einen Teil der Seminaristen unverständlich und nicht nachvollziehbar.
P. Wilhelm Klein S.J.: Geistlicher Begleiter auf dem Weg zur Freiheit Eine Lichtgestalt für mehrere Generationen von Germanicern war der Jesuit P. Wilhelm Klein. Hans Küng beschreibt stellvertretend für viele Kleins Bedeutung: „Dass ich nun aber in allen anstehenden schwierigen persönlichen Fragen meinen Weg finde, verdanke ich (…) jenem Altgermaniker, der mit uns im Oktober 1948 ins Kolleg zurückkommt und hier mit seinen bald 60 Jahren das überaus wichtige Amt des Spirituals, des geistlichen Führers, übernimmt: P. Wilhelm Klein“ (Küng 2004, S. 97). 1889 in Traben-Trabach geboren, wurde Klein wie vier seiner Brüder Priester, drei der Brüder wurden wie er selbst Jesuiten (vgl. Feld 2006, S. 336–340). Schwere Kriegsverletzungen beeinträchtigten ihn bis zu seinem Tod 1996 im Alter von 106 Jahren. Klein war Student am Germanicum und an der Gregoriana und promovierte später über einen spätmittelalterlichen Philosophen. Der Zweitgutachter war der bekannte Philosoph Edmund Husserl (1859–1938). Von 1948 bis 1961 – also während der gesamten Studienzeit von Gotthold Hasenhüttl – war Klein Spiritual am Germanicum. In zahlreichen Vorträgen, in der Auswahl von Meditationstexten an jedem Abend und durch seine oft allegorische Auslegung der Schrift zeigte er Auswege und Alternativen zur traditionellen neuscholastischen Theologie und zum biblischen Fundamentalismus auf. Insbesondere seine Interpretation der Paulus-Briefe im mündlichen Vortrag bekam viel Zustimmung – wenn auch einige Professoren und Studenten sein oft undogmatisches Vorgehen verunsicherte und sie ihn sogar gegenüber Vorgesetzten zu diskreditieren suchten. Da seine Gedanken auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin nicht gedruckt werden durften und Aufzeichnungen spätestens nach seinem Tod vernichtet werden sollten, ist eine konkrete Darstellung der Theologie P. Wilhelm Kleins schwierig. Nach seinem Tod wurden allerdings in den Jahren 1998–2001 private Mitschriften seiner Vorträge, die seine Schüler angefertigt hatten, in vier Bänden publiziert (vgl. Greshake 1997). Zentral scheint für Klein der Gedanke der Ganzheit und Reinheit mitten in der Gebrochenheit menschlichen Lebens zu sein: „Es gibt die
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reine, nie gefallene, unversehrt und unbefleckt gebliebene Herrlichkeit Gottes im persönlichen Geschöpf seiner Liebe, in dem er seine Herrlichkeit geschaffen hat“ (nach Feld 2006, S. 338). Ein positives Vorzeichen steht für ihn vor der Klammer aller schlechten Dimensionen des menschlichen Lebens. Er betonte häufig, dass selbst der schlimmste Verbrecher als freundliches Kind zur Welt kam. Für Klein stellt die biblische Maria diese Reinheit und Ungebrochenheit dar und ist somit Vorbild für alle Menschen. In der Liebe wird diese Ganzheit mitten in der Kontingenz des Lebens aktuell sichtbar und erfahrbar. Liebe ist damit auch das Kriterium echten Glaubens und nicht der immer wieder geforderte, möglichst wortgetreue Katechismusglaube. Bei einer Predigt anlässlich seines siebzigjährigen Priesterjubiläums im Oktober 1982 sprach Klein diesen Gedanken nochmals nachdrücklich aus: „Beim gelebten Glauben, der Caritas, da ist Glaube und Liebe identisch.“ Und er schließt seine Predigt mit den Worten: „Es ist ja so, meine Schwestern und Brüder: All die Probleme, die uns heute bedrücken, die religiösen, die sozialen, die technischen, die wirtschaftlichen, die wären, die sind nur zu lösen auf einem Weg: auf dem Weg der Liebe. Und das ist keine Illusion, das ist keine Utopie, das ist das, wofür wir uns mit ganzer Seele, wir alle, einsetzen wollen von früh bis spät“ (Klein 1982). Folgerichtig sah P. Klein zum Beispiel auch das priesterliche Keuschheitsgelübte und den Zölibat als problematisch an und kritisierte, dass die entsprechende Lebensform eines Priesters wie überhaupt das traditionelle Priesterbild immer wieder als ein besonders gelungenes religiöses Lebensmodell hochstilisiert werde. Seine Betonung der Freiheit und seine stark auf Erfahrung bezogene Theologie wurde auch für Gotthold Hasenhüttl so bedeutsam, dass beide bis an Kleins Lebensende in engen Kontakt standen. Viele Ausführungen Hasenhüttls zum Beispiel in seiner Gotteslehre decken sich mit denen seines Spirituals Klein. Als Hasenhüttl 2003 infolge des ökumenischen Gottesdienstes in Berlin seine kirchliche Lehrbefugnis verlor, nahm er in seiner Kritik an der Entscheidung des Bischofs von Trier in einem Interview mit der „Saarbrücker Zeitung“ vom 26. Juli 2003 einen Begriff auf, den schon P. Klein verwendet hatte. Dieser sprach immer wieder davon, dass Bischöfe keinen „Eichmann-Gehorsam“ verlangen dürften. Klein und Hasenhüttl betonten beide, dass die persönliche Verantwortung auch des Priesters gegenüber seinem Bischof höher zu bewerten sei als Unterwürfigkeit und blinder Gehorsam. Der problematische und vorbelastete Begriff vom
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„Eichmann-Gehorsam“ stieß nach Hasenhüttls Äußerung auf harte Kritik und löste viele Reaktionen auch in den Medien aus. In einem Interview mit dem ARD-Morgenmagazin vom 29. Juli 2003 stellte Hasenhüttl klar, dass er keinen generellen Vergleich der Bischöfe mit dem „NS-Regime oder der furchtbaren Judenverfolgung“ beabsichtigt habe. Wichtig sei ihm allerdings, dass niemals Gehorsam über das eigene Gewissen und über die ethische Verantwortung des eigenen Handels gestellt werden dürfe. In einem späteren Interview betonte Hasenhüttl nochmals: „Ich habe damals die Tragweite des Ausdrucks nicht erkannt, mich lediglich an den Wahlspruch meines ehemaligen geistlichen Lehrers in Rom erinnert, der uns stets ermahnt hat, niemals einem ‚Eichmann-Gehorsam‘ zu folgen, also einem blinden Kadavergehorsam, sondern immer auch das Gewissen zu befragen. Das war unbedacht gesprochen, aber in der Sache richtig“ (Spiegel Online 12. 5. 2010, vgl. zu der inhaltlichen Konkretion des Begriffes auch 2001, Bd. II, S. 257 und 344). Auch P. Klein bekam die Folgen seiner Offenheit, seiner kritischen Einstellung gegenüber traditioneller Theologie und Kirchenstruktur und seines Appells an die Freiheit zu spüren: 1961 musste er unfreiwillig und auf äußeren Druck hin seine Stelle als Spiritual im Germanicum aufgeben und arbeitete fortan als Seelsorger und Exerzitienbegleiter in Bonn. Hasenhüttl stimmt ganz der Einschätzung seines früheren Germanicer-Kollegen Helmut Feld zu, der schreibt: „Wilhelm Klein hat durch sein Wort und sein Leben vor allem bei der letzten Generation katholischer Theologen des 20. Jahrhunderts eine tiefgreifende Wirkung entfaltet, die gegenwärtig nur schwer einzuschätzen, aber kaum zu überschätzen ist. (…) Wer immer sich in Zukunft mit dieser sokratischen Gestalt beschäftigt, wird gut daran tun, sie nicht an den Kriterien einer vermeintlichen Rechtgläubigkeit oder eines spätaufgeklärten Biblizismus zu messen, sondern sie im Kontext ihrer geistigen Verwandten und Vorfahren zu sehen: der heiligen Häretiker Origenes, Augustinus, Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Gertrud von Helfta, Jakob Böhme und anderer theologischer und spiritueller Grenzgänger“ (Feld 2006, S. 340).
Papst Johannes XXIII. als Hoffnungszeichen In Hasenhüttls Zeit im Germanicum fällt auch der Übergang des Pontifikats von Pius XII. zu Johannes XXIII. Als Papst Pius XII. am 9. Oktober 1958 nach langer Krankheit starb, schien eine lange Zeit der innerkirchlichen Lähmung zu Ende zu gehen. Viele Beobachter der Entwicklung in-
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nerhalb der katholischen Kirche sprachen bewusst vom „Ende des pianischen Zeitalters“. Gemeinsam war den Pius-Päpsten seit 1846, als der zunächst liberale Pius IX. gewählt worden war, nicht nur der Name. Sie stehen auch für eine restaurative Kirchenpolitik und für eine neuscholastische Theologie, die sich prinzipiell allen Veränderungen in Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft verweigerte. Exemplarisch stehen dafür das von Pius IX. (Pontifikat: 1846–1878) einberufene Erste Vatikanische Konzil (1869–1870) mit der Proklamation des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes, das Dekret „Lamentabili“ (1907) von Pius X. (1903–1914), in dem dieser die scheinbare Unveränderlichkeit der katholischen Glaubensaussagen gegen Neuansätze in der Bibelwissenschaft, dem Offenbarungsund Dogmenverständnis, der neueren Sakramentenlehre und gegenüber neueren Überlegungen zur Kirchenverfassung verteidigte, die Enzyklika „Casti connubii“ (1930) von Pius XI. (1922–1939), in der dieser die traditionelle naturrechtliche Sexuallehre der Kirche verteidigte und sich scharf gegen eine Erziehungsweise wendet, „die man mit einem widerlichen Ausdruck Sexualerziehung nennt“ (DH Nr. 3697), und die Enzyklika „Humani generis“ (1950) von Pius XII. (1939–1958), in welcher der Papst trotz einem kleinen Zugeständnis an die Erkenntnisse der Evolutionslehre letztlich alle neueren Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft, aber auch anfängliche Reformbewegungen innerhalb der Theologie kategorisch ablehnte. Die Autorität und letzte Verbindlichkeit des Papstes wird in Letzterer ausdrücklich bestätigt: „Wenn aber die Päpste in ihren Akten zu einer bis dahin umstrittenen Frage vorsätzlich Stellung nehmen, dann ist allen klar, dass diese Frage nach der Absicht und dem Willen derselben Päpste nicht mehr als Gegenstand der freien Erörterung unter den Theologen angesehen werden kann“ (DH Nr. 3885). Gerade diese vom Papst verbotenen Fragen wurden allerdings nur kurze Zeit später Inhalt der Diskussionen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965). Als Gotthold Hasenhüttl am 28. Oktober 1958 im roten Talar der Germanicer auf dem Petersplatz stand und den weißen Rauch als Zeichen der vollzogenen Papstwahl aufsteigen sah, verband nicht nur er große Hoffnungen mit dem neu gewählten Papst Johannes XXIII. (1958–1963). Der jetzt zum Papst gewählte Kardinal Angelo Roncalli (1881–1963) war zwar bisher nicht als großer Reformator aufgefallen, doch: „Das Leben Johannes’ XXIII. war ganz beherrscht von einem kindlichen Glauben an Gottes Führung im Alltag und vom Willen zur gänzlichen Hingabe an diese Führung“ (Seibel 1964, S. 11). Roncallis bisherige Arbeitsstätten in
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Bulgarien, Griechenland, der Türkei und im Frankreich der letzten Kriegsjahre hatten seinen Horizont erweitert. Er hatte dabei etwa die griechisch-orthodoxe Kirche und den Islam konkret kennengelernt, was große Auswirkungen auf sein Pontifikat hatte. Auch seine Persönlichkeit unterschied sich deutlich von der seines Vorgängers: Statt der bei Pius oft wahrgenommenen lähmenden Angst zeichneten ihn Offenheit und Mut zum Wagnis aus. Diese Grundhaltung des neuen Papstes traf die Erwartungen vieler Germanicer – wenn auch noch lange nicht aller. Viele Studenten im Germanicum und an der Gregoriana fühlten sich eher dem Wahlspruch des späteren ersten Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, Kardinal Alfredo Ottaviani (1890–1979), verbunden: „semper idem“ – immer das Gleiche. Am 25. Januar 1959 verkündete der neu gewählte Papst Johannes XXIII. seinen Plan, ein neues ökumenisches Konzil einzuberufen. Vorausgehen sollte diesem eine Synode des Bistums Rom, auf der bezüglich Inhalt und formalem Vorgehen gleichsam auf regionaler Ebene erprobt werden sollte, was später universal durchgeführt werden konnte. Im gleichen Jahr 1959 wurde Gotthold Hasenhüttl in Rom von Kardinal Luigi Traglia (1895–1977) zum Priester geweiht – von demselben Kardinal, der zum Präsidenten der geplanten römischen Synode berufen wurde. Hasenhüttl feierte seine Primiz in der Sakramentskapelle des Peterdoms. 1956 konnte er dann sein Lizenziat in Philosophie, 1960 auch das in Theologie abschließen. Nach dem Tod von Papst Johannes XXIII. erlebte Hasenhüttl später zusammen mit seinem Tübinger Lehrer Hans Küng die Spätphase des Konzils 1964/65 unter Papst Paul VI. (1963–1978). Als Berater seines Heimatbischofs Joseph V. Schoiswohl bekam er die oft kontroversen Diskussionen hautnah mit. Das von Papst Johannes XXIII. ausgegebene Motto eines „aggiornamento“, einer Öffnung von Glaubenslehre und Kirchenform, beschreibt auch Hasenhüttls eigenes weiteres theologisches Arbeiten.
Entmythologisierung und existenziale Interpretation bei Rudolf Bultmann 1962 schließt Hasenhüttl seine theologische Dissertation an der Gregoriana unter der Betreuung des Professors für protestantische Theologie Johannes Witte S.J. ab. Sie erscheint 1963 unter dem Titel „Der Glaubensvollzug. Eine Begegnung mit Rudolf Bultmann aus katholischem Glau-
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bensverständnis“. Der Biograf Bultmanns, Konrad Hammann, betont, dass eine solche Arbeit nur im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils möglich war, „das der Beschäftigung katholischer Theologen mit dem Denken Bultmanns zuträglich war“. Hasenhüttls Auseinandersetzung mit dem Theologen der Entmythologisierung und der existenzialen Interpretation stellt nach Hammann „in der Geschichte der katholischen Bultmannrezeption einen Durchbruch“ dar: „Hasenhüttls dialogisch angelegte, ebenso aspektreiche wie subtile Analyse eröffnete gerade dadurch neue, fruchtbare Perspektiven, dass sie reformatorische Grundeinsichten und das katholische Glaubensverständnis in Beziehung zueinander setzte“ (Hammann 2009, S. 445). Rudolf Bultmann (1884–1976) äußert sich selbst zur Arbeit Hasenhüttls in einem ausführlichen „Geleitwort“. „Ein solches Verständnis meines Anliegens und meiner Arbeit wie in diesem Buch habe ich selten gefunden, sowohl in der protestantischen wie in der katholischen theologischen Literatur“. Alle Grundthemen seines theologischen Ansatzes sieht er bei Hasenhüttl wahrgenommen und sachgemäß beschrieben: „Besonders wichtig ist es, dass er – im Unterschied von den meisten meiner Kritiker – klar gesehen hat, was ich als die paradoxe Identität des historischen und eschatologischen Geschehens in der in Christus sich ereignenden Heilstat Gottes bezeichne. Damit ist aber auch gegeben, dass er sieht, in welchem Sinne ich, indem ich Zeugnis von bloßer Mitteilung unterscheide, von der Gegenwart des eschatologischen Geschehens in der Verkündigung der Kirche rede. Eine verständnisvolle Interpretation setzt, auch wenn sie eine kritische ist, eine innere Gemeinsamkeit zwischen dem Interpreten und dem Interpretierten voraus: die Bewegtheit durch die gleiche Problematik, die Bezogenheit auf die gleiche Sache“. Bultmann fährt fort: „So glaube ich mit dem Verfasser einig zu sein, wenn er den Glaubensvollzug charakterisiert als das Sich-selbst-bestimmen-lassen durch die Begegnung mit Christus (als dem Ereignis der Liebe Gottes), als personalen Vollzug, als eschatologisches Ereignis, das – als Ereignis – stets neu ist in der Weise, dass dieses ‚Neu‘ ein ewig bleibendes ist, weil es sich im Vollzug durchhält“ (1963, S. 9 f.). Als der Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Unversität Marburg am 26./27. Oktober 1984 ein wissenschaftliches Symposium anlässlich des 100. Geburtstags von Rudolf Bultmann ausrichtet, hält Hasenhüttl den Festvortrag zu der Frage, die sowohl Bultmann als auch ihn selbst zeitlebens beschäftigte: „Wie ist Glaube an Gott heute möglich?“ Er
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dokumentierte dabei auch sein eigenes theologisches Anliegen: So, wie Bultmann die biblischen Schriften entmythologisierte und einer existenzialen Interpretation unterzog, wollte er selbst das christliche Dogma verstehbar und als Sinnangebot für den Menschen deutlich machen. Nach Beendigung aller Prüfungen im Rahmen seiner theologischen Promotion – zu der auch gehörte, dass der Kandidat morgens um 8.00 Uhr ein Thema gestellt bekam, über das er um 17.00 Uhr eine dreiviertelstündige Vorlesung in lateinischer Sprache halten musste – und nach der Priesterweihe wurde Hasenhüttl von seinem Grazer Bischof Schoiswohl als Kaplan nach St. Lorenzen im Mürztal in der Steiermark berufen. Dort wirkte er von September 1962 bis zum 31. Dezember 1963. Neben den Aufgaben in der Pfarrei übernahm er dabei auch den Unterricht in einer Grundschule. Die äußeren Umstände entsprachen der vorkonziliaren Zeit: Der Kaplan hatte beim Pfarrer und Dechanten zu wohnen, Besuch nach 22.00 Uhr war nicht erlaubt. Als Gehalt wurden dem Kaplan direkt vom Pfarrer 200 Schilling im Monat überwiesen, was heute etwa 30,00 Euro entspricht. Der Jahresurlaub von zweimal sechs Tagen war jeweils von Montag bis Samstag zu nehmen, damit der Sonntagsgottesdienst gesichert war. Nur an diesen wenigen freien Tagen konnte der Führerschein erworben werden. Eigeninitiative in Seelsorge und Gemeindearbeit war nicht erwünscht. Jede Freiheit war so weit als möglich eingeschränkt. Diese konkreten Erfahrungen an der kirchlichen Basis ließen Hasenhüttl nach Alternativen suchen. Seine späteren Bücher über das Wesen und die Struktur der kirchlichen Glaubensgemeinschaft sind auch als Reaktion auf die in der praktischen Seelsorge gemachten Erfahrungen zu verstehen.
1.3 Dozent in Tübingen: Theologische Aufbrüche mit Hans Küng und Joseph Ratzinger Die Zusammenarbeit mit Hans Küng Noch während Hasenhüttls Zeit als Kaplan in St. Lorenzen bot Hans Küng (*1928) ihm eine Stelle als Wissenschaftlicher Assistent an seinem Lehrstuhl an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität in Tübingen an. Küng und Hasenhüttl kannten sich aus ihrer gemeinsamen Zeit im römischen Germanicum. Nach dem Studium an der Gregoriana (1951–1955) und einem anschließenden Studium an der
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Sorbonne sowie am Institut Catholique in Paris hatte Küng seine Dissertation unter dem Titel „Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung“ abgeschlossen. Küng und Hasenhüttl untersuchten also in ihren Dissertationen die beiden wichtigsten protestantischen Reformtheologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Karl Barth (1886–1968) und Rudolf Bultmann. Küng und Hasenhüttl wollten damit die jeweiligen protestantischen Ansätze aufgreifen und und mit diesen ein produktives Gespräch führen Bezüglich der Arbeit von Hans Küng wurde erst im Jahr 1999 in einer gemeinsamen Erklärung der katholischen Kirche und der Kirchen der Reformation kirchenamtlich festgestellt, dass das seit dem 16. Jahrhundert heftig umstrittene Thema „Rechtfertigung“ letztlich kein Trennungsgrund zwischen den christlichen Kirchen sei. Gerade diese Auffassung hatte auch Küng in seiner Arbeit dargelegt und Konsequenzen für den ökumenischen Dialog gefordert. Küng erhielt in Tübingen 1960 zuerst einen Lehrstuhl für Fundamentaltheologie, ab 1963 war er dann Professor für Dogmatik und leitete als Direktor das dem Lehrstuhl angeschlossene „Institut für Ökumenische Forschung“. Im Dezember 1979 wurde Küng wegen seines Einspruchs gegen die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit die kirchliche Lehrerlaubnis „Missio canonica“ entzogen (zu Details vgl. Küng 2007). Hasenhüttl unterstützte als Wissenschaftlicher Assistent Hans Küng in Lehre und Forschung. Insbesondere an dessen Buch „Die Kirche“ (1967), war er in Form von Recherche und Druckvorbereitung beteiligt (vgl. Küng 2004, S. 521). Zudem leitete er ein Studentenwohnheim, das nach dem Reformtheologen des 19. Jahrhunderts Adam Möhler (1796– 1838) benannt worden war. Hasenhüttls eigener Arbeits- und Forschungsschwerpunkt war in diesen ersten Tübinger Jahren die Ausarbeitung seiner Habilitation, die 1969 unter dem Titel „Charisma. Ordnungsprinzip der Kirche“ im Druck erschien. Hasenhüttl wollte mit dieser Arbeit die Reformaufbrüche des Zweiten Vatikanischen Konzils kritisch und zugleich produktiv aufnehmen und diese für eine neu zu entwickelnde Form der Kirche der Zukunft weiterführen. Die insbesondere von Paulus beschriebenen Gnadengaben scheinen Hasenhüttl ein besser geeignetes Strukturelement einer christlichen Kirche zu sein als der Rekurs auf Hierarchie und äußere Autorität. Ein Handeln in Freiheit ist ihm „Ermöglichung der Charismen“ (1969, S. 19 ff.). Folglich geht es ihm um „die Entfaltung der freiheitlichen Vollmacht in der charismatischen Grundstruktur der Gemeinde“ (ebd.,
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S. 73 ff.). Dabei steht Grundsätzliches zur Diskussion: „Die Kirche Christi wird heute in einer säkularen Welt als fremd empfunden. Sie ist zu einer kleinen Herde zusammengeschrumpft. Reform und Wiedervereinigung werden häufig als letzter Versuch gedeutet, um noch einen Rest im Rückzugsgefecht zu retten. So wird die Frage brennend, ob Kirche im geschichtlichen Prozess der Säkularisierung überhaupt noch Sinn hat“ (ebd., S. 15). In seiner Habilitation, die inzwischen über 35 Jahre alt ist, stellt Hasenhüttl kritische Fragen an die Zukunft der Kirche, die von der offiziellen Kirche letztlich bis heute nicht beantwortet wurden: „Wie muss die Kirche in ihrer innersten Struktur sein, damit sie in der Welt noch eine Daseinsberechtigung hat? Gibt es überhaupt eine solche Struktur? Ist es die Hierarchie, die der Kirche heute noch Geltung verschafft? Ist es ihr historischer Ursprung, der ihr Bestand verleiht bis ans Ende der Welt? Oder ist es der Geist, der in den glaubenden und liebenden Menschen lebt? Der Geist, der Gemeinschaft stiftet und damit Kirche immer wieder neu als Ereignis vergegenwärtigt?“ (1969, S. 16) Hasenhüttl formuliert hier eine Alternative gegenüber dem traditionellen Kirchenbild. Er hat die in seiner Habilitationsschrift aufgezeigten Wege später vielfach überarbeitet und aktualisiert (vgl. 1973, 1974 und besonders 2001, Bd. II, S. 211–383). Die Habilitationsschrift trägt die Widmung: „Für jene, die die Kirche Christi verlassen wollen oder verlassen haben“. Es ist tragisch, dass Hasenhüttl nach der Einsicht in die Reformunwilligkeit der katholischen Kirche Jahrzehnte später selbst die Kirche in ihrer verfassten Form verließ – vielleicht gerade auch, um zugleich in der christlichen Glaubensgemeinschaft bleiben zu können.
Joseph Ratzinger als Kollege und Mentor Neben Hans Küng war Joseph Ratzinger (*1927), der spätere Papst Benedikt XVI., Zweitbetreuer von Hasenhüttls Habilitationsschrift. Ratzinger war 1966 auf Bitten Küngs von der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster auf den zweiten dogmatischen Lehrstuhl in Tübingen berufen worden. Küng erinnert sich an Ratzingers Berufung: „Meine Begründung für die Berufung Ratzingers: Er sei der einzige Kandidat im deutschen Sprachraum, der alle von mir angeführten Kriterien für diesen Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte erfülle; er möge deshalb nicht mit der vorgeschriebenen Dreierliste, sondern, wie in Ausnahmefällen möglich, als einziger Kandidat Senat und Ministerium vorgeschlagen werden“
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(Küng 2007, S. 28 f.). Küng schreibt in seinem Gutachten: „Das außerordentlich reiche Werk dieses heute 38jährigen Gelehrten, die Spannweite, Gründlichkeit und Ausdauer seines Schaffens, das für die Zukunft noch vieles erwarten lässt, die Eigenständigkeit seiner Forschungsrichtung, welche die Arbeit des zweiten Dogmatikers glücklich ergänzt, aber auch sein großer Lehrerfolg in Bonn und Münster sowie die angenehmen menschlichen Eigenschaften, die eine fruchtbare Zusammenarbeit mit allen Kollegen erwarten lassen, dies alles bildete die Grundlage für die Entscheidung der Fakultät, Joseph Ratzinger dem Großen Senat unico loco für die Besetzung des Lehrstuhles für Dogmatik vorzuschlagen. Seine Berufung nach Tübingen würde auch für die Universität in jeder Hinsicht einen großen Gewinn bedeuten“. Küng bestätigte 2007 – nach allem, was ihm selbst inzwischen durch das kirchliche Lehramt zugefügt worden war – sein damaliges Urteil: „Ich kann noch heute zu diesen Worten stehen“ (Küng 2007, S. 29). Gotthold Hasenhüttl betonte vielmals, wie stark er von Ratzinger in dessen Tübinger Zeit gefördert wurde. Auch privat gab es zahlreiche Kontakte. Hasenhüttl fuhr Ratzinger, der nie einen Führerschein hatte, zum Beispiel zum Kultusministerium nach Stuttgart, als dieser über die Rahmenbedingungen seines Lehrstuhls in Tübingen verhandelte. Es gab private Einladungen und gemeinsame Essen. Hasenhüttl erinnert sich in einem Interview: „Er hat mir früher sehr geholfen und mich auch bei kirchenkritischen Publikationen durchaus unterstützt (…) Er hat meine Habilitation sehr gefördert und als Dekan dafür gesorgt, dass ich trotz kirchenkritischer Äußerungen eine Dozentenstelle bekam (…) Er ist ein sehr intelligenter Mensch und ein sehr guter Prediger; manches, was er schrieb, ist ganz vorzüglich und eine Relativierung der kirchlichen Hierarchie“ (Spiegel Online, 18. April 2005). Trotzdem erkennt er bei Ratzinger eine grundlegende Ambivalenz: „Er weiß sehr viel, das steht außer Frage. Aber er war schon Mitte der sechziger Jahre, als er in Tübingen lehrte, stockkonservativ. Aus dieser Haltung heraus kann er sehr liebenswürdig und entgegenkommend sein, aber das ändert nichts an seiner Grundhaltung“ (Spiegel Online, 12. Mai 2010). Joseph Ratzinger ist einer der von Hasenhüttl am meisten zitierten Theologen – und dies oft in zustimmender Weise. Er pflichtet zum Beispiel Ratzinger grundsätzlich bei, „dass es keine trinitarische und christologische Definition gibt, die nicht auf irgendeiner Synode als häretisch verurteilt wurde“ (2001, Bd. II, S. 338 f.). Auch Ratzingers Hinweis, dass
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die Menschwerdung Gottes in Jesus auch unabhängig von einer körperlich verstandenen Jungfrauenschaft Mariens geglaubt werden kann, findet Hasenhüttls volle Zustimmung. Unverständnis allerdings äußert er gegenüber Ratzingers Hinweis auf den Papst als letzte Instanz der kirchlichen Wahrheit. Im Diskurs um das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes schreibt Hasenhüttl kritisch: „Diese Instanz und Institution ist der Garant des rechten Glaubenslebens. Der einzelne garantiert in seiner institutionell verbürgten Wahrheit das Sein in der Wahrheit der vielen einzelnen, die im Gehorsam gegenüber der päpstlichen Unfehlbarkeit ihr Heil sichern. Ratzinger bringt noch deutlicher den Gehorsamsgedanken ein: Der Papst ist Garant des Gehorsams. Wer dem Papst nicht gehorcht, gehört Gott nicht“. Er ergänzt diese Aussagen durch ein Ratzinger-Zitat: „Die eigentliche Aufgabe des Papstes in der Kirche ist, Garant des Gehorsams gegenüber dem nicht zu manipulierenden Wort Gottes zu sein“ (2001, Bd. II, S. 343). Hasenhüttl verweist darauf, dass Ratzinger dies selbst früher schon anders gesehen und allgemein vor Absolutismus gewarnt hat: „Treffend sagt dazu Ratzinger: ‚Monokratie, Alleinherrschaft einer Person, ist immer gefährlich. Selbst wenn die betreffende Person aus hoher sittlicher Verantwortung heraus handelt, kann sie sich in Einseitigkeiten verlieren und erstarren‘. Freilich meint er, dass diese Gefahr in der Kirche nicht bestünde, da die kirchliche Verfassung sich als Gemeinschaftsprinzip mit personaler Verantwortung darstelle“ (2001 Bd. I, S. 30). Ebenso kritisiert Hasenhüttl Ratzingers idealisiertes und ungeschichtliches Priesterbild (vgl. 2001, Bd. II, S. 524). Umgekehrt äußert sich auch Ratzinger positiv gegenüber dem Werk Hasenhüttls. Nach dem Erscheinen von dessen programmatischer Schrift „Kritische Dogmatik“ (1979) bedankt sich Ratzinger als Erzbischof und Kardinal von München in einem Brief vom 26. November 1979 für die Zusendung dieses Buches und schreibt dem „sehr geehrten, lieben Herrn Kollegen Hasenhüttl“: „Als ich von der Kardinalsversammlung in Rom zurückkam, fand ich Ihre ‚Kritische Dogmatik‘ auf meinem Tisch vor, die Sie mir mit einer freundlichen Widmung zugesandt haben. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass Sie bei dem Erscheinen Ihres Buches an mich gedacht haben und danke Ihnen herzlich dafür. Mit meinem Dank habe ich deswegen so lange gewartet, weil ich ihn möglichst erst nach der Lektüre des Buches abstatten wollte, um Ihnen ein paar Gedanken dazu zu sagen. Aber das Gedränge der Geschäfte hat sich gerade in den letzten Wochen als so dicht erwiesen, dass diese Absicht unerfüllt blieb. So habe
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ich nur ein paar Stichproben lesen können. Wenn ich auch nicht allem zustimmen würde, was da gesagt ist, so glaube ich doch, dass Sie dem Leser eine solide Information und gute Hilfen zum Weiterdenken bieten“. Eine grundsätzliche persönliche Wertschätzung bleibt bestehen: Als Hasenhüttl im Jahr 2000 mit Saarbrücker Theologiestudenten eine Exkursion nach Rom unternimmt, wird er mit den Studierenden vom damaligen Präfekten der Glaubenskongregation Ratzinger freundlich zu einem umfassenden Gespräch und Gedankenaustausch empfangen. Den wohl endgültigen Bruch zwischen Ratzingers und Hasenhüttls theologischen Ansätzen markiert das Buch Hasenhüttls „Einführung in die Gotteslehre“ (1980). Ratzinger ist der Ansicht, dass Hasenhüttl darin grundsätzliche Positionen des kirchlichen Lehramts verlässt. In einem späteren Interview mit „Die Welt“ antwortet der damalige Präfekt der römischen Glaubenskongregation auf die Frage, wie er Hasenhüttls Engagement auf dem Berliner Ökumenischen Kirchentag bewerte: „Hasenhüttl weiß ja, was Katholischsein bedeutet, und wenn man katholisch ist, dann nimmt man auch das Wesentliche des Katholischen auf sich“. Er schließt eine grundsätzliche Bewertung der Theologie und insbesondere der Gotteslehre Hasenhüttls an und sagt: „Übrigens darf man nicht vergessen, dass Hasenhüttl eine Dogmatik geschrieben hat, in der er uns sagt, dass es Gott als eine in sich seiende Wirklichkeit gar nicht gibt, sondern lediglich ein Begegnungsereignis sei. Insofern ist das, was er auf dem Ökumenischen Kirchentag angestellt hat, noch relativ gering im Vergleich zu dem, was er im Ganzen von sich gegeben hat. Und Hasenhüttl weiß selber, dass das nicht der katholische Glaube ist. Man muss einfach sagen: das ist alles eine Frage der Ehrlichkeit“. Auf die anschließende Frage, ob Ratzinger Hasenhüttl noch für katholisch hält, sagt dieser: „Was im Innersten seines Herzens ist und vorgeht, das überlassen wir dem lieben Gott. Aber was er geschrieben hat, ist nicht katholisch“ (Die Welt, 22. Juli 2003). Einwände gegen das durch Freiheit und Charismen charakterisierte Kirchenmodell Hasenhüttls kamen auch von damaligen Wiener Kardinal Franz König (1905–2004; Erzbischof 1956–1980). Als das Gremium zur Verleihung des von der Erzdiözese Wien gestifteten Kardinal-InnitzerPreises 1969/70 einstimmig beschloss, diesen Preis Gotthold Hasenhüttl als Anerkennung für seine Habilitationsschrift über die Kirche zu verleihen, legte König Einspruch ein. Da das Komitee seine begründete Entscheidung für Hasenhüttl nicht revidieren wollte, konnte in diesem Jahr überhaupt kein Preis verliehen werden. Auch die Berufung Hasenhüttls
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auf den Dogmatik-Lehrstuhl an der Universität Wien scheiterte 1970 am Einspruch konservativer Kontrahenten. Hasenhüttls Ansehen und Erfolg gerade bei den reformfreudigen Studenten in den Zeiten des Umbruchs im Kontext der Studentenrevolte von 1968 zeigte sich darin, dass er in Tübingen als außerplanmäßiger Professor und Prodekan 1973 zum Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität gewählt wurde. Ein reformiertes Hochschulgesetz des Landes Baden-Württemberg ermöglichte damals eine Drittelparität der Stimmen von Studierenden, akademischem Mittelbau und Professoren. Obwohl die Mehrheit der Professoren der Fakultät bei der Wahl des Dekans nicht für Hasenhüttl stimmte, reichten die Voten der anderen Stimmberechtigten aus. Hasenhüttl übte das Amt des Dekans aus, bis er 1974 als ordentlicher Professor für Systematische Theologie an das Institut für Katholische Theologie der Universität des Saarlandes in Saarbrücken berufen wurde.
Jean-Paul Sartre Noch in der Tübinger Zeit konnte Hasenhüttl seine wissenschaftliche Arbeit über Jean-Paul Sartre (1905–1980) zu Ende bringen, mit dessen Schriften er sich seit seiner Schulzeit beschäftigte. Nachdem er bereits früher alle Vorleistungen an der römischen Gregoriana abgeschlossen hatte, verteidigte er 1971 dort seine zweite, jetzt philosophische Dissertation. Betreut wurde die Arbeit von Frank O’Farrell S.J., dem Spezialisten für Metaphysik an der Gregoriana. Hasenhüttl erkannte, dass Sartre wichtige und aktuelle Fragen stellte, auf die er in seinem eigenen Werk antworten wollte. Als diese Dissertation 1972 unter dem Titel „Gott ohne Gott. Ein Dialog mit Jean-Paul Sartre“ im Druck erschien, fügte Hasenhüttl ihr eine eigene Übersetzung des Weihnachtsspiels „Bariona oder Der Donnersohn“ von Sartre hinzu. Dieser hatte das Stück für die französischen Gefangenen geschrieben, die mit ihm den 24. Dezember 1940 in einem Konzentrationslager der Deutschen in der Nähe von Trier feiern mussten. Unter ihnen waren auch mehrere Jesuiten. Dieses Datum gilt auch gleichsam als Tag der Uraufführung des Schauspiels. Sartre wollte damit inmitten von Trostlosigkeit und Krieg ein wenig Hoffnung schenken. (Zum biografischen Hintergrund Sartres vgl. Cohen-Solal 1989, S. 249–265). Zudem „fühlte er sich den Priestern geistig verwandt. Trotz endloser Diskussionen über der Glauben“ (ebd., S. 257). Sartre schreibt selbst darüber
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Biografie und Werkgeschichte
in seinen Kriegstagebüchern: „Wenn ich meinen Stoff der christlichen Mythologie entnommen habe, so bedeutet das nicht, dass sich die Richtung meines Denkens während der Gefangenschaft auch nur einen Moment lang geändert hat. Es ging einfach darum, in Übereinstimmung mit den gefangenen Priestern einen Stoff zu finden, der an diesem Weihnachtsabend die breiteste Gemeinschaft von Christen und Nichtchristen herstellen konnte“ (ebd., S. 261). Die Hauptfigur des Stückes, Bariona, zweifelt zunächst am christlichen Dogma von der Menschwerdung Gottes: „Ein Gott-Mensch, aus unserem gedemütigten Fleisch gebildet. Ein Gott, der erfahren wollte, wie der Salzgeschmack auf unserer Zunge schmeckt, wenn uns alles verlassen hat, ein Gott, der all das Leiden im voraus auf sich nähme, das ich heute leide … Nein, ein Unsinn“ (1972, S. 310). Erst durch die Begegnung mit dem Neugeborenen in der Krippe erwächst in ihm Hoffnung. Diese äußert sich auch darin, dass er die schwangere Sarah bittet, entgegen ihrer früheren Absicht das von ihr erwartete Kind trotz der unmenschlichen äußeren Umstände auszutragen. Der Kampf für die Freiheit wird wie zur Zeit des Königs Herodes auch in der Zeit des Nationalsozialismus erfolgreich zu Ende gehen: „In der Freude. Ich gehe über vor Freude, wie eine übervolle Schale. Ich bin frei, ich halte mein Geschick in meinen Händen. Ich zieh aus gegen die Soldaten des Herodes, und Gott geht an meiner Seite. Wie leicht mir ist, Sarah, wie leicht, o wenn du wüsstest, wie leicht mir ist. O Freude! Freude! Tränen der Freude! Leb wohl, meine süße Sarah! Hebe deinen Kopf, lächle mir zu! Fröhlich musst du sein: ich liebe dich und Christus ist geboren“ (ebd., S. 335). Zum Schluss des Stückes sagt Bariona direkt an die gefangenen Zuschauer gewandt: „Ihr seid nicht glücklich, und vielleicht ist manch einer unter euch, der diesen Geschmack von Galle, diesen bitteren und salzigen Geschmack, von dem ich gesprochen, in seinem Mund gespürt hat. Aber ich glaube, dass es auch für euch an diesem Weihnachtstag – und an allen anderen Tagen – noch Freude gibt“ (ebd., S. 336).
1.4 Professor in Saarbrücken: Die Entfaltung einer kritischen Theologie Als Gotthold Hasenhüttl 1974 auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie der Universität des Saarlandes in Saarbrücken berufen wurde, fand
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er dort ein nur kleines Institut und keine ausgebaute theologische Fakultät vor. Dennoch hat die im theologischen Institut damals erfahrene offene und persönliche Atmosphäre und seine an der Freiheit orientierte Theologie bei den ehemaligen Studierenden bis heute Ausstrahlung. Der Schwerpunkt der studentischen Ausbildung lag auf den Studiengängen für das Lehramt in seinen unterschiedlichen Ausrichtungen. Durch die Integration der früheren Pädagogischen Hochschule in die Universität gehörten jetzt vier Lehrstühle zum Institut, die zu dieser Zeit mit namhaften Wissenschaftlern besetzt waren. Die biblische Theologie vertrat der für seine historisch-kritischen Forschung bekannte Exeget und Autor zahlreicher Bücher Josef Blank (1926–1989); die Theologiegeschichte lehrte Karl-Heinz Ohlig (*1938), der später eine umfassende Darstellung der Entwicklung der Christologie verfasste und auch als Islamforscher bekannt wurde. Der Lehrstuhl für Praktische Theologie war besetzt mit dem Rahner-Schüler Heinz Schuster (1930–1986). In zahlreichen Projekten wie interdisziplinären Ringvorlesungen, Vorträgen und Forschungsprojekten zeigte sich die fruchtbare Zusammenarbeit der Kollegen in dieser nachkonziliaren Zeit theologischer Aufbrüche. Hasenhüttls theologische Entwicklung vollzog sich in Saarbrücken zwischen dem Erscheinen seiner programmatischen Schrift „Kritische Dogmatik“ (1979) und der umfassenden Ausarbeitung dieses Programms in dem zweibändigen Werk „Glaube ohne Mythos“ (2001, Bd. I und II). Die Grundthesen und Grundeinstellungen sind dabei von den ersten Publikationen bis zu den neuesten Werken stets gleich geblieben: Sie umfassen die kritische Reflexion der zentralen Aussagen des Christentums und deren Fundierung in der menschlichen Erfahrung sowie die Konzeption einer der Freiheit der Gläubigen entsprechenden Gestalt der Glaubensgemeinschaft unter Ablehnung jeder autoritären und hierarchischen Ableitung. Dazu kommt nicht zuletzt eine Gotteslehre, die sowohl der biblischen und theologiegeschichtlichen Tradition verpflichtet ist, als auch zugleich eine Antwort geben möchte auf die Situation der Gläubigen in einem säkularen und nachmetaphysischen Zeitalter. Neben den Pflichtveranstaltungen erarbeitete Hasenhüttl mit den Studierenden für die damalige Zeit ungewöhnliche Themen wie „Die Rede von Gott bei den vorsokratischen Philosophen“ oder „Die Thematisierung des Gottesgedankens im modernen Film“. Wenn es unter Beibehaltung dieser grundlegenden Fragen eine Entwicklung im Werk von Hasenhüttl gibt, dann besteht diese neben der
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umfassenden Ausarbeitung der genannten Fragen in der Ausweitung der Perspektive. Ist gerade die theologische Dissertation über Rudolf Bultmann noch sehr stark von binnentheologischen Fragestellungen geprägt, so öffnet Hasenhüttl zunehmend den Blick für andere Kulturen und Länder.
Der weltweite Horizont Schon früh unternahm Hasenhüttl zahlreiche Forschungsreisen. Als Assistent von Hans Küng begleitete er diesen 1964 auf dessen Indienreise (vgl. Küng 2004, S. 536). Längere eigene Forschungsaufenthalte führten ihn neben vielen anderen Zielen 1982/83 für mehrere Monate nach Südamerika, 1987 in viele Länder Afrikas, 1988 nach Taiwan und 1991 auf die Philippinen. Im Laufe der folgenden Jahre besuchte er fast alle Länder dieser Erde und knüpfte Kontakte zu zahlreichen Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Einrichtungen. Aus diesen Forschungsreisen sind viele Bücher und wissenschaftliche Aufsätze hervorgegangen. Die Ergebnisse seiner Erkundungen in Lateinamerika legt Hasenhüttl in dem Band „Freiheit in Fesseln. Die Chance der Befreiungstheologie. Ein Bericht“ (1985) vor. Die Ausgangsbasis seiner Analyse der geschichtlichen und gegenwärtigen Begegnungen zwischen Europa mit seiner spezifischen Kultur und Religion und der Geschichte und Kultur Lateinamerikas beschreibt er so: „Bei der Begegnung mit anderen Menschen, Völkern, Kulturen und Religionen gibt es drei Grundeinstellungen, die die Interpretation der Fakten bestimmen: 1. die koloniale, 2. die patriarchalische und 3. die dialogische. Es gibt Richtungen in Theologie und Kirche, die sich heute noch kolonial gebärden, die patriarchalische Fürsorge leisten oder auch in einem echten Dialog, sei er innerkirchlich oder nach außen gewendet, eintreten“ (1985, S. 9). Kommunikation, Dialog, das Ernstnehmen des Gegenübers als gleichberechtigten Partner und dies alles verbunden mit der unverzichtbaren Dimension der Freiheit – dies sind für Hasenhüttl die Voraussetzungen dafür, dass sowohl in Kultur und Religion als auch auf gesellschaftlich-politischer Ebene wirklich Neues entstehen kann. An der Ambivalenz, die Hasenhüttl am Ende seiner lateinamerikanischen Studienzeit feststellte, hat sich wohl grundsätzlich auch in den seither vergangenen Jahren nichts geändert: „Dieser Kontinent könnte aufrütteln und wach machen. Er könnte uns zur Veränderung und Umkehr aufrufen. Vielleicht ist Südamerika auch ein Vulkan, der jeden Mo-
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ment ausbricht, uns unvorhergesehen trifft und sogar vernichtet. Vielleicht aber bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolken und erweckt neues Leben, neue Menschen in einer neuen Gesellschaftsordnung“ (1985, S. 139). Denn: „Die Tür zum Licht wurde in den Jahrhunderten nie ganz zugeschlagen, die Hoffnung blieb den Unterdrückten – und wenn auch die Freiheit verwehrt wurde, der Spalt, durch den die Sonnenstrahlen fallen, er ist geblieben als der Ausweg, der auf Befreiung hinweist“ (1985, S. 138).
Der Bischof der Indios: Leonidas Proaño Ein besonderer Höhepunkt von Hasenhüttls Arbeit in Lateinamerika war die Begegnung mit dem damaligen Bischof von Riobamba in Ecuador, Leonidas E. Proaño (1910–1988). Dieser war stark geprägt von den Aufbrüchen des Zweiten Vatikanischen Konzils und bestimmte es unter anderem durch die Mitarbeit an der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ über die Kirche in der Welt von heute maßgeblich mit. Proaño verband die Arbeit an einer umfassenden Alphabetisierung der Bewohner Ecuadors mit dem Programm einer grundlegenden Landreform. Dabei legte er großen Wert auf die Achtung und Weiterentwicklung der indianischen, indigenen Kultur. So spricht er auch von einer echten „Theologie des Volkes“, in der das Volk die Aufgabe der wahren Theologen übernimmt. Evangelisation ist damit keine Einbahnstraße. Der Dialog der Kulturen könnte auch hier wirklich Neues entstehen lassen. Für diese Ideen warb Proaño, als er als Delegierter der ecuadorianischen Bischofskonferenz an den Sitzungen des Lateinamerikanischen Bischofsrats (CELAM) teilnahm. Als Relator für die Pastoral bestimmt er 1969 maßgeblich die Beschlüsse der Zweiten Generalversammlung des CELAM im kolumbianischen Medellín mit. Für deren dritte Vollversammlung im mexikanischen Puebla verfasst er 1979 das zweite Kapitel des Abschlussdokuments unter der Überschrift „Sozio-kulturelle Sicht der lateinamerikanischen Realität“. Als Papst Johannes Paul II. (1920–2005) am 31. Januar 1985 auch Ecuador besuchte, bezeichnete er Proaño ausdrücklich als „Bischof der Indios“. Viele Erkenntnisse aus der Begegnung zwischen Proaño und Hasenhüttl in Riobamba, der Bischofsstadt Proanos, sind in dessen Schriften eingeflossen. Proano stellte ihm die Projekte zur Alphabetisierung der indigenen Bevölkerung und auch die Maßnahmen für eine gerechte Verteilung des Landes an die Indios vor. Auf Hasenhüttls Initiative verlieh die Universität des Saarlandes Proaño am 26. Oktober 1987 aufgrund seiner Verdienste um
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den Erhalt der Indiokultur, für sein pädagogisches Engagement für eine „Erziehung zur Freiheit“ und seinen Einsatz für die Menschenrechte der unterdrückten und ausgebeuteten Bewohner seines Heimatlandes die Ehrendoktorwürde der Philosophie. Die Beschäftigung Hasenhüttls mit Schwarzafrika hat er in seinem Buch „Schwarz bin ich und schön. Der theologische Aufbruch Schwarzafrika“ (1991) niedergelegt. Auch hier verbinden sich wissenschaftliche Analysen mit konkreter Erfahrung, die er auf seinen Reisen vor Ort gewinnen konnte. Stärker noch als in Lateinamerika sieht Hasenhüttl in Afrika die auch gegenwärtig noch erkennbare Verbindung von Kolonisierung und Missionierung. Durch beide wurden die afrikanischen Menschen mit der Vielzahl ihrer Kulturen der eigenen Geschichte und Tradition entfremdet. Dies zeigt sich zum Beispiel bei der konkreten Gestaltung der Glaubensgemeinschaft: „Der Klerikalismus, der sich jeder Kontrolle durch das Volk oder einen ‚Ältestenrat‘ entledigt hat, ist kaum in einem anderen Kontinent so auffällig und zerstörerisch. Die kirchliche Struktur, durch ihre radikale Über- und Unterordnung ohne jeden Kontrollmechanismus, entfesselt die Willkürherrschaft staatlich und kirchlich“ (1991, S. 72). Neben solchen Strukturfragen beschäftigte Hasenhüttl verstärkt die Frage, wie eine Christologie entwickelt werden könne, welche die originäre afrikanische Erfahrung und Lebensdeutung als Bereicherung für die meist im Kontext der westeuropäischen Tradition verfassten Dogmen des christlichen Glaubens erkennt. Letztlich stellt sich auch hier wie in jeder Theologie die Frage nach der spezifischen Erfahrung, die als Gotteserfahrung angesprochen und als solche gedeutet werden kann. „In der Liebe begegnet uns das menschliche Antlitz Gottes. Kann es auf dem Angesicht des Schwarzafrikaners aufleuchten, oder wird es durch Unrecht, Ausbeutung und Unterdrückung geschändet? Es wird an den Christen liegen, ob sie eine bedrückende oder befreiende Botschaft verkünden“ (1991, S. 146).
Freiheit als Leitbild in Forschung, Lehre und Seelsorge Ganz im Sinne der Erfahrungen, die er mit außereuropäischen Kulturen machte, übernahm Hasenhüttl auch den Vorsitz der „Internationalen Paulusgesellschaft“ (IPG). Dieser „Verein zur Begegnung von Christentum, Religionen, Wissenschaft und Gesellschaft“ wurde 1955 von Erich Kellner (1917–1989) gegründet. Der Verein war insbesondere dem Dialog mit dem Marxismus verpflichtet und konnte durch seine Arbeit viel für die Begegnung zwischen Westeuropa und Osteuropa lange vor dem Mau-
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erfall beitragen. Noch heute geht es der IPG um den „Prozess einer Humanisierung der menschlichen Gesellschaft, die sich der drei Faktoren: Ökologie, Ökonomie und Ökumene bewusst ist“. Dieser Prozess „eröffnet auch dem Christentum eine neue Chance der Glaubwürdigkeit, soweit es sich in einer pluralen Gesellschaft als Gemeinschaft einer universalen Menschheit und Menschlichkeit begreift“ (2001, Bd. I, S. 14 f.). Neben der Förderung konkreter Begegnungen und der Herausgabe der Reihe „Schriften der Internationalen Paulusgesellschaft“ verleiht der Verein im Zwei-Jahres-Rhythmus einen eigenen Preis. Preisträger des Jahres 2013 war der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann (*1940). Neben Lehre und Forschung sowie seinen zahlreichen Auslandsaufenthalten engagierte sich Hasenhüttl auch in der akademischen Selbstverwaltung. Er leitete mehrmals das Institut für Katholische Theologie, war von 1977 bis 1979 Senator der Universität des Saarlandes, 1977–1981 und 1994–1996 Prodekan der Philosophischen Fakultät sowie Vorsitzender des Fachbereichs Grundlagen- und Geschichtswissenschaften. Er betreute neben einer Vielzahl von Examensarbeiten 16 Promotionen und 2 Habilitationen. Hasenhüttl spricht häufig von der unaufgebbaren dialektischen Beziehung zwischen Theorie und Praxis. Gerade in der Religion und in der die religiöse Praxis kritisch reflektierenden Theologie scheint dieser Bezug besonders notwendig. Insofern bildeten die praktische Seelsorge und die Feier der Sakramente immer einen selbstverständlichen Teil seiner Arbeit nicht nur als Priester. War ihm schon als Kind und Jugendlicher die Mitfeier der Eucharistie wichtig, so zelebrierte er vom Tag seiner Priesterweihe bis zum Tag seiner Suspendierung täglich die Messe. In den Saarbrücker Pfarreien Christkönig, St. Elisabeth und St. Pius bildete sich ein fester Kreis von Mitfeiernden, die jeden Tag in der Frühe mit einer Eucharistiefeier begannen. Auch in den psychiatrischen und geriatrischen Kliniken „Sonnenberg“ in Saarbrücken feierte Hasenhüttl regelmäßige Gottesdienste. Viele verstorbene Wohnsitzlose und gesellschaftlich Ausgeschlossene begleitete er als Priester auf dem Weg zur letzten Ruhe. Die zahllosen Predigten und Ansprachen aus dieser seelsorgerischen Praxis sind veröffentlicht in einem Sammelband mit dem programmatischen Titel: „Die Augen öffnen“ (1990). Exemplarisch legt Hasenhüttl dort eine Textstelle aus dem Brief des Apostels Paulus an die Galater aus, in der es heißt: „Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt ihr die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in
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Liebe. Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Gal. 5,13 f.). Mit der Freiheit scheint für Hasenhüttl die zentrale Aufgabe jeder Glaubensgemeinschaft angesprochen zu sein: „Eine solche Kirche wird die Liebe zur Freiheit wecken. Menschen, die ihr Leben lang von formaler Autorität geprägt wurden und nur eine verkrüppelte Freiheit kennen, müssen erst zur ‚Freiheit der Kinder Gottes‘ hingeführt werden. Das echte Bedürfnis nach Freiheit muss erst geweckt werden. Kirche als Propaganda der christlichen Freiheit muss alle Herrschaft als unmenschlich anprangern und sie erst recht aus ihren eigenen Strukturen verbannen. Erst wenn das Vertrauen in die formale, institutionalisierte Herrschaftsausübung gebrochen ist, erst dann wird das Leben menschlicher werden. Die Kirche könnte den ersten Versuch dazu darstellen und die Liebe zur Freiheit in den Menschenherzen wecken. Ihre Aufgabe besteht darin, den Menschen die Angst zu nehmen, dass sie ohne formale Autorität ihre Sicherheit verlieren. Die christliche Freiheit ist das beste Mittel gegen den Missbrauch der Freiheit, der freilich nie absolut auszuschließen ist. Aber ist Missbrauch der Autorität und der Macht je ausgeschlossen?“ (1990, S. 117). Das besondere soziale Engagement Hasenhüttls zeigte sich auch im Dezember 2013. Seinen 80. Geburtstag wollte er nicht mit großen Feiern begehen. Stattdessen flog er nach Bangladesch – trotz der schwierigen Bedingungen des dortigen Wahlkampfs und den häufigen oft tödlich endenden Ausbrüchen von Gewalt. Er wollte sich selbst über die dortigen sozialen Probleme informieren, um anschließend auch in Deutschland auf die Not insbesondere der Textilarbeiter aufmerksam zu machen. In der Stadt Chittagong besuchte er eine Textilfabrik, deren gezahlte Sozialleistungen noch weit über vielen anderen liegen. Trotzdem arbeiten die etwa 3500 Beschäftigten für etwa 60 Euro im Monat. Das ist etwa doppelt so viel wie das Durchschnittseinkommen im Land, und dies bei einer Arbeitszeit von zehn Stunden täglich an sechs Tagen der Woche. Statt Urlaub erhalten die Arbeiter nach 18 Arbeitstagen einen bezahlten freien Tag. Da es weder Kranken- noch Sozialversicherung gibt, ist jeder Arbeiter bei Krankheit oder im Alter auf die Unterstützung der Großfamilie angewiesen. Die Arbeit in der Fabrik zerstört nach wenigen Lebensjahren die Gesundheit. (Kaum jemand in der Fabrik war bei Hasenhüttls Besuch älter als dreißig Jahre.) Trotz dieser Umstände geht es diesen Textilarbeitern noch besser als ihren 40 Millionen Landsleuten, die unter der Armutsgrenze von einem Euro pro Tag leben müssen. Hasenhüttl zog ein persönliches Fazit
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aus diesem Besuch: „Ich bewundere den Lebensmut dieser Menschen, ihre Freundlichkeit, ihre Ausdauer und auch ihre Hoffnung, die aus den Gesichtern sprach, dass eines Tages und wenn es erst die Kindeskinder sein sollten, die Menschen in Bangladesch eine bessere Zukunft haben werden. Auch wir in Deutschland können dazu beitragen, dass ihre Hoffnungen erfüllt werden, wenn wir uns nicht nur für billige Preise und eine Gewinnmaximierung interessieren, sondern uns für einen gerechten Lohn und bessere Arbeitsbedingungen in einem solchen Lohnniedrigland einsetzen“ (2014, S. A2).
1.5 Der Ökumenische Kirchentag 2003 in Berlin und die Folgen Der ökumenische Gottesdienst mit Eucharistiefeier nach katholischem Ritus und offener Kommunion fand zwar im Kontext des ersten Ökumenischen Kirchentages am 29. Mai 2003 in der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg statt, es war aber eine Feier außerhalb des offiziellen Programms des Kirchentages. Für Hasenhüttl was es „neben meiner Primiz der wichtigste Gottesdienst meines Lebens“ (Interview, in: PublikForum 2006, Nr. 9, S. 44). Im Rückblick und nach all den Konsequenzen, die dieser Gottesdienst auslöste, bleibt Hasenhüttl dabei: „Ich habe keine Minute bereut“. Und er fügt hinzu: „Manchmal denke ich, dass die kritische Theologie, die mein ganzes Leben geprägt hat, viel weniger bewirkt hat, als diese eine Messe, die ich beim Ökumenischen Kirchentag gefeiert habe“ (ebd., S. 46). Diesen katholischen Gottesdienst, in dem alle mitfeiernden Anwesenden zum Kommunionempfang eingeladen wurden, hatten die Bewegung „Wir sind Kirche“, die „Initiative Kirche von unten“ (IKvu) zusammen mit der lokalen Kirchengemeinde organisiert. Im Vorfeld waren alle Bemühungen gescheitert, im Rahmen der Großveranstaltung des ersten Ökumenischen Kirchentages wenigstens bei einem einzigen Gottesdienst offiziell eine Einladung zu einem gemeinsamen Kommunionempfang auszusprechen.
Praktische Vorbilder Die in der gemeinsamen Kommunion praktizierte Ökumene ist an sich nichts Neues. In vielen Pfarrgemeinden wird zum Beispiel auch einem
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nicht katholischen Ehepartner auf dessen Wunsch hin das eucharistische Brot gereicht, wenn dieser es – etwa bei der Erstkommunion der Kinder – wünscht. Öffentlich geäußert wurde dieser weitverbreitete Wunsch nach einem gemeinsamen eucharistischen Mahl bereits beim Ökumenischen Pfingsttreffen 1971 in Augsburg. In mehreren der 32 angebotenen Gottesdiensten feierte man Abendmahl oder Eucharistie und praktiziert gemäß dem „Volkswunsch“ auch offene Kommunion. Der damals für Augsburg zuständige Bischof Josef Stimpfle (1916–1996) protestierte. „Doch im großen Gottesdienst-Arbeitskreis wird mit deutlicher Mehrheit eine Resolution angenommen: Es sei eine für ökumenische Gruppen und konfessionsverschiedene Ehepaare gemeinsame Eucharistiefeier zuzulassen, und jedem Christen gleich welcher Konfession möge in jeder christlichen Kirche der Kommunionempfang ermöglicht werden. So würde in der Tat in den verschiedenen Konfessionen die eine christliche Kirche sichtbar werden“ (Küng 2007, S. 340 f.). Über die zahlreichen Verbote und Drohungen als Reaktion der offiziellen Kirche schreibt Hans Küng in seinen Erinnerungen: „Sie ignorierte glatt den Wunsch ihrer Gläubigen, ja, sie verhinderte jahrzehntelang ein weiteres ökumenisches Treffen. Natürlich in der begründeten Angst, es würden dieselben Forderungen laut und gemeinsame Eucharistie einfach praktiziert“ (ebd.). Erst im Jahre 2000 fand in Deutschland auf Einladung der „Initiative Kirche von unten“ in Hamburg ein weiterer öffentlicher ökumenischer Gottesdienst unter der Leitung des Trierer Pfarrers und Religionslehrers Hermann Münzel statt, bei dem zu einem gemeinsamen Empfang der Eucharistie eingeladen wurde. Münzel wurde danach vom Priesteramt suspendiert, bis er erklärte, dass er seine Tat bereue und sie nicht wiederholen werde. Einen „interessanten Vorstoß“ nennt Hasenhüttl das so genannte „Straßburger Modell“. 1972 verfasste der lutherische Theologe Gérard Siegward einen offenen Brief an den damaligen Straßburger Bischof Léon Arthur Elchinger (1908–1998) mit der Bitte, konkrete Schritte hin zu einer eucharistischen Gemeinschaft aller Christen zu ermöglichen. Die bisher oft praktizierte eucharistische Gastfreundschaft innerhalb der Pfarrgemeinden sollte nicht mehr gleichsam „geheim“ geschehen, sondern in Einzelfällen eine offene Möglichkeit werden. Bischof Elchinger bestätigte nach dreijähriger Beratungszeit diese Position und erklärte, dass die Eucharistie für alle da sei und dass auch die nicht katholischen Christen zum Leib Christi gehörten. Während die französischen Bischöfe diesem Vorstoß weitgehend zustimmten, gab es von den deutschen Bischöfen
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viel Kritik (vgl. 2010, S. 114 ff.). Auch der Nachfolger von Bischof Elchinger unterstützte die Offenheit: „Bei einer charismatischen ökumenischen Versammlung in Plobsheim (16. 7. 2000) nahmen etwa 600 Christen unterschiedlicher Denominationen am katholischen Gottesdienst teil und empfingen die Kommunion. Im selben Jahr (30. 7. 2000) fand in Straßburg die 32. Konferenz der Internationalen Ökumenischen Gemeinschaft statt. Bei der katholischen Eucharistiefeier im Straßburger Münster kommunizierten Anglikaner, Altkatholiken, Orthodoxe, Lutheraner, Reformierte, Freikirchler u. a. Sie alle waren eingeladen. Zwei Jahre darauf (30. 7. 2002) fand wieder bei der Konferenz der Internationalen Ökumenischen Gemeinschaft im anglikanischen Dom zu Lincoln eine katholische Messfeier statt. Sie war die erste seit 470 Jahren. Der anglikanische Bischof von Lincoln nahm in vollem Ornat und mit Bischofsstab am Gottesdienst teil und empfing die Kommunion. 30 ordinierte Männer und Frauen nahmen teil: Anglikaner, Altkatholiken, Lutheraner, Reformierte, Methodisten, Baptisten, Böhmische Brüder usw. Sie alle nahmen im Altarraum Platz und empfingen die Eucharistie in ihrer liturgischen Kleidung“ (2010, S. 116). Nach vielfältigen wissenschaftlichen Diskussionen um Inhalt und Form der Sakramente sowie insbesondere um die konkrete Gestaltung und die Zulassungsbedingungen des Sakraments der Eucharistie nahmen die Stimmen derer zu, die auf konkrete Umsetzungsmöglichkeiten und eine zeitnahe ökumenische Praxis drängten. Unter anderen unterstrichen die drei Ökumenischen Institute von Straßburg, Tübingen und Bensheim, dass letztlich nicht die Zulassung getaufter Christen zum gemeinsamen Abendmahl einer Begründung bedarf, sondern vielmehr gerade deren Ausschluss – wenn es eine solche Begründung überhaupt gibt. Ökumene dürfe sich nach Ansicht der Institute nicht nur auf Randphänomene beschränken, sondern müsse in Christus selbst und in seiner Gegenwart im Sakrament erfahrbar gelebt werden. Christus lade zur Eucharistie ein, nicht die Amtsträger der einzelnen Konfessionen. Tischgemeinschaft fördere und bedinge Kirchengemeinschaft und nicht umgekehrt. Bereits durch die Taufe, die von allen christlichen Kirchen anerkannt wird, stünden die Christen in dieser Gemeinschaft, auch wenn diese noch nicht überall sichtbar und vollkommen ist. Hasenhüttl zitiert in seiner Darstellung der bisherigen Schritte hin zu einem gemeinsamen eucharistischen Mahl auch das Votum seines früheren Tübinger Kollegen, des späteren für die Ökumene zuständigen Kurienkardinals Walter Kasper von 1970: „Die eigentliche Irregularität sind
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nicht solche offenen Kommunionfeiern, sondern die Spaltung und gegenseitige Exkommunikation der Kirchen. Die nicht positiv genug zu würdigende Funktion einzelner Gruppen, welche hier vorpreschen, ist es, dass sie den Kirchen den Skandal ihrer Trennung der Einheit immer wieder vor Augen führen und dafür sorgen, dass wir uns nicht bequem mit dem Status quo abfinden. Deshalb können einzelne gemeinsame Eucharistiefeiern, wenn sie in christlicher Verantwortung begangen werden, ein Zeichen der Hoffnung sein, dass die trennenden Gräben aus der Vergangenheit durch gemeinsame Anstrengung überwunden werden könne, indem sie sich alle im Glauben an den einen Herrn um den einen Tisch versammeln, um das Brot zu teilen, und sich zu einem Leib verbinden lassen“ (zitiert nach 2010, S. 119 f.). Ob sich Kardinal Walter Kasper an seine eigenen Ausführungen erinnerte, als in seiner Anwesenheit in den Sitzungen der römischen Glaubenskongregation vom 13. Oktober 2004 und vom 10. November 2004 „kollegial entschieden“ wurde, den Einspruch Hasenhüttls gegen seine Suspendierung zurückzuweisen?
Segensreiches Wagnis Der erste Ökumenische Kirchentag in Berlin 2003 stand unter dem Motto „Ihr sollt ein Segen sein“. An dem Gottesdienst im Kontext dieses Kirchentags, dem Gotthold Hasenhüttl vorstand und bei dem die evangelische Pfarrerin Brigitte Enzner-Probst assistierte, nahmen über 2000 Mitfeiernde teil. Viele konnten wegen Überfüllung der Kirche nicht mehr eingelassen werden. Manche sprachen von einem „Pfingstereignis“ und lobten die spirituelle Dichte dieser Feier. Das Medienecho war enorm, das Ereignis wurde am 29. Mai 2003 unter anderem die erste Meldung der Nachrichtensendung „Tagesschau“ in der ARD. Bei einem alternativen protestantischen Gottesdienst unter Anwesenheit des katholischen Priesters Bernhard Kroll, wurde auch den Katholiken das Abendmahl gereicht, wie dies der allgemeinen Einladung der Kirchen der Reformation an die Katholiken entspricht. Da Pfarrer Kroll an diesem Abendmahl teilnahm, wurde er umgehend von seinem Eichstätter Bischof Walter Mixa zur „Bekehrung“ in ein Kloster geschickt. Auch wurde ihm eine Umschulung ermöglicht. Die „offene Kommunion“ oder „eucharistische Gastfreundschaft“, wie sie in Berlin praktiziert wurde, sieht Hasenhüttl als gerechtfertigt an – auch unter Berücksichtigung offizieller kirchlicher Verlautbarungen unter Einschluss des Kirchenrechts, das diese in Ausnahmefällen vorsieht. Hier-
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durch eröffnen sich für ihn konkrete Möglichkeiten einer ökumenischen Begegnung: „Christen anderer Konfessionen werden, wenigstens in Ausnahmefällen bzw. zu besonderen Anlässen, zur Abendmahlsgemeinschaft eingeladen. Demjenigen, der beim Gottesdienst anwesend ist und Gemeinschaft mit Jesus Christus haben möchte, steht der Empfang der Eucharistie offen. Diese gegenseitige Zulassung setzt keine offizielle Abmachung zwischen den Kirchen voraus. Sie ist jedoch getragen von dem Gedanken, dass Jesus Christus niemanden ausschloss, der zu ihm kommen wollte, und dass dadurch Versöhnung und Verständigung in Einheit ermöglicht wird“ (2010, S. 114 f.). Hasenhüttls Handlung geschah somit nicht spontan oder unüberlegt. Sie ist theologisch und menschlich begründet und nachvollziehbar. Deswegen kann und muss er zum geforderten Widerruf sagen: „Ich würde mein ganzes Lebenskonzept, meine Theologie und meine Überzeugungen verraten, wenn ich unterschriebe“ (Interview, in: Publik-Forum 2006, Nr. 9. S. 44). Die Einladung aller Mitfeiernden zum eucharistischen Mahl ist tief in der Theologie Hasenhüttls verankert und erschließt sich folgerichtig aus dieser.
Beschränkte Freiheit Manche Mitglieder der Kirchenverwaltung sahen in der Debatte um die gemeinsame Eucharistiefeier in Berlin einen willkommenen Anlass, mit der Kritik an Hasenhüttls Einladung auch seinen gesamten theologischen Ansatz zu verurteilen. Andererseits mag wohl so mancher Bischof gedacht haben: „Vielleicht gibt es nur eine Ermahnung“. Selbst der damalige Bundespräsident und engagierte Protestant Johannes Rau bezog öffentlich Stellung zugunsten Hasenhüttls: „Der ökumenische Kirchentag war gerade von den jungen Leuten her ein Zeichen dafür, dass sich Institutionen verändern (…) Umso schrecklicher ist für mich die Maßregelung eines Priesters, die ich als evangelischer Christ nicht verstehen kann, ohne da der katholischen Kirche ins Wort fallen zu wollen“ (Spiegel Online 18. Juli 2003). Eine Woche nach dem Ökumenischen Kirchentag in Berlin, am 10. Juni 2003, erhielt Hasenhüttl einen vom 5. 6. 2003 datierten Brief des damaligen Berliner Bischofs und Kardinals Georg Sterzinsky mit der Aufforderung, am 18. Juni 2003 um 17.00 Uhr in dessen Berliner Büro zu erscheinen. Hasenhüttls Bitte, diese sehr kurzfristige Terminierung aufzuheben und sich zunächst schriftlich über die Sachlage auszutauschen,
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blieb ohne Antwort des Berliner Bischofs. Sterzinsky gab die Angelegenheit an seinen Trierer Amtsbruder Bischof Reinhard Marx weiter. Das folgende Geschehen beschreibt Hasenhüttl selbst: „Ohne dass Bischof R. Marx nur in irgendeiner Form versuchte, mit mir in Kontakt zu treten, stand am 2. 7. 2003 um 8 Uhr früh ein Bote des Bischofs an der Tür der Kirche St. Elisabeth, Saarbrücken, wo ich die Messe gefeiert hatte, und fragte mich nach meinem Namen. Darauf übergab er mir folgendes Schreiben“ (2010, S. 162; alle folgenden Dokumente sind vollständig abgedruckt in 2010). Das Schreiben des damaligen Trierer Bischofs und heutigen Münchener Kardinals Reinhard Marx erkennt in Hasenhüttls Brief an Bischof Georg Sterzinsky vom 10. Juni eine grundsätzliche Verweigerung des Gesprächs. In Absprache mit Bischof Sterzinsky und Hasenhüttls Grazer Heimatbischof Egon Kapellari würde er, Marx, selbst hiermit tätig, da es bei dem Gottesdienst in der Berliner Gethsemanekirche „zu Verstößen gegen kirchenrechtliche Normen“ gekommen sei. Im Einzelnen werden genannt: Katholische Spender dürfen nur katholischen Gläubigen die Sakramente spenden; die im Kirchenrecht vorgesehenen Ausnahmen kämen hier nicht zur Anwendung; es handele sich bei der „praktizierten Interkommunion“ um eine „verbotene Gottesdienstgemeinschaft“. Wer sich in diesen Angelegenheiten „schuldig macht“, muss „mit einer gerechten Strafe belegt werden“ (2010, S. 163). Bischof Marx spricht eine Verwarnung aus und fordert Hasenhüttl auf, seine Handlung zu bereuen und Ähnliches in Zukunft nicht mehr zu tun. Zudem soll Hasenhüttl „eine angemessene Wiedergutmachung der Schäden und eine Behebung des Ärgernisses“ leisten (ebd., S. 166). Dem Brief des Bischofs liegt eine zur Unterschrift fertige „Erklärung“ bei, in der es heißt: „Mein Verhalten bei der Eucharistiefeier, der ich am 29. Mai 2003 in der Berliner Gethsemane-Kirche vorstand und bei der es durch mich zu erheblichen Verstößen gegen das kirchliche Recht kam, bereue ich. Ich werde mich in Zukunft an die kirchliche Ordnung halten und versprechen, nicht mehr gegen die im Brief von Bischof Dr. Reinhard Marx vom 1. 7. 2003 genannten Canones zu verstoßen. Mir ist bewusst, dass ich bei weiteren Verstößen gegen die kirchliche Ordnung suspendiert werde. Weil mein Verhalten in der Öffentlichkeit für größeres Aufsehen gesorgt hat, bin ich damit einverstanden, dass die vorliegende Erklärung von der Stabsstelle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Bischöflichen Generalvikariates Trier veröffentlicht wird“.
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Auf Hasenhüttls eindringliche Bitte hin findet am 11. Juli 2003 in Trier ein Gespräch mit dem Bischof statt, obwohl Letzterer offen bekundete, dass er keinen Gesprächsbedarf sehe, und nur darauf drängte, die Unterschrift unter der genannten „Erklärung“ zu leisten. Hasenhüttl konkretisierte seine Position nach dem Trierer Gespräch in einem Schreiben an Bischof Marx vom 15. Juli 2003, in dem es heißt: „Unabdingbar gehört zu jeder Reue ein Fehlverhalten. Mein angebliches ‚Vergehen‘ besteht darin, dass ich evangelische Christen zum Herrenmahl eingeladen habe. Darin kann ich auch aufgrund Ihres Schreibens keine Schuld erkennen (…) Ihre ultimative Forderung der bedingungslosen Reue und des blinden Gehorsams entspricht in keiner Weise dem, wofür ich in meinem Leben als Priester und Theologe gearbeitet und gekämpft habe (…) Mein Gewissen verbietet mir, Ihnen auf DIESEM Weg zu folgen und die von Ihnen vorgelegte Erklärung zu unterschreiben“ (2010, S. 168). Darauf antwortet Bischof Marx am 17. Juli: „Ich habe erwartet, dass Sie bis zum 16. 7. 2003 die Erklärung mit Datum vom 1. 7. 2003 unterzeichnen. Dem sind Sie nicht nachgekommen (…) Daher suspendiere ich Sie gemäß c. 1333 § 1,1 und 2 CIC mit sofortiger Wirkung. Diese Suspendierung verbietet Ihnen die Ausübung aller Akte der Weihe- und Leitungsvollmacht“ (ebd., S. 170). Einen Tag nach dem Erhalt des Schreibens mit der Suspendierung legte Hasenhüttl Beschwerde bei Papst Johannes Paul II. ein. Dies hatte bezüglich der Suspendierung aufschiebende Wirkung. In einer Schlussbemerkung führte er aus: „Der letzte Vorwurf ist der, dass ich öffentlich ‚Ärgernis‘ erregt haben soll. Nach Umfragen in Deutschland sind 88 % der Katholiken für eine punktuelle gegenseitige eucharistische Gastfreundschaft, so dass ich ein ‚Ärgernis‘ nicht erkennen kann (…) Hier geht es auch nicht um ein ‚Mehrheitsvotum‘, sondern um das, was der Hl. Thomas von Aquin ‚instinctus fidei‘ genannt hat. Fast allen katholischen Christen in Deutschland kann wohl nicht der ‚Glaubenssinn‘ abgesprochen werden“ (ebd., S. 177). Erst am 3. Juni 2004 erreicht Hasenhüttl ein vom 24. April datiertes Schreiben der „Congregatio pro doctrina fidei“, der römischen Glaubenskongregation, unterschrieben von deren Präfekt Kardinal Joseph Ratzinger. Darin wird die Suspendierung wie folgt begründet: „Diese Maßnahme wurde durch einen sehr schwerwiegenden und bedauerliche Vorfall verursacht, dessen sich der genannte Priester während des Ökumenischen Kirchentags in Berlin am 29. Mai 2003 schuldig gemacht hat, als er bei
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der heiligen Messe, die er in der Gethsemane-Kirche feierte, alle anwesenden Christen zum Kommunionempfang einlud“ (2010, S. 184). Am Ende heißt es: „Zugleich möchte die Kongregation ihre Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass Herr Hasenhüttl die Lehre und Disziplin der Kirche in dieser wichtigen Angelegenheit annimmt, sein Verhalten bereut und ernsthaft verspricht, sich in Zukunft an die kirchliche Ordnung zu halten“ (ebd., S. 188). Für diesen Fall wird die Aufhebung der Suspendierung in Aussicht gestellt. Einen juristisch möglichen zweiten Rekurs gegen die Entscheidung legt Hasenhüttl einen Tag nach Erhalt des Briefes der Glaubenskongregation am 4. Juni 2004 ein. In dem entsprechenden Brief an den Vorsitzenden Kardinal Ratzinger heißt es unter anderem: „Hätte ich die anwesenden Christen nicht zum Kommunionempfang eingeladen, hätte ich die jesuanischen Worte Lügen gestraft, denn ich betete im Kanongebet: ‚Nehmet und trinket alle daraus‘. ‚Alle‘ sind doch nicht nur Katholiken, sondern jeder, der Gemeinschaft mit Christus haben möchte, die Eucharistie von eine gewöhnlichen Speise unterscheidet und sich keiner schweren Schuld bewusst ist. Hätte ich mich anders verhalten, hätte ich mich schwer schuldig gemacht“ (2010, S. 191). Am 4. Dezember 2004 erhielt Hasenhüttl das am 12. November 2004 von Kardinal Ratzinger unterschriebene Dekret der Glaubenskongregation. Darin heißt es, dass auch nach dem zweiten Einspruch Hasenhüttls von den Mitgliedern der Glaubenskongregation „kollegial entschieden“ wurde, „den genannten Rekurs zurückzuweisen“ (2010, S. 199). In der am 12. November „dem unterzeichneten Kardinalpräfekt gewährten Audienz hat Papst Johannes Paul II. die vorliegende, von der Ordentlichen Versammlung dieser Kongregation getroffene Entscheidung approbiert“ (ebd., S. 203). Am 2. Januar 2006 teilte der Bischof von Trier, Reinhard Marx, Hasenhüttl mit, dass er ihm auch die kirchliche Lehrerlaubnis, das „Nihil obstat“ entziehe. Hasenhüttl wandte sich am 16. Januar direkt an den inzwischen zum Papst Benedikt XVI. gewählten Joseph Ratzinger. Er erinnerte unter anderem daran, dass dieser selbst beim Requiem für seinen Vorgänger, Papst Johannes Paul II., dem Prior und Gründer der Kommunität von Taizé, Frère Roger Schutz, die Hl. Kommunion reichte, obwohl dieser nicht katholisch ist. Zudem betonte er, das Kultusministerium des Saarlandes habe den Bischof von Trier darauf aufmerksam gemacht, dass Hasenhüttl auch nach seiner Pensionierung 2002 noch fünf Studie-
Der Ökumenische Kirchentag in Berlin und die Folgen
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rende zu prüfen habe, die bei ihm Vorlesungen und Seminare belegt hatten, und dass diese unter einem besonderen Vertrauensschutz stehen. Deswegen sollte der Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis zumindest bis zum Ende der Prüfungen aufgeschoben werden. Der Brief schließt mit den Sätzen: „Heiliger Vater, Sie haben 1969 meine Dozentur in Tübingen unterstützt, 1979 in München meine ‚Kritische Dogmatik‘ positiv bewertet und 2000 mit meinen StudentInnen und mir einen fruchtbaren Dialog in der Glaubenskongregation geführt. Sie kennen mich und meine kritische Loyalität gut, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie der ungerechten Vorgehensweise des Bischofs von Trier zustimmen können. Das Kirchenrecht ist für den Menschen da und nicht der Mensch für das Kirchenrecht. Daher beantrage ich, dass Sie, Heiliger Vater, veranlassen mögen, dass der Entzug der Lehrerlaubnis rückgängig gemacht wird. Auch hoffe ich, dass es keinen Grund mehr für meine Suspendierung gibt“ (2010, S. 210). Der neue Vorsitzende der Glaubenskongregation und damit Nachfolger von Kardinal Ratzinger in diesem Amt, Kardinal William Levada, antwortete in einem Schreiben vom 22. April 2006 und bestätigte im Auftrag des Papstes Benedikt XVI. die Aberkennung des „Nihil obstat“ durch den Trierer Bischof mit dem Hinweis auf einen weiteren, letztmöglichen Rekurs. Dieser Einspruch Hasenhüttls erfolgte am 2. Mai 2006 und wurde durch ein erneutes Schreiben der Glaubenskongregation vom 2. Juni wiederum abgelehnt. Ein weiterer letzter Brief Hasenhüttls an Papst Benedikt XVI. vom 22. Juni wurde am 15. November von Assessor Gabriel Caccia beantwortet: „Seine Heiligkeit hat von Ihren Zeilen Kenntnis erhalten. Ich muss Ihnen jedoch mitteilen, dass kein Grund zu einer neuerlichen Prüfung Ihres Falles besteht“ (2010, S. 231). Beim zweiten Ökumenischen Kirchentag in München unter dem Motto „Damit ihr Hoffnung habt“ feierte Gotthold Hasenhüttl zusammen mit dem protestantischen Pfarrer Eberhard Braun am 15. Mai 2010 wiederum einen Gottesdienst, bei dem alle Mitfeiernden zum gemeinsamen Mahl eingeladen wurden. Da auch die evangelische Kirche dazu offiziell kein Gotteshaus zur Verfügung stellte, fand der Gottesdienst in den Räumen der Universität statt. Im gleichen Jahr, am 28. September 2010, trat Gotthold Hasenhüttl aus der katholischen Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts aus. Bereits viel früher hatte er die Unterscheidung zwischen Christsein und der Mitgliedschaft in der verfassten Kirche thematisiert. Die seit dem Mit-
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Biografie und Werkgeschichte
telalter aufgeworfene Frage, ob auch außerhalb der Kirche Heil und gelingendes Leben möglich sei, beantwortete er auf seine Weise: „Aus der Beschreibung des Christentums geht hervor, dass es eine wirkliche Identität zwischen ihm und den faktischen Kirchen nicht gibt. Daher ist Christsein voll und ganz außerhalb einer institutionellen Kirche möglich. Es kann durchaus der Fall eintreten, dass das ‚Außerhalb‘ für mich sogar geboten ist, wenn mein Christsein durch eine Kirche beschädigt wird“ (2001, Bd. II, S. 372, vgl. bereits 1972, bes. S. 88). Als der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann nach langen Auseinandersetzungen mit dem kirchlichen Lehramt an seinem 65. Geburtstag am 20. Juni 2005 aus der katholischen Kirche austrat, sagte er, er empfinde diesen Schritt als einen Akt der Befreiung und insofern auch als Geburtstagsgeschenk. Hasenhüttl konnte dieser Erfahrung von Freiheit bei seiner eigenen Entscheidung nachdrücklich zustimmen – trotz Enttäuschung und Schmerz. Ausdrücklich aber bleibt er in der Glaubensgemeinschaft und insofern in der Nachfolge Jesu.
II
Der theologische Neuansatz Gotthold Hasenhüttls 1
1.1
Ausgangspunkt
Die Notwendigkeit theologischer Neuansätze
Theologische Neuansätze bedürfen der Rechtfertigung. Sind nicht in den biblischen Schriften bereits alle Sinnangebote und Sinndeutungen der jüdisch-christlichen Tradition so angelegt, dass die Schrift zur „norma normans“ wird, zu der alle späteren theologischen Neuansätze prägenden Norm? Reicht diese biblische Grundlage, wie viele auch heute meinen, nicht aus, um ein sinnvolles, für sich und andere glückliches Leben zu ermöglichen? Warum dann aber gibt es immer wieder in der Theologieund Kirchengeschichte Neuansätze, die oft durch das Infragestellen alter Denkstrukturen scheinbar Unruhe stiften und durch ihren Aufbruch aus der gewohnten Behaglichkeit Menschen irritieren und verunsichern? Warum reicht es nicht aus, die biblische Botschaft einfach zu verkünden und deren Deutung in der übersichtlichen Form eines (Jugend-)Katechismus zu wiederholen? Eine erste Antwort auf diese Fragen kann die Bibel selbst liefern.
Theologie als Erfahrungswissenschaft Inhaltlich und von ihrer literarischen Gestalt her sind die neutestamentlichen Evangelien Erfahrungsgeschichten. Die Erfahrungen, die die Zeitgenossen Jesu mit ihm, seiner Botschaft und mit seinem Geschick gemacht hatten, wurden der nachfolgenden Generation erzählt, damit die befreiende Botschaft auch hier fruchtbar werden konnte. Als in der dritten Generation sowohl die Augenzeugen als auch die meisten Zeugen der narrativen Weitergabe verstorben waren, sah man sich veranlasst, das Tradierte schriftlich zu fixieren. Ohne diese Verschriftlichung wäre die Kenntnis von Jesus Christus und seiner Botschaft in wenigen folgenden Generationen verloren gegangen. Verschriftlichung ist aber immer zugleich auch Deutung: Mit welchen Bildern und Sprachformen lässt sich das bisher mündlich Tradierte übersetzen? Wie können die Lebenswelt und die Eigenart der aramäisch sprechenden und denkenden Menschen in den grie-
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Ausgangspunkt
chischen Kulturkreis und dessen Sprache übersetzt werden? Neben den Autoren bedurfte es auch der Gemeinschaften, die die mündliche wie die bereits schriftlich vorliegende Botschaft aufnahmen und – weil sie diese als befreiend erfahren hatten – weitergaben. Ohne eine solche die Tradition weitergebende Gemeinde mit ihren ganz spezifischen Lebensumständen und gesellschaftlichen Strukturen wäre auch hier bald ein Ende der Vermittlung abzusehen gewesen. Eine kommunikativ vermittelte Erfahrung wird somit auch ein Kriterium jedes aktuellen theologischen Neuansatzes sein.
Pluralität als Wesensmerkmal eines theologischen Neuansatzes Die Redaktion der biblischen Schriften hatte schwierige Aufgaben zu lösen. Sie traf im 2. Jahrhundert eine Auswahl aus den bereits vielfältigen schriftlich und mündlich vorliegenden Erzählungen, Sammlungen von Jesus-Aussprüchen und zahlreichen „Evangelien“, um daraus den bis heute geltenden Kanon der Schriften des „Neuen Testaments“ zu formen. Die Auswahlkriterien sind heute nur noch mühsam zu eruieren. Gruppeninteressen, die Abwendung vom Dualismus der zeitgenössischen Gnosis, Widersprüche zu den bereits in den Gemeinden vorhandenen Texten oder die Unmöglichkeit, bestimmte Texte in irgendeiner Form mit der bisher tradierten Überlieferung aus der Urgemeinde in Übereinstimmung zu bringen, können als formale Ausschlusskriterien genannt werden. Trotz aller Reduktion aber blieb die Vielfalt erhalten. Das theologische Anliegen der einzelnen Evangelisten, ihre jeweils individuelle Sprache und die sehr unterschiedlichen Adressatenkreise ihrer Texte ließen es nicht zu, die ausgewählten vier Evangelien ihrerseits wieder zu einem einzigen zusammenzufügen und somit zu harmonisieren. Auch spätere Versuche wie der des Otfrid von Weißenburg im 8. Jahrhundert scheiterten. Pluralität gehört somit bereits zu den Anfängen des Christentums. Wenn Evangelien Antworten auf zentrale Fragen der Menschen geben wollen, dann zeigt bereits die christliche Antike, dass es „den“ Menschen nicht gibt. Zu unterschiedlich sind geschichtliche, kulturelle, religiöse und auch gesellschaftlich-politische Kontexte konkreter Menschen, als dass eine einzige Antwort alle erreichen könnte. Daher kann auch in der Gegenwart das Christentum seine Ausstrahlung in die Gesellschaft nur in der Vielfalt von Lebensformen und theologischen Modellen entfalten. Die Geschichte blieb auch nach Abschluss der Kanonbildung des Neuen Testaments nicht stehen. Jede Generation sah sich vor ganz eigene
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Fragen und Probleme gestellt, die ihrerseits wieder nach konkreten Antworten und Sinnangeboten verlangten. Dabei konnte es auch nicht darum gehen, eine immer gleichbleibende Botschaft nur in eine neue Sprache zu übersetzen. Sprache ist nicht nur ein äußeres Gewand, das man nach Belieben wechseln kann. Die Ausbreitung des Christentums in der ganzen damals bekannten Welt sowie die ständige Veränderung dieser Welt einschließlich ihrer Sinn- und Deutungsangebote erforderten stets eine neue Reflexion über Inhalt und Ausgestaltung der eigenen Botschaft. Nur zu schnell drohte allerdings die aus Erfahrungen entstandene Botschaft zu einer abstrakten und in diesem Sinne dogmatischen Lehre zu werden. Neue Deutungen der eigenen wie der überlieferten Erfahrungen waren und sind nie umstritten. Nie können sich alle mit einer einzigen Ausprägung eines Sinnangebotes identifizieren. Andererseits lassen sich zu allen Zeiten Menschen gerne ein Lebensmodell und dessen Deutung von anderen vorgeben, anstatt sich selbst auf den oft zwar mühsamen, aber letztlich doch lebendigen und sinnstiftenden Weg des Lebens zu begeben. Stehen mehrere Deutungsalternativen im Raum, dann ist dies ein positives Zeichen der Vielfalt. Theologie als praktische Wissenschaft muss Menschen befähigen, angstfrei mit dieser Vielfalt umzugehen und verantwortungsvoll den je eigenen Weg zu gehen. Die Anerkennung von Pluralität ist allerdings nicht ein Plädoyer für Beliebigkeit. Eine kritische Sichtung theologischer Neuansätze wird Ansatzpunkte entwickeln, um zu beurteilen, welcher Aspekt einer Neudeutung im Sinne der Botschaft Jesu legitim ist und welcher nicht. Nicht immer ist dies so leicht zu entscheiden wie in Bezug auf die Theologie der „Deutschen Christen“, die in der Zeit des Nationalsozialismus Jesus für die Ideologie eines germanischen Herrenmenschen vereinnahmen wollten. Es stellen sich viele Grundfragen – und diese sind auch an den theologischen Neuansatz Hasenhüttls zu stellen: Wird der theologische Neuansatz wirklich als Interpretation menschlicher Erfahrung verstanden, oder schließt er sich in einem erfahrungslosen Gedankensystem ein? Kommen in dem neuen Interpretationsansatz Erfahrungen aller Betroffenen zur Sprache, oder verdankt sich das Heil der einen der Ausgrenzung und Unterdrückung anderer? Eine kritische Reflexion über den Anspruch einer konkreten Glaubenspraxis ist nicht zu leisten ohne einen fortwährenden Dialog. Gerade weil es bei historisch-hermeneutischen Texten nicht wie bei den For-
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schungsergebnissen der Naturwissenschaften ein empirisch verifizierbares äußeres Drittes gibt, das als Kriterium zur Beurteilung einer Aussage herangezogen werden könnte, bedarf es des Diskurses selbst, um den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu überprüfen. Dies kann nur unter Beteiligung aller Betroffenen sowie einer sanktions- und herrschaftsfreien Kommunikation gelingen. Die gesamte Theologie- und Kirchengeschichte liefert allerdings unzählige Beispiele dafür, dass gerade diese Kriterien nicht eingehalten, sondern die Vertreter des jeweils anderen Interpretationsmodells als Ketzer verurteilt oder sogar getötet wurden. In der Einschätzung dieses Tatbestands stimmen auch Gotthold Hasenhüttl und Joseph Ratzinger überein (vgl. 2001, Bd. II, S. 338 f.). Grundsätzlich wird sich jede christliche Theologie am Wort und Lebensmodell Jesu Christi messen lassen müssen.
Standortbestimmung: Zerfall eines religiös fundierten Einheitsweltbilds Die Notwendigkeit theologischer Neuansätze zeigt sich insbesondere in der pluralen Welt der (Post-)Moderne. Diese stellt letztlich das Ergebnis eines über Jahrhunderte hinweg fortschreitenden Prozesses dar. Vereinfacht kann dieser Prozess als die Ausdifferenzierung eines im mittelalterlichen Ordo-Gedanken gefassten Einheitsdenkens beschrieben werden: Die drei Dimensionen der Wahrheit, der Moral und der Kunst wurden dort alle nach den gleichen Plausibilitätsstrukturen gedeutet und beurteilt. Was als wahr, gut und schön galt, verdankte sich Kriterien, die einheitlich aus der Grundlage eines religiös-metaphysischen Weltbildes stammten. Korrespondierten Aussagen mit der vorhandenen Wirklichkeit, dann waren diese „wahr“. Entsprach menschliches Handeln den aus der Natur ablesbaren Normen, dann wurde dieses als „gut“ gedeutet, und zeigte sich in der Kunst die Größe der göttlichen Schöpfung, dann war diese Kunst „schön“. Gemeinsam war allen Dimensionen, dass sie letztlich religiös begründet wurden: Gott hat dem Menschen die Vernunft zur Erkenntnis gegeben, er hat in der Natur die moralische Grundlage des menschlichen Handelns angelegt, und er hat die Schöpfung als Gegenstand und Vorbild der Kunst geschaffen. Spätestens durch Reformation, Aufklärung sowie das Aufkommen der Naturwissenschaften und der Technik, nicht zuletzt aber auch durch die Globalisierung aller Ebenen des menschlichen Lebens ist diese vorgegebene Einheit zerbrochen. Jeder Aspekt der Wirklichkeit sucht nun nach eigenen Plausibilitäts- und Begründungsstrukturen. Was aber wird aus der das frühere Einheitsdenken begründenden religiösen Basis?
Die Notwendigkeit theologischer Neuansätze
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Bereits Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) beschrieb eindrücklich diese Situation: „Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden (…) Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in einer Welt leben müssen – ‚etsi deus non daretur‘. Und eben dies erkennen wir – vor Gott (…) Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen, als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden“ (Bonhoeffer 1976, S. 177 f.). Diese These von einer universalen Säkularisierung steht gegenwärtig meist unvermittelt neben der These von einem Wiederaufleben der Religion in der Gegenwart. Jürgen Habermas (*1929) weist darauf hin, dass auch säkulare Gesellschaften und Staaten auf Überzeugungen und Lebensvollzügen beruhen, die sie selbst nicht schaffen können (vgl. Habermas 2003, S. 256 ff.). Weder die totale Ausgrenzung der Religion noch ein unreflektiertes Beharren auf traditionellen Formeln und Riten zeigen demnach einen Weg in die Zukunft, sondern die „kooperative Übersetzung religiöser Gehalte“ in die jeweilige Gegenwart. Weder ein ungebrochenes Beibehalten traditioneller Deutungsmuster noch ein totaler Bruch mit den in der Tradition angesammelten Deutungsmöglichkeiten der christlichen Botschaft kann eine verantwortungsvolle Reaktion sein. Es bedarf vielmehr der Übersetzung der tradierten Botschaft in die Gegenwart. Der theologische Neuansatz von Gotthold Hasenhüttl unternimmt einen eigenständigen Weg zu dieser Übersetzung. Er verweist auf geschichtliche Engführungen und Fehldeutungen im kirchlichen Dogma und zeigt Alternativen auf, die sich ihrerseits sowohl gegenüber der Tradition als auch gegenüber der Moderne als begründet erweisen – selbst wenn diese Interpretationen „dann sehr oft außerhalb des Sinnes liegen, den die Kirche ihrer Aussage gegeben hat“ (1979, S. 65). Es geht letztlich darum, Aussagen des Glaubens wieder zurückzuführen auf eine an der biblischen Rede vom Reich Gottes orientierten Erfahrung des Heils und des Gelingens menschlichen Lebens. Diese Erfahrung ist dann vernünftigerweise so zu deuten, dass diese Deutungen ihrerseits auch in einer pluralen und weitgehend säkularen Welt verstanden und als hilfreich erfahren werden können. Jede Übersetzung der christlichen Botschaft in die jeweils durch unterschiedliche geschichtliche und kulturelle Rahmenbedingungen geprägte Lebenswelt wird dabei bedenken, dass der Faden einer ungebrochenen Tradition des christlichen Glaubens wenigstens in Westeuropa weitgehend abgerissen ist. Wenn durch eine neue Überset-
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Ausgangspunkt
zung der zentralen Inhalte Menschen die Welt des Glaubens neu erschlossen wird, sodass diese sich auf den Weg machen, um nach jesuanischem Vorbild ihr eigenes Leben und das Leben der anderen neu zu entdecken und die gesellschaftspolitischen Verhältnisse der Welt menschenfreundlich zu gestalten, so wäre dies eine erfreuliche Konsequenz der biblischen Botschaft: „In diesem Sinne ist eine Neuinterpretation absolut notwendig, will man die Wahrheit des Anliegens verstehen und nicht mit der sinnlosen Ausdrucksweise auch die Wahrheit zerstören“ (1979, S. 65).
1.2 Die Fragen Jean-Paul Sartres als Leitfragen Hasenhüttls Wie kaum ein anderer Autor des 20. Jahrhunderts beschrieb Jean-Paul Sartre das scheinbar unlösbare Rätsel Mensch und das Scheitern aller Versuche, trotz dessen existenztieller Gebrochenheit ein sinnvolles und glückliches Leben zu führen. Hasenhüttl nimmt diesen Denker der marxistischexistenzialistischen Philosophie sehr ernst. Er deutet dessen Ansatz und zeichnet gleichsam durch kritische Analyse der Ausführungen Sartres eine Kontrastfolie, vor deren Hintergrund die befreiende Botschaft Jesu Christi Möglichkeiten geglückten Menschseins eröffnen kann. Diese Botschaft muss dabei allerdings immer wieder von Verkrustungen und Verengungen befreit werden. Bereits in seiner philosophischen Dissertation führte Hasenhüttl einen „Dialog mit Jean-Paul Sartre“ und wollte, durch diesen angeregt, auf solch eine Weise neu von Gott sprechen, dass der Gehalt des Wortes „Gott“ wieder deutlich und erfahrbar werden kann. So ist bereits die Widmung in der gedruckten Fassung dieser Arbeit zu verstehen: „Für jene, denen die Liebe Gottes auf keinem Menschenantlitz erschienen ist“. Programmatisch trägt deswegen das Buch den Titel: „Gott ohne Gott“ (1972). Vergleichbar den „Fünf Wegen“ der Gottesbeweise von Thomas von Aquin, auf denen dieser kognitiv nachvollziehbare Beweise für die Existenz Gottes aufzeigen wollte, formulierte Hasenhüttl hier negativ mit Sartre fünf Wege der traditionellen Philosophie und Theologie, die sich als Holz- und Irrwege erwiesen haben. Sie sind heute in ihrer tradierten Form weder existenztiell noch kognitiv nachvollziehbar. Trotzdem prägen sie auch gegenwärtig noch viele theologischer Fachbücher sowie die meisten Texte des kirchlichen Lehramtes. Die Kritik daran weist zugleich auf mögliche Alternativen hin, die Hasenhüttl bereits ansatzweise im Werk von
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Sartre selbst angesprochen sieht. Diese fünf „Wege“ („viae negationis Dei“), die eher Gott aus dem Leben der Menschen drängen, als ihnen eine befreiende Erfahrung zu ermöglichen, sind nach Sartre: die Unmöglichkeit, über die Erkenntnis der Außenwelt, über das menschliche Bewusstsein, die Freiheit und über den anderen Menschen oder über die gesellschaftliche Praxis zu einem gelungenen Leben und insofern zu einem verantworteten Reden über Gott zu finden. Diese philosophischen Überlegungen stehen in direktem Bezug zur existenziellen Grunderfahrung Jean-Paul Sartres, die er in anschaulichen Bildern in seinen Jugenderinnerungen „Die Wörter“ beschreibt: „Ich begann mich zu entdecken. Ich war beinahe nichts, bestenfalls eine Tätigkeit ohne Inhalt, aber mehr brauchte ich nicht“ (Sartre 1972, S. 87). Das vorzeitige Sterben von Freuden oder bekannten Schriftstellern erschütterte ihn und trieb ihn dazu, eigene Erfüllung im Schreiben über Leid und Tod zu finden: „Ich belog mich; um dem Tod seine Barbarei zu nehmen, hatte ich ihn zu meinem Lebenszweck erwählt und mein Leben als einziges Mittel verstanden, sterben zu können“ (ebd., S. 112). Diese Selbstwahrnehmung korrespondierte mit der Deutung der äußeren Welt: „Die Welt war eine Beute des Bösen; es gab nur ein einziges Heil: selbst unterzugehen. Von der Erde wegzusterben, um aus der Tiefe eines Schiffbruchs die unzugänglichen Ideen zu betrachten“ (ebd., S. 101). So empfand sich der junge Sartre als ein blinder Passagier in einem Zug ohne Fahrkarte: ohne vorgegebenen Sinn, überflüssig. Seine Lebens- und Existenzberechtigung musste er gleichsam selbst erfinden. Diese Art der Rechtfertigung des eigenen Daseins deutete er als „Plädoyer der Elenden“ (ebd., S. 64). Die Anfragen Sartres verdanken sich somit nicht der Lust an reiner Theorie. Sie basieren vielmehr auf existenziellen Grunderfahrungen des Menschen in der Moderne. Theoretische Reflexion zielt für Sartre – und insofern auch für Hasenhüttl – immer auf das eigene Selbstverständnis und auf ein verantwortliches Handeln gegenüber Mitmensch und Welt. Diese Fragestellungen und Aporien bieten Hasenhüttl ein Raster, um – wichtige Impulse Sartres aufgreifend – eigenständige Antworten in Hinblick auf das Selbstverständnis des Menschen und daraus Konsequenzen für eine Rede von Gott in der Moderne zu entwickeln.
Was kann ich wissen? Erkenntnistheoretisch greift Sartre eine Frage auf, die bereits den griechischen Philosophen Platon (427–347) beschäftigte: Wie können wir
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konkrete Gegenstände erkennen und als solche benennen? Platons idealistische Vorstellung, dass wir bei der Erkenntnis eines Tisches den konkreten Gegenstand an die vorgegebene Idee eines Tisches zurückbinden, entspringt durchaus einem praktischen Interesse: Nur durch den Rückgriff auf die Idee eines Tisches meint Platon erklären zu können, woher denn ein Tischler die „Idee“, das Vorbild und Muster, nimmt, um einen konkreten Tisch zu zimmern. Diese Rückbindung und damit auch die Versicherung der Erkenntnis ist spätestens nach den kritischen Anfragen von Wilhelm von Ockham (ca. 1288–1347) und im sogenannten Universalienstreit am Übergang von der Antike zum Mittelalter zerbrochen: Ideen wie Begriffe sind keine realen Dinge, sondern sinnvolle und unverzichtbare Konstrukte des Menschen. René Descartes (1596–1650) verlegte dagegen nach dem Bruch des mittelalterlichen Ordo-Gedankens das Wahrheitskriterium auf das erkennende Subjekt: „cogito ergo sum“. Das erkennende einzelne Ich ist somit der Ort der Welterkenntnis und zugleich der Selbstvergewisserung. Im Prozess der Erkenntnis stehen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt in einer Beziehung zueinander. Es bleibt aber die Seinsfrage: Wie kann ich sicher sein, dass dies ein Tisch ist? Ein Tisch hat viele Möglichkeiten, zu sein: groß, klein, rund, viereckig, aus Holz oder Metall. Wie kann einem konkreten Gegenstand dieses TischSein zugesprochen werden? Hasenhüttl beschreibt Sartres Lösungsversuch: „Diese Reihe der Aspekte eines Dinges nennt Sartre (…) ‚Abschattungen‘. Da diese ins Unendliche bzw. ins Unbestimmbare (…) vervielfältigt werden können, zeigt sich eine gewisse Objektivität des Phänomens. Diese Reihe der Erscheinungen, die wir zusammenfassen können, hat daher einen Grund, der nicht von meinem Belieben abhängt. Welchen Grund? Die Objektivität der Erscheinung affirmiert das Denken, indem dieses das Phänomen auf die vollständige Reihe (der Erscheinungen, möglichen Abschattungen) hin überschreitet, transzendiert. Ein Glied ist diese Erscheinung hier. Dieses Tischphänomen wird auf den Tisch hin überschritten“. Die Existenz des Tisches als Tisch wird somit zurückgeführt auf das, was allen Tischen wesentlich ist: „Der Grund der Erscheinungen ist also das Wesen“. In der Terminologie der mittelalterlichen Scholastik heißt das: Der Grund liegt in ihrer „essentia“: „Das Wesen der Erscheinungen liegt im Erscheinen. Das Wesen ist die abgekürzte (jedoch begründete) Vollständigkeit der Reihe bzw. ihr Sinn“ (1972, S. 42 f.). Wie verhält sich aber die Existenz zur Essens, das heißt, wie verhält
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sich die Erscheinung zum Wesen? „Erschöpft sich das Seins-Phänomen im Erscheinen (und in der Gesamtheit der Erscheinungen), oder geht das Sein (existentia) der Erscheinungen über das Erscheinen hinaus, d. h.: ist es transphänomenal?“ (1972, S. 42). Sartre vermag keiner Konzeption zuzustimmen, nach der das Sein gleichsam „hinter“ der Welt der Erscheinungen steht und diese sich aus jener speist. Hasenhüttl kommentiert zustimmend: „Die ‚Hinterwelt‘ ist nur für ‚Hinterweltler‘ eine Wirklichkeit“. Diese Feststellung wird auch für Hasenhüttls theologische Reflexion von besonderer Bedeutung sein: „Das Sein ist nicht hinter den Erscheinungen, Sein und Schein sind keine Gegensätze, sondern die Erscheinung ist Maßstab des Seins (…) Das Phänomen steht aber trotzdem in einer Beziehung, ist relativ, allerdings nicht auf ein wahres Sein hin, das es anzeigt, sondern auf jemanden hin, dem es erscheint. Der Bezug auf den Denkenden ist also für die Erscheinung wesentlich. Da die Erscheinung sich enthüllt, wie sie ist, ist sie das, was sie ist, absolut, aber zugleich relativ, weil sie ganz bezogen ist auf das Cogito“ (1972, S. 40). Das Wesentliche eines Phänomens, sein Wesen, konstituiert sich somit in der Begegnung mit dem Betrachter. Das Wesen ist daher eine Beziehungsgröße, es ist relational. Mit dem Begriff der Relationalität beschreibt Hasenhüttl bereits hier einen Begriff, der seinen eigenen späteren theologischen Ansatz prägen wird. Ist aber diese Relationalität nicht zugleich ein Zeichen der Relativität, der Beliebigkeit? Jeder Erkennende erkennt und deutet ein Phänomen anders. Zudem wäre das Sein eines Phänomens, das erkannt wird, passiv: Es würde erkannt werden und somit eine Veränderung erfahren: „Daher ist das Sein des Phänomens nicht auf das Erkennen zu reduzieren (…), sondern ist jenseits davon ein transphänomenales Sein, das das Erscheinen des Seins allererst begründet“ (1972, S. 43 f.). Sartre bezeichnet dies als „An-sich-sein“ als „l’être en-soi“: „Das An-sich-sein ist jemals weder möglich noch unmöglich (…) es ist. Das drückt das Bewusstsein (…) aus, wenn es sagt, das Sein sei überzählig (de trop), d. h. dass es das Sein absolut nicht von etwas ableiten kann, weder von einem anderen Sein noch von einem möglichen noch von einem notwendigen Gesetz. Ungeschaffen, ohne Seinsgrund, ohne irgendeine Beziehung zu einem anderen Sein, ist das An-sich-Sein überflüssig für alle Ewigkeit“ (zitiert nach 1972, S. 50). In Reflexion der traditionellen christlichen Schöpfungstheologie wird Gott von Sartre als das notwendige Sein verstanden: „Dieses Sein aber bleibt nach Sartre ein reiner Begriff, dem keine konkrete Existenz zu-
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kommt, da es nicht aus dem konkreten Sein (an-sich) erkannt und erfahren werden kann“. Dieser Begriff „ist aber völlig widersprüchlich, da eine Analogie zwischen Schöpfer und Geschöpf als Wirkungszusammenhang nicht möglich ist, ohne dass das Geschöpf vom Schöpfer aufgesaugt wird. Verbindet beide jedoch nicht die Analogie, sondern ist der Schöpfer der ganz Andere, dann ist alles Sein unabhängig von ihm, und die Schöpfung erklärt nichts (…) Der Aufweis Gottes aus der Zufälligkeit des Seins ist nicht schlüssig“ (1972, S. 54). Der Mensch scheitert somit an der Frage nach dem Sein, aber „es bleibt gleichsam seine Fußkette, seine ständige Beschwernis, an der er leidet und sich und die Welt als überflüssig erfährt“ (1972, S. 53). Mit den Worten Sartres: „Das Wort ‚Absurdität‘ fließt mir jetzt in die Feder (…) und ohne es klar zu formulieren, begriff ich, den Schlüssel der Existenz, den Schlüssel meines Ekels, meines eigenen Lebens gefunden zu haben (…) Ich habe soeben das Absolute erfahren: das Absolute oder das Absurde (…) die Welt der Erklärungen und Begründungen ist nicht die Welt der Existenz“ (zitiert nach 1972, S. 51). Sartres existenzielle Grunderfahrung als „Bahnfahrer ohne Fahrkarte“ findet hier ihr erkenntnistheoretisches Pendant: Begründendes Denken, das „cogito ergo sum“ des Descartes, erreicht nicht die menschliche Existenz. Es bleibt die erkenntnistheoretische Aufgabe der Theologie, ein Erkenntnismodell zu entwickeln, dessen Struktur ein sinnvolles und kommunikationsfähiges Reden von Gott ermöglicht, ohne den von Sartre beschriebenen „Holzweg“ zu gehen.
Das eigene Bewusstsein als erkenntnistheoretische Basis? Auch die traditionelle Bewusstseinsphilosophie bietet für Sartre keinen Ausweg. Klassisch formuliert wurde diese von Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) in seiner 1794 erschienenen und oftmals überarbeiteten Wissenschaftslehre. Die sich immer schneller entwickelnde Welt mit ihren großen gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen wie der Französischen Revolution, das damit einhergehende Zerbrechen traditioneller Weltbilder, aber auch das Entstehen der empirischen Naturwissenschaften ließen Fichte nach letzter Sicherheit und Orientierung suchen. Da diese nicht in der Komplexität und Vieldeutigkeit der äußeren Welt gefunden werden können, verlegt er den Ort letzter Selbstvergewisserung in die Subjektivität des Menschen. Die Konstruktion eines absoluten Ich soll dabei vor der Mehrdeutigkeit menschlicher Erfahrung schützen. Dieses
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Ich verdankt sich nicht der Beziehung zur äußeren Wirklichkeit, sondern einer reinen Selbstsetzung. Auch die Welt der Gegenstände hat keine Eigenständigkeit, sondern wird als Produkt, als Setzung dieses absoluten Ichs verstanden: „Diese Weltkonstruktion – das eigentliche Thema der Wissenschaftslehre – ist eine im Inneren sich vollziehende, vom Außen nicht störbare Bewegung von reinen Gedanken, deren formaler Mechanismus, der zur Gegenstandssetzung als solcher führt, in sich stimmig abläuft“ (Schulz 1972, S. 265). Eine Ähnlichkeit dieses absoluten Ichs mit dem philosophisch gedeuteten Schöpfergott der jüdisch-christlichen Tradition ist unverkennbar. Es bleiben aber – neben Abstraktion und Unbestimmtheit der Konstruktion dieses „Idealismus“ – die Fragen nach dem Weltbezug dieses Welt setzenden Ichs und auch nach seinem Verhältnis zu dem Ich eines in konkreten Welt- und Geschichtsbezügen stehenden Menschen. Hasenhüttl stellt mit Sartre grundsätzliche Fragen an dieses Konzept einer Bewusstseinsphilosophie. Sartre hat diese Anfragen insbesondere in einem seiner philosophischen Hauptwerke, „Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie“, entwickelt (vgl. Sartre 1962). Bewusstsein ist für Sartre immer „Bewusstsein von“. Es ist somit intentional auf den Bewusstseinsgegenstand ausgerichtet und nicht einfach nur die an sich leere Folie, auf der sich ein Gegenstand abbildet: „Das Bewusstsein ist so völlig ‚nach außen‘ gerichtet, es existiert nur als sich selbst übersteigendes, als sich transzendierend bzw. nur, insofern es das ihm Fremde einbezieht. Nur weil das Bewusstsein sich transzendent setzt, erreicht es das Objekt unmittelbar. Das Bewusstsein ist daher unmittelbarer Bezug, spontane Beziehung. Nur als weltsetzendes Bewusstsein ist Erkenntnis möglich; denn andernfalls würde das Bewusstsein nur in sich selbst kreisen, und Erkenntnis wäre gar nicht möglich“ (1972, S. 56). Durch die Beziehung zu einem ihm bewusst gewordenen Objekt erkennt sich das Bewusstsein auch selbst. Es ist dann vermitteltes und reflexives Selbstbewusstsein. Erst durch die Reflexion über die sich dem Bewusstsein zeigenden Phänomene entsteht dann auch das Ich des Menschen. Das Ich ist somit für Sartre eine „Reflexionswirklichkeit“. Mit den Worten Hasenhüttls: „In der Reflexion stellen sich nun die Handlungen, Zustände und Eigenschaften in einem Zentrum dar. Dieses Zentrum oder dieser Pol ist das Ich“. Allerdings: „Allein die Reflexion jedoch vergiftet – wie Sartre sagt – das spontane Leben, das unschuldig und rein vom Ursprung her ist“ (1972, S. 59). Sartre spricht hier die menschliche Grund-
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erfahrung aus, die Rainer Maria Rilke (1875–1926) in seiner achten „Duineser Elegie“ von 1922 anschaulich beschrieben hat: „Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene. Nur unsre Augen sind wie umgekehrt und ganz um sie gestellt als Fallen, rings um ihren freien Ausgang (…) Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag den reinen Raum vor uns, in den die Blumen unendlich aufgehn. Immer ist es Welt und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine“ (Rilke 1999, S. 605). Ein direkter, unreflektierter Zugang zur Welt und ihren Phänomenen, wie Rilke ihn bei Tieren vermutet, scheint dem Menschen versperrt. Wenn das Bewusstsein durch Fremdes, das heißt, durch das Sein der Phänomene konstituiert ist, wenn es somit immer „Bewusstsein von“ ist, bezieht es sich somit auf die Existenz der Dinge. Deren Wesen („essentia“) ist allerdings nicht das Übergeordnete, aus dem erst die konkrete Existenz eines Dings abgeleitet werden könnte, wie es der platonische Idealismus beschreibt. Mit den Worten Sartres: „Das bedeutet, dass das Bewusstsein nicht entstanden ist als besonderer Fall einer abstrakten Möglichkeit, sondern es schafft und trägt, indem es aus dem Schoß des Seins auftaucht, sein Wesen“ (zitiert nach 1972, S. 63). Diese Vorverortung der Existenz vor deren Wesen, der essentia, wird sowohl für das Menschenbild Hasenhüttls als auch für dessen Gottesbild von zentraler Bedeutung sein. Der Mensch konstituiert sich somit für Sartre durch anderes, was er nicht selbst ist: „Der Mensch bezieht (…) in seinem Sein ein Sein ein, das er nicht ist. Damit der Mensch Mensch sein kann, ist er auf ein transzendentes Objekt verwiesen, d. h. er ist in die Welt geworfen, die zu ihm gehört und der er doch stets fremd ist, weil er sie nur als Seinbeziehung sein kann und nicht als Identität“ (1972, S. 66). Die Verwiesenheit auf anderes zeigt nach Sartre allerdings zugleich den eigenen Mangel. Mangel aber kann nur erkannt werden, wenn eine Vorstellung von Vollständigkeit, von Totalität vorliegt. In der christlichen Theologie wird Gott diese Totalität zugeschrieben, von der sich die menschliche Wirklichkeit in ihrer Gebrochenheit und Kontingenz unterscheidet. Sartre ist der Zugang zu einem real seienden Jenseits-Gott versperrt. Er erkennt vielmehr im Gottesgedanken das Postulat einer Totalität: „Gott ist also diese hypostasierte Totalität, die der Mensch anstrebt und die konstitutiv für das Cogito bzw. das Bewusstsein ist. Konstitutiv nicht als reale, sondern nur als ideele Existenz“ (1972, S. 72). Gegenüber dieser hypostasierten Totalität zeigt sich dem Menschen allerdings konkret eine andere: „Diese Totalität ist der erlittene Mangel des Menschen,
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auf die hin sich das Bewusstsein notwendig engagiert. So ist sie zugleich im tiefsten Herzen des Menschen ihm innerlicher als er selbst, d. h. die absolute Immanenz, und zugleich ihm unendlich voraus, außerhalb seiner, wie nichts stärker außerhalb sein kann, also als die absolute Transzendenz“. Eine vermittelte Synthese scheint unmöglich. Es bleibt für Sartre das Unerfüllte, weil Unerfüllbare: „Der Sinn des Seins des Bewusstseins ist von seinem Ursprung her ins kontingente absurde Sein eingebettet, aber nicht nur aus dem Sinnlosen erhebt der Mensch sein Haupt, sondern auch seine Sehnsucht, das Ziel all seiner Wünsche und Werte, die Erfüllung, der höchste Wert existiert für ihn nicht real“ (1972, S. 74). Ob „absolute Transzendenz“ trotz aller Vorbehalte Sartres innerhalb der Kontingenz des menschlichen Lebens nicht nur reines Postulat, sondern erfahrbar sein kann, ist Hasenhüttls große Frage, die er in seiner Anthropologie und Gotteslehre beantworten möchte. Gleichzeitig wird er dort die Frage Sartres aufgreifen, ob die Bezogenheit auf andere nur den eigenen Mangel zementiert oder ob gerade durch diese Relationalität der Mensch zu Erfüllung und Sinn im eigenen Leben kommen kann.
Ist der Mensch wirklich frei? Auch anhand eines dritten Phänomens kann nach Sartre die Aporie der bisherigen Rede von Gott beschrieben werden: der menschlichen Freiheit. Wie bei seinen Ausführungen über die Erkenntnistheorie bezieht er sich dabei zunächst auf Descartes, der die Freiheit als konstitutiv für Gott, aber auch für den Menschen angesehen hat: „Wir wollen es Descartes nicht zum Vorwurf machen, dass er Gott gegeben hat, was eigentlich uns zukommt; wie wollen ihn vielmehr bewundern, dass er in einer autoritären Zeit die Grundlagen der Demokratie gelegt hat (…), dass er die Forderung des Gedankens der Autonomie bis zum Ende verfolgt hat und dass er (…) erkannt hat, dass die einzige Grundlage des Seins die Freiheit ist“ (zitiert nach 1972, S. 79). Zentral für Sartres – und auch für Hasenhüttls – Menschenverständnis ist, dass der Mensch nicht festgelegt ist wie Dinge oder empirische Fakten, sondern dass das, was er existenziell wirklich ist, sich erst in seinem Vollzug konstituiert. Die Existenz, das konkrete Sein des Menschen, geht seinem Wesen, seiner essentia, voraus und konstituiert diese. Vollzug aber ist nur möglich in Freiheit. Insofern diese Freiheit fundamental zu seiner Existenz gehört, kann man also nicht sagen, der Mensch existiere einerseits und hätte andererseits dann auch noch Freiheit. Vielmehr gilt: „Freiheit ist durch und durch Existenz“ (ebd., S. 80).
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Damit spricht Hasenhüttl auch das Leitbild seines eigenen theologischen Ansatzes aus. Da sich das Wesen des Menschen erst im Vollzug seiner Existenz konstituiert, steht er in seinem Lebensvollzug immer in der Entscheidung – in Freiheit: „Ist aber so das menschliche Sein durch den Vollzug, die Praxis, gegründet, ist der Mensch in seinem Sein ein Sich-wählen (…) Also ist die Freiheit nicht eine Seinsweise des Menschen, sondern das Sein des Menschen (…) Weil also der Mensch sich nicht genug ist, weil er immer über sich hinaus ist, weil er in seinem Sein Mangel ist und erleidet, darum ist er notwendig frei, ist sein Sein mit der Freiheit identisch, und diese ist Veränderung, Vollzug, Praxis. So ist der Mensch notwendig immer frei, er kann sich von seiner Freiheit und Verantwortung nie dispensieren“ (ebd., S. 81). So kann Hasenhüttl sagen: „Die Freiheit des Menschen ist in Sartres Augen das einzige Dogma seiner Philosophie“ (ebd., S. 117). Frei aber ist der einzelne Mensch nur, wenn wirklich alle Menschen frei sind. Die Befreiung aller durch gesellschaftliches Engagement ist das Thema des fünften Weges. Sartre wendet sich somit gegen jede Form von Determinismus, der den Menschen festlegen und eine freie Wahl verunmöglichen möchte. Er problematisiert aber auch eine Reduktion der Willensfreiheit, die darin besteht, sich für oder gegen äußere Dinge und Phänomene zu entscheiden. Diese Entscheidungsfreiheit ist zwar für den Menschen überaus wichtig, sie beruht aber letztlich auf der noch tieferen Basis der Freiheit der Selbstwahl: „Die Willensfreiheit ist vielmehr nur eine Bekundung der radikalen Freiheit. Ja, der Wille setzt eine ursprüngliche Freiheit voraus“ (1972, S. 82). Diese Selbstwahl in Freiheit ist nach Sartre ein „acte fondamental“, eine „Grundwahl“, der Mensch ist seine Freiheit (vgl. ebd., S. 84). Freiheit aber erweist sich nur in konkreten Situationen. Hier zeigen sich Chancen ebenso wie Grenzen der Freiheit. Die Phänomene, die Freiheit ermöglichen oder verunmöglichen, tun dies allerdings nicht an sich, sondern nur in Bezug auf die Freiheit des Menschen. Ein Zaun ist nicht an sich ein Freiheitshindernis, sondern nur in Bezug auf meine Freiheit, einen Weg weitergehen zu können: „So ist eigentlich das Gegebene nicht die Grenze der Freiheit, da dieses nur unter den frei gewählten Zielen erscheint; nur insofern die Freiheit selbst sich in Situation diese Grenze setzt, konstituiert das Gegebene diese Grenze mit, aber stets als ‚freie Grenze‘, die als solche von der Freiheit verursacht ist“ (1972, S. 85).
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Entscheidungen sind abhängig von Werten. Diese sind die Kriterien, nach denen der Mensch sich in Freiheit so oder auch anders entscheidet. Werte sind aber ihrerseits nichts Vorgegebenes. Es gibt sie nicht „an sich“, sondern immer nur abhängig vom Menschen und seiner Geschichte. Der Mensch setzt in Bezug auf einzelne Entscheidungen, mehr aber noch in Bezug auf die Grundentscheidung seiner Selbstwahl Werte voraus. Dies gilt auch für Gott als höchsten Wert: „Die Idee Gottes als höchster Wert und absolutes Ziel hat nur im Selbstvollzug des Menschen Bestand und (…) Existenz, insofern der Mensch die Grundlage des Wertes ist“ (1972, S. 88). Trotz der Einsicht in die „Idealität“ Gottes (die Existenz Gottes als Postulat) bleibt dieser nach Sartre als oberster Wert konstitutiv für die menschliche Freiheit, die sich an ihm ausrichtet. Freiheit vollzieht sich immer in der Kontingenz der Welt. Sie möchte in der Zweideutigkeit des Lebens durch Entscheidung zur Eindeutigkeit kommen – und dies nicht nur in einzelnen Sachentscheidungen, sondern eben auch in der Grundentscheidung, in der Grundwahl. Deswegen kann Sartre sagen: „Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein“ (zitiert nach 1972, S. 90).
Ist Liebe möglich? Der vierte Weg, der nach Sartre letztlich nicht die Dimension des Göttlichen erschließt, ist der Weg über den anderen Menschen, über ein menschliches Du. Dem denkenden Ich erscheint ein anderer Mensch zunächst wie ein Objekt unter anderen Objekten: messbar, einzuordnen als Mann oder Frau, als klein oder groß, alt oder jung. Von diesem konkreten Objekt sagen wir, dass dies ein Mensch sei. Davon aber, was der Mensch ist, hat der Mensch nach Sartre durch sein eigenes Existieren ein konkretes Vorverständnis: „Um von der Existenz des Anderen Kunde zu erhalten, muss ich die objektivierende Erkenntnis überschreiten und ein grundlegendes Seinsverhältnis zwischen mir und dem Anderen eröffnen“. Bezeichnen wir jemand als Mensch, sprechen wir dadurch zugleich unser eigenes Menschsein und Menschenverständnis aus und treten dadurch bereits in eine Beziehung zum anderen. Umgekehrt wirkt auch der andere immer schon auf mich selbst und mein Selbstverständnis: „Mein Urteil über mich selbst ist stets durch den Anderen vermittelt, insofern er in Beziehung zu mir (steht), mir eine Eigenschaft zuerkennt oder aberkennt“ (1972, S. 98). Der andere ist für meine Existenz und für deren Erkenntnis unentbehrlich, wie umgekehrt auch meine Existenz notwendig für die des
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anderen ist. Insofern besteht nach Sartre ein „Urverhältnis“ zum anderen, „in welchem der Andere mir direkt als Bewusstseinssubjekt verbunden sein muss, so dass wir tatsächlich von einem Sein-für-Andere sprechen können“. Der andere ist somit gerade dadurch, dass er anders ist, die Grundlage meiner Existenz: „So nämlich bilde ich mit dem Anderen eine Ganzheit“, die allerdings nicht als Summe aller äußeren Merkmale verstanden werden kann (1972, S. 99). Andererseits bin ich aber auch nicht der andere. Er steht in einer Differenz zu mir, und gerade diese Unterscheidung, die Nichtidentität von Ich und Du, macht eine Beziehung überhaupt erst möglich. Sartre konkretisiert und veranschaulicht diese reziproke Beziehung durch die Phänomene des Blicks und der daraus resultierenden Scham. Im Blick des anderen werde ich zum Erkenntnisobjekt. Werde ich von diesem Blick getroffen, wird mein bisheriges Selbstverständnis und mein Handeln infrage gestellt. Dadurch werde ich mir selbst entfremdet: So habe ich mich bisher noch nie selbst gesehen. „Der Andere, auf den mein Sein bezogen wird, entfremdet mich, und ich beginne in einer Welt zu existieren, die nicht ich bin (…) Der Andere lehrt mich so, was ich bin; und vom Anderen her werde ich ‚existiert‘“ (1972, S. 101 f.). Insofern begrenzt die Begegnung mit dem anderen auch die Freiheit, mich autonom zu setzen, und schränkt dadurch meine Möglichkeiten ein. Ich existiere durch das, was ich nicht bin: „Das Nichts nämlich, das mein Sein von mir trennt, ist die Freiheit des Anderen, die mich begrenzt. Mein Sein liegt in den Händen der unberechenbaren Freiheit des Du“ (1972, S. 102). Dies ist wiederum Ausdruck der von Sartre vielfältig beschriebenen Absurdität des menschlichen Daseins: „An den Anderen gekettet, ohne je von ihm loszukommen, ohne aber auch je mit ihm ganz eins zu sein, existiere ich mich mit dem Anderen als zerbrochene Ganzheit (…) . In dem Augenblick, wo ich für den Anderen Objekt bin, ist er das Subjekt, das mich in seine Welt aufnimmt. Erwacht mein Blick, so erstarrt der Andere zum Objekt und ich bin das Subjekt. Bin ich also Subjekt, ist der Andere Objekt und umgekehrt. Nie ist es möglich, dass wir zugleich und in derselben Hinsicht zwei Subjektivitäten sind“ (1972, S. 104). Wird die konkrete Begegnung zweier Menschen im gegenseitigen Blick ausgeweitet und generalisiert, kann Sartre davon sprechen, dass man mich ständig ansieht. Dieses „man“ kann aber wie der konkrete andere nie einfach ein Objekt sein, da das Ich nur von einem Subjekt, wie es selbst eines ist, mit einem Blick herausgefordert und somit auch beschämt
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werden kann. Hier sieht Sartre Parallelen zum Gottesgedanken. Der Einzelne steht diesem – postulierten – Gott gegenüber und ist von Scham erfüllt. In Gott wird der andere hypostasiert und verallgemeinert: „Er ist so der absolut Andere, insofern der Begriff des Anderen bis an seine Grenze getrieben ist und als Grenzbegriff real gesetzt wird“ (1972, S. 106). Als Setzung kommt ihm allerdings keine Realität, keine Existenz zu. Er bleibt Postulat und somit erfahrungslos: „So können wir in der Inter-Subjektivität keine reale Erfahrung Gottes machen. Die zwischenmenschliche Beziehung bleibt gottlos, auch dann, wenn Gott sie als Ideal und ständiger Grenzbegriff begleitet“ (ebd., S. 110). Auch hier wird Hasenhüttl nach Wegen suchen, gerade in der Beziehung zwischen Menschen Möglichkeiten aufzuzeigen, in denen das Werden am anderen nicht als Mangel, sondern gerade als Hochform erfüllten menschlichen Lebens gesehen werden kann. Hier kommt dann für ihn das Wort „Gott“ zur Sprache – als Deutung und Prädikat einer solchen kommunikativen Erfahrung.
Führt ein Weg über die Gesellschaft zu Gott? Ein weiterer Weg, letztlich nur die Abwesenheit Gottes und die Unmöglichkeit einer göttlich zu nennenden Erfahrung zu beschreiben, ist für Sartre der Weg über die Gesellschaft. Auch dieser Weg offenbart für ihn nur die Absurdität der Welt und des Menschen. Reflektiert hat Sartre dieses Thema insbesondere in seinem Werk „Kritik der dialektischen Vernunft. Theorie der gesellschaftlichen Praxis“ (1967). Gesellschaftliche Praxis vollzieht sich in der Geschichte. Geschichte aber unterscheidet sich elementar von analytisch zu betrachtenden Prozessen in der Natur. Geschichte als Menschengeschichte kann nur verstehen, wer selbst in den Prozess mit einbezogen ist. Insofern ist Geschichte für Sartre immer praktischer Einsatz für das Humanum. Gerade weil die Wahrheit des Menschen weder positivistisch noch idealistisch vorgegeben ist, ist sie der gesellschaftlichen Praxis aufgegeben. Das dabei zu verwirklichende Ideal des Humanum hat nach Sartre Anspruch auf Totalität, denn es gibt nicht viele verschiedene „Humanitäten“: „Damit wird in die Geschichte das Absolute (Wahrheit) eingeführt, und die Zeit nicht durch eine Flucht transzendiert, sondern angenommen, um zu verändern“ (1972, S. 121). Diese in der Geschichte zu realisierende Wahrheit hat immer auch eine materielle Basis, ist aber mit ihr nicht identisch. Geschichte stellt eine dialektische Bewegung von Erkenntnis und konkretem Sein dar. Eine neue Erkenntnis hat ein neues Sein zur Folge und umgekehrt. Sartre:
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„Der Mensch erleidet die Dialektik, indem er sie schafft, und er schafft sie, indem er sie erleidet“ (zitiert nach 1972, S. 122). Der Mensch aber ist immer ein konkretes Wesen, das in jeweils unterschiedlichen Kontexten steht und sich mit diesen in seiner konkreten Praxis auch auseinandersetzen muss. Insofern gibt es nach Sartre unterschiedliche Formen der Praxis, aber nur eine Geschichte: „Die Geschichte überschreitet daher alle Strukturen und jedes soziale System. Die Menschen sind im Werden, und alles Erreichte offenbart noch nicht die Totalität. Es wird darauf ankommen, täglich dieser Totalität sich zu nähern“ (1972, S. 123). Geschichte wird damit verstanden als ein offener Prozess von Möglichkeiten. Der Mensch in dieser Geschichte ist Produzent und zugleich Produkt dieses Prozesses. Die damit ausgesprochene Dialektik ist unaufgebbar. In Gang gehalten wird Geschichte nach Sartre wie auch die zwischenmenschlichen Begegnungen von der Erfahrung des Mangels, der elementar auch die Materie betrifft. Menschliche Praxis ist somit zunächst Arbeit mit und an der Materie: „Da ich in einer Welt auftauche, in der es die Pluralität Anderer gibt, bin ich vom Verhältnis der Anderen zur Materie abhängig. Ihr Verhältnis zeichnet sich im Modus der Arbeit ab, die den Mangel abzuschaffen sucht. Das heißt: je nach den Produktionsverhältnissen wird meine Beziehung zum Anderen (und daher mein Sein) sich gestalten und je nach der geschichtlichen Situation verschieden sein (…) Im Medium der Materie ist allein Kommunikation der Menschen untereinander möglich. Sie ist aber immer durchsetzt von menschlichen Spuren d. h. sie ist bearbeitete Materie“. Die Umgestaltung der durch die Materie geprägten Lebenswelt eröffnet dem Menschen neue Lebensmöglichkeiten und konstituiert somit zugleich einen neuen Menschen. Das ist ein zum Ziel führendes Motiv: „Durch die gemeinschaftliche Arbeit, durch die kollektive Praxis, wird das künftige Ziel, die Aufhebung der Bedürftigkeit, angestrebt“ (1972, S. 127 f.). Gemeinsame Arbeit zur Bekämpfung des Mangels ist aber nur die eine Seite der zwischenmenschlichen Beziehung. Die aktuelle Diskussion um die beschränkten Ressourcen der Erde als Lebensgrundlage der Menschen zeigt noch eine andere – bereits von Sartre beschriebene – Seite: Der andere ist im Überlebenskampf nicht nur Helfer, sondern auch Konkurrent: „Der Mensch macht sich zum Menschen des Mangels, und dieser Mangel ist die objektive Sozialstruktur der menschlichen Praxis“ (1972, S. 130). Sartre spricht hier von einem grundsätzlichen „Unmenschlich-
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keitsindex“. Auch diesen aufzuheben sei das Ziel der menschlichen Arbeit. Dadurch aber verändert sich der Mensch selbst. Auch hier gilt: Er prägt die Verhältnisse und die Verhältnisse prägen ihn. „Das Tun begründet eine neue Selbsterkenntnis, eine neue Menschlichkeit, und die historische Dialektik wird so durch die Dialektik der menschlichen Praxis einsichtig“ (ebd., S. 133). Ausgerichtet ist dieses Tun auf eine Gesellschaft, die nicht mehr von dem genannten Unmenschlichkeitsindex, sondern vom Humanum bestimmt ist. Da dieses Motiv menschlichen Handelns immer auf Vollkommenheit beziehungsweise auf befreite Totalität hin ausgerichtet ist, kommt auch hier für Sartre wieder die Gottesfrage ins Spiel. „Gott“ bedeutet ja für ihn die „Frage nach dem Absoluten“ (1972, S. 116): „Die gesellschaftliche Praxis des einzelnen Menschen impliziert die Gottesfrage (…) Die Wahrheit der gesellschaftlichen Praxis als Bewegung auf Einheit hin, die Wahrheit des Geschichtsprozesses, insofern sie zu erstellen ist, ist die Totalität, ist Gott. Der Horizont der dialektischen Vernunft, insofern sie als Bewegung auf Zukunft hin intelligibel ist, ist Gott als die Ganzheit“ (ebd., S. 135 f.). Besonders deutlich wird dies im dialektischen Entstehungsprozess einer im gemeinsamen Interesse handelnden Gruppe. Verdankt sich der Einzelne konkreten Prozessen der Gruppe, der er sich zur Erreichung auch seiner eigenen Ziele anschließt, so verdankt sich umgekehrt die (Arbeits-)Gruppe den in Freiheit handelnden Individuen. Selbst eine teilweise Einschränkung der individuellen Freiheit zur Erreichung des Gruppenziels kann so verantwortet werden. Es entsteht hier eine Art „heilige Macht“ als Ausdruck der Erfahrung, dass der Einzelne von der Gruppe in seinem Sein beschenkt wird: „Diese Form der heiligen Macht, die sich im ‚Sich-verdankt-wissen‘ niederschlägt, gilt im wesentlichen für alle Gruppierungen, nicht nur für die religiös-kultischen. Wir sehen also hier, wenn das Heilige sich als Gottesbegriff kristallisiert, dass Gott als die Macht der Grenze der Gruppe erfahren wird. Diese aber ist in Wirklichkeit nur vom Menschen in seiner gesellschaftlichen Praxis gesetzt. Eine Realität jenseits dieses Vollzugs kommt ihr nicht zu“ (1972, S. 144). Die Zweideutigkeit auch dieses Weges, über Gott zu sprechen, bleibt somit für Hasenhüttl bei Sartre bestehen: „So ist Gott, der aus der dialektischen Vernunft, aus dem geschichtlichen Entwicklungsprozess des Menschen erkannt wird, der Horizont der Ermöglichung des Fortschritts (…) und der Produktion. Er ist mit dem Raum der absoluten Freiheit, die vom Menschen intendiert wird, identisch. In der gesellschaftlichen Verfasstheit
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des menschlichen Cogito begegnet den Menschen aber kein realer Gott. Er ist allein auf dieser Erde, in dieser Heils- und Unheilsgeschichte“ (ebd., S. 149). Auch hier wird Hasenhüttl – nicht zuletzt aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas – nach Möglichkeiten suchen, gesellschaftspolitisches Engagement als Kampf für das Humanum zu sehen und gerade dadurch auch Gott nicht als Postulat, sondern als Prädikat konkreter Erfahrung zur Sprache zu bringen. Hasenhüttl diskutiert mit den Schriften Sartres traditionelle Wege der Gotteserkenntnis und stellt diese mit Sartre infrage. Damit gewinnt er zugleich Kriterien zur Beurteilung alternativer Konzeptionen. Wie müssen Erkenntnistheorie, Anthropologie und schließlich die Gotteslehre beschaffen sein, damit sie den von Sartre beschriebenen Aporien entgehen? Wie ist zugleich das Verhältnis von Praxis und Theorie, konkret: von Glaubenspraxis und theologischer Reflexion, so zu bestimmen, dass beide dialektisch miteinander verbunden sind, nicht bezugslos nebeneinander stehen und die Praxis nicht als einfache Ableitung oder Anwendung der Theorie missverstanden werden kann? Hasenhüttl stellte bereits 1965 diese Fragen an den „unbekannten Gott“. In seiner Bearbeitung der zentralen Traktate der Dogmatik (theologische Erkenntnislehre, Anthropologie, Christologie, Gotteslehre, Lehre von der Kirche und der Eschatologie) sucht er Antworten auf diese Fragen. Diese Antworten sollen sich dabei sowohl gegenüber den existenziellen wie auch den kognitiven Herausforderungen als verifizierbar erweisen, die sich den Menschen in der (Post-) Moderne stellen.
2 Anthropologische Grundlagen 2.1
Der entfremdete Mensch – der Mensch als Frage
„Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“ (Bloch 1977, S. 13). Expressionistisch kurz fasst Ernst Bloch eine Grunderfahrung des Menschen zusammen: Er ist einerseits vorhanden, wie die Dinge der Welt. Er kann vermessen, gewogen und in seinem Verhalten manipuliert werden. Andererseits überschreitet der Mensch in seinen Hoffnungen, Wünschen und in seiner Sehnsucht die jeweils vorliegende Welt. Er sprengt vorgegebene Maßstäbe und öffnet sich Neuem. Trotz aller Verankerung in Kultur, Gesellschaft und Familie ahnt und erhofft der Mensch nach Gotthold Hasenhüttl Alternativen und gibt sich nicht mit dem Erreichten zufrieden: „In unserem Leben wechseln beglückende und bedrückende Situationen. Aus Not, Unglück und Leid suchen wir einen Ausweg. Wir machen die Erfahrung, dass wir uns oft fremd und entfremdet sind“ (1990, S. 7). Äußere Anlässe bringen unser Leben aus den Fugen, innere Unruhe überschreitet jedes selbst gesetzte Ziel. Der Mensch als Lebewesen innerhalb der Vielfalt anderer Lebewesen überschreitet den Horizont selbst der höchstentwickelten Tiere, indem er seinen Status erkennt und diesen infolge seiner Erkenntnis auch verändern kann. Nicht zuletzt weiß der Mensch um seine Endlichkeit. Der Tod steht dabei nicht nur am Ende des Lebens, sondern greift oft hart mitten in das Leben hinein: in Form des Todes eines geliebten Menschen, eigener Krankheit oder des erfahrbaren Todes von Beziehungen. Da der Mensch jede Vorgabe überschreiten und sich Neuem öffnen kann, ist jede abschließende Definition des Menschen problematisch. Bereits Augustinus meinte vielmehr: „dies septimus nos ipsi erimus“ – „wir werden am siebten Tag wir selbst sein“. Dies bedeutet: Was wir Menschen wirklich sind, wird sich erst am Ende, mythologisch gesprochen, am siebten, noch ausstehenden Schöpfungstag erweisen. Theologischen Ausdruck findet diese Grunderfahrung in dem – oft missverstandenen – Begriff der „Sünde“. Die hebräische Bibel beschreibt in der mythologischen Geschichte vom Sündenfall diese Grunderfahrung der Gebrochenheit. Für Hasenhüttl werden hier, im dritten Kapitel des Buches Genesis, zwei Aussagen gemacht: „Kein göttliches Verhängnis ruht auf den Menschen, sondern der Mensch selbst verursacht seine eigene
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Anthropologische Grundlagen
Nichtidentität“, und dies „ist ein ‚Adam‘-Geschehen, ein Geschehen in der Menschheit, wodurch der einzelne beim Eintritt in sein Leben schon ein negatives Vorzeichen erhält“ (2001, Bd. II, S. 168). Dieses Phänomen wird „Erbsünde“ genannt, weil jeder Mensch gleichsam als „Kind Adams“ davon betroffen ist. Wenn damit nicht ein historisches Faktum gemeint sein kann, durch das etwa alle Menschen durch die Tat eines Ur-Elternpaares geprägt und verurteilt wären, sondern eine grundsätzliche Wesensbestimmung aller Menschen, dann beschreibt diese Geschichte die erfahrbare „Nichtidentität des Menschen“: „Die Zweideutigkeit, der Zwiespalt menschlicher Existenz ist durch seine Situation bedingt. Die Not gegenüber dem Ackerboden, der mit Dornen und Disteln übersät zu sein scheint, die oft dornigen zwischenmenschlichen Beziehungen und die Gemeinschaftsinteressen, die gegen individuelle Wünsche stehen, zeugen von dieser strukturellen Zweideutigkeit. Im Vollzug konstituiert sich der Mensch als einer, der nicht bei sich ist, der sich erst finden muss“ (2001, Bd. II, S. 168 f.). Eine theologische Reflexion über Sünde und Erbsünde hätte demnach die Aufgabe, Wege aus dieser Nichtidentität hin zu einem gelungenen und heilvollen Lebensweg aufzuzeigen. Die Antwort auf die Frage, die sich der Mensch nicht nur stellt, sondern die er selbst ist, ist somit keine „Sachfrage“, die sich empirisch, analytisch oder aufgrund anthropologischer Vorgaben und Ableitungen beantworten ließe. Die Existenzphilosophen des 20. Jahrhunderts wie Martin Heidegger (1889–1976) und Karl Jaspers (1883–1969) sowie deren theologische Rezipienten wie Rudolf Bultmann (1884–1976) zeigten – vielfach in kritischer Aneignung der Werke des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard (1813–1855) – auch die Brüchigkeit der großen Systeme des philosophischen Idealismus von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) über Johann Gottlieb Fichte bis hin zu Friedrich Wilhelm Schelling (1775–1854). Nach Hasenhüttl wird aber weder eine positivistische noch eine idealistische Wesensbestimmung dem Menschen gerecht: „Der Mensch aber ist nicht ein Gegenstand, der unveränderlich fixiert ist, oder nur für nebensächliche Veränderungen anfällig sein kann, andernfalls er sich auflöste, vielmehr ist sein Werden ein ‚wesentliches‘, und daher entzieht er sich einer Definition nach der Art der vorhandenen Dinge“ (1963, S. 295). Aber nicht nur einer Außenbetrachtung entzieht sich der Mensch: „Auch in der Frage nach sich selbst bleibt der Mensch sich fraglich“. Seine Sehnsucht nach Antwort auf die Frage, die er selbst ist, lässt den Men-
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schen Ausschau halten nach den Antworten der Religionen und den dort beschriebenen Gottesvorstellungen: „In der Lebendigkeit seines Seins sucht der Mensch eine Antwort auf die Existenzfrage, die eins ist mit der Gottesfrage“. Aber auch hier macht er die ernüchternde Erfahrung: „Seine Begrenzung kann er trotz der Sehnsucht nicht aufheben“. Es bleibt die Einsicht in die paradoxe Struktur des menschlichen Lebens: „Der Mensch strebt in seiner Existenz über seine Grenze (…) hinaus, ist jedoch so von ihr umklammert, dass er ihr Maß nicht übersteigen kann“ (1963, S. 296). Hasenhüttl verbindet deswegen die Aussagen über den Menschen und dessen Suche nach gelungener Identität mit seinen Vollzügen: „‚Mensch‘ ist primär kein wissenschaftlicher, sondern ein umgangssprachlicher Begriff, ein ‚Gebrauchsprädikator‘, ein relativ offener Begriff, der vielfältig schillert. Wenn man z. B. sagt: Das ist ein richtiger, ein wahrer Mensch, dann meint man, dass er sich durch seine Menschlichkeit auszeichnet, und das will heißen, dass er eine bestimmte Art von Menschenfreundlichkeit zeigt, die anderen Menschen abgeht (…) So stoßen wir schon bei diesem simplen Beispiel auf eine gewisse Doppeldeutigkeit: Es ist nicht selbstverständlich, dass der Mensch menschlich ist“ (2001, Bd. II, S. 20). Die inhaltliche Füllung dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, liegt somit weder zeit- und geschichtslos vor, noch kann sie von einer abstrakten Vorgabe abgeleitet werden. Ob einer ein wahrer Mensch oder ein Unmensch ist, zeigt sich vielmehr in der Praxis, in der Art und Weise, wie er sein Menschsein verwirklicht. Auch die unterschiedlichen anthropologischen Entwürfe in Philosophie, Theologie und Sozialwissenschaften zeigen: „Der Mensch scheint ein verborgenes Rätsel zu sein, für den es keine eindeutige Formel gibt. So ist das Wort ‚Mensch‘ weniger ein fixer Terminus technicus, als vielmehr ein Horizontbegriff, an dem sich ablesen lässt, was der jeweilige Autor vom Menschen hält“ (2001, Bd. II, S. 23). Wie kann der Mensch aber so beschrieben werden, dass trotz seiner Nichtidentität und Zweideutigkeit Wege und Möglichkeiten aufleuchten, wie er zu seiner Identität und Eindeutigkeit kommen kann? „Die Frage nach dem Wesen, nach der Natur des Menschen wird heute abgelehnt, weil eine solche Frage (…) voraussetzt, dass das Wesen eines Dinges, einer Sache definierbar ist, also einen bestimmten fest umschriebenen Sachverhalt darstellt. Dies wird jedoch für den Menschen negiert“ (2001, Bd. II, S. 30). In der philosophischen und theologischen Anthropologie wurde der Mensch in der Vergangenheit immer wieder in den drei Dimensionen Lebewesen, Geistwesen und Geschöpf Gottes beschrieben.
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Wie aber lassen sich diese drei Dimensionen nachvollziehbar zu einer einzigen menschlichen Identität verbinden? Wie kann dies insbesondere bezüglich der Gottesfrage so geschehen, dass das mit „Gott“ Gemeinte kommunikativ vermittelbar ist – auch gegenüber Menschen, denen die traditionelle Verwendung dieses Wortes nicht mehr möglich ist? Die Frage nach dem Menschen ist darüber hinaus dadurch charakterisiert, dass ihre Beantwortung die Frage selbst nicht erledigt. Die Fraglichkeit des Menschen scheint zu seinem Wesen zu gehören und wäre demnach nur durch den Sprung aus der geschichtlich und gesellschaftlich verfassten Wirklichkeit des Menschen „naturalistisch“ oder „idealistisch“ – nach Ludwig Feuerbach: durch Projektion – aufzuheben. Wie kann zudem die unbestreitbare Endlichkeit des Menschen beschrieben werden, ohne auf die Dimensionen des gelingenden Lebens, des Glücks und der Erfüllung zu verzichten, die traditionell mit dem Begriff des „ewigen Lebens“ verbunden wurden? Hasenhüttls Ausgangsthese dazu lautet: „Anthropologie als Frage nach dem Menschen kann in ihrer Struktur nicht eine Lehre über den Menschen sein, sondern nur des Menschen. Der Mensch als Fragender ist in dieser Frage selbst stets einbezogen und kann keinen Standort außerhalb dieser Frage gewinnen, weil er selbst als Mensch diese Frage ist“ (2001, Bd. II, S. 32). Er untersucht zahlreiche anthropologische Ansätze aus der Theologie- und Philosophiegeschichte. Insbesondere die Anthropologie Max Schelers (1874–1928) und die eng mit der Existenzphilosophie Martin Heideggers verbundene Theologie Rudolf Bultmanns bieten sich Hasenhüttl dabei exemplarisch als Dialogpartner für die Konzeption seiner eigenen Annäherung an Wesen und Existenz des Menschen an.
2.2 Die Antwort von Max Scheler Max Schelers Deutung der „Stellung des Menschen im Kosmos“ ist für Hasenhüttl von großer Relevanz, weil dieser den oft beklagten Zwiespalt zwischen Leib und Geist konstruktiv zugunsten einer dialektischen Beziehung beider verbindet. Zudem sieht Hasenhüttl hier die bereits in der Beschäftigung mit Jean-Paul Sartre gestellte Frage nach der Überwindung der scharfen Trennung von Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt, wie sie Descartes vornahm, kreativ beantwortet (vgl. 2001, Bd. II, S. 104–116).
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Scheler sieht das westeuropäische Menschenbild durch drei Traditionsstränge geprägt: durch die jüdisch-christliche, die griechisch-antike und die moderne naturwissenschaftliche Tradition. Nach diesen Modellen wird der Mensch jeweils als Geschöpf, als Geistwesen oder als Objekt einer empirischen Analyse bestimmt. Scheler nimmt darin ein grundsätzliches Desiderat wahr: „Diesen drei Ideenkreise fehlt jede Einheit untereinander. So besitzen wir denn eine naturwissenschaftliche, eine philosophische und eine theologische Anthropologie, die sich nicht umeinander kümmern – eine einheitliche Idee vom Menschen aber besitzen wir nicht. Die immer wachsende Vielheit der Spezialwissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdeckt, so wertvoll diese auch sein mögen, überdies weit mehr das Wesen des Menschen, als dass sie es erleuchten“. Er selbst möchte eine Anthropologie entwickeln, „die das Wesen des Menschen im Verhältnis zu Pflanze und Tier, ferner die metaphysische Sonderstellung des Menschen“ beschreibt (Scheler 1975, S. 9 f.). Scheler entwickelt einen gestuften Aufbau des Lebens von der Pflanze über das Tier bis zum Menschen. Motor der Entwicklung, die zunächst als eine graduelle, nicht aber als eine wesentliche verstanden wird, ist der Gefühlsdrang. Dieser ist bei der Pflanze noch ganz „ekstatisch“, also noch ohne „Rückmeldung von Organzuständen an ein Zentrum“ (Scheler 1975, S. 14). Das Tier steht für Scheler auf der zweiten Stufe der Entwicklung und ist zunächst durch den Instinkt charakterisiert. Dieser ist angeboren und dient primär der Erhaltung und Fortpflanzung der Gattung. Der Instinkt bildet gleichsam das Strukturgitter, durch welches das Tier seine Umwelt wahrnimmt und auf sie reagiert: „Versucht man das instinktive Verhalten psychisch zu deuten, so stellt es eine untrennbare Einheit von Vor-Wissen und Handlung dar, sodass niemals mehr Wissen gegeben ist, als in den nächsten Schritt der Handlung gleichzeitig eingeht“. Daraus resultiert dann bereits die dritte Stufe: das „assoziative Gedächtnis“ als „Inbegriff der Tatsachen der Assoziation, Reproduktion, des bedingten Reflexes“ (Scheler 1975, S. 24): „Die Wirksamkeit des assoziativen Prinzips bedeutet im Aufbau der psychischen Welt zugleich Zerfall des Instinkts und seiner Art von ‚Sinn‘ und Fortschritt der Zentralisierung und gleichzeitigen Mechanisierung des organischen Lebens. Sie bedeutet ferner zunehmende Herauslösung des organischen Individuums aus der Artgebundenheit und der anpassungslosen Starrheit des Instinkts. Denn erst durch den Fortschritt dieses Prinzips vermag das Individuum sich je neuen, d. h. nicht-arttypischen Situationen anzupassen“ (ebd., S. 30). Es folgt
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als vierte Stufe die praktische Intelligenz, durch welche Tiere in der Lage sind, zum Beispiel bei der Beschaffung von Futter auf einfache Werkzeuge zurückzugreifen. Da diese abgestufte Intelligenz auch beim Menschen anzutreffen ist, stellt sich nach Scheler die Frage: „Besteht dann, wenn dem Tiere bereits Intelligenz zukommt, überhaupt noch mehr als ein nur gradueller Unterschied zwischen Mensch und Tier – besteht dann noch ein Wesensunterschied?“ (Scheler 1975, S. 36).
Der Wesensunterschied zwischen Tier und Mensch: Der Geist Ein qualitativer Sprung, der sich im Menschen manifestiert, besteht für Scheler „außerhalb alles dessen, was wir ‚Leben‘ im weitesten Sinne nennen können. Das, was den Menschen allein zum ‚Menschen‘ macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens (…), sondern es ist ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip: eine echte Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die ‚natürliche Lebensevolution‘ zurückgeführt werden kann, sondern, wenn auf etwas, nur auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt: auf denselben Grund, dessen eine große Manifestation das ‚Leben‘ ist“. Scheler nennt dieses Prinzip gemäß der griechischen Tradition Geist und versteht diesen als holistischen Begriff, der sowohl Vernunft, die Fähigkeit zum „Ideendenken“, Anschauung und auch „emotionale Akte wie Güte, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung mitumfasst“. „Person“ nennt er dann „das Aktzentrum, in dem Geist innerhalb endlicher Seinsphären erscheint“ (Scheler 1975, S. 38). Durch den Geist ist der Mensch nicht mehr durch sein Umfeld determiniert, er realisiert Freiheit, er ist „weltoffen“: „Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße ‚weltoffen‘ verhalten kann. Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit des Geistes“ (Scheler 1975, S. 40). Aus dieser Offenheit und Distanzmöglichkeit zur vorgegebene Welt ist nach Scheler auch das Selbstbewusstsein des Menschen erklärbar: Er kann nämlich „seine eigene physiologische und psychische Beschaffenheit und jedes einzelne psychische Erlebnis, jede einzelne seiner vitalen Funktionen selbst wieder gegenständlich machen“ (Scheler 1975, S. 42). Wenn aber der Mensch als einziges Lebewesen sich vergegenständlichen, sich selbst gleichsam zum Objekt seiner eigenen Reflexion machen kann, dann bedeutet dies: „Das Zentrum aber, von dem aus der Mensch die Akte voll-
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zieht, durch welche er seinen Leib und seine Psyche vergegenständlicht, die Welt in ihrer räumlichen und zeitlichen Fülle gegenständlich macht – es kann nicht selbst ein ‚Teil‘ eben dieser Welt sein, kann also auch kein bestimmtes Irgendwo oder Irgendwann besitzen: es kann nur im obersten Seinsgrund selbst gelegen sein“ (ebd., S. 47). „Geist“ hat für Scheler demnach ein Alleinstellungsmerkmal: „Der Geist ist das einzige Sein, das selbst gegenstandsunfähig ist“. Er wird bestimmt als „reine, pure Aktualität“ und hat damit „sein Sein nur im freien Vollzug seiner Akte“. Geist ist somit nur dort anzutreffen, wo Vernunft, Ideendenken oder die genannten emotionalen Akte konkret geschehen. Vollzieht er sich nicht, ist er nicht. Deswegen kann analog zum Geist auch die Person als Zentrum des Geistes nicht vergegenständlicht und zu einem Objekt degradiert werden: „Die Person ist nur in ihren Akten und durch sie“: „Zum Sein unserer Person können wir uns nur sammeln, zu ihm hin uns konzentrieren – nicht aber es objektivieren. Auch fremde Personen sind als Personen nicht gegenstandsfähig“ (Scheler 1975, S. 48). Wenn aber eine grundlegende Tätigkeit des Geistes seine Fähigkeit ist, Ideen zu erzeugen, dann gilt für diese das gleiche wie für den Geist selbst: Sie sind nicht außenstehende Objekte, sondern Leistungen und Produkte eben dieses tätigen Geistes: „Aber die Ideen sind nicht ‚vor‘, nicht ‚in‘ und nicht ‚nach‘ den Dingen, sondern ‚mit‘ ihnen und werden im Akte der stetigen Weltrealisierung im ewigen Geist erzeugt. Darum ist auch unser Mitvollzug dieser Akte nicht ein bloßes Auffinden oder Entdecken eines von uns unabhängig Seienden und Wesenden, sondern ein wahres Mithervorbringen, ein Miterzeugen der dem ewigen Logos und der ewigen Liebe und dem ewigen Willen zugeordneten Wesenheiten, Ideen, Werte und Ziele aus dem Zentrum und Ursprung der Dinge selbst heraus“ (Scheler 1975, S. 49). Was dieser „Akt der Ideierung“ für die Ausarbeitung des Gottesgedankens bei Hasenhüttl bedeutet, ist noch zu klären. Durch den Geist vermag der Mensch auch zu unterscheiden zwischen dem Wesen einer Sache und ihrer konkreten Existenzform. Er kann sogar einer konkreten Existenzform „Wesentliches“ absprechen. Beispielsweise kann zwischen dem, was wesentlich zu einem Tisch gehört, und einem konkreten Gegenstand Tisch ein gravierender Unterschied bestehen. Insofern kann der Mensch gerade im Vollzug des Geistes auch „nein“ sagen: Dieses Objekt ist für mich nicht die ideale oder sogar gar keine Umsetzung dessen, was ich unter Tisch verstehe. Diese Differenzierung zwischen Wesen und Dasein zeichnet den
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Menschen grundsätzlich aus und unterscheidet ihn von allen anderen Lebewesen. Das zeigt sich auch daran, dass der Mensch grundsätzlich selbst dem elementaren Lebensdrang widersprechen kann. Leben an sich ist nicht der höchste Wert: „Der Mensch ist das Lebewesen, das kraft seines Geistes sich zu seinem Leben (…) prinzipiell asketisch – die eigenen Triebimpulse unterdrückend und verdrängend (…) – verhalten kann. Mit dem Tiere verglichen, das immer ‚Ja‘ zum Wirklichsein sagt (…), ist der Mensch der ‚Neinsagenkönner‘, der ‚Asket‘ des Lebens, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit“. Der Mensch ist „nie sich beruhigend mit der ihn umringenden Wirklichkeit, immer begierig, die Schranken seines Jetzt-Hier-So-seins zu durchbrechen, immer strebend, die Wirklichkeit, die ihn umgibt, zu transzendieren – darunter auch seine eigene Selbstwirklichkeit“ (Scheler 1975, S. 55 f.). Woher aber bezieht der Geist selbst in diesem Akt der Verneinung seine Energie? Verneinung kann in zwei verschiedene Richtungen zielen: Sie kann zur Abtrennung, zur Verdrängung und somit zur Neurose führen. Sie kann aber auch auf dem Weg der Sublimierung des Lebenstriebes zur Kultivierung des bloßen Lustgefühls führen. Dadurch zeigt sich, dass gerade durch die Verneinung primärer Impulse Höheres, Besseres, eben: Kultur geschaffen werden kann. Insofern entspricht es dem Lebensdrang, sich selbst durch eine partielle Einschränkung seiner Macht zu realisieren. Er selbst stiftet den Geist zu dessen Leistungen an, er selbst versorgt den Geist mit der nötigen Energie. Dies hat zur Folge: „Die gegenseitige Durchdringung des ursprünglich ohnmächtigen Geistes und des ursprünglich dämonischen, d. h. gegenüber allen geistigen Ideen und Werten blindes Dranges: die werdende Ideierung und Vergeistigung der Drangsale, die hinter den Bildern der Dinge stehen, und gleichzeitige Ermächtigung d. h. Verlebendigung des Geistes ist das Ziel und Ende endlichen Seins und Geschehens“ (Scheler 1975, S. 71).
Hasenhüttls Scheler-Rezeption: Der Mensch als Vollzugswesen In seiner Rezeption des Ansatzes von Max Scheler hebt Hasenhüttl zunächst hervor, dass hier Leben und Geist in ein dialektisches Spannungsverhältnis zueinander gesetzt werden, das jede Form von Dualismus vermeidet. Auch ist der Geist gerade nicht als allmächtig bestimmt, wie dies oft in der abendländischen Tradition vorgenommen wurde. Von sich aus ohnmächtig, bezieht er vielmehr seine Energie vom Leben selbst, ist somit elementar auf dieses angewiesen.
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Wenn sich der Geist vom Lebensdrang dadurch unterscheidet, dass er sich diesem entgegenstellen und „nein“ sagen kann, überlässt sich der Geist auch nicht einfach blind diesem Lebensdrang. Er entscheidet vielmehr über Sinn und Unsinn bei einem konkreten Lebensimpuls – was in Einzelfällen gerade dazu führen kann, dass dem Lebensdrang widersprochen wird. Wenn das Leben somit die konkrete Existenzform des Triebes ist, dann ist die Existenzform des Geistes die Person. Der Begriff „Mensch“ bezeichnet dann die kreative und dynamische Wechselbeziehung zwischen Leben und Geist. Da diese Wechselbeziehung stets neu gestaltet werden muss, ist das Wesen des Menschen durch seinen Vollzug bestimmt. Was der Mensch ist, zeigt sich daran, wie er dieses spannungsreiche Beziehungsgeschehen gestaltet: „Der Mensch in seinem geistigen Vollzug (als Person) tritt der Wirklichkeit (dem Vorhandenen) nicht affirmativ, sondern mit einem ‚Nein‘ gegenüber. Dadurch trennt der Geist das Dasein (esse) vom Sosein (essentia). D. h. die Unterscheidung dieser beiden Seinsprinzipien ermöglicht, dass die nackte Faktizität nicht notwendig so sein muss, wie sie ist“ (2001, Bd. II, S. 112). Nicht nur die Person konstituiert sich somit erst im Vollzug und ist für eine ständige Veränderung offen. Auch die äußere Wirklichkeit, zu der die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten gehören, steht unter dem Vorbehalt einer möglichen Veränderung. Ein zentrales Kriterium für die Veränderung oder das Beibehalten von Strukturen ist die Frage, ob diese ein Geist-volles Leben ermöglichen oder erschweren. Wenn der Mensch aber als das einzige Lebewesen beschrieben werden kann, das sich in seinem Vollzug erst konstituiert, dann kann und darf er nicht zu einem Objekt verdinglicht werden. Die Folge für die zwischenmenschliche Beziehung liegt darin, dass „selbstverständlich auch die Person des anderen nicht objektivierbar ist, dass wir nur am anderen Anteil gewinnen, wenn wir seine freien Akte nach- und mitvollziehen“. Es geht hier somit nicht um Teil-Habe, sondern um Teil-Nahme: „Es ist ein VerNehmen des anderen, ist die Beziehungs-Nahme“ (2001, Bd. II, S. 113). Das „verstehende und liebende personale Mitmachen, Mitvollziehen“ charakterisiert also das Verhältnis zwischen den Menschen: „Verstehende Liebe ist so nicht nur dem auf Erfolg des Lebens gerichteten Drang gegenläufig, sondern auch aller ichbezogenen Vergegenständlichung des anderen“ (ebd., S. 114). In diesem Sinne kann Geist in seiner Hochform als Liebe bestimmt werden: „Der Mensch ist nur als Liebender, und nur so Person. Das Ziel und der Sinn des Menschen liegen im Durchdringungs-
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prozess, in dem das Leben vergeistigt und der Geist verlebendigt wird“ (ebd., S. 116). Hasenhüttl beantwortet hier mit Max Scheler die Frage Jean-Paul Sartres, ob und wie menschliche Liebe möglich ist, positiv und führt auch aus, wie diese realisierbar ist: Beziehung wird nicht als Ausdruck des je eigenen Mangels verstanden, sondern als Höhepunkt der Erfahrung gelingenden Menschseins. Dieser stets neu zu leistende Prozess der Menschwerdung ist Aufgabe und Ziel des Menschen: „Der Zielpunkt des Menschen ist nichts Vorgegebenes, sondern Hoffnung! Der Sinn des menschlichen Lebens liegt im Mitmachen dieses Prozesses“. Hasenhüttl beschreibt in diesem Kontext den Menschen als „liebende[n] Einfall Gottes in den Lebensdrang“, und sagt: „Diese Einheit der Wirklichkeit, durch den Menschen vermittelt, ist das, was wir Gott nennen. Er steht am Ende und nicht am Anfang der Geschichte. Der Zielpunkt des Menschen ist nichts Vorgegebenes, sondern Hoffnung! Der Sinn des menschlichen Lebens liegt im Mitmachen dieses Prozesses“ (2001, Bd. II, S. 116). Menschsein und Personwerdung im Prozess, Gott als erfahrbare Dimension dieses menschlichen Vollzugs und als dessen mögliches Prädikat sowie damit zugleich die Einsicht, dass die Wesensbestimmung des Menschen nicht zu trennen ist von der Wesensbestimmung Gottes – dies werden die zentralen Themen der Neukonzeption der Gotteslehre durch Gotthold Hasenhüttl sein.
2.3
Die Antwort von Rudolf Bultmann
Die zentralen Eigenschaften des Menschen beschreibt Rudolf Bultmann im Kontext der Frage, wie die Botschaft Jesu verstanden werden sollte: „Wenn also von Jesu Lehre oder Jesu Gedanken die Rede ist, liegt dem nicht die Vorstellung von einem allgemeingültigen idealen Gedankensystem zugrunde, das für jedermann einleuchtend gemacht werden kann. Sondern die Gedanken sind als das verstanden, was sie in der konkreten Situation eines in der Zeit lebenden Menschen sind: als die Auslegung der eigenen, in der Bewegung, in der Unsicherheit, in der Entscheidung befindlichen Existenz; als der Ausdruck für die Möglichkeit, diese Existenz zu erfassen; als der Versuch, über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des eigenen Daseins klarzuwerden“ (Bultmann 1977a, S. 12). Und an anderer Stelle sagt er: „Das aber setzt letztlich eine ganz andere Menschenauffassung voraus, nämlich die, dass die Möglichkeiten für Mensch und
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Menschheit nicht von vornherein abgesteckt und in der konkreten Situation durch Charakter oder Umstände determiniert sind, sondern dass sie offen stehen, dass sich in jeder konkreten Situation neue Möglichkeiten öffnen, dass das menschliche Leben dadurch charakterisiert ist, dass es durch Entscheidungen führt“ (ebd., S. 148). Obwohl Scheler und Bultmann aus unterschiedlichen kulturellen Traditionen kommen, zeigen sich bereits hier Übereinstimmungen in ihrem Bild vom Menschen. Die anthropologischen Grunddimensionen bei Bultmann lassen sich wie folgt beschreiben: Die Existenz eines Menschen in einer konkreten Zeit ist ein dynamischer Vollzug, der die Möglichkeiten und Notwendigkeiten seines Lebens wahrnimmt und sich in existenziellen Entscheidungen erst eigentlich konstituiert. Daraus folgt nach Hasenhüttls BultmannInterpretation: „Der Mensch aber ist nicht ein Gegenstand, der unveränderlich fixiert ist, oder nur für nebensächliche Veränderungen anfällig sein kann, andernfalls er sich auflöste, vielmehr ist sein Werden ein ‚wesentliches‘, und daher entzieht er sich einer Definition nach Art der vorhandenen Dinge“ (1963, S. 295). Auch die Bestimmung der Menschen als „animal rationale“ oder als Geistwesen greift zu kurz: Die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ist daher primär nicht so zu verstehen, „dass der Mensch ‚Geist‘ hat, sondern das Wesentliche besteht darin, dass er sein Sein selbst zu übernehmen hat, dass er Person und für sein Selbst verantwortlich ist“ (ebd., S. 38). Deutlich wird dies nach Hasenhüttl auch in Bultmanns hermeneutischem Ansatz einer entmythologisierten existenzialen Bibelauslegung. Da in der Schrift Grunderfahrungen des Menschen beschrieben sind, hat die Begegnung zwischen Schrift und Rezipient grundsätzliche Bedeutung: „Nicht etwas ist primär an Hand eines Textes, eines Zeugnisses zu wählen, und nicht nur Anlass zur Wahl bietet das Begegnende, sondern die Botschaft fordert mich in meiner Existenz, dies neu zu wählen. Menschliches Sein ist Sein-Können, das in der Selbstwahl zu verwirklichen ist“ (1965c, S. 434). Wählen heißt hier somit nicht primär, sich zwischen verschiedenen Dingen zu entscheiden, wie auch schon Scheler feststellte. Die Selbstwahl ist vielmehr die grundsätzliche Entscheidung, sich nicht mit vorhandenen Vorgaben und Sinnangeboten zufriedenzugeben, nicht stehen zu bleiben, sondern das Leben als lebenslangen dynamischen Prozess zu verstehen, der in konkreten Situationen jeweils wieder konkrete Einzelentscheidung erfordert. Entscheidung und Selbstwahl würden allerdings missverstanden,
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wenn diese monologisch und ungeschichtlich gedeutet würden. Auch hier besteht vielmehr eine grundlegende Dialektik: „Ohne das Begegnende wäre eine Wahl des Selbst widersprüchlich, denn ich könnte mich dann selbst durch mich selbst wählen, ich könnte meine Existenz selbst begründen. Diesem Widerspruch entgehe ich jedoch dort, wo mir durch die Begegnung Entscheidungsmöglichkeit über mich selbst, über mein Selbst geschenkt wird. Da also menschliche Existenz faktisch Selbstwahl in Begegnung ist, kann ich mir selbst nie die Möglichkeit dafür geben, kann nicht darüber verfügen, sondern sie kann mir eben nur in der Begegnung geschenkt werden. Die Begegnung jedoch ist durch diese Beziehungsstruktur menschlichen Seins nicht nur Veranlassung, Bedingung für die Ausbildung meines ‚Wesens‘, sondern ist konstitutiv für mein Sein“ (1965c, S. 434). Als Grundakt menschlicher Existenz vollzieht sich die Selbstwahl in Freiheit, wie umgekehrt durch den Vollzug dieser Wahl Freiheit selbst wieder konstituiert wird.
Die Selbstwahl jenseits idealistischer Verklärung So zentral die Beziehung zum Mitmenschen auch für die Konstituierung des eigenen Selbst ist, so wissen die biblischen Erzählungen von der Erschaffung des Menschen, besonders die Paradieserzählung, doch um die Gebrochenheit des Menschen auch in seinen Beziehungen: „Des Menschen Verhältnis zum Mitmenschen und damit zur menschlichen Gesellschaft ist gestört“ (2001, Bd. II, S. 168). Realistische Lebenserfahrung sollte eine Idealisierung verhindern. Wenn die spätere Theologie in der Nachfolge des Kirchenlehrers Augustinus von einer Erbschuld spricht, dann möchte sie jenseits aller Verengungen und moralischen Einseitigkeiten doch auf diese grundsätzliche Gebrochenheit des Menschen „jenseits von Eden“ hinweisen. Jean-Paul Sartre hatte mit Recht auf die Gebrochenheit der Erfahrung von Freiheit und der zwischenmenschlichen Beziehungen hingewiesen. Es bleibt aber trotz aller Ambivalenz die existenzielle Grundaufgabe und auch Möglichkeit des Menschen, seine Selbstwahl, sein Sein-Können zu realisieren. Dies ist nicht als verobjektivierbare, monologische Leistung zu verstehen, sondern als verantwortlicher Lebensvollzug selbst, der sich immer der Begegnung mit dem anderen verdankt. Insofern kann die Selbstwahl auch mit dem theologischen Begriff der Gnade beschrieben werden. Bultmann nannte daher umgekehrt Sünde auch den Wahn des Menschen, sein Leben in sich selbst begründen zu wollen. Bezeichnet er
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Gott als „Ursprung des Lebens“, dann folgt daraus: „Als die eigentliche Sünde offenbart sich also der Wahn, das Leben nicht als Geschenk des Schöpfers zu empfangen, sondern es aus eigener Kraft zu beschaffen, aus sich selbst statt aus Gott zu leben“ (Bultmann 1977b, S. 232 f.). Mit andern Worten: „Seine Grundsünde ist die, dass er als Mensch sich behaupten will“ (Bultmann, nach 1963a, S. 192). Insofern besteht die Sünde in der „Urwahl des Menschen gegen Gott“, „der Mensch führt eine Scheinexistenz in Uneigentlichkeit“ (ebd., S. 305).
Lebensvollzug in Gesellschaft und Geschichte Sowohl gegenüber der Existenzphilosophie als auch gegenüber einer auf diese aufbauenden Theologie wurde häufig gefragt, ob die Betonung des einzelnen Menschen, der Hinweis auf seine Entscheidungen und damit das Ergreifen seiner existenziellen Möglichkeiten nicht den gesellschaftspolitischen Rahmen der Gesamtgeschichte zugunsten des Individuums ausblendet. Rudolf Bultmann stellte bereits 1951 im Rahmen seiner Vorlesungen an der Divinity School der Universität Yale diese Frage. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang ein historisches Wissen, das an Fakten interessiert ist, von der Geschichte selbst. Gerade in Hinblick auf die vielen Fakten, welche die historisch-kritische Bibelexegese herausgearbeitet hat, fragt Bultmann nach deren Bedeutung – wenn es nicht bei einem reinen Zuwachs an Wissen bleiben soll. Diese Frage beantwortet er in den Vorlesungen in Yale mit seinem Verständnis von Geschichte: „Durch ein Verstehen von Geschichte kann ich ein Verständnis für die Möglichkeiten des Menschenlebens gewinnen und damit für die Möglichkeiten meines eigenen Lebens. Der letzte Grund für das Studieren der Geschichte ist der, sich der Möglichkeiten menschlicher Existenz bewusst zu werden“ (Bultmann 1980, S. 60). Mit dem Werk „Geschichte und Eschatologie“ widmet er 1958 dieser wichtigen Frage ein ganzes Buch. Der an Geschichte Interessierte möchte diese nicht nur „in ihrem empirischen Verlauf verstehen, sondern als den Lebensraum, in dem sich menschliches Sein vollzieht, in dem menschliches Leben seine Möglichkeiten gewinnt und entwickelt, oder kurz gesagt, das Interesse kann das Verständnis des Menschen, wie er ist, war und immer sein wird, betreffen. In diesem Fall besinnt sich der Interpret, wenn er sich auf die Geschichte besinnt, auf seine eigenen Möglichkeiten und versucht, Erkenntnisse seiner selbst zu gewinnen“ (Bultmann 1979, S. 128). Der an
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Geschichte interessierte Interpret befragt somit die historischen Fakten „nur zusammen mit ihrem Sinn oder ihrer Bedeutung“ (ebd., S. 131). Sinn und Bedeutung aber haben Fakten nicht rein abstrakt, sondern nur für konkrete Menschen und in der Beziehung zu ihnen. Insofern ist „jede Interpretation von einem bestimmten Interesse geleitet“ (Bultmann 1979, S. 126). Historisch-hermeneutische Wissenschaften unterscheiden sich daher stark von dem Ansatz der auf Objektivität und Neutralität ausgerichteten Naturwissenschaften: „daher gilt die Beziehung von Subjekt und Objekt, die für die Naturwissenschaft charakteristisch ist, nicht für die Geschichtswissenschaft. Dies ist objektiv gerade in ihrer Subjektivität, weil ihr Subjekt und Objekt nicht unabhängig von einander existieren“ (ebd., S. 158). Gerade das Vorverständnis des Menschen, das aus seinem bisherigen Lebenslauf und den bereits gemachten Erfahrungen entspringt, lässt ihn in der Geschichte Möglichkeiten, aber auch Grenzen des Lebens eines Einzelnen beziehungsweise der Menschheit erkennen. Wenn menschliches Leben als permanenter Vollzug von Entscheidungen verstanden wird, „dann ist die Geschichtlichkeit des menschlichen Seins erst vollständig verstanden, wenn das menschliche Sein verstanden ist als Leben in Verantwortung gegenüber der Zukunft“ (ebd., S. 162). Konkrete Geschichte und existenziale Theologie schließen sich somit nicht aus, sondern sind grundsätzlich miteinander verbunden: „Geschichtlichkeit ist das Wesen des Menschen, der in keinem Jetzt in der Erfüllung seines eigentlichen Seins steht, sondern der immer unterwegs ist, aber nicht dem von ihm unabhängigen Gang der Geschichte ausgeliefert, sondern in jedem Jetzt in der Entscheidung, verantwortlich in Einem für die Vergangenheit und für die Zukunft“ (ebd., S. 172).
Geschichte als gedeutete Wirklichkeit Hasenhüttl greift Bultmanns Gedanken konstruktiv auf. Geschichte ist für ihn radikal zweideutig und kann nur von der konkreten menschlichen Existenz aus verstanden und in Eindeutigkeit verwandelt werden (vgl. 1963a, S. 252). Der Mensch spricht auch hier den Fakten Sinn zu oder ab, er befragt sie, ob sie für ihn Bedeutung haben oder nicht. Auch in der Frage nach der Bedeutung der Geschichte zeigt sich somit Hasenhüttls grundlegend relationaler Ansatz. In geschichtlichen Zeugnissen zeigt sich, wie die Menschen jener Zeit ihr Sein verstanden haben: „Diese Menschen sind dagewesen, und ihr einstiges Dasein macht primär die geschichtliche Bedeutung dieser Dinge und Taten aus. Jedes geschichtliche Zeugnis ist
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auf dieses menschliche Dasein bezogen“. Allerdings zeigt sich hier auch „eine unüberholbare Distanz, der ich mir stets bewusst zu sein habe“ (1965a, S. 7 f.). Geschichtliches Denken bedeutet aber weder eine Rückprojektion der Gegenwart in eine geschichtliche Epoche noch ein Ansammeln reiner Fakten: „So darf menschliches Denken und Sein nicht bei historischen Feststellungen allein stehen bleiben, denn die Nähe der Vergangenheit zu meinem heutigen Sein wäre verkannt. Das Verhältnis des Menschen zur Geschichte und ihren Zeugnissen ist also ein anderes als zu einer rein objektiven Feststellung, zu einer vorhandenen Größe. Vorhandenes, Gegenständliches, bei dessen Betrachtung ich von meiner Existenz absehen kann, berechtigt allein zu einer objektiven, objektivierenden Betrachtungsweise. Erfasst der Mensch sich aber in seinem Sein, versteht er sich in Seinsverbundenheit mit dem Faktum und weiß er, dass es in diesem notwendig um ihn selbst geht, dass er selbst ein Stück desselben ist, dass er mit seinem Sein hineinverflochten ist und dass es in ihm um seine eigensten Seinsmöglichkeiten geht, dann kann er nicht bei der ‚richtigen‘ Feststellung allein stehen bleiben, sondern muss die Dimension des rein Historisch-Objektiven transzendieren, auf die eigentliche geschichtliche Wahrheit dieser Aussage, dieser Tatsache hin“. Und dies hat einen Grund: „In meiner konkreten Lebendigkeit erfasse ich in der Begegnung mit der Geschichte meine eigene geschichtliche Möglichkeit“ (1965a, S. 10 f.). Werden existenziale Grundstrukturen in der Geschichte als Lebensmöglichkeiten entdeckt und diese in einer existenziellen Entscheidung in Bezug zum eigenen Leben gesetzt, so wird die Vergangenheit respektiert und gleichzeitig Verantwortung für die konkrete Gegenwart und Zukunft übernommen. Diese Haltung stiftet Sinn inmitten der Geschichte: „Geschichtliche Zeugnisse werden nicht verfälscht oder in eine unbegründete Subjektivität hineingezerrt, die sie missdeutet, wenn sie echt existenzial verstanden werden. Existenziales Denken aber ereignet sich nicht in einem leeren Raum, in dem für Willkür Tür und Tor offenstehen, sondern es hat auf die Anrede, die es von der Geschichte vernimmt, zu hören“ (1965a, S. 30). Weder Flucht in die Geschichte noch Flucht aus der Geschichte werden diesem Ansatz gerecht, sondern nur eine relationale Begegnung der geschichtlichen Zeugnisse mit dem Menschen von heute, der seinerseits immer schon in konkreten gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Bezügen lebt und inmitten dieser Rahmenbedingungen vor die existenzielle Entscheidung gestellt ist. Nur so kann es einen sinnvollen Umgang auch mit den Überlieferungen der Religionsgeschichte geben.
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2.4 „Was eine Lehre vom Menschen leisten soll“ Hasenhüttl fasst seinen anthropologischen Ansatz zusammen (2001, Bd. II, S. 185 f.) und stellt damit auch mögliche Antworten zu den Fragen vor, die Jean-Paul Sartre formuliert hat. Es sind dies die Fragen nach dem Verhältnis von Materie und Geist beziehungsweise von Leib und Seele, die Frage nach einem ganzheitlichen Lebensvollzug, nach der Freiheit, nach der zwischenmenschlichen Beziehung und nach der gesellschaftlichen Praxis. 1. Im Gegensatz zu jedem Versuch, den Menschen als ein „vorgegebenes Wesen“ zu beschreiben und ihn dadurch dingfest zu machen, schreibt Hasenhüttl in Aufnahme der Gedanken von Rudolf Bultmann und der Existenzphilosophie: „Der Mensch ist nichts Vorgegebenes, sondern er definiert sich in seinem Selbstvollzug, entwirft sein ‚Wesen‘; allerdings unter bestimmten Bedingungen und Strukturen, die nicht beliebig veränderbar sind“. 2. Gegen jede Form von Dualismus betont er zusammen mit Max Scheler: Der Mensch ist nicht teilbar in die beiden Prinzipien Leib und Seele, sondern er „ist eine untrennbare Einheit und nur als ganzer zu verstehen. Dies gilt auch für den Testfall: Tod“. 3. Die Aussagen vom Vollzug des Menschen und von der wechselseitigen Bedingung von Leib und Seele führen zur Erkenntnis: „Ist der Mensch als nichtteilbare Einheit zu verstehen, dann ist im Vollzug die geistige Reflexion zu verleiblichen und unsere Materie vom Geist zu durchdringen“. 4. Das hat gerade auch für die Theologie Folgen: „Jede Anthropologie, die die Identität des Menschen außerhalb von ihm sucht, entfremdet ihn notwendig. Die Identität kann der Mensch nur in sich finden“ – auch wenn diese Identität nicht monologisch gesetzt, sondern durch Begegnung vermittelt ist. 5. So wie die Aspekte Leib und Seele beim Menschen nicht vergegenständlicht, sondern als Aspekte eines dialektischen Prozesses verstanden werden sollen, kann auch von Gott nicht als von einer in sich seienden Wesenheit gesprochen werden. Die zentrale Aussage des Christentums von der Menschwerdung Gottes verweist darauf, dass von Gott nur im Kontext des Menschen gesprochen werden kann. „Gott hingegen als Prädikat des Menschen verstanden, kann dessen Ziel sein, so dass der menschliche Mensch Gegenwart Gottes bezeugt und ihn als Ereignis vergegenwärtigt“.
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6. Da der Mensch sich selbst in Begegnung konstituiert, können das Individuum und die Gemeinschaft nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie müssen vielmehr in einer dialektischen Wechselbeziehung gesehen werden: „Nur in der Einheit von einzelnen und der Menschheit ist Identität zu suchen und zu finden“. 7. Menschsein als Begegnungsgeschehen hat elementare Folgen für die Begründung und Ausrichtung seiner praktischen Vollzüge: „Jede Anthropologie, die den Menschen von ethischen Normen her bestimmt, ist eine Reduktion des gesamtmenschlichen Vollzuges, da sie den Menschen einer Norm subsumiert“. Gefordert wird vielmehr eine gegenseitige Durchdringung von Theorie und Praxis, die zu einem je neuen und situationsbezogenen Handeln führt. Ethisches Handeln ist so die Konsequenz der eigenen kommunikativ konstituierten Erfahrung und nicht von außen geleitet und somit fremdbestimmt. So kann der Mensch in Freiheit einer Entfremdung durch eine vorgegebene Norm entgehen. 8. Da analytische Vernunft zwar notwendig, aber trotzdem nur auf die Untersuchung vorgegebener Objekte gerichtet ist, bedarf es einer Ergänzung, die dem wesenhaften Vollzug des Menschen gerecht wird: „Die Aufgabe einer Anthropologie ist, die Dialektik menschlicher Existenz zu erarbeiten und so den Bezug von Freiheit und Notwendigkeit, d. h. von Produzieren und Empfangen, Schenken und Beschenktsein, in seiner Relationalität zu entdecken“. Gerade so kann die grundlegende dialogische Struktur des Menschen deutlich werden. 9. Wenn Selbstwahl und Existenzverwirklichung nicht monologisch missverstanden werden sollen, ist der Blick auf die gesellschaftspolitischen und sozialen Rahmenbedingungen des menschlichen Lebens unverzichtbar: „Deskriptiv könnte das gesuchte Humanum einen Ausdruck finden in einem Leben, das frei von Unterdrückung und vermeidbarem Leid ist und fähig ist, die Bedürfnisse und Interessen der Menschen im politischen Raum zu realisieren und in sozialer Gerechtigkeit und konkreter Freiheit im solidarischen Handeln zu entfalten“. 10. Dies alles könnte dann dazu führen, „dass der Mensch im Verhalten zur Welt, zum Mitmenschen in der Gesellschaft und zur Natur befreit würde (…) Gott könnte dann die Verwirklichung des wahren Menschen sein“ (2001, Bd. II, S. 185 f.).
3. Die Wahrheit des Glaubens als möglicher Ort einer Antwort 3.1 Die Krise des Glaubens und der Religionen Kirche und Theologie stehen inmitten geschichtlicher und gesellschaftlicher Kontexte. Die aktuellen Rahmenbedingungen, in denen Religion und Glaube gelebt und reflektiert werden, können mit den Begriffen „Postmoderne“, „Säkularisierung“ oder „Entzauberung“ (Max Weber/Jürgen Habermas) beschrieben werden. Gemeinsam ist allen strukturellen Beschreibungen des gegenwärtigen kulturellen und sozialen Lebens, dass Religion und Glaube nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden können, sondern dass ihre Sinnhaftigkeit erst aufgezeigt und ihre Funktionalität erst ausgewiesen werden müssen. Eine Grundsatzfrage, die sich jahrhundelang so nicht gestellt hat, ist heute unabdingbar vor jeder konkreten Beschäftigung mit religiösen Vollzügen zu formulieren: „Macht es Sinn, sich mit dem christlichen Glauben zu beschäftigen?“ (2001, Bd. I, S. 19). Zunächst scheint diese Frage Hasenhüttls aus kulturgeschichtlicher Perspektive bejaht werden zu müssen: Religion und Glaubensüberzeugungen „kommen vor und bestimmen nicht unerheblich das Leben von Millionen von Menschen. Religionen und Glaube haben Heil und Unheil über die Menschen gebracht, und Religionskriege sind noch immer nicht verstummt. Um Menschen verstehen zu können, ist es notwendig, ihre religiösen Überzeugungen kennenzulernen. Im Abendland spielt noch immer das Christentum eine entscheidende Rolle. Unsere Kultur, Sozialisation, Gesellschaft und das menschliche Verhalten sind bestimmt von religiösen Vorstellungen christlicher Prägung“ (2001, Bd. I, S. 19). Religionen bieten aber auch aktuell Handlungs- und Deutungsmuster an, an denen sich Menschen orientieren können: „Was hilft einer sinnvollen Lebensgestaltung, so dass Leben sich als schön und lebenswert erweist?“ (ebd.). Religionen tragen letztlich zur Vermenschlichung des Lebens bei. Gleichzeitig aber gilt: „Was darunter genau zu verstehen ist, ist weitgehend offen, da das wahre Menschsein noch nicht gefunden ist, wir immer noch unter unmenschlichen Bedingungen leben“ (2001, Bd. I, S. 22). Wenn der Mensch sich selbst und anderen immer noch eine offene Frage ist und wenn auch die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse viel-
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fach noch so sind, dass wahres Menschsein durch diese äußeren Umstände oft verhindert wird, dann können Religion und Glaube nicht so verstanden werden, als enthielten sie fixe und ungeschichtliche Inhalte, Normen und Formen, die dem konkreten Mensch in seiner jeweiligen Zeit und Kultur einfach übergestülpt werden könnten. Auch kann es nicht darum gehen, alte Inhalte in neuer Sprache auszusprechen. Die Inhalte haben ebenfalls ihre Geschichte und unterliegen somit dem Wandel. Es bedarf also einer kritischen Sichtung der tradierten Vorgaben, sowohl der inhaltlichen als auch der institutionellen. Diese müssen zunächst in ihren Entstehungsbedingungen erforscht werden. Es muss nach den Interessen gefragt werden, die hinter den jeweiligen Deutungsmodellen stehen, und auch danach, ob wirklich alle, für die das jeweilige Modell gelten soll, an seiner Gestaltung mitbeteiligt waren. Insofern ist eine kritische, wissenschaftliche Bearbeitung von Religion und Glaube notwendig – gerade auch, um gegenwärtige Mechanismen von Gewalt und Unterdrückung zu entlarven, bis hin zu Religionskriegen, die oft auf nicht hinterfragten Absolutheitsansprüchen beruhen. Da Religion und Glaube sich auf das Handeln und Erleiden konkreter Menschen beziehen, ist ihre kritische Reflexion zugleich immer auch auf eine die herrschenden Verhältnisse verändernde Praxis ausgerichtet. Leitbild kann dabei der Begriff des „Humanum“ sein, wobei auch dieser Begriff in seinem Inhalt nicht ungeschichtlich festgesetzt ist, sondern immer wieder neu konkretisiert werden muss: „Deskriptiv kann man vom Humanum, von einem ‚menschlichen‘ Leben sprechen, wenn es frei ist von Unterdrückung und vermeidbarem Leid und wenn es dazu befähigt, die Bedürfnisse und Interessen der Menschen politisch, sozial und religiös durch freies, solidarisches und konsensfähiges Handeln zu realisieren und in Entsprechung zur Natur zu entfalten“ (2001, Bd. I, S. 22). Theologie als kritische Reflexion der Glaubensinhalte und der Glaubenspraxis „hat daher solidarische Befreiungspraxis zu leisten, d. h. darauf abzuzielen, dass alle Herrschaftsansprüche des Menschen über den Menschen ein Ende finden und er in Entsprechung zu seiner Welt lebt. Dadurch hat sie eine emanzipatorische Aufgabe. Zu ihr gehört, dass sie Ängste und Nöte aller Art abbaut, seien sie gegenüber menschlicher Bevormundung durch Macht und Herrschaft, seien sie durch die Natur und ihren Gebrauch hervorgerufen. Angst steht immer gegen die Liebe und zerstört sie. Um dieser Unterdrückung zu entgehen, hat Theologie als praktische Wissenschaft einen Freiraum zu schaffen, der den Menschen
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jeder Verzweckung entnimmt, ihn vom Leistungsdruck befreit und als Person voll ernst nimmt (…) Auf diese Weise stellt Theologie eine Hilfeleistung, ein Angebot zur Identitätsfindung des Menschen dar und kann verborgene Herrschaftsmechanismen entlarven. Theologie setzt den Menschen in Freiheit, und da autoritätsgebundene Menschen aufgrund ihrer Erziehung nur eine reduzierte, verkrüppelte Freiheit kennen, ist erst die Liebe zur Freiheit zu wecken und so der Mensch zu öffnen für ein menschliches Dasein, ein Füreinanderdasein, ein gegenseitiges Einstehen in Freiheit und Liebe“ (2001, Bd. I, S. 22 f.). Wie aber können die zentralen Begriffe „Glaube“, „Wahrheit“, „Erfahrung“ und „Offenbarung“ so gedeutet und in die Gegenwart übersetzt werden, dass sie diesem Ziel nahekommen?
3.2
Glaube als relationaler Gesamtvollzug
Das Wort „glauben“ unterliegt in der deutschen Sprache einer grundsätzlichen Doppeldeutigkeit, vor der im Englischen die Unterscheidung zwischen „belief“ und „faith“ bewahren kann. Sagt man im Deutschen: „Ich glaube, dass das Wetter gut wird“, so drückt man damit die Unsicherheit und letztlich das Unwissen darüber aus, wie das Wetter wirklich werden wird. „Glauben“ ist in diesem Sinne ein Ersatz für objektiv feststehendes Wissen. Völlig anders ist es, wenn dasselbe Wort im Kontext einer zwischenmenschlichen Beziehung verwendet wird: „Ich glaube dir“, wird dann gesagt oder sogar: „Ich glaube an dich“. Hier gilt: „Es wird primär nicht begründendes Wissen angesprochen, sondern das Beziehungsein des Menschen“ (2001, Bd. I, S. 150). Entscheidend für den religiösen Gebrauch des Wortes „glauben“ wird nun sein, ob es in der Praxis und in der theologischen Reflexion nach dem Modell des Ersatzwissens oder aber im Modus der Beziehung gebraucht wird. Bereits in den Schriften der hebräischen Bibel wird mit dem Wort „Amen“ dieses Beziehungsverhältnis ausgesprochen: „Werden aber Ereignisse und Erfahrungen zur Sprache gebracht, in denen Gottes Gegenwart erkannt wird, dann sagt der Mensch mit seiner ganzen Existenz Amen“. Eine solche Erfahrung hat Bedeutung für die Zukunft des entsprechenden Menschen: Das einmal als gut, als göttlich Erfahrene erweitert die Lebensperspektive: „Durch Glauben erschließt sich Wirklichkeit, der Mensch hat Zugang zu einer anderen Wirklichkeitsdimension, in der er von Gott
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sprechen kann“ (2001, Bd. I, S. 151). Exemplarisch ist für Juden und Christen die Erzählung von der nach menschlichem Ermessen unmöglichen Rettung der Israeliten aus der Hand des ägyptischen Pharao. Hier werden Erfahrungen eines Einzelnen oder einer ganzen Gruppe beschrieben, in der sich Aussichtslosigkeit in Rettung, auswegloses Unheil in Befreiung wandelt. Innerhalb konkreter geschichtlicher Geschehnisse wird somit etwas erfahren, das als etwas „himmlisch Gutes“ gedeutet werden kann. Allerdings darf diese Rettung nicht ihrerseits als von außen kausal bewirkt verstanden werden. Sonst müsste sogleich gefragt werden, warum die Israeliten gerettet werden, die ihnen nacheilenden ägyptischen Soldaten aber, die nur ihre Pflicht tun, vernichtet. Das Heil der einen darf nicht durch das Unheil der anderen erkauft werden. Gerade das Buch Hiob zeigt zudem deutlich, dass es für grundlegende menschliche Erfahrungen im Guten wie im Schlechten letztlich keine kausale Begründung gibt: „Der Glaube, das Vertrauen sieht in den gegenständlichen Geschehnissen nicht einfach nur eine begründete innerweltliche Kausalität, sondern erkennt in ihnen eine andere Dimension der Wirklichkeit, die Gotteserfahrung ermöglicht“ (2001, Bd. I, S. 151). Das Neue Testament spricht nicht nur von „glauben an“, sondern es gebraucht das Wort auch absolut: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Durch die Beziehung der Menschen zu Jesus geschieht Heilsames: Kranke werden geheilt, Ausgegrenzte aufgenommen, Vorverurteilte gerechtfertigt: „Damit ist wiederum nicht ein allmächtiges, mirakelhaftes Verfügenkönnen über alles und jedes gemeint, sondern die vertrauende Beziehung, der keine Grenzen gesetzt sind, die einen unbegrenzten Freiraum öffnet“. Das gilt auch für die Verkündigung durch die nachfolgenden Generationen: „Verkündigt wird im Glauben aber nicht ein Inhalt, eine Lehre, sondern die andere Lebensform, die Jesus paradigmatisch darstellt“ (2001, Bd. I, S. 152). Glaube und Neuausrichtung der Lebensperspektive gehören zusammen. Das Leben selbst ist somit letztlich der Inhalt des Glaubens, wenn es in seiner Neuausrichtung als Liebe qualifiziert wird: „Entscheidend bleibt, woher ich mein ‚Leben‘ beziehe, was den Sinn meines Lebens ausmacht: Leistung und Erfolg oder Beziehung und Liebe“ (ebd., S. 153). Bezeichnenderweise verwendet das Johannesevangelium das Wort „glauben“ meist als Verbum, als Tätigkeits- oder Vollzugsbegriff. Glaube wird damit als konkrete Praxis beschrieben und gedeutet.
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Vom Vollzugsglauben zum Satzglauben Hasenhüttl verweist darauf, dass die Ebene des vollzogenen Glaubens in der Theologie- und Kirchengeschichte sehr bald zugunsten eines verobjektivierenden Denkens verlassen wurde. Hier wird die Aussage „Ich glaube, dass …“ als Ersatzlösung für das verstanden, was nicht gewusst wird. „Ist Jesus der Sohn Gottes?“, „Hat er die Welt erlöst?“ Diese und viele andere Fragen werden – gerade weil sie nicht mit menschlicher Erfahrung verbunden werden – aufgrund autoritär vorgegebener Satzwahrheiten beantwortet. Nach Hasenhüttl aber hat der Glaube nur ein „Formalobjekt“ und nur einen Inhalt: „Einander lieben. Darin zeigt sich die christologische Bestimmtheit; indem wir das tun, erweisen wir uns als Menschen, die glauben, dass wir im Lieben selbst Gott erfahren, weil uns im Paradigma Jesus Christus die gott-menschliche Struktur der Wirklichkeit aufgeht“ (2001, Bd. I, S. 153). Dies ist kein Plädoyer für Irrationalität, es ist auch keine als reine Verinnerlichung missverstandene Mystik. Gerade der Lebensvollzug in Form von Liebe hat seinen ganz eigenen Zugang zu Verstehen und Erkennen. Wenn es bereits in der Paradieserzählung heißt, dass Adam und Eva sich „erkannten“, ist damit nicht die Information über äußere Tatbestände gemeint, sondern ein sich gegenseitiges ganzheitliches Erschließen: „Zwei Menschen, die sich lieben, verstehen sich, denn ohne Verständnis füreinander ist Liebe nicht möglich“ (2001, Bd. I, S. 162). Die äußeren Fakten und Geschehnisse bekommen eine Tiefendimension. Es wird ausgesprochen, was Dinge und Vorgänge dem Menschen letztlich bedeuten, ob er Sinn in ihnen erkennt. Dieses Erkennen kann aber nicht vom Lebensvollzug und der praktizierten Liebe getrennt werden. Da sich im gegenseitigen Lieben und Erkennen die Menschen immer auch verändern, ist Leben und Erkennen ein unendlicher dialektischer Prozess. Im Verlauf einer langen Entwicklung wurde nach Hasenhüttl diese Beziehungswirklichkeit des Glaubens immer stärker zu einer Vermittlung und Annahme von scheinbaren Sachverhalten, die man im Glauben annehmen muss. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung sieht er insbesondere im Ersten Vatikanischen Konzil und in dessen Dogmatischer Konstitution „Dei filius“ vom 24. April 1870. Dort heißt es unter anderem: „Wer sagt, die menschliche Vernunft sei so unabhängig, dass ihr der Glaube nicht befohlen werden könnte: der sei mit dem Anathema belegt“ (DH Nr. 3031). Wer sich somit Gott, der hier als Befehlshaber verstanden wird, widersetzt, wird aus der kirchlichen Gemeinschaft aus-
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geschlossen. „Nicht einmal ein partnerschaftliches Verhältnis ist der Glaube, sondern Abhängigkeit und demütigende Unterwerfung, wie unter einen Potentaten (…) Zur fundamentalistisch-autoritären Haltung gesellt sich eine Naivität, als ob Gott direkt mit den Menschen spräche und ihnen unmittelbare Anweisung gäbe. Glaube ist als Unterwerfungsakt zugleich persönliche Bindung an Gott und Zustimmung zu allem, was er den Menschen an Wahrheiten mitteilt“ (2001, Bd. I, S. 154 f.). Das Verhältnis Gottes zu den Menschen wird hier bestimmt als ein reines Abhängigkeitsverhältnis und widerspricht so gerade der biblische Rede von dem Gott, dessen Wesen so grundsätzlich von Liebe bestimmt ist, dass er selbst mit der Liebe identifiziert werden kann. Einem autoritären Gottesbild entspricht dann folgerichtig das Menschenbild: „Einer absoluten Autorität, die nicht in Frage gestellt werden darf, steht ein knechtischer Mensch gegenüber, der seine Identität durch Gehorsam erlangt. Die Gehorsamskategorie ist völlig ungeeignet und zerstört jede Beziehung. Genauso wenig wie sich Liebe einfordern lässt und niemand befehlen (…) kann, zu lieben, genauso wenig ist der Glaubende Befehlsempfänger. Hörigkeit ist nicht Glaube. So befreit Gottes Wirklichkeit nicht den Menschen, sondern unterdrückt ihn mittels des Glaubens“ (2001, Bd. I, S. 157).
Menschenliebe als Gottesliebe Für Hasenhüttl ist dagegen christlicher Glaube eine „absolute Entscheidung für den Menschen, wie Jesus Christus als Menschsein für andere existierte (…). Geschwisterlichkeit und Verzicht auf Herrschaft sind die Merkmale“ (2001, Bd. I, S. 161). Glaube ist der entscheidende Gesamtvollzug des Menschseins, oder, wie Paulus es ausdrückte: das Stehen im Glauben (vgl. 1. Kor. 16,13 und Röm. 11,20). Spricht man dabei speziell von der christlichen Form des Glaubens, dann meint das „das Offensein für die Erfahrung als absolutes Geschehen in aller Relativität. Diese Weise, Erfahrung zu verstehen, gibt die Möglichkeit, von Gott zu sprechen. Historisch konkretisiert sich diese Möglichkeit in der biblischen Botschaft in Jesus Christus. Glaube ist religiös, wenn er auf diese Weise Positives erschließt, Hoffnung als Offenheit für die Zukunft ermöglicht und Liebe als Angenommensein in der Gegenwart erfahren lässt“ (2001, Bd. I, S. 163). In den Ausführungen über die Gotteslehre wird zu zeigen sein, dass dieses Beziehungsdenken nicht verstanden werden kann als Beziehung des Menschen zu einem auch unabhängig von ihm seienden „außerirdi-
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schen“ Wesen. Die dramatische Geschichte vom Weltgericht im Matthäusevangelium (Mt. 25,31 ff.), wo es wirklich um Letztes geht, zeigt, dass gerade im relationalen Vollzug, im Einsatz für andere sich das ereignet, was „Gott“ genannt zu werden verdient: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt. 25,40). Dies darf nicht wiederum paternalistisch-fürsorglich verstanden werden. Relation bedeutet vielmehr auch hier, dass alle Betroffenen in einer gleichberechtigten Beziehung so zueinander stehen, dass hier „himmlisch Gutes“ erfahren werden kann, oder wie es im 1. Johannesbrief über diesen relationalen Gesamtvollzug des Glaubens heißt: „Liebe Brüder, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe“ (1. Joh. 4,7 f.).
3.3 Wahrheitsmodelle Als charakteristisches Kennzeichen der Moderne wurde der Umstand beschrieben, dass das auf dem klassischen Ordo-Gedanken beruhende mittelalterliche Weltbild zerbrochen ist und die einzelnen Aspekte der Wahrheit, der Moral und der Ästhetik nun nach eigenen Erklärungs- und Plausibilitätsstrukturen verlangen. Das diese Aspekte bisher fundierende und einigende Band der Religion bedarf damit einer neuen inhaltlichen Füllung und Funktionsbestimmung. Eine wichtige – wenn nicht sogar die zentrale – Ursache vieler Missverständnisse und auch vielfach die Ursache einer generellen Ablehnung der Religion sowie des Gottesgedankens in der Gegenwart liegt darin, dass das mit „Gott“ Gemeinte immer noch als Begründung aller Aspekte der Lebenswirklichkeit des Menschen postuliert wird. Dadurch kommt es zu problematischen Grenzüberschreitungen und Vermischungen der einzelnen Erklärungs- und Begründungsstrukturen. Für Hasenhüttl gibt es zwei verschiedene Zugangsweisen zur Wahrheit, die zwar beide die Lebenswirklichkeit des Menschen betreffen und insofern legitim und wichtig sind, deren Vermischung oder gar Über- und Unterordnung aber die Basis für zentrale Missverständnisse bildet.
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Verobjektivierendes Denken Das erste Modell ist das mittelalterliche Verständnis von Wahrheit und wurde klassisch formuliert von Thomas von Aquin in seinem Satz: „veritas est adaequatio intellectus et rei“ (oder: „ad rem“) – die Wahrheit ist eine Angleichung des Verstandes an die vorhandene und vorgegebene Sache. Diese „Adäquationstheorie“ oder „Korrespondenztheorie“ der Wahrheit setzt das vom Verstand zu erkennende Erkenntnisobjekt auch unabhängig vom Betrachter als seiend voraus. Allerdings macht bereits Thomas bei seiner Definition eine wichtige erkenntnistheoretische Nachbemerkung: „secundum quod intellectus dicit esse quod est, vel non esse quod non est“ – weil der Verstand sagt, dass etwas ist oder nicht ist. Der menschliche Verstand ist somit letztlich der Ort, wo über Sein oder Nichtsein geurteilt wird. Von hier aus ist es letztlich nur ein kurzer Weg bis zur Erkenntnistheorie der Aufklärung, wo Immanuel Kant die Kategorien beschreibt, nach denen der Verstand erkennt und urteilt. Die „Sache an sich“ oder das „Ding an sich“ stehen damit nicht zu Verfügung; Erkenntnisobjekte unterliegen vielmehr den Kriterien des Verstandes und der von ihm vorgegebenen Erkenntnisstruktur. Erkennen ist somit auf die kritische Beziehung von Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt angewiesen: „Wahrheit ist nicht eine reine Entsprechung von Gegenstand und Verstehen, sondern der Vollzug des Intellekts, indem er Seiendem Sein zuspricht“ (2001, Bd. I, S. 50). In der genannten Betonung der Mittlerfunktion des Verstandes bei Thomas ist eine moderne Erkenntnistheorie zwar schon angelegt. Im Kontext der westeuropäischen Wissenschafts- und auch Technikgeschichte hat sich allerdings vorwiegend der erste Teil der Wahrheitsdefinition des Thomas von Aquin im Sinne einer unkritischen Korrespondenztheorie durchgesetzt. Die scharfe Trennung von Erkenntnissubjekt („res cogitans“) und Erkenntnisobjekt („res extensa“) erreichte bei René Descartes ihre klassische Formulierung. Dies war sicherlich mit ein Grund dafür, dass neuzeitliche Wissenschaft entstehen konnte: Ohne Vorurteil, rein sachlich-objektiv (das heißt, auf das Objekt bezogen) konnten Vorgänge im Bereich der Physik und Chemie, der Biologie wie auch der Kosmologie beobachtet und dann wissenschaftlich eingeordnet und bewertet werden. Kausales und analytisch-schlussfolgerndes Denken, die Verallgemeinerbarkeit der Forschungsergebnisse und deren Vermittelbarkeit wurden zu Kriterien der Wahrheit. Die Ergebnisse dieser Forschung schienen zeitlos und kulturunabhängig. Man braucht keine Vorgaben aus dem Bereich der Religi-
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on, um zu diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu kommen. Die von der Religion bisher angebotenen Erklärungshypothesen, zum Beispiel über die Entstehung von Kosmos und Mensch, hatten vielmehr ihre Plausibilität verloren. Die Ergebnisse der so beschriebenen Forschung – wenn sie denn objektiv sein wollen – sind aber auch unabhängig vom Forscher selbst: „Bei der Entdeckung der Atomenergie haben zwar Menschen ihr Leben verloren, aber aus der Struktur dieser Wahrheit geht hervor, dass der konkrete Forscher nicht konstitutiv ist. Sicher, so lange die Kernspaltung oder -verschmelzung noch nicht entdeckt ist, ist ein Wissenschaftler für diese notwendig. Sobald die Entdeckung jedoch gemacht wurde, ist der Weg der Erforschung uninteressant, wichtig ist nur das Resultat und nicht der konkrete Mensch“ (2001, Bd. I, S. 58 f.). Nicht zuletzt Jean-Paul Sartre hat – wie beschrieben – wichtige Einwände gegenüber diesem auf Descartes zurückgehenden Erkenntnismodell geäußert. Die Naturwissenschaft der Gegenwart weiß zudem selbst, dass ihr Erkenntnisobjekt nicht einfach unberührt „objektiv“ vorliegt und als solches entdeckt und beschrieben werden könnte. Es ist vielmehr mit bedingt von den Erkenntniszugängen und Methoden der Forscher selbst (vgl. zum Beispiel die Frage, ob das Licht Welle oder Korpuskel ist). Abgesehen davon stellt sich zunehmend auch die Frage nach dem „erkenntnisleitenden Interesse“ (Jürgen Habermas): Was bewegt die Forschung, dieses und nicht anderes zu erforschen, und nicht zuletzt: Wer bezahlt die Forschung und zu welchem Zweck? Die Frage nach der Wahrheit ist somit selbst in dem beschriebenen naturwissenschaftlichen Modell einer Korrespondenztheorie – trotz dessen geschichtlicher Leistungen – problematisch geworden.
Wahrheit als Prozess Dem beschriebenen Wahrheitsmodell stellt Hasenhüttl ein zweites gegenüber, das sich ebenfalls in seiner jetzigen Form dem Zerfall des klassischen Ordo-Systems verdankt. Es hat zum Inhalt den Lebensvollzug des Menschen und daher auch den Glauben. „Glaube“ aber ist ein ganzheitliches, dialogisches und somit auch geschichtliches Geschehen. Fragt man in diesem Kontext nach der Wahrheit von Sätzen wie zum Beispiel: „Das ist ein wahrer Freund“, „Ist dies wahre Liebe oder nur eine vorgetäuschte?“ oder gar danach, was denn „wahres Leben“ bedeute, dann geht analytisches und an Objekten orientiertes Denken ins Leere: „Es gibt aber auch
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den anderen Wahrheitstypos, den der streng kommunikativen Wahrheit. Für diese ist das Verhalten und Tun so wesentlich, dass die Wahrheit nicht existent ist, wenn sie nicht vollzogen wird. Der Vollzug des Liebens, der Treue, der Freundschaft usw. ist die Wahrheit der Liebe usw. Ich bin nur dann ein Liebender, wenn ich liebe. Eine Objektivierung außerhalb des Vollzugs ist nicht möglich, trotzdem ist es ein reales, wirkliches Geschehen“ (2001, Bd. I, S. 67). Dieses Wahrheitsverständnis ist elementar geprägt vom Verständnis des Menschen als ein Wesen, das sich ständig neu vollzieht, das nur in seinem eigenen Vollzug ist. Wäre der Mensch in seinem Denken und Handeln aber festgelegt, dann könnte er auch ein für allemal als Einzelner oder als gesamte Menschheit beschrieben werden. Dann wäre auch hier analytisches, zeitloses, „objektives“ Erkennen ausreichend. Der Rekurs unter anderem auf Max Scheler und Rudolf Bultmann macht für Hasenhüttl deutlich: „Aber Menschsein ist nicht ein vorgegebener Zustand, sondern vollzieht sich im Tun, denn der Mensch ist nicht einfach festgelegt, sei es durch den Instinkt, sei es durch Dressur (in Institutionen). Indem der Mensch sich vollzieht, verwirklicht er sein Wesen (oder ‚Unwesen‘), das wiederum nicht schlechthin Festlegung bedeutet, sondern durch Entscheidungen revidiert werden kann. Nur von der Anthropologie her lässt sich der Wahrheitsbegriff erhellen. Wird Menschsein als objektiv vorgegeben verstanden, ist Wahrheit des Menschen immer nur ein Nachvollzug. Der Mensch ist rein rezeptiv. Ist hingegen die Wahrheit, die den Menschen betrifft, nicht a priori vorgegeben, sei es durch Sätze, Gesetze, Normen, Institutionen usw., dann ist Wahrheit nur, indem der Mensch sie vollzieht, indem er die Wahrheit seines Lebens findet, ‚erfindet‘ und so zu seiner Identität gelangt, d. h. ein sinnvolles Leben lebt“ (2001, Bd. I, S. 61). Wahrheit ist also kommunikativ, wie das Leben selbst, sie ist nicht vor-gegeben, sondern im Vollzug des Lebens auf-gegeben. Sie hat – im Gegensatz zur analytisch-objektiven Wahrheit – einen Zeitkern und muss kommunikativ immer wieder neu gelebt werden. „Hingabe, Verzicht, Einsatz des Lebens usw. werden missverstanden, wenn der ‚objektive‘ Wert wissenschaftlich geprüft oder psychologisch und soziologisch aus möglichen Ursachen erklärt wird. Nur wenn die Beziehung, die relatio, (…) erfasst wird, nur dann wird die Wahrheit des Tuns verstanden, die sich darin ausdrückt. Wahrheit ist im Vollzug relational und kein objektivierbarer Sachverhalt“ (2001, Bd. I, S. 54). Dieses Modell sucht nicht nach einer immer schon vorhandenen Wahrheit. Da Wahrheit hier zur
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Aussage für das Leben selbst wird, ist sie auch offen für Neues, bisher noch nie Erfahrenes. Dazu muss allerdings auch der entsprechende Mensch nicht nur offen sein für Neues, sondern er muss in den vielfältigen Beziehungen seines Lebens selbst immer wieder neu werden.
Der Zeitkern der Wahrheit Hasenhüttl sieht in dem beschriebenen Wahrheitsmodell zentrale Elemente eines „kairologischen“ Wahrheitsverständnisses angesprochen: „Kairos bezeichnet die zeitlich-geschichtliche Gebundenheit der Wahrheit. Wahrheit ist nur ein in Zeit und Geschichte stattfindendes Ereignis. Nur in ihnen verwirklicht sie sich. Sie ist ein relationales Geschehen. Wahrheit ist nicht nur ein dialektischer Prozess von Objekt und Subjekt, indem sie sich gegenseitig bedingen und in der Weise des Zuspruchs die Entsprechung verwirklichen, sondern sie ist ein Kommunikationsprozess, der intersubjektiv eingelöst wird. Wahrheit ist nicht nur ein logisches, sondern ein dialogisch-relationales Geschehen (…) Wahrheit ist im Werden. Wahrheit ist kein Vorhandenes, sondern Qualifikation von Beziehungen. Wahrheit geschieht in Beziehungen des Lebens“. Diese gelebte Wahrheit ist folglich „die Aufhebung des Absolutheitsanspruches des begründenden Denkens, und so ist sie Freiraum“ (2001, Bd. I, S. 51 f.). Freiräume können gebraucht und missbraucht werden. Das Nichtfestgelegtsein des Menschen macht ihn unsicher und oft auch orientierungslos. Statt selbst mit anderen zu leben, überträgt er gerade in Situationen der Unsicherheit und der Sorge gerne scheinbar objektiv vorgegebene Lebenswege und Normen aus Angst vor Neuem in den eigenen Lebensvollzug. Aber auch hier gilt nach Hasenhüttl die Aussage des Johannesevangeliums, dass letztlich nur die Wahrheit frei machen wird, so schwer und unsicher dieser Prozess im Einzelnen auch sein mag (vgl. Joh. 8,32). Dialogische Wahrheit nimmt den anderen als gleichberechtigten Mitmenschen ernst. Im Dasein für und im Zusammensein mit anderen, das als Liebe qualifiziert ist, verdankt sich die Existenz des einen der Existenz des anderen. Es zeigt sich gleichsam der Horizont dessen, was wahres Leben für alle bedeuten könnte: „Als Seiende, Vorhandene, sind Menschen in die Ungleichheit gestellt und daher in die Verzerrung des Dialogs; als Existenz ist der Mensch in der Offenheit, und die Verzerrung ist grundsätzlich überwindbar. Daher ist Wahrheit dialogisch möglich und nur im Vollzug dieses Geschehens im emanzipatorischen Dialog verwirklichbar. Wahrheit wird hier zum Gegensatz von Lebenslüge“ (2001, Bd. I, S. 52).
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Im Vorgriff auf die Ausführungen zur Gotteslehre kann Hasenhüttl bereits im Kontext dieser beiden unterschiedlichen Wahrheitsmodelle sagen: „Zu Gott kommt man nicht wie zu einem logischen Resultat aufgrund eines Schlussverfahrens, sondern durch den Vollzug des Menschseins, in dem sich Gott zeigt. Wird ein Thema der Theologie von dieser funktionalen Relevanz getrennt, wird die Wahrheit also nicht mehr in der Bezugnahme, sondern in einer objektivierenden Wirklichkeit gesehen, dann ist die Theologie zur ‚Ideologie‘ geworden und die Interpretation der Dogmen zur Deutung ideologischer Machtdekrete, die sich durchsetzen konnten. Eine Ideologie aber entzieht sich stets der hinterfragenden Interpretation. Es wird etwas als objektive Tatsache ausgegeben, nach Art eines empirisch feststellbaren Sachverhaltes, unterwirft sich aber methodisch nicht der Verifikation, sondern entzieht sich ihr, indem das ‚Sprachspiel‘ dort gewechselt wird, wo nach der Bewahrheitung seiner Prinzipien gefragt wird“ (2001, Bd. I, S. 66). Und er fährt fort: „In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, wie das Objekt der Theologie, also Gott, gesehen wird; ob er als vorhandenes Seiendes verstanden wird, also grundsätzlich objektivierbar, ob es Gott also ‚gibt‘, wie es Dinge gibt, oder ob Gott etwa im Kontext von Liebe verstanden wird, also dem relationalen Wahrheitstypos zuzurechnen ist. Im zweiten Fall kann man grundsätzlich nur von Gott sprechen, wenn man vom Menschen spricht, wenn der Mensch also diese Wirklichkeit vollzieht, er gleichsam der Gegenstand ist, an dem Gott als Geschehen reflektiert werden kann. Diese Struktur der Wahrheit und die damit verbundene Sprechweise hat wesentliche Folgen für die Theologie und ihre dogmatischen Ausformungen“ (2001, Bd. I, S. 68). Das aber bedeutet: „Das ‚Sprachspiel‘ der Glaubensbekenntnisse und der dogmatischen Aussagen ist nur dann in einem authentischen Koordinatensystem, wenn es dem relationalen Wahrheitstypus zuzurechnen ist und dialogisch verantwortet wird“ (2001, Bd. I, S. 70). Damit ist zugleich die zeitliche Dimension aller Glaubensaussagen betont. Diese sind keine unveränderliche und ungeschichtliche Formeln, sondern sie sind wesentlich geprägt vom geschichtlichen Lebensvollzug der Menschen. Dadurch enthalten sie in ihrem Wahrheitsanspruch einen Zeitkern.
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3.4
Das Kriterium der Erfahrung
Der Zusammenhang von Liebe, Freundschaft oder Sehnsucht mit menschlicher Erfahrung ist direkt gegeben und sofort einsehbar. Wie könnte man auch sonst authentisch von diesen Phänomenen sprechen, wenn man die entsprechenden Erfahrungen noch nie gemacht hätte? Auch beim Glauben scheint dies so zu sein. Die Texte des Altes Testaments sprechen davon, dass Menschen in ausweglosen Situationen die Erfahrung der Rettung gemacht haben und dass sich aus dieser Befreiungserfahrung ihr Glaube nährte. Auch die Menschen um Jesus machten die Erfahrung, dass sie, obwohl sie aus gesellschaftlichen oder religiösen Gründen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen waren, von ihm angenommen und geliebt wurden.
Kritik an der Ausblendung von Erfahrung Trotzdem kann Hasenhüttl auf die Enzyklika „Pascendi Dominici gregis“ von Papst Pius X. aus dem Jahr 1907 verweisen, in der an mehreren Stellen die Erfahrung als Zugangsmöglichkeit zum Glauben verneint wird. Das Ziel der sogenannten Modernisten, gegen die sich die Enzyklika wendet, besteht demnach in Folgendem: „den des Glaubens bisher ledigen Menschen dahin zu führen, dass er die Erfahrung von der katholischen Religion erlangt, die nach den Lehren der Modernisten die einzige Grundlage des Glaubens ist“ (DH 3500, S. 952, vgl. auch DH 3484, S. 945). Dieser Versuch der von ihren Gegnern als „Modernisten“ Bezeichneten, Erfahrung und Glaube zu verbinden, wird als Irrtum bezeichnet. Wenn also ein offensichtlich richtiger Sachverhalt wie das Verhältnis der Erfahrung zu Grundvollzügen des menschlichen Lebens vom Lehramt der katholischen Kirche verneint wird, muss es dafür Gründe geben. Hasenhüttl sieht diese Gründe erstens in einer problematischen Bestimmung von Erfahrung selbst und zweitens in dem Konfliktpotenzial, das in dem Spannungsverhältnis zwischen der Erfahrung und den etablierten, meist erfahrungslosen dogmatischen Lehraussagen liegt. Auch in der evangelischen Theologie ist das Phänomen der Erfahrung und deren Verhältnis zum Glauben immer wieder kontrovers diskutiert worden. Als Kronzeuge eines auf Erfahrung bauenden Glaubens gilt Friedrich Schleiermacher (1768–1834). Dieser hatte als Reaktion auf die Religionskritik Immanuel Kants (1724–1804) im Jahr 1799 seine Reden „Über die Religion“ an die „Gebildeten unter ihren Verächtern“ veröffent-
Das Kriterium der Erfahrung
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licht. Im Gegensatz zur traditionellen Metaphysik, aber auch im Gegensatz zu Kant, der die Funktion der Religion vorwiegend in der Moral erkennt, beschreibt Schleiermacher das Wesen der Religion: „Sie begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“ (Schleiermacher 1976, S. 49). Kommen in den beiden Begriffen „Anschauung und Gefühl“ sowohl eine Begegnung mit der Außenwelt („Anschauung“) als auch gleichzeitig die innere Folge dieser Anschauung („Gefühl“) zur Sprache, so streicht Schleiermacher in den nachfolgenden zahlreichen Neuausgaben seiner „Reden“ immer stärker den Ausdruck „Anschauung“. Dadurch wird die Balance von Innen und Außen immer mehr zugunsten des inneren Gefühls aufgegeben. Vielleicht kann man in dieser Verschiebung ein Indiz für die Wende der geistesgeschichtlichen Epoche der Aufklärung hin zur Romantik mit deren Betonung der Innerlichkeit sehen. Bei allem Respekt vor Schleiermacher wendet sich Karl Barth gegen diese Verlagerung von der Erfahrung auf das innere Gefühl. Gerade weil er um die Anfälligkeit und Manipulierbarkeit von Gefühlen auch durch politische Ideologien weiß, bestimmt er die auch vom ihm als wichtig erachtete Erfahrung als das Betroffensein des Menschen durch die von außen auf ihn zukommende göttliche Offenbarung – wobei gerade auch diese Deutung einer Manipulation alle Türen öffnet. Mit den Worten von Hasenhüttl: „Ein Gegenstand, der von außen an den Menschen herangetragen wird, bestimmt durch seine Wahrheit die Existenz des erkennenden Menschen. Diese Bestimmung der Existenz des Menschen von außen nennt Barth Erfahrung. Der Mensch existiert durch dieses Bestimmtsein von außen als Mensch“ (2001, Bd. I, S. 109). Indem hier aber der Mensch als reiner Empfänger der Offenbarung gesehen wird, ist er letztlich von außen bestimmt, fremdbestimmt – und sei es durch die göttliche Offenbarung. Auch hier wird folglich das Phänomen der Erfahrung verkürzt.
Erfahrung als Grundvollzug des Lebens Um beiden Extremen der rein inneren beziehungsweise der rein von außen bestimmten Erfahrung zu entgehen, unternimmt Hasenhüttl eine eigene grundsätzliche Bestimmung des Erfahrungsbegriffs. In diesem sollen die Dimensionen des Innen und Außen dialektisch miteinander verbun-
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den werden. Ausgangspunkt dafür ist die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Erfahrung. Insbesondere von den englischen Empiristen und deren wichtigstem Vertreter John Locke (1632–1704) wird Erkenntnis als Eindruck äußerer Daten auf den gleichsam als weißes, unbeschriebenes Papier gedeuteten Verstand definiert. Der verstehende Mensch ist in diesem Sinne rezeptiv, ein rein passiver Empfänger der Wahrnehmung, und trägt nichts weiter zur Verarbeitung der empfangenen Daten bei. Der Vorgang ist rein monologisch, einen kommunikativen Aspekt gibt es dabei nicht. Hasenhüttl verweist im Gegensatz dazu auf den biblischen Gebrauch des hebräischen Verbs „jada“. Dieser Ausdruck kennt zwar den Aspekt der Wahrnehmung, impliziert aber gleichzeitig auch das Verstehen und Deuten des Wahrgenommenen. Der Begriff bedeutet somit: „Durch das Gesicht wahrnehmen, sehen und zugleich auch das geistige Wahrnehmen, also verstehen, erkennen“ (2001, Bd. I, S. 113). Das Wahrgenommene trifft den Menschen in seinem je konkreten soziokulturellen Umfeld. Dieses stellt ihm auch Modelle zur Verfügung, mit denen er das Wahrgenommene einordnen und deuten kann. Dabei ist die Aktivität des Verstandes notwendig, „damit wir Wahrnehmungen verstehen können und über den Reiz oder eine Instinkthandlung“ herauskommen. „Erst wenn Verstehen stattfindet, ist von Erfahrung zu reden“ (ebd., S. 114). Dies zeigt sich auch dadurch, dass Sinneseindrücke, die nur wahrgenommen wurden, nie entweder „wahr“ oder „falsch“ sein können. Diese Attribute sind vielmehr bereits Einschätzungen und Deutungen des Wahrgenommenen: „Zwar kann ich ein Lächeln, einen Händedruck, Sonnenschein und fallende Herbstblätter wahrnehmen, die Erfahrung aber, die darin liegt, Freundschaft Liebe, Treue, Hoffnung, Trauer, Einsamkeit usw. umschließt die Wahrnehmung und stellt sie in einen völlig neuen Verstehenshorizont. So lässt sich die Erfahrung der Liebe usw. nicht auf Wahrgenommenes reduzieren, sie kann aber auch niemals ohne Wahrnehmung gemacht werden“ (2001, Bd. I, S. 114). Erfahrung ist somit immer ein dialektischer Vorgang: Von außen kommt etwas auf mich zu, ich gebe dem Aufmichzukommenden eine Bedeutung, mache dadurch eine neue Erfahrung und werde durch diese neue Erfahrung auch selbst ein anderer: „Der Mensch als bewusstes Wesen wandelt sich durch den so erkannten Gegenstand, ist nicht mehr der gleiche wie vorher und hat selbst eine neue Dimension gewonnen. Seine bisherigen Ansichten, Verhaltensweisen usw. werden mit ihren Maßstäben einer Prüfung unterzogen“ (ebd., S. 115). In diesem
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dialektischen Spiel stehen somit beide Pole der Erfahrung zur Disposition und es kann dadurch Neues, so noch nicht Existierendes entstehen: Das Wahrgenommene wird um eine neue Deutung bereichert, und der Mensch wird durch die deutende Erfahrung mit dem Wahrgenommenen verändert. Er wird zum erfahrenen Menschen – wenn er nicht in der Vergangenheit so schlimme Erfahrungen machen musste, dass er sich in deren Folge jeder neuen Erfahrung verschließt. Wenn sich aber in der so verstandenen dialektischen Struktur der Erfahrung wirklich Neues zeigt – und Erfahrung mache ich gerade nicht durch die Bestätigung des immer schon Bekannten –, dann ist Erfahrung der Ort des Absoluten, so Hasenhüttl: „Die Erfahrung (…) ist ein nicht mehr reduzierbarer Prozess. Sie ist etwas Absolutes. Indem sie uns etwas Neues erscheinen lässt, ist die Erfahrung selbst die Weise, in der sich – wenn überhaupt – Absolutes erschließen kann. Erfahrung, die uns eine neue Wirklichkeit, etwas Wahres offenbart, ist selbst nicht dieses ‚Etwas‘, dieses Besondere, was mir im Erfahrungshorizont aufgeht, sondern ist die Seinsweise, die Grunddimension dessen, was sich neu zeigt, was erscheint. Man kann daher sagen, dass die Erfahrung die Wahrheit der neuen Erkenntnis, des als neu erkannten Sachverhaltes ist. Damit ist aber der neue ‚Gegenstand‘ die Erfahrung selbst. Dass wir Gegenständen, Sachverhalten, menschlichen Äußerungen Wahrheit zusprechen können, liegt in der Erfahrung, die diese Wahrheiten legitimiert. Sie selbst ist nämlich für uns der Modus des Sich-Zeigens, des Sich-Offenbarens der Wirklichkeit“ (2001, Bd. I, S. 117). Die Objektivität einer solchen Erfahrung kann allerdings nicht durch fixe gesellschaftliche oder ideologische Vorgaben oder durch empirische Untersuchungen garantiert werden. Ihre Wahrheit liegt vielmehr darin, dass sie kommunikativ vermittelbar ist. Diese Wahrheit zeigt sich auch daran, dass die gemachte Erfahrung für den Erfahrenden nicht folgenlos bleibt. Erfahrungen im Guten wie im Schlechten haben eine Veränderung zu Folge, sonst träfe der Spruch zu: „Aus Erfahrung nichts gelernt“. Insofern wird Erfahrung immer an eine gesellschaftlich wie kulturell bedingte, aber auch die jeweiligen Vorgaben verändernde Praxis zurückverwiesen und dadurch kommunikativ mitteilbar.
Theologie als Erfahrungswissenschaft Theologie ist für Hasenhüttl grundsätzlich Erfahrungswissenschaft. Sie deutet die in den biblischen Schriften erzählten Erfahrungen und er-
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Die Wahrheit des Glaubens als möglicher Ort einer Antwort
schließt diese für neue Erfahrungsmöglichkeiten in der jeweiligen Gegenwart. Auch die Systematische Theologie beziehungsweise die Dogmatik erkennt, „dass jedes Dogma, jeder Glaubenssatz, ja jedes Bekenntnis nichts anderes sein kann als Ausdruck menschlicher Erfahrung“ (2001, Bd. I, S. 110). Würde diese Erfahrungsebene verlassen werden, so geriete der Inhalt der Dogmatik zur reinen Setzung oder zur metaphysischen Spekulation. Nur ein aus Erfahrung gewonnenes Dogma kann wieder zu einer neuen und somit für die Betreffenden auch einmaligen Erfahrung führen. Im speziellen Sinn einer religiös deutbaren Erfahrung geht es allerdings nicht um Beliebiges. Da Erfahrung neue Lebensmöglichkeiten und neue Lebensdimensionen erschließt, geht es hier um einen zentralen, in diesem Sinne um einen absoluten, letztgültigen Aspekt des Lebens. Hier ist dann nach Hasenhüttl auch die Rede von Gott zu situieren: „Von Gott zu sprechen wird hier die Mühe der Erfahrung voraussetzen und stets praxisbezogen bleiben, indem in der Rede von Gott die Umkehr steckt, die wesentlich die Erfahrung ausmacht. Gott begegnet in der Sprache des Lebens, die Erfahrung ist, und nur dort“ (2001, Bd. I, S. 118). Die wichtigsten und den Menschen verändernden Erfahrungen sind meist solche mit anderen Menschen. Dabei kann Absolutes erfahren oder die Begegnung als absolut gedeutet werden. Insofern kann der Nächste, „indem wir unser Leben als Antwort bzw. als Erfahrung einbringen, zum Inhalt des Wortes ‚Gott‘ werden. Die so oft verpönte Mitmenschlichkeitstheologie hat in dieser Struktur der Erfahrung ihre Legitimation“ (ebd., S. 119). Dies bedeutet keinesfalls die Vergöttlichung des Menschen. Das wäre Götzendienst und Ideologisierung eines konkreten Menschen, wie dies in vielen Diktaturen und leider auch in Religionen immer wieder geschah und geschieht. Nicht der Nächste wird zum Gott stilisiert, sondern in der Begegnung mit dem Nächsten, in der Erfahrung, die ich mit ihm trotz seiner und meiner Gebrochenheit mache, ist in dieser Kontingenz und innerhalb konkreter geschichtlicher Bedingungen Absolutes erfahrbar. „Gott“ wird so zur „Metapher für die Erfahrung der Liebe, die Menschen in Freiheit setzt“ (ebd., S. 121). Die Legitimität und Sinnhaftigkeit der Rede von Gott erweist sich somit auf der Ebene der mitmenschlichen Praxis, die dann zum Beispiel in der christlichen Tradition und mit deren Deutungskategorien beschrieben werden kann. Diese Praxis ist immer offen für neue Erfahrungen, sie kann nicht aus tradierten Normen und Formeln abgeleitet werden. In diesem Sinne ist auch die Kritik an einer Bestimmung der Theologie als Erfahrungswissenschaft zu verstehen,
Das Sprachspiel des Mythos
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formuliert von denjenigen, die Glauben als Übereinstimmung der Menschen mit den einmal in bestimmten geschichtlichen und kulturellen Rahmenbedingungen formulierten und seitdem unverändert tradierten Dogmen sehen („depositum fidei“ = „Glaubensdepot“, „Glaubensgut“). Veränderung und Erfahrung von Neuem können ängstigen. Aber nur mit ihnen ist freies Leben möglich: dynamisch, kreativ und stets kommunikativ vermittelt.
3.5
Das Sprachspiel des Mythos
Der Begriff des Mythos wird auch gegenwärtig oft miss- und unverstanden. Vielfach soll die Aussage „das ist mythisch“ ausdrücken, dass das Gesagte nicht nachvollziehbar, nicht wahr oder zumindest so unverständlich sei, dass man den Wahrheitsgehalt der Aussage nicht erkennen kann. Auch wenn man von den Mythen alter Kulturen und Völker spricht, zeigt sich oft ein Überlegenheitsgefühl gegenüber diesen Kulturen: Die ihr Angehörigen wussten vieles nicht so genau wie wir in der Gegenwart und drückten ihr Unwissen in Mythen aus. Andererseits wird aber auch bis heute die Eigenart des Mythos verkannt, wenn seine Bilder ganz wörtlich genommen werden, ohne sie zu übersetzen. In der Gegenwart werden sie dann häufig als deskriptive Aussagen verstanden. Man hängt am Bild oder Wortlaut und fragt nicht nach deren Bedeutung. So wird der Versuch neuerer Bibelexegeten, mythische Bilder wie Schöpfung, Jungfrauengeburt, Auferstehung oder Himmelfahrt auf deren Bedeutung zu befragen, gleichgesetzt mit der Verletzung oder gar Zerstörung des Glaubens. Hasenhüttl verweist darauf, dass bereits in den deuteropaulinischen Briefen des Neuen Testaments diese Geringschätzung tradierter Mythen zugunsten des Wahrheitsanspruchs der eigenen Botschaft anzutreffen ist. So bittet der unbekannte Autor seinen Mitarbeiter Timotheus in Ephesus zu bleiben, „damit Du bestimmten Leuten verbietest, falsche Lehren zu verbreiten und sich mit Fabeleien und endlosen Geschlechterreihen abzugeben“ (1. Tim. 1,3 f.). An anderer Stelle wird die Gefahr beschworen, dass eine Zeit kommen werde, „in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden“ (2. Tim. 4,3 f.). Der Mythos ist hier als Fabelei, das heißt als unwahres Gerede, disqualifiziert.
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Auf eine andere Funktion des Mythos machen die Exegeten des Alten Testaments aufmerksam. Wenn es in der jüngeren der beiden Schöpfungserzählungen (Gen. 1,1 ff.) heißt, dass Gott am vierten Schöpfungstag Lichter an das Himmelsgewölbe setzte, um Tag und Nacht zu unterscheiden, so bedeutet diese Aussage im Kontext ihrer Entstehung in Babylon eine Rationalisierung und Aufklärung sozusagen durch den Mythos. Sonne, Mond und Sterne galten nun nicht mehr als eigenständige Götter wie im babylonischen Mythos, sondern sie wurden zu Hilfsmitteln deklariert, die vom dem einen Gott Israels an das Firmament gesetzt wurden. Sie wurden dadurch zugleich depotenziert. Allerdings liegt in dieser Vereinheitlichung und Rationalisierung auch die Gefahr der Abstraktion und Erfahrungslosigkeit. Die Himmelskörper werden nicht mehr in ihrer Eigenart gewürdigt, sondern haben nur noch Bedeutung in Bezug auf ihren als einzig existierend verstandenen Schöpfer. Hier zeigt sich ein Grundproblem jeder Form des Monotheismus. Der biblische Schöpfungsmythos selbst, einschließlich seiner Rationalisierung vorausgehender Mythen, wird aber bis in die Neuzeit insbesondere vom katholischen Lehramt nicht als kulturgeschichtlich bedingtes Sprachspiel erkannt. Die Bilder der vielfältigen biblischen Mythen werden vielmehr als objektive Beschreibungen gedeutet und dadurch den Mythen anderer Völker als ihnen überlegen gegenübergestellt. So heißt es in der Enzyklika von Pius XII. „Humani generis“ aus dem Jahr 1950: „Was aber aus volkstümlichen Erzählungen in die Heilige Schrift übernommen wurde, das darf keineswegs mit Mythologien oder anderem Derartigen gleichgestellt werden, das mehr aus einer weitschweifenden Einbildung herrührt als aus jenem Streben nach Wahrheit und Einfachheit, das in den Heiligen Büchern auch des Alten Testamentes so sehr aufstrahlt, dass man von unseren Verfassern der heiligen Bücher sagen muss, dass sie die alten Profanschriftsteller klar überragen“ (DH 3899, S. 1099). Abgesehen von der Abwertung antiker Autoren als „antiquos profanos sciptores“, als alte und letztlich nicht an religiösen Wahrheiten interessierte Autoren, wird hier für Hasenhüttl deutlich: „Wahrheit und Mythos sind gegenläufig verstanden und schließen sich aus“ (2001, Bd. I, S. 71). Jedes Hinterfragen und jede Entmythologisierung auch der biblischen Mythen konnte somit die ängstliche Frage auslösen: „Gefährdet die moderne Exegese den Glauben?“ (vgl. 1970).
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Die Wahrheit des Mythos Insbesondere im Kontext der historisch-kritischen Bibelexegese, einschließlich des Programms einer Entmythologisierung durch Rudolf Bultmann, formierte sich Widerstand. Ähnliches geschieht heute in Bezug auf Hasenhüttls Hauptwerk „Glaube ohne Mythos“ (2001, Bd. I und II). Hat man sich gegenwärtig auch in der katholischen Theologie und Kirche damit arrangiert, dass biblisches Erzählen weitgehend in der Form mythologischen Erzählens geschieht, so scheint es vielen problematisch, wenn neben diesen narrativen Texten auch die Textgattungen „Glaubensbekenntnis“, „Dogma“, „päpstliche Lehrschreiben“ oder „Konzilsdokumente“ diesem Prozess der Entmythologisierung unterzogen werden. Häufig haben diese Texte bereits in sich schon die Funktion, andere Meinungen auszuschließen und deren Vertreter zu verurteilen. Umso mehr sträuben sie sich gegen ein kritisches Hinterfragen der eigenen Inhalte. Dass das biblische Bild der Himmelfahrt nicht als Aufstieg in das Firmament zu verstehen ist und insofern entmythologisierend nach dessen Gehalt gefragt werden muss, wird langsam akzeptiert. Fragt man allerdings bei dogmatischen Begriffen wie „Sohn Gottes“, „Erlösung am Kreuz“ oder „ewiges Leben“ nach deren Gehalt jenseits des mythischen Rahmens, wird vielfach bestritten, dass hier überhaupt mythisches Reden vorliegt. Vielfach ist es allerdings gerade das Problem kirchenamtlicher Verlautbarung, dass diese etwas jenseits aller Erfahrung apodiktisch setzt und damit eigentlich noch hinter den Mythos zurückfällt, der ja immerhin eine Erfahrung ausspricht. Will man also Entmythologisierung im Bereich der Dogmatik durch Hasenhüttl verstehen, dann ist es sinnvoll, sich der Aufgabe der Entmythologisierung biblischer Erzählungen durch Bultmann zu erinnern. Die Aufgabe des Mythos und damit gleichzeitig die Bedeutung einer Entmythologisierung sieht Rudolf Bultmann in der Beantwortung der Frage: „Wie wird die menschliche Existenz in der Bibel verstanden?“. Dazu führt er aus: „Mit dieser Frage gehe ich an die biblischen Texte aus demselben Grund heran, der das letzte Motiv aller historischen Forschung und aller Auslegung geschichtlicher Dokumente ist. Durch ein Verstehen von Geschichte kann ich ein Verständnis für die Möglichkeiten des Menschenlebens gewinnen und damit für die Möglichkeiten eigenen Lebens. Der letzte Grund für ein Studieren der Geschichte ist der, sich der Möglichkeiten menschlicher Existenz bewusst zu werden“ (Bultmann 1980, S. 60). Die Wahrheit des Mythos wird also nicht eliminiert und, so Hasenhüttl,
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„keineswegs die neutestamentliche Verkündigung beseitigt“ (1965c, S. 430). Im Mythos stehen vielmehr Text und Rezipient in einem Dialog mit offenem Ergebnis. Der Mensch erkennt in und durch den Mythos eigene, neue Lebensmöglichkeiten. Umgekehrt erhält der Mythos durch die Begegnung mit einem neuen Leser vielleicht selbst eine neue, geistvollkreative Auslegung, die ihm so noch nie zuteilwurde. Der spezifische Unterschied zwischen den antiken und den neutestamentlichen Mythen kann dann so beschrieben werden: „Ist es die grundlegende Absicht des Mythos, Ausdruck des Selbstverständnisses des Menschen in der Welt zu sein, so ist die primäre Intention der mythischen Redeweise in der Schrift, das neue Selbstverständnis des Menschen durch Christus zu verkünden“ (1965c, S. 431). Entmythologisierung bedeutet also nicht die Eliminierung des Mythos: „Würde der Mythos ersatzlos gestrichen, wäre eine Wirklichkeitsdimension verloren, wären Worte wie Glaube, Freundschaft, Liebe sinnlos. Die Dimension, die der Mythos im Menschen ansprechen will, nennt R. Bultmann (mit M. Heidegger) existential. Mit diesem Ausdruck ist das gemeint, was den Menschen in seiner Existenz trifft und nicht nur seinen technischen Verstand angeht“ (2001, Bd. I, S. 73). Hasenhüttl erinnert dabei indirekt daran, dass eine Entmythologisierung, die den Gehalt des Mythos einfach zugunsten von reiner Rationalität und technischem Fortschritt eliminiert, selbst wieder zu einem Mythos werden kann, wie es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno eindringlich beschrieben haben: „Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben“ (Horkheimer/Adorno 1971, S. 12). Hasenhüttl beschreibt die Funktion des Mythos und gleichzeitig die Aufgabe einer Entmythologisierung: „Das Kriterium der ‚Entmythologisierung‘ ist die Bezugsmöglichkeit auf menschliche Existenz. Grund und Ziel der existentialen Interpretation ist nicht – wie fälschlich immer wieder behauptet wird – die Idee der Subjektivität, sondern die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung, ohne dadurch in das mythische Weltbild zurückzukehren. Einerseits sollen Wissenschaft und Technik uneingeschränkte Gültigkeit behalten, aber ohne einen Absolutheitsanspruch auf den Menschen zu erheben. Andererseits darf der Mythos nicht den gesamten Verstehenshorizont beanspruchen, hat jedoch die Aufgabe, den Menschen auf die existentiell zu vollziehende Wahrheit hinzuweisen. Es findet in der Entmythologisierung eine korrekte, dialogisch-dialektische
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Zuordnung von Mythos und Wissenschaft statt. Das eingeforderte Korrektiv ist der Verzicht auf den Absolutheitsanspruch bzw. auf die Deutung des Gesamthorizontes“ (2001, Bd. I, S. 73 f.). In diesem Sinne wird der Mythos als Symbol verstanden. Der Begriff „Symbol“ bedeutet wörtlich das Zusammenfallen zweier Wirklichkeitsebenen: Die äußere Welt wird in Bezug zum Menschen gesetzt. Es wird nach ihrer Bedeutung jenseits von merkantilen oder naturwissenschaftlichen Interessen gefragt. Sowohl biblische als auch dogmatische Aussagen werden demnach falsch verstanden, wenn sie als objektive Tatsachenbeschreibungen angesehen werden. Sie werden aber auch falsch beziehungsweise gar nicht verstanden, wenn sie im Mythos belassen werden: „Das einzig sinnvolle Verständnis ist das symbolische, wodurch der Sinn des Mythos gewahrt wird und die Wissenschaften ihren Freiraum erhalten. So müssen um der Wahrheit willen, wie sie sich uns heute zeigt, alle Glaubensaussagen (Erbsünde, Geburt, Tod und Auferstehung Christi, die Sakramente, Himmel und Hölle usw.) entmythologisiert werden, damit ihre symbolische Wirklichkeit gewahrt bleibt. Um also die Wahrheit des Mythos zu erkennen, ist Entmythologisierung geboten. Glaube und Wissenschaft erhalten so ihr je eigenes Recht, sie bleiben nicht als Konkurrenten auf derselben Ebene stehen, sondern sie werden vermittelt. Sie zerteilen den Menschen nicht und machen ihn nicht schizophren, sondern werden versöhnt, indem der eindimensionale Mensch (seine gegenständliche Ebene) eine zweite Dimension als Lebensraum erhält (seine relationale Ebene)“ (2001, Bd. I, S. 75). Es kann somit im Programm einer Entmythologisierung nicht darum gehen, einen Mythos ersatzlos zu streichen, „denn dadurch würde eine Dimension der Wirklichkeit verloren gehen (…) im Mythos ist etwas aufbewahrt, was zum Menschen gehört, und der Verlust käme einer menschlichen Reduktion gleich. Der Mythos ist daher keineswegs nur ein zeitbedingtes Kleid, wie so oft behauptet wird, sondern gerade in der abendländischen ‚Entmythologisierung‘ geht es um den Sinn, d. h. die Wahrheit des Mythos, um seine anthropologische Relevanz“ (1991, S. 28). Einer so verstandenen Entmythologisierung aller dogmatischen Aussagen des Christentums widmet Hasenhüttl seine gesamte Forschung und Lehre. Kann aber der Mensch trotz aller Anstrengung keine Relation zum tradierten Mythos oder zum vorgegebenen Dogma aufbauen, dann haben diese – zumindest vorläufig – für ihn keine Bedeutung. Nicht alles, was
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überliefert wurde, ist deswegen auch schon gut und muss gegenwärtig ebenfalls eine Bedeutung haben. Ein universaler Geltungsanspruch kann weder durch ein Lehramt noch durch Gebote eingefordert werden. (Einen interessanten Diskurs um diesen Universalanspruch bildete die Diskussion zwischen Hans-Georg Gadamer und Jürgen Habermas in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, vgl. Apel 1971). Einen Geltungsanspruch kann eine Aussage nur dadurch erheben, dass sie den Menschen an-spricht, auch in seiner heutigen, von der Entstehungszeit des Textes vielleicht sehr verschiedenen Lebenswelt.
3.6 Die Wahrheit als Offenbarung Auch der Begriff der Offenbarung bedarf einer grundsätzlichen Neubestimmung, um in der Gegenwart verständlich und vor Missdeutungen geschützt zu sein. Nur zu oft findet man in kirchlichen Dokumenten eine Verhältnisbestimmung von glaubendem Subjekt und offenbartem Inhalt, der vom Gläubigen wortwörtlich die Unterwerfung unter diesen Glaubensinhalt fordert. So heißt es in der Dogmatischen Konstitution „Dei filius“ des Ersten Vatikanischen Konzils: „da der Mensch ganz von Gott als seinem Schöpfer und Herrn abhängt und die geschaffene Vernunft der ungeschaffenen völlig unterworfen ist, sind wir gehalten, dem offenbarendem Gott im Glauben vollen Gehorsam des Verstandes und des Willens zu leisten“ (DH 3008). Die Kirche wird als Hüterin dieser Offenbarung gesehen, die sich der einzelne Gläubige dann anzueignen habe: „Mit göttlichem und katholischen Glauben ist ferner all das zu glauben, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche – sei es in feierlicher Entscheidung oder kraft ihres gewöhnlichen und allgemeinen Lehramtes – als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird“ (DH 3011). Das Zweite Vatikanische Konzil verbleibt in vielen Gedanken bei dieser Position, wenn es zum Beispiel in seiner Dogmatischen Konstitution „Über die Offenbarung“ sagt: „Dem offenbarenden Gott ist der Gehorsam des Glaubens (…) zu leisten, durch den der Mensch sich ganz Gott frei anvertraut, indem er ‚dem offenbarenden Gott vollen Gehorsam des Verstandes und des Willens leistet‘ und der von ihm gegebenen Offenbarung freiwillig zustimmt“ (DH 4205). Das hier verwendete Vokabular („unterwerfen“, „Gehorsam“) spricht deutlich die vom gläubigen Menschen er-
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wartete Haltung aus. Er soll das ihm von der Kirche vermittelte Glaubensgut annehmen und sich ihm unterordnen. Immerhin sagt das Zweite Vatikanische Konzil an dieser Stelle, dass das Geschriebene (die Bibel) und das Überlieferte (Dogmen und Lehräußerungen der Kirche) nicht das Wort Gottes sind, sondern dass in ihnen das Wort Gottes enthalten ist. Gerade diese Nichtgleichsetzung eröffnet Möglichkeiten, Schrift und Tradition kritisch danach zu befragen, wo und wie denn in ihnen das Wort Gottes als Heilsereignis zum Ausdruck komme. Selbst diese Freiheit wird aber sogleich wieder eingeschränkt: „Die Aufgabe aber, das geschriebene oder überlieferte Wort Gottes authentisch auszulegen, ist allein dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut, dessen Vollmacht im Namen Jesu Christi ausgeübt wird“ (DH 4214). Es bleibt zudem in beiden Konzilien die hierarchische Struktur und die geforderte Haltung des Gehorsams und der Unterordnung. Problematisch ist allerdings auch eine rein subjektive Form von Offenbarung. Immer wieder in Geschichte und Gegenwart behaupten Einzelne, dass ihnen individuell etwas von Gott geoffenbart wurde. Zwar zeigt die Religionsgeschichte, dass besonders bei den Personen, die am Anfang einer „Offenbarungsreligion“ wie zum Beispiel Judentum, Christentum und Islam stehen, von einer Offenbarung gesprochen wird, die diesen zuteil wurde. Das aber bedeutet: Ihnen wurde etwas „offen-bar“, etwas wurde deutlich. Mit anderen Worten: Sie erkannten etwas, das anderen so noch nicht zugänglich und offen war. Entscheidend für den Wahrheitsanspruch einer solchen Offenbarung aber ist, dass diese „Gründergestalten“ das ihnen Offenbarte kommunikativ vermitteln konnten. Es blieb nicht bei Behauptungen, denen sich dann andere unterwerfen mussten. Exemplarisch wird Jesus als der Weg, die Wahrheit und das Leben bezeichnet (Joh. 14,6). Das heißt aber: Der Ort der Verifikation der geoffenbarten Wahrheit ist das Leben selbst. In der Nachfolge, im Nachvollzug von Jesu Lebensmodell erweist sich, ob das als Offenbarung Bezeichnete wirklich „von Gott“ ist, also wirklich Leben erschließt oder verschließt.
Offenbarung in der Begegnung Hasenhüttl geht es darum, die Einseitigkeit sowohl des kirchenamtlich vorgegebenen als auch die des rein subjektiven Verständnisses von Offenbarung aufzuzeigen und eine Alternative anzubieten. Sein Verständnis von „Offenbarung als Dialog“ grenzt sich sogleich deutlich vom oben beschriebenen Offenbarungsverständnis der Vatikanischen Konzilien ab. In
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einem wahren Dialog könne nie von Unter- und Überordnung, von Gehorsam und Unterwerfung gesprochen werden. Zentral ist darüber hinaus seine Kritik an einem Gottesverständnis, das Gott als personales Gegenüber des Menschen in genau dieser hierarchischen Struktur beschreibt (vgl. Kap. II.5): „Dieses Gegenüber wird begriffen als ein Seiendes, das dem Menschen gegenübersteht, ihm ‚transzendent‘ ist. Zudem ist dieser Gott, der dem Menschen als ein Gegenüber begegnet, Grund und Ursache der Offenbarung. So ist dieses Modell weitgehend ein Versuch, Gott zu vergegenständlichen (wenn auch im ‚personalistischen‘ Sinn)“ (2001, Bd. I, S. 144). „Gott wird aber so zu einem objektiv Seienden, Vorhandenen, ‚Habbaren‘: Zugleich wird die Möglichkeit einer direkten Gottesbegegnung vorausgesetzt, als erscheine er und spräche er analog menschlichen Daseins. Dies ist aber eine Behauptung, die nicht der Spur einer Beweisführung standhält“ (ebd., S. 146). Niemand, der vergleichsweise sagt, ihm wäre die Liebe begegnet, käme auf die Idee zu behaupten, dass ihm eine Person mit dem Namen „Liebe“ begegnet sei. Vielmehr hat er mit einer ihm begegnenden konkreten Person eine erfüllende Erfahrung gemacht, die als Liebe bezeichnet werden kann. Immerhin sagt das Zweite Vatikanische Konzil selbst, dass im Offenbarungsgeschehen nicht dies und das offenbart würde, sondern: „Es hat Gott in seiner Güte und Weisheit gefallen, sich selbst zu offenbaren“ (DH 4202). Was im Offenbarungsgeschehen geschieht, ist somit Gott selbst. Der Blick in die Begegnungsgeschichten des Neuen Testaments könnte nach Hasenhüttl aus den genannten Dilemmata herausführen. Menschen begegnen Jesus und es wird ihnen eine neue, bisher nicht wahrgenommene Lebensdimension sichtbar. Es geht ihnen „ein Licht auf“: „In der Bibel werden also Heilserfahrungen zu recht Offenbarung genannt. Eine bestimmte Art und Weise der Erfahrung ist Heilserfahrung. Offenbarung ist Erschließung des Guten für den Menschen, für ein Volk (…) Offenbarung ist also die Zusage, dass Gott für das Heil des Menschen bestimmend ist, bzw. dass die Heilserfahrung als Gotteserfahrung gedeutet, mit dieser identifiziert wird. Das Heil des Menschen ist als göttliches Ereignis zu denken. Diese Heilserfahrung bzw. Heilsfrage des Menschen ist das Kriterium des Inhaltes der Offenbarung“. „Heil“ darf dabei allerdings nicht wiederum abstrakt oder als etwas allen Menschen Vorgegebenes verstanden werden: „Das wahre Menschsein wird nur im konkreten Menschen realisiert, nie in einer allgemeinen Lehre oder Idee. Das Humanum hat keinen a priori festgelegten Inhalt, sondern erweist sich in den
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Erfahrungen des Lebens als heilend, Leben erschließend, offenbarend“ (2001, Bd. I, S. 146 f.). Da Offenbarung als ein Geschehen im Lebensvollzug des Menschen gesehen wird, beinhaltet sie auch ein „Solidaritätsprinzip“: „Kein Mensch soll von der Heilserfahrung ausgeschlossen werden. Offenbarung ist keine Begründung für einen Absolutheitsanspruch, sondern für ein Miteinander in der Hoffnung auf Heil. Da Offenbarung nur im Bereich menschlicher Erfahrung möglich und sinnvoll ist, der Mensch aber Erfahrungen nicht einfach produzieren kann, ist der Geschenkcharakter mit eingeschlossen“ (2001, Bd. I, S. 147). Zusammenfassend kann Hasenhüttl sagen: „Offenbarung ist also eine menschliche Erfahrung, die Wahrheit des Lebens erschließt. Offenbarung ist positive Erfahrung, ist das Plus vor der Erfahrung“ (ebd.). Da Erfahrung aber immer Erfahrung mit etwas ist, zeigt sich hier der dialogischdialektische Charakter der Offenbarung: An und mit dem anderen Menschen, an und mit der Natur sowie an und mit religiösen Traditionen oder auch der Kunst offenbart sich mir Neues. Weder ich selbst bin Offenbarung noch das mir Begegnende, sondern erst in der Begegnung entsteht Offenbarung: „Offenbarung also heißt nicht, einem sich offenbarenden Gott begegnen, nicht bestimmte Wahrheiten, die ‚vom Himmel‘ gefallen sind, als Wort Gottes annehmen, sondern Offenbarung ist Begegnung von Menschen, die ihre Erfahrung bezeugen“. Begegnung, die Offenbarung ermöglicht, kann auch dann geschehen, wenn der Mensch biblischen Texten begegnet, in denen ihrerseits von offenbarenden Erfahrungen die Rede ist: „In dieser dialogischen Relation zwischen Gegebenheiten (Mensch, Bibel u. a. m.) wird eine neue Wirklichkeitsdimension zugänglich. Insofern sich letzte Wirklichkeit erschließt, kann von Offenbarung gesprochen werden, d. h. die Erschließungserfahrung ist ein göttliches Ereignis, ist Offenbarung, in der Gott ‚sich zeigt‘, erfahren wird“ (2001, Bd. I, S. 149). Glaube, Erfahrung, Wahrheit und Offenbarung sind somit für Hasenhüttl Begegnungswirklichkeiten und haben dadurch eine grundlegend dialogische Struktur. Grundvoraussetzung dafür, dass Offenbarung geschehen kann, ist die Sensibilität und Offenheit des eigenen Lebens für das, was ihm in konkreten Begegnungen an Heilvollem und Sinnvollem geschenkt wird.
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Das Antwortmodell Jesus Christus 4.1 Warum Jesus Christus?
Die Beschäftigung mit dem historischen Jesus und mit dem Christus des Glaubens ist nicht selbstverständlich und bedarf daher einer Begründung. Dies ist umso notwendiger, als zahlreiche in Vergangenheit und Gegenwart gegebene Begründungen ihre Plausibilität und ihren Bezug zum Leben der konkreten Menschen von heute verloren haben. Wenn aber – wie oben beschrieben – Wahrheit eine Begegnungswirklichkeit darstellt und somit eine dialogische Struktur aufweist, dann gelten diese Kriterien nach Hasenhüttl auch für die Wahrheit von Jesus, dem Christus: „Alle Fragen nach Jesus Christus sind Fragen nach dem Heil des Menschen“ (2001, Bd. I, S. 207). Christologie als die Reflexion über Jesus Christus ist demnach immer als Soteriologie, als Heils- und Erlösungslehre zu verstehen. Doch selbst diese für die christliche Theologiegeschichte so wichtigen Begriffe wie „Heil“ und „Erlösung“ sind heute oft leer und unverständlich und bedürfen ihrerseits einer inhaltlichen Füllung. Bis in die Gegenwart werden nach Hasenhüttl vorwiegend drei untereinander sehr unterschiedliche Begründungen für die Bedeutung Jesu Christi angeführt. Eine metaphysische Begründung sieht in Jesus Christus den – oft als präexistent verstandenen – Sohn Gottes. Der Ausdruck „Sohn Gottes“ wird dabei nicht als Deutungskategorie und Prädikat verstanden, sondern als eine „an sich“ wahre Aussage, eine Offenbarungswahrheit. Durch diese Qualifizierung als Sohn Gottes haben auch die Worte und Taten des historischen Jesus einzigartige Bedeutung und Legitimität. Die Autorität der Kirche und das kirchliche Lehramt vermitteln diese Wahrheit und wachen über eine dieser Grundlage angemessene Interpretation. Eine zweite, heute besonders auch in den Medien anzutreffende Begründung der Bedeutung Jesu Christi sucht die Legitimität des Glaubens an Jesus Christus in dessen historischer Verankerung: „Jesus kommt eine absolute Autorität zu, die sich aus seinen historisch gesprochenen Worten und Taten ergibt“. „Die historische Analyse und ihre Ausfaltung in der Exegese eruiert also Jesus, der sich als eine einmalige Autorität herausstellt. Das erkenntnisleitende Interesse in der Frage nach dem historischen Jesus ist hier die Erforschung des Glaubensgrundes und die Absicherung
Warum Jesus Christus?
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in einer historischen Gegebenheit“ (2001, Bd. I, S. 213 f.). Wenn sich ein Faktum im Leben und Werk des Jesus von Nazareth als historisch sicher erweist, ist das ein berechtigter und ausreichender Grund, diesem Jesus zu glauben. Dadurch können eigene Zweifel und Probleme bei der Vermittlung des Wahrheitsanspruchs des Glaubens verdrängt werden. Die Wahrheit wird mit Gründen, die außerhalb des Glaubensvollzugs liegen, fundiert. In einem dritten Modell begründet keine äußere Autorität die Bedeutung Jesu Christi – sei es metaphysische Spekulation, kirchliches Lehramt oder historische Vorgabe –, sondern die anthropologische Einsehbarkeit: „Jede formale Autorität Jesu wird abgelehnt, weil sie grundsätzlich nicht relational ist, d. h. in den Dialog nicht ernsthaft eingebracht und in Frage gestellt wird. Ist der Dialog aber selbst der Wahrheitsprozess und zugleich sein Kriterium, dann muss jeder Terminus (Jesus und ich) im Gespräch radikal in Frage gestellt werden, da sich nur aus diesem Prozess heraus Wahrheit finden und erstellen lässt. Jesus Christus ist Autorität, insofern er mitteilbar wird, sich dialogisch im dialektischen Prozess der Wahrheitssuche und -findung in der Geschichte mitteilt. So ist Jesus Christus keine formale, sondern allein ‚Sachautorität‘, und nur als solche ist er das ‚Wahrheitskriterium‘“ (2001, Bd. I, S. 214). In Jesus Christus werden menschliche Lebensdimensionen erkannt und erschlossen. Er erhält aufgrund dieser möglichen Bereicherung des menschlichen Lebens auch gegenwärtig erfahrbare Bedeutung, trotz der inzwischen lange vergangenen Zeit seines Lebens und Wirkens und trotz der unterschiedlichen geschichtlichen Rahmenbedingungen. Wie von der Liebe gilt, dass sie ihre Begründung und Bedeutung im Vollzug ihrer selbst gewinnt, so kann nach Hasenhüttl auch vom Glauben im Kontext Jesu Christi gelten: „Der Glaube hat keinen festen Grund, hat nichts unbedingt Verlässliches außer der Kommunikation selbst, in der Wahrheit erschlossen wird und in der der Mensch zu sich selbst findet. (…) Der Glaube in seinem Vollzug entdeckt die anthropologische Relevanz Jesu Christi und qualifiziert ihn so als Sachautorität und nicht als ‚Vor-gesetzten‘“ (2001, Bd. I, S. 215). Deshalb kann Jesus Christus für den Menschen nur dann Bedeutung haben, wenn diese in der Erfahrung des Einzelnen und der Gemeinschaft ausgewiesen werden kann: „Wird die Orientierung an Jesus nicht sachlich aus der Erfahrung abgeleitet, bleibt christlicher Glaube autoritär und verkürzt so den Menschen um den dialogischen Wahrheitsvollzug“ (2001, Bd. I, S. 219). Da aber in jeder Begegnung und in jedem Dialog alle Betei-
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Das Antwortmodell Jesus Christus
ligten zur Disposition stehen und in der Begegnung auch Neues entstehen kann, kann die Begegnung des heutigen Menschen mit dem in den biblischen Texten beschriebenen Jesus Christus Neues und Einmaliges erschließen. Das Kriterium der Wahrheit ist auch hier nicht die Übereinstimmung mit vorgegebenen Dogmen und Lehrentscheidungen. Wahres ereignet sich vielmehr in dieser Begegnung dann, wenn durch sie kommunikativ teilbare Erfahrung erwächst, die Leben erschließt und deutet. Insofern ist Jesus Christus in dieser Erfahrung auch einmalig und unersetzlich: In Korrelation mit ihm wurde diese das Leben erschließende Erfahrung gemacht. Dadurch „wird Jesus Christus zu etwas Einmaligem, ganz Besonderen, das nur in ihm zu finden ist und das nur er realisierte“ (ebd.). Insofern kann auch der in der Schrift und der Tradition ausgesprochene Anspruch verstanden werden, Wort, Werk und Person Jesu Christi seien für uns von Bedeutung: „Im jesuanischen Geschehen entdeckten Menschen, dass für sie Gutes geschieht. Das ganze Interesse der Christologie beruht darauf, dass Jesus für uns Bedeutung hat, dass er zu einem sinnvollen Leben führt“ (2001, Bd. I, S. 220). Ob dies wirklich so ist, kann allerdings wiederum nicht nach äußeren Kriterien, sondern nur mit konkreter, kommunikativer Erfahrung belegt oder widerlegt werden. Haben Menschen in Vergangenheit und Gegenwart befreiende Erfahrungen gemacht, dann sprechen sie davon, sie erzählen und verkündigen das positiv Erfahrene. Sie tun dies mit der Überzeugung, dass das von ihnen als aufschlussreich Erlebte auch für andere Menschen von Bedeutung sein könnte. Darin ist aber keine Automatik enthalten. Was für den einen oder eine Gruppe von Bedeutung ist, muss es nicht auch für andere sein. Da aber in Jesu Wort und Tat und in seiner ganzen biblisch beschriebenen Existenz Grundfragen des Menschen angesprochen werden, kann ihre Bedeutung für andere zumindest vermutet und insofern als ein Angebot des Dialogs gedeutet werden. Wird Verkündigung als christliche bezeichnet, muss sie nachweisbar auf Jesus Christus zurückzuführen sein – allerdings nicht im Sinne eines historischen Faktums, sondern in Bezug auf die in den biblischen Schriften beschriebenen Erfahrungen mit dem historischen Jesus: „Im Umgang mit der Bibel können wir nur sinnvoll auf die Erfahrungen achten, die Menschen schildern, die wir kritisch darauf prüfen müssen, wieweit ihnen Bedeutung für unser Menschsein zukommt“ (2001, Bd. I, S. 243). Die geschilderten Erfahrungen sind aber Erfahrungen mit einer konkreten his-
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torischen Gestalt. Sonst hätte die Verkündigung einen Mythos zum Inhalt: „Daher stellt die Verkündigung wesensmäßig eine Relation dar zwischen der im Glauben vollzogenen Interpretation des historischen Jesus und dem Faktum seines Auftretens“. „Das bedeutet, dass der historische Jesus im Raum der Verkündigung Kriterium der christologischen Interpretation ist. Dieses Kriterium (historischer Jesus) ist nicht Glaubensbegründung jenseits des Glaubens, sondern ist der kritische Maßstab, an dem rechte und falsche Botschaft zu unterscheiden ist“ (2001, Bd. I, S. 237). Insofern ist auch nachzuvollziehen, dass der historische Jesus, der mit Wort und Tat Lebensmöglichkeiten für andere aufschloss und diese auch selbst lebte, vom Verkündiger seiner Botschaft selbst zum Verkündigten wurde. Sein Leben und sein Werk wurden dadurch als Modell gelingenden Lebens tradiert: „Dass der Verkündiger zum Verkündigten wird, meint (…) den Verweis auf ein erfahrungsbestimmtes, dialogisches von Wahrheit und Liebe geprägtes Leben. In ihm ist Sinn möglich“ (2001, Bd. I, S. 245).
4.2 Die Vollmacht Jesu Das Erstaunliche bei vielen Wundererzählungen des Neuen Testamentes sind nicht nur die Heilungen, Dämonenaustreibungen oder sogar das Auferwecken von Toten an sich. Erstaunlich ist vielmehr das Phänomen, dass Jesus immer wieder gefragt wird, warum und in wessen Auftrag er dies tue: „Da staunten alle und sagten: Woher hat er diese Weisheit und die Kraft, Wunder zu tun?“ (Mt. 13,54) Die konkreten Fragen der Hohenpriester und Ältesten „Mit welchem Recht tust du das alles? Wer hat dir dazu die Vollmacht gegeben?“ (Mt. 21,23) beantwortet Jesus mit der Gegenfrage, wer oder was denn die Predigt des Täufers Johannes legitimiere. Als die Fragesteller darauf keine objektive Antwort geben können, verweigert auch Jesus jede Festlegung oder Ableitung seines Handelns. Eine Legitimation durch äußere Autoritäten wie Gesetz, Beauftragung durch Priester oder aufgrund familiärer Tradition lehnt Jesus kategorisch ab. Warum ist das so und was ist das typische Merkmal seines Handelns? Hasenhüttl verweist auf die im Neuen Testament für das Handeln Jesu charakteristische Beschreibung der „Exousia“. Dieser griechische Ausdruck bedeutet im wortwörtlichen Sinn „Vollmacht“: aus der „Ousia“, aus dem Sein selbst kommend. Dieser Begriff „besagt die Möglichkeit,
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ungehindert zu handeln. Kein Recht, keine Instanz oder Norm stehen über dieser Kraft zum Handeln. Sie ist die Vollmacht, Erlaubnis und Freiheit“ (2001, Bd. I, S. 246). Das Handeln bezieht seine Legitimation aus sich selbst und bedarf keiner weiteren Begründung. Gerade deswegen vermittelt es Erfahrungen der Freiheit, die als „himmlisch gut“ oder als „göttlich“ bezeichnet werden: „Er vergibt die Schuld, er spricht den Menschen in seinem Wort frei von seiner verkehrten Existenz. Durch dieses erlösende Wort, durch die Befreiung von der Schuld, die er den Menschen zuspricht, stellt er nicht nur das Gesetz in Frage, das die Verurteilung des Sünders fordert, sondern tritt gleichsam an die Stelle, an der im Verständnis des jüdischen Volkes nur Gott stehen kann, denn nur er vergibt die Sünden“ (ebd., S. 247). Dass ein Mensch durch sein Handeln göttliche Taten vollbringt, verwirrt die Zuschauer: „Da gerieten alle außer sich; sie priesen Gott und sagten voller Furcht: heute haben wir etwas Unglaubliches gesehen“ (Lk. 5,26). Dadurch, dass Lukas hier das Wort „paradoxon“ (Ungeheueres, Unglaubliches, etwas, das alle bisherigen Erfahrungen und Deutungen sprengt) gebraucht, spricht er aus, dass hier wirklich Neues, man könnte sagen: Neuschöpfung, geschieht. Menschen, die durch Krankheit, Konvention oder Geschlecht vom Leben ausgeschlossen waren, werden neu belebt. Ihr Leben erhält neuen Sinn. Der Grund und die Beauftragung, so zu handeln, kommen wiederum aus der Situation selbst, sie bedürfen keiner äußeren Legitimation. Das Leid und die Not der Menschen sind an sich Grund und Anlass zum Handeln. Humanität bedarf keiner äußeren Begründung. Bereits 1777 hatte der große Humanist und Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) die aus einer Handlung selbst entstehende Begründung als Zukunftsvision anschaulich beschrieben: „Nein, sie wird kommen, sie wird gewiss kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer besseren Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichsam Beweggründe zu seinen Handlungen zu borgen, nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen“ (Lessing 1970, S. 80 f.). Lessing spricht davon, dass es bis zu dieser Einsicht noch weit sei und dass es dazu der „Erziehung des Menschengeschlechts“ bedürfe. Hasenhüttls Ansatz kann als Beitrag zu diesem Erziehungsauftrag gedeutet werden. Vollmacht ist aber ebenso wie Ausstrahlung und Charisma ein rela-
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tionales Phänomen. Oder was sollte man von einem Menschen sagen, der von sich behauptet, große Ausstrahlung zu besitzen, ohne dass andere etwas davon bemerken? So ist es auch mit der Vollmacht Jesu. Wer nicht mit ihm selbst in Beziehung steht, wird weder von ihm geheilt, noch wird ihm sonst etwas offenbar. Vollmacht ist weder Zaubertrick noch magische Handlung: „Was geschieht, wenn Menschen mit Jesus Christus in keiner Beziehung stehen oder die Relationalität abbrechen? Es ist geradezu erstaunlich, welches Gewicht die Evangelisten auf den Begegnungscharakter der jesuanischen Vollmacht legen. Ohne Beziehung fällt die Vollmacht ins Nichts zusammen“ (2001, Bd. I, S. 249). Selbst ein oberflächliches Kennen der Person in ihrem heimatlichen Umfeld in Nazareth ohne tiefe Beziehung hilft nichts: „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon?“ (Mk. 6,3). In seiner Heimat kann er aufgrund der Verweigerung einer wesentlichen Beziehung keine Wunder wirken (Mk. 6,5): „Wo Unglaube, wo Abbruch der Beziehung, wo jede echte Begegnung ausgeschlossen wird, ist Jesus machtlos. Der beziehungslose Mensch, der die Beziehung verweigert, abschneidet, zerstört seine Lebenskraft, zerstört ihn“ (2001, Bd. I, S. 250). Umgekehrt aber gilt: „Wer sich in diese Beziehung vertrauend hineinbegibt, dem wird Heil zuteil. Durch die Beziehung hat sich zwischen zwei Menschen Heil ereignet, Lebensenergie ist ausgegangen“ (2001, Bd. I, S. 249). Lebensentwürfe und Lebensformen sind vielfältig durch Äußeres bedingt. Das biografische, gesellschaftliche, aber auch das kulturelle und religiöse Umfeld prägen die Lebensgestaltung des konkreten Menschen. Glaubenspraxis dient allerdings nach dem Verständnis der Bibel nicht dazu, das zu bestätigen, was schon vorhanden ist, oder das bisherige Handeln zu verstärken. Für das Neue Testament gilt vielmehr der programmatische Aufruf Jesu zu Beginn seines öffentlichen Wirkens: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk. 1,15). Wenn Jesus als Modell eines relationalen Lebensvollzugs angesehen werden kann, bedarf diese Einsicht auch der Umsetzung. Dann kann sich der Lebensentwurf Jesu im eigenen Lebensentwurf als gelungen bewahrheiten. Aber auch hier gilt: Nicht weil Jesus etwas gesagt oder getan hat, ist es an sich schon richtig. Wahrheit zeigt sich nur in der eigenen kommunikativen Lebenspraxis selbst: wenn man nicht von vorgegebenen Normen und Formen her lebt, sondern sich auf den anderen einlässt und durch diese Beziehung neue Lebensperspektiven für sich und andere entdeckt und auslebt: „Das aber heißt wiederum, dass es nur darauf an-
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kommt, diese Erfahrung weiterzutragen, zu verkünden. Wird aber diese frohe Botschaft verkündigt, dann wird ein lebendiger Mensch, Jesus, zur Norm des Christen und damit zum Verkündigten. Nicht als historische Persönlichkeit und nicht als ein göttlicher Mensch, sondern als eine relationale Erfahrung, die Menschen mit dem jesuanischen Geschehen machten; als Befreiung von den Gesetzesfesseln, als Sinngebung des sinnlosen Lebens. So kann dann auch dieser Verkündigte im Mitmenschen, dem geholfen wird, sichtbar werden und gegenwärtig sein“ (2001, Bd. I, S. 252). Echte zwischenmenschliche Begegnung ist aber immer offen für Neues. Sie legt die Beteiligten nicht auf vorgefertigte Schablonen und Deutungsmuster fest, sondern beinhaltet die Chance, am und durch den anderen neu zu werden. Wenn das so ist, dann gilt dieser Wachstums- und Lernprozess auch für Jesus selbst. Nur eine dogmatische oder spekulativmetaphysische Sicht lässt Jesus letztlich unberührt und beschreibt ihn so, dass keine Veränderung geschieht. Das hieße aber auch, dass sich kein wirkliches Leben vollzieht. Hasenhüttl verweist auf mehrere Stellen der Evangelien, in denen von Veränderungs- und Lernprozessen bei Jesus die Rede ist. Auch von Gott im Alten Testament heißt es in mythologischer Rede bereits, dass er Reue, Veränderung, Enttäuschung und Zorn zeigen kann. Typisch für einen Lernprozess Jesu ist seine Begegnung mit einer nicht jüdischen, also im traditionellen Sprachgebrauch heidnischen Frau, der er auf seiner Reise nach Tyrus und Sidon begegnet (Mt. 15,21–28). Als diese mit ihm in Beziehung tritt und um die Heilung ihrer kranken Tochter bittet, handelt Jesus ganz im Sinne der Funktionäre eines religiösen Systems damals wie heute: Rettung, Heilung, Kommunikation („Kommunion“!) gibt es nur für die Mitglieder der eigenen Gruppe und nach deren Regeln. „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“ (Mt. 15,24). Da die Frau weiterhin um des Heils der kranken Tochter willen auf ihrem Verhalten insistiert, antwortet Jesus zunächst recht polemisch und herablassend: „Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen“ (Mt. 15,26). Die Frau aber greift klug das Bild Jesu auf und wendet es ins Positive: „Ja, du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen“ (Mt. 15,27). Beziehung ist also auch für Jesus nicht einfach vorhanden. Sie muss durch den eigenen Lebensvollzug erst hergestellt und erlernt werden, und zwar oft gegen die eigenen bisherigen Lebensmaximen. Diese Frau kämpft
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um die Beziehung mit Jesus und lässt ihn nicht in seinem Vorurteil allein. So geschieht Veränderung auf beiden Seiten: Der Wunsch der Frau wird erfüllt und Jesus wächst und reift durch den erfahrenen Widerspruch und dessen Auflösung. Dass gelungene Beziehung immer auch eine Außenwirkung hat, wird am Ende der Erzählung deutlich: Die Tochter der Frau wird durch das Gespräch und die Begegnung Jesu mit ihrer Mutter geheilt. Gerade das Wahrnehmen solcher Lernprozesse Jesu in den biblischen Texten kann dessen Verklärung und Hochstilisierung zum unveränderlichen und durch metaphysische Spekulation abgesicherten Gottessohn verhindern. Weil er menschlich handelt im positiven wie negativen Sinn, kann im Bezug zu diesem Handeln auch heute trotz aller Zweideutigkeit menschlichen Lebens eindeutig Gutes erschlossen werden (vgl. 2001, Bd. I, S. 252 ff.).
4.3 Die Erfahrung einer umfassenden Befreiung Religionen haben, wie beschrieben, nicht die Funktion, bestehende Denkstrukturen und Verhaltensmuster zu bestätigen. Sonst wären sie überflüssig. Viele Formen der Religion in der Gegenwart werden zwar nicht grundsätzlich abgelehnt, aber oft als belanglos ignoriert, weil ihr Befreiungs- und Veränderungspotenzial nicht mehr erkannt wird. Gerade aber die Ermöglichung menschlicher Freiheit durch religiös deutbare Erfahrung ist Hasenhüttls Grundanliegen – sei es die Befreiung von mythisch verkrusteten Glaubensaussagen oder auch die von ideologisch verfestigten Strukturen einer Glaubensgemeinschaft. Er richtet den Fokus seiner Beschäftigung mit Jesus Christus auf dessen vielfältiges Engagement für die Befreiung des Menschen. Jede Generation kennt ihre spezifischen Unterdrückungs- und Entfremdungsmechanismen. Diese lassen sich nicht einfach ungeschichtlich auf andere Zeiten und Kulturen übertragen. Hinter den einzelnen befreienden Taten und Worten Jesu Christi lässt sich aber grundsätzliche anthropologische Bedeutung und dadurch auch aktuelle Relevanz finden. Die religionsgeschichtliche Forschung und die historisch-kritische Exegese der Bibel zeigen, dass ähnlich befreiende Botschaften auch von anderen verkündet und praktiziert wurden. Für fast alle Aussagen Jesu lassen sich zum Beispiel zeitgenössische Parallelen innerhalb und außerhalb des Judentums aufzeigen: „Es fällt auf, dass sich Jesu Vollmacht der religiösen Gesell-
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schaftsordnung einfügt. Er ist den Eltern untertan, der jüdische Ritus wird an ihm vollzogen, der Tempelbesuch wird vorschriftsmäßig erfüllt. Das Ja zum Gesetzesgehorsam scheint das Vorzeichen vor der Vollmacht Jesus zu sein“ (2001, Bd. I, S. 254). Jesus war Jude und ist es sein ganzes Leben lang geblieben. Aber auch hier gilt, dass nicht die historische Einmaligkeit eines Wortes oder einer Tat Jesu deren Wahrheit beweist. Wenn andere Ähnliches sagen und vergleichbar handeln, ist dies keine Einschränkung der Bedeutung Jesu, sondern eine Bereicherung. Gut ist es, wenn immer mehr Menschen Wahres erkennen und danach leben. Wahrheit bleibt aber auch hier eine Vollzugskategorie und kann nur dialogisch in konkreten Situationen aufgewiesen werden. Die jeweilige Gegenwart ist der Ort der Bewahrheitung („Verifizierung“) der jesuanischen Freiheitsbotschaft. Hasenhüttl stellt exemplarisch vier Bereiche vor, in denen sich diese jesuanische Befreiung in ihrem historischen, kulturgeschichtlichen und politischen Kontext konkretisiert: die Freigabe gegenüber dem Gesetz, gegenüber dem Tempel, gegenüber der politischen Macht und – zentral – gegenüber zwischenmenschlichen Schranken.
Jesus und das Gesetz Bei vordergründiger Betrachtung scheint das Verhältnis Jesu zum Gesetz des Judentums, der Religion seiner Väter, der er lebenslang treu bleibt, zwiespältig zu sein. Auf der einen Seite lebt er das Leben eines der Thora treuen Frommen und macht dieses auch zum Maßstab für seine Nachfolge: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen (…) Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich“ (Mt. 17 ff.). Die ausdrückliche Anerkennung des Gesetzes wird sogar noch dadurch verstärkt, dass Jesus mosaische Bestimmungen verschärft, wie zum Beispiel bezüglich der Ehescheidung und des Eides (vgl. Mk. 10,6 ff.). Allerdings geschieht Thoraobservanz nicht um ihrer selbst willen und auch nicht aus Rücksicht auf einen göttlichen Gesetzgeber. Jesus geht es vielmehr um die Funktionalität und Bedeutung des Gesetztes für einen Menschen in einer konkreten Situation: „Wo es bei der Gesetzeserfüllung an Barmherzigkeit und Liebe fehlt, da sieht man Mücken und verschluckt Kamele (Mt. 23,23 f.). Darum setzt Jesus mit aller Schärfe sei-
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ne Vollmacht für die Erfüllung des Zentrums des Gesetzes ein: Die Liebe“ (2001, Bd. I, S. 254). Diese sich selbst legitimierende Liebe wird deutlich an Jesu Verhalten am Sabbat. Auch hier findet sich eine grundsätzliche Zustimmung zu all dessen Bestimmungen. Allerdings werden die Jünger, die am Sabbat vor Hunger Ähren raufen, nicht getadelt, obwohl nirgends von einer lebensbedrohenden Situation die Rede ist (vgl. Mt. 12,1 ff.). Ebenso hätten rein sachlich die seit 18 Jahren gekrümmte Frau (Lk. 13,11) und der seit 38 Jahre kranke Mann (Joh. 5,5 ff.) noch bis zum nachfolgenden Tag auf ihre Heilung warten können. Jesus geht es aber nicht um irgendeine Sache. Es geht ihm vielmehr um den konkreten Menschen, dem er hier und heute begegnet. Und diese Begegnung ist heilsam, ohne dadurch grundsätzlich das Gesetz anzuwenden oder aufzuheben. So wird „der Tag des Herrn der Tag für die Menschen“ (2001, Bd. I, S. 256). „Gebote und das Gesetz haben keinen objektiven Sinn und Wert in sich, sondern nur, insofern sie Vermittlung auf menschliche Beziehung darstellen; insofern sie also der Relationalität dienen (…) Aber nochmals: Gegen kein Gebot wird grundsätzlich polemisiert, vielmehr wird es von Fall zu Fall verschärft. Zugleich ist der Mensch für kein einziges Gebot da, sondern ihm soll die Vollmacht erschlossen werden, durch die das Gebot für den Menschen da ist“ (ebd., S. 257). Das aber heißt: „Für Jesus ist das Leben eines konkreten Menschen mehr wert als alle allgemeine Gesetzgebung, und käme sie von Gott“ (2012, S. 57). Nach Hasenhüttl ereignet sich im Handeln und Wort Jesu nicht eine Freigabe vom Gesetz, „sondern gegenüber dem Gesetz, das seine Gültigkeit behält“ (2001, Bd. I, S. 257). Es geht also nicht darum, diese Befreiung gegenüber dem Gesetz als eine grundsätzliche Gesetzlosigkeit zu deuten und diese wiederum zu einem Gesetz zu erklären. Entscheidend bei allen Entscheidungen ist vielmehr, dass in den einzelnen Situationen der Begegnung des Menschen mit gesetzlichen Vorgaben „himmlisch Gutes“, das heißt Gottes Nähe erfahren werden kann. Werden das Gesetz und die Norm aber zum Hindernis für eine solche Erfahrung, dann dürfen und müssen diese überschritten werden. Kriterium sowohl für das Beibehalten wie auch für das Überschreiten ist das Heil des Menschen. Damit die Umsetzung dieser Maxime in der Gegenwart nicht abstrakt und lebensfern bleibt, sondern mit Leben erfüllt wird, sollten allerdings alle, um deren Wohl es in bestimmten Situationen geht, an der normativen Ausgestaltung dieses Heils mitarbeiten dürfen.
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Jesus und der Tempel Sehr ähnlich zeigt sich das Verhältnis Jesu zum liturgischen Kult und zum Tempel. „Nirgends findet sich in der jesuanischen Verkündigung ein Trennungsstrich zwischen Tempel und Jüngerschaft“ (2001, Bd. I, S. 258). Dadurch unterscheidet sich Jesus zum Beispiel von der tempelkritischen Theologie der Gemeinde von Qumran. Selbst die oft als tempelkritisch angesehene Reinigung des Tempelvorhofs von den Händlern und Geldwechslern durch Jesus (vgl. Mt. 21,12 ff.) geschieht ja gerade, damit der Tempel als „Haus des Herrn“ geachtet wird und nicht zu einer Stätte der Verrichtung von Alltagsgeschäften verkommt. Bei der „apokalyptischen Rede“ Jesu im Markusevangelium (vgl. Mk. 13) sagt er im Angesicht des Tempels: „Siehst du diese großen Bauten? Kein Stein wird auf dem andern bleiben, alles wird niedergerissen“ (Mk. 13,2). Verständlich wird dieser Ausspruch Jesu zunächst im zeitlichen Kontext seiner Verschriftlichung. Markus schrieb sein Evangelium um das Jahr 70 nach Christus, also im Angesicht der Bedrohung einer bevorstehenden Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jüdischen Krieg oder sogar erst nachdem der Tempel bereits zerstört worden war. Markus nutzt also die historischen Gegebenheiten, um Jesu grundsätzliches Verhältnis zum Tempel zu beschreiben. Bei aller Anerkennung des Tempels und der damit verbundenen Liturgie und Opferpraxis: Auch sie haben keinen Sinn und Zweck an sich. Sie haben vielmehr wie der Sabbat dienende Funktion für den Menschen. Und gerade das Ausmaß, in dem der Tempel diese Funktion erfüllt, wird zum Kriterium seiner Bedeutung. Ähnlich ist auch die Antwort Jesu auf die Frage der Frau aus Samaria zu verstehen, ob der Jerusalemer Tempel oder – wie bei den Bewohnern von Samaria – der Berg Garizim der rechte Ort für Gebet und Gottesdienst sei: „Aber es kommt die Stunde und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit“ (Joh. 4,23). Kultische Orte und rituelle Handlungen haben ihre unaufgebbare Bedeutung. Diese haben sie aber nicht abstrakt und verobjektiviert „an sich“: Die Freiheit gegenüber dem Tempel verweist auf dessen Funktionalität. „Dem Menschensohn ist die Vollmacht gegeben, in Freiheit diesen Gegebenheiten gegenüberzustehen. Er ist nicht für Gesetz und Tempel da, sondern der heilige Bezirk für ihn. Die Kraft, die den Menschen Jesus bestimmt, ist nicht Kult und Legalismus, sondern Exousia, die Zeichen der Nähe Gottes ist und Gotteserfahrung vermitteln kann (…) Es ist die Befreiung vom Kult als Heilsweg, und d. h. Freiheit gegenüber allem
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‚religiösen‘ Tun“ (2001, Bd. I, S. 260). In diesem Kontext ist auch Hasenhüttls Einladung am Rande des Ökumenischen Kirchentags in Berlin zu verstehen, im eucharistischen Mahl diese Gemeinschaft zu feiern und zum Ausdruck zu bringen. Die konkrete Erfahrung der Gemeinschaft, die als Gotteserfahrung gedeutet werden kann, legitimiert die Einladung und ihre Annahme selbst; es bedarf keiner äußeren Erlaubnis oder Legitimation.
Jesus und die Politik Ein weiteres Beispiel jesuanischer Freiheitserfahrung kann in Jesu Verhältnis zu den politischen Parteiungen und Verhältnissen aufgezeigt werden: „Wir finden keine prinzipielle Ablehnung der politischen Macht, nicht einmal in der damals bestehenden Form, nämlich der staatlichen Fremdherrschaft der Römer. Andererseits wird die Staatsgewalt kritisch relativiert“ (2001, Bd. I, S. 260). Die Aussage „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“, beschreibt anschaulich den jesuanischen Pragmatismus (Mk. 12,17). Er beruft Menschen mit den vielfältigsten politischen Überzeugungen in seine Gemeinschaft: aus der Gruppe der eher romtreuen Pharisäer und der Sadduzäer ebenso wie aus der Gruppe der Zeloten, die in der Tradition der Makkabäer den bewaffneten Kampf gegen die Besatzungsmacht propagieren. Die grundsätzliche Anerkennung der staatlichen Macht verbindet sich allerdings mit einer ebenso grundsätzlichen Frage nach deren Funktion für die Menschen: Dienen Politik und die jeweiligen Herrscher den Menschen, insbesondere den Marginalisierten und Ausgeschlossenen, oder gerät Politik zur Stabilisierung und Bereicherung der jeweiligen politischen Herrscherklasse? Insofern findet sich im jesuanischen Handeln und Wort durchaus eine fundamentale Kritik am Staat und an dessen Organen, eine Kritik, „die radikaler nicht sein kann. In wessen Namen wird sie geführt? Im Namen der Unterdrückten, im Namen der Menschlichkeit“ (2001, Bd. I, S. 262). Auch hier bedarf es einer grundsätzlichen Neubewertung bisheriger Formen des Handelns und Bewertens. Das bedeutet keine Kritik an Äußerlichkeiten: Das ganze System wird vielmehr auf eine neue Basis gestellt und neu ausgerichtet. „Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll werden wie der Kleinste, und der Führende soll werden wie der Dienende. Welcher von beiden ist größer: wer zu Tische sitzt oder wer bedient? Natürlich der, der bei Tische sitzt. Ich aber bin unter euch wie der, der bedient“ (Lk. 22,26 ff.).
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Das Verhältnis Jesu zu Politik und Staat formuliert Hasenhüttl in folgenden Worten: Nicht die Freiheit von staatlichen Strukturen wird intendiert, sondern die „Freiheit gegenüber der politischen Macht ist jesuanische Botschaft“. „Worauf es ankommt, ist die Identifizierung mit den Unterdrückten, ohne selbst Unterdrücker zu werden“ (2001, Bd. I, S. 263). „Wiederum ist der Jesusimpuls Befreiung des Menschen von staatlicher Vereinnahmung und Unterdrückung. Christentum ist ein ‚subversives‘ Element für jeden staatlichen Anspruch. Es geht auch nicht darum, dass der beste Staat kreiert wird, kein Utopia wird angestrebt (…) Die jesuanische Vollmacht ist Befreiung von politischem Druck und Freiheit gegenüber jeder Staatsform (wobei auch Demokratien durchaus kritikwürdig sind), aber nicht Freiheit von staatlicher, relativer Einbindung. Der Staat hat nur Sinn, wenn er für die Menschen da ist und eine Atmosphäre schafft, die Menschen in die Freiheit entlässt“ (ebd., S. 271). Diese Zusammenhänge müssen in jedem Einzelfall unter Beteiligung aller von den entsprechenden Maßnahmen Betroffenen kritisch ausgelotet werden.
Jesu befreiende Beziehungen Ein letztes und grundsätzliches Beispiel für die befreiende Botschaft und Praxis Jesu ist die Freigabe gegenüber zwischenmenschlichen Schranken. In seinem alltäglichen Umgang pflegte er Kontakte zu Kranken, Frauen, Zöllnern, Dirnen und Ausländern, wie beispielsweise zu den Menschen aus Samaria. Er hatte somit Kontakt mit jenen Menschen, deren Nähe in enger Auslegung der mosaischen Gesetze einen selbst unrein machte. Verständlich, dass man ihn dann stigmatisierte: „Dieser Fresser und Säufer, dieser Freund der Zöllner und Sünder“ (Mt. 11,19). Und selbst diese Haltung wird noch überboten: „Diese schrankenlose Offenheit im Verhalten gegenüber dem Nächsten erfährt noch eine entscheidende Ausweitung: Die freiheitliche Macht Jesu erweist sich am Feind. Die Bruderliebe endet nicht an der Grenze der eigenen Anhängerschaft, sondern schließt auch die Gegner mit ein“. Hasenhüttl sieht hier wiederum die Exousia Jesu, seine Vollmacht, am Werk: „Dies ist eine radikal gewandelte Ermächtigung! Eine Vollmacht, die radikal neu das Leben bestimmt und doch nicht zu einer handgreiflichen, fixierbaren Regel werden kann. So wie der Nächste je konkret werden kann und nicht von vorneherein definiert ist, so ist es auch beim Feind. Wo er aber erscheint, da gilt: Du sollst deinen Feind lieben“ (2001, Bd. I, S. 265). Zwar teilt Jesus die Überzeugung seines Volkes, dass sich dessen religiöse Botschaft primär an die Mitglieder dieses
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eigenen Volkes richtet. In konkreten Begegnungsgeschichten wird aber dieser Binnenblick aufgebrochen. So kann auch der Ausländer zum Modell und Vorbild gelebter Menschlichkeit werden. Indem der randständige Samariter die konkrete Situation der Hilfsbedürftigkeit eines Menschen besser erkennt und entsprechend handelt als die Priester und Leviten der eigenen Religion, wird er zum Beispiel gebenden sprichwörtlichen „barmherzigen“ Samariter (vgl. Lk. 10,30 ff.). Auch bei der Berufung in Jesu Nachfolgegemeinschaft gelten keine traditionellen Standesgrenzen. Nachfolge bedeutet, dem Beispiel Jesu im praktischen Lebensvollzug zu folgen und somit auf je eigene Art an seiner Befreiungstat mitzuwirken: „Jeden trifft konkret der Anspruch Jesu und die Ermächtigung zur Nachfolge. So ist der eine angesprochen, nicht zurückzuschauen, der andere gefordert, seine Familie zu verlassen, und ein dritter, seine Erbschaft aufzugeben. Den einen trifft die Nachfolge auf diese, den anderen auf jene Weise“ (2001, Bd. I, S. 267). Insofern sind die Botschaft und das Lebensmodell Jesu universal: „Alle Menschen sollen ihr geöffnet werden. Zugleich ist sie unendlich konkret, so dass jeder einzelne gefordert ist und auf den Nächsten verwiesen wird, sei es in der Bereitschaft für ihn, sei es im bitteren Verzicht auf ihn“ (2001, Bd. I, S. 268). Hasenhüttl wehrt sich mit diesem Hinweis auf die konkrete Lebenssituation von Menschen gegen idealistische und romantische Vorstellungen einer lebensfremden „Allversöhnung“: „Es geht nicht um einen gesellschaftlichen Idealtypos, in dem alle Menschen alle gleich lieben. Keine schrankenlose Gesellschaftsordnung soll verkündet werden, sondern die Relativität aller Gesellschaftsordnung. Sie ist auf den konkreten Menschen zu beziehen; für ihn gilt ein unbedingtes Ja. Freigabe, also nicht von jeder Strukturierung der Gesellschaft, aber Freiheit gegenüber jeder Gesellschaftsordnung, gegenüber jeder Art von zwischenmenschlichen Schranken. Das ist ‚Nachfolge‘, d. h. Leben in der Vollmachtsbeziehung“ (2001, Bd. I, S. 269). Durch diese Nachfolge ändern sich nicht nur die bisherigen Deutungs- und Plausibilitätsstrukturen, nach denen der betreffende Mensch bisher lebte. Durch diese grundsätzliche Neuausrichtung ändert sich vielmehr der Mensch selbst. Sein Leben wird neu, es verdient in diesem Sinne das Prädikat der Wiedergeburt. Diese umfassende Befreiung auf letztlich allen Gebieten des menschlichen Lebens ist nach Hasenhüttl das Wesensmerkmal des Jesus von Nazareth: „Jesu Bedeutung liegt nicht in seiner Vollkommenheit, sondern im Angebot neuer Möglichkeiten. Nicht die einzelnen Inhalte als solche sind
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das Verbindliche, sondern die Erfahrung der Befreiung vom Druck von außen (…) Das Neue ist nicht ein Inhalt oder die Person Jesu als solche, sondern die konkrete Erfahrung der Befreiung. Die Freisetzung des Menschen, handeln zu können ohne Rücksicht auf Konventionen, ist das Neue. Sie ist Heils- und Erlösungserfahrung“ (2012, S. 56 f.).
4.4 Reich Gottes – der Bereich Gottes Die Erfahrung einer umfassenden Befreiung in ihren vielfältigen Dimensionen ist „Befreiung von (…)“. Wie aber kann das Ziel, „zu dem hin“ befreit werden soll, benannt werden? Wie bereits die hebräische Bibel umschreiben die Evangelisten dieses Ziel und insofern die gesamte Befreiungsbotschaft Jesu häufig mit dem Ausdruck „Reich Gottes“. Der Evangelist Matthäus, der sich vorwiegend an jüdische Leser wendet, verwendet an gleicher Stelle ohne inhaltliche Änderung den Ausdruck „Himmelreich“. Er möchte dadurch die Nennung des Gottesnamens gemäß der jüdischen Tradition vermeiden. Die Begriffe „Reich“ oder „Herrschaft Gottes“ mögen in Zeiten von Monarchie oder Feudalgesellschaft verständlich und erhellend gewesen sein. Können sie aber im Kontext von Demokratie und (Post-)Moderne diese Aufgabe noch erfüllen? Hasenhüttl problematisiert die in der Predigt und auch in der wissenschaftlichen Theologie oft ungeschichtlich verwendeten Ausdrücke und redet lieber vom „Bereich Gottes“. Bereits in der hebräischen Bibel ist die Rede von der Herrschaft Gottes und seinem Reich nicht einfach das Abbild historisch vorgegebener Herrschaftsformen. Schon die Einrichtung des Königtums unter Saul und David wird vielmehr sehr kritisch gesehen. So heißt es von Jahwe: „Ich habe meinem Volk Israel Raum verschafft und habe es eingepflanzt, damit es an seinem Platz sicher wohnen kann und nicht mehr in Furcht leben muss und damit schlechte Menschen es nicht weiterhin unterdrücken wie früher, zu der Zeit, als ich Richter über mein Volk Israel einsetzte. Ich habe dir Ruhe verschafft vor allen deinen Feinden“ (2. Sam. 7,10 ff.). Die königskritischen Kräfte in Israel, die sich in diesen Textpassagen äußern, stellen hier gleichzeitig Kriterien zur Beurteilung jeder konkreten Form von Monarchie vor: Diese hat keinen Zweck in sich und dient schon gar nicht der Selbstverherrlichung des jeweiligen Königs. Das Königtum in Israel hat vielmehr dienende Funktion. Es hat sich dabei auch bewusst zu
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machen, dass Friede, Heil und sinnerfülltes Leben trotz allen Engagements letztlich nicht erreichbar sind. Auch können sie nicht von einer politischen Instanz garantiert werden. Die beschriebenen Zustände werden vielmehr als Gabe Gottes verstanden, der im Kontext der Zeit als der eigentliche König und dadurch als kritische Instanz gegenüber jeder innerweltlichen Regierungsform beschrieben werden kann. Im Umfeld der Katastrophe des Exils Israels in Babylon im sechsten vorchristlichen Jahrhundert wird die Rede vom Königtum oder Reich Gottes universal ausgeweitet: Der Freudenbote bringt die umfassende Friedensbotschaft, die nur universal ist, wenn prinzipiell alle daran teilnehmen können: „Der Herr der Heere wird auf dem Berg Zion für alle Völker ein Festmahl geben mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen (…) Er beseitigt den Tod für immer. Gott, der Herr, wischt die Tränen ab von jedem Gesicht“ (Jes. 26,6 ff.). Die eigene Befreiungserfahrung wird als Tat Gottes interpretiert und dabei ausgeweitet auf alle Menschen. Erst diese Vorklärung macht somit die Rede vom „Reich Gottes“ als Zusammenfassung der jesuanischen Botschaft verständlich und auch in demokratischen Zeiten vermittelbar: Es geht nicht um Herrschaft und Beherrschung, sondern um Befreiung: „Das Reich, der Bereich Gottes ist gut für den Menschen“ (2001, Bd. I, S. 481). Durch die Befreiungstaten Jesu, bei denen jedes Mal der konkrete einzelne Mensch im Mittelpunkt steht, erfährt der bisher durch Konvention, Gesetz, Politik, Gesellschaft und Religion Ausgeschlossene „himmlisch Gutes“. Er erfährt das, was traditionell mit „Reich Gottes“ bezeichnet wurde: „Im Geschehen der jesuanischen Verkündigung erschließt sich der Bereich Gottes, indem dem Menschen Gutes widerfährt, er angenommen und bejaht ist und daher glücklich (bzw. selig) sein darf“ (2001, Bd. I, S. 484). Das Reich Gottes hat in der Nachfolge Jesu immer praktische Implikationen, es ist letztlich auch ein Beziehungsgeschehen: „Wenn wir von unserem Beziehungsein Gott aussagen können, dann ist das ‚mehr‘ als das, was wir sind. Wer im Bereich Gottes lebt, in ihm sich bewegt und ist, für den ist ‚alles voll von Göttern‘, d. h. alles gereicht ihm zum Guten“ (ebd., S. 661). Das Reich Gottes bricht somit weder von außen gleichsam als kosmisch-apokalyptisches Geschehen in diese Welt ein, noch verschanzt es sich in der Innerlichkeit des menschlichen Herzens. Von Jesus selbst wird erzählt: „Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich
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Gottes komme, antwortete er: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es an äußeren Zeichen erkennen könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es! Oder: Dort ist es! Denn: Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch“ (Lk. 17,20 f.). Kein Mirakel oder ein „Geheimnis“, weder ein äußeres Objekt noch eine abstrakte Tatsache verbirgt sich hinter dem Ausdruck vom Reich Gottes, sondern es bezeichnet ein hier und heute schon erfahrbares zwischenmenschliches Geschehen. Allerdings ereignet sich dieses Geschehen auch nicht von selbst. Es bedarf der Umkehr der Menschen. Die Rede vom Reich Gottes hat damit höchst praktische Implikationen. Im Handeln der Menschen sollten sich analog der Befreiungstaten Jesu konkrete Befreiungserfahrungen ereignen, die bisherige Unterdrückung und Unfreiheit aufbrechen: „Nur wenn wir uns dieser Gegenbewegung anschließen, kann das Reich Gottes, d. h. der Bereich des Guten unter den Menschen, verwirklicht werden. Das Reich Gottes, wie es Jesus als Grundelement sinnvollen menschlichen Lebens angibt, ist der Bereich der Solidarität, der Geschwisterlichkeit und vor allem der Gleichheit und der Herrschaftsfreiheit. Der Bereich Gottes ist keine abstrakte Weltdeutung, indem Gott irgendwann einmal eingreift und das Diesseits in ein Jenseits verwandelt, sondern die Aufforderung zur Transformation dieser Welt. Keine jenseitige Welt, wohl aber eine ‚andere‘ Welt soll sich konstituieren. Nur dort kommt in unserer Gesellschaft Gott zur Sprache, wo Menschen sich weg von der rücksichtslosen Konkurrenz zur bedingungslosen Solidarität gewandelt haben und Gerechtigkeit verwirklichen (vgl. Röm. 14,17). Alles andere wäre nur leeres Gerede über Gott. Jesus will es durch den Begriff des Bereiches Gottes bzw. des Himmels überwinden. Nicht frommes Gerede ist Bereich Gottes, sondern die Dynamik echter Liebe“ (2012, S. 53 f.). So wird die Rede vom Reich Gottes „ein Kommunikationssymbol für Menschen untereinander und für deren Gotteserfahrung“ (2001, Bd. II, S. 600). Hier zeigt sich dann für Hasenhüttl auch die Dialektik von Gottesund Nächstenliebe: „Wo zwei oder drei liebend miteinander umgehen, ist er mitten unter uns, wo Solidarität in Freiheit verwirklicht ist, ist der Bereich Gottes, der Heilsbereich ‚unter uns‘ und der dämonische Bereich vernichtet“ (2001, Bd. II, S. 602). Die „Dämonen“ sind hier die Fixierung eines Einzelnen sowie einer Gemeinschaft auf sich selbst, eine Beharrung auf bestehende Ordnungen und Traditionen, die sich Neuem verweigern, und letztlich die Deutung menschlichen Lebens mit den Kategorien des Habens und Machens und nicht durch diejenigen der Veränderung und
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der Dynamik des Beschenkens. Reich Gottes impliziert keine Überwelt, weder im Sinne eines antiken Drei-Stockwerke-Weltbilds noch im Sinne einer metaphysischen Verordnung der diesseitigen Welt in einer jenseitigen: „Reich Gottes meint keine Trennung von der Weltwirklichkeit, sondern vielmehr ihre Durchdringung. Gott und Welt sind nicht als zwei getrennte Seiende zu verstehen, sondern die eine Welt hat gottmenschliche Struktur. Ihre Verwirklichung ist Reich Gottes“. Dabei handelt es sich nicht um eine Projektion oder um eine Utopie. Reich Gottes ist vielmehr „eine zeitlich-geschichtliche Wirklichkeit, die mit dem ‚Wachstum‘, mit Begriffen der Entwicklung umschrieben wird. In ihnen kommt der dynamische Bereich Gottes zum Ausdruck. Es ist nichts Statisches, Bestehendes, sondern das, was die Welt im Werden hält“ (2001, Bd. II, S. 604). „Reich Gottes ist aber auch nicht unsichtbar oder in der Zukunft verborgen, sondern ‚mitten unter uns‘. Es ist ein Relationsbegriff bzw. Symbol. Reich Gottes ist nicht objektiv und nicht subjektiv, es ist keine Größe, die objektiviert werden kann und losgelöst von menschlichem Tun existiert, aber sie kann auch nicht in das Subjekt verlegt werden und zu einer tiefenpsychologischen Dimension werden. Reich Gottes ist eine Beziehungswirklichkeit, ein Kommunikationsgeschehen, das die ‚Herrschaft‘ der Liebe bezeichnet. (…) Die Gegenwart der Heilsgemeinschaft ist, da sie nicht statisch ist, stets im Werden und daher immer mit Zukunft und Hoffnung zusammen erfahrbar. Der Bereich Gottes ist ‚Zu-kunft‘ der Liebe“ (2001, Bd. II, S. 604 f.).
4.5
Umkehr als Bedingung und Kriterium der Freiheit
Der erste Satz, den das Markusevangelium als ältestes Evangelium Jesus am Beginn seines öffentlichen Auftretens in den Mund legt, verbindet die Rede vom Reich Gottes mit einer grundsätzlichen Umkehr des Menschen: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk. 1,15). Wenn mit dem Ausdruck „Reich Gottes“- oder, wie Hasenhüttl sagt, um autokratische Missverständnisse zu vermeiden, „Bereich Gottes“ – eine Beziehungswirklichkeit ausgesprochen ist, die hier und heute erfahren werden kann, dann bedarf es der Änderung der Lebensmaximen des Menschen, damit diese Wirklichkeit geschehen kann. Die Dynamik der Rede vom Gottesreich verbindet sich dabei mit der in der Anthropologie Max Schelers und Rudolf Bultmanns entwickelten Be-
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Das Antwortmodell Jesus Christus
stimmung des Menschen als Vollzugswesen. Das Reich Gottes ebenso wie der Mensch sind keine vorgegebenen Objekte. Sie entfalten ihr Wesen, indem sie „wesen“, das heißt, indem sie sich vollziehen. Der Begriff der Umkehr wurde und wird auch gegenwärtig oft moralisch verengt bestimmt. Dann bedeutet er so viel wie die reuevolle Einsicht in das ein oder andere Fehlverhalten und die Rückkehr zu den moralischen Vorschriften der Glaubensgemeinschaft. Davon unterscheidet sich der jesuanische Ruf zur Umkehr fundamental. Es geht ihm dabei nicht um einzelnen (Fehl-)Handlungen, sondern um eine grundsätzliche Revision des Lebens um eine fundamentale Veränderung der gesamten Lebenskoordinaten eines Menschen. Die angesprochene Veränderung ist „nicht die Rückkehr in die vorgegebene Ordnung, von der man abgewichen ist, nicht die Rückkehr des reuigen Schafes, sondern gerade das Durchbrechen vorgegebener Strukturen“ (2001, Bd. I., S. 272). Der Aufweis der Vollmacht Jesu und seine konkreten Taten der Befreiung haben die betreffenden Menschen Neues erfahren lassen. Normen, Gewohnheiten, religiöse oder gesellschaftliche Schranken wurden abgebaut und befreiten zum Beispiel die Ehebrecherin, den Zöllner, den Kranken und die Frau aus Samaria zu einem neuen, bisher völlig für unmöglich gehaltenen Leben: „‚Umkehr‘ ist eine Aufforderung zum Experiment, das Menschen um Jesus als geglückt erfahren, wenn es auch von etablierten Kräften zertreten wird. Im Modell Jesus, in der unmittelbaren und rechtfertigungslosen Einsichtigkeit seiner Worte und seiner Taten haben bisherige Maßstäbe keine Geltung mehr, das menschliche Leben erhält eine neue Grundausrichtung, eine völlige Neuorientierung. Nicht die religiöse Institution ist der Orientierungspunkt, sondern das Reich der göttlichen Freiheit, für das Jesus modellhaft bürgt“ (2001, Bd. I, S. 273). Da diese Neuorientierung den ganzen Menschen betrifft, hat sie auch gesellschaftspolitische Implikationen und darf deswegen nie auf die eigene „Innerlichkeit“ eines Menschen beschränkt werden. Sie betrifft den ganzen Menschen inmitten seiner sozial-politischen Verankerungen. Politische, gesellschaftliche und auch religiöse Institutionen haben immer die Tendenz zur Verobjektivierung ihrer eigenen Überzeugungen und ihrer favorisierten Lebensmodelle. Alternative Lebensvollzüge und deren Begründungen werden als Angriff auf die eigene Deutungshoheit verstanden – was diese ja auch in der Tat sind, indem sie alles Vorgegebene nach seiner Funktion für ein heilsames Leben befragen. Jesus selbst musste dies leidvoll erfahren, wie auch gegenwärtig solche schmerzhaften Erfahrun-
Umkehr als Bedingung und Kriterium der Freiheit
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gen in Staat und Wirtschaft, aber auch in Theologie und Kirche gemacht werden müssen. Der Maßstab für das, was „unter dem Strich“ zählt, ist nach biblischem Zeugnis das befreiende Handeln am konkreten Nächsten und Fernsten. Befreiung aber wird nicht nur durch Unterdrückung und Einschränkung verhindert. Auch dadurch, dass nichts positiv für ihre Verwirklichung getan wird, verkümmert die Freiheit im Kleinen wie im Großen. Hasenhüttl verweist darauf, dass in der biblischen Erzählung vom Endgericht – von dem also, was „unter dem Strich“ letztlich zählt – die Verurteilten nicht deswegen auf die negative Seite der Verlorenen kommen, weil sie gesündigt hätten. Ihr Vergehen und somit der Grund für ihre Verurteilung besteht vielmehr darin, dass sie nichts Positives getan haben (vgl. Mt. 25,31 ff.). Die angesprochene Umkehr darf nun ihrerseits nicht wieder zu einem Prinzip erstarren. Sie ist immer bezogen auf einen konkreten Menschen in benennbaren Situationen. Insofern kann unter veränderten Bedingungen auch ein verändertes Handeln gegenüber dem gleichen Menschen notwendig sein. Sowohl bei bewährtem wie auch bei verändertem Handeln ist stets der Maßstab der Sinnhaftigkeit und des Heils zu beachten, wobei an der inhaltlichen Füllung dieser Begriffe der davon betroffene Mensch selbst beteiligt sein muss. Sonst kann ein „Handeln für“ trotz gutem Willen schnell zu einem Paternalismus und insofern wiederum zu einer Fremdbestimmung werden. Gelingt aber eine Befreiung so, dass die entsprechende Erfahrung mit „himmlisch gut“ oder mit dem traditionellen Ausdruck vom „Reich Gottes“ oder mit dem von Hasenhüttl favorisierten Begriff vom „Bereich Gottes“ bezeichnet werden kann, dann liegt für dieses Geschehen auch das Prädikat „Liebe“ nahe. Liebe wird dann aber nicht als romantische Verklärung verstanden, sondern immer ganzheitlich mit all ihren gesellschaftspolitischen Implikationen: „Sie ist Vollmacht, die religiöse und ideologische Vorurteile überwindet. So wird das Verhalten der Christen eine ständige Provokation und ein Protest gegen die etablierten Kräfte. Jesus selbst ist Modell dafür und zeigt eine neue Existenzform an. Sie ist der Verzicht auf jede formale, institutionell legitimierte Macht und Herrschaft. So kann man in der Jesuserfahrung herrschaftsfreies (‚anarchisches‘) Wirken entdecken, das den Menschen befreien, ‚erlösen‘ will“ (2001, Bd. I., S. 274).
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Das Antwortmodell Jesus Christus
4.6
Die biblische Deutung Jesu Christi
In weitgehendem Konsens mit zeitgenössischen Christologien beschreibt Hasenhüttl die Deutung des Lebens und Wirkens Jesu, wie sie bereits in den Schriften des Neuen Testaments vorliegt. Er verweist dabei auf die dort verwendeten so genannten Hoheitstitel. Der Bereich der Erfahrung wird dabei verlassen, es geht jetzt vielmehr um eine religions- und kulturgeschichtliche Einordnung und damit um die reflexive Interpretation dieser Erfahrung. Der Titel „Messias“ für Jesus wendet sich insbesondere an die jüdischen Rezipienten der Evangelien. Inhaltlich konkret wird dieser Titel, der erst nach dem Exil in Babylon (589–538 v. Chr.) häufiger Verwendung findet, in seinen sehr unterschiedlichen Funktionen, zum Beispiel als endzeitlicher Heilsbringer, Lehrer, in einigen jüdischen Traditionen auch als König, Priester oder Prophet oder Weisheitslehrer. Die Anwendung dieser Titel auf die historische Gestalt des Jesus von Nazareth hatte dabei allerdings die Frage zu beantworten, wie dessen Leiden und Tod zusammen mit endgültigem und vollkommenem Heil zu verstehen sei. Insbesondere das Markusevangelium zeigt in seiner literarischen Komposition, dass Jesus diesen Titel strikt ablehnte und seinen Freunden energisch verbot, von ihm als Messias zu reden. Als Korrektur der vorhandenen Deutungsmuster schloss er vielmehr die Ankündigung seines Leidens an und unterband damit jede triumphale Deutung des Messias-Titels (vgl. Mk. 8,30). Diese Leidensankündigungen haben gleichsam die didaktische Aufgabe, den Erwartungshorizont seiner Anhänger zu erweitern: Die Wahrheit seiner Botschaft und seines Lebensvollzugs kann weder durch Leid noch durch gewaltsamen Tod zerstört werden. Es verhält sich gerade umgekehrt: Dadurch dass Jesus seiner Grundüberzeugung von der heilvollen Befreiung des Menschen und damit sich selbst auch in der Katastrophe der Kreuzigung treu blieb, zeigt er deren Ernsthaftigkeit. Liebe erweist sich auch hier stärker als der noch so gewaltsame Tod: Gerade der leidende Messias wird so zum Hoffnungszeichen. Auch der Titel „Kyrios/Herr“ knüpft an die jüdische Tradition an. Als griechische Übersetzung des hebräischen „Adonai“ ist der Titel Ausdruck für den unaussprechlichen Gottesnamen. Damit aber wird für die Autoren deutlich, dass die mit Jesus gemachten Erfahrungen identisch sind mit Gotteserfahrungen, wie sie in der hebräischen Bibel beschrieben werden. Allerdings weist Hasenhüttl auch darauf hin, dass mit den tradierten Deu-
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tungskategorien nicht auch Herrschaftsansprüche verbunden werden. Die Umkehr der Verhältnisse, die beschriebene grundsätzliche Befreiung gilt auch hier: „Alles menschliche Herrsein hat in ihm ein Ende gefunden. Die menschlichen Verhältnisse können seitdem nurmehr geschwisterlich geregelt werden“ (2001, Bd. I, S. 315). Der für die nachfolgende christologische Diskussion der frühen Kirche wohl bedeutendste Hoheitstitel ist der des „Gottessohnes“. Dieser überschreitet die innerjüdische Begrifflichkeit und kann in seiner besonderen inhaltlichen Füllung auch von den griechisch sprechenden Nichtjuden verstanden werden: „Der Sinn des Umgangs mit Jesus liegt in der Erfahrung der Nähe Gottes“ (2001, Bd. I, S. 316). Die theologische Deutung dieser Erfahrung bedient sich dabei unter Verwendung desselben Ausdrucks zweier unterschiedlicher Deutungsmodelle. Die Synoptiker Markus, Matthäus, Lukas und auch die Briefe des Paulus beschreiben das Modell einer Inthronisationschristologie. Jesus wird auf den Thron des Gottessohnes gesetzt, er wird, wie ein ähnliches Sprachspiel sagt, von Gott als Sohn adoptiert. Der „Ort“ beziehungsweise der „Zeitpunkt“, an dem der Mensch Jesus von Gott bestätigt und erhoben wird, unterscheiden sich bei den jeweiligen Autoren. Nach Paulus findet dies erst nach Tod und Auferstehung statt (Röm. 1,3). Bei Markus erweist sich Jesus am Beginn seines öffentlichen Auftretens und der damit verbundenen Taufe analog der Inthronisation eines Königs in Israel als der „Sohn Gottes“ (Mk. 1,11). Matthäus und Lukas sehen die Gottesnähe Jesu und damit auch die Berechtigung des Hoheitstitels „Sohn Gottes“ bereits von seiner Empfängnis in seiner Mutter Maria an verwirklicht (Mt. 1,23; Lk. 1,35). Die Bewegung geht somit von unten nach oben: Jesus wird hochgehoben oder eben inthronisiert. Das Johannesevangelium bedient sich einer ganz eigenen Vorstellungswelt: Hier wird Jesus nicht erst nachträglich als Gottessohn eingesetzt oder adoptiert. Jesus wird vielmehr als präexistenter, immer schon bei Gott seiender Logos verstanden, der im Auftrag Gottes zur Welt „ins Fleisch“ hinabsteigt. Dieses Modell einer Inkarnationschristologie beschreibt eine Bewegung von oben nach unten, um dann wieder durch Kreuz und Auferstehung nach oben zu weisen (vgl. Joh. 1,14; Joh 19,30). Die Pluralität der bereits genannten und der weiteren christologischen Hoheitstitel (etwa Menschensohn, Weisheit, Wort Gottes) entspricht der Vielfalt der Erfahrungen, die Menschen mit Jesus gemacht haben. Sie entspricht auch den kulturellen und geschichtlichen Bedingun-
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gen, in deren Rahmen diese Erfahrungen gedeutet wurden. Als Deutekategorien sind diese allerdings nicht an sich („objektiv“) wahr, sondern nur in Bezug auf die Menschen, die mit dieser Begrifflichkeit ihre jeweiligen Erfahrungen deuten: „Diese unterschiedlichen christologischen Entwürfe wollen also auf ihre Art die Bedeutung Jesu reflex zur Sprache bringen und durch Interpretationsmuster verständlich machen. Sie sind auf keinen Fall so gedacht, dass alle zusammen etwa eine umfassende Christologie ergeben, sondern wollen als zeitbedingte, der Situation entsprechende Deuteschemata die jesuanische Heilsbedeutung begreifen lassen“ (2001, Bd. I, S. 317). Jesus ist also „an sich“ weder Messias noch Kyrios oder Gottessohn, sondern dies sind Prädikate, mit denen Menschen unter jeweils unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Bedingungen ihre Erfahrungen mit Jesus deuten und aussprechen.
4.7 Die kirchliche Deutung Jesu Christi als Heilsbotschaft Die in griechischer Sprache geschriebenen Evangelien haben bereits eine Übersetzung des Lebens und der Botschaft Jesu vorgenommen, die sich ursprünglich im hebräisch-aramäischen Kontext vollzogen haben. Verstärkte Übersetzungsarbeit war zu leisten, als die Botschaft der narrativen biblischen Texte in die philosophische Sprache der hellenistischen Welt übertragen werden sollte. Immer wieder wird diese Übersetzung beklagt und angemerkt, die Echtheit der Person und des Werkes Jesu hätten dadurch gelitten und es gelte, hinter die philosophisch-dogmatische Sprache der frühen Kirche wieder zum „originellen“ Jesus zurückzukehren. Allerdings hat bereits Adolf von Harnack (1851–1930) in seiner großen Dogmengeschichte darauf aufmerksam gemacht, dass nur durch diesen Transfer aus der jüdischen Sprach- und Lebenswelt in die griechische das Christentum auch den Gebildeten jener Zeit zugänglich und letztlich nur dadurch seine globale Rezeption möglich wurde (vgl. Harnack 2015). Auch hier gilt es, nicht mit dem Blick auf den historischen Jesus einen letzten Fixpunkt beschreiben zu wollen, an dem sich Glaube auch außerhalb der Glaubenspraxis scheinbar sicher festmachen und versichern könnte. Allerdings gilt es umgekehrt auch gerade diese philosophisch-kognitive Bearbeitung der christlichen Botschaft danach zu befragen, ob das in ihr enthaltene Befreiungspotenzial weiterhin erhalten und verdeutlicht oder aber von jeder Erfahrung abstrahiert und insofern verobjektiviert wurde.
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Zumindest formal sollte in theologischen Traktaten, Konzilsbeschlüsse und in den auf den Konzilien formulierten Glaubensbekenntnissen die Bedeutung der Texte für das Heil der Menschen intendiert und angesprochen werden. Selbst das sogenannte „Große Glaubensbekenntnis“, das auf dem Konzil von Chalkedon 451 n. Chr. mithilfe einer schwierigen philosophischen Begrifflichkeit formuliert und verabschiedet wurde, trägt als Überschrift: „Ich glaube“. Auch hier sind also Beziehung und Bekenntnis und nicht abstrakte Theorie intendiert: „Alle christologische Spekulation, auch die, die weit von jeder möglichen Erfahrung entfernt ist, wollte die Bedeutung des Jesusereignisses für uns wahren. Mit anderen Worten, die uns heute so abstrakt-abstrus vorkommenden Christologien behalten bis ins 7. Jh. (…) ihre soteriologische Relevanz. Christologie bleibt Soteriologie“ (2001, Bd. I, S. 321). Hasenhüttl erkennt alle zentralen Aussagen der frühen Konzilien voll und ganz an. Es geht ihm nicht darum, die christliche Tradition als Irrweg zu beschreiben, sondern darum, auch in den stark philosophisch geprägten Formulierungen Sinnvolles für den heutigen Menschen zu erkennen. Die Beurteilung der Verhältnisbestimmung zwischen biblischem und philosophischem Denken hängt somit nach Hasenhüttl ganz an der Frage der Soteriologie, der Heilslehre, wenn er sagt, „dass a priori das biblische Denken in sich nicht besser und nicht schlechter ist als das hellenistische. Sachkriterien müssen entscheiden, welches Denken die Erfahrung besser interpretiert. In beiden Denkweisen sind Impulse zur Reflexion über das Menschsein gesetzt. Auch ist nichts dagegen einzuwenden, wenn neue Begriffe und Terminologien gebraucht werden. Alle theologische Ausdrücke sind zeitbedingt und kontextbezogen, sind abhängig von der Reflexionsstufe einer bestimmten sozial-politischen Situation. Die Darstellung des NT hat den Vorteil, dass sie lebendig-bildhaft und narrativ ist und daher die Pluralität der Christologien erfahrungsnäher verdeutlicht. Verschiedene Erfahrungskomplexe mit der Jesusfigur bleiben nebeneinander stehen und gelten. Die philosophische Terminologie hat demgegenüber mehr Präzision und Denkschärfe“ (2001, Bd. I, S. 366). Letztlich war es die Aufgabe der philosophischen Reflexion in der frühen Kirche, die biblische Botschaft der Freiheit so mit der ihr zur Verfügung stehenden Sprache und Begrifflichkeit zu formulieren, dass Gott und Mensch in Jesus Christus zusammengedacht werden können. Gott und Mensch sollen dabei voll zur Geltung kommen und gerade dadurch Möglichkeiten gelingenden Lebens für alle Menschen erschließen. Hasenhüttl
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stellt eine Reihe geschichtlicher Vermittlungsversuche vor und befragt diese, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen sie die gestellte Aufgabe erfüllen. Die komplexe und in sich sehr differenzierte Lebens- und Denkwelt der antiken Gnosis kann nur anhand ihrer sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Unfreiheit und Unterdrückung verstanden werden: „Wo der Mensch nicht Mensch sein kann, weil seine Lebensbedingungen unmenschlich sind, kann ein Erlöser (…), kann ein Herr (…) nicht nur ein Mensch sein. Das ‚wahre Menschsein‘ genügt nicht, sondern es muss ein höheres Wesen her“. „Der Mensch drängt nach Vereinigung und Erfüllung in den wahren, vollkommenen und unbekannten Gott. Er sucht nach Befreiung aus seiner unabänderlich erscheinenden materiellen Notlage“ (2001, Bd. I, S. 323 f.). Auch der damit verbundene Dualismus zwischen irdisch-materieller Basis und seelisch-geistigem Überbau sowie die Bestimmung der jeweiligen Ebenen als eindeutig schlecht beziehungsweise gut trägt viel zum Erlösungsmodell der Gnosis bei. Weder von der geschichtlich-materiellen Seite her noch durch den kommunikativ vermittelten Selbstvollzug des Menschen kann dieser erlöst werden. Ein göttlicher Mensch beziehungsweise ein Gott in Menschengestalt musste von außen kommen, um das Erlösungswerk zu leisten. Analog zum römischen Kaiserkult wird auch Jesus vergöttlicht, und damit wird zugleich eine mögliche Heilserfahrung abstrahiert und vergegenständlicht: „Aus dem Vollzug des ‚Für-uns‘ wird eine Theorie über das ‚An-sich‘. Dieser vulgäre Vergottungsprozess hatte zur Folge, dass dem Menschen Jesus sein Menschsein genommen und der Gottnatur übereignet wurde“ (2001, Bd. I, S. 323). Gelingendes Menschsein wird nicht als Lebensmöglichkeit gedacht und im Leben selbst angelegt, sondern als ein von außen erhofftes, objektiv mögliches Geschehen gedeutet. Zwei gegensätzliche und jeweils in sich einseitige Versuche, Mensch und Gott zumindest in Jesus Christus zusammenzudenken, sind die adoptianische und die pneumatische Christologie. Beide prägten auf ihre Weise stark die gesamte christologische Diskussion der Alten Kirche mit Auswirkungen bis in die Gegenwart. Insbesondere die Einsicht in scheinbar unüberwindbares menschliches Elend und Leid führten dazu, dass Jesus Christus ein wahres Menschsein abgesprochen wurde: „Jesus ist der von Gott erwählte Mensch, den der Geist Gottes erfasst hat und der von Gott adoptiert wurde und als Herr(scher) eingesetzt ist“ (2001, Bd. I, S. 324). In der Taufe (bei Markus) oder infolge der Auferstehung (Paulus) wurde
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Jesus, wie beschrieben, als Gottessohn inthronisiert und damit gleichsam aus der menschlichen Not enthoben und über sie erhöht. In der pneumatischen Christologie ist Jesus Christus immer schon „ein pneumatisches Geistwesen, das höchste nach dem unsichtbaren Vater“, er „ist auf Erden erschienen und hat ein menschliches Leben durchlaufen. Nach der Vollendung ist er wieder zu Gott zurückgekehrt und hat für die Menschen den Heilsweg eröffnet“ (2001, Bd. I, S. 326). Die Konkretionen dieser Vorstellung sind vielfältig: Entweder wurde die Menschwerdung als bloße Erscheinung des Göttlichen in einer menschlichen Gestalt gedeutet, oder der präexistente, immer schon beim Vater seiende Logos hat sekundär Menschengestalt angenommen, oder aber der ewig seiende Logos hat durch die Menschwerdung die irdische Gestalt verwandelt. Letztlich geht es in all diesen Spielarten um eine Erlösung von Welt und menschlichen-körperlichen Lebensbedingungen und nicht um Erlösung der Welt und des konkreten Menschen. Auch hier sieht Hasenhüttl die konkreten geschichtliche Rahmenbedingungen als erkenntnisleitend an: „Die Entfremdung in der im 2. Jh. bestehenden gesellschaftlichen Struktur ist als total erkannt“ (2001, Bd. I, S. 327). Hasenhüttl erkennt bereits in den biblischen Texten Gegenbewegungen gegenüber dieser Abwertung des Menschen Jesus und damit der Abwertung aller materiellen Rahmenbedingungen menschlichen Lebens. Er verweist auf den Beginn des 1. Johannesbriefes, in dem es heißt: „Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen haben, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkündigen wir“ (1. Jh. 1,1). Neben der Legitimierung des Autors als Glaubenszeuge kann diese Aussage als Hinweis auf das konkret erfahrbare Menschsein Jesu gedeutet werden. Auch Paulus weist darauf hin, dass kein wirklich geistvoller Christ das irdische und materielle Leben Jesu leugnen oder gar verfluchen kann (vgl. 1. Kor. 12,3). „Ist mit Jesus Christus alles gesagt, was vom Menschen und von Gott zu sagen ist? (…) Ist göttliche Anwesenheit (…) in höchster und letzter Weise im Menschen Jesus, oder braucht der Mensch einen Mittler, der zwischen dem Göttlichen und menschlichen steht? Diese Frage besagt: Ist alle mögliche Erfahrung Gottes in Jesus Christus gemacht, oder bleibt der Mensch in einer gewissen Distanz zu Gott?“ (2001, Bd. I, S. 331). Unterschiedliche Antworten auf diese Fragen prägten den theologischen Diskurs der ersten fünf christlichen Jahrhunderte. Die offiziellen Antworten
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auf den Konzilien bleiben bis heute Deutungsmodelle, die zu immer wieder neuem Diskurs herausfordern. Arius (ca. 260–336) beantwortete diese Fragen mit den Mitteln der mittelplatonischen Philosophie. Auch seine Kenntnis der menschenverachtenden Armut in den antiken Megastädten wie zum Beispiel Alexandria lassen ihn die Frage verneinen, ob die menschliche Dimension vollständig gleichberechtigt mit der göttlichen in Jesus Christus verbunden sein könne. Es bedürfe vielmehr eines Vermittlers, wenn Göttliches und Menschliches zusammenkommen sollen. Dieser vermittelnde Logos ist zwar wie der Mensch geschaffen – allerdings im Unterschied zum Menschen „vor aller Zeit“. Insofern gilt er als das vollkommene Geschöpf. Dieser Ansatz des Arius ist zwar elementar soteriologisch ausgerichtet, aber Gott und Mensch werden sekundär vermittelt, beschrieben durch das Bild einer nachträglichen Adoption Jesu durch Gott. Durch diese einmalige Vermittlung von Gott und Mensch in Jesus Christus sollen dann gleichsam sekundär auch die anderen Menschen zum Heil gelangen. Die Gegenposition zu Arius vertritt vehement Alexander, der damalige Bischof von Alexandrien (gestorben 328). Statt einer Vermittlung gilt für ihn: „Gott selbst muss in die Menschheit eingegangen sein, sonst hat der Mensch keine Chance, zu sich selbst zu finden und selbst am Göttlichen teilzunehmen“. Nur so wird nach Hasenhüttl ausgesprochen, dass das Göttliche eine grundsätzliche Möglichkeit des Menschlichen und nicht eine nachträgliche Qualifikation ist. Dies ist auch die Position des Athanasius (295–373), der als Diakon eng mit Alexander zusammenarbeitete und dessen Nachfolger als Bischof von Alexandrien wurde: „Gott selbst ist nach Athanasius als Heilsprinzip in Jesus Christus anwesend. In ihm hat der Mensch die Möglichkeit, den höchsten Gott zu erfahren, von seiner Entfremdung befreit und erlöst zu werden (…) Für Athanasius ist der Mensch als gottunmittelbar zu verstehen; dies ist seine einzige Rettung“ (2001, Bd. I, S. 333 f.). Philosophische und damit auch theologische Probleme erweisen sich häufig als Sprachprobleme. Begriffe haben eine je eigene Deutungsgeschichte und insofern auch ihre je eigene Vielfalt der inhaltlichen Bestimmung. Die kirchliche Auseinandersetzung mit dem theologischen Deutungsversuch des Arius ist besonders geprägt vom Streit um den Begriff „wesensgleich“ (homoousios), einen Begriff, der nach Hasenhüttl „der anstößigste und zugleich entscheidendste Topos in der Theologiegeschichte der abendländischen Tradition“ ist und bleibt (2001, Bd. I, S. 343).
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Hasenhüttls Annäherung an diesen Begriff verdankt sich der Rezeption der klassischen griechischen Philosophie, vermittelt durch Martin Heidegger. Das dem Begriff „homoousios“ zugrundeliegende Wort „ousios“ kann verstanden werden als etwas Vorhandenes, somit als ein Seiendes. Es kann aber auch alles Sein, die „Fülle des Seins“ bezeichnen. Menschliche Erkenntnis vollzieht sich nun dadurch, dass konkrete Wahrnehmung durch Erfahrung gedeutet und so zu einer Erkenntnis wird. Ich nehme einen Gegenstand wahr. Meine Erfahrung sagt, dass man auf diesem Gegenstand sitzen kann. Dadurch wird der Gegenstand als Stuhl gedeutet und erkannt: „In der Erfahrung wird die Wirklichkeit, die ‚ousia‘ der Dinge gegenwärtig. Sie ist das, wodurch die verschiedenen seienden Einzeldinge erkannt werden. Die Erkenntnis der ‚ousia‘ geschieht nicht abstrahiert von Zeitlichkeit, sondern als Erfahrung ereignet sie sich in den Dimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Die Erfahrung also ermöglicht „ousia“-Erkenntnis. So ist der Mensch bei der Wahrheit. Die Anwesenheit der Wahrheit ist „ousia“. Sie ist die Wahrheit der Dinge. „Zeit und Erfahrung erschließen uns die ‚ousia‘. Die Wahrheit des Seins ist ihre Anwesenheit, ihr Gegenwärtigkeitsein“ (2001, Bd. I, S. 335). Ereignet sich aber „ousia“ in der Erfahrung des Menschen, dann ist sie selbst ein Vollzugsgeschehen. Es wird nicht etwas substanziell immer schon Vorhandenes aufgedeckt, sondern die Wahrheit geschieht, sie ist selbst ein Geschehen, das ohne den erfahrenden Menschen nicht wäre. Für die Deutung der Verhältnisbestimmung von Gott und Jesus liegen nach Hasenhüttl zwei unterschiedliche Erklärungsmodelle vor, nämlich: „dass die ‚ousia‘ Gottes entweder die Anwesenheit Gottes im Christusgeschehen bedeuten kann oder aber eine göttliche Substanz (…), die bei oder in Jesus Christus vorhanden ist“ (2001, Bd. I, S. 336). Hasenhüttl favorisiert dabei eindeutig die erste Deutung: In der Erfahrung mit Jesus Christus eröffnen sich dem Menschen neue und heilvolle Lebensmöglichkeiten. In diesen wird letztlich Gutes erfahren, was als göttlich („theion“) gedeutet werden kann: „Die göttliche ‚ousia‘ ist eine. Der höchste Gott ist in Jesus Christus anwesend“. Letzteres Geschehen wiederum kann nicht als Anwesenheit eines auch ohne die menschliche Erfahrung Seienden gedacht werden, sondern als Konstituierung, als sich vollziehendes Ereignis dieses Göttlichen. Es ereignet und vollzieht sich in der menschlichen Erfahrung: „Die Erfahrung, die mit der Jesusfiguration gemacht werden kann, ist ganze Anwesenheit Gottes. Was sich in der Bibel als ‚exousia‘, als
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Vollmacht herausstellt, die den Menschen durch die Jesuserfahrung zur Identität verhilft, erlöst, wird hier nun als ‚ousia‘ gedeutet, die in der Einheit mit dem höchsten Gott zu denken ist und die Anwesenheit der gottmenschlichen Struktur der Wirklichkeit paradigmatisch demonstriert. (…) Den Menschen trifft ein glückliches Ereignis! Seine zeitlichen Dimensionen wirken nicht mehr entfremdend, sondern erlösend, da menschliche Zeit von der wirksamen göttlichen Gegenwart erfüllt ist, und es sich lohnt, im Heute zu leben, weil hier und jetzt die Chance besteht, zu sich selbst zu finden, d. h. vergöttlicht zu werden und die Anwesenheit Gottes zu erfahren. So steht und fällt jede Christologie und damit die Gotteserfahrung mit dem ‚homoousios‘“ (2001, Bd. I, S. 337). Dieser heute wie damals umstrittene Begriff des „homoousios“ wurde auf dem Konzil von Nicäa 325 in ein bereits überliefertes Glaubensbekenntnis aufgenommen, um die von Arius aufgeworfenen Fragen zu antworten. Wenn der Begriff auch unbiblisch ist und bereits 268 n. Chr. als problematische Sprachregelung kirchlich verurteilt wurde, kann er doch bei richtigem Verständnis sehr wohl eine Antwort auf die Frage geben, wie die göttliche und menschliche Dimension in Jesus Christus unverkürzt zur Sprache gebracht werden kann. Mit diesem Begriff antwortet das Konzil insofern nach Hasenhüttl auf folgende Fragen: „a) Auf die Gottunmittelbarkeit des Menschen, so dass im Jesusereignis tatsächlich Gott erfahren wird. Der Zugang zu Gott ist durch einen Menschen den Menschen eröffnet und nicht durch einen Halbgott, durch ein Zwischenwesen. b) Auf die Einheit in der Vielheit, so dass Gott sich nicht in Halbheiten aufsplittert; ein Gott zweiter Ordnung existiert nicht (…) c) Auf die Verflochtenheit Gottes mit dem eintretenden Ereignis. Die Geschichte ist der Ort der Gotteserfahrung. Im Geschehen selbst, das den Menschen widerfährt, leuchtet Heil auf“ (2001, Bd. I, S. 338 f.). Die Tragfähigkeit und Bedeutung des Begriffes „homoousios“ liegt somit zusammenfassend für Hasenhüttl in Folgendem: „Man kann von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ‚ousia‘ ausgehen. Hier handelt es sich um die wirksame Gegenwart letzter Wirklichkeit. Jesus Christus ist der Ort, an dem die Anwesenheit des Göttlichen erfahren wird, wobei keine historische Fixierung gemeint ist, sondern: Wo die Identität von Theorie und Praxis gelebt wird (exousia) und die Identifikation mit den Mitmenschen geschieht (Für-uns), da ist Gott anwesend. Diese Gegenwart kann nicht mehr gesteigert werden, denn der ‚höchste‘ Gott ereignet sich.
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Jesus Christus zeigt die Existenzform dieser Wirklichkeitserfahrung an. Die Vollmacht (exousia) vermittelt die Erfahrung der Anwesenheit (parousia) Gottes bei den Mitmenschen in der Gegenwart (ousia). In diesem Geschehen sind Mensch und Gott gleich anwesend (homoousios). Dem Menschen ist in dieser erfüllten Gegenwart die Epiphanie (epiphaneia) des Göttlichen geschenkt“ (2001, Bd. I, S. 341). Analog zu Hasenhüttls Vollmachtsverständnis im Kontext des historischen Jesus wird also mit diesem Begriff eine Befreiung nicht von Gott intendiert, sondern eine Befreiung gegenüber Gott: „Er wird nämlich nicht mehr als ein Gegenüber verstanden, sondern in jesuanischer zwischenmenschlicher Erfahrung kann Gottes Wirklichkeit präsent werden“ (ebd., S. 343). Bei allem Verständnis für die Position des Arius verteidigt Hasenhüttl hier eindeutig den auf dem Konzil von Nicäa formulierten Glauben der Kirche. Die Herabsetzung Jesu Christi zu einem („vor aller Zeit“) geschaffenen Mittlerwesen, wie es Arius annahm, und der Versuch des Konzils von Nicäa, mithilfe des Begriffs „homoousios“ Mensch und Gott – wenn auch nur in dem Spezialfall Jesus Christus – zusammenzudenken und dadurch wahrhaft Göttliches beim Menschen Jesus auszusagen, führte in der differenzierten weiteren theologischen Diskussion zu einem dem Ansatz des Arius entgegengesetzten Deutungsmodell: der Vernachlässigung der menschlichen Dimension Jesu Christi. Exemplarisch steht dafür die Konzeption des Philosophen und Bischofs Apollinaris von Laodicea (ca. 315– ca. 390). Dabei ergibt sich eine Verlagerung der Fragerichtung: „Wurde bisher nach der Erfahrung einer göttlichen Wirklichkeit im menschlichen Dasein (die Leiblichkeit eingeschlossen) gefragt, so wird bei Apollinaris danach geforscht, wie sich Gott und Mensch in Jesus Christus zueinander verhalten. Kann Gott in einem ganzen Menschen (Leib, Seele, Verstand, Wille) anwesend sein (ousia haben) oder wird der Mensch von Gott absorbiert, aufgesogen?“ (2001, Bd. I, S. 343). Voraussetzung der Position des Apollinaris ist seine Deutung Gottes und des Menschen als zwei in sich seiende und jeweils in sich abgeschlossene Wesenheiten. Beide können nicht zu einer einzigen Wesen verbunden werden – entweder liegt Göttlichkeit oder Menschlichkeit vor. Eine vollgültige Erfahrung des Göttlichen im Menschlichen wird deswegen ausgeschlossen. Sowohl Gott als auch Mensch werden dabei als fixe Gegenstände, als „Objekte“ verstanden, auch wenn diese Objekte dann als „Subjekte“ (Gott, Mensch) gedeutet werden. Vorausgesetzt wird damit, dass sich weder Göttlichkeit noch Menschlichkeit erst im Vollzug konsti-
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tuieren. Sie werden vielmehr beide letztlich als monolithische, feststehende Größen gedeutet. Zwei unterschiedliche „Objekte“ können aber nicht eins werden. Deswegen erfolgt hier die radikale Abwertung der Menschlichkeit Jesu Christi. So ist „der Mensch in seinem Wesen nur Organ für die Gottheit. Er hat keinen Eigenstand vor Gott (…) Weil also nur von einem Seienden, einer Wesenheit gesprochen werden kann, muss dem Menschen Jesus das Entscheidende fehlen, nämlich was den Menschen zu einem vollkommenen Seienden macht, und das ist der menschliche Verstand (nous), oder besser: Das Prinzip des menschlichen Selbstbewusstseins, also die spezifisch menschliche Seele (…) Die personale Existenz wird aufgesogen von Gottes Persönlichkeit, seinem Logos“ (2001, Bd. I, S. 345). Jesus ist somit der einmalige Sonderfall, in dem sich der an sich seiende Gott zeigt und handelt. Er hat zwar einen Leib und eine Seele, es fehlt ihm aber der „nous“, der eigenständige Selbstvollzug des Menschen, wie Apollinaris mit den Kategorien des Aristoteles sagt. Diese Vernachlässigung des Menschen Jesus beruht bei Apollinaris auf metaphysischen Voraussetzungen, die – voneinander abhängig – sowohl die Rede von Gott als auch diejenige vom Menschen betreffen: „Gott wird nicht von seiner Präsenz (ousia), nicht vom Geschehen und Ereignis her gedacht. Gott ist ein in sich geschlossenes vollkommenes Wesen. Er wird losgelöst von menschlicher Erfahrung definiert und als ein Seiendes mit dem Menschen in Beziehung gebracht. Dieser Gott als in sich Seiendes saugt durch seine Selbstpräsenz den Menschen auf. Je näher die Begegnung, umso weniger Selbststand und Freiheit kommt dem Menschen zu. Gott wird als eine absolute Größe gesetzt (…) Der Ausgangspunkt ist nicht der Gott für die Menschen, sondern Gott in sich, der eine bestimmte Beziehung zu den Menschen aufnehmen kann. Von Gott reden heißt nicht mehr vom Menschen reden, sondern zwei Wesenheiten in sich stehen sich gegenüber“. Dies hat gravierende Folgen für ein Menschenbild, das die gesamte nachfolgende christliche Theologiegeschichte weitgehend prägt und dessen Alternative Hasenhüttl in der Rezeption von Scheler und Bultmann ausführlich beschrieben hat: „Der Mensch wird nicht mehr von seinen Vollzügen her begriffen, sondern statisch als eine bestimmte Wesenheit gesehen. Der Mensch wird nicht im Vollzug und entwirft nicht sein Wesen, sondern seine Natur (physis) ist ihm vorgegeben“ (2001, Bd. I, S. 347). In der Tradition des Apollinaris wurde somit ein Gottes- und Menschenbild formuliert, das die Bedeutung Jesus Christi als „in sich“ vor-
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gegeben sieht. Der Mensch als gläubiger Christ adaptiert diesen einmaligen und insofern ungeschichtlichen Sonderfall, ohne dass seine eigene geschichtlich und kommunikativ vermittelte Erfahrung angesprochen wird. Wahrheit zeigt sich nicht in der Begegnung, sondern muss als Vorgabe übernommen (in diesem negativen Sinne: geglaubt) werden. Zwar spricht das Konzil von Konstantinopel 381 als Reaktion auf Apollinaris von der Eigenständigkeit des Sohnes und fügt in das in Nicäa formulierte Glaubensbekenntnis ein: „und seines Reiches wird kein Ende haben“. Es bleibt aber trotz dieser Ergänzung und dem Bemühen, die Eigenart der Existenz Jesu zu betonen, letztlich bei den gleichen metaphysischen und insofern ungeschichtlichen wie erfahrungslosen Voraussetzungen wie Apollinaris selbst: Wie können zwei an sich seiende Wesenheiten nachträglich vermittelt werden? Ungeklärt bleibt zudem in der nachfolgenden Diskussion die Frage, wie Gott und Mensch sich in Jesus Christus zueinander verhalten können, ohne dass dieser eine Mensch gleichsam in zwei Personen zerfällt. Diese Frage konnte nach Hasenhüttl überhaupt nur deswegen entstehen, weil sowohl Gott als auch der Mensch als letztlich „objektiv“ in sich seiende Wesenheiten verstanden werden. Die in der Alten Kirche bedeutenden theologischen Schulen von Antiochia und Alexandria bilden zur Beantwortung dieser Frage je eigene Lösungsansätze aus. Sprachspiele haben in ihrem jeweiligen Kontext ihre je eigene Plausibilität. Problematisch wird es, wenn Vertreter des einen Paradigmas auf Vertreter des anderen stoßen. Dies geschieht, als der um 381 n. Chr. in Antiochien geborene Mönch und Prediger Nestorius (gest. um 451) zum Bischof von Konstantinopel berufen wird. Im Gegensatz zu Apollinaris legt Nestorius großen Wert auf das Menschsein Jesu. Nach Hasenhüttl ist es bei Nestorius besonders die Freiheit, die einen Menschen konstituiert. Wie aber ist diese Freiheit im konkreten Menschen Jesus Christus möglich, wenn er zugleich Gott genannt wird? Könnte sich Jesus zum Beispiel in seiner Freiheit auch gegen Gott entscheiden? Die Schule von Antiochia sprach daher von zwei Personen, die aber in Jesus als dem einen Herrn zugleich verehrt werden. Trotz der metaphysischen Voraussetzung liegt für Hasenhüttl gerade darin ein wegweisender Gedanke: „In der Beziehung auf den Glaubensvollzug der Gläubigen also wird die Einheit von Jesus Christus hergestellt. Die Einheit zwischen Gott und Mensch besteht im Bezug auf den gläubigen Menschen. Wenn Menschen bejahen, dass in Jesus Christus Gott begegnet, ist
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die Einheit hergestellt (…) Im Tun an dem Geringsten ist Christus und damit Gott gegenwärtig. Der glaubende Vollzug des Menschen vermittelt Gotteserfahrung, die symbolisch an Jesus Christus zu erkennen ist“ (2001, Bd. I, S. 349). Neben der philosophischen Begrifflichkeit und den unterschiedlichen theologischen Schulen sind es oft auch die politischen Rahmenbedingungen oder sogar die Geografie, die eine maßgebliche Rolle dabei spielen, welche Position sich durchsetzt und mit welchen Bildern sie beschrieben wird. Die antike Hafenstadt Ephesus war der Ort der Verehrung der Fruchtbarkeitsgöttin Artemis. Bereits Paulus hatte Konflikte mit den Silberschmieden, die kleine Bildnisse dieser Muttergöttin herstellten und verkauften. In diesem matriarchal geprägten Umfeld fokussierte sich im Kontext der Diskussion um Nestorius die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Mensch in Jesus Christus auf die Frage, ob Maria Gottes-, Christus- oder Menschengebärerin genannt werden könnte. Die scheinbar mariologische Frage hatte somit letztlich ein christologisches Fundament: Hat Maria nur den menschlichen Anteil von Jesus Christus geboren („Menschengebärerin“: anthropotokos), oder hat sie wie in der antiken griechischen und römischen Götterwelt einen Gott geboren („Gottesgebärerin“: theotokos)? Wird aber nicht durch beide Begriffe die Einheit Jesu Christi auseinandergerissen: entweder Gott oder Mensch? Der Vermittlungsversuch des Nestorius lautete: „Christusgebärerin“ (christotokos). Letztlich verbleiben allerdings alle genannten Vorschläge im Bereich der erfahrungslosen Spekulation. Ausschlaggebend für die Entscheidung in dieser Frage auf dem Konzil von Ephesus 431 war Cyrill (ca. 375/80–444), der Bischof von Alexandria. Sein Interesse galt nicht dem Menschen Jesus, sondern Gott, der in Jesus Mensch geworden ist. Durch diese Menschwerdung ist demnach aus den beiden Naturen („physeis“) in Jesus Christus (Gott-Mensch) eine einzige Natur („physis“) geworden. Dies ist zugleich der Beginn einer neuen Menschheit. Insbesondere die Frage des Nestorius, ob durch diese Untrennbarkeit von Gott und Mensch eingeräumt werden müsse, dass auch Gott ans Kreuz geschlagen wurde und er selbst gelitten hat, verlangte nach einer Antwort. Obwohl Vertreter der Partei des Nestorius noch nicht anwesend waren, einigt sich das Konzil unter dem Druck von Cyrill auf den Begriff der Gottesgebärerin, um die Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus festzustellen: „Für Cyrill stand fest: Jesus Christus ist eine einmalige metaphysische Wirklichkeit (Gottmensch)“. Für Hasenhüttl aber
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bedeutet diese Entscheidung: „Keine Gott-Mensch-Beziehung ist in Jesus Christus, sondern Identität. Erst recht wird diese Einheit nicht durch Anbetung, d. h. durch die Beziehung des Menschen zu Jesus Christus hergestellt, sondern ist ein metaphysisches Geheimnis. Die Kategorie der Beziehung wird radikal ausgeschlossen“ (2001, Bd. I, S. 351). Auch die nachfolgende Diskussion erfolgte nicht ohne politischen Einfluss. Im Zentrum steht der Mönch und Klostervorsteher Eutyches (ca. 387–ca. 454), der großen Einfluss auf Kaiser Theodosius II. in Konstantinopel hatte. Trotz der vorausgegangenen Versuche, die Unterscheidung und Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus durch die Verwendung der philosophischen Begriffe „zwei Naturen“ (menschliche und göttliche) und „eine „Person“ festzuschreiben, formuliert Eutyches etwas anderes: Durch die Verbindung der zwei Naturen in Jesus Christus können man nach dieser Vereinigung nur noch von einer Natur sprechen. Mit einem Bild ausgedrückt: Wie ein Tropfen ganz im Meer aufgeht, so gehe die Menschlichkeit Jesu ganz in seiner Göttlichkeit auf, sie habe keinen eigenen Bestand. 448 verurteilt eine Synode in Konstantinopel Eutyches und exkommuniziert ihn. Auch Papst Leo I. akzeptiert diesen Beschluss. Allerdings beschließen die Anhänger des Eutyches 449 mit Unterstützung des Kaisers in Ephesus auf einer Gegensynode seine Rehabilitierung. Papst Leo I. bleibt bei dem Modell der Zwei-Naturen-Lehre und nennt die Versammlung in Ephesus eine „Räubersynode“. Als 450 Kaiser Theodosius stirbt, verliert Eutyches seinen wichtigsten Förderer. Der Schwager des verstorbenen Kaisers, Markian, tritt die Nachfolge an und sucht wie seine Frau Pulcheria, die Schwester des verstorbenen Theodosius, die Nähe zum Papst in Rom. Dieser stimmt nach langem Zögern der Einberufung eines neuen Konzils zu, das dann 451 unter Teilnahme des neuen Kaisers in Chalkedon nahe Konstantinopel stattfindet. Der am 22. Oktober 451 mit großer Zustimmung beschlossene Text sucht nicht nur eine Antwort auf die konkret durch Eutyches aufgeworfene Frage zu geben, sondern möchte mit einer sehr umfassenden Erklärung, die viele Formulierungen der vorausgegangenen Konzilien aufnimmt, einen endgültigen Schlusspunkt hinter die nun schon mehr als hundert Jahre dauernde Diskussion setzen. Die zentrale Passage lautet: „Ein und derselbe, der einzig geborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt, und unteilbar erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich
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und sich in einer Person und Hypostase vereinigt, der einziggeborene Sohn, Gott, das Wort, der Herr Jesus Christus ist nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern ist ein und derselbe“ (DH Nr. 302, S. 142 f.). Dieser Text schafft es, die lange andauernde Diskussion mit einer formalen philosophischen Begrifflichkeit zu beenden: „Damit war die klassische Christologie, die bis heute ihre Gültigkeit beansprucht, abgeschlossen“ (2001, Bd. I, S. 353). Es bleibt für Hasenhüttl allerdings die Frage, wie dieser Abschluss der Diskussion zu bewerten ist. Nicht die Sprache an sich stößt dabei auf Kritik. Auch mit ihr ließe sich eine Christologie formulieren, in der sowohl die Heilsbedeutung Jesu Christi für den Menschen als auch das Verhältnis von Gott und Mensch erfahrungsbezogen formuliert werden könnte. In Chalkedon aber sieht Hasenhüttl den Aspekt der Bedeutung der Aussagen für das Heil der Menschen als völlig nebensächlich beschrieben: „Es geht nur um das, was Jesus Christus an sich ist. Menschliche und göttliche Natur sind nur mittelbar vereinigt, und zwar in der Person des ewigen Sohnes“. Dies hat gravierende Folgen für die Christologie bis zur Gegenwart: „Damit wird in diesem Denkschema ein für alle Mal die Begegnung mit Gottes Wirklichkeit, seine ereignishafte Gegenwart, auf diesen einen Punkt fixiert. Der metaphysische Jesus Christus ist der Mittler zwischen Gott und Mensch. Die menschliche Erfahrung ist nicht mehr der Ort der Gottesbegegnung. Ein einmaliger Sonderfall, eine einmalige Person wirkt das Heil und vermittelt Gott. Faktisch (…) ist damit ein besonderes Wesen zwischen Gott und Mensch geschaffen, auch wenn sich alle Aussagen entweder auf Gott, oder auf den Menschen verteilen lassen (…) Die Christologie wird als reine Spekulation festgeschrieben“ (2001, Bd. I, S. 353 f.). Bei aller grundsätzlichen Kritik an den verobjektivierenden und erfahrungslosen Aussagen des Konzils von Chalkedon zeigt Hasenhüttls Analyse der vom Konzil verwendeten Begriffe dennoch Möglichkeiten eines Neuansatzes: „Jesus Christus ist nach Chalkedon nur eine Wirklichkeit, eine Existenz, die göttlich ist. Sie stellt sich aber dar als menschlichgöttliche Gegebenheit, Natur. Damit ist erstmalig in der Geschichte die Einsicht in die ontologische Differenz zwischen der Natur (physis) als Vorhandenem, Seiendem und der Wirklichkeit bzw. Existenz (hypostasis) vollzogen worden“. Und das bedeutet: „Die Ereignisse, die uns in der Natur, in den Wesenheiten vorliegen, sind nicht einfach die Wirklichkeit. Existenz (hypostasis) und Natur (physis) sind nicht einfach dasselbe“ (2001, Bd. I, S. 364). Während der Mensch Leib und Seele hat, ist er eine
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Person. Diese personale Existenz lässt sich weder vom Leib noch von der Seele ableiten. Die durch die Rezeption der Entwürfe von Scheler und Bultmann entwickelten anthropologischen Grundlagen kann Hasenhüttl hier am Modell Jesu Christi und mit der auf dem Konzil von Chalkedon verwendeten Begrifflichkeit anwenden: „Menschsein heißt konkret Selbstvollzug, heißt existieren als Wirklichsein. Im Denkmodell Jesus Christus wird diese konkrete Existenz als Epiphanie Gottes gedeutet. Darin liegt Christi ganze Existenz und Wirklichkeit. Dabei ist nicht das Erscheinen irgendeines Gottwesens gemeint (…), sondern einer Realität, die sich als göttlich erweist. Konkrete Erfahrung mit dem Wesen Jesu Christi bleibt nicht bei dem Wesen (physis) stehen, sondern transzendiert es auf eine Wirklichkeit hin, die göttlich ist (…). Der Mensch wird so angesprochen, er deutet seine Erfahrung so, dass sie ihn Gott ausrufen lässt“ (2001, Bd. I, S. 364). Erfahrung, die Wirklichkeit konstituiert und erschließt, wird zum Ort wahrer Gottesbegegnung. Diese ist allerdings keine Begegnung mit einem an sich auch vor der Begegnung schon seienden Objekt, das vielfach als Subjekt („Gott-Vater“) gedeutet wird. Ebenso, wie sich auch die Liebe in Vollzug und Praxis des Liebens erst konstituiert, kann in einem stets kommunikativ vermittelten Lebensvollzug, der sich an Jesus Christus orientiert, Heil so erfahren werden, dass die betreffenden Menschen ausrufen können: „Dies ist himmlisch gut, das ist göttlich, es ist Gott“.
5 5.1
Das Ereignis Gott
Der geistesgeschichtliche Rahmen
„Kein Wort, kein Begriff und kein Name wurde so vielfältig in der Geschichte gebraucht wie die Bezeichnung: Gott. Im Namen Gottes wurde gemordet, im Namen Gottes wurde geliebt. Im Namen Gottes wurden Menschen um ihrer Überzeugung willen verfolgt, im Namen Gottes wurde Toleranz gelebt. Im Namen Gottes wurden Herrschaftssysteme sanktioniert, im Namen Gottes wurden Sklaven befreit. Im Namen Gottes wurden Kriege angezettelt, im Namen Gottes wurde Frieden gestiftet“ (2001, Bd. I, S. 387, zur Gotteslehre vgl. auch 1980). Wie also kann unter den soziokulturellen Bedingungen der Gegenwart so von Gott gesprochen werden, dass der Begriff eindeutig wird, und zwar so eindeutig, dass auch Missbrauch aufgezeigt und dadurch möglichst vermieden werden kann? Im Kontext der bisher vorgestellten Ausführungen Hasenhüttls ist dabei zugleich dessen Verständnis vom Vollzugscharakter menschlicher Existenz mit einzubeziehen. Ebenso wird ein auf Erfahrung und Handlung bezogenes Wahrheitsverständnis, das Vergegenständlichung und Verobjektivierung zu vermeiden sucht, gerade bei der Gottesfrage besonders wichtig. Ein Blick in die Theologie- und Philosophiegeschichte kann Vorbilder für einen solchen theologischen Ansatz aufzeigen sowie ähnliche Bestimmungen des Gottesbegriffs benennen. Mögliche Referenzstellen sind dabei in allen drei Grundpfeilern der abendländischen Kultur- und Geistesgeschichte erkennbar: in der Tradition der antiken griechischen Philosophie, in der Tradition der hebräischen Bibel und des Judentums sowie in der Geschichte des Christentums. Später kann der Blick geweitet werden auch auf außereuropäische Modelle von religiöser Praxis und entsprechende Gottesbilder.
5.2 Vom Ereignis zum Objekt – Aspekte des griechischen Gottesverständnisses Das von Jean-Paul Sartre kritisierte Erkenntnismodell von René Descartes, bei dem Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt einander gegenüberstehen, sieht Hasenhüttl bereits in der Entwicklung der antiken grie-
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chischen Philosophie angelegt. Dieses Modell aber hat weitreichende Folgen für das damalige wie für das heutige Gottesverständnis. Wenn es gelingt, die geistesgeschichtliche Entwicklung vor dieser Trennung von Subjekt und Objekt zu beschreiben und die Gründe für ihre spätere Gegenüberstellung zu analysieren, hat dies nicht nur erkenntnistheoretische Konsequenzen, sondern es hat auch grundlegende Folgen für ein verantwortbares Gottesverständnis im Kontext der Moderne und Postmoderne. Sowohl in der Philosophie der Vorsokratiker als auch im – zeitgleich entstandenen – antiken Schauspiel sieht Hasenhüttl eine Rede von Gott, die diesen nicht von der Welt trennt, sondern das Göttliche als Ausdruck konkreter menschlicher Erfahrungen bestimmt. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass „theos“ ursprünglich nicht als ein in sich seiender Gott verstanden wird, der Welt und Mensch gegenübersteht. „Gott“ ist hier vielmehr Prädikat oder Qualifizierung dessen, was dem Menschen begegnet, was er in der Begegnung erfährt und durch die Erfahrung deutet. Begegnungen hat der Mensch auf vielfältige Art: mit Gegenständen, mit Schicksalsschlägen im eigenen Leben oder dem anderer und besonders im Zusammensein mit anderen Menschen. Gott als Prädikat solcher Begegnungen kann nicht angerufen oder angebetet werden, sondern nur als Kennzeichen dieser Begegnungen ausgerufen werden. Eine Hochform dieser Prädikation erkennt Hasenhüttl in einem bei Plinius dem Älteren (ca. 23–79) im ersten Jahrhundert n. Chr. überlieferten Spruch: „Deus est mortali iuvare mortalem“ (zitiert nach 2001, Bd. I, S. 422): Dort, wo der Mensch dem Menschen beisteht, da ist Gott. „Gott“ fungiert hier als Beschreibung dieser kommunikativen Erfahrung. Ähnlich lässt der griechische Dramatiker Euripides (ca. 480–406 v. Chr.) im fünften vorchristlichen Jahrhundert seine Figur Helena im gleichnamigen Schauspiel ausrufen, als diese unerwartet ihren Gatten trifft: „Es ist ‚theos‘, wenn die Freunde sich wieder erkennen“ (vgl. 2001, Bd. I, S. 421). Die vorsokratischen Naturalisten, die als letzte Bausteine der Welt ewige und nicht mehr teilbare Atome annahmen, brauchten bei ihren Gedanken zur Entstehung von Welt und Kosmos nicht auf einen göttlichen Schöpfer zurückgreifen. Materie ist ihnen ewig. Trotzdem gebrauchten auch sie dort, wo es um den Sinn der durch Erfahrung erschlossenen Welt geht, das Prädikat „theos“ (vgl. ebd., S. 429). Dies ist durchaus vergleichbar mit der Bestimmung des Gottesreiches in den Gleichnissen des Neuen Testaments: Wo Menschen füreinander da sind, da ereignet sich Göttliches, da ist der Bereich Gottes. Nicht um eine
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Das Ereignis Gott
Vergöttlichung des Menschen geht es dabei, wie bei der Divinisierung der römischen Kaiser. Der Mensch bleibt Mensch in all seiner Ambivalenz und erfährt doch gerade inmitten dieser Zweideutigkeit in der Begegnung eindeutig Gutes. Nicht machbar oder gar technisch-instrumentell herstellbar ist diese Erfahrung. Sie ist und bleibt Geschenk, theologisch gedeutet: Sie ist Gnade. Dabei darf allerdings nicht verobjektivierend gefragt werden, wer denn die Ursache oder das schenkende Objekt eigentlich ist, das meist als ein göttliches Subjekt verstanden wird. Dadurch würde die konkrete Begegnung verlassen und deren Sinn auf einen Grund verlagert, der außerhalb der Begegnung angesiedelt ist. Zudem würde sich dann die besonders in der christlichen Theologie immer wiederkehrende Frage der Theodizee stellen: Warum beschenkt der außen- oder gegenüberstehende Gott die einen, während er die anderen leer ausgehen lässt? Demgegenüber formuliert Hasenhüttl: „theos hat keine weltjenseitige Existenz, sondern ereignet sich im konkreten Geschehen. Da ist er real für den Menschen erfahrbar“ (2001, Bd. I, S. 422). Damit wird der Augenblick oder allgemein die Gegenwart zum wichtigsten Aspekt der Zeit, mit weiteichenden Folgen für die Existenz des Menschen: Im Hier und Heute ist der Lebensort des Menschen. Er lebt nicht an die Vergangenheit gebunden und ist auch nicht in eine bereits verplante Zukunft eingespannt. Vergangenheit ist vielmehr ein Reservoir bereits gemachter Erfahrungen. Diese binden den Menschen nicht, sondern beinhalten das Angebot, sie unter den Bedingungen der Gegenwart in ganz neue Erfahrungen zu verwandeln. Zukunft ist dann der offene Horizont des Lebens, das der Mensch verantwortungsvoll und sozial gestalten darf und im Hinblick auf eine menschenfreundliche Lebensmöglichkeit für die Nachkommen auch entsprechend gestalten muss. Dieser offene Horizont ist stets offen für Neues, Überraschendes, das dann wiederum positiv als göttlich, als „himmlisch gut“ qualifiziert werden kann. Mit seinem Blick auf die griechische Antike erkennt Hasenhüttl, dass die grundsätzliche Zweideutigkeit des Menschen und seiner ihm begegnenden Lebenswelt nicht aufgehoben und zu einer bleibenden Eindeutigkeit verklärt werden kann. Der Mensch lebt im antiken griechischen Denken – wie es ebenfalls das biblische Bild sagt – „jenseits von Eden“. Das Versprechen eines „Himmels auf Erden“ übertüncht nicht nur die Erfahrungen von Not, Leid, Unterdrückung und Tod, sondern es kann auch vom konkreten Einsatz des Menschen zur Verbesserung konkreter Lebensverhältnisse abhalten. Die besonders bei Heraklit (ca. 520–ca. 460
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v. Chr.) zu findende Beschreibung der Lebenswirklichkeit des Menschen als „Dämon“ bringt diese grundsätzliche und nicht zu beschönigende Zweideutigkeit des Menschen anschaulich zur Geltung. Der Begriff „Dämon“ wird hier verstanden als Prädikat, als Lebensbeschreibung des Menschen. Nicht ein Dämon als Person, Geist oder unabhängige Kraft hinter der Lebenswirklichkeit ist Ursache von Glück und Leid, sondern das Leben selbst ist dämonisch, zweideutig. Auch teilt nicht eine Vielzahl von Dämonen dem Menschen die Vielfalt seiner Begegnungen oder Schicksale zu. Vielmehr gilt: Wie Gott, „theos“, Ausdruck der Erfahrung gelingenden Lebens in den „Hoch-Zeiten“ des Lebens ist, so ist „Dämon“ charakteristisches Merkmal menschlicher Existenz. Alle Geschehnisse sind zweideutig; selbst ein Kuss kann zum „Judaskuss“ des Verrats werden. Für das Prädikat „theos“, „Gott“, aber gilt nach Hasenhüttl: „Niemals wird jedoch Gott zu einem allgemeinen Prädikat, so dass jede Liebe und jedes Handeln automatisch durch Gott qualifiziert würde, sondern nur das, was je und je geschieht und als etwas erfahren wird, das zur Rede von Gott veranlasst. Der Mensch ist ‚überwältigt‘, und der adäquate Ausdruck für diese Erfahrung ist der Ausruf: Gott“. Ist „Gott“ aber Prädikat einer den Menschen zutiefst berührenden guten Erfahrung – im Idealfall der Erfahrung von menschlicher Liebe –, dann kann Hasenhüttl zusammenfassend sagen: „Gott ist Bestimmung des Menschen im Umgang mit dem Ereignis“ (2001, Bd. I, S. 422 f.). Das bedeutet: „Gott ist die dem zweideutigen Menschen geschenkte Eindeutigkeit, die sich im Umgang mit dem Ereignis erschließt, sich als gut und mächtig erweist, so dass sich der Mensch als beschenkt erfährt. Gott ist die Bestimmung des werdenden Menschen, der das Werden mitmacht. Gott ist das Plus vor dem menschlichen Dasein, das dieses menschlicher macht“ (ebd., S. 450). Der Begriff „Gott“ wird somit stets handlungsbezogen verwendet. Er ist eine Vollzugswirklichkeit wie die mit ihm gleichgesetzte Liebe. Sein Wesen ist nicht vorgegeben, sondern es ist im Werden und konstituiert sich als Ausdruck gelingenden Lebens stets neu unter den veränderten Bedingungen der menschlichen Existenz. Mensch und Gott stehen sich dadurch nicht gegenüber, wie bei Descartes das Erkenntnissubjekt und das Erkenntnisobjekt. Im Wechsel der konkreten Erfahrung bleibt das Positive und dadurch das den Menschen Überwältigende, wie dies eben auch von wahrer Liebe ausgesagt werden kann. Hasenhüttl greift mit dieser inhaltlichen Füllung des Gottesbegriffs das Thema auf, das ihn seit seiner Arbeit über
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Das Ereignis Gott
die Existenzialanalyse bei Rudolf Bultmann beschäftigt: „Gott als Ereignis (…) der wahre Gott ist freie Beziehung“ (1963a, S. 120). Die Vielfalt der menschlichen Erfahrungen und somit auch die Vielfältigkeit, in der es dem Menschen möglich ist, Gott als Prädikat auszusagen, führten zur Ausprägung eines vielgestaltigen Polytheismus. Einzelne Götter standen für die vielfältige Gotteserfahrung in unterschiedlichen Begegnungen. Dem weit gereisten Xenophanes (ca. 570–ca. 470 v. Chr.) allerdings schien diese Erfahrung dem Gottesgedanken abträglich: Wenn Götter die Ehe brechen wie Menschen, wenn sie in Hautfarbe und Gesichtsform den Menschen ähnlich sind, die sie verehren, dann scheint ihm eine reine Projektion vorzuliegen. Überspitzt gesagt: Wenn Kühe und Pferde Götter hätten, dann hätten diese eben auch die Form von Kühen und Pferden. So einsichtig diese Kritik des Xenophanes an einem überbordenden Götterhimmel auch sein mag, so problematisch ist nach Hasenhüttl dessen alternativer Lösungsversuch. Wie bereits Echnaton im alten Ägypten die Vielzahl der Götter auf den einzigen Sonnengott Aton konzentrierte, so liegt auch bei Xenophanes und seiner Kritik des Polytheismus ein Abstraktionsprozess vor. Der damit intendierte monotheistisch konzipierte Gottesbegriff steht aber über und damit außerhalb der Anschaulichkeit und auch Erfahrbarkeit der einzelnen Götter. Er wird als vollkommen, ewig und unveränderlich vorgestellt und dadurch gerade als Gegenbild oder auch als Wunschbild der konkret existierenden Menschen: „Zwei Welten entstehen“ (2001, Bd. I, S. 432 ff.). Gerade dadurch aber wird aber diese Konzeption des Monotheismus viel eher zur Projektion als die Vielfalt der alten Götter, die Orte unterschiedlicher Begegnung und der damit verbundenen Erfahrungen repräsentieren. Inwiefern mit dieser Konzentration auf einen einzigen absoluten Gott auch ein Gewaltpotenzial einhergeht, ist gerade in der neueren Religionsgeschichte vielfach untersucht worden (vgl. z. B. die Thesen des Ägyptologen Jan Assmann, Assmann 1998). Von der Abstraktion des Xenophanes bis zum Lehrgedicht des Parmenides (ca. 520–460 v. Chr.) ist es nach Hasenhüttl nur noch ein kleiner Schritt: Die Welt des Scheins steht dort der Welt der Wirklichkeit und der Wahrheit gegenüber. Wie der Mensch bei einer Bergwanderung den Nebel des Tals zurücklassen muss, um klar sehen zu können, so muss er die Dinge und Handlungen seiner Lebenswelt hinter sich lassen, um das wahre Sein zu erkennen. Dieses Sein ist ewig, ungeworden, unveränderlich. Damit erhält es die Prädikate, die später in der klassischen grie-
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chischen Philosophie und, über diese vermittelt, auch in der christlichen Theologie auf Gott übertragen werden. Das Sein ebenso wie der entsprechend gestaltete Gottesbegriff werden damit allerdings ungeschichtlich, erfahrungslos. Sie werden beide zu einem reinen Postulat, das als Hypothese Welt und Mensch erklären und deuten soll. Die Gegenüberstellung von menschlicher und göttlicher Dimension erreichte dann in Platons (427–347 v. Chr.) Ideenlehre ihren Höhepunkt. Zwar wird Gott dort mit der Idee des Guten identifiziert. Jede konkrete Erfahrung des Guten aber verdankt sich bei Platon einer Ableitung aus dieser Idee. Sie wird nicht um ihrer selbst wahrgenommen, sondern als Wirkung dieser vorausgehenden und ewigen Idee: „Die Idee des Guten ist unwandelbar, und so ist auch Gott keinem Wandel unterworfen. Ein solcher Gott kann nie und nimmer ein Mensch werden, denn Gott ist von den Ereignissen der Welt getrennt und als Ursache von ihnen abstrahiert. Gott ist der Gute, Eine – nur ein Gutes ist denkbar – und unveränderlich. Da das Gute über dem Sein steht, ist Gott das ‚Überseiende‘“ (2001, Bd. I, S. 436). Das damit verbundene Problem zeigt sich besonders bei der Darstellung der Liebe. Diese wird von Platon als Eros beschrieben. Dieser Eros steht zwar in der Nähe des Göttlichen, aber als Dynamik zum anderen hin zeigt er, dass er auf anderes angewiesen und somit nicht vollkommen ist: „Weil Gott das Gute ist, kann er nicht lieben. Würde er lieben, würde er sich verändern. Wäre Gott die Liebe, würde er eine verminderte Seinsweise und bedürftig sein. Gott wäre nicht mehr Gott“ (2001, Bd. I, S. 436 f.). Gott wird somit nicht in der Welt und in den menschlichen Bezügen erfahren, sondern er steht diesen gegenüber: „Damit ist der entscheidende Schritt zur Vergegenständlichung und Verobjektivierung Gottes im abendländischen Denken getan. Dieser Gott, der keine unmittelbare Wirklichkeit im Ereignis des Weltgeschehens ist, der also nicht erfahrbar und nicht wirklich gegenwärtig ist, braucht eben einen Beweis. Er wird als Ursache des Soseins der Welt bewiesen. Gott ist Ursache und Grund für den Sinn in unserer Welt“ (2001, Bd. I, S. 439). Mit letzter Konsequenz versucht dann Aristoteles (384–322 v. Chr.) Beweise für die Existenz Gottes aufzuzeigen. Bedeutsam ist allerdings, dass Aristoteles wie sein späterer christlicher Schüler Thomas von Aquin immer von der sinnlichen Erfahrung ausgeht – was von vielen, die sich auf seine Philosophie berufen, häufig vernachlässigt wird. Diese sinnliche Erfahrung kennt zum Beispiel die Bewegung und weiß, dass sich nichts bewegt, was nicht zuvor bewegt wurde – zumindest gilt dies in dem physika-
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lischen Weltbild, mit dem sowohl Aristoteles als auch Thomas ihre sinnlichen Wahrnehmungen deuten. Wenn aber alles eine Ursache, jede Bewegung eine sie verursachende Bewegung hat, wie beim Spiel mit Dominosteinen, dann würde dies eine nicht enden wollende Kette von Ursache und Folge, von Bewegendem und Bewegung bedeuten. Da aber nur die Gestirne, wie der frühe Aristoteles meint, eine solche Kreisbewegung ohne Ende vollziehen, andere wahrnehmbare Bewegungen aber linear verlaufen, braucht es für diese Bewegung einen ersten Bewegenden. Dieser darf nicht selbst bewegt sein, da sich sonst die Frage nach dem Initiator dieser seiner eigenen Bewegung stellen würde. Diesen ersten unbewegten Beweger und damit den ersten Grund von allem, der selbst keiner Begründung bedarf, nennt Aristoteles „Gott“. Damit ist allerdings nicht Gott als Schöpfer gemeint. Materie braucht nach Aristoteles nicht erschaffen zu werden, sie ist ewig. Hätte Gott die Welt geschaffen, wäre er dadurch zum Schöpfer geworden und hätte sich somit verändert. Dies aber widerspräche seiner Unveränderlichkeit. Der ewige Gott aber ist und bleibt die Ursache der ewigen Materie und deren ewiger Bewegung. Es bleibt dennoch auch hier systemimmanent die Frage, ob sich ein solcher UrsachenGott nicht auch infolge dieser Verursachung verändert hat. Auf ähnliche Weise nimmt Aristoteles auch seinen Beweis aus dem Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit vor. Jeder Gegenstand und Mensch ist eine Konkretion einer ihm zugrunde liegenden Möglichkeit. Kein konkreter Tisch verwirklicht das Tischsein so, dass alle Möglichkeiten erfüllt wären. Nur bei Gott decken sich Wirklichkeit und Möglichkeit. Jede Wirklichkeit hat zudem ein Ziel, auf das hin sie sich entwickelt. Jedes Samenkorn hat das konkrete Ziel seiner Verwirklichung in einer Pflanze. Jede Entwicklungsstufe ist ein Schritt zu diesem vorgegebenen Ziel. Nur bei Gott werden Wirklichkeit und Ziel als identisch gesehen. Was Gott als Ziel ist, war und ist bereits in seiner Existenz verwirklicht. Von allen aristotelischen Gottesbeweisen gilt – ebenso wie von allen späteren Versuchen, Gottes Existenz rein kognitiv zu beweisen –, dass sie nur vor dem Hintergrund des jeweiligen Weltbildes verstanden werden können, in dessen Rahmen sie formuliert wurden. Wird zum Beispiel anstelle eines physikalischen ein energetisch-dynamisches Weltbild zugrunde gelegt, erübrigen sich viele Argumentationsbemühungen. Wenn ewige Bewegung vorausgesetzt wird, wie bereits bei Heraklit oder im gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Denken (vgl. die Grundlagen der Chemie oder der Energetik), dann stellt sich die Frage, wie Bewegung entsteht, erst
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gar nicht. In diesem dynamisch-energetischen Denken bildet sich vielmehr die Frage, wie trotz der unzähligen molekularen Bewegungen Ruhe, das heißt beispielsweise Stabilität, erreicht werden kann. In diesem Zusammenhang laufen auch die auf Aristoteles zurückgeführten Gottesbeweise ins Leere. Grundsätzlich aber gilt nach Hasenhüttl für das Paradigma aristotelischer Gottesbeweise: „1. Dass Gott und menschliche Erfahrung unmittelbar nichts mehr miteinander zu tun haben, sondern durch abstraktlogische Denkvorgänge vermittelt werden. 2. Dass Gott vom begründenden Denken allein erfasst und so als Begründungshypothese eingesetzt wird. Es ist ein ätiologischer Gottesbegriff, der jede Erfahrbarkeit ausschließt. Gott ist nur auf syllogistischem Weg zu erreichen, und zwar mittels eines metaphysischen Kausalprinzips“ (2001, Bd. I, S. 446). Gott wird so nicht mehr als ein erfahrbares Ereignis gedeutet, sondern er wird zum beweisbaren Objekt, auch wenn dieses als Subjekt („Gott Vater“) beschrieben wird.
5.3 Zwischen Herr-Gott und Befreiungserfahrung – Aspekte des alttestamentlichen Gottesverständnisses Die Komplexität des alttestamentlichen Gottesverständnisses trägt wie jede Rede von Gott die Signatur ihrer Entstehungsgeschichte. Dabei ist es bis heute für viele problematisch zu sehen, dass jedes Gottesverständnis, und damit auch das jüdisch-christliche, überhaupt eine Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte hat. Dies gilt auch für ein scheinbares Grunddogma, das erst gegenwärtig in Exegese und Religionswissenschaft relativiert wird: den Monotheismus im Judentum und Christentum. Hasenhüttl weist auf Versuche zu Beginn des 20. Jahrhunderts hin, den Monotheismus als ursprünglich aufzuzeigen, während polytheistische Gottesbilder als sekundär, wenn nicht sogar als Abfall vom vermeintlich vorausgegangenen monotheistischen Verständnis gedeutet werden (vgl. 2001, Bd. I, S. 451). Seine grundsätzliche Anfrage an monotheistische Konzeptionen gilt auch dem Alten Testament: Ist die in einem langen Prozess und unter Einwirkung vielfältiger Faktoren entstandene Form des Ein-Gott-Glaubens nicht auch eine Vernachlässigung der Vielfalt der Lebensdimensionen, von denen Gott ausgesagt werden kann? Führt dies nicht zu Erfahrungslosigkeit und Verobjektivierung? Allerdings zeigt das Verbot einer
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Das Ereignis Gott
bildlichen Fixierung Jahwes und seine in den dynamischen Bildern von Wolke und Feuersäule symbolisierte Darstellung in der Erzählung vom Auszug aus Ägypten, dass innerhalb der alttestamentlichen Texte auch gegenläufige Tendenzen gegenüber dieser Gefahr einer Verobjektivierung aufzufinden sind. Ebenso verhindert die Abkehr vom Totenkult der benachbarten Kulturen ein Verhaften in der Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart und Zukunft. Das biblische Verbot von Menschenopfern trägt gleichfalls zur Humanisierung des Gottesbildes bei, wie auch die menschliche Fruchtbarkeit nicht mehr wie in den Kulturen Kanaans vergöttlicht und dadurch verzweckt wurde. Die für Hasenhüttl zentrale Dimension der Freiheit sieht er allerdings in der alttestamentlichen Rede von einem „Herr-Gott“ vernachlässigt. Jahwe trägt oftmals die Züge eines orientalischen Potentaten: eines eifersüchtigen Gottes, der seine Feinde rigoros vernichtet, wie es besonders im Kampf seiner Propheten mit den Priestern des Baal deutlich wird (vgl. 1. Kön. 18 und 2. Kön. 10,18 ff.). Jahwe ist auch „Herr und Führer, der im Kampf mit auszieht und die Heidenstämme unnachgiebig ausrottet. Der heilige Krieg, den Israel unter Gottes Kriegsherrschaft führt, bedeutet Tod und Untergang für alles, was dem Herrn nicht zu willen ist. Jahwe, der Herr ist Gott“ (2001, Bd. I, S. 458). Da diese Texte erst geschrieben wurden, als Israel sich bereits in der Sicherheit des verheißenen Landes befand, kann Hasenhüttl fragen, ob hier nicht Erzählungen aus der Vergangenheit gegenwärtige Machtverhältnisse und Machtansprüche legitimieren sollten. Es bleibt die Erkenntnis: „Die vielen Vorstellungen über den einen Jahwe lassen sich nicht harmonisieren, da sie Antworten auf völlig verschiedene soziokulturelle Situationen sind. Und die jeweilige dominierende Gottesidee wirkt wieder zurück auf das geschichtliche Verhalten der Menschen. Jahwe-El ist also in der Geschichte geworden, er hat gleichsam eine geschichtliche (und z. T. mythische) Theogonie, aus der er mit bestimmten Prädikaten versehen hervorgeht“ (2001, Bd. I, S. 456). Gerade diese Pluralität des Gottesverständnisses bietet Hasenhüttl aber auch Möglichkeiten, in den alttestamentlichen Texten ein befreiendes und auf Erfahrung basierendes Gottesbild aufzuzeigen. Zentral ist ihm dabei zunächst die Geschichte von Jakobs Kampf mit El am Jabbok (Gen. 32,25–32). Der Gottesname „El“ kann dabei eine einzelne Gottheit aus der Vielfalt der Götter, der Elohim, bezeichnen. Hasenhüttl erkennt aber in El auch dessen prädikative Funktion. Jakob fragt den mit ihm Kämpfenden
Aspekte des alttestamentlichen Gottesverständnisses
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nach seinem Namen. Dieser antwortet nicht mit einem aus der Religionsgeschichte bereits bekannten Namen, sondern er nennt umgekehrt Jakob Israel – der mit Gott streitet. El wird insofern ein Attribut Jakobs. Die konkrete Erfahrung mit ihm spricht sich in diesem Namen aus. Diese Erfahrung ist etwas Neues, sie lässt sich nicht mit herkömmlichen Begriffen und Namen beschreiben. Der Ort des Ringkampfes erhält den Namen Penuel und ist ebenso ein Prädikat für die an diesem Ort gemachten Erfahrungen: Gottesgesicht. Wenn sich später das ganze Volk Israel in einer mythologischen Genealogie auf diesen Jakob/Israel gründet und sich nach ihm benennt, dann möchte es die dort gemachten Erfahrungen von Kraft, Beistand, Gottesnähe auf sich als Ganzes beziehen – ohne diese wiederum durch festgelegte Gottesnamen einzuschränken. Dieser El wird nun in der Exodustradition näher bestimmt durch die Bezeichnung „Jahwe“. Dieses Wort ist bis in die Gegenwart in seiner Bedeutung umstritten und hat daher in der Theologiegeschichte immer neue Übersetzungen erfahren hat. Dadurch wird deutlich, dass das mit Jahwe Gemeinte mit keiner vorgegebenen Kategorie abgedeckt werden kann. Hasenhüttl bezieht sich in seiner Deutung auf eine klassische Stelle im Buch Exodus (Ex. 3,13 ff.). Moses fragt wie einst Jakob nach dem Namen Gottes. Hier wie dort erhält keiner eine Antwort, die man traditionell erwarten könnte. Das Wort „Jahwe“ verdankt sich vielmehr einem Tätigkeitswort: Jahwe ist der, der da ist, der präsentisch erfahrbar ist. Der Gottesname ist somit ein Vollzugsbegriff und beschreibt kein vorhandenes Objekt/Subjekt neben anderen im Götterhimmel: „Jahwe ist der gegenwärtige Gott! Er ist wirksam, und zwar in den jeweiligen Ereignissen. Die hilfreiche Nähe Gottes ist in den Geschehnissen da. Gott ist, bedeutet: DaSein. Jahwe wirkt – Mose braucht seinen Namen nicht zu wissen, er muss ihn nicht fassen, ihn nicht unter die Gegebenheiten einreihen können, sondern er wird ihn erfahren, er erfährt ihn. So ist Jahwe wesentlich ein Erfahrungsbegriff“ (2001, Bd. I, S. 462). Jesus wird später in seiner jüdischen Tradition auf die Frage des gefangenen Täufers Johannes, wer er sei, nicht mit traditionellen Deutungsschablonen und fixen Begriffen antworten, sondern auf sein Wirken bei Kranken, Zöllnern und anderen Außenstehenden verweisen (vgl. Mt. 11,2–6). Auf ähnliche Weise erweist sich die Bedeutung und das Wesen Jahwes in der Praxis des Einzelnen sowie des Volkes. Diese Praxis aber ist immer gut, rettend, aus Not und Gefangenschaft befreiend: „Jahwe wird gleichsam zum Gott, indem die Freiheit der Menschen gelebt wird. Jahwe-El wird damit zum soteriologi-
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Das Ereignis Gott
schen Begriff. Exodus, Auszug aus dem Bestehenden, Bedrückenden charakterisieren diesen Gott. Er ist eine Bezeichnung für die wider Erwarten das Unheil aufhebende Erfahrung (…) Diese Befreiungserfahrung ist es, die sich im jüdischen Denken durchsetzt, und daher setzt sich auch der Name dieser Erfahrung durch: Jahwe. Im Geschenk der Freiheit liegt mehr als nur besseres Leben, es bedeutet gleichsam ein neues Leben, das auf den Menschen zukommt“ (2001, Bd. I, S. 464). Insofern ist es verständlich, wenn später im Namen dieses Gottes Widerspruch erhoben wird, als König David ihm ein Haus, einen Tempel bauen will: „Du willst mir ein Haus bauen, damit ich darin wohne? Seit den Tagen, als ich die Israeliten aus Ägypten herausgeführt habe, habe ich bis heute nie in einem Haus gewohnt, sondern bin in einer Zeltwohnung umhergezogen“ (2. Sam. 7,5 f.). Diese Aussage darf nicht im Sinne von Bescheidenheit verstanden werden. Es wird vielmehr ein Paradigmenwechsel ausgesprochen: Jahwe zeigt sich in der Praxis der Befreiung; das Gelingen der Befreiung ist Beweis seiner Anwesenheit. Er ist weder festzulegen noch festzustellen. Die dynamischen Symbole Wolke und Feuersäule charakterisieren ihn. Jetzt aber soll er durch den Tempelbau gleichsam festgelegt, seine Existenz festgestellt werden in seiner Wohnung im Tempel. War er bisher Ausdruck der Befreiungserfahrung und konnte er im Gehen, in der Erfahrung geschichtlich erlebt werden, so muss sich nach dem Tempelbau der Mensch an einen bestimmten Ort aufmachen und dort die rituellen Praktiken des Tempelkultes vollziehen, um Gott nahe zu sein. Jahwe wird dadurch sesshaft. Allerdings gilt auch für den Tempel ein letztes Verbot der Verobjektivierung: Das Allerheiligste enthält keine Statue und kein Götterbild. Objektiv ist es leer, und diese Leere steht für den offenen, stets mit neuen Erfahrungen zu füllenden Bereich des „umherziehenden Gottes“. Insbesondere die alttestamentlichen Propheten wenden sich vehement gegen eine Festlegung Jahwes durch Liturgie und Opferkult im Tempel: „Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie, und kann eure Feiern nicht riechen (…) Lasst lieber das Recht strömen wie Wasser und die Gerechtigkeit wie einen immer fließenden Bach“ (Am. 5,21 und 24). Was hier der Prophet Amos dramatisch einfordert, ist nach Hasenhüttl eine Grundaussage des ganzen Alten Testaments: „Es gibt nur ein gültiges Bild von Gott, und das ist, wie die Propheten stets ermahnen: Dem geknechteten Menschen sein Recht geben, d. h. nur der Mensch (im Befreiungsvollzug) ist Gottes Bild, sonst nichts (…) Der Mensch ist Gottes Bild, keines außer
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ihm ist möglich, alles andere ist Vergegenständlichung, ist Namengebung Gottes, ist ein Über-das-Beschenkt-sein-Hinausgehen in die Dimension hölzerner oder eiserner Vorstellungswelt. Diese lenkt nur vom eigentlichen Bild Gottes ab. Deus hominibus. Gott ist den Menschen, wenn sie ‚Gottes Bild‘ achten“ (2001, Bd. I, S. 466). Die Erfahrung von Befreiung und Heil ist dabei nach Hasenhüttl zugleich Aufforderung und Richtlinie des Handelns. Der Mensch in den biblischen Büchern weiß, „dass er nicht in dem Beschenktsein ausruhen kann, sondern dass dies für ihn eine Forderung ist, der er gerecht werden muss. Seine Erwählung, sein eigenes Beschenktsein fordert ihn heraus, desgleichen zu tun. Wenn er den Auftrag, der aus dem Beschenktsein hervorgeht, nicht erfüllt, kann es geschehen, das Jahwe-El nicht mehr gegenwärtig ist, dass zukünftige Ereignisse gottlos werden und dass er in der Leere und Bedürftigkeit lebt“ (2001, Bd. I, S. 465). Folgerichtig werden dann durch die Propheten auch äußere historische Ereignisse wie das Exil Israels in Babylon als in der Geschichte wirksame Strafen für den Abfall von dieser Sozialverpflichtung der eigenen Befreiungserfahrung gedeutet. Das „Hohelied“ des Altes Testaments, in dem wortwörtlich nie von Jahwe die Rede ist, wird für Hasenhüttl ähnlich wie für Rabbi Akiba (ca. 50–ca. 137) zum „Allerheiligsten“ des jüdischen Gottesverständnisses: „Gottes Sein geht in die menschliche Erfahrung ein. Er qualifiziert den Menschen in seinem geschichtlichen Leben als Bejahtsein. Der Mensch, durch Jahwe bestimmt, ist als Liebender gefordert. Diese Erfahrung konstituiert grundlegend den Jahwe-El, macht seine Bedeutung aus und ermöglicht seine Durchsetzung gegen andere Gottesvorstellungen“ (2001, Bd. I, S. 472).
5.4
Die christliche Deutung der Gotteserfahrung
Kennzeichen und Spezifizierung der Gotteserfahrung im Neuen Testament und in der sich daran anschließenden theologischen und gesamtkirchlichen Diskussion ist die Art und Weise, wie Jesus von Nazareth diese Gotteserfahrung eröffnet und vermittelt. Da Erfahrungen immer von konkreten Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit und auch Widersprüchlichkeit gemacht werden, kann auch bei der Rede von Gott im christlichen Kontext keine Homogenität und Einheitlichkeit erwartet werden. Für Hasenhüttls primäres Interesse an der Freiheit des Menschen ist
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Das Ereignis Gott
es bedeutsam, dass im Kontrast zum durchaus ambivalenten Gottesbegriff des Alten Testaments (zwischen „Herr“ und Befreiungserfahrung) im Neuen Testament verstärkt der Aspekt einer Humanisierung im Sinne von Herrschaftsfreiheit anzutreffen ist. Kennzeichen dafür ist bereits die Übertragung des „Kyrios“-Titels auf Jesus. In der griechischen Übersetzung des hebräischen Alten Testaments wurde dieser Titel als Ausdruck für Jahwe verwendet, dessen Name nicht ausgesprochen werden durfte. Dadurch erhält der Titel nach Hasenhüttl allerdings auch eine Bedeutungsverschiebung. Es spricht sich in ihm eindeutig Gutes für den Menschen aus. Dieser erfährt sich in der Praxis Jesu als angenommen und verstanden. In den Gleichnissen vom Reich Gottes hört der Mensch von der Umkehr der bisherigen gesellschaftlichen und religiösen Verhältnisse: „Der Ausgestoßene, Verachtete, der körperliche und moralische Krüppel erfährt sich im jesuanischen Geschehen plötzlich [als] akzeptiert. Dem Zöllner und Betrüger gilt auf einmal das Wort, dass diesem Haus Heil widerfahren ist, und die Hure weiß, dass sie vor den Pharisäern ins Himmelreich eingehen wird. Beim Trinkgelage mit Jesus erfährt die unglückliche und weinende Sünderin, dass sie nicht zu verzweifeln braucht, denn sie ist angenommen; ihr Glaube und ihre Liebe, die sie für Verirrungen hielt, haben ihr geholfen“ (2001, Bd. I, S. 478). In diesen konkreten Situationen des menschlichen Lebens wird somit der Bereich Gottes erfahrbar. Hier wird das, was das Wort „Gott“ bezeichnet, als beglückend, befreiend und insofern als eindeutig gut erfahren. Kennzeichen dieses besonderen Gottesverständnisses ist auch die Verwendung der Bezeichnung „abba“, Vater, für Gott, die allerdings bereits in der hebräischen Bibel angelegt war. Dadurch werden die besondere Nähe und die Erfahrung des Umsorgtseins anschaulich ausgesprochen. Aber selbst diese Charakterisierung trägt die Ambivalenz des Vaterbegriffs in sich: Neben der Fürsorge steht hier zugleich auch der Aspekt des Patriarchats. Hasenhüttl erkennt somit die Zweideutigkeit aller verobjektivierenden und scheinbar an sich seienden Bezeichnungen und favorisiert daher den neutestamentlich belegten Ausdruck der Liebe als Gottesbezeichnung. In ihr sprechen sich Erfahrbarkeit und die Möglichkeit der Vermittlung aus: „Gott erweist sich als Liebe; er hat sich als Liebe gezeigt, er wird wieder so erfahren werden, er ist als Liebe da! Das DA der Liebe ist Gotteserfahrung“ (2001, Bd. I, S. 483). Wie bereits in den Schriften des Alten Testaments das Positive der Gotteserfahrung stets mit der Aufforderung verbunden war, das erfahrene
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Heil nicht auf sich selbst oder auf eine Gruppe zu beschränken, sondern letztlich allen anderen Menschen zu eröffnen, so verbindet sich auch hier der Indikativ der erfahrenen Befreiung mit dem Imperativ, diese Erfahrung weiterzugeben. Dies ist keine Theorie oder Behauptung, sondern konkrete befreiende Praxis: „Der Mensch erfährt sich in zwischenmenschlicher Beziehung, im Umgang mit Jesus als beschenkt, bejaht, geliebt. Dies schlägt in ein und demselben Vollzug um, als Forderung andere Menschen das gleiche erfahren zu lassen, sie zu beschenken, zu bejahen und zu lieben; so wird Gott gegenwärtig“ (2001, Bd. I, S. 486). Hasenhüttl kann die neutestamentliche Rede und Praxis von Gott folgendermaßen zusammenfassen: „Gott ist eine Beziehung, die als Geschenk erfahren wird und den Menschen fordert, Mensch zu werden. Pointiert ausgedrückt: Gott ist weder Subjekt noch Objekt. Gott ist aber auch nicht Eigenschaft, Attribut des Menschen, sondern Prädikatio, Aussage von und über den Menschen (…). Er meint also eine bestimmte (bzw. absolute) Relatio unter den Menschen. Gott ist reiner Vollzugsbegriff. Gott als Prädikat ist nur vom Ereignis her zu denken“ (2001, Bd. I, S. 491 f.). In der Tradition der frühen christlichen Konzilien sieht Hasenhüttl ein ständiges Schwanken zwischen einer Vergegenständlichung Gottes und einer auf Erfahrung beruhenden Beziehungstheologie. Exemplarisch dafür ist für ihn die Rede vom Heiligen Geist. Im Umgang Jesu mit den Menschen seiner Zeit zeigt sich der Geist der Freiheit. Dieser Geist ist so sehr ein charakteristisches Kennzeichen des jesuanischen Redens und Handelns, dass er selbst als ein geistvoller Mensch, als ein Mensch mit „Esprit“ bezeichnet werden kann. Die Menschen in der Nachfolge Jesu werden aufgefordert, in diesem Geist ihr Leben und ihre Beziehungen zu den Mitmenschen zu gestalten. Heilig ist dieser Geist dann, wenn damit Gutes, Befreiendes erfahren wird. Da Jesus Christus der Referenzpunkt ist, durch den Menschen bewogen wurden, ihr Leben und Handeln neu auszurichten, geht dieser Geist eben von Jesus aus. Im Glaubensbekenntnis des Konzils von Konstantinopel wurde im Jahr 381 formuliert, dass dieser jesuanische Geist derselbe Geist ist, der bereits durch die Propheten des Alten Testamentes gesprochen hat. Auch in deren befreiender Botschaft spricht sich göttlicher Geist aus. Die Synode von Rom 382 unter Papst Damasus I. (Pontifikat: 366–384) zeigt darüber hinaus, dass dieser Geist immer dort anzutreffen ist, wo geistvoll gelebt und gehandelt wird. Insofern kann diese Synode die sieben Kennzeichen des Heiligen Geistes übernehmen, wie sie bereits beim Propheten Jesaja beschrieben werden:
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Er spricht vom Geist der Weisheit, der Einsicht, des Rates, der Kraft, des Wissens, der Wahrheit und der Gottesfurcht (vgl. DH Nr. 178). Wo immer diese erfahren werden, verdienen diese Erfahrungen das Prädikat „geistvoll“. Allerdings zeigen sich bei Papst Damasus I. auch gegenläufige Tendenzen, die die Rede vom Heiligen Geist stark verobjektivieren. Er wird immer stärker zu einem Gegenstand, zu einem Objekt. So heißt es bei dieser römischen Synode von 382: „Wer nicht sagt, dass es drei wahre Personen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes gibt, die gleich sind, immer leben, alles Sichtbare und Unsichtbare umfassen, alles vermögen, alles richten, alles beleben, alles erschaffen und alles erhalten, der ist ein Häretiker“ (DH Nr. 173). Abgesehen davon, dass hier nicht mehr die Sprache eines Bekenntnisses und eines auf Erfahrung beruhenden Glaubens gesprochen wird, sondern die juristische Sprache des Ausschlusses aus der Gemeinschaft, wird hier inhaltlich alles getan, um die Einheit dreier selbstständiger Objekte („Personen“) zu belegen. Ist es schon problematisch, von Gott als einem Gegenstand zu sprechen, um wie viel schwieriger, wenn nicht unmöglich und sinnlos ist es, von einer numerischen Dreiheit eine Einzahl zu behaupten? Zentral ist in diesem Zusammenhang das Verständnis des Begriffs „Person“. Ursprünglich bezeichnete dieser Ausdruck die Stabmaske im griechischen Theater („prosopon“). Durch sie hindurch sprach der Schauspieler. Die Maske war gerade nicht eine selbstständige „Person“, sondern das Medium der Sprachvermittlung. Erst in der lateinischen Rezeption wurde dieser Begriff als Substanz, als an sich seiende Person gedacht, wobei der Begriff „Person“ den Ursprung des „per-tonare“, des „durch-tönen“ bewahrt hat. Diese Verengung des Begriffs der Person ist allerdings so gravierend, dass Hasenhüttl zustimmend Karl Rahner (1904–1984) zitieren kann, der bezüglich der Trinitätsdiskussion meint: „Ein Begriff dieser Art ist auf jeden Fall für das Glaubenswissen um Vater, Sohn, Geist als den einen Gott nicht absolut konstitutiv. Dieser Glaube kann auch ohne die Verwendung dieses Begriffes bestehen“ (zit. nach 2001, Bd. I, S. 551 f.). Wie aber kann man vom Heiligen Geist so sprechen, dass eine Verobjektivierung vermieden wird und das Reden vom Geist exemplarisch für das gesamte Reden von Gott und dessen Verständnis sein kann? Dass Gott kein „Seiendes“, kein Gegenstand ist, lässt sich nach Hasenhüttl besonders bei der Rede von Gott als Heiliger Geist deutlich herausarbeiten: „Gerade Gott als Hl. Geist will uns verdeutlichen, dass Gott bei uns ist.
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Gott ist Gabe, ist Bestimmung unseres Lebens, ist die schönste Prädikation vom Menschen“ (2001, Bd. I, S. 544). Insbesondere diese Deutung des Heiligen Geistes zeigt: „Gott ist nichts anders als das Uns-bei-Stehen, er ist nicht anders als ‚nur‘ Freundschaft und Liebe. Gott ist Vollzug, relational, Beziehung“. Durch den Geist wird der entsprechende Mensch, von dem Geistvolles ausgesagt wird, „charismatisch bestimmt, er erhält nicht ‚etwas Neues‘, sondern sein einziges, konkretes Leben wird neu bestimmt, wird neu erfahren (…), erhält einen neuen Sinn, der mit Wahrheit und Freiheit bezeichnet wird. Leben ohne Gott ist nicht sinnvoll. Das Leben an sich, a priori, ist absurd. Gott ist als Hl. Geist die Sinngebung des sinnlosen Lebens“. Gerade dieses Verständnis kann Gott sowie seine Konkretion als Heiliger Geist vor Vergegenständlichung bewahren: „So wie Liebe, Freundschaft, Treue usw. nur Beziehung sind und nur sind, wenn sie vollzogen werden, so ist der Hl. Geist nur als eine ‚geschehene‘ Beziehung“ (2001, Bd. I, S. 545). Für Hasenhüttl wird bei der Rede von Gott als Heiliger Geist nochmals deutlich, „dass Gott nicht als in sich seiendes Subjekt verstanden werden kann (…), sondern nur als eine Person-Gemeinschaft. Als Beziehung ist Gott ein ‚reines Verhältnis‘. Er ist nicht der einsame mächtige Potentat, sondern Gemeinschaftsbeziehung. Gott ist so ein Begriff für Solidarität. Da diese nicht durch Über- und Unterordnung geschieht, ist sie Beziehung, die mit Liebe identifiziert werden kann“ (ebd.).
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Der relationale Gott als Aussage vom Menschen
Wenn von Gott gesprochen werden soll, dann muss diese Rede eine Funktion, eine Bedeutung für die entsprechenden Menschen haben. Dies kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen.
Der „Versicherungsgott“ Hasenhüttl beschreibt zunächst das auch gegenwärtig immer wieder anzutreffende Modell eines „Versicherungsgottes“: „Im objektivierenden Denken hat Gott die Funktion, das Vorhandene zu begründen und den Besitzstand zu rechtfertigen. Dieser Gottesbegriff ist eine menschliche Projektion, die erdacht wurde, um eine Sinnvorgabe zu erlangen und die eigene Existenz wie die Welt abzusichern. Gott ist ein Projekt, das die Überwindung des empfundenen Mangels und der unabgegoltenen Sehn-
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süchte sowie den Traum von einem erfüllten, sinnvollen Leben garantiert“. Gegenüber einer solchen scheinbar objektiven Vorgabe, die allerdings gegenwärtig kaum noch vermittelbar ist, entwickelt Hasenhüttl seine eigene Position, die sich seinem Wahrheitsverständnis, seiner Anthropologie und damit seinem Freiheitsverständnis verdankt und sich gegen jede Form eines Begründungsdenkens absetzt: „Eine solche Vorgabe gibt es nicht. Sie macht den Menschen zu einem Untertan und Gott zu einem seienden Wesen. Mit einer Begründung in Gott hat es nichts auf sich. Aus einem physikalischen Kausalprinzip lässt sich kein metaphysischer Begründungszusammenhang herstellen“ (2001, Bd. I, S. 699). So wichtig Kausalität im technisch-instrumentellen Bereich ist, so wenig sind menschliche Erfahrungen wie Freude, Glück oder gelingende Kommunikation damit zu beschreiben oder gar herzustellen. Auch Negativerfahrungen wie Leid, Verlust und Tod sind trotz aller Versuche der Theodizee letztlich nicht erklärbar oder verstehbar. Die einzig verantwortliche Antwort auf Leid ist dagegen das Mit-Leid, die Solidarität mit den Leidenden und das Engagement im Kampf gegen alles, was Kummer und unnötiges Leid verursacht. Gerade der Hinweis auf die Eindimensionalität kausalen Denkens kann allerdings auch umgekehrt dem Monopolanspruch von Technik und Machbarkeit seine Grenzen aufzeigen. Der Gottesbegriff steht dabei einer mit diesen Idealen verbundenen Konsumgesellschaft kritisch gegenüber. Er zeigt auf, dass Gott keine Begründungs- oder Legitimierungsfunktion für bestimmte gesellschaftliche oder wirtschaftliche Zustände hat, sondern dass er diese grundsätzlich infrage stellt: „Er ist der Index des Humanum und weist auf das Unmenschliche jedes erreichten Zieles hin, sei es ein Produkt, sei es eine menschliche Dienstleistung. Gott ist die Verweigerung des hinreichenden Grundes. Er verweigert die Sinnerfüllung im Gegenständlichen. Gott fungiert als Verweis auf eine andere menschliche Dimension, auf das Beziehungssein des Menschen (…) Der Bereich der Gegenstände, des Ent-gegen-Stehens wird transzendiert auf das Bei-Stehen, auf die Solidarität und Mitmenschlichkeit. Dieses ‚Transzendieren‘ ist eine echte reale Transzendenz, d. h. Vollzugswirklichkeit. Dieses ‚Transzendieren‘ als das Gute und Überwältigende für den Menschen ist Gottes Funktion“ (2001, Bd. I, S. 699).
Gott als Ausdruck menschlicher Solidarität Diese Beschreibung der Transzendenz als Realisation des Humanum hat nach Hasenhüttl einen grundsätzlichen Wandel im Gottesverständnis zur
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Folge, der sich allerdings sowohl biblisch als auch theologiegeschichtlich ausweisen kann: „Wenn ich Gott sage, dann erkläre ich damit letztlich nicht alles, sondern ganz im Gegenteil, ich weise auf die Sinnlosigkeit des reduzierten Menschseins hin. Nicht Besitz, auch nicht der Besitz des ‚ewigen Lebens‘ macht den Menschen, sondern sein Sein, sein Leben in den (positiven) Beziehungen. Gott fungiert als Sinn und Wertangabe menschlicher Relationalität. Das ist ein ‚Ort‘, an dem das Wort Gott einen neuen Sinn erhalten kann. (…) Nicht der eine monotheistisch verstandene, höchste Seiende ist Gott, sondern Gott ist die Bedeutung der menschlichen Solidarität. Daher kann Gott selbst nur ein Relationsbegriff sein. Von Gott zu sprechen hat nur Sinn, wenn er relational verstanden wird“ (2001, Bd. I, S. 700). Als ein Beziehungsgeschehen, von dem Gott ausgesagt werden kann, ist dieses immer auch ein Erfahrungsgeschehen. Sonst blieb es eine reine Theorie beziehungsweise Projektion. Da es aber nicht um irgendeine Erfahrung geht, sondern um eine Erfahrung, durch welche der Mensch ganz bei sich, erfüllt und heil sein kann, ist der auf Sinn ausgerichtete Mensch auf den anderen Menschen bezogen. Dies hat ein logisch paradoxes Ergebnis: Gerade wenn er außer sich und beim anderen ist, ist er am ehesten und intensivsten bei sich selbst. Hasenhüttls grundlegendes dialektisches Wirklichkeitsverständnis prägt damit auch zentral sein Verständnis des Menschen – mit allen Folgen für das entsprechende relationale Gottesverständnis: „Daher ist die Bedingung möglicher Gotteserfahrung das menschliche Du. Dieses muss als ein ‚Miteinander-Dasein‘ erfahren werden. Das ist nur dann der Fall, wenn das Du in Liebe begegnet. Ohne Erfahrung der Liebe, des Liebenkönnens und bzw. oder des Geliebtwerdens ist die mitmenschliche Person nicht verständlich (…) Soll daher sinnvoll von Gott gesprochen werden, so ist die Bedingung dafür Anerkennung des Nächsten. In der Liebe zu ihm offenbart sich eine letzte Tiefe, die als Gott bezeichnet werden kann“ (2001, Bd. I, S. 702). Hasenhüttl beantwortet hier auch die eingangs von Sartre gestellte Frage nach der Möglichkeit der Liebe: Relationalität ist nicht Mangel, sondern Stärke. Die Erfahrung absoluter Liebe wird inmitten der Kontingenz des menschlichen Lebens gemacht. Gott darf allerdings nicht als Begründung der Liebe oder als deren Belohnung missverstanden werden. Liebe als Vollzugswirklichkeit braucht keine Begründung, keinen „Dritten im Bunde“. Dann würde Gott wieder als Seiendes, als Gegenstand verstanden und damit sowohl im
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postmodernen Diskurs wie auch in der Lebenswirklichkeit der Menschen nicht verstehbar. Anders ist es, wenn von Gott als prädikativer Aussage über die Relationalität des Menschen selbst gesprochen wird. Mit anderen Worten: als Wesensmerkmal der Liebe, die immer konkret mit „Leib und Seele“ einschließlich ihrer Einbettung in Geschichte, Kultur und Gesellschaft erfahren wird. „Die Menschen, die in ihr nicht nur eine nichtreduzierbare Wirklichkeit neben anderen Verhaltensweisen sehen, die ihr daher eine letzte Bedeutung zusprechen und ihr einen absoluten Vorrang geben, können sie besonders qualifizieren, um sie von allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen zu unterscheiden. Eine solche Prädikation von Liebe ist sinnvoll. Die Liebe also, als etwas Letztes gelebt, als eine letzte Bedeutung und Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens verdient das Prädikat: Gott. So ist die Rede sinnvoll: Es ist Gott, wenn der eine dem anderen hilft“ (2001, Bd. I, S. 704). Wahre Liebe aber ist immer produktiv und kreativ. Durch die konkrete Erfahrung der Liebe erhält diese selbst immer neue Gestalt und neuen Ausdruck. Damit erfährt zugleich Gott als Ausdruck der Liebe Dynamik und Veränderung. Insofern ist „Gottes Sein im Werden“ (vgl. Jüngel 1976). Damit die so beschriebene Liebe nicht trotzdem als Leistung missverstanden werden kann, fügt Hasenhüttl an: „Dieses Prädikat gibt zugleich an, dass es nicht unser Produkt ist, wenn es gelingt, Liebe zu verwirklichen, sondern dass dies auch Geschenk (in anderer Terminologie: Gnade) ist. In dieser Dialektik von: beschenkt, besorgt, gesucht etc. und von schenken, suchen, sorgen bis zum Lebenseinsatz ist eine Prädikation Gott sinnvoll. (…) Gott ist also eine bestimmte Aussage vom Menschen, Prädikat des Menschen“ (2001, Bd. I, S. 707).
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Die Glaubensgemeinschaft und ihre sakramentalen Vollzüge
Auch Hasenhüttls Beschäftigung mit der Kirche als Glaubensgemeinschaft einschließlich ihrer sakramentalen Vollzüge steht unter dem Leitbegriff der „Freiheit“: „Die Befreiung des Menschen von Herrschaftssystemen ist hoch an der Zeit. Noch immer ist es jedoch selbstverständlich, dass Menschen über Menschen herrschen. Auch in unseren heutigen Gesellschaftsordnungen wird noch Druck auf Minderheiten ausgeübt, der sich bis zur Verfolgung Andersdenkender steigert. Die Kirche fügt sich in diese Gesellschaftsformen ein. Sie selbst spricht von einer ‚heiligen Herrschaft‘“ (1974, S. 7). Als Gegenmodell dieser Hierarchie hatte er bereits in seiner Habilitationsschrift die insbesondere von Paulus beschriebenen Charismen als „Ordnungsprinzip der Kirche“ benannt (1969). Um die frühchristliche Struktur einer Glaubensgemeinschaft auf der Basis der charismatischen Gaben auch für die heutige Kirche fruchtbar zu machen, beschreitet Hasenhüttl mehrere Wege: Er sucht als Theologe die biblischen und dogmatischen Grundlagen für ein herrschaftsfreies Modell der kirchlichen Gemeinschaft und fragt gleichzeitig nach deren Bedingungen und den Orten, an denen bis zur Gegenwart von diesem Modell Abstand genommen wurde. Da es dabei immer auch um sozialwissenschaftliche und verwaltungstechnische Begriffe wie zum Beispiel „Institution“, „Hierarchie“ oder auch „Demokratie“ geht, hat er diese eigens in einer „Sozio-theologischen Grundlegung“ bezüglich ihrer Aussagekraft für die angestrebte herrschaftsfreie Kirche analysiert (1974).
6.1 Das Modell einer Glaubensgemeinschaft bei Paulus Jede Glaubensgemeinschaft, die sich als eine christliche versteht, hat ihren Orientierungspunkt und Maßstab in Wort und Tat Jesu Christi. Dies heißt nicht, Jesus habe selbst formal eine Kirche gegründet, etwa beim Abendmahl vor seinem Leiden und Tod. Die Glaubensgemeinschaft wird vielmehr als Beziehungsgemeinschaft verstanden. Sie besteht aus Menschen, die das Lebensmodell Jesu als für sich heilsam erkannten, indem sie ihr eigenes bisheriges Leben in Beziehung zu diesem jesuanischen Modell setzten und dadurch ihren Lebensvollzug einer Umkehr unterzogen. Eine
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Die Glaubensgemeinschaft und ihre sakramentalen Vollzüge
Gemeinschaft dieser „Bekehrten“ praktiziert dieses Lebensmodell so, dass ihre Mitglieder Glaube, Liebe und Hoffnung in Freiheit erfahren können. Geschieht dies, dann wird eine Gemeinschaft gerade nicht die gesellschaftlich, kulturell und religiös vorgegebenen Handlungsformen und Strukturen kopieren und wiederholen. Alles Vorgegebene steht vielmehr unter dem Vorbehalt der Sinnhaftigkeit und des Heils für alle – was nur gelingen kann, wenn auch wirklich alle in die Entscheidungen über Form und Inhalt der Gemeinschaft mit einbezogen werden. Ist somit eine christliche Glaubensgemeinschaft „transzendent“, steht sie „jenseits“ tradierter Lebensmodelle und deren jeweiligen Verengungen und Verkrustungen, dann kann sie auch Ausstrahlung nach außen haben. Sie wird so zum Salz der Erde, zum Licht der Welt, zur Stadt auf dem Berge und zum Licht auf dem Leuchter (vgl. Mt. 5,13 ff.).
Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit Der Schriftgelehrte Paulus, obwohl Zeitgenosse Jesu, ist diesem persönlich nicht begegnet. Auch kann er sich nicht auf eine Teilnahme am sogenannten letzten Abendmahl berufen, um so die Wahrheit seiner eigenen Verkündigung zu legitimieren. Er wird später in den von ihm gegründeten Gemeinden zusammen mit den Gläubigen ein Mahl zum Gedächtnis an Jesus Christus feiern, das später je nach Tradition „Eucharistiefeier“ oder „Abendmahl“ genannt werden wird. Er tut dies, ohne je zu einem Funktionsträger oder gar Priester gewählt oder geweiht worden zu sein. Gegen möglichen Widerstand beruft er sich darauf, von Jesus Christus selbst berufen worden zu sein (vgl. Gal. 1,1). Worin besteht aber diese Berufung? Lukas berichtet in der Apostelgeschichte in dramatischen Bildern, dass Paulus bei der Verfolgung einer christlichen Gemeinde vor Damaskus im wahrsten Sinn des Wortes „ein Licht aufging“ (vgl. Apg. 9): Seine bisherige Festlegung religiöser Praxis auf tradierte Normen und Formen wurde durchsichtig und zerriss. Heil, gelingendes Leben, Sinnerfahrung sind nicht schablonenhaft vorgegeben und können auch nicht durch eine Institution garantiert werden. Dies alles kann nicht „gemacht“ werden, sondern ist einzig in der „Freiheit eines Christenmenschen“, wie der große Paulus-Kenner Martin Luther (1483–1546) später sagen wird, als Geschenk erfahrbar. Die Vollmacht des Paulus, mit der er aus vorgegebenen Lebens- und Denkstrukturen aufbricht, hat er selbst als ein Geschenk erfahren, das mit den Worten von Hasenhüttl „die Vollmacht zur Verkündigung gibt und
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durch die eine neue Macht sein Leben bestimmt. Diese Vollmacht ist keinem Menschen untergeordnet, weder den Uraposteln noch sonst einer menschlichen Autorität“ (1969, S. 77). Das Motto „Was hast du, das du nicht empfangen hast“ (1. Kor. 4,7) prägt Paulus’ eigene Lebenshaltung und sollte auch die Struktur jeder Gemeinde auszeichnen, die sich auf ihn beruft. Gerade aber diese Unabhängigkeit von äußeren Ordnungen und Verhältnissen lässt ihn dann den Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft zurufen: „Ihr seid zur Freiheit berufen“ (Gal. 5,13). Da alle angewiesen sind auf diese Gabe der Freiheit, darf es in der Gemeinde auch nicht die Unter- und Überordnung von Knecht und Herr geben (vgl. 1. Kor. 6,20), sondern alle sind gleichberechtigte „Helfer zu eurer Freude“ (2. Kor. 1,24). Für Hasenhüttls Verständnis einer auf Erfahrung beruhenden Theologie der Freiheit ist bei dieser Vollmachtserfahrung des Paulus Folgendes wichtig: „Seine Vollmacht hat nichts Geheimnisvolles, Undurchsichtiges in sich. Er gibt den Ort dieser Macht an: Jesus Christus (1. Kor. 5,4). Sie liegt offen zutage und ist kein Spezialprivileg allein seiner Person. Was ihm persönlich an besonderer Begabung geschenkt wurde, ist zwar sein Ruhm, aber es ist Narrenweisheit (2. Kor. 11,17) und kein Grund zu prahlen; denn er hat es ja empfangen (1. Kor. 4,7), und aller Ruhm liegt im Herrn (1. Kor. 1,31), in Christus (1. Kor. 15,31)“ (1969, S. 77). Die Glaubensgemeinschaft ist für Paulus nach Hasenhüttl der „Raum“, in dem sich die an Jesus Christus orientierte freiheitliche Vollmacht realisiert und konkretisiert. Dabei steht „Paulus nicht über der Gemeinde, ist er nicht ihr Richter, sondern ihr Mitstreiter, getrieben und geleitet durch dieselbe Kraft, durch die Macht des Christusgeschehens“ (1969, S. 80). Hatte Hasenhüttl in seinen Überlegungen über Gott die Rede vom Heiligen Geist exemplarisch als Ausdruck eines Beziehungsgeschehens gedeutet, so kann er jetzt diesen Gedanken bezüglich des Aufbaus einer christlichen Gemeinde verdeutlichen. „Geist“ wird auch hier zum Interpretament menschlicher Erfahrungen: „Der Geist umfasst nicht nur solche, die die Führung der Gemeinde innehaben, sondern jeder ist vom ihm erfüllt und erfährt ihn in seinem Leben als umgestaltende Macht. Der Geist wird so zur Existenzmacht der neuen Gemeinde“ (1969, S. 84). Da diese Macht grundsätzliche Freiheit gewährt, ist sie göttliche Macht, Anteil an der Macht Gottes (vgl. 2. Kor. 3,17): „Der Geist ist Erfahrungsbereich des Herrn, oder anders ausgedrückt: Der Herr ist im Geist erfahrbar. Der Geist ist die Kraft der Anwesenheit Christi, die Kraft, in der der
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Herr seiner Gemeinde begegnet. Ja, Gott selbst gibt sich im Geist in seiner sich selbst erschließenden Kraft“ (1969, S. 88). Auch diese Erfahrung des geistvollen Geschenks der Freiheit ist Gabe und Aufgabe zugleich. Das als heilvoll Erfahrene soll umgesetzt und weitergegeben werden in das Leben der Gemeinde und darüber hinaus letztlich an die ganze Welt: „Diese Gnadengabe ist also keine blinde, ziellose Macht, sondern sie ist sinnvoll und auf ein Ziel ausgerichtet. Das Ziel ist (…) die Auferbauung der Gemeinde, die Liebe“ (ebd.). Wenn aber jedes Mitglied der Gemeinde auf je unterschiedliche Weise Träger dieser Vollmacht ist, mündet das dann nicht in Beliebigkeit? Kann dann überhaupt kein Strukturprinzip für eine solche Gemeinde angegeben werden? Der Schriftgelehrte Paulus kennt die Literatur seiner Zeit. Er weiß, dass Platon, Seneca oder auch Livius das Bild des menschlichen Leibes verwenden, um Einheit und Differenz in der staatlichen Ordnung zu beschreiben. Wie der Körper des Menschen viele Glieder hat und nur gesund funktionieren kann, wenn alle Glieder auf ihre unterschiedliche Weise zum Aufbau des gesamten Köpers beitragen, so soll es demnach auch in einem geordneten Staat sein. Allerdings zeigt sich auch hier, dass es Paulus gerade nicht um eine Imitation der bereits vorhandenen Lebensmodelle oder Organisationsstrukturen geht. Glaubensvollzug steht unter dem Merkmal des Neuen, ist „jenseits“ jeder vorgefundenen Wirklichkeit. Hatte nämlich Seneca (ca. 1–65 n. Chr.), der große Philosoph, Erzieher und Berater des Kaisers Nero, wie selbstverständlich bei seiner Verwendung des Leibes als Sinnbild für den Staat den Kopf mit dem Kaiser gleichgesetzt, so findet sich bei Paulus eine grundlegende Veränderung des Bildes und dadurch auch der dargestellten Verhältnisse. Christus nimmt in der paulinischen Umformung des Bildes gerade nicht die Position des Kopfes ein. Er ist nicht das Haupt oder gar „Oberhaupt“ der Gemeinde. Jetzt heißt es vielmehr an die ganze Glaubensgemeinde gerichtet: „Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm“ (1. Kor. 12,27). Christus konstituiert sich somit in und durch die Beziehung der einzelnen Mitglieder der Gemeinde. Wo alle heilvolle Beziehungen erleben, da ist es göttlich oder himmlisch gut, da kann Christus als Prädikat einer solchen Gemeinschaft ausgesagt werden: „So wird auch durch den Leibbegriff nicht das Verhältnis zwischen Christus und dem Menschen geklärt, keine individuelle Christusgemeinschaft kommt ins Blickfeld, und alle ‚persönliche‘ ChristusFrömmigkeit kann in dieser Aussage keine Stütze finden. Das Verhältnis
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von Mensch zu Mensch soll geklärt werden und einen letzten Sinn erfahren, damit das Vollmachtsereignis im Leben der Gemeinde fruchtbar wird“ (1969, S. 95). Deswegen hat hier das Bild vom Leib Christi die Funktion, „den Daseinsbereich für den anderen als sinnvoll zu erkennen. Leib Christi ist die Ermächtigung, für den anderen da zu sein. Dies kann in einer Hausgemeinde, in der vielleicht nur zwei oder drei in seinem Namen füreinander da sind, wahr werden, oder in der Ortsgemeinde oder auch in der Gesamtkirche“ (1969, S. 98). Weil in diesem Bild jeder auf seine je eigene Art zum Gesamtaufbau einer kleinen oder großen Gemeinde beiträgt, damit alle Heilsames erfahren können, ergibt sich für Paulus auch die unabdingbar notwendige Forderung nach Freiheit und Gleichberechtigung jedes einzelnen Mitgliedes: „Da gibt es keinen Juden noch Griechen, da gibt es keinen Sklaven noch Freien, da gibt es kein Männliches und Weibliches. Denn alle seid ihr einer – im Messias Jesus“ (Gal. 3,27 f.). Weder Nationalität, soziale Stellung noch Geschlecht zählen, wenn es um Letztes geht: um sinnvolles und heilsames Leben, erfahrbar in den kommunikativen Vollzügen und im freiheitlichen Beziehungsgeschehen der Menschen.
Der Rückfall der Generation nach Paulus Selbst zu leben und sich nicht von anderen „leben zu lassen“ ist schwer. Immer wieder orientieren sich Menschen nach vorgegeben Vorgaben und Autoritäten. So nimmt die auf Paulus folgende Generation dessen Bild vom Leib und den Gliedern des Körpers als Darstellungsmittel einer christlichen Glaubensgemeinschaft zwar auf, geht aber hinter Paulus wieder auf die Vorlage des Seneca und anderer zurück. Christus wird jetzt nicht als Geschehen eines freiheitlichen Umgangs der Gemeindemitglieder miteinander gesehen, sondern er erhält in den sogenannten Deuteropaulinen wie in der philosophischen Tradition die Funktion des Hauptes: „Er, Christus, ist das Haupt. Durch ihn wird der ganze Leib zusammengefügt und gefestigt in jedem einzelnen Gelenk“ (Eph. 4,15 f.). Ist aber Jesus das Haupt der Glaubensgemeinschaft, dann kann in der nachfolgenden Theologie- und Kirchengeschichte der Papst als dessen Nachfolger und insofern als „Oberhaupt“ verstanden werden. In der Theologie und im praktischen Handeln des Paulus hat dieser Rückschritt keine Basis, geschweige denn in der Praxis Jesu.
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Charismen als freiheitliches Strukturmerkmal Es bleibt die Frage nach dem Strukturprinzip einer paulinischen Gemeinde. Wie, nach welchen Prinzipien gestaltet sie ihre Lebensform konkret? Die Antwort ist bereits im Bild von den vielen Gliedern eines Leibes gegeben. In deren Zusammenwirken kann Heil erfahren werden, das heißt konkret: die Freiheitsbotschaft Jesu Christi. Paulus gebraucht für den jeweils eigenen Beitrag, den ein Mitglied zum Aufbau der Gemeinde gibt, den Begriff Charisma. Hasenhüttl hat in seiner Habilitationsschrift diese Charismen beschrieben und definiert: „Charisma ist die durch das Heilsereignis geschenkte, (Zeit und Ewigkeit umspannende) je konkrete Berufung, die in der Gemeinde verwirklicht wird, sie konkretisiert und dauernd aufbaut und dem Mitmenschen in Liebe dient“ (1969, S. 238; vgl. auch 2001, Bd. II, S. 269). Charisma als Geschenk ist somit nicht Verdienst oder Leistung. Dadurch, dass in Bezug auf Jesus Christus vom Einzelnen eine Abwendung vom bisherigen Lebensmodell realisiert und dadurch Freiheit und Heil erfahren wird, kann dieser Impuls auch in das Leben einer konkreten Gemeinde umgesetzt werden. Die so erfahrene Solidarität und Liebe sprengt die vorgegebenen Grenzen von Raum und Zeit. Mitten in der Zeit und den Brüchen des Lebens wird so Letztes, Ewiges erfahrbar. Eine Gemeinde ist aber nur in dem Maße lebendig, in dem in ihr unterschiedliche Begabungen wirken. Gleichförmigkeit wäre – wie im Bild von den Gliedern des Leibes – ihr Tod. Allerdings gilt die Prämisse: „Charismatische Struktur der Kirche ist nur dann berechtigte Grundstruktur, wenn die Charismen nur zum Aufbau der Gemeinde gegeben werden (…) Nicht nur vom Ursprung, sondern auch vom Ziel her sind die Charismen zu messen“ (1969, S. 123; vgl. 1. Kor. 14,12). Hasenhüttl beschreibt und analysiert die unterschiedlichsten Charismen, wie zum Beispiel prophetische Rede, Lehre, Textauslegung, Trösten, Ermutigen und Beten (vgl. 1. Kor. 14): „Dabei setzt Paulus voraus, dass jeder in der Kirche eine bestimmte Berufung hat. Es gibt keinen Christen, der nicht in der Glaubensgemeinschaft seine Funktion hat und daher sein Recht und seine Pflicht, diese Funktion auch auszuüben. Denn durch diese Charismen konstituiert jeder Glaubende die Kirche mit und ist für sie konstitutiv“ (2001, Bd. II, S. 269). Zentral und grundlegend für alle aber ist für ihn das „Charisma der Begegnung“: „Durch die Begegnung des einzelnen mit dem anderen wird ‚Gnade‘ erfahren und die ‚Gabe‘ geschenkt. Diese Grundstruktur wird sich bei allen einzelnen Charismen durchhalten und in ihren jeweiligen Besonderheiten zeigen“ (1969,
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S. 132). Eine Beauftragung zu speziellen Diensten wie dem Überbringen der Kollekte nach Jerusalem ist zwar möglich, aber eine solche pragmatische Wahl prägt nicht die Struktur der Gemeinde im Sinn eines feststehenden Amtes. Die Beauftragung für einen konkreten Dienst kann im konkreten Einzelfall sinnvoll und hilfreich sein. Jede Beauftragung aber bleibt funktional an die zu lösende Aufgabe gebunden: „Charismen bleiben also stets Dienst und sind niemals ein ‚Amt‘ (…). Die empfangene, befreiende Vollmacht ist niemals ein Posten in der Kirche und niemals ein Macht- oder Herrschaftsanspruch über andere in der Kirche“ (2001, Bd. II, S. 270). Insofern zeigt sich für Hasenhüttl bei Paulus exemplarisch das Modell einer „herrschaftsfreien Kirche“: „Menschen also, die sich versammeln und von Gott bestimmen lassen, die, anders ausgedrückt, ‚in Christus‘ sind, sind Versammlung Gottes, d. h. Kirche“ (2001, Bd. II, S. 268). Nicht gemeint ist somit ein privilegiertes Verhältnis eines Einzelnen oder einer einzelnen Gruppe zu einem gegenüberstehenden Gott, sondern Kirche ist vielmehr geistvolle Gemeinschaft, und zwar dann, „wenn sich Gott durch Christus ereignet. Eine Gemeinschaft, von der Gott ausgesagt wird, für die Gott Prädikat ist (…) Kirche ist eine Verhältnisbestimmung von Mensch zu Mensch. In dieser Hinordnung hofft der Glaubende, dass Gott gegenwärtig wird“ (ebd.). In diesem „herrschaftsfreien Hinhören aufeinander“ teilen die Christen Freud und Leid miteinander, „so wie ein Glied des Leibes sich mit den anderen mitfreut und mitleidet. Und es ist auffallend, dass Paulus gerade diese Herrschaftsfreiheit, diese ‚an-archische Kirche‘ zur Sprache bringt, um Ordnung in der Gemeinde zu schaffen“ (2001, Bd. II, S. 269). Hasenhüttl untersucht eine Vielfalt auch politischer und gesellschaftlicher Theorien über Anarchie und Institution, um diese auf ihre Impulse für eine christliche Gemeinschaft zu befragen (vgl. 1974). Zentral ist dabei seine Kritik an jeder Form von Macht und von außen herangetragener Autorität: „Herrschaft und Macht bauen nicht auf, sondern zerstören Gemeinschaft und verraten die christliche Freiheit“ (2001, Bd. II, S. 269).
6.2 Von der Herrschaftsfreiheit zur Hierarchie Der eigentliche Paradigmenwechsel im Aufbau einer christlichen Gemeinde ist, wie beschrieben, bereits im Übergang von den echten Paulus-
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briefen hin zu den Deuteropaulinen festzustellen. Sprach Paulus im Bild vom Leib als von einem Identitätsmerkmal, bei dem die charismatisch strukturierte Gemeinde in Freiheit und Gleichheit der Leib Christi ist, so verwendet die nachfolgende Generation das Bild mit einer hinter Paulus auf Seneca und andere zurückgehende Form der Hierarchisierung der Glieder: Christus wird dort als das Haupt verstanden. Die einzelnen Glieder sind ihm untergeordnet und werden von ihm zusammengehalten (vgl. Eph. 4,15 f.). Für die nun folgende Generation der ersten Kirchenväter wählt Hasenhüttl exemplarisch den ersten Clemensbrief aus, um anhand dessen Rede vom Leib der Gemeinde auf grundlegende Veränderungen aufmerksam zu machen. Zunächst gilt hier wie bei Paulus: „Jeder hat seine Funktion; nur Einstimmigkeit und Eintracht sind absolut gefordert. Nur dann ist der Bestand des Leibes gesichert“ (1969, S. 285). Die Starken helfen den Schwachen, die Reichen unterstützen die Armen, das Ganze geschieht in gegenseitiger Achtung und Liebe: „Und doch ist ein nicht unerheblicher Unterschied festzustellen. Leib Christi ist nur ein Gleichnis für die Glieder der Gemeinde und keine Identitätsbestimmung, wie bei Paulus, für den die Glieder der Gemeinde Leib Christi sind. Die Gemeinde ist nicht Leib Christi, sondern ein Leib in Jesus Christus“. Kleine sprachliche Nuancen zeitigen gravierende Folgen: „Das Charisma bleibt das Ordnungsprinzip der Gemeinde, und der Grundsatz lautet: jeder soll sich dem anderen unterordnen. In dieser allgemeinen Formulierung wird geradezu klassisch die charismatische Gemeindeordnung ausgedrückt. Der Akzent ist aber verschoben: er liegt nicht mehr auf jedem, sondern auf der Unterordnung (…) Dieses Prinzip der Unterordnung wird nun zum umgreifenden Grundsatz“ (1969, S. 286). Ämter werden jetzt nicht mehr als sekundär entstandene Hilfsmittel zur Organisation der konkreten Gemeindearbeit oder zur Behebung von Missständen verstanden, sondern sie werden gleichsam als göttliche Stiftung angesehen und damit sakrosankt. Hasenhüttl charakterisiert dieses neue Amtsverständnis: „Die Bischöfe und Diakone sind keine kirchliche Neuerung, sondern die Apostel haben sie eingesetzt, weil sie gewusst haben, dass Streit entstehen wird. Diese Ordnung ist aber keine Erfindung der Apostel, sondern schon im AT bezeugt. Aber auch das AT ist nicht ihr Ursprung, sondern Gott, der der ganzen Welt ihre Ordnung gesetzt hat“. Er resümiert: „Letztes Ziel ist nicht mehr der Dienst am Nächsten, ist nicht das Sein für den andern, nicht der Aufbau des Christus-Leibes, son-
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dern die Ordnung!“ (1969, S. 288). So entsteht durch Absicherung Unterund Überordnung, Hierarchie statt herrschaftsfreier Kommunikation. Wenn auch die Stimmen der frühen Kirche sowie der späteren Theologie- und Kirchengeschichte durchaus polyphon sind, so ist doch für Hasenhüttl eine Tendenz unabsehbar: der Weg zu einer immer stärkeren Betonung der Hierarchie (vgl. 1969, S. 308). Den bisher unübertroffenen Höhepunkt wird diese Entwicklung im 19. Jahrhundert mit Papst Pius IX. und seiner Erklärung der Unfehlbarkeit des Papstes haben. Diese hatte übrigens letztlich macht- und ordnungspolitische Absichten: Im Angesicht der revolutionären Aufbrüche in der Mitte des 19. Jahrhunderts sowie der Bildung eines italienischen Nationalstaats, der auch große Teile des bisherigen Kirchenstaats umfasste, beschloss das Erste Vatikanische Konzil unter massivem Druck von Pius IX. am 18. Juli 1870 die Dogmatische Konstitution „Pastor aeternus“, in der es heißt: „Und weil sich die Pforten der Unterwelt um – wenn möglich – die Kirche zu zerstören, mit täglich größerem Hass von überall her gegen ihr von Gott gelegtes Fundament erheben, erachten wir es mit Zustimmung des heiligen Konzils zum Schutz, zur Erhaltung und zum Gedeihen der katholischen Herde für notwendig, die Lehre von der Einsetzung, Fortdauer und Natur des heiligen Apostolischen Primats, in dem die Kraft und Stärke der ganzen Kirche besteht, allen Gläubigen gemäß dem alten und beständigen Glauben der gesamten Kirche vorzulegen, damit sie geglaubt und festgehalten werde und die entgegen gesetzten, für die Herde des Herrn so verderblichen Irrtümer zu ächten und zu verurteilen“ (DH Nr. 3052). Die „Kraft und Stärke“ der christlichen Glaubensgemeinschaft besteht somit nicht im Dienst am Nächsten, der nur in Freiheit und unter Berücksichtigung der verschiedensten Charismen gleichberechtigt vollzogen wird, sondern im Amt, das wiederum als göttlich eingesetzt und legitimiert verstanden wird. Hasenhüttl kommentiert das wie folgt: „Das Charisma, die charismatische Struktur der Gemeinde wird auf eine, ganz konkrete hierarchische Amtsperson reduziert. Nicht jeder einzelne hat ein Charisma, steht in Gott-Unmittelbarkeit, sondern nur dieser einzelne (…). Nicht die einzelnen beauftragen und wählen einen Leiter, der den Dienst in der Gemeinde versieht, sondern der einzelne leitet aus seiner Machtvollkommenheit die ganze Kirche“ (1969, S. 312). Ausführlich analysiert Hasenhüttl das Schwanken zwischen den Polen von charismatischer Struktur der Gemeinden und der hierarchischen Verfassung der Kirche in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche
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„Lumen gentium“, die am 21. November 1964 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedet wurde (vgl. 1969, S. 327–353). Kirche wird dort zunächst verstanden als „Volk Gottes“, in dem letztlich alle gleichberechtigte Mitglieder sind (vgl. DH Nr. 4122–4141). Es findet sich mehrfach das neutestamentliche Bild vom Leib Christi. Dieses allerdings wird so unsystematisch und jenseits jeder exegetischen Forschung gebraucht, dass sich im selben Abschnitt des Konzilstextes die Leib-Metapher unterschiedslos im Sinne von Paulus und im Sinne der Deuteropaulinen findet. Mit Paulus wird gesagt: Der Geist „bringt die Liebe unter den Gläubigern hervor und treibt sie an. Daher leiden, wenn ein Glied etwas erleidet, alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit – vgl. 1. Kor. 12,26“ (DH Nr. 4113). Ungebrochen aber nach diesem Bezug auf Paulus fährt der Text fort: „Das Haupt dieses Leibes ist Christus“ (DH Nr. 4114). In der Nachfolge der Deuteropaulinen und des frühkirchlichen Ordnungsgedankens beschreibt dann ein umfangreiches Kapitel „Die hierarchische Verfassung der Kirche, insbesondere das Bischofsamt“ (DH Nr. 4142–4155). Diese undifferenzierte Nebeneinanderstellung unterschiedlicher biblischer Bilder und Strukturprinzipien führt auch gegenwärtig noch dazu, dass sich jeder für sein eigenes Gemeindemodell auf den Wortlaut des Konzils berufen kann. Der Aufbruch des Paulus wird dadurch gebremst oder gar als Modell für eine heutige Struktur der Gemeinde unmöglich gemacht. Trotz diesem unkritischen Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Kirchenmodelle in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils sieht Hasenhüttl Gründe für eine Lesart, welche die charismatische Struktur favorisiert. Insbesondere in Kapitel 8 von „Lumen gentium“ wird zwischen dem Wesen der Kirche und ihrer Struktur unterschieden. Kirche wird dort als eine „komplexe Wirklichkeit“ beschrieben (DH Nr. 4118). Wichtig ist auch die Aussage im gleichen Kapitel: „Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche“ (DH Nr. 4119). Die Kirche Jesu Christi, von der zuvor gesprochen wurde, ist somit nicht identisch mit der katholischen Kirche, sondern sie „subsistit in Ecclesia catholica“, das heißt, die Glaubensgemeinschaft im Sinne Jesu Christi ist als ein mögliches Modell realisiert in der katholischen Kirche. Das päpstliche Lehrschreiben aus dem Jahre 2000 „Dominus Jesus“, das maßgeblich vom damaligen Kardinal Ratzinger verfasst wurde, spricht in seiner Lesart des Konzilstextes von einer Identität zwischen der Kirche Jesu Christi und der katholischen Kirche
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und degradiert damit die anderen christlichen Kirchen zu „christlichen Gemeinschaften“. Der Begriff des „subsistit“ wird hier als „est“ verstanden. Die Kirche Jesus Christi und die katholische Kirche werden gegen die anders lautenden Ausführungen des Konzil miteinander identifiziert: „Es gibt also eine einzige Kirche Christi, die in der katholischen Kirche subsistiert und vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird (…) Die kirchlichen Gemeinschaften hingegen, die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“ (Johannes Paul II. 2000, S. 22 f.). Für Hasenhüttl bedeutet aber die im Konzilstext festgestellte Nichtidentität zwischen der Kirche Jesu Christi und der katholischen Kirche, dass auch außerhalb der hierarchisch verfassten katholischen Kirche Leib Christi möglich ist (vgl. 1969, S. 335 und 2001, Bd. II, S. 301). Insofern ist die charismatische Struktur die grundlegende und damit auch letzter Maßstab aller konkreten Ausgestaltungen: „Es ist für dieses Kirchenverständnis entscheidend, dass nicht nur die einzelnen Glaubenden außerhalb der katholischen Kirche ihre Gnadengaben empfangen könne und das Heil finden können. Die verschiedenen Kirchen können als Gemeinden Kirche Christi sein“ (1969, S. 337). Das aber heißt: „Alle Gemeinschaften, die den Namen Kirche Christi für sich beanspruchen, dürfen, müssen in ihrem Wesen diese charismatische Grundstruktur aufweisen. So könnte man formulieren: Ubi communitas charismatica, ibi Ecclesia Christi. Wo der Geist Christi, seine Vollmacht am Werk ist, da ist Glaubensgemeinschaft und mit ihr Kirche Christi“ (2001, Bd. II, S. 303). Eine solche Glaubensgemeinschaft hätte auch Ausstrahlung nach außen und könnte dann „Stachel im Fleisch jeder Gesellschaftsordnung“ sein (2014, S. 135). Kirche würde gerade nicht, wie man oft vorwurfsvoll hört, dem Zeitgeist nachlaufen, sondern der Zeit vorauseilen. In ihr würde ansatzweise und vorbildlich verwirklicht, woran es in Gesellschaft und Staat so oft mangelt: „Kirchen sollen zur Integration dienen und das, was Gesellschaften ausschließen, aufnehmen (…). Dialog und Eigenverantwortung sind notwendig. Statt Zwang, Nötigung und Gehorsam Freiheit, Verstehen und Solidarität. Statt Macht und Gewalt die Ohnmacht der Liebe, denn ‚Gottes Macht‘ erweist sich allein am Kreuz. Statt Gewinn und Habsucht Lebensmöglichkeiten für alle. Statt Ausschluss und Verurteilung Aufnahme und gütige Hinwendung“ (2014, S. 144). Hasenhüttl weist auf die Vorläufigkeit und Funktionalität jeder Struk-
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tur in der Kirche hin. Damit stellt sich die Grundfrage nach der Möglichkeit der Institutionalisierung einer Glaubensgemeinschaft: „Menschliche Institutionen können eine sinnvolle Hilfe sein, wenn dadurch die Verständigung unter den Christen und unter den Menschen gefördert wird. Kein institutionelles Element gehört zum Wesen der Kirche, alle sind zeitlich bedingt und veränderbar“ (2012, S. 140; vgl. auch 2001, Bd. II, S. 261–295; ausführlich in: 1974). Hierarchie, die Ämter des Papstes und der Bischöfe, zölibatäres Priestertum, der Ausschluss der Frauen vom Leitungsdienst – dies alles hat sich im Laufe der Geschichte herausgebildet. Jedes dieser Elemente trägt die Signatur der Ungleichheit und Herrschaft. Maßstab für eine christliche Gemeinde als Gegenmodell zu gesellschaftlich vorgegebenen Lebensformen ist aber erstens die befreiende Botschaft Jesu Christi und zweitens das je konkrete Heil der Gläubigen. Dieser Maßstab gilt bei der Frage, was in einer konkreten Gemeinde verändert werden soll, aber auch für die Frage, was an Überliefertem beibehalten werden soll. Ist also eine herrschaftsfreie, charismatische Form der Glaubensgemeinschaft möglich, oder ist sie eine reine Utopie? „Eine Utopie? Ja und Nein. Ja, denn heute ist diese Sicht der Kirche nirgends verwirklicht, also ort-los (u-topisch). Nein, denn vorübergehend bewies die Realisierung dieses Kirchenbildes in Korinth seine Möglichkeit auch für andere Jahrhunderte. Dies bedeutet natürlich keine inhaltliche Wiederholbarkeit, durchaus aber eine mögliche Tendenz auch für uns heute“ (2001, Bd. II, S. 271). Trotz der vielfältigen Negativerfahrungen bleibt somit eine grundsätzliche christliche Hoffnung auf Erneuerung und Aufbruch aus tradierten Normen und Formen.
6.3 Vollzüge der Glaubensgemeinschaft: Sakramente als Symbolhandlungen „Eine wesentliche Seite des kirchlichen Lebens ist in den Sakramenten gegenwärtig. Versteht sich eine Glaubensgemeinschaft aber ausschließlich als Sakramentengemeinschaft (…), verwechselt sie Symbol mit Wirklichkeit und taucht in eine religiöse Zeichenwelt ab, die zu einem reinen Konstrukt wird“ (2001, Bd. II, S. 387). Hasenhüttl beschreibt so die elementare Ausdrucksgestalt der christlichen Glaubensgemeinschaft in den Sakramenten und zeigt gleichzeitig die Gefahr einer Einseitigkeit und Verobjektivierung auf. Die Liturgie der Sakramente kann ihren unverzichtbaren
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Eigenwert nur im Dreiklang mit den anderen Grundvollzügen des Zeugnisses („Martyria“) und des Dienstes am Mitmenschen („Diakonia“) in Theorie und Praxis aufzeigen. Nicht nur die Siebenzahl der Sakramente in der katholischen Kirche (Taufe, Firmung, Eucharistie, Buße, Krankensalbung, Priesterweihe und Ehe) verdankt sich einer komplexen Entwicklung in der Theologiegeschichte und wurde – wie zum Beispiel in den Kirchen der Reformation – auch immer wieder infrage gestellt. Auch ihre Bedeutung und Funktion waren nie unumstritten und bedürfen deswegen gerade in der Gegenwart unter den Bedingungen von Säkularisation und Postmoderne einer vertieften Reflexion. In einer ersten Annäherung reflektiert Hasenhüttl über eine Wurzel des Sakramentenverständnisses im antiken Mysterienkult. Wenn es auch nur eine indirekte Beziehung zwischen dem griechischen Begriff „mysterion“ und dem späteren Begriff „sacramentum“ gibt, so liegt doch ein Problem auch für das heutige Verständnis der Sakramente darin, dass beide Begriffe häufig als „Geheimnis“ gedeutet werden. Das Wort „Geheimnis“ aber ist doppeldeutig, wenn sich nicht sogar seine inhaltlichen Füllungen widersprechen. So kann mit ihm einerseits etwas beschrieben werden, das „geheim“ ist, also nur wenigen zugänglich, die wiederum zum Schweigen über ihr Geheimnis verpflichtet sind. Würde sein Inhalt offen bekannt werden, wäre es kein Geheimnis mehr. Es würde sich gleichsam auflösen. Geschlossene Gesellschaften oder privilegierte Personen (zum Beispiel Priester) wachen über das jeweilige Geheimnis und verhindern so seine Aufklärung. Andererseits spricht man vom „Geheimnis der Liebe“. Dieses kommunikative Geschehen ist gerade nicht ein zu lösendes Rätsel, das durch seine Aufklärung an Bedeutung verlieren würde. Es bezeichnet vielmehr ein Geschehen, das durch eine entsprechende Lebenspraxis vertieft und als Tiefendimension des Lebens gedeutet werden kann. Insofern bilden insbesondere die antiken Mysterien von Tod und Auferstehung (etwa Demeter und Persephone, Adonis oder auch der Mithraskult) für Hasenhüttl auch für ein christliches Verständnis der Sakramente Grundmodelle: „So hatten diese Mysterienkulte auch nichts ‚Mysteriöses‘ in dem Sinne an sich, dass man durch ein besonderes Wissen hinter das Geheimnis kommen konnte, sondern gerade umgekehrt: Je mehr man vom Mysterium wusste und je mehr man es vollzog, um so tiefer wurde das Geheimnis. Ähnliches gilt auch für eine echte mitmenschliche Beziehung. Ursprünglich also meint ‚mysterion‘, Geheimnis,
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kein Rätsel, das nach der gefundenen Lösung aufhört, ein Rätsel zu sein, sondern den Mitvollzug eines Geschehens, das erst durch das Mitmachen selbst zum Geheimnis wird“ (2001, Bd. II, S. 390). Durch dieses Mitfeiern eröffnet sich den Beteiligten ein neuer Sinnhorizont. Sie erfahren sich selbst und die Mitfeiernden neu. Selbst ihre Beziehung zur äußeren Welt erscheint in einem anderen, neuen Licht. Daraus ergibt sich jedoch kein objektiver neuer Tatbestand, der analytisch untersucht werden könnte. Es wird vielmehr eine neue Beziehung gestiftet, die sich gegenüber anderen Menschen, aber auch zum Beispiel gegenüber Dingen konstituieren kann. Ein Stein, der mir auf einem Berggipfel nach einer schwierigen Wanderung von einem Freund geschenkt wurde, ist für mich einmalig, unersetzbar, und dies gerade nicht aufgrund seiner objektiven Beschaffenheit, sondern wegen der mit ihm verbundenen geschichtlich vermittelten kommunikativen Erfahrung. Alle Beteiligten sind hier konstitutiv für dieses „Geheimnis“ des Steins. Durch die mit dem Stein zum Ausdruck gebrachte Erfahrung haben sie sich selbst verändert und fühlen sich beschenkt. Sie alle transformieren den objektiv unveränderten Stein und erheben ihn auf eine neue Sinnebene. Da diese neue Wirklichkeit als Beziehungswirklichkeit entstanden ist, kann sie auch nur als solche verstanden, gedeutet und vermittelt werden: „Es wird keine ‚Hinterwelt‘ erschlossen, keine zweite Wirklichkeit, sondern es wird im Umgang mit etwas eine Erfahrung gemacht, die Beziehung ist und erschließt“ (2001, Bd. II, S. 399). Gerade diese transformative Praxis aller Beteiligten vermisst Hasenhüttl weitgehend in der kirchlichen Sakramentenpraxis. Nur zu häufig wird ihr eine gleichsam magische, aus sich selbst wirkende Bedeutung zugesprochen. Die Gläubigen werden zu Konsumenten eines Vorgangs, bei dem sich, gleichsam objektiv, durch die Handlung und die Worte des Sakramentenspenders eine vorgegebene Wirklichkeit (zum Beispiel Brot und Wein bei der Eucharistie) verwandelt. Ein solcherart magisch gedeutetes Sakramentenverständnis „verlegt das Symbolisierte ins Symbol, so dass dieses aus sich heraus die Wirkkraft des Heiles erhält“ (2001, Bd. II, S. 393). Auch in seinen Ausführungen zu den Sakramenten steht das immer wieder auftauchende Grundmotiv in Hasenhüttls gesamtem theologischen Neuansatz im Vordergrund: die Freiheit. Während ein magisches Sakramentenverständnis den Menschen gleichsam von sich selbst entfremdet, indem es auf ein Geschehen verweist, das auch unabhängig von
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ihm geschieht und dessen Ergebnis er zu adaptieren hat, ist die freie Mitwirkung jedes Beteiligten am sakramentalen Vollzug nach Hasenhüttls Verständnis unabkömmlich. Ohne diese freie Teilnahme kommt das Geschehen selbst nicht zustande, wie dies immer schon zum Beispiel in der traditionellen Theologie des Ehesakraments betont wurde: Beide Eheleute spenden sich das Sakrament gegenseitig; wenn einer nicht mitwirkt, kommt das Sakrament nicht zustande. Zentral für das Verständnis wie das Missverständnis der Sakramente ist und bleibt der Begriff des Symbols. Gegenüber einer umgangssprachlichen Deutung, die mit dem Ausdruck „nur symbolisch“ einen Weniger an Wirklichkeit ausdrücken möchte, schreibt Hasenhüttl: „Symbole verweisen auf ein Mehr der Wirklichkeit, das die empirische und historische Feststellbarkeit überschreitet. Die Wirklichkeit soll dadurch gesteigert werden. Religiöse Symbolhandlungen sind Verdichtungen der Wirklichkeit – darin liegt das ‚Besondere‘, das ‚Geheimnis‘“ (2001, Bd. II, S. 395). Da Symbole sozial geteilt und vermittelt werden, stärken sie gleichzeitig die jeweilige Gemeinschaft. In diesem Sinne deutet Hasenhüttl auch die Funktion der „symbola fidei“, der sprachlich formulierten Glaubensbekenntnisse der alten Kirche: „Die symbola fidei waren nicht ein Bekenntnis gegenüber Gott, sondern Symbole der Gemeinschaft untereinander“ (2001, Bd. II, S. 396). Symbole gelten somit nur dort, wo sie sozial konstituiert und vermittelt sind. Es bedarf der aktiven Teilnahme aller betreffenden Menschen; es gibt nicht Wissende und Unwissende, Aktive und Passive: „Mitmachen“ ist vielmehr „die Bedingung der Möglichkeit symbolischen Handelns. ‚Mitmachen‘ ist aber Anfrage an die Person. (…) Symbol ist daher eine personale (relationale) Begegnungsweise zwischen Mensch und Mensch. Es leugnet nicht die Freiheit des anderen (wie die Magie), es zwingt nicht, sondern bejaht sie. Mitmachen ist ein Sich-Binden in Freiheit, als Beziehungsaufnahme, macht Dinge und Handlungen zu Symbolen. In ihnen gibt eine Person der anderen Raum, einen ‚Spielraum‘. Symbolisches Handeln ist kein Besitzergreifen, kein Besessensein, sondern ermöglicht personal die Selbstwerdung des anderen“. Dies gilt auch bezüglich des christlichen Grundsymbols vom Tod und Auferstehung Jesu Christi: „Das Geschick eines Gottes oder das Kreuz Christi werden erst dann Symbole, wenn ich mich in ihnen neu verstehe, neu werde und ich selbst als ‚alter‘ Mensch ‚geopfert‘ werde und als ‚neuer‘ auferstehe“ (2001, Bd. II, S. 399 f.). Der Nachvollzug des Symbolisierten in der eigenen, sozial und
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geschichtlich konstituierten Lebenswelt zeigt erst, ob dem Symbol eine Wirklichkeit zukommt oder ob es ein leeres und insofern auch unverständliches Zeichen ist. Die freie Teilnahme an symbolischen Handlungen eröffnet den Menschen einen neuen Sinnhorizont, sie legt die Menschen nicht auf vorgefertigte Deutungsmuster fest. Daher sind alle echten Symbole eine Provokation: Sie rufen aus tradierten Deutungssystemen heraus und rufen auf zur aktiven Suche nach neuen Lebensmodellen. Christliche Symbole und die entsprechenden sakramentalen Symbolhandlungen sehen in der Beziehung zum Lebensmodell Jesu Christi eine neue Lebensausrichtung: die Umkehr zu sinnvollem, als heilsam erfahrbaren und sozial vermitteltem Leben. Da Sinn aber nie machbar oder instrumentell-technisch herstellbar ist, zeigt sich im Symbol zugleich sein Charakter als Geschenk. Ein Geschenk darf allerdings nicht missverstanden als etwas, das von außerhalb des kommunikativen Handelns kommt. Dann nämlich würde sich die im Rahmen der Theodizee so oft gestellte Frage ergeben: Warum wird dem einen geschenkt und dem anderen nicht? In der Sprache Hasenhüttls: „Die primären Symbole sind dialogische Sprach- und Handlungssymbole. Dieser Dialog findet aber nicht zwischen Gott und Mensch statt, sondern als Beziehung zwischen Menschen. (…) In dieser zwischenmenschlichen Relation kann sich, vermittelt durch das Symbol, Gott ereignen, gegenwärtig werden, wie dies auch für Freundschaft und Liebe gilt“ (2001, Bd. II, S. 402). In diesem Sinne beinhalten sakramentale Symbolhandlungen zugleich die Aufforderung, an der Umgestaltung auch der äußeren politischen und sozialen Verhältnissen mitzuwirken, damit die in der Symbolhandlung erfahrbare göttliche Wirklichkeit auch von anderen in deren jeweiligen Kontexten erfahrbar werden kann: „Kirchliche Liturgie darf keine Gemeinschaft, die nicht besteht, vorgaukeln, sondern muss appellativ Menschen einbeziehen, einladen zum Mitmachen, damit Leid, Not und Elend, Lieblosigkeit und Hass überwunden werden und ein ‚erlöstes Dasein‘, eine bessere Welt, eine neue Wirklichkeitserfahrung eingelöst wird“ (2001, Bd. II, S. 403).
6.4 Das Beispiel der Eucharistie „In keiner anderen Symbolhandlung wird die Glaubensgemeinschaft so sichtbar wie in der Eucharistiefeier, beim Gottesdienst“ (2001, Bd. II,
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S. 461). Hasenhüttl beschreibt an dieser Stelle nicht nur einen Wesensvollzug jeder christlichen Gemeinschaft, sondern er dokumentiert damit zugleich seinen eigenen Bezug zu diesem zentralen Sakrament, das er siebzig Jahre lang fast täglich gefeiert hat – beginnend als Kind und als Ministrant, später als Priester bis hin zur Suspendierung. Zugleich beschreibt er die Grundlagen seines eigenen Verständnisses der Eucharistie und legt somit auch die theoretischen Grundlagen für sein praktisches Handeln im Zusammenhang mit dem ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003. Kultische Mähler gibt es in vielen Religionen. Das Spezifikum der Eucharistie liegt darin, dass hier Christuserfahrung gemacht werden kann. Konkret stellt sich aber schon seit der Antike die Frage, wie die Gestalten von Brot und Wein diese Christuserfahrung vermitteln können. Pointiert gefragt: Wie vollzieht sich die Wandlung dieser natürlichen Objekte von Brot und Wein in Zeichen der Anwesenheit Jesus Christi in der Feier der Glaubensgemeinschaft? Eine direkte biblische Ableitung dieses Sakraments ist wegen der nicht harmonisierbaren Spannungen zwischen den einzelnen Texten problematisch bis unmöglich (vgl. 1. Kor. 11,23–26; Mk. 14,22–25; Mt. 26,26–29; Lk. 22,17–20; vgl. Trummer 2001). In jedem einzelnen Text spiegelt sich die jeweilige Tradition der Gemeinde, in welcher dieser entstanden und weitergegeben wurde. Selbst die Frage, wann Jesus dieses Abschiedsmahl gefeiert hat und wie er es vor seiner Passion und seinem Tod verstanden hat, ist nicht eindeutig zu eruieren. Nach den Synoptikern hat Jesus dieses Mahl gemäß dem jüdischen Kalender als Passahmahl mit seinen Freunden gefeiert. Nach dem Johannesevangelium aber ist Jesus bereits am Rüsttag des Passahfestes (14. Nisan) hingerichtet worden (vgl. Theißen/Merz 1997, S. 152). Das Mahl muss demzufolge bereits am Vorabend gefeiert worden sein. Sah er oder sahen die Autoren der entsprechenden Texte eine Analogie zwischen seinem Leiden und Sterben und dem Schlachten der Passahlämmer am Rüsttag vor Passah? Kann überhaupt aus den biblischen Texten eine Deutung Jesu seines eigenen Geschicks aufgezeigt werden oder sind dies nachträgliche Interpretationen? Eberhard Jüngel (* 1934) fasst den Stand der entsprechenden exegetischen Untersuchungen zusammen: „Jesus selbst hatte freilich seinem Tod keine erkennbare Bedeutung gegeben. Die exegetische Erforschung des Neuen Testaments hat es als in hohem Maße wahrscheinlich erweisen, dass alle neutestamentlichen Aussagen, die den Tod Jesu als Heilsereignis verstehen erst nach Jesu Tod entstanden sind. Sie setzen die
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Auferstehung Jesu, genauer: den Glauben an den Auferstandenen voraus. Ein Mensch, der Gottes Nähe den Gottlosen bedingungslos zusagt und das Gebot der Liebe den Lieblosen gegenüber kompromisslos zur Geltung brachte, musste zwar durch Wort und Tat erbitterten Widerspruch – nicht nur der herrschenden Autoritäten – hervorrufen und musste wohl auch selber mit der Möglichkeit eines gewaltsamen Endes rechnen. Aber Jesus hat sein Lebensende jedenfalls in den uns erhaltenen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ihn selbst zurückführbaren Worten, nicht als ein für das Leben und Sterben anderer Menschen bedeutsames Ereignis angekündigt. Wir wissen auch nicht, wie er das über ihn verhängte Todesurteil aufgenommen hat. Selbst die Worte des Gekreuzigten sind dem sterbenden Jesus wahrscheinlich erst nachträglich zugeschrieben worden“ (Jüngel 1977, S. 121 f.). Hasenhüttl kann sich dem inhaltlich voll anschließen. Zudem erhält ein Geschehen der Vergangenheit nicht abstrakt und „an sich“ Bedeutung in der Gegenwart, sondern nur durch den Vollzug der Gläubigen. Darüber hinaus entsteht eine Spannung zwischen der jesuanischen Aufforderung zur Wiederholung des Mahles („Tut dies zu meinem Gedächtnis“) und seiner spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts von den Exegeten übereinstimmend aufgewiesenen Überzeugung vom baldigen Ende der Welt und dem bevorstehenden Kommen des endzeitlichen Menschensohns. Der Gedanke vom baldigen Ende der Zeit lässt eine „Einsetzung“ eines institutionalisierten Sakramentes als sehr unwahrscheinlich erscheinen. Gerade die in vielfältigen innerchristlichen und besonders in innerkatholischen Diskussionen oft als wörtlich verstandenen „Einsetzungsworte“ („Das ist mein Leib“; „Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut“, vgl. 1. Kor. 11,24 und 25) fehlen ganz im Johannesevangelium. Dieses erzählt statt einer Einsetzungsgeschichte vom Liebesdienst der Fußwaschung Jesu an seinen Jüngern (vgl. Joh. 13,1–20). Für Hasenhüttl ist dies ein eindeutiger Hinweis: „Nur von hierher hat die Verheißung Jesu, Fleisch und Blut als Speise zu geben (Joh. 6), einen Sinn. Die Lebensform Jesu, Mensch-Sein für andere und nicht für sich, soll Speise für die Christen sein. Füreinander einstehen, wie Christus für uns, das ist christliche Existenz“ (2001, Bd. II, S. 470). Auch ist der fundamentalistische Rekurs auf die fast magisch verstandene Formel „hoc est enim corpus meum“ – „das ist mein Leib“ – schon deswegen unbegründet, da es in der aramäischen Sprache Jesu dieses Hilfsverbum „ist“ so gar nicht gibt.
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Kann überhaupt aus den biblischen Texten eine eindeutige Interpretation des sogenannten „letzten Abendmahls“ herausgearbeitet und auch für die heutige Feier der Eucharistie als verbindlich vorgegeben werden? Hasenhüttl stellt in Anbetracht der Vielfalt von ungeklärten und letztlich auch nie mehr ganz zu klärenden Fragen zunächst als allgemeinen Interpretationsrahmen fest: „In diesem Mahl [hat] der Brot- und Becherritus (…) die Funktion, Gemeinschaft zu stiften, und zwar als Teilhabe am Leben und Schicksal dessen, der in der Gemeinde vergegenwärtigt werden soll. Es ist Zeichen der Schicksalsgemeinschaft mit Jesus. So wie Jesus bis zum letzten Einsatz seines Lebens für andere da war, so sollen im dankbaren Gedächtnis die Glaubenden die gleiche Praxis fortführen“ (2001, Bd. II, S. 469). Gedächtnis und Umkehr der eigenen Lebensmaximen bis hin zur Hingabe des Lebens für andere sind somit die beiden Pfeiler eines jeden Verständnisses dieses Sakramentes. Da diese Umkehr und die konsequente Orientierung der eigenen Lebenspraxis am Modell Jesu als befreiend und heilsam erfahren werden, kann diese Feier zur Danksagung, zur „Eucharistie“ werden. Wichtig ist aber auch hier die konkrete Teilnahme aller am Vollzug dieses Sakramentes. Glaube darf auch hier nicht zum Ersatzglauben werden, sondern muss als Ausdruck einer auf Erfahrung basierenden Grundüberzeugung verstanden werden: „Die Sinngebung der Eucharistie als christliches Zentrum wird dort verständlich, wo sie Symbol für die Einheit und Verwandlung der Christen ist. Ichsucht wird verwandelt in ein solidarisches Leben. Nicht das Symbol selbst ‚in sich‘ ist einer Wandlung unterworfen, sondern wir Christen sollen im Vollzug dieser Symbolik gewandelt werden. So erhält auch das Symbol von Brot und Wein einen anderen Sinnhorizont. In ihm liegt auch die Hoffnungsperspektive des Mahles. Niemand kann mehr tun, als sein Leben hingeben für seine Freunde. So ‚stiftet‘ Jesus neue Lebensmöglichkeiten für andere“ (2001, Bd. II, S. 470). Hasenhüttl setzt sich mit den vielfältigen Versuchen in der Theologiegeschichte auseinander, das Verhältnis zwischen den äußeren Gestalten von Brot und Wein einerseits sowie dem anwesenden Jesus Christus andererseits zu bestimmen. Er fasst die Diskussion in drei Deutungsmodellen zusammen: Die „Konsubstanziationstheorie“ ist der Ansicht, dass die Substanzen von Brot und Wein weiter bestehen, während die Substanz von Leib und Blut Christi hinzukommt; die „Assimilations- beziehungsweise Substitutionstheorie“ ersetzt Brot und Wein substanziell durch Leib und Blut; die nach der Reformation gemäß dem Konzil von Trient (1545–
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1563) im kirchlichen Lehramt bevorzugte „Transsubstanziationstheorie“ schließlich sagt aus, dass Brot und Wein substanziell in Leib und Blut Jesu Christi verwandelt werden (vgl. 2001, Bd. II, S. 474). Allen drei Deutungsmöglichkeiten ist gemeinsam, dass sie – völlig losgelöst vom Glaubensvollzug der Mitfeiernden – spekulativ bestimmt werden. In allen drei Modellen ist der Glaube nur im Sinne eines nicht wissenden Ersatzglaubens erfasst. Zudem geht es in allen drei Versuchen um den komplexen Begriff der „Substanz“, der einer differenzierten Bedeutungsverschiebung unterliegt. In der Moderne und nach der Ausbildung der Naturwissenschaften bezeichnet „Substanz“ das chemisch oder physikalisch Bestimmbare. Salzwasser zum Beispiel unterscheidet sich von anderem Wasser wesentlich dadurch, dass sich durch Verdunstung Salz „niederschlägt“, es setzt sich unten ab, was sich in dem Wort „sub-stanz“ wiederfindet. Anders wird der Begriff im metaphysischen Sinn gedeutet: Hier wird Substanz verstanden als „Wesen“, als „wesentlich“ dem bloß vorhandenen Seienden vorausgehend. Wie aber kann der Begriff im Kontext der Anthropologien von Scheler und Bultmann verstanden werden, auf die sich Hasenhüttl bezieht? In diesen Ansätzen vollzieht der Mensch seine Existenz „wesentlich“ und beschränkt sich nicht auf sein faktisches Dasein. Sonst würde er sein Wesen verfehlen. Menschliche Vollzüge aber sind immer relational, sie sind „wesentlich“ angewiesen auf die Kommunikation mit anderen. Handelt der Mensch nun in seinen kommunikativen Vollzügen mittels Symbolen, verwandelt sich zwar nicht deren naturwissenschaftliche Substanz (Brot bleibt Brot, Wein bleibt Wein), ihr erfahrbares „Wesen“ aber, das heißt ihr Sinn und Wert, erfährt eine grundlegende Veränderung: Wie der Stein als Geschenk nach einer Bergwanderung mit Freunden „wesentlich“ mehr ist, als seine chemische „Substanz“ aussagt, und insofern eine „Transsubstanziation“, eine wesentliche Verwandlung, erfahren hat, so erfahren auch Brot und Wein in der kommunikativen Feier der Eucharistie eine grundlegende Veränderung. Diese „Wandlung“ aber ist nicht magisch und gerade auch nicht etwas, das man im Sinne von „blind und erfahrungslos annehmen“ glauben muss. Ursache, Bezug und Verifikation dieser Transsubstanziation ist vielmehr die feiernde Gemeinde selbst: „Von unserem Verständnis her kann in der Glaubensgemeinschaft bei der symbolischen Eucharistiefeier Erfahrung der Gegenwart Jesu Christi gemacht werden, indem in Dank und in der Hoffnung Gemeinschaft der Liebe verwirklicht wird. Die Symbolhandlung ist Praxisanwei-
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sung. Ist die Praxis ein ‚Über-sich-selbst-Hinausgehen‘ und ist dies die Existenzweise Christi, nämlich für andere dasein, dann ist mit der Eucharistiefeier auch der ‚Opfer‘gedanke verbunden“ (2001, Bd. II, S. 482). So kann auch vom „Messopfer“ gesprochen werden, das nach kirchlicher Tradition keine Wiederholung des Todes Jesu darstellt, sondern seine Vergegenwärtigung. Brot und Wein sind dann die Symbole, in denen der erfahrbare Glauben derer, die Eucharistie feiern, anschaulich zum Ausdruck kommt. Dadurch erhalten sie als Symbole für die Feiernden Sinn und Wert. Um einer Verobjektivierung und einem magischen Eucharistieverständnis zu wehren, erwähnt Hasenhüttl in diesem Zusammenhang ein anschauliches Beispiel aus dem Mittelalter. Es wurde gefragt, was passiert, wenn eine Maus eine Hostie frisst. Die Antwort lautete: Theologisch ist dies belanglos, die Maus frisst Brot und nicht den „Leib des Herrn“. Ohne den Zusammenhang mit einer Glaubensgemeinschaft besteht keine Wandlung, ist keine im Brot symbolisch verdichtete Anwesenheit Jesu Christi (vgl. 2001, Bd. II, S. 478). Von einer solchen feiernden Gemeinschaft kann Jesus Christus als Prädikat ausgesagt werden. Er ist dabei „weder Subjekt noch Objekt der Eucharistiefeier, er steht dem Menschen nicht ‚gegenüber‘, sondern ist neue Lebensgrundlage eines Lebens der Versöhnung. Diese neue Möglichkeit der christlichen Mahlgemeinschaft schließt freilich ein Mitmachen der jesuanischen Bewegung mit ein (…) So ist Eucharistiefeier nicht einfach ein ‚fröhliches‘ Beisammensein im Namen Jesu, nicht nur ein Dank dafür, dass Jesus Christus für andere sein Leben lebte, sondern zugleich symbolisches ‚Opfermahl‘ als Zeichen für das Einstehen der Menschen füreinander, für die Erfüllung menschlichen Daseins in der Versöhnung aller Menschen“ (2001, Bd. II, S. 485). In diesem Sinne wurde auch in der Tradition der Schlusssatz verstanden, welcher der ganzen Eucharistiefeier den umgangssprachlichen Namen „Messe“ gab: „ite misse est“ – geht hin, ihr seid dazu gesandt, das hier Gefeierte in eurem Leben umzusetzen und mit neuem Leben zu erfüllen. Wenn aber durch die feiernde Gemeinde die Verifikation, die Bewahrheitung des Sakraments der Eucharistie geschieht, dann kann Hasenhüttl im Rückgriff auf seine Ausführungen über eine geistvolle Glaubensgemeinschaft sagen: „Von unseren theologischen Voraussetzungen ist ein relationales Wandlungsgeschehen in der eucharistischen Mahlfeier auch ohne Priester möglich“ (2001, Bd. II, S. 482). Zwar kann eine institutionalisierte Kirche rein rechtlich und formal bestimmen, wie in ihrem Rahmen
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der Vollzug der Sakramente zu geschehen habe und wie diese zu deuten seien. Allerdings lassen sich per Dekret die Vollzüge des Glaubens ebenso wenig wie die Vollzüge der Liebe bestimmen. Feiern mündige Gläubige ihren Glauben auf verantwortungsvolle Weise so, dass für diese Feier Christus als Prädikat ausgesagt werden kann, dann ist dies nach Hasenhüttl im wörtlichen Sinne „Eucharistie“: Dank und Preis für das hier Erfahrene. Diese Eucharistie kann dann auch so gefeiert werden, wie es aus den Gemeinden des Paulus überliefert wurde: ohne das Amt eines Priesters. Vor dem Hintergrund dieses theologischen Ansatzes würde sich fast die Frage erübrigen, wer an diesem eucharistischen Mahl teilnehmen darf – wenn nicht kirchliche Verlautbarungen diese Frage immer wieder neu entstehen lassen. Hasenhüttl weist darauf hin, dass insbesondere die lateinamerikanische Befreiungstheologie daran Kritik geübt hat, dass in der Unrechtssituation dieser Länder kein Unterdrücker und Ausbeuter vom Sakrament ausgeschlossen wurde, während die katholische Kirche bis zur Gegenwart Menschen den Zugang zur Eucharistie verwehrt, die nach dem Scheitern einer Beziehung ein neues (Ehe-)Glück wagen: „Diese kirchliche Praxis zerstört den Sinn der Eucharistie“ (2001, Bd. II, S. 486). Eucharistie als Versöhnung und gleichzeitiges Versprechen, Unrecht zu bekämpfen, hat über die Feier hinaus enorme gesellschaftspolitische und soziale Relevanz. Konkret bedeutet dies den Einsatz für die „Aufhebung sozialer Ungerechtigkeit, wie sie in den verschiedenen Wirtschaftssystemen besteht“, die „Aufhebung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten und Herrschaftssysteme aller Art“, die „Aufhebung des Rassismus, so dass wirklich alle Menschen verschiedener Hautfarbe und Rasse gleiche Chancen haben“, die „Aufhebung des Machismus, so dass die geschlechtlichen Unterschiede nicht zu Benachteiligung führen“. Hasenhüttl erwähnt hier ausdrücklich auch das Priestertum für Frauen und plädiert für die „Aufhebung des Konfessionalismus, der pseudotheologisch argumentiert, um Kirchentrennungen aufrechterhalten zu können“ (2001, Bd. II, S. 487). Zeigt sich die „Realpräsenz“ Jesu Christi bei der Eucharistiefeier im Glaubensvollzug der Feiernden selbst, spielen konfessionelle Grenzen ebenso keine Rolle wie Geschlecht, gesellschaftlicher Stand oder Nationalität. Dies wäre die Verwirklichung der Herrschaftsfreiheit und Gleichheit, von der Paulus immer wieder spricht (vgl. Gal. 3,27 f.; 1. Kor. 12,12 ff.): „Wir können nur hoffen, dass das kultische, sakramentale, symbolische
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Mahl entmythologisiert einmal wirklich das bezeichnet, was es wirklich bewirken will: Versöhnung und Verständigung aller“ (2001, Bd. II, S. 489). Die Feier der Eucharistie im Kontext des Ersten Ökumenischen Kirchentags in Berlin 2003 wurde von den Beteiligten in diesem Sinne erfahren und als geistvoll gedeutet.
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Zukunft – zwischen Spekulation und liebevoller Hoffnung 7.1 Die Gegenwart des Heils
Der Ausdruck „Eschatologie“ wird umgangssprachlich häufig übersetzt mit: „Lehre von den letzten Dingen“. Inhaltlich geht es dabei um die Themen Tod, letztes Gericht, Himmel, Hölle, Fegefeuer, Vollendung des einzelnen Menschen und der ganzen Menschheit sowie Erneuerung des Kosmos. Letztlich ist jeder einzelne der genannten Aspekte, die auch Eschata genannt werden, problematisch. Sind Tod, Himmel oder Hölle wirklich „Dinge“, vorhandene Sachen? Liegt nicht ein grundsätzliches Problem darin, dass hier über religiös deutbare menschliche Grund- und Grenzerfahrungen mit den Kategorien der Gegenständlichkeit gesprochen wird? Während der Tod als auch empirisch beschreibbares Geschehen verstanden werden kann, entziehen sich Himmel, Hölle und die anderen genannten Phänomene diesem Zugang. Zudem stellt sich die Frage nach der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs „letzte Dinge“. Wird dieser Ausdruck zeitlich verstanden, im Sinne von etwas, das als Letztes in der Zeit, als zeitlicher Endpunkt geschieht, dann werden die einzelnen Inhalte wieder mit den Kategorien des (zeitlich) Messbaren, Verobjektivierbaren beschrieben und insofern in ihrem Wesen verkannt. Besser würde der Begriff verstanden, wenn er im Sinne von etwas gedeutet würde, was mich „letztlich“, „zutiefst“ angeht. Gerade diese Erfahrung ist aber nicht mit der empirischen Zeitmessung zu erfassen. Sie ist aber auch nicht einfach „jenseits“, getrennt von Raum und Zeit, sie spricht vielmehr von deren Tiefendimension. Der Begriff der „Lehre“ unterstellt zudem in diesem Zusammenhang, dass es hier um ein Expertenwissen geht, das den einen von den anderen beigebracht wird. Dass der mündige und freie Gläubige aufgrund seiner eigenen, sozial vermittelten Erfahrung selbst einen Zugang zu diesen Glaubensaussagen haben könnte, wird weitgehend ausgeblendet. Das Resultat dieser Form der Vermittlung zeigt deutlich: Auch konfessionell gebundene Menschen negieren meist die offiziellen Aussagen der Glaubensdoktrin bei diesem Thema. Wenn die Lehre dennoch angenommen wird, dann meist im Sinne eines Ersatzglaubens, der mit der eigenen Erfahrung nicht verbunden werden kann. Wie aber könnten Tod, Himmel und Hölle
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so zur Sprache kommen, dass menschliche Erfahrung damit an- und ausgesprochen wird? Auch die Aussagen des „Katechismus der Katholischen Kirche“ (KKK) helfen nicht weiter. Dort heißt es unter der Überschrift „Die Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde“: „Am Ende der Zeiten wird das Reich Gottes vollendet sein. Nach dem allgemeinen Gericht werden die Gerechten, an Leib und Seele verherrlicht, für immer mit Christus herrschen, und auch das Weltall wird erneuert werden“. (KKK Nr. 1042, S. 297). Hier wird „Reich Gottes“ wieder in den Kategorien von Raum und Zeit gedacht: Nach dieser Zeit kommt eine andere. Diese neue Zeit dauert dann zwar unendlich an, sie wird aber weitgehend als Prolongation, als Verlängerung der irdisch-empirischen Zeit gedacht. Sollte es nicht auch zu denken geben, dass inhaltlich bei dieser anderen Zeit davon die Rede ist, dass die Gerechten für alle Zeit herrschen werden? Bildet dies nicht exakt die herrschenden irdischen Verhältnisse ab? Demgegenüber konnte das Leben und Wort Jesu Christi gerade als Alternative des Dienens und der Herrschaftsfreiheit beschrieben werden. Vor diesem Hintergrund arbeitet Hasenhüttl seine eigenen Gedanken zur Eschatologie aus. Damit möchte er die oben beschriebenen „Holzwege“ aufzeigen und im eigenen Entwurf Alternativen anbieten. Methodisch geht er dabei so vor, dass er sich mit den vielfältigsten Entwürfen von Utopien, Futurologien und Zukunftsmodellen auseinandersetzt (vgl. 2001, Bd. II, S. 624–667). Hasenhüttls eigene Gedanken zur Eschatologie verdanken sich auch seinen bisherigen Überlegungen zu Anthropologie, Christologie und Gotteslehre. So erweist sich auch hier seine Theologie als in sich kohärent: „Zu oft wurden diese ‚letzten Dinge‘ eben als Sachen, als ‚Dinge‘ verstanden, als gegenständlich fassbare Zustände, die sich am Ende des einzelnen Lebens wie am Ende der Geschichte einstellen werden. Durch die Verdrängung der ‚letzten Dinge‘ an die Grenzen menschlicher Existenz verloren sie auch ihren Charakter als Realutopie, als Hoffnung, die sich im menschlichen Leben und nicht erst am Ende realisieren lässt, die Ansporn für ihre Verwirklichung hier und jetzt ist“ (2001, Bd. II, S. 561). Zentraler Bezugspunkt ist für Hasenhüttl zunächst wieder die Theologie und Anthropologie Rudolf Bultmanns. Hier sind es insbesondere Bultmanns „Gifford Lectures“, die dieser 1954/55 in Edinburgh gehalten und später unter dem Titel „Geschichte und Eschatologie“ veröffentlicht hat (vgl. Bultmann 1979). Aussagen zur Eschatologie basieren bei Bult-
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mann wiederum auf seinem Verständnis der menschlichen Existenz und deren Ausrichtung auf die christliche Botschaft. Menschsein besteht dabei im Vollzug und nicht in metaphysischer oder empirischer Vorgegebenheit: „Geschichtlichkeit ist das Wesen des Menschen, der in keinem Jetzt in der Erfüllung seines eigentlichen Seins steht, sondern der immer unterwegs ist“ (Bultmann 1979, S. 172). Wenn der Mensch nur als faktisches Dasein im Kontext der historischen Daten bestimmt wird, kann er nicht als geschichtliches Wesen erkannt werden. Im Vollzug seiner Existenz hat er vielmehr die Freiheit und dadurch auch die Aufgabe, sein Wesen durch eine freie Entscheidung selbst zu konstituieren: „Auch das, was wir Personalität nennen, ist keine Substanz“, sie ist vielmehr ein Bündel offener Lebensmöglichkeiten: „Wie ich mich selbst als Person verstehen will, ist stets eine Sache der Entscheidung“ (ebd., S. 175). In der Grundentscheidung geht es dabei nicht um eine Entscheidung zwischen vorhandenen Dingen oder Wegen, sondern letztlich um Selbstwahl: Verstehe ich mich aus Vorhandenem und leite ich Existenz und Handeln aus Vorgaben ab, oder verstehe ich mich frei gegenüber diesen Vorgaben? „Der Blick auf die verschiedenen Möglichkeiten ruft vielmehr die Frage nach dem legitimen Selbstverständnis wach. Wie muss ich mich verstehen? Gibt es ein falsches Selbstverständnis? Kann Selbstverständnis nicht irregehen? Ist das Risiko menschlichen Lebens zu vermeiden durch den Besitz einer Weltanschauung?“ (ebd., S. 177). Da der Mensch immer wieder in der Gefahr lebt, sich von außen festlegen zu lassen oder sich selbst festzulegen, muss er zu seiner eigenen Freiheit befreit werden. Freiheit muss ihm zugesprochen, sie muss ihm geschenkt werden. Im Leben und Werk Jesu Christi sieht Bultmann diese Freiheit verwirklicht: „Das aber ist es, was der christliche Glaube zu empfangen bekennt: das Geschenk der Freiheit, durch die der Mensch sich von sich selbst befreit und so sich selbst neu geschenkt wird“ (Bultmann 1979, S. 180). Der Christ steht somit in einer Relation zu dieser Freiheitsbotschaft, und er muss sich entscheiden, wie er auf diesen Ruf der Freiheit reagiert: „Die Verkündigung fordert als Anrede Entscheidung (…) In der Entscheidung des Glaubens entscheide ich mich nicht für eine verantwortliche Tat, sondern für ein neues Verständnis meiner selbst als des durch Gottes Gnade von sich selbst befreiten und sich neu geschenkten Menschen, und damit für ein Leben aus der Gnade Gottes“. Diesem neuen Selbstverständnis folgen dann die einzelnen Entscheidungen zu konkreten Handlungen. Dies darf aber nicht so verstanden werden, „als ob mir der
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Glaube die je vom geschichtlichen Augenblick geforderten Entscheidungen abnehmen würde, sondern so, dass alle meine Entscheidungen, all mein verantwortliches Tun von der Liebe getragen ist. Diese, als das reine Sein für die anderen, ist nur dem möglich, der von sich selbst freigeworden ist“ (Bultmann 1979, S. 181). Auf diese Weise erhält der Begriff „Eschatologie“, die Rede vom Letztgültigen, eine neue Bedeutung, die Bultmann wiederum in den Schriften des Neuen Testament angelegt sieht: „Es ist die Paradoxie der christlichen Verkündigung bzw. des christlichen Glaubens, dass das eschatologische Geschehen nicht echt in seinem eigentlichen Sinne verstanden ist – jedenfalls nach Paulus und Johannes –, wenn es als ein Geschehen aufgefasst wird, das der sichtbaren Welt ihr Ende setzt in einer kosmischen Katastrophe, sondern dass es ein Geschehen innerhalb der Geschichte ist“. Immer dann, wenn Menschen durch ihre Entscheidung zur Liebe „Letztes“, „Endgültiges“ erfahren, kann dies als eschatologisches Geschehen gedeutet werden, zu dem der Christ durch den Glauben herausgefordert ist: „Jesus Christus ist eschatologisches Ereignis nicht als ein Faktum der Vergangenheit, sondern als der jeweils hier und jetzt in der Verkündigung Anredende“ (Bultmann 1979, S. 181). Dadurch steht der Mensch nicht außerhalb der Profangeschichte. Er wird aber auch nicht von ihr determiniert. Steht er demnach in freiheitlicher Beziehung zur Geschichte, dann kann er so handeln, dass in der Geschichte für ihn und die anderen das Eschaton, das „Letzte“, hier und jetzt erfahren wird: „Jeder Augenblick hat die Möglichkeit, ein eschatologischer Augenblick zu sein, und im christlichen Glauben ist diese Möglichkeit verwirklicht“ (ebd., S. 183). Dies aber bedeutet: „Der Sinn der Geschichte liegt je in der Gegenwart, und wenn die Gegenwart vom christlichen Glauben als die eschatologische Gegenwart begriffen wird, ist der Sinn der Geschichte verwirklicht (…). Je in deiner Gegenwart liegt der Sinn der Geschichte, und du kannst ihn nicht als Zuschauer sehen, sondern nur in deinen verantwortlichen Entscheidungen. In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische Augenblick zu sein. Du musst ihn erwecken“ (Bultmann 1979, S. 184). Hasenhüttl stimmt dieser Neubestimmung der Eschatologie durch Bultmann grundsätzlich zu – auch wenn er Erweiterungen und Konkretisierungen vornimmt: „Das Eschaton ist keine kosmische Katastrophe am Ende der Weltgeschichte, sondern ein Geschehen innerhalb der Geschichte und ihr Sinn (…) Eschatologie ist ein Begriff für die eigentliche
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menschliche Existenz, in der sich im Augenblick der Entscheidung die letzte Wirklichkeit ereignet (…) Die Entwicklung der Welt hat nur als Entscheidungsfeld für die eschatologische Existenzweise ihre Bedeutung. Die Gegenwart ist die primäre Zeitdimension, in der letzte Wirklichkeit Ereignis wird“ (2001, Bd. II, S. 630). Der Augenblick der Entscheidung zeigt Letztes, Ewiges auf. Er verbindet als „Fülle der Zeit“ Vergangenheit und Zukunft. Im Augenblick steht der Mensch über der empirischen Zeit, sie spielt keine Rolle. In der Erfahrung einer gelungenen Begegnung vergeht die Zeit „wie im Nu“, sie ist aufgehoben in der Zeitlosigkeit der Begegnung. Hier „verliert der Mensch nie Zeit, ‚hat‘ immer Zeit“ (ebd., S. 637).
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Der Tod und das Leben
Die grundsätzliche Bestimmung der Eschatologie konkretisiert sich für Hasenhüttl in den einzelnen Eschata als deren inhaltliche Füllung. So erkennt er zum Beispiel im Tod zwei unterschiedliche Dimensionen: Der körperliche Tod kann als Ausdruck der Entfremdung des Menschen verstanden werden – gerade als vorzeitiger Tod, der nicht am Ende eines erfüllten Lebens steht. Ein Unfall, eine tödliche Krankheit greifen mitten in das Leben ein und beenden Selbstbestimmung und freie Lebensgestaltung. Deswegen sollte diese Form des den Menschen entfremdenden Todes mit allen möglichen Mitteln wie zum Beispiel der Medizin bekämpft werden. Durch eine „präsentische Eschatologie“, die Letztes nicht am Ende der Geschichte, sondern im Präsens, in jedem Augenblick gelungenen Lebens erkennt, kann aber auch der Tod neu qualifiziert werden, „wobei Tod die Lieblosigkeit bedeutet und Leben den Vollzug der Liebe“ (2001, Bd. II, S. 689). „Das ‚ewige Leben‘ beginnt nicht nach dem Tod, sondern ist uns schon jetzt geschenkt, wenn wir uns an Jesus Christus orientieren“ (2012, S. 214). Insofern hat der Tod nicht das letzte Wort, „sondern der Christ gibt dem Sein den Vorrang vor dem Nichts und dem nichtigen Haben (…) Ausdruck dafür kann das ‚ewige Leben‘ sein, das es nur ‚gibt‘, wenn es hier und jetzt realisiert wird und der Mensch von dieser nichtgegenständlichen Wirklichkeit her lebt. Nicht von der Uhrzeit handelt das Wort ‚ewig‘, sondern es geht um die Heilszeit, und diese ist heute und daher auch der Möglichkeit nach zukünftig (…) So ist der Tod einerseits
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das Widergöttlichste, was es gibt, insofern er Vernichtung und Lieblosigkeit bzw. Sinnlosigkeit meint. Er soll überwunden werden. Andererseits ist er als Überwindung der Verobjektivierung zugleich Hinweis auf die Befreiung von Entfremdung und die Hoffnung, Liebe verwirklichen zu können, so dass der Mensch im Vollzug selbst Liebe wird. Mehr als dieses Geschenk kann uns nicht zuteil werden, denn in der Liebe begegnet die letzte Wirklichkeit, die Gott genannt wird“ (2001, Bd. II, S. 690). So kann auch der physische Tod „zur Befreiung von Entfremdung beitragen. Der Tod gibt den Ort frei, um anderen Lebensmöglichkeiten zu erschließen“ (ebd., S. 689). Ein existenzieller Lebensvollzug und das Erschließen neuer Lebensmöglichkeiten geschehen in der Welt und in der Geschichte. Der ganze Mensch steht dabei zur Disposition. Auch der Leib gehört elementar dazu und kann nicht als äußere Hülle abgetan werden. Der Mensch hat nicht nur einen Leib, er ist vielmehr leiblich. Dies hat Konsequenzen für das Verständnis sowohl des Todes wie auch der theologischen Rede von der Auferstehung: „Der Mensch ist in seiner Person nur vollendet, wenn seine geistig-körperlicher Dimension nicht missachtet und aufgelöst wird. Das mythische Bild der Auferstehung wird missverstanden, wenn man sich vorstellt, dass die Grabdeckel oder die Urnen sich öffnen und ein neuer verklärter Mensch heraussteigt. Das Phantasiebild einer unsterblichen Seele und das eines Auferstehungsleibes sind gleich schlechte Bilder, wenn sie gegenständlich, objektivistisch, verstanden werden. Vielmehr kann die Auferstehung nur bedeuten, dass nichts Positives im menschlichen Leben verloren geht. Der Einsatz für unsere Welt ist nicht vergebens. Gerechtigkeit und Liebe sind bleibende Werte“ (2012, S. 220 f.). Auch Himmel und Hölle können so zu Metaphern für gelingendes, liebevolles oder für misslungenes, selbst- und objektzentriertes Leben und Denken werden: „Es sind also Bilder, die unsere Situation hier auf Erden beschreiben, ob wir lieblos und daher gottlos leben oder gütige, solidarische Menschen sind. Ewiges Leben ist nicht einfach Leben nach dem Tod, sondern Erfassen der Tiefe der Liebe. Ein Leben, das sich in Liebe entfaltet, ist stärker als die natürliche Todesmacht. An uns liegt es, ob die Hölle leerer und leerer wird und sich die Menschheit dem Guten zuwendet und so dem Himmel nähert. Der Geist Christi kann uns ein Leitstern sein. Das letzte Wort über unser Leben, über Sinn und Wert unserer Existenz ist nicht die Macht der evolutiven Kräfte, sondern die ohnmächtige Allmacht der Liebe. Amor omnia – Liebe ist alles“ (2012, S. 224 f.). Das aber bedeu-
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Zukunft – zwischen Spekulation und liebevoller Hoffnung
tet: „In der Liebe leben wir weiter. Alle anderen Jenseitsvorstellungen sind Mythen“ (ebd., S. 219).
7.3 Freiheit und Eschatologie In der Befreiungstheologie Lateinamerikas erkennt Hasenhüttl einen wichtigen Aspekt im Kontext der Eschatologie, der so dezidiert in der Existenztheologie Bultmanns noch nicht zum Ausdruck kommt. Bereits im biblischen Bild vom Reich Gottes wird deutlich, dass dieses den ganzen Menschen mit „Leib und Seele“ betrifft. Das gilt aber auch für einen konkreten Menschen in den gesellschaftspolitischen und ökonomischen Rahmenbedingungen seiner Existenz: „Zwar hat der Mensch verschiedene Dimensionen, er ist nicht eindimensional, aber alle, seien sie wirtschaftlich, politisch, naturwissenschaftlich, psychologisch, sozial und religiöse, bilden eine Einheit, und der Mensch in der Gesellschaft darf nicht dualistisch gespalten werden, so dass etwa die religiöse Dimension nichts mit der sozialen zu tun hätte. Reich Gottes und irdisches Leben sind daher nicht zwei Seiende, sondern zwei Dimensionen des Menschseins, zwei Seinsprinzipien. So wie Leib und Seele nicht zu trennen sind, sondern eine Einheit bilden und einen Menschen ausmachen mit einer einzigen Zielrichtung, so sind auch Zeit und Eschaton eine Wirklichkeit, jedoch zwei Grundprinzipien, die die menschliche Struktur in der Welt ausmachen“ (2001, Bd. II, S. 657 f.). Diese eine Wirklichkeit ist aber in Lateinamerika und in vielen Ländern der Welt von Ausbeutung und Unterdrückung geprägt: „Die strukturelle Ungerechtigkeit und Sünde verhindert menschliches Dasein, verhindert die Freiheit der Menschen. Daher ist ein praktischer Vollzug notwendig, der diese Unfreiheit überwindet, und dieser wird Befreiung genannt“ (2001, Bd. II, S. 655). Das aber bedeutet: „Reich Gottes kann also nicht verwirklicht werden, Eschaton wird nicht real, wenn die bestehenden Unrechtsstrukturen nicht zerbrochen werden“ (ebd., S. 657). Zwar kann den Armen nicht per se das Reich Gottes zugesprochen werden, aber im Einsatz für Freiheit kann der Raum geschaffen werden, in dem sich dieses Reich Gottes dann realisieren kann: „Das historische Befreiungsprojekt und die eschatologische Dimension wird daher vermittelt durch die Armen. Ohne die Vermittlung durch die historische Hoffnung auf ein gerechteres zukünftiges System ist Reich Gottes nicht möglich. Diese Ver-
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mittlung sind die Armen (…) Christentum, das die Partei der Armen ergreift, kann daher niemals systemkonform sein, wie es oft die Kirche war. Denn dies würde die konstitutive Bedeutung der Armen für das Reich Gottes leugnen. Und gerade weil der Arme, der Unterdrückte, der Marginalisierte Nicht-Subjekt ist und als Objekt ‚außerhalb‘ des Bestehenden lebt, hat er Anteil am eschatologischen Reich. Der Arme ist ‚exterritorial‘ bezüglich der herrschenden Werte, der Möglichkeiten, des Systems. Er ist insofern nicht von dieser Welt. Der Arme als vom System Ausgeschlossener ist ‚schon‘ im Reich Gottes. So ist logisch der Dienst am Armen Gottesdienst (…) Den Armen bejahen heißt, strukturelle Veränderungen durch Befreiung herbeizuführen und an die Gegenwart des Gottesreiches glauben, dem Armen Zukunft geben, indem das Noch-nicht in der Gegenwart Ereignis wird. Dies ist grundsätzlich möglich. Wenn es verwirklicht wird, wird die Exterritorialität Gottes aufgehoben, und wir können Gott als Geschenk erfahren, d. h. Reich Gottes als Eschaton ist Ereignis“ (2012, Bd. II, S. 659 f.). Der notwendige Kampf für menschenwürdige Verhältnisse und Arbeitsbedingungen darf allerdings nicht so verstanden werden, als könne man dadurch gleichsam das Reich Gottes „herstellen“. Das würde bereits der biblischen Rede vom Gottesreich widersprechen. Reich Gottes, der Bereich Gottes, ist nicht verfügbar – und trotzdem nicht unabhängig von den konkreten Lebensbedingungen und Handlungen der Menschen: „Dadurch, dass die Änderung der Verhältnisse konstitutiv für das Reich Gottes ist, ist nicht bestritten, dass es zugleich (konstitutiv) Geschenk (Gnade) ist, wenn es sich ereignet. Reich Gottes ist Produkt des Menschen und in dialektischer Einheit ebenso Beschenktsein des Menschen. Beides sind die zwei Grundprinzipien der eschatologischen Vollendung“ (2001, Bd. II, S. 658). In den eschatologischen Entwürfen der Befreiungstheologie mit ihrem Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen konkreter Menschen erkennt Hasenhüttl somit eine wichtige Ergänzung und Verdeutlichung der Ansätze, die sich der Existenzphilosophie verdanken. Das zur freien Entscheidung über sein Leben aufgerufene Subjekt muss auch in sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kontexten leben können, in denen ein solcher Lebensvollzug als ein sinnvoller möglich ist. Insofern trägt die lateinamerikanische Theologie mit Recht den Namen „Befreiungstheologie“: Innere und äußere Freiheit sind die dialektisch
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aufeinander bezogenen Voraussetzungen für ein gelingendes Leben, in dem sich Reich Gottes eschatologisch, das heißt letztgültig ereignen kann.
7.4 Die geerdete Freiheit Einen weiteren Aspekt einer umfassenden Eschatologie entnimmt Hasenhüttl dem Werk von Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955). Bereits im 19. Jahrhundert hatte Jakob Frohschammer (1821–1893) auf kreative Weise versucht, die Naturwissenschaft, insbesondere die Evolutionstheorie von Charles Darwin, dialektisch mit der christlichen Theologie und Schöpfungslehre zu vermitteln. Doch dieser Versuch blieb nach kirchlichen Sanktionen gegenüber Frohschammer bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts folgenlos. Erst Teilhard de Chardin nahm diesen Faden wieder auf und entwickelte ein eigenes Entwicklungsmodell, in dem sowohl Natur und Mensch als auch die Gottesidee miteinander in Bezug gesetzt und dadurch vermittelt werden. Insofern ist dieser Ansatz auch für eine christliche Eschatologie von großer Bedeutung (vgl. Pauly 2008b, S. 210 ff.).) Teilhard de Chardin entwickelte eine neue Sicht auf die Entstehung des Kosmos und des Menschen. In einem evolutionären Prozess erkannte er bestimmte Stadien der Entwicklung. Während sich in der sogenanten „Prä-Biosphäre“ die organischen Voraussetzungen für die Entstehung von Leben entwickelte, ist die Biosphäre Ort und Zeit des Lebens. Gegen die Vorstellung einer Schöpfung aus dem Nichts betonte Teilhard de Chardin: „für das Leben sowenig wie für irgendeine andere Erfahrungswirklichkeit können wir von nun an, wie wir zuvor glaubten, einen absoluten zeitlichen Nullpunkt festsetzen“ (Teilhard de Chardin 1964, S. 55). Eine anfangs- und endlose Dynamik und eine gleichzeitige Höherentwicklung sind die Kennzeichen seines Ansatzes. Mit dem Menschen hat sich durch dessen Möglichkeit des Denkens eine neue, graduell höherstehende Stufe etabliert, der Teilhard de Chardin bezeichnenderweise den Namen „Noosphäre“, Sphäre des Nous, also des Verstandes, gab. Eines der wichtigsten Merkmale dieser Entwicklungsphase ist es, dass durch das Auftreten des denkenden Menschen die Weiterentwicklung der Welt und des Kosmos nicht einfach nur durch die Kräfte der Natur bestimmt wird. Durch das Denken kann der Mensch vielmehr die nun folgende Weiterentwicklung selbst in Freiheit gestalten, weil „das Leben eine Fähigkeit in die Welt gesetzt hatte, durch die nun dieses selbst kritisiert und gerichtet werden
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konnte“ (Teilhard de Chardin 1964, S. 210). Dieser Gedanke impliziert zunächst die Feststellung, dass der Mensch und die Menschheit selbst immer noch einer Entwicklung unterworfen sind. Die grundlegenden Prinzipien der Bewegung und Entwicklung sind durch die Entstehung des Menschen nicht an ihr Ende gekommen. Ist aber die Zukunft offen und liegt die konkrete Zukunft auch in der freien Entscheidung der Menschen, dann ist das Ergebnis dieser Entscheidung nicht von vorneherein festgelegt. Mensch und Menschheit haben offene Möglichkeiten. Je nachdem, wie sie diese konkret gestalten, hat dies Konsequenzen für Mensch, Menschheit und den ganzen Kosmos. Die aktuelle Wissenschaft spricht deswegen vom „Anthropozän“, von dem Zeitalter, in dem Erde und Kosmos umfassend durch das Handeln des Menschen geprägt werden. Eine Möglichkeit des menschlichen Handelns besteht darin, gemäß den etablierten Lebensmodellen und Deutungsstrukturen zu leben. Aktualisiert könnte man sagen: mehr Verbrauch von Ressourcen und Energie, mehr Zerstörung von Böden und Umwelt, mehr Müll und Luftverschmutzung. Bei einem solchen „Immerweiterso“ sieht Teilhard die Gefahr, dass das Universum gleichsam an sich selbst erstickt. Nicht zuletzt durch diesen Hinweis auf eine durchaus mögliche Entwicklungsrichtung und einer somit von Menschen verursachten Katastrophe wurden die Schriften Teilhards auch stark von Denkern beachtet, die sich um die Umwelt sowie die natürlichen Bedingungen und Ressourcen menschlichen Lebens sorgen. Wie in allen Entwicklungsphasen bedarf es auch hier eines qualitativen Sprungs. Es geht also nicht um ein reines Fortleben („survivance“), sondern um ein höheres Leben („survie“, vgl. Teilhard de Chardin 1964, S. 225). Der Begriff der „Anthropogenese“ besagt, dass die Menschwerdung des Menschen kein abgeschlossenes Projekt ist, sondern von jedem Menschen in jeder Generation neu gestaltet und mit vollzogen werden muss. Der Jesuit Teilhard de Chardin bestimmte die Grundelemente allen Lebens und jeder Entwicklung gemäß der Philosophie des Aristoteles als Materie und Form, die durch Energie vermittelt werden. Den besonderen Entwicklungsschub, der durch die Entstehung des Menschen in die Welt gekommen ist, zeichnet nun eine Form der Energie aus, die er als Liebe bezeichnet: „Nur die Liebe vermag durch Vereinigung die Wesen als solche zu vollenden – das ist eine Tatsache der täglichen Erfahrung. Nur sie erfasst und vereint ja die Wesen im Tiefsten ihrer selbst“ (Teilhard de Chardin 1964, S. 259). In Jesus Christus erkennt er ein Lebensmodell,
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das diese Liebe in Wort und Tat verwirklichte. Jesus Christus kann somit Vorbild und Orientierungspunkt sein. Das durch ihn initiierte Christusgeschehen hat dabei selbst eine Geschichte. Wo immer Menschen sich nach diesem Lebensmodell ausrichten, vermehrt sich Christus, sodass man neben Kosmogenese und Anthropogenese auch von einer Christogenese sprechen kann. Was also Mensch und Christus letztlich bedeuten, steht nicht von Anfang an fest. Es ist vielmehr das Ergebnis des freien und verantwortlichen Handelns der Menschen. Wie wiederum Aristoteles erkannte, gibt es bei den Gründen für eine Entwicklung nicht nur eine Begründung aus der Vergangenheit, bei der auf ein Element A ein Element B folgt und so weiter. Auch ein zukünftiges Ereignis, das als solches gegenwärtig noch gar da ist (zum Beispiel eine Prüfung in der Schule), kann das konkrete aktuelle Handeln der Menschen beeinflussen (Lernen für die Prüfung). Hier spricht Teilhard de Chardin vom Orientierungspunkt „Omega“, gewissermaßen dem Zielpunkt der menschlichen Entwicklung. Der Begriff lehnt sich an den Hoheitstitel für Jesus Christus aus der Offenbarung des Johannes an (Offb. 21,6). Das „Omega“ ist der wandernde Horizont, der Orientierung zu geben vermag. Allerdings warnt Teilhard de Chardin gleichzeitig davor, diesen Punkt nur als zukünftig zu verstehen: „Wenn Omega nur der ferne und ideale Brennpunkt wäre, dessen Bestimmung es ist, am Ende der Zeiten aus der Konvergenz der irdischen Bewusstseinselemente aufzutauchen, so könnte ihn nichts vor dem Eintritt dieser Konvergenz unserem Blick enthüllen (…). Wenn Omega hingegen, wie wir angenommen haben, schon gegenwärtig existent ist und im Tiefsten der denkenden Masse wirkt, dann ist es wohl unvermeidlich, dass sich seine Existenz schon jetzt unserer Beobachtung durch gewisse Anzeichen zu erkennen gibt“ (Teilhard de Chardin 1964, S. 287 f.). In allen genannten Punkten kann Hasenhüttl dem Ansatz des von der Kirche und dem eigenen Jesuitenorden verfolgten sowie mit Lehr- und Publikationsverbot belegten Teilhard de Chardin zustimmen. Insbesondere die Beziehung von Gotteswirklichkeit und Weltwirklichkeit ist auch für ihn zentral. Der von einer grundsätzlichen und nie endenden Dynamik geprägte Ansatz Teilhard de Chardins wird für Hasenhüttls eigene Ausführungen zur Eschatologie bedeutsam: „Die gesamte Wirklichkeit ist also der Evolution unterworfen. Das Eschaton ist weder von einem Zustand, der außerhalb unserer Welt liegt, noch von einem transzendenten Gott zu erwarten. Aber die Vollendung ist auch kein rein ‚innerweltliches‘ Unterneh-
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men in dem Sinne, dass menschliches Tun ohne weitere Qualifikation das Heil einbringen könnte“ (2001, Bd. II, S. 663). Im solidarischen Handeln, einschließlich eines verantwortungsvollen Umgangs mit den natürlichen Vorgaben des Lebens, kann der Mensch dieses Eschaton als schon gegenwärtig erfahren, wobei gerade aus dieser Erfahrung heraus der Einsatz auch für dessen zukünftige Erfahrbarkeit erwächst: „Will der Mensch der Dynamik antworten, muss er sich den schöpferischen Vollzügen verschreiben und in der Identifikation mit dem Nächsten die Möglichkeiten, die noch ausstehen, realisieren (…) So ist in der Dynamik des Weltgeschehens eschatologische Wirklichkeit präsent, die auf die Vollendung hin tendiert, in der Gott alles in allem ist. P. Teilhard de Chardin kommt in seiner Eschatologie ohne einen transzendenten Eingriff Gottes aus (…) Gott und Menschenwelt sind zwei Dimensionen einer Wirklichkeit“ (2001, Bd. II, S. 663). Die eschatologischen Ansätze Bultmanns, der Befreiungstheologie und Teilhard de Chardins haben für Hasenhüttl viele Gemeinsamkeiten. Sie „kommen ohne die mythologische und sog. eschatologische Heilstat Gottes am Ende des Geschichtsprozesses aus (…) Allein in den existentialen, befreiungstheologischen und evolutiv-revolutiven Positionen wird ein Versuch gemacht, diese Begründung durch Gott als Finalursache nicht einzubeziehen, sondern von der Beziehung, von den ‚Verhältnissen‘ her zu denken“ (2001, Bd. II, S. 665). Individuelle Beziehungen, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen menschlicher Existenz sowie schließlich die materielle und geschichtliche Verflochtenheit des Menschen werden jeweils von diesen drei Ansätzen so betont, dass sie dialektisch miteinander vermittelt werden können: „Eine Verbindung dieser drei Positionen würde dem Menschen im Kosmos, in der Gesellschaft und als einzelnem voll Rechnung tragen und die Zeitdimension entsprechend berücksichtigen. Zugleich würde auf seine ‚göttliche Begründung‘ verzichtet (…) In den Beziehungen zur Welt, zum Mitmenschen und auch zu sich selbst könnte das Letzte aufscheinen, Gotteserfahrung sichtbar bzw. wirklich werden (…) Der Vollzug, im echt relationalen Sinne als Liebe verstanden, hat in sich allein Sinn und wird ihn in die zukünftige Geschichte hinein vermitteln, so dass sie von der eschatologischen Wirklichkeit qualifiziert ist. Mehr als dies zu erwarten, hieße den lebendigen Vollzug, hieße das Leben verlassen und eine Position beziehen, die jenseits von allem liegt und einen objektivierbaren Grund für alles angeben will. Dies aber pervertiert das Menschsein und entfremdet nur, anstatt zur Identität zu führen“ (2001, Bd. II, S. 666 f.).
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Freiheit ist das große Lebensthema von Gotthold Hasenhüttl. Leben ohne Freiheit ist für ihn unmöglich. Wie eine Pflanze den Strahl der Sonne braucht, um leben zu können, so kann nur der wirklich freie Mensch menschenwürdig in Gemeinschaft leben. Hasenhüttl legt sein Augenmerk auf alle möglichen Formen von Unfreiheit – in Politik und Gesellschaft, aber auch in Religion, Kirche und Theologie. Seine theoretische Reflexion basiert dabei aber auch immer auf konkreter – eigener wie fremder – Erfahrung. Auf seinen zahlreichen Reisen in fast alle Länder des Globus lernt er vielfältige Situationen der Unfreiheit, aber auch Kämpfe der Menschen für ihre Freiheit kennen. Praktische Erfahrung und kritische Reflexion bündeln sich insbesondere in Hasenhüttls Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten in Lateinamerika und in Afrika.
8.1 Das Modell Lateinamerika Neben zahlreichen Einzelreisen unternahm Hasenhüttl 1983 eine halbjährige Forschungs- und Vortragsreise nach Lateinamerika und besuchte dabei Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien, Chile, Argentinien und Brasilien. Die wissenschaftliche Aufarbeitung seiner dort gesammelten Erfahrungen erschien 1985 unter dem bezeichnenden Titel „Freiheit in Fesseln“. Auch wenn diese Überlegungen inzwischen bereits dreißig Jahre zurückliegen und sich seitdem politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich sowohl regional als auch global sehr viel verändert hat, sind die beschriebenen Grundstrukturen und elementaren Probleme doch die gleichen geblieben. Immer noch herrscht in vielen Ländern Gewalt. Die Situation der Slumbewohner, die infolge der Landflucht immer größere Städte besiedeln, hat sich trotz vielfältiger nationaler und internationaler Hilfsprogramme eher verschlechtert. Ebenso ist der sprichwörtliche lateinamerikanische Machismo auch gegenwärtig noch ein großes Hindernis für die Wahrung der Würde und die Selbstverwirklichung der Frauen. Verstärkt richtet sich gegenwärtig der Blick auf die internationalen (Wirtschafts-)Beziehungen und deren Folgen für die einzelnen Länder des amerikanischen Subkontinents. Hasenhüttl zeigt paradigmatisch drei Modelle dafür auf, wie sich
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Menschen, ganze Völker und Kulturen, aber auch Religionen begegnen können: das koloniale, das patriarchalische und das dialogische Modell (vgl. 1985, S. 9). Kolonial verhielten sich demnach nicht nur die europäischen Eroberer, was noch heute in der geografischen Bezeichnung „Lateinamerika“ zum Ausdruck kommt. Auch gegenwärtig bestimmen europäische, nordamerikanische und zunehmend auch chinesische Wirtschaftsinteressen das Geschehen dieser Länder. Der größtmögliche Eigennutzen steht dabei im Vordergrund, und nicht das Interesse der Bewohner – anschaulich erkennbar ist dies bei der immer noch großflächigen Rodung des Amazonas-Regenwaldes. Aber auch die patriarchalische Haltung vieler – auch kirchlich gebundener – Menschen ist problematisch. Ihr liegt eine Vorstellung von Über- und Unterordnung zugrunde, die es ermöglicht, vom eigenen, als höher entwickelt angesehenen Standort aus „gnädig“ den anderen etwas vom eigenen wirtschaftlichen oder kulturellen Überfluss abzugeben. Der Eigenwert von Kultur und Religion der Menschen wird nicht gewürdigt. Im besten Falle suchen zum Beispiel Missionare in der Kultur der Indios Anknüpfungspunkte, um so das westeuropäisch geprägte Christentum zu verbreiten. Zu einem echten, gleichberechtigten kulturellen und religiösen Austausch kommt es dabei selten oder gar nicht. Verantwortungsvoll erscheint Hasenhüttl gemäß seinem theologischen Grundansatz einzig eine dialogische Beziehung, wie sie auch im Dokument der II. Generalkonferenz des Lateinamerikanischen Bischofsrats (CELAM) in Medellín/Kolumbien 1968 ansatzweise gefordert wurde. Im Rückgriff auf Hasenhüttls eigene Überlegungen zur Herrschaftsfreiheit, die sich in der jesuanischen Botschaft manifestiert, formuliert er: „In dieser Begegnungsweise, die gerade für den Verkündiger der Frohen Botschaft gilt, gibt es kein Gefälle von oben nach unten, sondern einzig und allein einen mäeutischen Dialog. Kein Herrenvolk, keine Herrenkultur und keine Herrenreligion drückt sich darin aus, sondern die Haltung der Solidarität, des Miteinanderseins, der Identifikation mit dem anderen. Dadurch wird Unterdrückung ausgeschaltet, der ‚Herr‘ aus dem Bewusstsein ausgewiesen, werden die eigenen Kräfte geweckt und neue Lebensmöglichkeiten im eigenen Lebensstil erprobt“. Ein Dialog ist aber nie eine Einbahnstraße, er verändert vielmehr alle Beteiligten: „Für diese Begegnungsweise zwischen den europäischen Völkern und denen Lateinamerikas ist es wesentlich, dass jeweils die eigenen Ansichten und Vorstellungen wie auch die Kultur und Religion zur Disposition gestellt werden, da
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Wahrheit nur diskursiv eingelöst werden kann“ (1985, S. 11 f.). Nur so kann aus der Begegnung wirklich etwas Neues entstehen, das allen Beteiligten neue Lebensmöglichkeiten erschließt. Deswegen ist in diesem Sinne grundsätzlich zu fragen, ob nicht etwa die Welt- und Lebensdeutung der lateinamerikanischen Indios in der Begegnung mit dem abendländischen Christentum Letzteres inhaltlich, aber auch zum Beispiel in der Liturgie bereichern und erneuern kann. Eine dialogische Begegnung zwischen den Kulturen erkennt nach Hasenhüttl zunächst die historische Interdependenz zwischen kirchlichen Strukturen und den Herrschaftsstrukturen der Kolonialherren: „Es besteht kein Zweifel, dass die Kirche durch Jahrhunderte wesentlich dazu beigetragen hat, die hierarchische Obrigkeitsstruktur zu favorisieren, die sich in der Feudalordnung niederschlug“ (1985, S. 47). Dies gilt auch für die Gegenwart: „In der bisherigen Form wird die Kirchenstruktur de facto (wenn vielleicht wider Willen) Stütze eines ungerechten sozialen Systems bleiben, weil die Ungleichheit nicht aus ihrer Mitte weggeschafft wird“ (ebd., S. 60). Anders ist es, wenn Kirche sich als „jenseitig“, als der vorgefundenen Wirklichkeit „transzendent“ und so als deren Korrektiv versteht: „Die Kirche als Glaubens- und Lebensgemeinschaft im Christussymbol hat geschichtliche Bedeutung für die Welt und ist politisch im Sinne der Befreiung von jeder Art der Unterdrückung. Das kann die Kirche nur sein, wenn sie Kirche des Volkes ist“ (2001, Bd. 1, S. 373). Diese Volkskirche („Iglesia popular“) versteht sich im biblischen Sinne als Solidargemeinschaft. Analog zum paulinisch-charismatischen Modell einer Glaubensgemeinschaft kann jeder Einzelne nach seinen jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten gleichberechtigt und herrschaftsfrei mitarbeiten. Die Vorstellung von der Glaubensgemeinschaft als „Volk Gottes“, wie sie auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil formuliert wurde, würde so verwirklicht werden (vgl. die Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, besonders Kap. 9–17, in: DH Nr. 4122–4142). Die Verwirklichung dieses Kirchenmodells in Lateinamerika könnte auch auf die Kirchen Europas zurückwirken. Doch bereits bei der auf die Konferenz in Medellín folgende Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe im mexikanischen Puebla 1979 sieht Hasenhüttl einen Rückfall in traditionelle hierarchische Strukturen: „Sicher werden in Puebla die Hierarchen aufgefordert, ihre Autorität im Geist des brüderlichen Dienstes auszuüben, aber es bleibt bei einem individuell verstandenen
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moralischen Appell. Die bestehende offizielle Struktur bleibt der einzig wirklich bestimmende Faktor. Damit wird klar und deutlich die vorhandene Herrschaftsstruktur für die Kirche als grundlegend bejaht und damit die in der abendländischen Geschichte gewordene Kirchenverfassung unkritisch übernommen“ (vgl. 1985, S. 56). Modellhaft realisiert sieht Hasenhüttl die Glaubensgemeinschaft als Solidargemeinschaft in den lateinamerikanischen Basisgemeinden, wobei diese konkret sehr unterschiedliche Formen annehmen können. Es bleiben aber Grundstrukturen, die auch auf die Kirche Europas beispielgebend wirken könne. Zentral ist dabei die gemeinsame Gestaltung der drei Grundvollzüge der Glaubensgemeinschaft Bekenntnis, Diakonie und Liturgie einschließlich der Lösung alltäglicher Probleme wie Bildung, Beseitigung des Hungers und Beschaffung von menschenwürdigen Wohnungen: „Entscheidend für die Struktur der Basisgemeinden ist, dass sie nicht eine unüberschaubare, bürokratische Organisationsform besitzen, in der der einzelne zu einem namenlosen Christen wird, sondern dass sie stets überschaubar bleiben; persönliche Bekanntschaft und Beziehung spielen eine wichtige Rolle“ (1985, S. 79). Transformatorische Kraft erkennt Hasenhüttl im herrschaftsfreien und gleichberechtigten Umgang aller Gemeindemitglieder miteinander: „Es ist damit ein wesentlicher Unterschied zur herkömmlichen Autoritätsstruktur der offiziellen Kirche gesetzt, ohne die Dienstfunktion der Bischöfe usw. abzulehnen. Der Priester kann wesensnotwendig in dieser Gemeinde nicht die (alles) bestimmende Autorität sein, sondern nur ein ‚Beseelter‘ (animador), der sich selbst mit seinem Wissen und Können einbringt in eine Gemeinde, die das Bibelwort ernst nimmt: Ihr alle, ohne Ausnahme, seid Brüder (vgl. Mt. 23,8)“ (1985, S. 80). So kann eine Glaubensgemeinschaft entstehen, in der die christlichen Glaubensinhalte nicht hierarchisch verwaltet und paternalistisch von oben nach unten weitergegeben werden, sondern in Freiheit erfahrungsbezogen gelebt und gedeutet werden können. Die erfahrene Lebenswirklichkeit unter den konkreten Bedingungen Lateinamerikas kann aber nicht nur grundsätzlich die Strukturen der Glaubensgemeinschaft transformieren. Auch inhaltlich kann sie ein vorwiegend westeuropäisch geprägtes Christentum bereichern und vor Einseitigkeit und Verobjektivierungen schützen. Dies gilt selbst für die im Christentum so zentralen Begriffe der Befreiung und der Erlösung. Für beide gilt: „Weltdeutungen nützen nichts, wenn sie nicht weltverändernd wirken. Jesus hat nicht zu einer neuen Weltanschauung aufgerufen, son-
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dern zu einer neuen Praxis, zur Metanoia, zur Umkehr, denn erst aus der Umkehr ergibt sich eine neue Weltsicht, und nur in ihr kann das Reich Gottes gegenwärtig werden“ (1985, S. 90). Mit dieser Ansicht verbindet Hasenhüttl eine zweite Überlegung: „Die wirklichen Probleme betreffen den konkreten Menschen in der Gemeinschaft. Diese aber ist durch ungerechte Verhältnisse bestimmt. So kann nur die Veränderung der Verhältnisse Befreiung bewirken. Dies schließt ein, dass Erlösung nur dann wirksam wird, wenn sie hier auf Erden geschieht und die Gemeinschaftsstrukturen selbst berührt und verändert. Was wäre das für ein Erlösungsgeschehen, von dem man in unserer Welt nichts merkt und nichts erkennen kann?“ (1985, S. 90). Gerade in der Vernachlässigung des konkreten Menschen und seiner konkret beschreibbaren Lebensbedingungen sieht Hasenhüttl einen großen Fehler der traditionellen, westeuropäisch geprägten Theologie: „Die bisher übliche Theologie hat diesen universalen Befreiungsaspekt vernachlässigt, weil sie weitgehend von der geschichtlich konkreten Situation abstrahierte und sie höchstens als einen pädagogischen Einstieg verstanden hat. Sie hat nicht reflex erfasst, dass theologische Aussagen immer nur Antworten auf konkrete Probleme sein können. Stattdessen hat man die Erlösung vom wirklichen Leben abstrahiert und sie in eine symbolhaft erlebte Vergangenheit oder in eine transirdische Zukunft transponiert. Wenn auch Erlösung nicht unter jedem Aspekt mit Befreiung identisch ist, so ist sie doch nur konkret, wenn sie in unserer Geschichte und Zeit Befreiung bewirkt“ (1985, S. 94 f.). Eine Theologie wird somit nur dann verantwortungsvoll von Befreiung und Erlösung sprechen können, wenn auch die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der menschlichen Lebensbedingungen zur Sprache kommen: „Eine Theologie, die nicht den ganzen Menschen für Veränderungen und Umkehr bereitmacht, also auch nicht die Unrechtsstrukturen und Notsituationen erfasst, geht ihn konkret nichts an“ (1985, S. 96). Soll aber Befreiung und Veränderung nicht von den einen paternalistisch für die anderen geleistet werden, sondern vielmehr mit den Betroffenen selbst gestaltet werden, dann führt das zu der Einsicht, dass jeder Mensch in Gemeinschaft Subjekt der Geschichte ist und nicht ein von Politik wie Kirche zu versorgendes Objekt. Nur so kann die dialogische Wirklichkeit menschenwürdigen Lebens eingelöst werden. Häufig wurde philosophischen und theologischen Ansätzen, die sich der Rezeption der Existenzphilosophie und -theologie im Sinne von Mar-
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tin Heidegger und Rudolf Bultmann verdanken, vorgeworfen, sie stellten nur das einzelne Subjekt in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen und vernachlässigten dessen sozialpolitische Einbettung. Es geht Hasenhüttl – wie er bereits in seiner Arbeit über Jean-Paul Sartre zeigte – aber weder um eine reine Subjektphilosophie noch um eine reine Bewusstseinstheorie. Im Zentrum steht für ihn vielmehr der ganz konkrete Mensch in all seinen Beziehungen. Gerade deswegen kann er dem fundamentalen Anliegen der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung voll zustimmen: „Die Grundthese der Befreiungstheologie ist also: Jesus Christus ist der Befreier des ganzen Menschen, auch in seinem sozialen, wirtschaftlichen und politischen Dasein. Christliches Engagement ist eine ‚politische Liebe‘, die nicht nur die Ich-Du-Beziehung erfasst, sondern den Erniedrigten und Beleidigten in Freiheit setzt“. Ein Leben in Beziehung erkennt, dass auch Befreiung nicht auf wenige Menschen eingeschränkt werden kann, sondern alle betrifft: „Es lebt nicht nur der Knecht in Unfreiheit, sondern ebenso der Herr. Die Befreiung gilt daher für Arme und Reiche, sie ist Freiheit von jeder Entmenschlichung. Das bedeutet nicht, aus dem Knecht einen Herrn zu machen, und umgekehrt, sondern alle Herrschaftsverhältnisse abzubauen“ (1985, S. 97 f.). Dies hat auch Konsequenzen für die Rede von Gott. Wird Gott bestimmt als Prädikat menschlicher, sozial vermittelter Erfahrung, dann kann Hasenhüttl sagen: „Was sich in der Christologie als Lebensmodell zeigt, wird zum Lebenssinn, wo Gott als Befreier aus jeder Gefangenschaft erfahren wird. Die Gotteslehre ist dann eine Theorie des praktischen Einsatzes für gerechte Verhältnisse. Denn Gotteserfahrung ist nur dort, wo Gerechtigkeit und Befreiung praktiziert wird“ (1985, S. 102). Und an anderer Stelle: „Gott ist, wo Befreiung in Liebe geschieht und dieses Geschehen unmenschliche Verhältnisse zu menschlichen transformiert. Modell dafür ist die jesuanische Reich-Gottes-Verkündigung“ (2001, Bd. I, S. 374). So erfährt die Eschatologie, verstanden als liebevolle Hoffnung auf ein heilsamen Lebens, ihre neue inhaltliche Ausgestaltung: „Letzte Wirklichkeit, sinnerfülltes Leben, ist mit der Erwartung einer neuen Erde verbunden und nicht mit einem abstrakten ‚Jenseits‘. Die Theologie der Befreiung hält daran fest, dass irdischer Fortschritt und Wachstum des Gottesreiches zwar nicht identisch sind, aber ein und dasselbe Ziel verfolgen: Gesellschaftliche Befreiung, durch Jesus initiiert, ist der Motor des Reiches Gottes. Ohne geschichtliche Befreiung kann das Reich Gottes nicht kommen“ (2001, Bd. I, S. 374).
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8.2 Das Modell Afrika Die Situationsanalyse Afrikas zeigt andere Ausgangsbedingungen für eine Begegnung der Kulturen und Religionen als diejenige Lateinamerikas. Die Vielzahl der einzelnen Staaten und mehr noch die Fülle der einzelnen Völker und Traditionen lassen sich nicht verallgemeinernd und von den konkreten Einzelerscheinungen abstrahierend zusammenfassen. Viele aktuelle Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen in Afrika haben ihre Ursache in den willkürlichen Grenzziehungen durch die europäischen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert, welche gerade diese vielfältigen ethnischen und kulturellen Unterschiede missachteten. Auch bei der Reflexion über Möglichkeiten der Begegnung Afrikas mit dem Christentum kann Hasenhüttl auf eigene Erfahrungen vor Ort zurückgreifen. Forschungsreisen führten ihn unter anderem nach Gambia, Senegal, Mali, Ghana, Togo, Nigeria, Zaire (heute Demokratische Republik Kongo), Kenia, Tansania, Simbabwe, Südafrika, Lesotho und Swasiland. Den „theologischen Aufbruch Schwarzafrikas“ hat Hasenhüttl in einem Band dokumentiert, der den aus dem „Hohen Lied der Liebe“ (Hld. 1,5) entnommenen Titel „Schwarz bin ich und schön“ (1991) trägt. Im Gegensatz zu den traditionellen kolonialen und paternalistischen Methoden der wirtschaftlichen, aber auch der religiösen Eroberung Afrikas plädiert er auch hier für einen dialogischen Umgang: „dazu gehört auf beiden Seiten das Verständnis, Partner zu sein. In einer Partnerschaft gibt es grundsätzlich keine Überlegenheit und keine Duckmäuserei. Jede echte dialogische Situation ist zerstört, wo das Herr-Knecht-Verhältnis herrscht, wo der eine die göttliche Wahrheit und Offenbarung besitzt, der andere der arme Unwissende, im Heidentum Verblendete ist“ (1991, S. 17). Trotz aller geschichtlichen, sozialen sowie auf Kultur und Mentalität beruhenden Unterschiede scheint Hasenhüttl der Rückgriff auf die Humanität eine sinnvolle Basis der Begegnung zwischen Christentum und afrikanischer Kultur zu sein. Gleichzeitig wird die Verwirklichung dieser Humanität das große Ziel der gemeinsamen Begegnung: „Wenn wir heute das Humanum, das gesuchte Menschliche und Menschenwürdige umschreiben als ein Leben in Freiheit ohne Unterdrückung und ohne vermeidbares Leid und als Fähigkeit, die Bedürfnisse und Interessen der Menschen politisch und sozial durch freies solidarisches und konsensfähiges Handeln zu realisieren und in Entsprechung zur Natur zu entfalten, dann ist europäisches Selbstverständnis dem afrikanischen Denken nicht fern“ (1991, S. 19).
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Eng mit dem Gedanken des Humanen verbunden ist die in vielen Kulturen Afrikas anzutreffende Vorstellung von einer „Lebenskraft“. Diese universelle Kraft ist als dynamisches Prinzip in vielfältigen Phänomenen erfahrbar. Das Leben ist dabei identisch mit dem Guten. Die Ahnen, die das Leben ihren Nachkommen weitergegeben haben, werden deswegen hoch verehrt. Leben zeigt sich in dieser Vorstellung als Gesundheit, Kraft, Erfolg und Nachkommenschaft. Die negativen Seiten der Existenz wie Leid, Krankheit, Unfruchtbarkeit und Tod werden dagegen als Mangel an Kraft oder sogar als von Menschen verursachter Raub an Lebenskraft gedeutet. Insofern ist es verständlich, dass von diesen negativen Dimensionen des Lebens oft geglaubt wird, sie könnten auch das Leben anderer Menschen mindern oder gar vernichten (vgl. 1991, S. 31 f.). Gott oder die Götter werden als Lebensquell und Kraft gedeutet. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob das Gottesbild in afrikanischen Kulturen monotheistisch gekennzeichnet ist. Die konkrete Beobachtung vor Ort zeigt Hasenhüttl, dass die Menschen im Alltag keinem Hochgott oder gar einem einzigen Gott opfern, zu ihm beten oder ihm heilige Orte weihen: „Als Gründe werden angegeben, dass Gott entweder zu weit weg sei, dass er keinen direkten Kontakt mit den Menschen habe oder dass Gott so nahe sei, dass ihm letztlich das ganze menschliche Leben geweiht sei oder ihm völlig gehöre, so dass sich ein Kultakt erübrige“ (1991, S. 139). Grundlegend ist in diesem Zusammenhang, dass afrikanische Kulturen in all ihrer Unterschiedlichkeit nicht das in Westeuropa wirkmächtige Bild eines Gottes entwickelt haben, der der Welt gegenübersteht. Die damit verbundene Trennung zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Immanenz und Transzendenz ist in Afrika nach Hasenhüttl weitgehend unbekannt. Hier geht es vielmehr um die Unterscheidung zwischen der vorgefundenen Welt und ihrer Tiefendimension: „Entscheidend für diese unsichtbaren Realitäten ist, dass sie kontingent sind und in diesem Sinne keine ungeschaffene Wirklichkeit. Sie sind bedingt, und weil sie nicht notwendig sind, sind sie grundsätzlich auch zweideutig. Sie können gut oder schlecht sein, sie können Heil oder Unheil wirken. Es hängt von der Beziehung der Menschen zu ihnen ab, aber auch umgekehrt“ (1991, S. 139). Da diese meist als Götter vorgestellten Phänomene also ambivalent sind, muss der Mensch sie versöhnlich und ihm wohlgesonnen stimmen. Mitten in der Zweideutigkeit des Lebens soll so Eindeutigkeit und zwar eindeutig Gutes erreicht werden. Insbesondere die häufig in Afrika anzutreffenden Masken sind dazu ein beliebtes Mittel: „Das Schnitzen der
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Maske ist der Beginn, ihr Tragen ist die symbolische Identifikation mit der jeweils dargestellten Gottheit. Wer die Maske trägt, will sich in Trance versetzen und Kontakt mit der Gottheit aufnehmen. In diesem durchaus dialogischen Geschehen hofft der Mensch, die verschiedenen Probleme seines Lebens lösen zu können“ (1991, S. 140). Von den Göttern unterscheidet Hasenhüttl die afrikanische Rede von Gott. Da dieser der Welt nicht gegenübersteht, kann er auch nicht angerufen und ihm kann kein Opfer gebracht werden. Gott ist eben keine Realität nach dem Maßstab vorhandener Dinge. Er wird vielmehr erfahren als „Sinnhorizont der menschlichen Bemühung, die Wahrheit seines Lebens zu finden. Überall dort, wo die ‚Lebenskraft‘ den Menschen geschenkt wird, ist Gotteserfahrung. Gott nimmt dem Menschen nichts weg. Der Mensch ist beschenkt. Aber er erhält nicht ‚etwas‘, sondern das Beschenktsein selbst: Es ist Gott“. Hier sieht Hasenhüttl seinen eigenen theologischen Ansatz eines prädikativen Gottesverständnisses bestätigt und fühlt sich von den afrikanischen Kulturen bestärkt, diesen Ansatz weiterzuentwickeln: „Die letzte, ungegenständliche Wirklichkeit begegnet als Lebensbejahung und Sinngebung des Sinnlosen“ (1991, S. 142 f.). In enger Beziehung zu der Lebenskraft-Philosophie stehen auch die Deutung der Ahnen eines Volkes und deren christologische Rezeption, wie diese zum Beispiel vom afrikanischen Theologen Bénézet Bujo (*1940) entwickelt wurde. Die Ahnen schenken und vermitteln Leben. Sie haben somit nicht an sich Autorität und Würde, sondern nur in ihrer Funktion als Lebensspender, das heißt, in ihrer Relationalität zu den Menschen. Darum werden sie angerufen und es wird ihnen geopfert, wenn lebensfeindliche Kräfte ein Volk bedrohen oder wenn Leben und dessen Weitergabe auf dem Spiel steht. Da Jesus Christus aber nicht ein Ahn unter den anderen ist, sondern ihm eine grundsätzliche Bedeutung zukommt, wird er als Urahn oder als Protoahn bezeichnet: „Wie die Ahnen Lebensspender sind, so schenkt Jesus Christus das Leben in Fülle. Jesus Christus erhält die Glaubenden am Leben, wenn sie sich an ihn wenden, wie auch die Ahnen Sorge tragen um den Fortbestand des Volkes. Die Ahnen sind zeitlich die Ältesten. Jesus Christus ist der wahrhaft Erstgeborene. So ist er der ‚Hauptverbündete‘ für das Leben auf dieser Erde (…). Als Ältester und Lebensspender ist er auch für alle Vorbild. An ihm orientiert man sein Leben. Er ist das Ideal der Gemeinschaft. Das gegenwärtige Leben ist von ihm abhängig“ (1991, S. 117). Bei allem Verständnis für diese Konzeption Jesu Christi als Urahn
Das Modell Afrika
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oder Protoahn stellt Hasenhüttl gleichzeitig aber auch kritische Fragen. Dialog heißt auch hier, dass beide Partner miteinander ins Gespräch kommen sollen und die Wahrheit sich erst in der Begegnung konstituiert. Als Erstes ist demnach zu fragen, ob die Rede vom Urahn Jesu Christi wirklich das Resultat von Erfahrung ist oder ob sich darin der Versuch einer christlichen Vereinnahmung afrikanischer Interpretationsmuster zeigt. Zudem müsste erst noch untersucht werden, wie der wahrscheinlich ohne leibliche Nachkommen gestorbene Jesus zum Lebensspender werden kann. Gerade sein grausames Ende, die brutale Zerstörung seines Lebens am Kreuz, scheint mit der beschriebenen Lebensphilosophie nicht einfach kongruent zu sein. Zudem liegt in der Ahnenverehrung eine stark rückwärts gerichtete Sinnorientierung vor: Die Vergangenheit dominiert die Gegenwart und die Zukunft. Ähnlich wie der biblische Jesus die Menschen aus vorgegebenen Strukturen und Deutungsmuster befreite, könnte er auch bei aller Anerkennung für die Lebensleistung der Ahnen zugleich auch eine befreiende Funktion haben: „Die Menschen sehnen sich nach mehr Identität, nach einem besseren Leben, so dass sie selbst und die Gemeinschaft glücken könnte. In der jesuanischen Erfahrung wird ein Sinnhorizont für ein humaneres Leben angeboten, das nicht durch apriorische Erkenntnisse und Inhalte geschieht, sondern allein durch das Mitmachen. Nur im Vollzug des Sinnhorizontes der befreienden Vollmacht, der Lebens- und Liebesmacht, kann sich der neue Sinn erschließen. Jesus Christus ist nicht der überhöhte, erst recht nicht mehr hinterfragbare ‚absolute Ahn‘, sondern er ist Ansporn zur Befreiung der Beziehung zwischen Ahn und Nachfahre, zwischen Tradition und heutigen Bedürfnissen (…) Kein Superahn wird eingeführt; der Schwarzafrikaner hat nur seine echten Ahnen. Jesus Christus ist nicht Ahn im eminenten Sinn des Wortes, sondern er relativiert die Ahnen, nicht auf seine Person hin, sondern auf das Menschliche hin (…) Dadurch verlieren sie nicht an Wert, weil sie keine absolute Autorität mehr sind, sondern sie gewinnen an Wert, da sie, bezogen auf das Humanum, zur Vermenschlichung der Lebenssituation Entscheidendes beitragen können. Sie gewinnen an menschlicher Autorität“ (1991, S. 119 f.). In diesem Sinne kann die Begegnung zwischen Religion und Kultur Afrikas und Westeuropas zur gegenseitigen Befreiung und zu einer vertieften Bereicherung führen: „Wie der Dialog mit Schwarzafrika das Christentum vom Gott der Philosophen und des Theismus befreien und entgegenständlichen könnte, so könnte der Gott des Schwarzafrikaners,
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den dieser als seine Lebensmacht erfährt, zur Macht der Liebe befreit werden. Der zwischenmenschliche herrschaftsfreie Dialog zwischen Schwarz und Weiß wäre der Bereich der Gotteserfahrung“ (1991, S. 144).
III Rezeption und Einladung zum Diskurs Der theologische Neuansatz von Gotthold Hasenhüttl deutet auf eigenständige Art theologische Anthropologie und Erkenntnislehre, Christologie, Gotteslehre, die Lehre von der Kirche und die Lehre von der christlichen Hoffnung. Er bezieht sich dabei auf die in der Theologiegeschichte formulierten Glaubensaussagen. Indem er diese ernst nimmt und nach ihren jeweiligen Entstehungsbedingungen fragt, leuchtet er gleichzeitig das Spektrum möglicher Interpretationen aus. Dabei zeigt sich, dass auch traditionelle Formulierungen für alternative Deutungen offen sein können. Da Deutung als dialogischer Prozess erkannt wird, stehen Text und Rezipient gleichzeitig zur Disposition. In dieser Begegnung kann Neues entstehen, da jeder Rezipient einmalig ist und in seiner kulturgeschichtlich wie sozial geprägten Lebenswelt jeweils neue Antworten auf die Frage sucht, wie Leben sinnvoll gelingen kann. Die Gegenwart zeigt, dass religiöser Fundamentalismus auf der einen Seite häufig einer weitgehenden Bedeutungslosigkeit von Religion, Kirche und Theologie auf der anderen Seite gegenübersteht. Hier könnte Hasenhüttls Ansatz helfen, Wege aufzuzeigen, wie unter den Bedingungen der (Post-)Moderne christlicher Glaube so gelebt werden kann, dass ein verantwortungsvolles und sinnvolles Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft möglich ist. Hasenhüttls eigene Rezeption außereuropäischer Theologien und seine zahlreichen Forschungsreisen könnten Anlass sein, über die Anschlussfähigkeit seiner Arbeit bezüglich der theologischen Aufbrüche in Afrika, Asien und Lateinamerika zu reflektieren. Nicht zuletzt könnte sein Werk wichtige Impulse zur Lösung zentraler Fragen im Bereich der Ökumene geben. Eine umfassende Rezeption des Werks von Gotthold Hasenhüttl in der Fachtheologie steht noch aus. Neuere Grundlagenwerke der katholischen Dogmatik oder einzelner dogmatischer Traktate beziehen diesen Ansatz nicht in ihren Diskurs über den Glauben (vgl. Werbick 2000, Verweyen 2008), die Dogmatik (vgl. Rahner 2008), die Gotteslehre (vgl. Sander 2006) oder über die Lehre von der Kirche (vgl. Miggelbrink 2003) ein. Die weitgehende Nichtbeachtung durch Fachkollegen teilt Hasenhüttl mit dem für seine lebensnahe Theologie bei vielen Laien hochgeschätzten Eugen Drewermann. Trotz dieser mangelnden Rezeption verbinden allerdings zahlreiche Laien, die an einer Reform der Kirche interessiert sind,
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Freiheit konkret
mit dem Namen Hasenhüttls dessen praktischen Einsatz für eine gelebte Ökumene im Kontext des ersten Ökumenischen Kirchentags in Berlin 2003. Da diese Praxis die konsequente Umsetzung seines theologischen Ansatzes ist, sollte auch er intensiver beachtet werden. Ein Diskurs über einen theologischen Neuansatz bedeutet keine unkritische Übernahme, sondern verweist auf Hasenhüttls eigenes Plädoyer für eine dialogische Wahrheitsfindung. Einige mögliche Ausgangs- und Anknüpfungspunkte für einen weiterführenden kritischen Diskurs seien im Folgenden benannt.
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Der freie Mensch
Hasenhüttl versteht den Menschen weder aus dessen empirisch beschreibbaren Voraussetzungen noch aufgrund metaphysisch oder idealistisch abgeleiteter Vorgaben. „Mensch“ ist für ihn vielmehr ein Vollzugsbegriff, der seinem Wesen nach gegenstandsunfähig ist. In Weltoffenheit und in Beziehung zum Mitmenschen konstituiert der Mensch sein Wesen in den freien Akten der je konkreten Entscheidung unter dem Leitbild des Humanum. Entscheidung und Selbstwahl stehen dabei immer in der Zweideutigkeit von Gelingen und Misslingen. Werden allerdings mitten in dieser Ambivalenz Beziehungen als eindeutig gut erfahren, dann kann dies der Ort sein, an dem Gott als Prädikat dieser Erfahrung ausgesagt werden kann. Trotz Selbstwahl und Entscheidung der Betroffenen behalten diese gelingenden Begegnungen den Charakter des Geschenks, traditionell ausgedrückt: der Gnade. In der Rezeption dieses anthropologischen Ansatzes gab und gibt es einige Anfragen. Schon früh stellte Franz Courth die Frage, ob Wahrheit, Liebe, Treue und schließlich der Mensch selbst nur als Vollzugsbegriffe verstanden werden dürfen: „Gibt es nicht etwa ein dem Vollzug vorausgehendes, ihn bleibend herausforderndes Recht auf Liebe, Treue, Gerechtigkeit? Ein Recht der Gatten auf eheliche Treue, der Kinder auf die Liebe ihrer Eltern, der Notleidenden auf liebende Hilfe? Ein Recht deswegen, weil sie Gatten sind und eben nicht nur Freunde, Kinder und nicht nur Heranwachsende, Notleidende und eben nicht Besitzende. Hier wird also die Wahrheit des Vollzugs (der Liebe, der Treue etc.) durch die Bezugspartner selbst wesentlich qualifiziert und nicht zerstört. Und damit ist die
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Wer-Frage, eine metaphysische Frage, gestellt“. Inhaltlich gehören zu dieser Frage nach Courth zum Beispiel die „unbedingte Unvertauschbarkeit“ und das „konstitutive Moment der Einmaligkeit“ (Courth 1980, S. 316 f.; vgl. dazu auch Scheuer 2002, S. 70). Die von Courth angeführten Beispiele sind insofern problematisch, als sie nicht auf der gleichen Ebene angesiedelt sind. Gerechtigkeit kann durchaus eingefordert, im Notfall sogar eingeklagt werden. Aber Liebe und Treue? Diese sind „transzendent“, „jenseits“ allen einklagbaren Rechts und bilden gerade als gegenseitiges Geschenk die „Hoch-Zeit“ des Lebens. Sicher entstehen aus gelungenen Beziehungen auch (Selbst-)Verpflichtungen. Der Indikativ des als gut Erfahrenen setzt sich fort im Imperativ, daran mitzuwirken, dass diese Erfahrung auch weiterhin in dieser Beziehung gemacht werden kann und dass dieses Glück auch Ausstrahlung nach außen hat. Wird aber aus der Relation ein Recht abgeleitet, dann wird Liebe als gegenseitiger Nutzen missverstanden. Dass allerdings eine gelingende Beziehung nur erfahren werden kann, wenn „Unvertauschbarkeit“ und „Einmaligkeit“ bestehen, versteht sich von selbst. Aber auch hier handelt es sich wieder um relationale Begriffe: unvertauschbar, einmalig für wen? Keine metaphysische Vorgabe kann diese Frage beantworten und daraus eine Verpflichtung ableiten, sondern nur der konkrete Mensch in der Begegnung. Weitere Anfragen an Hasenhüttls Konzeption des frei sich wählenden Menschen könnten aus dem Bereich der Philosophie der Postmoderne kommen. Jacques Derrida (1930–2004), Jean Baudrillard (1929–2007) und Jean-François Lyotard (1924–1998) fragten jeweils auf ihre Weise, ob das Menschenbild des im 19. Jahrhundert beginnenden Existenzialismus nicht durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts fundamental infrage gestellt wurde. Zeigt sich hier nicht, wie manipulierbar und dadurch entfremdet der konkrete Mensch lebt, unfähig, seine Existenz in Freiheit zu verwirklichen? Jede Form der inhaltlichen Bestimmung des Wesens des Menschen sei zudem idealistisch und könnte ihrerseits einen Macht- und Herrschaftsanspruch dokumentieren, der grundsätzlich dekonstruiert werden müsse. Insbesondere Michel Foucault (1926–1984) fragte in den verschiedenen Stadien seines philosophischen Werks immer wieder, was durch eine Bestimmung des Menschen übersehen und dadurch ausgeklammert wird. Gerade das für ihn damit verbunden Phänomen der Macht ist dabei zentral, wie Karlheinz Ruhstorfer sehr gut herausgearbeitet hat: „Foucaults Arbeit
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besteht im Wesentlichen darin, alle Versuche, im Namen des Menschen über Menschen Macht auszuüben, Menschen zu beherrschen, sie im Blick auf ein Ideal zu normalisieren und in der Hoffnung auf einen ‚neuen Menschen‘ zu normieren, fundamental zu kritisieren“ (Ruhstorfer 2008, S. 41). Ein die Ansätze von Hasenhüttl und Foucault vergleichender Diskurs könnte aufzeigen, dass gerade Hasenhüttls Deutung des Menschen als offener Vollzug jeder Festlegung desselben elementar widerspreche und gerade so gegen jede Form von Machtausübung gerichtet sei. Der Mensch wird hier gerade nicht zum Objekt, das dann im Sinne von Foucault zum „Subjekt“, im wörtlichen Sinn zum „Unterworfenen“, wird. Hasenhüttl spricht selbst von einer „Dekonstruktion der Subjektivität“ (2001, Bd. I, S. 139). Wenn er schreibt, dass jede Deutung des Menschen, die dessen „was“ und damit sein Wesen bestimmen möchte, schon verobjektiviert, zeigen sich grundsätzliche Anknüpfungspunkte für ein produktives Gespräch mit den Ansätzen postmoderner Philosophie (vgl. Foucault 2005). Ein noch zu leistender Vergleich zwischen dem Ansatz Hasenhüttls mit demjenigen von Foucault könnte sich zum Beispiel an den Leitfragen orientieren, die Ruhstorfer im Sinne Foucaults formuliert: „Foucault fragt (…), wie ein Mensch nach dem Ende des Glaubens an objektive Gegebenheiten und wissenschaftliche Normen sich selbst gestalten kann (…) In seinem Spätwerk manifestiert sich die Suche des Menschen nach sich selbst, eine Suche, die nur sporadisch, exstatisch, provisorisch fündig werden kann“ (Ruhstorfer 2008, S. 43). Neben den Impulsen aus der Philosophie der Postmoderne kann der Blick auf konkrete Gefahren, die dem Menschen in der Gegenwartskultur drohen, Hasenhüttls Ansatz bereichern und gegebenenfalls bestätigen. Die für Hasenhüttl so zentrale Freiheit und damit auch die Selbstbestimmung des Menschen sind vielfältigen Gefahren ausgesetzt. Immer mehr erfährt sich der Mensch durch Wirtschaft und Politik, aber auch durch Ökonomie und Werbung fremdbestimmt. Dies gilt auch auf religiösem Gebiet. Während die unterschiedlichen Formen der bisherigen Außenbestimmung durch religiöse Vorgaben in Westeuropa schwinden, werden Menschen in den vielfältigen Formen evangelikaler Aufbrüche insbesondere in Nord- und Südamerika durch Massenveranstaltungen einer eigenen Entscheidung und insofern auch der eigenen Selbstbestimmung enthoben. Eine Reflexion über die religiöse Praxis findet hier weitgehend nicht statt. Anstelle eines eigenverantwortlichen Selbstvollzugs der menschlichen Existenz werden Handlungsmuster und Deutungskatego-
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rien von außen – nicht zuletzt durch politische Vereinnahmung religiöser Traditionen – unkritisch übernommen. Dass dies nicht nur im Christentum zu beobachten ist, zeigen ähnliche Phänomene auch im Hinduismus und Islam, ja sogar auch im Buddhismus Asiens. Wie ist mit dieser Fehlleitung menschlicher Selbstverwirklichung umzugehen? Hasenhüttl erinnert an die Bestimmung der Theologie als eine praktische Wissenschaft. Damit Herrschaftsansprüche und Fremdbestimmung ein Ende finden, bedarf es demnach einer konkreten und kritischen Erziehung. Diese ist nicht an einem allgemeinen und ungeschichtlichen Ziel orientiert und insofern ihrerseits fremdbestimmt. Zu ihren emanzipatorischen Aufgaben gehört es vielmehr, insbesondere die vielfältigen Formen von Angst abzubauen. Angst ist ja häufig die Ursache dafür, eine Leitung von außen als Entlastung von eigenen Entscheidungen zu übernehmen und (oft unbewusst) zu akzeptieren. Im Kontext einer emanzipatorischen Pädagogik vom Kleinkind bis zum Erwachsenen „hat Theologie als praktische Wissenschaft einen Freiraum zu schaffen, der den Menschen jeder Verzweckung entnimmt (…) Auf diese Weise stellt Theologie eine Hilfeleistung, ein Angebot zur Identitätsfindung des Menschen dar und kann verborgene Herrschaftsmechanismen entlarven. Theologie setzt so den Menschen in Freiheit, und da autoritätsgebundene Menschen aufgrund ihrer Erziehung nur eine reduzierte, verkrüppelte Freiheit kennen, ist erst die Liebe zur Freiheit zu wecken und so der Mensch zu öffnen für ein menschliches Dasein, ein Füreinanderdasein, ein gegenseitiges Einstehen in Freiheit und Liebe“ (2001, Bd. I, S. 23). Das Modell einer „Pädagogik der Unterdrückten“, wie sie Paulo Freire (1921–1997) entwickelte, könnte hier Vorbild sein (vgl. ebd., S. 380).
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Die Wahrheit des Lebens
Im theologischen Neuansatz von Hasenhüttl wird „Relationalität zum hermeneutischen Raster der kritischen Reinterpretation traditioneller Glaubensausagen. Und weil es sich beim Vollzug der Relationalität nicht um den subjektiven Nachvollzug objektiv vorgegebener Realitäten handeln darf, muss die relational konzipierte Wahrheit als Prozess der intersubjektiven Verwirklichung gelungenen Menschseins verstanden werden“ (Kreiner 1992, S. 401). Das traditionelles Wahrheitsverständnis, das auch
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weitgehend die christliche Theologie bis zur Gegenwart prägt, besagt allerdings, dass Wahrheitsansprüche „in der Tat wahr sind, unabhängig von menschlichem Dafürhalten und subjektivem Existenzvollzug“ (ebd., S. 411). In diesem Kontext ist der Aussage zuzustimmen, dass es Hasenhüttl gelingt, „die Situation einer möglichen zukünftigen Theologie zu entwerfen, die wirklich mit der These Ernst macht, dass ihr Wahrheitsbegriff sich radikal vom traditionellen Verständnis von Wahrheit unterscheidet (…): Dahinter manifestiert sich ein grundlegend verändertes Verständnis des Selbstvollzugs und Gegenstands theologischer Reflexion“ (Kreiner 1992, S. 410). Kreiner nennt im Folgenden auch Gründe dafür, dass er diesem neuen Wahrheitsmodell und dem damit verbundenen Gottesverständnis nicht zustimmen möchte. Insbesondere Hasenhüttls Gegenüberstellung von verobjektivierbarer und existenzieller Wahrheit führe zu einem „wahrheitstheoretischen Dualismus“ (ebd., S. 403 ff.), der den „kognitiven Status theologischer Rede“ infrage stelle (ebd., S. 404). Zudem stellt er die Frage, „ob Existenzwahrheit ohne objektive Aussagewahrheit sinnvoll gedacht werden kann“ (ebd., S. 405; vgl. dazu auch Hünermann 1980, bes. Sp. 213 f.). Die neuere abendländische Kulturgeschichte kennt unterschiedliche Zugänge zur differenzierten Wirklichkeit in Form naturwissenschaftlichempirischer und geschichtlich-hermeneutischer Wissenschaften. Insbesondere in der Schöpfungstheologie sorgt deren Vermischung allerdings bis zur Gegenwart für Irritationen. Während der Forschungsgegenstand und das Ergebnis der Ersteren unabhängig vom Forscher existieren, liefern Letztere immer Deutungen, die nur in Relation zum Interpreten entstehen. Ihre Wahrheit bemisst sich dann daran, ob der erhobene Wahrheitsanspruch intersubjektiv geteilt werden kann. Jürgen Habermas stellte in diesem Zusammenhang paradigmatisch ein instrumentell-technisches Handeln einem kommunikativen Handeln gegenüber (vgl. Habermas 1981). Unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit müssen dabei nicht dualistisch oder als sich gegenseitig auschließend gedeutet werden. Es sind schließlich Zugänge des ein und desselben Menschen, wenn diese auch gemäß dem jeweiligen „Gegenstand“ zu unterscheiden sind. Daher ist es für Hasenhüttl nicht zutreffend, wenn gesagt wird: „Begründendes Denken trifft von vorneherein das Verdikt der Entfremdung“ (Scheuer 2002, S. 69). Analytisch-begründendes Denken hat eine wichtige und unverzichtbare Funktion, allerdings sowohl bei Hasenhüttl als auch bei Habermas gerade nicht in kommunikativen Vollzügen.
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Geschichtlich-hermeneutische Fragen können nur im Diskurs, also kommunikativ beantwortet werden. Wenn nun nach Habermas die Einlösung eines Wahrheitsanspruchs die Idee des gelungenen Lebens mit den Attributen von Herrschaftsfreiheit und idealer Kommunikationsgemeinschaft antizipiert, dann zeigt sich Gelingen oder Misslingen dieses Anspruchs im konkreten Gespräch, also im Handeln der Beteiligten selbst (vgl. Pauly 1989, bes. S. 198 ff.). Hier ließen sich Parallelen zur relationalen Wahrheit im Sinne Hasenhüttls aufzeigen. Ob zwischenmenschliche Kommunikation, im Idealfall Liebe, gelingt oder misslingt, können nur die am Geschehen Beteiligten entscheiden. Deuten diese ihre zwischenmenschliche Kommunikation als eine Erfahrung der Liebe, wird kein Hinweis auf ein äußeres Argument diese Liebe bestätigen oder bestreiten können. Dass Menschsein sich auch hier in „objektiven Strukturen der Realität“ (Kreiner 1992, S. 408) vollzieht, ist evident. Ebenso einleuchtend ist aber auch, dass diese äußeren Strukturen weder Liebe erzwingen noch grundsätzlich verhindern können. Damit hängt auch die spezifische Sprachfähigkeit der Liebe zusammen. Die Sprache des Vollzugs und die Sprache des Diskurses über das Handeln liegen aber jeweils auf einer anderen Ebene und haben ihre je spezifischen Kriterien zur Einlösung ihres Wahrheitsanspruchs. Grundsätzlich ist auch hier Kreiner zuzustimmen: „Die Interpretation dessen, was Existenzwahrheit sein soll, kommt demnach nicht aus ohne Aussagen, die ihrerseits objektive Wahrheit beanspruchen soll“ (Kreiner 1992, S. 406). Dass die Sprache der Liebenden Wahrheitsanspruch erhebt, ist offensichtlich. Eingelöst wird dieser aber nicht im Rekurs auf eine an sich seiende „objektive“ Tatsache, sondern im Geschehen der Liebe selbst. Dass Hasenhüttls Unterscheidung zwischen begründetem und relationalem Denken auf scharfe Kritik stieß, liegt letztlich daran, dass damit nicht nur für ein erkenntnistheoretisches Modell geworben, sondern zugleich auch die Sinnfrage des Menschen angesprochen wird. Lässt sich gelingendes Menschsein begründen? Ist menschliches Leben nur sinnvoll, wenn dieser Sinn letztlich von außerhalb begründet wird? Die Vermischung von Kausalitätsfragen und der Sinnfrage zeigt sich exemplarisch im „Katechismus der Katholischen Kirche“ beim Thema „Schöpfung“. Da wird zunächst der Raum für wissenschaftlich-analytisches Forschen geöffnet: „Die Frage nach den Ursprüngen der Welt und des Menschen ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Forschungen, die unsere Kenntnis über das Alter und die Ausmaße des Univer-
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sums, über das Werden der Lebensformen und das Auftreten der Menschen unerhört bereichert haben“ (KKK Nr. 283). Daneben spricht der Katechismus von einer „anderen Ordnung“: „Es handelt sich nicht bloß um die Frage, wann und wie der Kosmos materiell entstanden und der Mensch aufgetreten ist, sondern es geht um den Sinn dieses Werdens“ (KKK Nr. 284). Mit Recht ist hier von zwei „Ordnungen“ die Rede: von der Ordnung, die mit der Methode der kausalen Begründung erforscht werden kann, und derjenigen, die sich auf die Sinnfrage bezieht. Nach dieser Ausdifferenzierung vermischt der Katechismus allerdings wieder beide „Ordnungen“: „Wir glauben, dass Gott die Welt nach seiner Weisheit erschaffen hat. Sie ist nicht das Ergebnis irgendeiner Notwendigkeit, eines blinden Schicksals oder des Zufalls“ (KKK Nr. 295). Weil nach diesem Ansatz menschliches Leben nur dann sinnvoll ist, wenn „alles“ sinnvoll ist, kann die Welt nicht durch Zufall aus einem ursprünglichen Chaos entstanden sein. Auch darf sie nicht in Jahrmillionen in einem Chaos versinken: „Gott erhält und trägt die Schöpfung“ (KKK Nr. 301). Gott als kausale Ursache des Kosmos begründet hier auch die Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens innerhalb des Kosmos: „Diese völlige Abhängigkeit vom Schöpfer zu erkennen, führt zu Weisheit und Freiheit, zu Freude und Vertrauen“ (KKK Nr. 301). Diese Rückbindung der Sinnfrage an die Kausalität Gottes als letzte Ursache des Kosmos wird so zum Inbegriff „von allem“. Kosmos, Mensch, Geschichte und deren Sinnhaftigkeit sind begründet in einem Gott, der diesen Phänomenen gegenüber steht. Dies ist bis heute die gängige Argumentationsstruktur zumindest in der katholischen Theologie. Demgegenüber ist für Hasenhüttl nicht eine von außen kommende Sinnvorgabe entscheidend, sondern die konkrete menschliche Erfahrung. Im menschlichen Vollzug zeigt sich, was den Menschen zutiefst beziehungsweise zuhöchst betrifft, ihn befreit von tradierten Strukturen und was sein Leben in Kommunikation mit anderen gelingen lässt. In diesem Sinne ist das täglich neue Leben der Ort der Verifikation existenzieller Wahrheit. Dadurch entscheidet sich auch hier, ob und inwiefern sinnvolle Erfahrung gemacht werden kann. Diese Erfahrung ist nicht an sich schon religiöse Erfahrung – dies allein deshalb nicht, weil dieser Begriff viel zu unbestimmt ist, als dass man daraus leben oder auch darüber streiten könnte. Da eigene existenzielle Erfahrung aber durch die Begegnung mit religiös tradierten Deutungen des Lebens wie der Bibel hervorgerufen werden kann, kann sie auch im Lichte der jeweiligen religiösen Traditionen ge-
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deutet werden. Deswegen liegt die Bezeichnung „religiös deutbare Erfahrung“ näher als die Rede von einer „religiösen Erfahrung“. In Zustimmung wie Ablehnung des Ansatzes von Hasenhüttl stehen sich letztlich paradigmatisch zwei gegensätzliche Modelle gegenüber, wie das Christentum in der (Post-)Moderne verantwortungsvoll gelebt und wie dieser Vollzug kritisch reflektiert werden kann. Dabei handelt es sich auch um zwei unterschiedliche Modelle der Wahrheit. Das immer noch die westeuropäische Theologie und somit auch die Theologie des römischen Lehramts prägende Modell hat Joseph Ratzinger für die Enzyklika „Fides et ratio“ von Papst Johannes Paul II. 1998 in klassischer Form beschrieben. Hier liegt die Grundstruktur einer Wahrheitssuche vor, wie sie bereits im 19. Jahrhundert von Papst Pius IX. im Umfeld des Ersten Vatikanischen Konzils und der damit verbundenen Erklärung der Unfehlbarkeit des Papstes benannt wurde (vgl. zum Beispiel den „Syllabus“ vom 8. Dezember 1864; weitergeführt wurde dieser Ansatz in dem Dekret „Lamentabili“ unter Papst Pius X. vom 3. Juli 1907). „Fides et ratio“ und mit ihr zahlreiche aktuelle theologische Ansätze beschreiben eine letztlich auf die Ideenlehre Platons zurückgehende metaphysische Wahrheitssuche. Diese „muss imstande sein, das empirisch Gegebene zu transzendieren, um bei ihrer Suche nach der Wahrheit zu etwas Absolutem, Letztem und Grundlegenden zu gelangen“ (Johannes Paul II. 1998, S. 85). Erfahrung wird dabei als „bloße Erfahrung“ und reine „Innerlichkeit“ disqualifiziert, da sie nicht das „tragende Fundament“ der Wirklichkeit zu erfassen vermag (vgl. ebd., S. 86). Dieses „tragende Fundament“ ist dem Menschen nach „Fides et ratio“ vorgegeben. Er kann diese Wahrheit, deren Erkenntnis zugleich Sinn vermittelt, ohne die Selbstoffenbarung des mit der ewigen Wahrheit identifizierten Gottes nicht erkennen. Dies hat kognitive und auch existenzielle Folgen für den Menschen: „Da die Bruchstückhaftigkeit des Wissens eine fragmentarische Annäherung an die Wahrheit mit der sich daraus ergebenden Sinnzersplitterung mit sich bringt, verhindert sie die innere Einheit des heutigen Menschen“ (Johannes Paul II. 1998, S. 87). Dem soll eine metaphysisch begründete Wahrheit abhelfen: „Was wahr ist, muss für alle und für immer wahr sein. Außer dieser Universalität sucht der Mensch jedoch nach einem Absolutem, das in der Lage sein soll, seinem ganzen Suchen und Forschen Antwort und Sinn zu geben: etwas Letztes, das sich als Grund jeder Sache herausstellt. Mit anderen Worten, er sucht nach einer endgültigen Erklärung, nach einem höchsten Wert, über den hinaus es
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weitere Fragen oder Verweise weder gibt noch geben kann“ (ebd., S. 31). Kognitive und existenzielle Wahrheit werden dabei eng miteinander verbunden; beide verdanken sich letzten scheinbar unveränderlichen Vorgaben. Dieses Gedanken- und Lebensmodell beruht allerdings auf Ideen, die insbesondere in der griechischen Philosophie entwickelt wurden. Gerade dadurch aber erweisen sich die scheinbar universellen und ungeschichtlichen Vorgaben, auf der die traditionelle Theologie maßgeblich beruht, als wesentlich von der westeuropäischen Kultur geprägt. Demgegenüber verstehen sich viele theologische Entwürfe Lateinamerikas, Afrikas und Asiens als Alternativen. Josef Estermann plädiert zum Beispiel dezidiert für eine Dekonstruktion der in „Fides et ratio“ beschrieben Ontotheologie. In seiner in Bolivien entwickelten „andinen Theologie“ beschreibt er ähnlich wie Hasenhüttl das „Prinzip der Relationalität“. Dabei begründet nicht ein letztes und absolutes Prinzip die Gesamtwirklichkeit, sondern eine grundsätzliche Beziehungswirklichkeit bildet die Grundlage gelingenden Lebens und dessen Deutung. Nur so sieht Estermann die indigene Bevölkerung der Anden in ihrer eigenständigen Erfahrung ernst genommen: „Das Absolute ist das, was sich außerhalb jeder Art von Relationalität befindet und damit in strengen Sinne gar nicht existiert. Für die andine Erfahrung ist das Absolute das Nichts und nicht das volle Sein“ (Estermann 1999, S. 293). Dies hat Konsequenzen für die Rede von Gott: „Die abendländischen Modelle bezüglich der Konzeption von Gott (…) können nur begrenzt auf die Grunderfahrung des andinen Menschen angewandt werden. Gott ist nicht Substanz sondern Beziehung“ (ebd., S. 292). Die Wahrheit des Lebens wäre demnach im Leben und dessen Tiefendimensionen zu suchen und nicht außerhalb desselben. Hasenhüttls relationales Menschenverständnis und eine daraus resultierende, auf Erfahrung gegründete Wahrheitssuche könnten mithelfen, die Theologie aus der Sackgasse einer westeuropäisch-neuplatonischen Metaphysik zu führen und sie somit als kritische Reflexion über gelingendes Leben zu etablieren, das sich unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten und gleichzeitig globalisierten Welt vollzieht. Ein Vergleich etwa mit der „andinen“ Theologie bei Josef Estermann könnte zugleich die Anschlussfähigkeit von Hasenhüttls Ansatz an außereuropäische Theologien exemplarisch aufzeigen. Der Rückgriff auf das jesuanische Lebensmodell als Maßstab eines entsprechenden Lebensvollzugs ebenso wie dessen Deutung würde dann diese Theologie als eine christliche spezifizieren.
Jesus Christus als Modell befreiten Lebens
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3 Jesus Christus als Modell befreiten Lebens Die Bedeutung Jesu Christi kann nach Hasenhüttl ebenfalls nicht aufgrund einer letztlich metaphysischen Begründung, sondern nur durch ihre anthropologische Einsehbarkeit erschlossen und sinnvoll tradiert werden. Die in Jesu Worten und Taten für die Menschen seines Umfelds erfahrbare umfassende Befreiung kann als Bereich Gottes gedeutet werden. Ihr Qualitätsmerkmal ist das Gute für den Menschen – wobei dieses immer konkret ist. und Die jeweils betroffenen Menschen müssen unabdingbar selbst zum Ausdruck bringen, was für sie in ihrem konkreten kommunikativen Lebensvollzug als gut erfahren wird. Die Korrelation der eigenen Lebenserfahrung mit dem Lebensmodell Jesu kann Engführungen und Verblendungen des bisherigen Lebenswegs vermeiden und neue Wege sinnvollen Lebens erschließen. Auch christologische Hoheitstitel sagen nicht etwas an sich Seiendes aus, sondern deuten diese Erfahrung im Kontext der jeweiligen kulturellen und geschichtlichen Rahmenbedingungen. Sie sind relationale Bezeichnungen. Zentral bleibt auch für Hasenhüttl die Leistung der frühen Konzilien, welche die Einheit von Gott und Mensch gegenüber jeder Vereinseitigung festhielten. Diese Einheit gilt es nicht als theoretisches Konstrukt, sondern als Ausdruck konkreter Erfahrung zu verstehen. Daher ist es richtig, dass Hasenhüttl nicht fragt, wer Jesus Christus ist, sondern was er bedeutet (vgl. Hünermann 1980, Sp. 214). Eine diskursive Begegnung zwischen Hasenhüttls Ansatz und außereuropäischen Christologien könnte in diesem Zusammenhang sehr fruchtbar sein (vgl. Pauly 2013, S. 202 ff.). Bereits der indische Gelehrte Keshab Chadra Sen (1838–1884) übersetzte die christliche Trinitätslehre in die hinduistische Geisteswelt und benannte dabei die relationale Trias von Wahrheit, Geistigkeit und Glückseligkeit. Die Menschwerdung Gottes war für ihn ein viel zu wichtiges Phänomen, als dass es nur mit einem historischen Ereignis verbunden werden könnte. Menschwerdung Gottes gilt es vielmehr für alle Menschen erfahrbar zu machen. Samuel Rayan (*1920) und Georg Soares Prabhu (1929–1995) betonten insbesondere die im Lebensmodell Jesu erkennbare Erfahrung der Freiheit in Situationen der Unterdrückung und Ausbeutung. Raimon Panikkar (1918–2010), der große Vermittler westlicher und östlicher Kultur und ein häufiger Gesprächspartner Hasenhüttls, spricht von einer immerwährenden Fleischwerdung des Göttlichen, wobei ihm selbst Jesus Christus zum Wegweiser
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wurde. Das Christusereignis geschieht demnach überall dort, wo Menschen in Freiheit ganz Mensch sein können. Auch Francis X. D’Sa SJ (*1936) bezeichnet mit „Christus“ eine konkrete Wirklichkeit im Leben eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft. Besonders interessant könnte eine dialektische Vermittlung zwischen der Christologie Hasenhüttls mit dem Werk von Michael Amaladoss sein. Auch er verbindet christlich gedeutete Grunderfahrungen mit asiatischer Lebensweisheit. Jesus ist für ihn ein Guru, dessen Leben den Menschen einen heilvollen Lebensweg erschließen kann. So wird Jesus Christus zum „Avatar“, zum Vermittler des Göttlichen unter den Bedingungen konkreter menschlicher Geschichtlichkeit. Diese Vorstellung verbindet Amaladoss mit dem Einsatz für die Befreiung aus wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Unterdrückung (vgl. Amaladoss 2010). Dass alle genannten asiatischen Kandidaten für einen möglichen theologischen Diskurs mit dem Ansatz von Hasenhüttl ihrerseits von der römischen Glaubenskongregation kritisch beäugt und teilweise auch verurteilt wurden, spricht für die Qualität und Originalität ihrer Ansätze.
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Gott als Sinn des Lebens
Das zentrale Thema eines umfassenden Diskurses über den theologischen Neuansatz Hasenhüttls muss die Gottesfrage sein. Als Ausgangsdiagnose für ein Gespräch kann dabei eine Aussage von Eugen Drewermann dienen: „Wir leben in einer Zeit, in der selbst der Begriff ‚Gott‘ eher ein Phantom der frühen Kindheit beschreibt, als das Gegenüber menschlicher Personalität und Freiheit zu bezeichnen. Auf die Kirchen Westeuropas kommt unausweichlich eine Jugend zu, in deren Ohren das Reden unserer Bibelexegeten heute schon durchaus nicht mehr zu unterscheiden ist von der Sprache irgendeiner Sekte – ein Vokabular, das nur noch die Konventikelangehörigen selbst mit bestimmten Erinnerungen und Gefühlen ihrer eigenen, zumeist sehr autoritär strengen Sozialisationsgeschichte zu assoziieren vermögen, während für ‚die draußen‘ die Frage sich kaum noch stellt, welch einen Sinn über die Befriedigung dieser ‚Gemeindemitglieder‘ hinaus ein derartiges Reden von ‚Gott‘ eigentlich macht“ (Drewermann 1988, S. 25). Jeder, der mit Kindern oder Jugendlichen zu tun hat, wird Drewermanns Diagnose bestätigen können. Sie hat sich inzwischen inso-
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fern radikalisiert, als der beschriebene Zustand nicht erst in der Zukunft zu erwarten, sondern bereits im Alltag zur Realität geworden ist. Wenn Hasenhüttl Gott als prädikative Aussage einer Erfahrung des relational verstandenen Menschen deutet, dann möchte er das Ereignis „Gott“ wieder in der und durch die Erfahrung des Menschen zur Sprache bringen und gerade dadurch die von Drewermann beschriebene Diastase zwischen Mensch und Glaubensaussagen überbrücken. Die ständige Rückbindung an die kommunikative Erfahrung könnte dabei auch eine Vergegenständlichung verhindern. Daher trifft auch für Hasenhüttls Verständnis von Gott zu, was Dietrich Bonhoeffer in seiner Habilitationsschrift von 1930 geradezu klassisch formulierte: „Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht; Gott ‚ist‘ im Personenbezug, und das Sein ist sein Personsein“ (Bonhoeffer 1988, S. 112). Gott ist für Hasenhüttl kein Objekt und insofern auch kein dem Menschen entgegenstehendes (lat. ob-jacere) Subjekt. Gegen diese Argumentation gab es Einwände. Hünermann stellte mit Recht fest, dass nach Hasenhüttls Gottesverständnis nicht mehr im traditionellen Sinn von Gott als Schöpfer gesprochen werden kann (vgl. Hünermann 1980, Sp. 215). Ist es aber nicht ein Grundproblem der Begegnung von Theologie und Naturwissenschaft, dass Erstere trotz aller Anerkennung von Leistungen zum Beispiel der Kosmologie letztlich doch Gott als letztes Prinzip und letzten Ermöglichungsgrund von Welt und Mensch bestimmt? Auch die sehr informative und abwägende Analyse von Hans Kessler verbleibt in dieser Denk- und Deutungsstruktur, wenn er einen ständigen absoluten Schöpfungsvorgang als „Grundvoraussetzung von Evolution“ bestimmt und sagt: „Während naturwissenschaftliche Kosmologie nach einem Anfang, der vergangen ist, fragt, spricht Gen. 1,1 von dem mitgehenden Anfang, der dauernd anwesend ist. Es geht also um eine Aussage im Präsens: um das nie zur Vergangenheit werdende un-vermittelte Begründen oder absolute Schöpfungswirken Gottes, um das ständige Gründungsgeschehen und Begründungsverhältnis zwischen dem, was ist bzw. werden und sein kann, und seinem tragenden Grund, also um das Wunder des Seins und Werdens, eben um die letzte Bedingung der Möglichkeit von Welt überhaupt – und damit auch von allem in ihr: von Evolution, Kosmos, Leben, Mensch, Wissenschaft usw.“ (Kessler 2009, S. 147). Gott wird hier also verstanden als „Gründung“ und „Begründung“, wenn auch nicht nur am Anfang, sondern als permanentes Geschehen. Ähnlich verläuft die Argumentation von Scheuer gegen Hasenhüttls Gotteslehre:
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„Wirklicher Gott ist nur der, welcher Urheber sein, der etwas anfangen kann“ (Scheuer 2002, S. 69, ähnlich Courth 1980, S. 300). Ob Naturwissenschaftler dem zustimmen können? Wird hier nicht trotz aller anerkennenswerten Vermittlungsversuche wie dem von Kessler doch wieder Gott zur Begründungshypothese und zur Ersatzerklärung für das, was nicht oder noch nicht gewusst wird, oder für das, was schlichtweg überhaupt nicht gewusst werden kann? Mit Hasenhüttls Worten: „Wer Gott zur Begründung heranzieht, setzt ihn in einem Kausalzusammenhang mit der Natur und macht ihn selbst zu einem Naturwesen. Wir fragen stets nach dem Grund von allem und wollen für alles eine Begründung, denn dadurch erscheint uns das jeweilige Geschehen als sinnvoll. Wir aber sind es, die den Sinn ins Universum hineininterpretieren. Wo kein Sinn des Werdens und Vergehens erkennbar ist, sucht unser Denken eine metaphysische Erklärung, und dazu dient Gott. Es fällt uns schwer, ein Faktum hinzunehmen, das wir nicht begründen können. Gott als Begründung ist allerdings nur eine Leerformel“ (2012, S. 117). Das begründende Denken, so zentral es zum Beispiel für Aristoteles und die ihm nachfolgende Philosophiegeschichte war, läuft allerdings bereits bei diesem selbst ins Leere, wenn er von der Materie spricht. Diese ist für ihn ewig, sie hat keinen Anfang und bedarf insofern auch keiner Begründung für ihre Entstehung. Schöpfungsaussagen im Sinne Hasenhüttls würden jenseits eines begründenden Denkens als Wesensaussagen des Menschen verstanden: Alles, was dem Menschen wichtig ist und woraus er lebt, ist nicht machbar, es ist Geschenk. Der Mensch ist Geschöpf, er lebt von dem, was ihm zukommt. Wenn dann allerdings wiederum gefragt wird, wer denn der Geber dieses Geschenks ist, sollte auch die Frage gestellt werden, warum dieser postulierte Geber dem einen gibt und dem anderen nicht. Die in diesem Kontext über Jahrtausende immer wieder gestellte TheodizeeFrage, wie Gott Leid und vorzeitigen Tod zulassen kann, ist bis heute unbeantwortet geblieben. Sie erweist sich damit als Scheinfrage und zeigt gerade die Problematik des traditionellen Gottesbildes. Die wirklich angemessene Antwort auf Not, Tod und Leid sind aktiv tätiges Mitleid und Sympathie. Dies wiederum ist keine metaphysisch zu begründende Idee, sondern ein praktisch-relationales Geschehen. Die Verbindung des begründenden Denkens mit der Gottesfrage verdankt sich letztlich der Sinnfrage. Wenn nicht „alles“ letztlich begründet ist, dann scheint auch die menschliche Existenz unbegründet und inso-
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fern sinnlos. Sind aber nicht gerade die tiefsten Erfahrungen des Menschen wie Liebe und Freundschaft letztlich unbegründet und gerade daher so besonders wertvoll? Wenn es logische Gründe für die Liebe gäbe, wäre ihr „Geheimnis“ zerstört, es sei denn man folgt Blaise Pascal (1623–1662), wenn dieser sagt, dass das Herz seiner eigenen Begründung folgt, die wiederum die Vernunft nicht kennt. Auch hier erweist sich Hasenhüttls Ansatz als diskursfähige Alternative zu Konzeptionen der Gottesidee, wie sie klassisch in der abendländischen Metaphysik formuliert wurden. Zerbricht dieses philosophische Gerüst, dann stürzt auch das von ihm gestützte Gottesbild. Wie aber könnte in einem nachmetaphysischen Zeitalter von Gott gesprochen werden, und welchen Beitrag könnte Hasenhüttls Ansatz dabei leisten? Auch hier sind es oft die praktischen Theologen, die realistisch die Ausgangsposition theologischer Rede reflektieren. Exemplarisch dafür steht die Arbeit der Rostocker Religionspädagogin Anna-Katharina Szagun mit ihrer „Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen“ (Szagun 2006 und 2008, vgl. dazu auch Bahr 2014, S. 363–366). Zwei unterschiedliche Erfahrungen standen für Szagun am Anfang ihrer Forschung. Zum einen beschreibt sie die eigene autoritäre religiöse Sozialisation in einem Pfarrerhaushalt: „Die schmerzhaften Erfahrungen mit in der Kindheit eingekapselten Gottesbildern, welche sich auf die Persönlichkeitsentwicklung wie die Lebensgestaltung zerstörerisch auswirkten und damit das befreiende Potential des christlich-biblischen Glaubens verstellten, sind treibende Kräfte für die Auswahl des Forschungsgegenstandes wie auch für inhaltliche Zielsetzungen: Es geht darum, Kindern Raum zu geben für eigenes Denken. Ihre Gefühle und Gedanken bezüglich religiöser Fragestellungen – fokussiert auf die im Zentrum religiösen Denkens stehende Gottesfrage – sollen wertschätzend und akzeptierend auf- und ernst genommen werden“ (Szagun 2006, S. 23). Der zweite Anlass der Studie war die kulturelle Situation in Ostdeutschland, insbesondere von Kindern, die nicht im traditionellen Sinn religiös sozialisiert wurden. Methodisch geht Szagun neue Wege, indem sie Kinder keine Gottesbilder zeichnen, sondern mit Alltagsmaterialien gestalten lässt, was ihnen in existenziellen Grunderfahrungen wichtig ist. „Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass Kinder nicht zu einer Wesensaussage mit überzeitlichem Charakter gebracht werden sollen, sondern die ihnen zu einem
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konkreten Zeitpunkt präsenten Vorstellungen Ausdruck finden können“. Erste Ergebnisse zeigen die „Gebundenheit der Gotteskonzepte an die Sozialisationseinflüsse“ und die „Vielschichtige Varianz in den Gotteskonzepten“ (Bahr 2014, S. 364 f.). Das aber heißt: In der alltäglichen Lebenswelt und im Umgang mit den Dingen des Alltags sowie insbesondere in den alltäglichen zwischenmenschlichen Begegnungen zeigen sich existenzielle Grunderfahrungen, die diesen Alltag zugleich übersteigen. Der Ausdruck für diese Erfahrungen kann weder bildhaft noch formelhaft festgeschrieben werden, sondern unterliegt einem – lebenslangen – Entwicklungsprozess. Hier ergeben sich interessante Parallelen zu Hasenhüttls Konzept einer erfahrungsbezogenen Theologie: „Der Gegenstand der Theologie erwächst also im Prozess der Prüfung, in der Prüfender und Geprüfter einbezogen sind. An einem wahrgenommenen Objekt (Gegenstand), das sich durch das Subjekt (Mensch) zu einem Erfahrungsgeschehen verdichtet, entspringt der Gegenstand der Theologie, der sich als eine Neuheitserfahrung darstellt“ (2001, Bd. I, S. 16). So könnte – ähnlich wie der asiatische Kontext bei der Neuformulierung einer Christologie – hier der konfessionslose Hintergrund der Kinder in Ostdeutschland zum Anlass werden, von Hasenhüttls Ansatz ausgehend neu über die Gottesfrage zu diskutieren, jenseits aller bisherigen metaphysischen und deontologischen Vorgaben. Da die Rede von Gott dabei immer mit menschlicher Erfahrung verbunden bleibt, unterliegt sie auch nicht dem Verdacht einer Projektion, wie ihn Ludwig Feuerbach (1804–1872) äußerte. Der Einzelne in Gemeinschaft wird hier ernst genommen. In der Gottesidee spricht sich so die kommunikativ vermittelte Erfahrung von Sinn aus. Da diese zugleich als Anlass zu Umkehr und Veränderung bisheriger Lebenswege verstanden wird, hat sie zugleich eine große gesellschaftliche Relevanz.
5 Kirche als Lebensgemeinschaft befreiter Menschen Die konkrete Ausgestaltung der Glaubensgemeinschaft in Hasenhüttls Ansatz wurde mehrfach negativ bewertet. „Mit besonders entschiedener Kritik bedenkt Hasenhüttl die institutionelle Gestalt der konkreten Kirche (…) Dass das hierarchische Amt der Kirche in einer monarchischen Spitze gipfelt, ist der unseligen Absicherungstendenz zuzuschreiben, die
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nach letzten Begründungen und Sicherheiten außerhalb des Glaubensvollzugs verlangt“ (Courth 1980, S. 302). Sievernich erkennt gar in diesem Ansatz einen „anti-institutionellen Affekt“ (Sievernich 1986, S. 315). Es ist richtig, wenn Scheuer an Hasenhüttls Kritik der Institution Kirche erkennt, dass dieser eine Hierarchie als nicht vereinbar sieht mit der jesuanischen Botschaft und dem Modell einer Glaubensgemeinschaft bei Paulus. Auch erkennt er im charismatischen Kirchenverständnis von Hasenhüttl, dass hier „Eucharistie auch ohne Amtsträger möglich“, heilswirksam sein und auch „Gotteserfahrung vermitteln“ kann, „vielleicht sogar besser als eine amtliche Eucharistiefeier“. Diese richtig wiedergegebenen Positionen Hasenhüttls bewertet Scheuer allerdings negativ: „Ein solches Kirchenverständnis widerspricht dem Selbstverständnis der katholischen Kirche, wie es sich z. B. in den Konstitutionen des II. Vatikanischen Konzils artikuliert“ (Scheuer 2002, S. 71). Scheuers Aussage ist insofern zuzustimmen, als Hasenhüttls Konzept nicht kongruent zu den Aussagen über die hierarchische Verfassung der Kirche ist, wie diese in Teilen der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ beschrieben wird. Allerdings zeigen die Diskussionen über die Gestalt der Kirche bis heute, dass sich sehr unterschiedliche Positionen auf dieselbe Konstitution berufen können. Es handelt sich dabei um einen Kompromisstext, in dem sehr verschiedene Modelle von Kirche unverbunden nebeneinanderstehen. Hasenhüttl hat selbst ausführlich dazu Stellung genommen (vgl. 1969, S. 327–353). In „Lumen gentium“ heißt es allerdings auch ausdrücklich: „Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht in der katholischen Kirche“ (DH Nr. 4119). Um den Ausdruck „verwirklicht“ („substitit in“) gab es insbesondere im Kontext der Enzyklika „Dominus Jesus“ heftige Diskussionen, da dort eine Identifizierung der Kirche Jesu mit der katholischen Kirche vorgenommen wird. Wenn es aber im Konzilstext ausdrücklich nicht heißt, „[d]iese Kirche Jesu Christi ist die katholische Kirche“ mit ihrer hierarchischen Verfassung, dann sind begründbare Alternativen zu diesem Kirchenmodell grundsätzlich möglich. Zudem spricht der Konzilstext von den Gläubigen als vom „Volk Gottes“ (DH Nr. 4122 ff.) Und von diesem Volk Gottes heißt es in scharfem Unterschied zur Unfehlbarkeitserklärung des Papstes auf dem Ersten Vatikanischen Konzil: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1. Joh. 2,20 und 27), kann im Glauben nicht fehlgehen“ (DH Nr. 4130). Jeder getaufte und gefirmte Christ hat somit
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den „instinctus fidei“, seinen ganz eigenen Zugang zu den Wahrheiten des Glaubens, der sich vom „einfachen“ Mitglied der Glaubensgemeinschaft bis zu den Trägern der unterschiedlichen Ämter in der Kirche äußert. Es ist mit dem zeitlichen Abstand zum Konzil zu fragen, wie denn dieses Volk Gottes selbst auf dem Konzil repräsentiert war und wie dieser allgemeine Glaubenssinn erfragt wurde (vgl. Katz 2012). Da das Konzil eine reine Bischofsversammlung und daher auch eine reine Männerversammlung war, wurden wohl die beiden Grundregeln verletzt, die bereits die mittelalterliche Theologie als konstitutiv für ein Konzil angesehen hat: die Repräsentation und die Delegation (vgl. Wohlmuth 1983). Erst gegenwärtig erfragt die römische Kurie vor wichtigen Entscheidungen wie zum Beispiel im Rahmen der Synode über Grundfragen des familiären Zusammenlebens das Votum der Gläubigen. Insofern ist erst jetzt ein kleiner Schritt getan, die Glaubensgemeinschaft wirklich in ihrer Pluralität ernst zu nehmen. Dadurch verwirklicht sich hier zumindest punktuell das von Hasenhüttl an Paulus entwickelte Modell einer charismatischen Gemeinschaft mündiger Christen. Dabei sind viele grundsätzliche Themen noch nicht angesprochen worden. Nach Hasenhüttls Modell haben alle, die die „Salbung von dem Heiligen“ haben, prinzipiell Zugang zu allen unterschiedlichen Diensten einer Gemeinde, einschließlich des priesterlichen Dienstes. Die eucharistische Mahlgemeinschaft auch mit denen, deren bisherige Lebenswege gescheitert sind oder die ganz neue Lebensformen wagen, kann gerade für diese Menschen eine Möglichkeit eröffnen, inmitten der Kontingenz und Gebrochenheit des Lebens in einer Gemeinschaft Sinn und Heil zu erfahren. Kommunikation und insofern auch Kommunion ist nicht eine Art Belohnung für Wohlverhalten, sondern ein Mittel der Stärkung auf einem oft beschwerlichen Lebensweg. Sakramentale Vollzüge einer Gemeinde sind in diesem Ansatz nicht an amtlich bestellte Priester gebunden, deren Zahl in der westlichen Welt dramatisch zurückgegangen ist. Dass sich zum Beispiel Eheleute gegenseitig das Sakrament der Ehe spenden, dass selbstverständlich jeder Christ segensreich für andere sein und damit auch andere im wörtlichen Sinne segnen kann, könnte zum Anlass werden, die Spendung der Sakramente grundsätzlich neu zu überdenken. Die Auswahlkriterien der Kandidaten und Kandidatinnen für alle Funktionen einer Glaubensgemeinschaft, einschließlich der herausgehobenen Position eines Bischofs oder einer Bischöfin, könnten durch das Gemeindemodell der frühen Kirche erweitert und bereichert werden (vgl. 1. Tim.
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3,1–7). Ein synodales statt eines hierarchischen Verfahrens zur Klärung struktureller, aber auch inhaltlicher Fragen könnte die Sachkompetenz wie auch die praktische Lebenserfahrung der getauften und gefirmten Christen konstruktiv nutzen. Dies gilt ebenso für den strukturellen Wandel der bisherigen westeuropäischen Volkskirchen zu überschaubaren und kommunikativen Glaubensgemeinschaften als Alternative zu den häufig geplanten anonymen Großpfarreien. Das „Volk Gottes“ stimmt inzwischen mit den Füßen ab. In Deutschland haben so mehr als sechs Millionen Christen in den vergangenen zwanzig Jahren die Kirchen verlassen. In dem scheinbar so katholischen Land Brasilien verlassen jährlich bis zu einer Million Katholiken ihre Kirche. Hasenhüttls Modell einer christlichen Glaubensgemeinschaft mag dem bisherigen offiziellen Verständnis der institutionalisierten katholischen Kirche widersprechen. Dies könnte aber gerade als positives Qualitätsmerkmal verstanden werden und als ein möglicher Weg, aus der Sackgasse herauszufinden, in die amtliche Hierarchie und Verobjektivierung des Glaubens über Jahrhunderte geführt haben. Noch gibt es Hoffnung.
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Personenregister Adorno, Theodor W. 106 Alexander von Alexandrien 138 Amaladoss, Michael 224 Ambrosius von Mailand 13 Apollinaris von Laodicea 141–143 Aristoteles 142, 153–155, 199 f., 226 Arius 138, 140 f. Assmann, Jan 152 Athanasius 138 Augustinus 13, 21, 69, 80 Bahr, Matthias 227 f. Barth, Karl 26, 99 Baudrillard, Jean 215 Bea, Augustin 18 Blank, Josef 33 Bloch, Ernst 69 Böhme, Jakob 21 Bonhoeffer, Dietrich 53, 225 Braun, Eberhard 47 Brod, Max 14 Buber, Martin 9 Bujo, Bénézet 210 Bultmann, Rudolf 8, 23–26, 34, 70, 72, 78–82, 84, 95, 105 f., 129, 142, 147, 152, 186, 191–193, 196, 201, 207 Caccia, Gabriel 47 Cohen-Solal, Annie 31 Courth, Franz 214 f., 226, 229 Cyrill 144 Damasus I. 161 f. Dankert, Jürgen 7 Darwin, Charles 198 Derrida, Jacques 215 Descartes, René 56, 58, 61, 72, 93 f., 148, 151 Döpfner, Julius 18 Drewermann, Eugen 37, 48, 213, 224 f. Elchinger, Léon Arthur 40 f. Enzner-Probst, Brigitte 42 Estermann, Josef 222 Euripides 149 Eutyches 145 Feld, Helmut 17, 19–21 Feuerbach, Ludwig 72, 228
Fichte, Johann Gottlieb 58, 70 Forst, Willi 15 Foucault, Michel 215 f. Freud, Sigmund 12 Freire, Paulo 217 Frohschammer, Jakob 198 Gadamer, Hans-Georg 108 Gertrud von Helfta 21 Gregor XIII. 18 Greshake, Gisbert 19 Habermas, Jürgen 53, 86, 108, 218 f. Hammann, Konrad 24 Harnack, Adolf von 134 Hasenhüttl, Franz 11 Hasenhüttl, Gottlieb 11 f. Hasenhüttl, Margarete 11 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 70 Heidegger, Martin 70, 72, 106, 139, 207 Heraklit 9, 150, 154 Hildegard von Bingen 21 Horkheimer, Max 106 Hünermann, Peter 218, 223, 225 Husserl, Edmund 19 Innitzer, Theodor 18 Jaspers, Karl 70 Johannes Paul II. 35, 45 f., 177, 221 Jüngel, Eberhard 166, 183 f. Julius III. 16 f. Kafka, Franz 14 f. Kant, Immanuel 93, 98 f. Kapellari, Egon 44 Kasper, Walter 41 f. Katz, Heiner 230 Kessler, Hans 225 f. Kierkegaard, Sören 70 Klein, Wilhelm 19–21 Knef, Hildegard 15 König, Franz 30 Kreiner, Armin 217–219 Kroll, Bernhard 42 Küng, Hans 9, 19, 23, 25–28, 34, 40 Leo I. 145 Lessing, Gotthold Ephraim 12, 116 Levada, William 47
Personenregister Locke, John 100 Lonergan, Bernhard 18 Luther, Martin 168 Lyotard, Jean-François 215 Marx, Reinhard 44–46 Mechthild von Magdeburg 21 Merz, Annette 183 Miggelbrink, Ralf 213 Mixa, Walter 42 Möhler, Adam 26 Morone, Giovanni 16 Münzel, Hermann 40 Nestorius 143 f. O’Farrell, Franz 31 Ohlig, Karl-Heinz 33 Origenes 21 Otfried von Weißenburg 50 Ottaviani, Alfredo 23 Panikkar, Raimon 223 Parmenides 152 Pascal, Blaise 227 Paul VI. 23 Pauly, Wolfgang 198, 219, 223 Pius IX. 22, 175, 221 Pius X. 22, 221 Pius XI. 22, 98 Pius XII. 21–23, 104 Platon 55 f., 153, 170, 221 Plinius der Ältere 149 Prabhu, Georg Soares 223 Proaño, Leonidas 35 Rahner, Johanna 213 Rahner, Karl 7, 162 Ratzinger, Josef / Benedikt XVI. 8, 27–30, 45–47, 52, 176, 221 Rau, Johannes 43 Rayan, Samuel 223 Rilke, Rainer Maria 60
237
Roncalli, Angelo Giuseppe / Johannes XXIII. 21–23 Ruhstorfer, Karlheinz 215 f. Sander, Hans-Joachim 213 Sartre, Jean-Paul 8, 14, 31, 54–68, 72, 78, 80, 84, 94, 148, 165, 207 Scheler, Max 72–76, 78 f., 84, 95, 129, 142, 147, 186 Schelling, Friedrich Wilhelm 70 Scheuer, Manfred 215, 218, 225 f., 229 Schleiermacher, Friedrich 98 f. Schoiswohl, Josef 16, 23, 25 Schulz, Walter 59 Schuster, Heinz 33 Schutz, Roger 46 Seibel, Wolfgang 22 Sen, Keshad Chadra 223 Seneca, Lucius Annaeus 170 f., 174 Siegward, Gérard 40 Sievernich, Michael 229 Sterzinsky, Georg 43 f. Stimpfle, Josef 40 Szagun, Anna-Katharina 227 Tattenbach, Franz 17 Teilhard de Chardin, Pierre 198–201 Theißen, Gerd 183 Theodosius I. 13 Theodosius II. 145 Thomas von Aquin 16 f., 45, 54, 93, 153 Traglia, Luigi 23 Trummer, Peter 183 Verweyen, Hansjürgen 213 Werbick, Jürgen 213 Wilhelm von Ockham 56 Witte, Johannes 23 Wohlmuth, Josef 230 Xenophanes 152
Sachregister absolut 29, 57–59, 61, 63, 65, 67, 87, 91, 96, 101 f., 106 f., 111 f., 142, 152, 161, 165 f., 198, 221, 225 Afrika 34, 36, 68, 202, 208–211, 213, 222 Angst 14, 17, 23, 38, 40, 51, 87, 96, 103 f., 217 Anthropologie 7, 61, 68, 71–73, 84, 95, 129, 164, 186, 191, 213 Asien 68, 213, 217, 222 Auferstehung 103, 107, 133, 136, 179, 181, 184, 195 Autorität 12–14, 18, 22, 26, 38, 91, 112 f., 115, 169, 171, 173, 184, 204 f., 210 f. Befreiung 13 f., 35, 62, 82, 98, 116, 118– 120, 124–128, 130–134, 136, 151, 158– 161, 167, 195–197, 201, 204–207, 211, 223 f. Begegnung 18, 23 f., 30, 32, 34–36, 43, 57, 64, 66, 80, 83–85, 99, 102, 109–114, 117–119, 121, 125, 142 f., 146 f., 149– 152, 172, 181, 194, 203 f., 280, 211, 213– 215, 220, 223, 225, 228 Bewusstseinsphilosophie 58–61 Beziehung 37, 56–60, 63–66, 69 f., 72, 77 f., 80, 82, 84 f., 88–93, 95 f., 117–119, 121, 124 f., 127, 129, 135, 142 f., 145, 150, 152, 161, 163–167, 169–171, 179 f., 182, 188, 192, 200 f., 202 f., 205, 207, 209, 214 f., 222, 227 Charisma / charismatisch 26, 30, 41, 163, 167, 172–178, 204, 229, 230 Dämon 76, 115, 128, 151 Dialog 8 f., 26, 34–36, 51, 85, 94, 96 f., 106, 109–115, 120, 177, 182, 203 f., 206, 208, 211–214 Dialektik 66 f., 80, 85, 128, 166 Dogma 22, 25, 29, 32, 51, 53, 90, 97 f., 102, 105, 107 f., 118, 134, 155, 167, 175, 229 Dogmatik 7, 68, 102, 105, 213 Dualismus 50, 76, 84, 136, 218 Entmythologisierung 23 f., 104–107 Entscheidung 62 f., 74, 78–83, 91, 192– 194, 199, 214, 216 f.
Erfahrung 20, 33, 36, 49–51, 53, 60, 65, 68, 78, 88, 91, 98–103, 105, 110 f., 113– 115, 119, 123, 127 f., 132–135, 137, 139–141, 144, 146–153, 155–162, 165 f., 169 f., 180, 185, 190, 202, 207, 211, 214 f., 220–223, 225, 227 f. Erfahrungswissenschaft 49, 101 f. Erkenntnis / Erkenntnislehre 55 f., 58, 63, 65, 68, 72, 93 f., 100, 139, 149 f., 213 Erkenntnisobjekt 64, 72, 93 f., 148, 151 Erkenntnissubjekt 72, 93, 148, 151 Eschatologie / eschatologisch 24, 68, 190 f., 193 f., 196–198, 200 f., 207 Eucharistie 39–43, 45 f., 168, 177, 182 f., 185–189, 229 f. Evolution 22, 198, 200, 225 Existenz 56–64, 70–72, 75, 77–83, 85 f., 99, 105 f., 131, 141–143, 146 f., 150 f., 153 f., 184, 186, 192, 194–196, 215 f., 218, 220, 226 Existenzphilosophie 8, 70, 72, 81, 84, 197, 206 Exousia 115, 122, 124, 139–141 Freiheit 26, 33, 36–38, 55, 61–64, 67, 74, 80, 84 f., 88, 102, 190, 116, 119 f., 122– 125, 128, 131, 135, 143, 156–159, 161, 167–173, 180 f., 192, 196–198, 202 f., 205, 207 f., 215–217, 223 f. Fundamentalismus 19, 213 Gastfreundschaft 40, 42, 45 Gehorsam 20 f., 29, 91, 108–110, 120 Germanicum 16–19, 21, 23, 25 Geschichte 65 f., 81–83, 86, 96, 105, 156, 166, 191, 193–195, 200 f., 206, 220 Gesellschaft 65, 67, 69, 81, 83, 85, 125, 167, 176–178, 188, 196, 202, 228 f. Gesetz 115 f., 118, 120 f., 214 Glaube / glauben 20, 53, 86–92, 94, 98, 107, 111–113, 115, 134 f., 155, 160, 162, 175, 185–188, 192 f., 213, 230 f. Glaubensgemeinschaft 36, 38, 119, 130, 167–169, 171 f., 175–178, 182, 186 f., 204 f., 228–231
Sachregister Glaubenskongregation 8, 30, 42, 45–57, 224 Glaubensvollzug 24, 113, 143, 170, 186, 188, 229 Gleichnis 149, 160, 174 Gnade 80, 150, 166, 172, 192, 197, 214 Gnosis 50, 136 Gottesbeweise 54, 154 f. Gottesgedanke 33, 60, 65, 75, 92, 152 Gregoriana 18 f., 23, 25, 31 Heil 24, 29, 48, 51, 53, 55, 86, 89, 109– 112, 117, 121, 132, 135–140, 146 f., 159, 161, 168, 172, 177 f., 180, 201, 225, 229 f. Heiliger Geist 161–163, 169 f. Hermeneutik / hermeneutisch 51, 79, 82, 217–219 Herrschaft 29, 38, 87 f., 91, 123, 126 f., 192, 131, 133, 148, 156, 167, 173, 178, 188, 204 f., 207, 217 Herrschaftsfreiheit 128, 131, 160, 167, 173, 175, 178, 188, 191, 203–205, 212, 219 Hierarchie 109 f., 167, 174–178, 204, 228 f. Hoffnung 21 f., 78, 132, 168, 178, 185 f., 191, 196, 207, 213, 216 Hoheitstitel 132 f., 200, 223 Homoousios 138–141 Humanität 65, 116, 208 Idealismus 59 f., 70 Idee 56, 63, 73–76, 110, 153, 156, 198, 221 f., 226–228 Identität 24, 48, 60, 64, 70, 72, 84 f., 88, 91, 95, 140, 145, 174, 177, 201, 211, 217 Institution 15, 29, 48, 87, 95, 130, 167 f., 173, 178, 187, 228 f., 231 Jesus Christus / Christologie 51, 89–91, 109 f., 112–128, 130–147, 160 f., 167– 169, 171 f., 176 f., 183–185, 187, 192 f., 199 f., 207, 210 f., 223 f. Jenseits 60, 80, 128, 150, 168, 170, 190, 196, 207, 209 Katholisch 9, 22, 24, 30, 39–41, 44, 90, 104 f., 108, 175–177, 188, 220, 229 Kausalität 89, 164, 219 f. Kirche 26 f., 38, 47 f., 96, 108 f., 112, 167, 171–173, 175–178, 187, 197, 204 f., 228–231
239
Kirchentag 7, 30, 39, 42 f., 45, 47, 123, 183, 189, 214 Kommunion 39–42, 46, 118, 230 Konzil 22 f., 26, 35, 90, 108–110, 135, 140 f., 143–147, 151, 175–177, 185, 204, 221–223, 229 f. Kultur 34–36, 76 f., 86 f., 103, 117, 133 f., 148, 156, 166, 204 f., 208–211, 218, 223 Kyrios 132, 134, 160 Lateinamerika 34–36, 68, 188, 196 f., 202–205, 207 f., 213, 222 Lebenswelt 49, 53, 66, 108, 134, 150, 152, 182 Lehramt 9, 28, 30, 48, 54, 90, 104, 108 f., 112 f., 186, 221 Lehrerlaubnis 8 f., 26, 46 f. Liebe 20, 24, 36, 38, 63, 77 f., 87–92, 96– 98, 100, 102, 110, 113, 115, 120 f., 128 f., 131 f., 147, 151, 153, 160, 163, 165 f., 170, 172, 174, 176 f., 179, 182, 184, 186, 188, 192–196, 199–201, 207, 212, 214 f., 217, 219, 227 Macht 38, 67, 76, 87, 106, 123 f., 131, 156, 169 f., 173, 177, 195, 212, 215 f. Menschwerdung 7, 14, 29, 32, 74, 78, 137, 144, 199, 223 Messias 132, 134 Metaphysik 99, 222, 227 Möglichkeit 56, 60, 64–66, 71, 78–83, 105, 125, 135, 138, 154, 193, 199, 204, 225 Monotheismus 104, 152, 155 Mythos / mythisch 103–107, 195 f. Natur 52, 71, 87, 142, 144–146, 198, 208, 226 Naturwissenschaft 22, 52, 58, 82, 94, 186, 198, 225 f. Nihil obstat 46 f. Offenbarung 99, 108–111 Ökumene / ökumenisch 20, 23, 26, 39– 41, 43, 213 f. Ordo 52, 56, 92, 94 Ousia 139–142 Person 74 f., 77–79, 110, 142 f., 145–147, Pluralität 9, 50–52, 66, 133, 135, 156, 230 Politik 123 f., 127, 145, 182, 202, 207, 216 Praxis 8, 37, 51, 62, 65–68, 84 f., 87–89,
240
Sachregister
101 f., 117, 140, 147, 157, 160 f., 179 f., 185–187, 206, 214, 216 Priester 20, 29, 115, 178 f., 187 f., 205, 230 Projektion 72, 129, 152, 163, 165, 228 Protestantisch 23, 26, 42 Prozess 52, 65–67, 78 f., 84, 90, 96, 101, 113, 118 f., 198, 201, 213, 217, 228 Reich Gottes 126–131, 191, 196–198, 206 f. Relationalität / relational 57, 61, 82 f., 85, 92, 95–97, 113, 117 f., 121, 163, 165 f., 181, 186 f., 201, 215, 217, 219, 222 f., 225 f. Religion 13, 34, 37, 53, 86 f., 92–94, 98 f., 119, 202 f., 211, 213, 220 f. Sakrament 41, 44, 167, 178–185, 187 f., 230 Säkularisierung 27, 53, 86 Schöpfung 52, 58, 104, 198, 219 f., 225 f. Schöpfungstheologie 57, 198, 218 Seele 84, 142, 146 f., 191, 195 f. Seelsorge 8, 25, 37 Sein 56–62, 64–67, 71, 75, 79–83, 93, 115, 139, 152 f., 159, 165 f., 192–194, 196, 222, 225 Selbstwahl 62 f., 79 f., 192, 214 Sinn 9, 49, 51, 61, 73, 77 f., 82 f., 86, 86, 107, 115 f., 121, 124, 149, 153, 163, 165, 182, 186 f., 193, 195, 220 f., 224, 226, 228, 230 Sohn Gottes 90, 105, 112, 133 Solidarität 111, 128, 163–165, 172, 177, 203 Substanz 193, 162, 185 f., 192, 222 Sünde 69 f., 81 f., 116, 196, 131, 160 Suspendierung 37, 42, 45–47, 183 Symbol / symbolisch 107, 129, 144, 158, 178, 180–182, 186–188, 210 Synode 23, 28, 145, 161 f., 230 Theologie 7, 20, 22, 30, 33–37, 43, 51 f., 54, 58, 60, 71, 80–82, 84, 86–88, 90, 101 f., 150, 153, 169, 101, 198 f., 202, 206, 213, 217 f., 220–222, 225, 228 Theologie der Befreiung 8, 34, 188, 196 f., 207 Theorie 8, 37, 55, 68, 85, 135 f., 140, 161, 165, 179, 207
Theotokos 144 Tod 15 f., 55, 69, 84, 127, 132, 164, 181, 183, 187, 190, 194 f., 226 Totalität 60, 65–67 Tradition 33, 36, 50, 53, 59, 73 f., 76, 79, 102, 109, 115 f., 126, 128, 135, 138, 148, 157, 161, 208, 217, 220 Transzendenz 61, 164, 209 Umkehr 34, 102, 128–131, 133, 160, 167, 182, 185, 206, 228 Unfehlbarkeit 22, 26, 29, 175, 221, 229 Verantwortung 20 f., 29, 52, 62, 82 f., 177 Vergegenständlichung 77, 148, 153, 159, 161, 163, 225 Verkündigung 77, 148, 153, 159, 161, 163, 225 Vernunft 24, 89, 106, 114 f., 122, 127, 168, 192 f., 207 Verobjektivierung 130, 148, 153, 155 f., 158, 162, 178, 187, 195, 205, 231 Versicherungsgott 163 f. Verstand 93, 100, 142 Vollmacht 26, 45, 109, 115–117, 119– 122, 124 f., 130 f., 140 f., 168–173, 177, 211 Vollzug 8, 24, 61 f., 70, 75, 77, 79 f., 82, 84 f., 92 f., 95–97, 113, 136, 151 f., 144, 147, 161, 163, 181, 184 f., 188, 192, 194– 196, 201, 211, 214, 216 f., 220 f. Wahrheit 29, 52, 54, 65, 67, 83, 90–97, 99, 101, 103–107, 109, 111–115, 117, 120, 122, 132, 139, 143, 152, 162–164, 168, 204, 208, 210 f., 214, 217–219, 221–223, 230 Weltbild 92, 106, 154 Wesen 7, 56 f., 60–62, 66, 71–73, 75, 77, 82, 84, 91 f., 95, 100, 130, 136, 141 f., 146 f., 151, 157, 164, 186, 190, 192, 199, 214, 216 Wirklichkeit 30, 52, 57 f., 60, 67, 72, 76– 78, 82, 88–91, 97, 101, 107, 111, 129, 139–141, 146 f., 152–154, 166, 170, 176–178, 180–182, 194–196, 200 f., 204, 206 f., 209 f., 218 Wunder 115, 117, 225 Zweideutigkeit 63, 67, 70 f., 119, 150 f., 161, 209, 214