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German Pages 456 Year 2015
Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie
T h e a t e r | Band 12
Miriam Drewes (Dr. phil.) studierte Theaterwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Politische Wissenschaft in Wien und München. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Theaterwissenschaft München an der Ludwig-Maximilians-Universität und als Filmdramaturgin tätig.
Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz
Diese Veröffentlichung ist eine gekürzte Version der Dissertation, die an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahr 2008 angenommen wurde.
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INHALT
I. PROLOG: VOM ENDE DER MODERNE IN DER MODERNE: DISKURSKONTINUITÄTEN, FORSCHUNGSÜBERBLICK UND VORHABEN DER STUDIE 13 I.1 Das Theater nach dem Text: Vorüberlegungen zum postdramatischen Theater und seiner Theorie aus historiographischer Sicht 13 I.2 Festivals: Produktionsstätten der Avantgarde 20 I.3 Epistemologische Aporien 23 I.4 PerformancePerformance-Studien und die wissenschaftstheoretische wissenschaftstheoretische Strategie des Uneindeutigen 26 I.5 Die Apologie des Ereignisses und der Präsenz als Komposita einer avantgardistischen Ästhetik 31 I.6 Vorhaben und Methode 34
II. ZWISCHEN FORTSCHRITTSSKEPTIZISMUS ORTSCHRITTSSKEPTIZISMUS UND FORTSCHRITTSEUPHORIE: EPOCHENMARKIERUNGEN, GESCHICHTS(PHILOSOPHISCHE) TENDENZEN UND (NACH-)MODERNE ZEITVORSTELLUNGEN 41 II.1 Utopieverlust – Modernekritik – Abschied von der Aufklärung 41
II.2 „Die“ Postmoderne oder das Dilemma einer Epochenkonstruktion 54 II.3 Vom Wandel theoretischer Ordnungsstrukturen 60 II.3.1 Zum Status der Geschichtsforschung im 20. Jahrhundert allgemein 60 II.3.2 Zum Status der jüngeren Geschichtstheorie in der Theaterwissenschaft 62 II.3.3 Narrative der Moderne und die Rolle der Kunst: Von der Begriffsgeschichte zur Systemtheorie 66 II.4 II.4 Rede und Gegenrede von Kunst als „Ort der Utopie“ 78 II.4.1 Ästhetische Erfahrung oder Aporien eines neuen Konzepts der Ästhetik 78 II.4.2 Zum Status von Utopie und Freiheit in traditionellen Texten der Ästhetik 86 II.4.3 Vom Ende der Kunst als Rede von ihrem immer schon vorhandenen Ende zur Spaltung einer zweiwertigen Funktionsbestimmung von Kunst 95 II.4.4 Widersprüche: Diskurse ästhetischer Erfahrung im 20. Jahrhundert 98 II.4.5 Vom Wettstreit der Diskursarten oder Anmerkungen zu einer zeitgenössischen Vorstellung von ästhetischer Erfahrung 115
III. FEST UND UTOPIE 119 III.1 Paradigm continued: Das Theaterfestival SPIELART – ein kritisches Porträt 119
III.2 Festivals im Kontext: KulturKultur-politische Transformationsprozesse 123 III.3 Systematische Festforschung und die Konstruktion universalistischer Parameter 129 III.3.1 Das Theater als Fest: Zum Status der Forschung 129 III.3.2 Die Anwesenheit der Götter oder die universalistische Idee einer Absolutheitserfahrung im Fest 131 III.3.3 Die Homologie von Fest und Kunst und die Verlängerung des sozialutopischen Topos freiheitlicher, antiutilitaristischer Vergemeinschaftung 139 III.3.4 Die Gedächtnisfunktion des Fests als Ergebnis epistemologischer Negation dichotomer Begriffskonstruktionen 147 III.3.5 Das Event: Surrogat des Unfestlichen 151 III.3.6 Jenseits vom „Jargon der Eigentlichkeit“: Neue Tendenzen zur Analyse von Vergemeinschaftungsformen 155 III.4 Festutopien der Moderne oder geschichtsphilosophische Antinomien auf dem Weg zu einer avantgardistischen Kunst 158 III. 4.1 Der Festbegriff Jean-Jacques Rousseaus: Aufklärungskritik und (vor-)republikanische Selbstbestätigung im Fest 158 III.4.2 Johann Wolfgang Goethes Festspiele zwischen Subversion und Affirmation, zwischen nationaler Selbstfindung und autonomer Kunstform 166 III.4.3 Richard Wagners ambivalente Metaphysik des Fests: Festutopie zwischen politisch-ästhetischem Revolutionspathos und skeptischer Gegenwartsverneinung 177 III.4.4 Nietzsches Fest: Dionysos – der lebende unter den toten Göttern oder mit Wagner gegen Wagner 187
IV. „DIE“ AVANTGARDE: DAS EWIG UNVOLLENDETE UNVOLLENDETE PROJEKT 195 IV.1 Positionen der AvantgardeAvantgarde-Forschung 195 IV.2 Zweckgebundene E Einheit inheit wider die Heteronomie: Heteronomie: Ausgewählte theoretische Positionen der historischen Avantgarde 202 IV.3 Topographie eines Perspektivwechsels: Von Europa in die USA oder die Neoavantgarde im Widerspruch zwischen Wiederholung und Neuschöpfung 217 IV.4 Historisierungen oder von den Antinomien des AvantgardeAvantgarde-Topos 230
V. EREIGNIS UND PRÄSENZ ALS THEATERWI THEATERWISSENSCHAFTLICHE SSENSCHAFTLICHE PARAMETER UND IHRE BEDEUTUNG FÜR DIE ÄSTHETISCHE ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG 239 V.1 Die Transitorik: Transitorik: Glück und Dilemma der Theaterwissenschaft 239 V.2 Einheit und Vielheit der Zeit: Zur Erforschung des ZeitZeit-Verstehens 242 V.2.1 Die Zeit als geschlossene Entität 247 V.2.2 Auf dem Weg zur Subjektivierung des Zeit-Begriffs 251 V.2.3 Die Offenheit der Zeit 255 V.2.4 Die Differenz der Zeiten 258 V.3 „Ereignis“ als historiographische Kategorie oder das Paradox des Ereignisses 263
V.4 Die Verzeitlichung der Zeit und das philosophische Jetzt: Ereignis und Präsenz im Kontext des philosophischphilosophisch-ästhetischen Diskur Diskurses 268 V.4.1 Das „Jetzt“ als Garant ästhetischer Erfahrung in der Perspektive moderner Ästhetik-Konzepte 268 V.4.2 Husserls Phänomenologie des intentionalen Zeitbewusstseins als gegenwartskritische Gegenwartsphilosophie 275 V.4.3 Heideggers verzeitlichter Zeitentwurf und die Beschwörung des „Jetzt“ im Ereignis 277 V.4.4 Derridas Präsenzkritik als metaphysikkritische Zeiterörterung 285 V.5 Ereignis und Präsenz im Kontext der Performativitätsdebatte 289 V.5.1 Theatersemiotik als Vorgeschichte zum Modell der Performativität 291 V.5.2 Die Performativität diesseits und jenseits der Welt der Zeichen 298 V.6 Von der „Narrat „Narration“ ion“ zur Narration: Theatrale Zeitgestaltung als ästhetische Strategie 308 V.7 Ereignis im Kontext: Instrumentarium zur Analyse temporaler Ordnungsmuster in Theateraufführungen 316
VI. ANALYSEN 323 VI.1 Jérôme Bel: „The Show must go on“ oder die szenische Erzählung einer Genealogie europäischer Aufführungstradition Aufführungstradition 323 VI.1.1 Jérôme Bel: Tanzen ohne Tanz 323
VI.1.2 „The Show must go on“ als geschichtskritisches Relais oder die Doppelstrategie von narrativer Darstellung und darstellender Narration 329 VI.1.3 Der Autorkommentar als Zeitdiagnose 339 VI.2 Forced Entertainment: Entertainment: „First Night“ – Zukunftsprognostik und Gedächtnisleistung als Theater gegen die Notwendigkeit der Zeit 344 VI.2.1 Forced Entertainment: Vom Erfolg des Scheiterns 344 VI.2.2 Die Schöpfung virtueller Ereigniswelten: Theater der Sprache(n) 349 VI.2.3 Präsenz gegen das Hier und Jetzt: Theater der (Schrift-)Körper 360 VI.3 Alexeij Sagerer: Sagerer: „Götterdämmerung“ – Horizontale IV des „Nibelungen „Nibelungen & Deutschland Projekts“ – Mythos und Zeitkritik 365 VI.3.1 Theater ungleich: Alexeij Sagerer und das Münchner Theater proT 365 VI.3.2 Historischer Kontext als theatrale Gegenwartsanalyse – Suchbewegungen eines produktionsund rezeptionsästhetischen Ansatzes 371 VI.3.3 Trilogie des Wiederspielens oder drei Arten präsentischer Vergangenheitsbewältigung 377 VI.4 Station Station House Opera: „Roadmetal, Sweatbread“ – Von der Ungleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen oder die Liebe als (Nicht(Nicht-)Wunscherfüllungsmaschine 394 VI.4.1 Station House Opera: Theater mit Hindernissen 394 VI.4.2 Dramaturgie der Zeitversetzung als Spiegel zeitversetzter Erwartungshaltungen in Liebesbeziehungen 397
VII. VII. EPILOG: FÜR EIN(E) THEATER(THEORIE) DER ANTINOMIEN 411
VIII. BIBLIOGRAPHIE 415
I. PROLOG: VOM ENDE DER MODERNE IN DER MODERNE: DISKURSKONTINUITÄTEN, FORSCHUNGSÜBERBLICK ORSCHUNGSÜBERBLICK UND
VORHABEN DER STUDIE
I.1 Das Theater nach dem Text: Vorüberlegungen zum postdramatischen Theater und seiner Theorie aus historiographischer Sicht Der Befund, mit dem Adorno vor mehr als 35 Jahren seine Ästhetik beginnen ließ, dass „nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich“1 sei, gilt heute mehr denn je. Was Theater, bildende Kunst, Tanz, Musik etc. als Kunst eigentlich ausmache, ist nach wie vor umstritten. Die Auseinandersetzungen darüber werden nicht nur im Feuilleton geführt, sie reichen bis in die Wissenschaft, wo sie sich am augenfälligsten in einer ständigen Erweiterung thematischer Interessen manifestieren. Das gilt nicht zuletzt für die Theaterwissenschaft. Das Fach hat sich in den letzten Jahren den vielfältigsten theatralen Erscheinungsformen auch außerhalb seines traditionellen Forschungsbereichs, des institutionalisierten Theaterbetriebs, gewidmet. Dabei avancierte der Begriff der „Theatralität“ zur zentralen heuristischen Kategorie, um die unterschiedlichen Modi der Darstellung und Inszenierung in diesem erweiterten Untersuchungsfeld zu analysieren. Unterschiedliche Modelle wurden in den 90er Jahren entwickelt, die das Phänomen des Theatralen zu erklären suchten, nachdem sich zum einen die Bühnenästhetik von einem mimetischen Theaterverständnis wegentwickelte und zum anderen erkannt wurde, dass sich die Inszenierungs- und Darstellungsweisen von Phänomenen außerhalb des Kunsttheaters einleuchtend unter Bezug auf den Theatralitätsbegriff erörtern ließen. Diese Horizonterweiterung trug dazu bei, dass die ehemals engen disziplinären Grenzen verlassen wurden und Theaterwissen-
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Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 9.
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Theater als Ort der Utopie schaft nun auch als Kulturwissenschaft verstanden wird.2 Die Ausweitung des Theatralitätsbegriffs stieß zwar mitunter auf Kritik3, doch änderte das nichts daran, dass zunehmend „theaterferne“ Phänomene wie Fernsehsendungen, Fußballspiele oder auch Politikerreden zum Untersuchungsgegenstand theaterwissenschaftlicher Analyse wurden. Diese Entgrenzungstendenzen sind jedoch weniger das Ergebnis einer singulären Theoriebewegung. Sowohl die sich immer weiter ausdifferenzierende Theaterästhetik als auch ihre Theoriebildung sind vielmehr nicht zuletzt auf die Rezeption poststrukturalistischer Studien seit etwa drei Jahrzehnten zurückzuführen. Diese haben umfassend mit dem Ursprungsdenken und mit monokausalen Deutungsmustern jeglicher Art gebrochen. So betrachtet lassen sich die genannten Entwicklungen als Resultat einer viel tief greifenderen Theoriebewegung verstehen, die sich in diesem Zeitraum innerhalb aller Geisteswissenschaften abgespielt hat. Auf der Ebene der künstlerischen Praxis haben sich zugleich Theaterformen etabliert, die seit den 90er Jahren sowohl in der theaterwissenschaftlichen Publizistik als auch im Feuilleton mit dem Etikett „postdramatisch“ versehen wurden. Der ursprünglich von Richard Schechner für das Happening eingeführte Terminus wurde schon bald zum Erkennungs- und Vereinheitlichungsmerkmal einer vielschichtigen Ästhetik, unter die auch die davon nicht kategorisch zu unterscheidende Kunstform „Performance“ subsumiert wurde. Die Kontinuität in der sich über die Jahrzehnte wandelnden Begriffsverwendung besteht darin, dass mit „postdramatisch“ stets auch eine Epochenmarkierung gemeint war, die ein Theater „nach“, oder vielmehr „jenseits“ des traditionellen Texttheaters bezeichnete.4
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Vgl. Elizabeth Burns: Theatricality. A study of convention in the theatre and in social life, London: Longman 1972, Helmar Schramm: Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin: Akademie 1996, Erika Fischer-Lichte: „Theatralität und Inszenierung“, in: Dies./Isabel Pflug (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen, Basel: Francke 2000. Vgl. Rudolf Münz: „‚Ein Kadaver den es noch zu töten gilt.‘ Das Leipziger Theatralitätskonzept als methodisches Prinzip der Historiographie älteren Theaters“, in: Ders.: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, Berlin: Schwarzkopf und Schwarzkopf 1998, S. 82103. Hans-Thies Lehmanns – als Essay verstandene – Untersuchung ist hier als entscheidender Beitrag zur Neujustierung theaterwissenschaftlicher und -historiographischer Entwicklungen zu sehen. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999, S. 30. Die für die historischen Avantgardebewegungen in der Theaterhistoriographie gestellte Diagnose von der Dehierarchisierung des szenischen und literarischen Verhältnisses auf der Bühne erlangte als Zuordnungskriterium
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Vom Ende der Moderne in der Moderne Hans-Thies Lehmann beispielsweise verbindet mit dem Terminus des „postdramatischen Theaters“ ein Heraustreten „aus dem zuvor selbstverständlich gültigen Horizont der Moderne“ als Resultat veränderter gesellschaftlicher Bedingungen, bei dem gleichwohl „ältere“ Ästhetiken im Sinne einer „aufbrechenden Erinnerung“ den Raum der neuen bilden.5 Als Markierung dieser Zäsur werden von Lehmann vor allen Dingen die veränderten Wahrnehmungsgewohnheiten durch die Mediengesellschaft angeführt.6 Diese hätten die von dem Autor diagnostizierte „radikale Transformation des Szenischen“ überhaupt erst hervorgebracht.7 Hauptmerkmale postdramatischer Theaterästhetik sind demgemäß – und darin folgen ihm zahlreiche Autoren: Enthierarchisierung und Dezentrierung. Im postdramatischen Theater wird die Hierarchie von Text und Theater als weitgehend aufgehoben erachtet und, damit einhergehend, die Verschiebung der Kohärenzen dramaturgischer Strukturprinzipien wie Handlungslogik, Figurencharakterisierung, Dialog, die Konsistenz von Raum und Zeit konstatiert. Im Gegenzug habe sich ein offen thematisierter Status ästhetischer Selbstreflexivität etabliert. Szenische Elemente einer theatralen Aufführung wie der Schauspieler mit seiner Mimik, Gestik und Proxemik sowie Theaterraum, Bühne, Kostüm, Licht und die Verwendung anderer Medien, würden als gleichberechtigt anerkannt. Damit verbunden, oder gleichsam komplementär dazu, steht die oft zitierte entgrenzende Verbindung zu anderen Künsten wie zur bildenden Kunst, zu Film, Video, Photographie, Performance, Musik und Tanz. Neben dem Verweis auf ästhetische Kriterien expliziert Lehmann in der namengebenden Studie – und dieser Verweis ist für die folgenden Überlegungen von zentraler Bedeutung –, dass das postdramatische Theater wesentlich experimentell und künstlerisch risikobereit sei und sich abseits
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des Theaters seit der Neoavantgarde erneut an Bedeutung. Bereits Richard Schechner verband den Begriff mit einer Kritik an der Verwendung normativer Analyseinstrumentarien: „Obviously, the post-dramatic theater of happenings cannot be discussed using orthodox analytical methods.“ Richard Schechner: Performance Theory, New York, London: Routledge 1988, S. 21. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 31. Diesbezüglichen methodologischen Fragen widmet sich der von Christopher Balme und Markus Moninger herausgegebene Band, der den durch die Medienrezeption bedingten ästhetischen Veränderungen nachgeht. Den Autoren geht es u.a. um eine Integration bis dato vernachlässigter medientheoretischer Positionen und darum und um die Vermeidung einer pejorativen Haltung gegenüber (elektronischen) Massenmedien. Vgl. Christopher Balme/ Markus Moninger (Hg.): Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien, München: epodium 2004. Vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 24.
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Theater als Ort der Utopie des etablierten und konventionalisierten Spielbetriebs entwickelt habe.8 Die Diagnose bleibt also bei der Beschreibung ästhetischstilistischer und produktionsbedingter Variationen nicht stehen. Das ästhetische Stilrepertoire des postdramatischen Theaters setzt einen umfassenderen Anspruch voraus und greift damit auch in seiner Theoriebildung darauf zurück. Trotz einschränkender Formulierungen, die einen allzu eindeutig didaktischen Zugriff auf den Rezipienten – Theaterbesucher wie Leser der Studie – vermeiden sollen, geht es um den Entwurf einer idealistischen Ästhetik: „Tatsächlich steht im Hintergrund der Frage nach der virtuell radikalen Selbsttransformation in Performance und Theater die Frage nach der ethischen Option (Herv. i. O.)“9, schreibt Lehmann und verbindet diesen Gedanken mit einem utopischen Entwurf von Theater: „Theater soll, […], nicht so sehr zeigen, was es immer zeigte: die Zeit einer Schuldgeschichte, sondern etwas, das man einen Unschuldsraum nennen könnte. Es wäre ein utopisches Theater, in dem der Zuschauer ‚das Personal der Wachwelt [...] ohne das Gängelband seiner Geschichte‘ erblicken würde.“10 Abseits der aufschlussreichen Erkenntnisse über den Entwicklungsstand des Theaters im ausgehenden 20. Jahrhundert und seinen vielfältigen stilistischen Variationen werden in dieser durchaus traditionell idealistischen Rhetorik ideengeschichtlich bedingte, aber nicht weiter erörterte Antinomien sichtbar: Einerseits wird vermittelt, dass es sich um einen ästhetischen, ideellen und darüber hinaus auch epistemologischen Bruch handele, der alte produktionsästhetische und wissenschaftstheoretische Kriterien obsolet mache. Zugleich wird damit eine historiographische Zäsur gesetzt, die vermeintlich verschieden konturierte Ästhetiken – Texttheater versus postdramatisches Theater –, trotz der Behauptung ihrer Gleichzeitigkeit, in ein Vorher und Nachher trennt. Andererseits wird die genuin innovative und risikobereite Ästhetik des postdramatischen Theaters weitgehend linear und kausal auf die historischen Avantgardebewegungen und ihre idealistischen Parameter bezogen.11 Ob8 9 10 11
Vgl. ebd., S. 34. Ebd., S. 248. Ebd., S. 352. Auch wenn Lehmann selbst konstatiert, dass das Konzept der Avantgarde einer Revision bedürfe, entfällt eine ideengeschichtliche Kontextualisierung der Avantgarde im 20. Jahrhundert. Genuine Topoi, die den historischen Avantgardebewegungen zugeschrieben werden, nämlich Fortschritt und Innovation, werden auch für das postdramatische Theater reklamiert. Vgl. ebd., S. 32ff. u. 76ff. Siehe auch: Hans-Thies Lehmann: „Ein Schritt fort von der Kunst (des Theaters). Überlegungen zum postdramatischen Theater“, in: Christoph Menke/Julia Rebentisch (Hg.): Kunst – Fortschritt – Geschichte, Berlin: Kadmos 2006, S. 169-177.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne wohl die historische wie auch die sogenannte Neoavantgarde der 50er und 60er Jahre inzwischen historisiert ist, wird das postdramatische Theater implizit als zeitgenössische Form avantgardistischer Kunst betrachtet. Poststrukturalistische Theoriemodelle werden zudem herangezogen, um die Reziprozität von philosophischen Konzepten und eben jener Ästhetik dieser neuen Avantgarde theoretisch zu begründen.12 Ähnliche Vorstellungen über eine in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich etablierende „neue“ Theaterästhetik vertritt auch Erika Fischer-Lichte. Sie verbindet ihre Überlegungen zum Status quo des zeitgenössischen Theaters mit der historiographischen Diagnose einer „performativen Wende“ in den Kulturwissenschaften.13 Als Zäsur für eine Wendung des Theaters hin zur Performativität, die die ehemals dominante, referentielle Funktion des Theaters mit seiner Darstellung fiktiver Handlungen, Figuren, Beziehungen und Situationen verabschiedet habe, setzt Fischer-Lichte ein Theaterereignis, das innerhalb der Historiographie der Performance Art zugerechnet wird: das 1952 am Black Mountain College aufgeführte „untitled event“, das sich inzwischen in der Theaterwissenschaft als eine Art „Urszene“14 der performativen Wende etabliert hat.15 Im 12 Mehrmals verweist Lehmann auf Texte von Jacques Derrida und Gilles Deleuze/Félix Guattari. Derridas Terminus der „clôture“ etwa, der den Begriff der Prozessualität impliziert, wird analog zur Beschreibung einer rätselhaften oder gar „esoterischen“ Theaterästhetik gebraucht. Dasselbe gilt für Deleuzes/Guattaris vielzitierte Metapher des „Rhizoms“, die auch dem „Wildwuchs der Zeichen“ auf dem Theater entspräche. Vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 101 u. 154. 13 Vgl. Erika Fischer-Lichte: „Auf dem Wege zu einer performativen Kultur“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie 7/1 (1998), S. 13-29. In „Ästhetische Erfahrung“ kommt Fischer-Lichte ebenfalls auf den „Performativierungsschub“ seit den 60er Jahren zu sprechen. Dort wird der Begriff „Performativität“ mit „Ereignishaftigkeit“ und „Unwie– derholbarkeit“ in Verbindung gebracht. Als Beispiele werden nahezu ausschließlich Performances der genannten Zeit und Vertreter des postdramatischen Theaters angeführt. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen, Basel: Francke 2001, S. 332, vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 25ff. 14 Petra Maria Meyer: „Performance im medialen Wandel. Einleitender Problemaufriss“, in: Dies. (Hg.): Performance im medialen Wandel, München: Fink 2006, S. 35-75, S. 47. 15 Vgl. RoseLee Goldberg: Performance: Live Art, 1909 to the present, London: Thames and Hudson 1979, S. 82. 2001 notierte Goldberg in einer Wiederauflage der Studie: „In this way there would be no ‚causal relationship‘ between one incident and the next, and according to Cage, ‚anything that happened after that happened in the observer himself.“ RoseLee Gold-
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Theater als Ort der Utopie Vordergrund dieser Produktion, so Fischer-Lichte, habe die bewusste Provokation einer oszillierenden Rezeption gestanden, die Eröffnung eines weiten und diffusen „Gesichts- und Gehörfelds“ des Zuschauers.16 Die Diagnose bleibt aber auch hier nicht auf rein (rezeptions)ästhetische Erkenntnisse beschränkt. In diesem vom „untitled event“ etablierten „radikalen Widerspruch“ zum „traditionellen bürgerlichen Kunstverständnis“, der schließlich die „Negation des kommerziellen, produktorientierenden Kunstbetriebs“17 durch die Performance-Kunst einschließt, meint Fischer-Lichte darüber hinaus den „Entwurf einer Utopie“18 erkennen zu können. Alles in allem stünde bei diesen als performativ verstandenen Künsten nicht mehr der Verweis auf eine außertheatrale Wirklichkeit im Vordergrund, sondern – so die Analogie zum Theorem des Performativen – „der Vollzug von – durchaus bedeutungsvollen Sprech- und anderen Handlungen durch reale Personen in einem realen Rau“,19 und zwar in einem Zeitraum, der als aufzuführende Zeit nicht eine andere fiktive Zeit bedeutete, sondern, strukturiert durch „time brackets“, in dieser aufging. Der Modus des Utopischen und der Ideologiekritik, wie ihn der Impetus der jeweiligen Künstler auszeichnet, wird auf Theorieebene demzufolge ebenfalls postuliert. D.h., die Ästhetik des Performativen wird interpretiert als eine kulturkritische Strategie, die die Logik des Zivilisationsprozesses nicht anerkenne, im Gegenteil, „sie zerschlägt und als im Ansatz verfehlt ausweist“.20 Die genannten Beispiele führen diese theaterwissenschaftliche Position zwar besonders pointiert vor, sie stellen aber bei weitem keinen Einzelfall dar. Zwar widmen sich auch sämtliche andere Studien auf umfassende Weise den zahlreichen Variationen des sti-
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berg: Performance Art. From Futurism to the Present, London: Thames and Hudson 2001, S. 121 u. S. 126. E. Fischer-Lichte: Auf dem Wege zu einer performativen Kultur, S. 17. Erika Fischer-Lichte: „Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur“, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 277-300, S. 296. Vgl. ebd., S. 286. Vgl. ebd., S. 280. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 175. In dem Band „Auf der Schwelle“ heißt es zur Funktion von ästhetischer Erfahrung, dass diese „mit schwer kalkulierbaren Wagnissen und Risiken einhergehen kann. Diese Unwägbarkeiten resultieren aus der Möglichkeit, die Grenzen eingespielter Wahrnehmungsgewohnheiten zu überschreiten und vertraute Dichotomien zu überwinden, mit deren Hilfe wir unsere alltäglichen Erfahrungen zu sondieren pflegen.“ Erika Fischer-Lichte u.a.: „Einleitung“, in: Dies. u.a. (Hg.): Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen, München: Fink 2006, S. 7-9, S. 8.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne listischen Formenrepertoires und den damit verbundenen methodologischen Fragen. Doch auch in ihnen wird auf Theorieebene der ideologiekritische Impetus der Künstler affirmativ wiederholt. Das betrifft nicht nur den immer wieder zitierten antibürgerlichen Impetus. Auch die Traditionslinie, in die die postdramatische Theaterästhetik und die Performance Art bzw. das experimentelle Theater seit den 50er Jahren eingeordnet wird, wird weitgehend unkritisch diskutiert: Es sind die historischen Avantgardebewegungen, auf welche die Ästhetik sowohl der Neoavantgarde als auch des postdramatischen Theaters und der Performance Art linear und kausal bezogen wird. Die Berechtigung und die Ursachen dieser kausalen und linearen Konstruktion werden dabei allerdings leider selten hinterfragt. Immerhin wird dabei doch implizit vermittelt, dass die in Opposition zu einem als bürgerlich verstandenen Illusionstheater realistischer und naturalistischer Ausprägung aufgestellten Parameter auch heute noch denselben idealistischen Stellenwert zu beanspruchen vermögen wie einst im Rahmen der historischen Avantgardebewegungen. Zentrale ideelle Topoi jener Zeit, wie beispielsweise die Einbeziehung des Rezipienten, die Befreiung von der Dominanz des Texts, die Suche nach Spielstätten außerhalb stehender Häuser, die umfassende Kritik an (vermeintlich) bürgerlichen Ausdrucksformen und schließlich die Negation einer repräsentationalen Ästhetik werden in ihrer Veränderung dabei weder mit ausführlichen Verweisen auf gesellschaftliche, politische und kulturwissenschaftliche Neukontextualisierungen in Verbindung gebracht, die den Anspruch einer weitgehend idealistischen Ästhetik kritisch reflektieren, noch erfährt die nachhaltige Kritik am Avantgarde-Begriff selbst eine Berücksichtigung.21 In der Regel wird der Statuswandel avantgardistischer Kunstformen hin zur Neo- oder Postavantgarde mit dem Prä-
21 Vgl. Yvonne Spielmann: Eine Pfütze in Bezug aufs Mehr. Avantgarde, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1991, S. 22; vgl. Helga Finter: „Das Reale, der Körper und die soufflierten Stimmen: Artaud heute“, in: Forum Modernes Theater 13/1 (1998), S. 3-17, S. 7 u. 15; vgl. Gabriele Brandstetter: „Grenzgänge II. Auflösungen und Umschreibungen zwischen Ritual und Theater“, in: Gabriele Brandstetter/Helga Finter/Markus Weßendorf (Hg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, Tübingen: Narr 1998, S. 13-19, S. 19; vgl. Sandra Thiedig: Zwischen Black Box und White Cube. Amsterdamer Performance Experimente, München: epodium 2001, S. 46; Vera Apfelthaler: Die Performance des Körpers – Der Körper der Performance, St. Augustin: Gardez! 2001, S. 67; vgl. Barbara Gronau: „Der Verdacht. Zur Inszenierung und Ironisierung von Ungewißheit in der Gegenwartskunst“, in: Erika FischerLichte/Clemens Risi/Jens Roselt (Hg.): Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 91-103, S. 94.
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Theater als Ort der Utopie dikat einer Radikalisierung ihrer ästhetischen Ansätze begründet.22 Das Augenmerk auf die Radikalisierung der Formen hat dabei zwar neue und aufschlussreiche Analysekonzepte dieser neuen Ästhetiken hervorgebracht. Sie hat aber nicht dazu geführt, dass auch der Status der damit verbundenen ideellen Implikationen einer Prüfung unterzogen worden wäre. Dies ist Ausdruck einer Entwicklung innerhalb der Theoriedebatte, die in den letzten Jahren auf Seiten der Produktion des Kunsttheaters eine nahezu spiegelbildliche Entsprechung aufweist: Die Rede ist von der Zunahme der Festivals, die sich explizit auf die Förderung avantgardistischer und innovativer Theaterästhetiken konzentrieren.
I.2 Festivals: Produktionsstätten der Avantgarde Abgesehen von etablierten Künstlern wie etwa Robert Wilson, Christoph Marthaler und Christoph Schlingensief, deren Produktionen lange schon die Membran zum institutionalisierten Staatstheaterbetrieb durchdrungen haben, konnte sich die Mehrzahl der Künstler des postdramatischen Theaters vor allen Dingen im Rahmen einer immer umfangreicher werdenden Festival-Landschaft etablieren. Nicht an den staatlich subventionierten Stadt- und Staatstheatern, sondern an den in Deutschland häufig als Private-Public-Partnership organisierten bzw. mit privatwirtschaftlichen Mitteln geförderten Festivals wie etwa den Münchner Festivals „SPIELART“ und „Dance“, dem Festival „Tanztheater International“ in Hannover, dem „transeuropa“-Festival in Hildesheim, dem Leipziger Festival „euroscene“, dem Frankfurter Festival „Plateaux“ und dem in Düsseldorf, Bochum, Mülheim und Köln stattfindenden Festival „Impulse“ fanden und finden die oben genannten Künstler hierzulande und vor allem auch innerhalb der internationalen Festivalwelt eine Heimat. Inzwischen gehören auch Gruppen und Künstler wie Forced Entertainment, Gob Squad, Nico and the Navigators, Chris Ziegler, Alain Platel, She She Pop, Station House Opera, Rimini-Protokoll und Jérôme Bel zum festen Inventar der Festival-Szene. Insgesamt stehen sie allesamt mehr oder weniger im Zeichen einer avantgardistischen Ästhetik, die, so eine der Grundüberzeugungen der FestivalVeranstalter, in dieser Weise an den staatlichen Bühnen nicht zu realisieren sei. Die zunehmende Festivalisierung ist damit auch als das Resultat einer Schwerpunktverlagerung von Organisations-
22 Vgl. Erika Fischer-Lichte: „Die semiotische Differenz. Körper und Sprache auf dem Theater – Von der Avantgarde zur Postmoderne“, in: Herta Schmid/ Jurij Striedter (Hg.): Dramatische und theatralische Kommunikation, Tübingen: Narr 1992, S. 123-140.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne strukturen zu sehen, die die Bedürfnisse unterschiedlicher Interessensgemeinschaften auffängt. Diese Entwicklung geht dabei zum Teil Hand in Hand mit dem Wandel staatlicher Förderpolitik. Das Theater im deutschsprachigen Raum hat seit einigen Jahren mit Mittelkürzungen zu kämpfen, die auch vor Theaterschließungen nicht halt machten. Wie Henning Röper in seiner aufschlussreichen Studie zur Theatersituation der bundesrepublikanischen Staatsund Stadttheaterbetriebe im ausgehenden 20. Jahrhundert dargelegt hat, haben etliche Theater selbst zu dieser prekären Lage beigetragen. Neben vielen betriebswirtschaftlichen Entwicklungen gehörte dazu aber auch, so Röper, die bei Vertretern der Staats- und Stadttheater bewusste oder unbewusste Verschließung vor der Erkenntnis, dass das Theater eben nicht mehr unbedingt eine herausragende Position in der Gesellschaft beanspruchen könne.23 Doch die prekäre Lage der stehenden Häuser hat noch einen anderen Grund. Gastspielbetrieb und die erkennbare Zunahme von Festivals, die auf andere und oft flexiblere Finanzierungskonzepte zurückgreifen können als die etablierten Staatstheaterbetriebe, haben die Theaterlandschaft im deutschsprachigen Raum einer Veränderung unterzogen. Röper notiert: „Von den Städten wurde in den 80er und 90er Jahren zunehmend erkannt, dass sie sich durch ein besonders herausgehobenes kulturelles Angebot touristisch profilieren können und auch das Publikum vor Ort solche Sonderereignisse gerne wahrnimmt.“24 Global betrachtet sind diese Veränderungen allerdings gar nicht so sehr Ursache einer binnenstaatlichen Entwicklung. Sie sind durchaus im Kontext einer, wenn man so will, weltumspannenden Dynamik zu sehen. Durch gesellschaftliche Individualisierung und kulturelle Globalisierung sind, wie Ulrich Beck notiert hat, neue „kulturelle Quellen für Risikofreudigkeit und Kreativität (Herv. i. O.)“ entstanden, die nicht als Massen-, wohl aber als Nischen- oder Minimärkte auch eine Antwort darstellen auf das „Ende der Massenproduktion und das Ende der Vollbeschäftigung.“25 „Hier entstehen“, so Beck weiter, „arbeitsintensive Tätigkeiten (Produkte, Dienstleistungen) mit begrenztem, aber hohem Sinn- und Zukunftswert – bei geringer Produktivität und geringem Einkommen,
23 Henning Röper: Handbuch Theatermanagement. Betriebsführung, Finanzen, Legitmation und Alternativmodelle, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2001, S. 485f. 24 Ebd., S. 519. 25 Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 246 u. 250f.
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Theater als Ort der Utopie was aber durch eine Vielfalt zusätzlicher Tätigkeiten ausgeglichen wird“.26 Diese Entwicklung hat, auf die Ebene der „Festivalisierung“ bezogen, eben auch dazu geführt, dass international agierende Konzerne zu Unterstützern ebenso international agierender Kulturprogramme wurden. Die als Kulturförderer auftretenden Geldgeber wie die BMW Group, die Allianz Kulturstiftung oder die Deutsche-BankStiftung können wiederum so zur eigenen Imagepflege beitragen und den Faktor Wirtschaftsstandort kulturell beglaubigen. Je nach Schwerpunktsetzung können beispielsweise Festivals genau jene genannten „Minimärkte“ bedienen und eine ganz spezifische Programmstruktur, zugeschnitten auf das Spezialinteresse eines bestimmten Publikums, entwickeln. Dazu gehören auch Festivals, die sich auf die Unterstützung und Präsentation innovativer Ästhetiken aus den Bereichen Theater, bildende Kunst, Musik, Medien und Film spezialisiert haben. Wie in der vorliegenden Studie zu zeigen sein wird, steht bei diesen Festivals eine dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch analoge Rhetorik hoch im Kurs: Risikobereitschaft, Innovation und Avantgarde sind auch hier die wichtigsten Parameter.27 Das Festival wird als der ausgezeichnete Ort verstanden, an dem, in bewusster Opposition zum etablierten Theaterbetrieb, nicht-repräsentationale Spielformen Programm und Ästhetik dominieren. Dabei wird sich zeigen, dass eine derartige Rhetorik Deutungsmuster bedient, die schon je im Fest den utopischen Ort zur Herstellung einer intakten und ausgezeichneten Gemeinschaft bemühten. Die Nischenkultur, wie Beck notierte, ermöglicht damit zwar eine erfinderische Produktionsweise und regionale wie transnationale zivilgesellschaftliche Selbstorganisationen. Es zeigt sich aber auch, dass die Entsprechung einer diskurstheoretisch nahezu
26 Ebd., S. 250. Diese Entwicklung lebe auch davon, so Beck, dass allein durch das Freiwerden von Vermögen in Billionenhöhe im Jahr 2006 allein in Deutschland ein breiter Raum für „Lebensästheten“ eröffnet wurde, dem tätigen Leben zu entsagen und sich der Umsetzung des „lebensästhetischen Imperativs“ zu widmen. Vgl. ebd., S. 147. 27 Das Festival „Impulse“ etwa zeigt ausschließlich Theater der vom Staatstheater unabhängigen Szene, vgl. http://www.festivalimpulse.de vom 14.3.2008. Produktionen der internationalen Tanz-Avantgarde widmet sich das Münchner Festival „Dance“, vgl. http://www.dance2008.de vom 14.3.2008. Das Münchner Festival „Tanzwerkstatt Europa“ zeigt Formen des zeitgenössischen Tanzes und der Performance, vgl. http://www.joint– adventures.net vom 13.9.2007 Zeitgenössisches europäisches Theater zeigt das Festival „euro-scene“, vgl. http://www.euro-scene.de vom 13.3.2008. Theater von Berufsanfängern und Künstlern unterschiedlicher Theatersparten präsentiert das Festival „Theaterformen“, vgl. http:// www.theaterformen.de vom 13.3.2008.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne reibungslos konstruierten Traditionslinie von den historischen Avantgardebewegungen über die Neoavantgarde zur heutigen postdramatischen Theaterästhetik auf der Ebene der Produktion einer solchen Ästhetik das spezifische Interesse legitimiert und zur Profilierung gegenüber anderen Interessensschwerpunkten und Freizeitangeboten beiträgt.
I.3 Epistemologische Aporien Die als fortschrittlich bezeichnete Theaterästhetik wird meist mit dem Wandel eines traditionellen Gesellschafts- und Weltbildes in Verbindung gebracht. Das Heraustreten „aus dem zuvor selbstverständlich gültigen Horizont der Moderne“ (Lehmann) wird in der Regel begründet mit dem Abschied von traditionellen – metaphysischen wie geschichtsphilosophischen – Denkmustern, die den Prozess der Zivilisation ehedem unter eine singuläre und kausale Fortschrittsbewegung stellten. Modernekritik auf der Ebene der Theoriebildung bedeutete dabei nicht nur die Verabschiedung normativer Deutungsmuster und Analyseraster, sondern auch die Reflexion auf den Konstruktionscharakter von Realität und Identität, der diese Denkmuster erst strukturiert. Die epistemologische Erkenntnis des Konstruktionscharakters von Wirklichkeit, d.h., die Überzeugung, dass Erfahrung und Erkenntnis von einem wahrnehmenden und erkennenden Subjekt abhängen, das selbst durch kulturelle und historische Bedingtheiten und Konventionen geprägt ist, bestimmte, so lässt sich zusammenfassend sagen, in den letzten Jahren den Status quo geisteswissenschaftlicher Analyse28 und hat auch die Theaterwissenschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflusst. Beispielhaft hierfür ist das besondere Interesse zahlreicher Autoren des Fachs an der philosophischen Kritik am Begriff der Repräsentation.29 Analog hierzu wurde die Entdeckung des Körpers innerhalb der Diskurskritik – ohnehin von jeher ein Zentrum theaterwissenschaftlicher Analyse – zum Ort der Durchkreuzung des Logos erklärt, indem sein darstellerisches Zeichenarsenal ein unhintergehbarer Rest eines nicht in seiner Bedeutung aufgehenden Zeichens eigne. Vor allen Dingen die Rezeption von Michel Foucaults Analysen der Körpertechniken, die er etwa in 28 Vgl. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984; vgl. Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. 29 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Derridas Kritik am binären Zeichenbegriff und der Begriff der Dekonstruktion bildeten zentrale Topoi poststrukturalistischer Diskurskritik, die auch von der Theaterwissenschaft weitreichend rezipiert wurden.
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Theater als Ort der Utopie „Überwachen und Strafen“ als Strategie der Macht diskutierte und die, ihm zufolge, als Operation auf den Körper einwirke und wiederum erneut Macht generiere,30 rückten die Konstruktionsweisen von Körperbildern ins Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung.31 Hauptsächlich im Bereich der Gender-Forschung nach Judith Butler hat die Etablierung konstruktivistischer Theorien zu einer Relektüre vermeintlicher Geschlechteridentitäten geführt, indem dort nicht nur das kulturelle Geschlecht (gender) vom biologischen (sex) getrennt analysiert, sondern auch die These vertreten wurde, dass Wiederholungen vermeintlicher Geschlechteridentitäten diese erst hervorbrächten – bei gleichzeitig konstatierter Möglichkeit, diese subversiv immer unterbinden zu können.32 In Weiterentwicklung der traditionellen, an der Vorstellung von der Binarität des Zeichens orientierten Theatersemiotik wurden schließlich die „Körper in Bewegung“ untersucht als „Zeichen produzierende Körper“ und als „Zeichen-Körper“, die „Medium, Materialität, Leibhaftigkeit und Signifikanten“ sind, zugleich jedoch „niemals ganz im Zeichen aufgehen“.33 Die Auflösung festgefügter normativer Kriterien aufgrund poststrukturalistischer Identitätskritik und die damit verbundene Fokussierung auf einen jegliche Petrifizierungen und vermeintliche Eindeutigkeiten unterlaufenden Körperbegriff hatten somit einen nachhaltigen Einfluss auf den Status theoretischer Wahrnehmung der Performance Art bzw. des postdramatischen Theaters. Zum einen ist die bisweilen als Forschungsdesiderat ausgewiesene Analyse von Performance Art und „avantgardistischen“ Theaterformen mittlerweile ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Zum anderen findet ein historiographischer Selektionsprozess statt, der letztlich, wie zu zeigen sein wird, auf ethisch konnotierten Strukturprinzipien basiert. Dabei ist zu konstatieren, dass mit der Verbindungslinie, die von den historischen Avantgardebewegungen über die Neoavantgarde bishin zur zeitgenössischen Performance bzw. zum postdramatischen Theater gezogen wird, eine auf den Prinzipien von Inklusion und Exklusion basierende Dichotomie hergestellt wird: Während auf der einen 30 Vgl. Judith Butler: „Noch einmal: Körper und Macht“, in: Axel Honneth/ Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 2003, S. 52-67. 31 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. 32 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Und: Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. 33 Anne Fleig: „Körper-Inszenierungen: Begriff, Geschichte, kulturelle Praxis“, in: Dies./Erika Fischer-Lichte (Hg.): Körper-Inszenierungen: Präsenz und kultureller Wandel, Tübingen: Attempto 2000, S. 7-18, S.12.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne Seite das postdramatische und Performance-Theater mit Prädikaten wie „innovativ“ und „(ideologie-)kritisch“ positiv konnotiert wird, erfährt das sogenannte konventionelle, bürgerliche, häufig als staatliches Subventionstheater geschmähte Texttheater als vermeintlich „affirmative“ und damit eben nicht „subversive“ Variante demgegenüber eine Abwertung. Indem auf diese Weise eine vermeintlich eindeutige ideengeschichtliche Grenze gezogen wird, gerät ein erheblicher Teil theaterästhetischer Phänomene zwangsläufig aus dem theoretischen Blickfeld. Die jüngere Theaterwissenschaft, die sich den Erscheinungsformen des Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart widmet, scheint damit von einer unauflösbaren Antinomie gekennzeichnet. Sie hat einerseits, aufgrund der Aufnahme poststrukturalistischer Erkenntnisse und Theoriemodelle, überholte ästhetische Kriterien und Identitätsvorstellungen einer Relektüre unterzogen, andererseits aber den Wandel ehemals idealistischer Parameter ausgeblendet. Als eine mögliche Erklärung dafür bietet sich an, dass es unvereinbar scheint, eine subversive, avantgardistische Ästhetik einerseits zu befürworten, diese Implikation wissenschaftstheoretisch andererseits aber einer Prüfung zu unterziehen.34 Ein anderer Grund liegt, wie zu zeigen sein wird, darin, dass poststrukturalistische Parameter für einen Teil der diskurskritischen Theoriebildung fruchtbar gemacht worden sind, während sie andererseits idealistisch konturierte, traditionelle Theoriebildungsprozesse befördert haben. Mit anderen Worten: Ideologiekritische und metaphysikkritische Parameter sind auf die eigene Historiographie und Theoriebildung der jüngeren Theaterwissenschaft nicht angewendet worden. Während also stilistische und inhaltliche Aspekte der postdramatischen Theaterästhetik und damit verbundene methodologische Konsequenzen ausführlich erörtert und inzwischen auch auf der Ebene der Textproduktion diskutiert worden sind,35 hielt sich – meist als recht diffuse Begleiterscheinung – auf der funktional-programmatischen Ebene, falls auf diese überhaupt verwiesen wurde, nachhaltig die übergreifende Idee von der Fortsetzung der historischen Avantgarde und einer dort genuinen utopischen Funktion der 34 Auch in der „Kurzen Geschichte des deutschen Theaters“ bleiben ideengeschichtliche Verschiebungen von der Avantgarde zur Neoavantgarde nahezu unerwähnt. Die Beschreibung der veränderten Lage beschränkt sich auf die Feststellung einer vom Fernsehen geprägten Massenkultur. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen, Basel: Francke 1993, S. 411ff. 35 Vgl. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen: Niemeyer 1997.
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Theater als Ort der Utopie Künste. Die Dominanz poststrukturalistischer Theoriemodelle in Absage an die hermeneutische Vorstellung von zielführender und abschließbarer Interpretation einerseits und die Kritik an einer metaphysisch verstandenen Vorstellung von Identität andererseits – und hierin liegt die scheinbar unauflösbare diskurstheoretische Aporie – haben zur Neujustierung von Realitätskonzepten und Identitätsvorstellungen geführt, nicht aber zur Neujustierung der Frage nach der Funktion des Theaters der sogenannten Neoavantgarde respektive der Performance Art innerhalb einer ausdifferenzierten Gesellschaft.
I.4 PerformancePerformance - Studien und die wissenschaftstheoretische wissenschaftstheo retische Strategie des Uneindeutigen Die Fokussierung auf die Materialität und Konstruktion von Körpern und Körperbildern innerhalb der Theaterwissenschaft zeigt, dass die Grenzen zu den sogenannten Performance-Studien recht unscharf verlaufen. Früher als im deutschsprachigen Raum setzte in den USA die Beschäftigung mit der Performance ein – nicht zuletzt aufgrund von Impulsen europäischer Emigranten, die sich beispielsweise in New York an der New School for Social Research und am bereits erwähnten Black Mountain College einfanden. Einen entscheidenden Beitrag zur Rezeption der europäischen Moderne leisteten zudem diverse Ausstellungen wie die „Modern European Art“ des MoMA im Jahre 1933 und die Anthologie „The Dada Painters and Poets“ aus dem Jahr 1951 von Robert Motherwell unter Mitwirkung u.a. von Marcel Duchamp, John Cage, Richard Huelsenbeck, Mies van der Rohe und Max Ernst.36 Wissenschaftlich wurde die Performance Art schließlich aus unterschiedlichen Perspektiven erörtert. Michael Kirby37 und vor allem Richard Schechner, der im Jahr 1967 zum Leiter ans Drama Department der School of the Arts der New York University berufen wurde, setzten sich aus theaterwissenschaftlicher Sicht mit der neuen Kunstform auseinander, die, so das Basistheorem der Performance-Studien, bis heute weder der bildenden Kunst, in der sich mit dem Action Painting eines Jackson Pollock seit 1950 ebenfalls performative Tendenzen zeigten, noch dem klassischen Theater zuzuordnen war.
36 Vgl. Robert Motherwell/Jack D. Flam (Hg.): The Dada Painters and Poets: An Anthology, Boston: Hall 1981. 37 Vgl. Michael Kirby: Happenings. An illustrated Anthology, New York: Dutton 1965. Und: Michael Kirby: A formalist theatre, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1987.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne Erörtert wurden in Kritik an hermeneutischen Analysemethoden und unter Zuhilfenahme anthropologischer Studien eines Victor Turner Kriterien zum Verständnis einer nicht-repräsenta-tionalen Ästhetik.38 Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive paradox, doch im Gefolge der Negation jeglicher repräsentationaler Ästhetik durchaus verständlich, klingt die ausgesprochene „Theaterfeindlichkeit“ vieler Künstler und Theoretiker, verstanden als Absage an jegliche Abbildfunktion innerhalb des Theaters und der bildenden Kunst. Exemplarisch hierfür steht etwa Michael Frieds auch in der Theaterwissenschaft wiederholt rezipierter Aufsatz „Art und Objekthaftigkeit“ (1967), in dem die Kategorie des „Theatralischen“ als pauschaler Feindbegriff erscheint.39 In der Deutung der Performance Art – im Diskurs der Zeit auch bezeichnet als Happening, Body Art, Living Art und Art Aktuell – kam es, je nachdem, ob sie aus kunstgeschichtlicher oder theaterwissenschaftlicher Perspektive vorgenommen wurde, zu unterschiedlichen Akzentsetzungen. Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive richteten sich die Aktionen gegen eine repräsentationale Funktion eines illusionistischen, psychologisierenden Bühnenrealismus und stellten entsprechend den Prozess der Darstellung in den Vordergrund der Betrachtung. Im Kunstdiskurs wurde dagegen vornehmlich der Aspekt der Unverkäuflichkeit betont, durch den die Performance Art sich den Marktgesetzen des Betriebs zu entziehen schien.40 Beides konnte sich auf das Selbstverständnis der künstle38 Vgl. Richard Schechner: „Ritual, Play, Performance“, in: Ders./Richard Schuman (Hg.): Ritual, Play, and Performance. Readings in the Social Sciences/Theatre, Mady, New York: Seabury 1976, S. 196-222. 39 Vgl. Michael Fried: „Kunst und Objekthaftigkeit“, in: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 334-374. Sally Jane Norman, die den Unterschied zwischen den „älteren“, Performing Arts und der neueren Performance Art diskutiert, schreibt dazu: „Experimentation in these contexts has tended to ignore conventional theatre logic governing the actor‘s temporal status. […] The success, even the survival, of the arts has come increasingly to depend on their ability to defeat theatre.“ Sally Jane Norman: „Performance Arts/Performing Arts“, in: Tilmann Broszat/Sigrid Gareis (Hg.): Global Player/Local Hero. Positionen des Schauspielers im zeitgenössischen Theater, München: epodium 2000, S. 81-92, S. 81. 40 Henry M. Sayre schreibt hierzu: „[…] the abstract expressionism recognized that the action painting itself was the mere record of the series of moves that was the action of painting. The ,work‘ as activity was privileged in this way over the ,work‘ as product. A museum might well have purchased a Pollock, but it could never purchase the action of Pollock painting – the event itself, the real work.“ Henry M. Sayre: The object of Performance. The American Avantgarde since 1970, Chicago: University of Chicago Press 1989, S. 4.
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Theater als Ort der Utopie rischen Akteure berufen. Ebenso wie den Künstlern der historischen Avantgarde, war es Performancekünstlern wie John Cage, Allan Kaprow, Vito Acconci, Robert Whitman, George Maciunas, Wolf Vostell und anderen ein ideologiekritisches Anliegen, gegen eine repräsentationale, nachahmende Ästhetik zu opponieren. Der Begriff der Opposition stellte schließlich im Umfeld der politischen Ereignisse um 1968 ohnehin einen künstlerischen Hauptimpetus der Ästhetik der Performance: „This avant-garde has organised itself in opposition to an apparantly realcitrant set of asumptions, shared by mainstream museums, galleries, magazines, publishers, and funding agencies, about what constitutes a ,work‘ of art“,41 heißt es etwa bei Henry M. Sayre. Die Vorstellung von einem „konventionellen“ bürgerlichen Illusionstheater wird für Praxis und Theorie ebenso wie der Begriff des „Als-ob“ zu einem Gegenbegriff, von dem aus sich die formale wie inhaltliche Opposition erst recht entfalten ließ und heute noch lässt.42 Eine lexikalische Begriffsbestimmung, wie sie etwa Robert Atkins in seinem Überblick kunsthistorischer Stilrichtungen des 20. Jahrhunderts aufzeigt, verweist auf die Problematik einer Definition, zugleich aber auch auf die damit verbundene ideologische Stoßrichtung: „The term performance is extraordinarily open-ended. Since the late 1970s it has emerged as the most popular name for art activities that are presented before a live audience and that encompass elements of music, dance, poetry, theater, and video. The term is also retroactively applied to earlier live-art forms – such as BODY ART, HAPPENINGS, ACTIONS, and some FLUXUS and FEMINIST ART activities. This diffusion in meaning has made the term far less precise and useful.“43
Die Entgrenzung hin zu anderen Stilrichtungen und Konzepten und eine damit einhergehende Historiographie abseits generationenspezifischer Einteilungen zeigt sich schließlich an Atkins‘ Raster selbst. Künstler wie Marina Abramović, Tom Marioni und Mike Parr finden ihren Platz sowohl im Begriffsfeld der Body Art als auch der Conceptual Art. Das gleiche gilt für Überschneidungen der Definitionen. Wichtig in dem hier vorgestellten Kontext ist allerdings Atkins‘ Hinweis, dass vor allem die direkte Kommunikation mit dem Zuschauer das Anliegen der Künstler prägte, den Bereich der Male-
41 Ebd., S. XI. 42 Als „critical theory“ versteht André Lepecki seine Studien. Vgl. André Lepecki: „Introduction: Presence and Body in Dance and Performance Theory“, in: Ders. (Hg.): Of the Presence of the Body. Essays on Dance and Performance Theory, Middletown: Wesleyan 2004, S. 1-9, S. 4. 43 Robert Atkins: Art Speak. A Guide to Contemporary Ideas, Movements, and Buzzwords, New York: Abbeville Press 1990, S. 121f.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne rei und Bildhauerei zu verlassen, dass zugleich aber die Verbindung mit einer theatralen Bestimmung des Begriffs „Performance“ zurückgewiesen wurde. Die Kritik an einer „Theaterhaftigkeit“ ist hier vor allem zu verstehen als eine Medienkritik an der „Scheinhaftigkeit“ des Theaters. Vor allem eine zweite Generation seit den 70ern habe zwar die Kritik der Pop-Kultur der ersten Generation zurückgenommen, Bezugspunkt sei aber immer noch die historische Avantgarde.44 Dem diskurstheoretischen „common sense“ entspricht dabei offenbar die immer wieder propagierte Undefinierbarkeit der Performance und damit des Begriffs „Performance“.45 RoseLee Goldberg etwa schreibt in der bereits erwähnten Neuauflage ihrer 1979 erschienenen Publikation „Performance Art“: „The history of performance art in the twentieth century is the history of a permissive, open-ended medium with endless variables, executed by artists impatient with the limitations of more established forms, and determined to take their art directly to the public. For this reason its base has always been anarchic.“46 Performance fungiert als willkommenes Kompositum einer sich gegen Konventionalismen und Einordnungen wehrenden Praxis, die auf Theorieebene meist affirmativ wiederholt wird.47 Auch wenn im Gegensatz zu den einst streng vorgetragenen Ablehnungen der historischen Avantgarde die späteren Positionierungen scheinbar etwas diffuser ausfielen, führte dies
44 Vgl. ebd. Von Interesse ist, dass in Atkins Chronologie John Cages „untitled event“ in der Präsentation wichtiger Ereignisse des Jahres 1952 keine Erwähnung findet. Vgl. ebd., S. 11. 45 Vgl. V. Apfelthaler: Die Performance des Körpers, S. 14. 46 R. Goldberg: Performance Art (2001), S. 9. Und auch Henry M. Sayre schreibt: „Performance, which was (and remains) styleless, diverse and conspicuously unprogrammatic, has constantly proved of the most readily available means for realizing this strategy of opposition. […] The medium of avantgarde is itself ‚undecideable‘, almost by definition interdisciplinary.“ H. M. Sayre: The object of Performance, S. XIIf. 47 Rezeptionsästhetisch hat der Umstand einer Grenzverschiebung innerhalb der Künste, Erika Fischer-Lichte zufolge, herausragende Konsequenzen: „Die ständigen Transformationen führen dazu, dass die Zuschauer niemals sicher sein können, welcher Rahmen Gültigkeit hat und welche Regeln zu befolgen sind. Die allgemeine Spielregel als Transformationsregel lautet: Wenn ein Genre in ein anderes transformiert wird, setzen sich die Regeln, die für die beteiligten Genres gelten, gegenseitig außer Kraft. Es gelten also entweder keine Regeln oder gleichzeitig solche Regeln, die einander widersprechen.“ Vgl. Erika Fischer-Lichte: „Transformationen. Zur Einleitung“, in: Dies./Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der Neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 7-11, S. 9.
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Theater als Ort der Utopie nicht zu einer konzisen Definition des Begriffs.48 Im Gegenteil: „Nicht-definierbar“ lautet bis heute die Definition von Performance und ist somit Lösung und Problem einer adäquaten Theoriebildung zugleich. Bezeichnend hierfür ist etwa Richard Schechners strategische Definition der Performance Studien: „Is performance studies a ‚field‘, an ‚area‘, a ‚discipline‘? The sidewinder snake moves across the desert floor by contracting and extending itself in a sideways motion. Whereever this beautiful rattlesnake points, it is not going there. Such (in)direction is characteristic of performance Studien. […] Performance Studien is ‚inter‘ – in between. It is intergeneric, interdisciplinary, intercultural – and therefore inherently unstable. Performance Studien resists or rejects definition. […] Accepting ‚inter‘ means opposing the established of any single system of knowledge, values, or subject matter. Performance Studien is unfinished, open, multivocal, and self contradictory.“49
Peggy Phelan, amerikanische Performance-Theoretikerin, sieht gerade im Zwischenstatus der Performance die Legitimation, diesen auch auf Theorieebene zu wiederholen: „Part of what performance knows is the impossibility of maintaining the distinction between temporal tenses, between an absolutely singular beginning and ending, between living and dying. What performance Studien learns most deeply from performance is the generative force of those ‚betweens‘.“50 Nur wenige Performance-Theoretiker hinterfragen die selbst nun ideologisierend auftretende (Selbst-)Interpretation von Performance Art und Performance Studien. Der Performance-Diskurs und sein theoretischer Partner, die „Performativität“, habe schließlich nicht nur ergeben, dass Kritiker ihre selbst verfassten Schriften mit dem Adjektiv „performativ“ ausstatteten, sondern habe dazu geführt, so Elin Diamond, dass „performance“ zu einem bequemen Konzept einer skeptischen Einschätzung von Postmoderne wurde: „Moreover, because it appears to cut across and renegotiate boundaries as well
48 Diesen Mangel moniert Bonnie Marranca. Vgl. Bonnie Marranca: „Nachdenken über Performance-Geschichte“, in: E. Fischer-Lichte/D. Kolesch/Ch. Weiler: Transformationen, S. 175-191. Einen Überblick über die verschiedenen Analyseansätze bietet: Marvin Carlson: Performance: A Critical Introduction, London, New York: Routledge 1996. Sowie: Colin Counsell/ Laurie Wolf: Performance Analysis. An introductory coursebook, London, New York: Routledge 2001. 49 Richard Schechner: „What is Performance Studien Anyway?“, in: Peggy Phelan/Jill Lane (Hg.): The Ends of Performance, New York, London: Routledge 1998, S. 357-362, S. 357. 50 Peggy Phelan: „Introduction: The Ends of Performance“, in: Dies./J. Lane: The Ends of Performance, S. 1-19, S. 8.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne as those of race, gender, and national identity […].“51 Mit anderen Worten: Die Absage an jegliche Form von Definition ist, analog zur poststrukturalistischen Modernekritik, nicht nur Teil der ästhetisch-künstlerischen, sondern auch der theoretischen Programmatik. Damit aber legt die ideologiekritische Performance-Theorie einen performativen Widerspruch offen, der in der Immunisierungsstrategie gegenüber einer Kritik von außen liegt, die diesem Universaltheorem nicht Folge leisten wollen.
I.5 Die Apologie des Ereignisses und der Präsenz als Komposita ei e i ner avantgardistischen Ästhetik Die Kategorie des Ereignisses und der Präsenz rückte, parallel zur postrukturalistisch geschulten Methodenbildung, in den vergangenen Jahren immer mehr ins Zentrum theoretischer Betrachtung. „Vor den Logos treten im postdramatischen Theater Atem, Rhythmus, das Jetzt der fleischlichen Präsenz des Körpers“,52 heißt es bei Hans-Thies Lehmann angesichts der neuen Ästhetik, bei der es um „das im Hier und Jetzt real werdende Vollziehen von Akten [geht], die in dem Moment, da sie geschehen, ihren Lohn dahin haben und keine bleibende Spuren des Sinns, des kulturellen Monuments usw. hinterlassen müssen“.53 Mit Nachdruck wird die Bedeutung des Ereignisses und der Präsenz in den Performance-Studien und den Studien zum postdramatischen Theater verfochten. „Ereignis“ und „Präsenz“ sind hier nicht nur (produktions-)ästhetische Kategorien, die zudem die immer schon herrschende Spezifität des Mediums Theater noch einmal in gesteigerter Form herausstellen. Sie bestimmen darüber hinaus, als philosophische Kategorien, ganz entscheidend die epistemologischen Debatten innerhalb der Theaterund Kunstwissenschaften der letzten Jahre. Die Hervorhebung der Präsenz- und Ereignishaftigkeit der Performance ist dabei nicht ästhetischer Selbstzweck. Sie hat zugleich auch eine politische Dimension. Vor allem Peggy Phelan sieht – feministisch orientiert – im Ephemeren der Performance gegenüber dem Geschriebenen eine politische Strategie des Widerstands und der Negation eingefahrener Identitäten. Mit dem Plädoyer für die absolute Gegenwart, die in der Repräsentation eine (männliche) Strategie der Unterdrückung erblickt, vertritt Phelan eine Lesart der Subversion festgefahrener Machtstrukturen durch die Kraft des
51 Elin Diamond: „Introduction“, in: Ders. (Hg.): Performance and Cultural Studien, London, New York: Routledge 1996, S. 2-12, 2f. 52 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 262. 53 Ebd., S. 178.
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Theater als Ort der Utopie „Hier“ und „Jetzt“: „Performance refuses this system of exchange and resists the circulatory economy fundamental to it. […] Performance‘s independence of mass reproduction, technologically, economically, and linguistically, is its greatest strength.“54 Wie der Begriff der Präsenz, als Entwurf einer leiblichen Gegenstrategie zu einer bestimmten Form eingeübter Repräsentation, avancierte auch der des Ereignisses – ohnehin häufig synonym verwendet – zu einer ästhetischen Beschreibungskategorie der performativen Künste. So verbindet etwa Erika Fischer-Lichte in ihren Studien den Ereignis-Begriff mit jenem der Performativität und bestimmt beide als genuin theatertheoretische Begriffe: „Es sind also Performativität und Ereignishaftigkeit, welche für Aufführungen konstitutiv sind und insofern den Begriff der Aufführung wesentlich (mit-)bestimmen.“55 In Analogie zu anderen Ausführungen heißt es: „Wenn Bedeutung und Wirkung, Repräsentation und Präsenz […] als Gegensätze verstanden werden, dann sind Performativität und Ereignis als Begriffe zu fassen, die eher bei ‚Wirkung‘ und ‚Präsenz‘ anzusiedeln sind denn bei ‚Bedeutung‘ und ‚Repräsentation‘.“56 Der Begriff des Ereignisses wird im Kontext der genannten theater- bzw. kunsttheoretischen Schriften darüber hinaus zu einer existentiellen Kategorie erweitert, die angeblich sämtliche rationale Kriterien zu transzendieren vermag und jegliche Form von ästhetischer wie theoretischer Konvention und Ableitung übersteigt. Martin Seel etwa interpretiert den Erfahrungsmodus der Präsenz als eine Funktion der Inszenierung: „Künstlerische Inszenierungen […] produzieren Präsenz nicht allein, sie präsentieren Präsenz.“57 Dabei dürfe die Kategorie der Gegenwart, so Seel, weder mit der Anwesenheit von Objekten verwechselt, noch als eine symbolische Vergegenwärtigung einer Darstellung von Gegenwart verstanden werden: „Gegenwart in diesem (mit Heidegger könnte man sagen ekstatischen) Sinn ist ein offener – und darin unübersehbarer, unfaßbarer und unbeherrschbarer – Horizont der spürenden, handelnden, und
54 Peggy Phelan: „The ontology of performance: representation without reproduction“, in: Dies. (Hg.): Unmarked. The Politics of Performance, London, New York: Routledge, S. 146-166, S. 149. 55 Erika Fischer-Lichte: „Performativität und Ereignis“, in: Dies. u.a. (Hg.): Performativität und Ereignis, Tübingen, Basel: Francke 2003, S. 11-37, S. 17. 56 Ebd., S. 27. 57 Martin Seel: „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs“, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 48-61, S. 58. Und: Seel, Martin: Ereignis. Eine kleine Phänomenologie, in: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld: transcript 2003, S. 37-47, S. 45f.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne erkennenden Begegnung mit Vorhandenem […] Es ist nicht primär ein Erscheinen von etwas anderem, es ist ein Erscheinen seiner selbst: etwas, das sich hier und jetzt dem unreduzierten sinnlichen Vernehmen darbietet.“58 Unterstützung erfährt die Vorstellung vom Wandel von einer Werk- zu einer Präsenzästhetik auch durch Dieter Merschs Beitrag zu einer philosophischen Ästhetik, die sich dem Aspekt des dem Verstand Inkommensurablen zuwendet und davon ausgeht, dass performative Akte nicht-intentionale Ereignisse sind, die nicht in Prozessen von Inszenierung und Darstellung wurzeln, sondern „die widerfahren.“59 Der zwischen Semiologie und Phänomenologie und ferner zwischen Ethik und Ästhetik changierende Entwurf ist auch hier geprägt von Martin Heideggers Ereignis-Philosophie und favorisiert einen Ereignis-Begriff, der das Gewicht auf die „Kraft der Gegenwart“60 legt. Mersch notiert: „Anstatt also von Schrift und Spur oder von Wiederholung und Differenz zu sprechen, geht es in den vorliegenden Studien überall um das was ‚an-geht‘, was im buchstäblichen Sinne ,an-fällt‘ und seine Irreversibilität behauptet und die Texturen der Signifikanz verwirrt“.61 Die Funktion von Kunst liegt, wie schon bei Heidegger, auch bei Mersch, in ihrer existenzphilosophischen Bedeutung. Mersch schreibt: „Entsprechend wird, jenseits von Nachträglichkeit im Modus ‚ekstatischer‘ Alterität, auf die sich nicht zu entschlagende Vorgängigkeit des existere verwiesen: Ex-istenz, dessen Ex- ebenso wie das Ek- der Ekstasis ein Unverfügbares anspricht, das nicht durch das Denken erzwungen wird, sondern es – gleichwie die Wahrnehmung – erzwingt.“62 Analog zu oben genannten Beispielen ist auch Dieter Mersch zufolge die Ästhetik des „dass (quod)“ Ausdruck eines performativen Wandels innerhalb der Kunst- bzw. Performancegeschichte.63
58 Ebd., S. 54 u. 57. 59 Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 9. 60 Ebd., S. 13. 61 Ebd. 62 Ebd, S. 15. 63 Mersch verweist – trotz des aufgelösten Werkbegriffs – auf sämtliche kanonisierte „Werke“ und Künstler der Avantgarde und Neoavantgarde, die weder vom „Gesetz der Repräsentation“ noch von der „Ordnung der Signifikanten“ beherrscht würden. Mersch zufolge ist es vor allem die avantgardistische Kunst, die sich von einer Bevormundung jeglicher Art befreit habe. Als Beispiele verweist Mersch u.a. auf Wassily Kandinsky, Paul Klee, Laszlo Moholy-Nagy, Oskar Schlemmer, Piet Mondrian, Barnett Newman, Mark Rothko, Robert Rauschenberg, Ad Reinhardt, John Cage, Luigi Nono, Nam June Paik, Joseph Beuys, Günter Brus, Marina Abramović und Gilbert& George. Vgl. ebd., S. 202ff. Auch hier wird eine lineare Konstruktion ver-
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Theater als Ort der Utopie Und auch für Hans Ulrich Gumbrecht sind die Begriffe Ereignis und Präsenz Schlüsselkategorien.64 Überzeugt davon, dass die ästhetische Erfahrung grundsätzlich eine „Art von Epiphanie“65 hervorbringe, plädiert Gumbrecht dafür, das „Präsenzelement in der ästhetischen Erfahrung“ als modellbildend auch für wissenschaftliche Arbeit anzuerkennen.66 Die genannten Autoren verbinden mit dem Begriff des Ereignisses und der Präsenz allesamt also nicht nur ideologie- und wissenschaftskritische Hoffnungen. Darüber hinaus werden die Begriffe zu Kernkategorien einer idealistischen, quasimystischen Ästhetik, die, wenn es um die historiographische Legitimierung geht, auf den gesicherten Kanon der (historischen) Avantgarde bezogen werden. Ob diese Diskursbewegung allerdings tatsächlich ein Novum innerhalb der epistemologischen Tradition darstellt, soll in der Studie anhand verschiedener, relational aufeinander bezogener Diskursformationen erörtert werden.
I.6 Vorhaben und Methode Trotz eingehender Kritik am Avantgarde-Begriff wird auf der Ebene der ideellen Ausrichtung die sich als oppositionell verstehende Produktion des postdramatischen Theaters und der Performance Art von den hier genannten Autoren weitgehend kausal auf die der historischen Avantgardebewegungen bezogen. Wie schon bei den histofolgt, die die avantgardistische Ästhetik als spezifische Ereignis-Ästhetik profiliert und universalisiert. 64 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Bereits im Aufsatz „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz“ profilierte Gumbrecht die Begriffe Präsenz und Ereignis als Spezifika einer nicht-repräsentationalen Ästhetik. Hierzu dient ihm die Einschätzung, dass es in der modernen westlichen Kultur immer noch zur Normalerwartung gegenüber Kunst gehöre, dass sie Mimesis und Repräsentation von Welt sein solle und dass alles, was sich diesem Schema nicht füge, marginalisiert würde. Demgegenüber würde, Gumbrecht zufolge, eine Anerkennung einer Präsenzkultur, als Vergegenwärtigung und damit als „Produktion der erneuten Präsenz von etwas zuvor temporär abwesend Gewesenen“ begriffen, dem Verständnis einer nichtmimetischen Praxis gerecht. Neben der Affinität zum Begriff des „Wunders,“ den das Ereignis auszeichne, könne eine Präsenzkultur verstanden werden als Herstellung von „verkehrten Welten“. Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht: „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung“, in: J. Früchtl/J. Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, S. 63-76, S. 65 u. 68f. 65 H.-U. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 114. 66 Vgl. ebd., S. 116.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne rischen Avantgardebewegungen bilden auch die Topoi Innovation, Fortschritt und Utopie ein zentrales Grundmotiv zur Bezeichnung und Einordnung in das Archiv der Wissenschaften. Mit einer derart linearen Genealogie wird auf theoretischer wie historiographischer Ebene allerdings ein Verfahren angewendet, das in den meisten anderen Wissenschaftsbereichen und bezogen auf ältere historische Prozesse längst einer Revision unterzogen wurde. Der Effekt ist die Bildung eines normativen Kanons und damit einer eindimensionalen Historiographie. Die Macht des Diskurses erzeugt, um mit Michel Foucault zugespitzt zu formulieren, hier erst eine erneute Machtproduktion, deren Effekt Grenzziehungen, die Produktion von Wahrheiten und die Herstellung der Regeln des Diskurses selbst sind.67 Im vorliegenden Fall kann man dazu beispielsweise die Rede von der fortwährenden Avantgarde zählen: Die ästhetischen Formen und Inhalte hätten sich verändert, die alles umgreifende Idee aber bleibe – als ahistorische Kategorie – dieselbe. Auf diese Weise verharrt der Bewegungsbegriff der Avantgarde in der Theorie zum postdramatischen Theater und zur Performance selbstwidersprüchlich im Stillstand. Oder umgekehrt formuliert: Von der historischen Avantgarde wird eine Traditionslinie zum postdramatischen Theater und zur Performance-Kunst gezogen und damit ausgerechnet auf einem Feld, das per definitionem der Flüchtigkeit verpflichtet ist, eine herkömmliche Fortschrittsgeschichte weitergeschrieben. In Absage an den Kanon des mimetischen Theaters ist so hinterrücks ein neuer Kanon entstanden. Siegfried J. Schmidt hat plausibel aufgeschlüsselt, welchen Strukturprinzipien diese Kanonbildung folgt. Ihm zufolge sind sie zu finden: • im Prinzip der permanenten Dynamisierung des Kunst- und Literatursystems durch Innovation • im optimistischen Grundtenor, jeweils auf der Höhe der Zeit und zukunftsweisend zu sein • in der Auffassung vom Stil als Subjektivität • in der Ablehnung von Mimesis und Narration • in der Überzeugung von der Internationalität der Sprache der Kunst • in der Theorieorientierung und Autoreflexivität als Instrumentarium der Transformation des Kunst- und Literatursystems • im Vertrauen auf die Synchronisierbarkeit ästhetischer und politischer Veränderung • im Postulat grundsätzlicher Anti- oder A-Normativität
67 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M.: Fischer 2002, S. 25.
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Theater als Ort der Utopie •
in der Hochschätzung des Experiments (als Ausführungsmodus des Innovationspostulats).68
Diese Aufzählung mag dem Selbstverständnis der meisten Künstler und Theatermacher entsprechen, die Frage ist allerdings, ob sie auch heute noch uneingeschränkt als theoretisches Instrumentarium einer Fachwissenschaft übernommen werden kann. Die Behauptung, eine und nur eine bestimmte Kunstform sei utopiefähig, genuin risikobereit und ideologiekritisch und habe deshalb einen besonderen Anspruch auf historiographische Berücksichtigung, ist im Rahmen pluralisierter Gesellschaften westlicher Industrienationen fragwürdig. Das zeigt sich u.a. an der zunehmenden Präsenz und Etabliertheit der als innovativ bezeichneten Spielformen auf Festivals mit einem zunehmend ebenso routinierten Spielbetrieb wie an staatlichen Häusern, wobei die vermeintlich subversiven Veranstaltungen inzwischen ebenso fest in kommunale, länderspezifische oder/und unternehmerische Marketing- und Imagekonzepte integriert sind. Im theatertheoretischen Diskurs nun ist die Frage nach dem Wandel dieser Produktionsbedingungen und damit auch nach der idealistischen Funktion von Kunst innerhalb pluralisierter Gesellschaften allerdings unterrepräsentiert. Ebenso wenig wie beachtet wird, dass die meisten ideologiekritischen und idealistischen Theoreme auf implizit geschichtsphilosophische, kulturkritische und fortschrittszentrierte Deutungsmuster zurückgreifen, die die geisteswissenschaftliche Modernekritik verabschiedet zu haben glaubt. Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag dazu leisten, diese Lücke zu schließen. Angesichts dessen, dass in den metaphysikkritischen Philosophemen und Theoriekonzepten geschichtsphilosophische und essentialistische Bestimmungen, also Fragen etwa nach dem Wesen von Phänomenen und ihren Ursprüngen, in Zweifel gezogen, wenn nicht verabschiedet worden sind, soll auf epistemologische Antinomien aufgrund linearer und teleologischer Konstruktionsprinzipien von Theorie und Historiographie hingewiesen werden. Methodisch gelenkt ist das Vorhaben von Ansätzen der Diskurskritik, wie sie Michel Foucault und auch Pierre Bourdieu angeregt haben. Denn, wie erwähnt, ist die Foucault’sche Diskurskritik auf dem Feld der Gender-Forschung und der älteren Historie, die sich beispielsweise gesellschaftlichen Disziplinierungsmaßnahmen widmet, zwar hinreichend rezipiert worden. In der jüngeren Theaterhis-
68 Siegfried J. Schmidt: „Liquidation oder Transformation der Moderne?“, in: Hans Holländer/Christian W. Thomsen (Hg.): Besichtigung der Moderne: Bildende Kunst, Architektur, Musik, Literatur, Religion. Aspekte und Perspektiven, Köln: DuMont 1987, S. 53-67, S. 58.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne toriographie, die sich mit dem nicht-repräsentationalen Gegenwartstheater beschäftigt, steht diese Entwicklung dagegen noch am Anfang. Obwohl Foucault inzwischen selbst schon einer Historisierung unterzogen wird,69 fungiert seine Diskurskritik hier nun deshalb als Anregung, weil sie die im vorliegenden Zusammenhang zentrale Frage behandelt, „dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“70 Als Prozeduren des Ausschließens benennt Foucault, neben dem Verbot, also dem fehlenden Recht, beliebig über alles zu sprechen, die Grenzziehung, die wesentlich bestimmt sei durch die Frage nach dem Willen zur Wahrheit, der wiederum den Willen zum Wissen bestimme: „Dieser Wille zur Wahrheit stützt sich, ebenso wie die übrigen Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle Basis: er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Pädagogik, dem System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften einstmals und den Laboratorien heute. Gründlicher abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird.“71
Die Diskursbewegungen sind, weil historisch veränderbar, damit weder als absolut noch als stabil zu bezeichnen und jeweils implizit Resultat von „Prozeduren, die als Klassifikations-, Anordnungs-, Verteilungsprinzipien wirken“.72 Foucault geht es hier um die Anerkennung der Wirkungsmechanismen, die dazu führen, dass bestimmten diskursiven „Wahrheiten“ immer ein komplexes Geflecht von relationalen Kräften zugrunde liegt, die zu diesen als wahrhaftig herausgestellten Erkenntnissen führen. Das genealogische Denken richtet sich damit explizit gegen ein Ursprungsdenken wie gegen lineare Verlaufsvorstellungen auf einer Metaebene. Wie Pierre Bourdieu, Foucault aufgreifend, in seiner Analyse des sozialen und des symbolischen Raums und in Kritik an ahistori-
69 Vgl. Hayden White: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtssschreibung, Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 132-170, S. 144f. Vgl. auch: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 70 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 11. 71 Ebd., S. 15f. 72 Ebd., S. 17.
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Theater als Ort der Utopie schen Modellbildungen notiert hat, sind demgemäß literarische, künstlerische und wissenschaftliche Produktionen nur in ihren Relationen zu anderen Akteuren und Institutionen zu verstehen: „Diese spezifischen Kräfteverhältnisse sowie die Kämpfe um ihren Erhalt oder ihre Veränderung bilden den Entstehungshorizont für die Strategien der Produzenten, die Kunstform, die sie vertreten, die Bündnisse die sie schließen, die Schulden die sie begründen und zwar mittels der von ihm bestimmten spezifischen Interessen.“73 Anerkannt werden müssten die Mechanismen der Abgrenzung, der antagonistischen Denkbewegung, die je zur Bestimmung der eigenen Identität beitrügen. Eine Analyse, die sich dem Funktionswandel eines Feldes zuwendet, habe demzufolge eine Relation herzustellen zwischen dem „Raum der Werke (d.h. der Formen, Stile usw.)“ und dem „Raum der Schulen oder Autoren“.74 Die vorliegende Arbeit versucht genau dies für mehrere sich überlagernde Diskursfelder zu leisten. Deren gemeinsamer Kreuzungspunkt ist der Versuch einer Historisierung und Kategorisierung zeitgenössischer Theoriebildungsprozesse. Ein Hauptaugenmerk der Arbeit liegt darauf, die (impliziten) geschichtsphilosophischen Denkmuster aufzudecken, denen diese Diskurse – beabsichtigt oder auch unbeabsichtigt – folgen. Das erste Kapitel beschäftigt sich vor dem Hintergrund modernitätskritischer Parameter mit dem heuristischen Status der Epochenmarkierung von Moderne und Postmoderne. Geschichtstheoretische Erörterungen sollen zudem auf einer Metaebene den Stand anti-teleologischer, historiographischer Forschungsentwicklungen darlegen und so den Rahmen bilden für die daran anschließende Diskussion, die um den Begriff der ästhetischen Erfahrung und um die damit verbundene Rede und Gegenrede von Kunst als Ort der Utopie kreist (Kapitel II). Die epistemologischen Analogiebildungen von ästhetischer Erfahrung einerseits und Präsenz-Erfahrung im Fest andererseits sollen in einem weiteren Schritt die diskursiven Gesetzmäßigkeiten aufzeigen, die nach wie vor zu einer Residualbestimmung eines substantialistischen Festbegriffs beitragen. Dabei soll gezeigt werden, dass sowohl die ästhetische Augenblicks-Erfahrung des „nunc stans“ als auch die durch das Fest angestrebte Präsenzerfahrung einer vorgestellten homogenen Gemeinschaft mit denselben Strukturhomologien operieren, die als kulturkritisch gefärbte Sehnsuchtsbewegungen nach einer Einheitserfahrung des Subjekts an-
73 Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 62. 74 Ebd., S. 63.
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Vom Ende der Moderne in der Moderne gesichts der „Verfallserscheinungen der Moderne“ diagnostizierbar werden. Den exemplarischen Ausgangspunkt bildet hierfür die FestivalKonzeption des Münchner Theater-Festivals SPIELART, die, analog zur Rede von den als innovativ bezeichneten Theaterformen des Performance- und des postdramatischen Theaters, das Festival als einen Ort besonderer Erfahrung ausmachen zu können glaubt, die jegliche „gewöhnliche“ Theatererfahrung transzendieren soll (Kapitel III). Die ideelle Programmatik der historischen Avantgarde, der Neoavantgarde und der „Postneoavantgarde“ – letztere präfiguriert vor allen Dingen die Kunstproduktion und Theoriebildung des postdramatischen Theaters und der Performance Art im ausgehenden 20. Jahrhundert – sollen in einem vierten Kapitel schließlich einer Neujustierung unterzogen werden. Die Einbeziehung neuer Forschungsergebnisse sowie die Kontrastierung von affirmativen und kritischen Positionen im Bereich der Avantgarde-Theorie sollen einen Beitrag zur Neubestimmung des gegenwärtigen AvantgardeTopos in der Theaterwissenschaft liefern (Kapitel IV). Im Zentrum der Arbeit steht schließlich die Frage nach der impliziten Bildung geschichtsphilosophischer Denkmuster der jüngeren Theaterdiskurse, für die die Begriffe „Ereignis“ und „Präsenz“ stehen. Zur Disposition stehen hier nicht nur die Konstruktion von Diskurskontinuitäten, die den Status der Autonomie und der utopischen Funktion von Kunst in einem weiteren Diskursfeld einer Prüfung unterzieht, sondern auch epistemologische Analogiebildungen zwischen Texten der Theater- und allgemein der Kunstwissenschaft, der Ästhetik sowie der Philosophie. Eine ideengeschichtliche Betrachtung des Ereignis- und Präsenz-Begriffs zeigt, dass diese im fraglichen Kontext den Stellenwert einer mystischen Absolutheitserfahrung haben – die Vorstellung von der Epiphanie des Augenblicks lässt sich allerdings mit einem ausdifferenzierten Zeitbegriff, wie er entfaltet werden soll, nicht vereinbaren. Der Begriff der ästhetischen Erfahrung, für den die Studie plädiert, ist demgegenüber einem gegenmystischen, kontextbezogenen Ereignis- und Präsenz-Begriff verpflichtet (Kapitel V). In das abschließende Kapitel, das die Inszenierungsanalysen als Fallbeispiele erachtet, soll das in Kapitel V.6 entwickelte Analyseinstrumentarium, das mit einem erweiterten Narrationsbegriff operiert, Eingang finden. Ausgewählte Inszenierungen, die auf den SPIELART-Festivals zu sehen waren und allesamt unter das Prädikat „postdramatisch“ zu subsumieren sind, sollen hier in einem Kontext verortet werden, der gegebenenfalls die Rhetorik von einer a priori avantgardistischen Ästhetik gegen den Strich bürstet.
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II. ZWISCHEN FORTSCHRITTSSKEPTIZISMUS ORTSCHRITTSSKEPTIZISMUS UND FORTSCHRITTSEUPHORIE: EPOCHENMARKIERUNGEN POCHENMARKIERUNGEN, GESCHICHTS(PHILOSOPHISCHE) TENDENZEN UND (NACH-)MODERNE ZEITVORSTELLUNGEN
II.1 Utopieverlust – Modernekritik – Abschied von der Aufklärung Begriffe wie Innovation, Fortschritt und Avantgarde prägen, wie eingangs erwähnt, aller Kritik an geschichtsphilosophischen Denkmustern zum Trotz, einen Großteil des theaterwissenschaftlichen Diskurses zur Beschreibung und Analyse des postdramatischen Theaters und der Performance Art. Eine Studie, die sich der Angemessenheit und Tragfähigkeit dieser Begriffe und damit Fragen der Konstruktion von Geschichte widmet, kann nicht voraussetzungslos diese Termini übernehmen. Sie muss sich vielmehr dem Status und der Herleitung wissenschaftshistorisch relevanter Strukturprinzipien, soweit sie fortschrittszentrierte und/oder geschichtsphilosophische Denkmuster innerhalb theater- wie kunsttheoretischer Überlegungen erkennen lassen, zuwenden. Neben der Rekonstruktion traditioneller Episteme und der Analyse ihrer Auswirkung auf die gegenwärtige Theoriegestaltung geht es im vorliegenden Kapitel deshalb um die Frage des Status der utopischen Funktion nicht nur des Theaters, sondern der Künste allgemein und darum, wie ein spezifisches Geschichtsbewusstsein die jüngere Theorie und Historiographie des Fachs prägt und beeinflusst. Dabei ist es notwendig, sich von den Binnendiskursen innerhalb der Theaterwissenschaft zu entfernen und auf fachübergreifende geisteswissenschaftliche Debatten zurückzugreifen. Sie sind es nämlich, die die jüngere Theatertheorie und -historiographie implizit oder explizit präfigurieren. Anhand einzelner Debatten soll gezeigt werden, wie vielschichtig die Kritik an geschichtsphilosophischen Denkmustern einerseits und das Festhalten an einem fortschrittsorientierten Denken andererseits ausfiel bzw. ausfällt.
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Theater als Ort der Utopie Die Utopiekritik der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts offenbarte, jenseits postmoderner Diagnosen eines „anything goes“, einen offen ablehnenden Gestus gegenüber jeglichem utopischen Denken. Utopiekonzepte erschienen nicht nur, wie im Falle Francis Fukuyamas1 aufgrund der angenommenen Ankunft in der Besten aller möglichen Welten, als verabschiedenswürdig, sondern wurden zugleich als Ursache für die gewaltvollen Exzesse des 20. Jahrhunderts – und davor – verantwortlich gemacht. Der utopische Anspruch insgesamt wurde für entbehrlich erklärt. Angesichts des Umsturzes von 1989 sprach etwa der konservative Publizist Joachim Fest vom Scheitern des Sozialismus als des „anderen machtvollen Utopieversuchs“ nach dem Nationalsozialismus und bezeichnete dieses Datum als Revolution ohne heilsgeschichtliche Erwartung, die angesichts der „Unvollkommenheit der Welt“ das Ende aller System-Utopien markiere.2 Ähnlich pessimistisch konstatierte Karl-Heinz Bohrer, dass nach dem Auseinanderdriften von subjektiven, individualistischen Utopien und objektiven gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen überhaupt „strukturelle Voraussetzung für Utopie, oder, wie wir sagen würden, Zukunftsantizipation, nicht mehr gegeben“3 sei. „Die Utopie“, so Jörn Rüsens Diagnose über den Status gegenwärtigen Utopie-Denkens, „hat derzeit keine Konjunktur. Statt utopischen Überschwangs regiert allenthalben Pragmatismus. Die schwierigen Probleme in Politik, Gesellschaft und Kultur – der Umbau des Sozialstaats und der Konflikt der Kulturen, die Regelung des Machtungleichgewichts im Staatensystem und das wachsende Gefälle zwischen Nord und Süd, die drängenden Umweltprobleme und die Leichtfertigkeit des Umgangs mit ihnen – verlangen konkrete und wirksame Lösungen und nicht utopische Gegenbilder einer heilen Welt.“4
Angesichts solch kategorischer Formulierungen könnte man meinen, dass nach 1989 ein radikaler Gesinnungswandel stattgefun1 2 3 4
Vgl. Francis Fukuyama: Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München: Kindler 1992. Joachim Fest: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin: Siedler 1991, S. 10ff. Karl-Heinz Bohrer: „Subjektive Zukunft“, in: Merkur 9/10 (2001), S. 756784, S. 757. Jörn Rüsen: „Einleitung: Utopie neu denken. Plädoyer für eine Kultur der Inspiration“, in: Jörn Rüsen/Michael Fehr/Annelie Ramsbrock (Hg.): Die Unruhe der Kultur. Potentiale des Utopischen, Weilerswist: Velbrück 2004, S. 923, S. 9. Während Jörn Rüsen für einen neuen Utopie-Begriff plädiert, machte jüngst John Gray das utopische Denken des Abendlandes, das sämtliche politischen Konzepte seit Jahrhunderten bis heute präfiguriere, für Gewalt und Krieg verantwortlich. Vgl. John Gray: Politik der Apokalypse, Stuttgart: Klett-Cotta 2009.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie den habe. Tatsächlich aber stehen diese Äußerungen in einer Tradition utopie- oder überhaupt idealismuskritischen Denkens, deren Konturen sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts abzeichnen und die in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg breite öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. Eines der Schlüsselwerke dieser Diskurstradition ist die „Dialektik der Aufklärung“ (1947). Horkheimer und Adorno unterstellten darin der idealistisch utopisch konturierten Aufklärung, zu einer instrumentellen Vernunft depraviert zu sein. Parallel zur Objektivierung der inneren und äußeren Natur, die auf einen permanenten Fortschrittsprozess zurückzuführen sei, habe sich eine Regression des Subjekts ergeben.5 Aus philosophisch wie politisch diametral entgegengesetzter Richtung kam Arnold Gehlen Anfang der 60er Jahre zu einem ähnlich vernunftskeptischen Befund. Die von ihm artikulierten Zweifel am innerweltlichen Fortschritt zu einem wie auch immer interpretierten Besseren koppelte er an den Begriff des „Posthistoire“, der bereits charakteristische Züge des späteren Postmoderne-Begriffs vorwegnimmt. Wesentlich damit verbunden war für Gehlen der Abschied von der Religion als transzendenter Bezugs- und Vergewisserungsinstanz und auch das Verschwinden des – inzwischen ohnehin nahezu historisch gewordenen – „atheistischen Ersatzsystems“ Marxismus vor dem Hintergrund der Erfahrung zweier Weltkriege, der Ausbreitung der Industrialisierung und der unübersichtlichen Ausdifferenzierung der Wissenschaften.6 Eine andere, aber nicht weniger umfassende Form der Vernunftkritik und damit Zweifel am idealistischen Vertrauen in die grundsätzliche Perfektibilität des Menschen entwarf Michel Foucault, der zwischen der Kapitalisierung des Abendlandes, der Individualisierung des Menschen und einer damit einhergehenden Wissensproduktion einen Zusammenhang ausmacht. Die Vernunft darf seiner Ansicht nach nicht ausschließlich als Emanzipationsinstanz betrachtet werden. Die Formung des sich selbst als frei und aufgeklärt verstehenden Individuums ist nämlich nicht zuletzt Resultat eines umfangreichen Disziplinierungsprozesses, der sich wiederum in einer Reihe von „Codes der Disziplinarindividualität“ formiert habe, der das Physische ebenso umgreift wie das Medizinische, das Militärische und das Schulische.7 Wie Horkheimer und Adorno entwirft auch Foucault seine Vernunftkritik als Machtkritik. Anders als Horkheimer und Adorno liest er den Machtdiskurs aber weniger als 5 6
7
Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M.: Fischer 2001, S. 12. Vgl. Arnold Gehlen: „Über kulturelle Kristallisation“, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin: Akademie 1994, S. 134-143, S. 136. Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen.
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Theater als Ort der Utopie Resultat eines in der Reflexion eindeutig durchschaubaren dialektischen Prozesses. Für Foucault ergibt sich Macht aus dem immer nur fragmentarisch durchschaubaren Zusammenspiel unterschiedlichster und komplexester Mechanismen und Verfahren. Macht drücke sich aus in „zahllose[n] Konfrontationspunkte[n] und Unruheherde[n], in denen Konflikte, Kämpfe und zumindest vorübergehende Umkehrung der Machtverhältnisse drohen“.8 Foucault ersetzt schließlich in Ablehnung eines pejorativ verstandenen Machtbegriffs die Vorstellung von der machtfreien Wissensproduktion durch jenen, dass Macht selbst erst Wissen produziert. Die Kritik am idealistischen Denken, die in der PostmoderneDiskussion schließlich einen Höhepunkt erreichen sollte, und die damit verbundene Skepsis gegenüber jeder Form von Utopie sowie die im Kapitel I. erwähnte Auffassung, der Kunst komme nach wie vor eine utopische Funktion zu, entwickeln sich offensichtlich weitgehend parallel zueinander. Innerhalb der Fortschritts- und Vernunftkritik, begriffen als „Skepsis gegenüber einem geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben, der eine zielgerechte Umwälzung der bestehenden Verhältnisse zu bewirken vorgibt“,9 spielt sich zudem eine weitere Dynamik ab, die nicht in einer abstrakten Negation ihren Endpunkt findet. In den genannten Beispielen ist sie nämlich entscheidend davon geprägt, was sie abzulehnen vorgibt. Adornos Vernunftkritik etwa gesteht der Kunst – sofern in ihr der jeweils historisch erreichte Stand der Materialbeherrschung nicht unterboten wird – die utopische Dimension, die sie dem Zivilisatorischen weitgehend abspricht, bereitwillig zu (vgl. Kapitel II.4.4.3). Das Festhalten am idealistischen Kunstbegriff verbindet Adornos ästhetisches Denken mit dem Michel Foucaults, dessen Aufklärungskritik ganz im Zeichen eines Ethos der Aufklärung steht.10 Horkheimers/Adornos und Foucaults Vernunft- bzw. Ideologiekritik artikuliert sich damit zunächst als Kritik am Einheitsdenken einer fortschrittsorientierten Moderne, die hinter ihren eigenen Zielvorstellungen hoffnungslos zurückgeblieben ist und nun ernüchtert den eigenen Fortschrittsglauben zur Disposition stellt. In beiden Fällen lässt sich aber zeigen, was sich für die Geschichte des utopischen Denkens, beginnend mit Thomas Morus’ Staatsroman „Utopia“ (1516), insgesamt zeigen lässt: Jede radikale Gegenwartskritik ist, zumindest als gedankliche Kontrastfolie, auf den Entwurf einer 8 9
Ebd., S. 39. Richard Saage: Utopieforschung. Eine Bilanz, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 31. 10 Vgl. Peter Bürger: „Die Wiederkehr der Analogie. Ästhetik als Fluchtpunkt in Foucaults ‚Die Ordnung der Dinge‘“, in: Christa Bürger/Peter Bürger (Hg.): Postmoderne: Alltag, Allegorie und Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 114-121, S. 119.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie besseren Gesellschaft angewiesen. Schon seit Thomas Morus’ Staatsroman zeigt sich, dass das utopische Denken nicht eindimensional verlief, sondern vielfältige Ausdifferenzierung erfuhr,11 so dass außerdem von einer eindeutigen Trennlinie von utopischem und idealistischem Denken, wie in der Utopie-Forschung vorgeschlagen, in letzter Konsequenz nur unter idealtypischen Voraussetzungen zu sprechen ist.12 In den utopischen oder idealistischen Entwürfen treten nicht zuletzt immer auch Anpassungsleistungen an die Entwicklung von Gesellschaft zutage, die selbst wiederum Resultat eines Selektionsprozesses sind, der nur ganz bestimmte gesellschaftliche Ereignisse ins Visier nimmt. Jegliche Form einer einheitlichen Erzählung unter dem Kollektivsingular „die“ Aufklärung, „die“ Vernunft, oder „die“ Moderne, ist demzufolge auch Resultat eines diskursiven Selektionsprozesses, der gegenteilige Triebkräfte aufgrund einer linearen Erzählung oder idiosynkratische Entwicklungen ausklammert. Eine so fundamentale und breit angelegte Ideologiekritik, für die die genannten Autoren beispielhaft stehen, deutet darauf hin, dass die Vorstellung einer kontinuierlichen, vorwärtsgerichteten Aufwärtsbewegung, wie sie das abendländische Denken die längste Zeit über bestimmt hat, etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts fragwürdig geworden ist. Auch das deutschsprachige Theater mit seinen theoretischen Reflexionen über den eigenen pädagogisch-sittlichen Anspruch war diesem teleologischen Denkmuster bekanntlich weithin verpflichtet. Allein, die Sogwirkung idealistischen Denkens ist stärker, seine Traditionswirkung mithin nachhaltiger, als es der siegesgewisse Gestus vermuten lässt, mit dem es in der Regel auch innerhalb der (poststrukturalistisch konturierten) Theoriediskussion zum postdramatischen Theater und zur Performance Art verabschiedet wird. Diese Nachhaltigkeit hat sicher in erheblichem Maße damit zu tun, dass dieses idealistische Denken eng mit eschatologischen Vorstellungen verwoben ist, denen die historischen Avantgardebewegungen noch weithin verpflichtet waren und auf die ihrerseits die Theorie zum Theater der Gegenwart Bezug nimmt. Einen ersten Schritt zu einem umfassend geschichtsphilosophischen Denken findet sich aber bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vor allem in Gotthold Ephraim Lessings theoretischen Schriften 11 Vor allem die Verschiebung des räumlichen Weltbildes durch die Entdeckung Amerikas und die Entdeckung des Weltraums haben das utopische Denken beeinflusst. Erst mit der Verlagerung eschatologischer Erwartungen vom Jenseits ins Diesseits waren Utopien nicht mehr nur raum-, sondern auch zeitbezogen. Vgl. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen: Westdeutscher Verlag 1980, S. 181f. u. S. 297. 12 Vgl. R. Saage: Utopieforschung, S. 2f. u. 10.
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Theater als Ort der Utopie sind bürgerliche Freiheit und ideale Sittlichkeit Teloi einer fernen Zukunft, deren heilbringende Versprechen das Theater mitzugestalten hat. In der „Hamburgischen Dramaturgie“ notiert Lessing im 2. Stück vom 5. Mai 1767: „Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in der moralischen muss alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll.“13 In seiner Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (1777) führt Lessing schließlich, wie Jacob Taubes in seiner einflussreichen Studie zur abendländischen Eschatologie erläutert hat, erstmals den theologischen Begriff der Offenbarung und den philosophischen der Vernunft zusammen.14 Über die Erziehung würden die sich wechselseitig affizierende Offenbarung und Vernunft in Stufen soweit entwickeln, dass die Vernunft schließlich vor den „Begriffen vom göttlichen Wesen“ den Sieg davontragen werde. §85 der Schrift gibt die von heilsgeschlichtlicher Zukunftsgewissheit geprägte Erwartung dezidiert wieder: „Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen desselben zu erkennen.“15
Der Gedanke der Erziehung, der auch die theoretischen Überlegungen für ein deutsches Nationaltheater der „Hamburgischen Dramaturgie“ bereits entscheidend mitbestimmte16 und der bemerkenswerterweise die jüngsten Debatten um den deutschen Subventionstheaterbetrieb immer noch beherrscht,17 folgt also einer eschatolo13 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: Ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 2, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2003, S. 29506, S. 38. 14 Vgl. Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie, München: Matthes & Seitz 1991, S. 130ff. 15 Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: Ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 3, S. 637-659, S. 656. 16 Mit diesem Gedanken korrespondiert auch die Forderung, Theater als Beitrag zur Entwicklung einer bürgerlichen Öffentlichkeit anzuerkennen und Politik in den Dienst moralischer Wertvorstellungen zu stellen. Vgl. Manfred Durzak: Zu Gotthold Ephraim Lessing. Poesie im bürgerlichen Zeitalter, Stuttgart: Klett 1984, S. 135. 17 In der 2003 vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau ins Leben gerufenen Initiative „Bündnis für Theater: Wir brauchen neuen Konsens“ heißt es unter ausdrücklicher Berufung auf das seit 300 Jahren existierende deutsche Theatersystem: „Diese Theater sind also ein großes historisches
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie gischen Denkbewegung. Dabei artikuliert sich bei Lessing, so Taubes, ein Wandel von einer objektiv-gegenständlichen Eschatologie apokalyptischer Prägung hin zu einer transzendentalen Eschatologie, die die Subjektivität als Grund aller Erkenntnis setzt. Aus der Idee der Erziehung ergibt sich nicht nur, dass „die göttliche Vorsehung ihr Ziel in Stufen erklimmt“, vielmehr wird darin das viel ältere Programm des Kirchenvaters Origenes (184-256 n. Chr.) virulent, dem es zuzuschreiben ist, „das Christentum zum pädagogischen Idealismus umgeformt zu haben“.18 Taubes zufolge ist es dabei die apokalyptische Vorstellung selbst, welche je schon die Suche nach einer Erlösung ausdrückte: „Im Umkreis der Apokalyptik ertönt zum ersten Mal das Thema von der Selbstentfremdung. […] Mit der Apokalyptik beginnt das dualistische Gefühl einer Welt Gottes, die mit der Welt des Hier nicht identisch ist. […] Die Geschichte als Sündenfall und Weg zur Erlösung wird in der apokalyptischen und gnostischen Literatur mit Motiven überfüllt, dass oft das Urthema nicht mehr hörbar ist. Und doch instrumentiert das gesamte Inventar der Apokalyptik und Gnosis nur die Thematik der Selbstentfremdung: den Fall in die Fremde und den Weg zur Erlösung.“19
Der Idealismus führt bei Lessing zur sittlichen Autonomie des Menschen in einem Reich bürgerlicher Freiheit. Dabei wird bereits von Lessing der Vernunft der Offenbarung gegenüber der Primat eingeräumt, ohne dabei letztere preiszugeben.20 Die Hoffnungen, die hier auf die Perfektibilität des Menschen gesetzt werden, setzen den grundsätzlichen Glauben an dessen Erbe, dessen unvergleichliche Qualität und Quantität es zu erhalten und fortzuentwickeln gilt. […] Theater ist Aufklärung […]. In diesem Sinne bleibt Theater immer auch eine moralische Anstalt.“ Vgl. Jürgen Flimm u.a.: „Zwischenbericht der Arbeitsgruppe ,Zukunft von Theater und Oper in Deutschland‘ vom 11. Dezember 2003“, in: Kulturstiftung der Länder (Hg.): Dokumentation. Bündnis für Theater. Wir brauchen einen neuen Konsens, Berlin: Kulturstiftung der Länder 2004, S. 64-73, S. 64. 18 J. Taubes: Abendländische Eschatologie, S. 133. 19 Vgl. ebd., S. 27ff. 20 In der Lessing‘schen Eschatologie laufen damit die christliche Theologie Origenes‘ und Joachim von Fiores dreistufige Prophetie von einem kommenden Reich Gottes, welches das dualistische System des mittelalterlichen Gottesstaates von der augustinischen civitates Dei und der civitates terrena aufsprengt, im Programm eines pädagogischen Idealismus zusammen. Joachim von Fiore ersetzte die Vorstellung des mit Jesus Christus zweigeteilten Lebens durch die Dreiteilung der Reiche des Vaters (A.T.), des Sohnes (N.T.) und des Heiligen Geistes. Die Offenbarung tritt demgemäß erst in der Geschichte hervor und ist Ausdruck eines Weltbildes, das die Verwirklichung eines Ideals in die Zukunft verlegt. Vgl. R. Wendorff: Zeit und Kultur, S. 175ff.
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Theater als Ort der Utopie Disziplinierbarkeit voraus. Lessing folgt hier dem Denken JeanJacques Rousseaus21, dessen kulturkritische Überlegungen ebenfalls von der Vorstellung eines Ungenügens an der Gegenwart geprägt sind.22 Auch wenn Rousseaus vergangenheitsorientierte Beschwörung in seinen Schriften gerne als klare Gegenposition zum naiven Fortschrittsoptimismus der Aufklärung beschrieben wird, kann auch dort von einer einseitigen Diskursbewegung nicht die Rede sein. Vielmehr ist es die von Rousseau angenommene Verfallsgeschichte, die, wie Derridas ausführliche und Ambivalenzen aufdeckende Rousseau-Lektüre gezeigt hat, die Möglichkeit zum Fortschritt überhaupt erst generiert und vice versa.23 Die Rousseau’sche Gegenwartskritik ist, wie in Kapitel III.4.1 gezeigt werden soll, demgemäß selbst von den Vorstellungen einer idealen, zukünftigen Gesellschaft geprägt, zu deren Erreichen allerdings nicht das Theater, sondern das – idealtypisch bestimmte – Fest einen entscheidenden Beitrag leisten soll. Es ist schließlich Immanuel Kant, der in seinen geschichtsphilosophischen Schriften den Gedanken von der stufenweisen Perfektibilität des Menschen als universalistisches Prinzip einer Idee von Aufklärung formulieren wird, in der der Gebrauch der Vernunft zum letzten Probierstein aller Wahrheit geworden ist. In der Abhandlung „Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) knüpft er den Gedanken der Perfektibilität ausdrücklich an das zeitliche Prinzip des Fortschritts, das er sich als – freilich langsam – nach vorne schreitende Stufenfolge vorstellt: „So wird sich, wie ich glaube, ein Leitfaden entdecken, der nicht bloß zur Erklärung des so verworrenen Spiels menschlicher Dinge, oder zur politischen Wahrsagerkunst künftiger Staatsveränderungen dienen kann (ein Nutzen, den man schon sonst aus der Geschichte der Menschen, wenn man sie gleich als unzusammenhängende Wirkung einer regellosen Freiheit ansah, gezogen hat!); sondern es wird (was man, ohne einen Naturplan vorauszusetzen, nicht mit Grunde hoffen kann) eine tröstende Aussicht in die Zukunft eröffnet werden, in welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich end21 Vor allem der Rousseau‘sche Mitleidsgedanke spielte für Lessings Konzeption des Trauerspiels eine entscheidende Rolle. Vgl. Ulrich Kronauer: „Die Dramaturgie der Moral. Lessing zwischen Rousseau und Diderot“, in: Dietrich Harth/Martin Raether (Hg.): Denis Diderot oder die Ambivalenz der Aufklärung, Würzburg: Königshausen & Neumann 1987, S. 90-103. 22 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: Ders.: Schriften, Bd. 1, München, Wien: Hanser 1978, S. 165-312. „[L]a faculté de se per– fectionner“ unterscheide den Menschen grundsätzlich vom Tier. Sie sei, wie Rousseau ausführt, der Antriebsfaktor, den Naturzustand zu verlassen, beinhalte zugleich aber das Übel des Zivilisationsprozesses. 23 Vgl. J. Derrida: Grammatologie, S. 347.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie lich doch zu dem Zustande empor arbeitet, in welchem alle Keime, die die Natur in sie legte, völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllet werden.“24
In der Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) legt Kant dar, wie diese Utopie einstmals in einer alle Menschen umspannenden Friedensund Rechtsordnung ihre Erfüllung finden soll.25 Dabei formuliert er seine Zukunftsvision ganz im Vertrauen „auf die Natur der Dinge, welche dahin zwingt, wohin man nicht gerne will (fata volentem ducunt, nolentem trahunt)“.26 Der in der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) entworfene Begriff von der Zweckmäßigkeit der Natur ist für Kant schließlich Legitimationsgrundlage dafür, den Verlauf der Weltgeschichte theoretisch antizipieren zu können. Die Zweckmäßigkeit ist die unbegründbare Voraussetzung des geschichtsphilosophischen Prinzips, das in der Transzendenz abgesichert ist.27 Die Kombination eschatologischer und fortschrittsorientierter Topoi ist, wie Jacob Taubes gezeigt hat, über Lessing und Kant hinaus bei Schiller (dazu ausführlicher in Kapitel II.4.3.1) und Hegel bis zu Marx und Kierkegaard zu finden. Nicht nur der Aspekt der Zukunftsantizipation hat sich demnach seit der alttestamentarischen Apokalyptik bis ins 20. Jahrhundert gehalten, sondern auch der Grundgedanke eines notwendigen Geschichtsverlaufs, an dessen Ende eine bessere Zeit als die der jeweiligen Gegenwart stehen wird. Von einer einheitlichen, zukunftsgerichteten Entwicklung ist allerdings auch bei der Ausbildung von Geschichtsphilosophie und Fortschrittsdenken nicht auszugehen. Vielmehr entwickelt sich gerade im 18. Jahrhundert ein Zeitbewusstsein, das eben nicht einer einsinnigen Zeitverlaufsvorstellung entspricht.28 Auf diese Weise 24 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. 11, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 32-50, S. 49. 25 Vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. 11, S. 193-251. 26 Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Ders.: Werkausgabe, Bd. 11, S. 125–172, S. 172. 27 Da, wie Kant im §86 der „Kritik der Urteilskraft“ formuliert, diese Zweckmäßigkeit in der Natur nicht erkannt werden könne, müsse man sie sich gleichsam hinzudenken. Kant spricht von einem „Urwesen“, das man sich als allwissend vorstellen müsse. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Hamburg: Meiner 1990, S. 314f. 28 Im späten Mittelalter und der Renaissance gibt es, idealtypisch formuliert, folgende vier Arten des Zeitbewusstseins, die das geschichtliche Bewusstsein prägen: die relative Zeitlosigkeit der christlichen Lehre und Mystik, die eschatologische Komponente des christlichen Dogmas und der kirchlichen
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Theater als Ort der Utopie kreuzen sich bereits in der Hochphase der Aufklärung fortschrittseuphorische und fortschrittskritische Denkströmungen, wie sie noch für das heutige Gegenwartsempfinden charakteristisch sind. Reinhart Koselleck hat die Zukunftsbilder und das Entstehen des modernen Geschichtsbewusstseins ausführlich erörtet und begriffsgeschichtliche Belege dafür geliefert, dass „mit dem Verblassen endzeitlicher Erwartungen […], anders als früher, dem Heiligen römischen Reich seine eschatologische Erwartung verloren“29 ging. Die Erfahrung der Beschleunigung und der Mach- und Planbarkeit der eigenen Zukunft, die mit der französischen Revolution einen Kulminationspunkt erfährt, war es, die schließlich auch das neue Geschichtsbewusstsein beförderte: „Damit erweist sich auch der Abstand des frühneuzeitlichen politischen Zeitbewußtseins von der christlichen Eschatologie keineswegs als so groß, wie es zunächst den Anschein haben mochte. […]. Erst die Geschichtsphilosophie ist es, die die frühe Neuzeit von ihrer eigenen Vergangenheit ablöste und mit einer neuen Zukunft auch unserer Neuzeit eröffnete. Im Schatten der absolutistischen Politik bildete sich, zunächst geheim, später offen, ein Zeit- und Zukunftsbewußtsein heraus, das aus einer kühnen Kombination von Politik und Prophetie heraus lebt. Es ist ein dem 18. Jahrhundert eigentümliches Gemisch rationaler Zukunftsprognostik und heilsgewisser Erwartung, das in die Philosophie des Fortschritts eingegangen ist.“30
So zutreffend diese Darlegung auch ist, es ist doch wichtig, im Auge zu behalten, dass dieser Bewusstseinswandel nicht einheitlich, sondern auf den unterschiedlichsten Ebenen mit den unterschiedlichsten Erwartungshaltungen und vor dem Hintergrund unterschiedlichster, gar konkurrierender Zeitvorstellungen verlief. Das chiliastische Denken, das dem Zeitverlauf eine heilsgeschichtliche Notwendigkeit unterstellt, wurde, wie schon in der Renaissance nachweisbar, zum einen Teil abgeschwächt durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die nach Galilei und Newton eine gleichförmig fließende, unabhängige und schließlich lineare Zeit anerkennen. Zum anderen wird das Alltagsleben und damit das subjektive Zeitempfinden immer stärker durch die Erfindung von Präzisionsmesswerken, wie Uhren und weltliche Kalender, beeinflusst. Die Re-
Institutionen, die zyklische Vorstellung, die nicht nur über das griechische Erbe tradiert wird, sondern auch in astrologischen und jahreszeitlichen Anschauungen zum Ausdruck kommt und schließlich die gleich–mäßige Messung und Gliederung der Zeit durch Uhren und Kalender. Vgl. R. Wendorff: Zeit und Kultur, S. 174. 29 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 25. 30 Ebd., S. 33.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie flexion auf den eigenen historischen Standpunkt31 eröffnete die Möglichkeit, im Vertrauen auf eigene Gestaltungsmöglichkeiten einen Fortschrittsprozess anzuerkennen, dessen Ende offen ist und nicht gezwungenermaßen die Erfüllung der Apokalypse antizipiert.32 Während also das eschatologische und utopische Denken trotz aller Differenzen, auf eine bessere Zukunft abhebt, zeichnet das Fortschrittsdenken, das Aspekte des heilsgeschichtlichen Denkens – etwa die lineare Zeitverlaufsvorstellung – beerbt, schließlich die Anerkennung einer offenen Zukunft aus. Die Gemeinsamkeiten von eschatologischem, utopischem und fortschrittsorientiertem Denken lassen sich dabei, wie Rudolf Wendorff erörtert hat, nicht durch „Kompromisse, Analogien oder dergleichen in Übereinstimmung oder Verwandtschaft zu bringende Wesensgesetzlichkeit“33 ausdrücken. Dennoch zeigt sich, dass dem sich in allen drei Denkmustern gemeinsam artikulierenden Vorbehalt gegenüber der Gegenwart, der die Hoffnung auf Besseres schürt, über die Vorstellung eines göttlichen oder natürlichen Prinzips oder später über das Vertrauen auf die menschlichen Handlungsmöglichkeiten ein Denkmodell zugrunde liegt, das die Zukunftsantizipation auf eine überzeitliche Basis stellen soll. Allerdings darf man nicht vergessen, dass dem Fortschrittsdenken des 18. und 19. Jahrhunderts immer wieder Tendenzen entgegenstanden, die Gegenwart der Vorstellung von einer linear voranschreitenden Zeitfolge gegenüber aufzuwerten. Wie zu zeigen sein wird, beziehen von dort die Kategorien der Präsenz und des Ereignisses und die Vorstellung einer Einheitserfahrung im Fest wichtige Impulse. An der beschriebenen Dynamik des geschichtsphilosophischen Denkens lassen sich für die vorliegende Diskussion zunächst unterschiedliche diskursive Effekte ablesen: nicht nur bilden die linearen Denkmuster eine ideale Folie, vor der sich modernitätskritische Topoi kontrastiv entfalten lassen. Sie verweisen häufig auch, indem sie auf ein besseres Denk- oder Gesellschaftsmodell abhe-
31 Vgl. Andreas Arnt: „Prophet und Engel der Geschichte. Historische Dialektik bei Schlegel und Benjamin“, in: Johannes Rohbeck/Herta Nagl-Docekal (Hg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 7588, S. 81. Dazu gehört auch, wie schon Reinhart Koselleck erörterte, die Anerkennung von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Erste Ansätze zu chronologischen Analogien gab es bereits seit dem 6. Jahrhun-dert v. Chr. Vgl. Catherine Colliot-Thélène: „Chronologie und Universalgeschichte“, in: J. Rohbeck/ H. Nagl-Docekal: Geschichtsphilosophie und Kulturkritik, S. 21-49, S. 22ff. 32 Vgl. R. Wendorff: Zeit und Kultur, S. 224-248 u. 254-292. 33 Ebd., S. 330.
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Theater als Ort der Utopie ben, auf die vermeintlich abgelehnte Gegenseite, nämlich das Nachwirken teleologischer und fortschrittsgerichteter Denkmuster. Dabei hat nicht nur die geschichtswissenschaftliche Kritik am hier angeführten Linearitätsdenken zu einer Abschwächung eines als ehemals noch als notwendig interpretierten Geschichtsverlaufs geführt. Aus philosophischer Perspektive werden die geschichtsphilosophischen Deutungsmuster selbst einer Revision unterzogen. Was einst selbstverständlich unter dem Modernisierungsprozess subsumiert wurde und, Jürgen Habermas zufolge, als „Bündel kumulativer und sich wechselseitig verstärkender Prozesse“, wie Kapitalbildung und Ressourcenmobilisierung, die Entwicklung von Produktivkräften und die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die Durchsetzung politischer Zentralgewalten und die Ausbildung nationaler Identitäten, die Ausbreitung von politischen Teilnahmerechten, urbaner Lebensformen, formaler Schuldbildung und die Säkularisierung von Werten und Normen ausgezeichnet wurde, erfährt gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine „Entkoppelung“.34 In Nietzsches Vernunftkritik sind die wichtigsten Momente dieser Denkbewegung, die später von Heidegger, Foucault und Derrida aufgenommen wird, bereits angelegt. Nietzsche ist der erste Philosoph, der das einseitige, lineare Fortschrittsdenken einer ausführlichen Kritik unterzieht und mit der Metapher der ewigen Wiederkehr des Gleichen extreme Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit zusammendenkt (vgl. Kapitel III.4.4). Gerade in Folge der Nietzscheanischen Religionskritik werden dem Säkularisationsprozess Kompensationstendenzen als Ausgleich für abhanden gekommene metaphysische Letztbegründungen an die Seite gestellt. In der Überbewertung der Vernunft und Subjektivität, vor dem Hintergrund des Erlahmens religiöser Kräfte, erblickt Habermas einen Ausgleich zur Absage an Transzendenz: „Subjektivität“ hat vor diesem Horizont einen „zugleich universalistischen und individualistischen Sinn“.35 Dieser von Brüchen gekennzeichnete Emanzipationsprozess ist wiederum, Habermas’ Konsenstheorie zufolge, schließlich nur – entgegen vernunftkritischer Entwürfe – mit einem gesteigerten Rekurs auf die Kräfte der Vernunft zu kompensieren. Habermas schreibt: „Die religiösen Kräfte der sozialen Integration sind infolge eines Aufklärungsprozesses erlahmt, der so wenig rückgängig gemacht werden kann, wie er willkürlich produ-
34 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 10f. 35 Jürgen Habermas: „Konzeptionen der Moderne. Ein Rückblick auf zwei Traditionen“, in: Ders.: Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 195-231, S. 198f.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie ziert worden ist. […] Deshalb kann die Aufklärung ihre Defizite nur durch radikalisierte Aufklärung wettmachen […].“36 Die hier beispielhaft vorgestellten Positionen bieten zwar ein durchaus vielschichtiges Bild des Modernisierungsprozesses, sie thematisieren allerdings nicht die Konstruktionsprinzipien, denen ihre eigene Emanzipationserzählung folgt. Für eine kritische Diskussion der Theaterhistoriographie und -theorie der letzten Jahrhundertwende ist jedoch eine Erörterung dieser Konstruktionsprinzipien von besonderem Interesse. Denn die Debatten um den Begriff der Postmoderne, die den Bezugsrahmen für alle Überlegungen zum postdramatischen Theater bilden, beziehen sich ihrerseits – zumindest implizit – auf solcherart homogenisierte Vorstellungen von einem Weg in die Moderne. Bereits Wendorffs Beitrag zur Historie des europäischen Zeitbewusstseins verweist auf die Vielschichtigkeit, Synchronizität und Langzeitwirkung kultureller Zeitverlaufsvorstellungen und widerlegt damit explizit die These von der Existenz einheitlicher, kontinuierlicher und sich sukzessiv abwechselnder Zeitverlaufsvorstellungen im historischen Prozess. Angesichts der Vielschichtigkeit des Zeitverstehens erscheint zudem die These einer Verlagerung von Transzendenz zu Immanenz selbst als kausales und damit lineares Erklärungsmuster und trägt, wie Hans Blumenberg bereits 1964 notiert hat, die „Beweislast, […] dass die Merkmale (Herv. i. O.) des Entzuges an dem thematischen Prozeß nachweisbar sind“.37 Der These einer Verlagerung von Transzendenz zu Immanenz oder auch „der“ Säkularisierung als Globalkriterium widersprechen nicht zuletzt religionswissenschaftliche Untersuchungen, die nachweisen, dass der gesellschaftliche Bezug zu Transzendenz weder weniger geworden ist, noch, dass dieser als einheitlich vorgestellt werden kann.38 Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie heißt dies, dass die erörterten Diskurse die Herkunft geschichtsphilosophi-
36 J. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 104f. Im Angesicht der nicht mehr a priori begründbaren Vernunft antwortet Habermas selbst mit einer mit praktischem Geltungsanspruch versehenen Diskurstheorie: der Theorie des kommunikativen Handelns. Im Falle problematisch gewordener Geltungsansprüche sollen normative Regularien die Bedingungen für eine ideale Sprechsituation herstellen, in der das Wahrheitspostulat via Konsens legitimiert ist. Vgl. Jürgen Habermas: „Wahrheitstheorien“, in: Helmut Fahrenbach (Hg.): Wirklichkeit und Reflexion, Pfullingen: Neske 1973, S. 211-265. 37 Hans Blumenberg: „‚Säkularisation‘. Kritik einer Kategorie historischer Illegitimität“, in: Helmut Kuhn/Franz Wiedemann (Hg.): Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München: Pustet 1964, S. 240-265, S. 242. 38 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München: Beck 2004, S. 55f.
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Theater als Ort der Utopie scher Denkmuster und ihre bis heute anhaltende kulturkritische Sogwirkung veranschaulichen konnten. Zugleich konnte aber gezeigt werden, dass universalistische Theoriemodelle und chronologische Zeitverlaufsvorstellungen nicht ausreichen, um den im folgenden Kapitel diskutierten Status der Postmoderne und damit verbundenen Implikationen, begrifflich wie inhaltlich, zu fassen. Demgegenüber ist der Fokus darauf zu richten, welche unterschiedlichen Erklärungsmodelle auf welche Weise herangezogen werden, um den gesellschaftlichen Wandel der jüngeren Vergangenheit zu erklären.
II.2 „Die“ Postmoderne oder das Dilemma einer Epochenkonstruktion Durch das Vorschalten des Präfix „post“ erlangte das Adjektiv „dramatisch“ nicht nur eine neue Wortbedeutung. Auch ging es mit der Neuschöpfung des Adjektivs „postdramatisch“ nicht allein darum, neue ästhetische Stilvarianten des Theaters der 80er und 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu beschreiben. Das Präfix „post“ verweist auf eine viel weitreichendere und umfassendere (erkenntnis-)theoretische wie historiographische Dimension, deren Tragweite sich, zumindest auf den ersten Blick, in dem Begriff der PostModerne artikuliert. Mit dem Begriff „postdramatisch“ handelt es sich, so suggeriert es dieser Neologismus, um einen ästhetischen und gesellschaftlichen Umwälzungsprozess, der epochale Konsequenzen aufweist. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, beinhaltet er jedoch mehr von den Denkmustern der Moderne, als das Präfix „post“ unterstellt. Die Debatte um die Postmoderne liegt nun schon einige Jahre zurück. Unter dem ehedem heiß umstrittenen Begriff versteht man heute in Kürze: „[d]ie kulturgeschichtliche Periode nach der Moderne“, die in „vieler Hinsicht als Fortsetzung und Radikalisierung der in der Moderne angelegten Erkenntnisskepsis und Repräsentationskrise gesehen werden kann“, andererseits aber auch den „Bruch mit dem elitären Kunstverständnis und Wissensbegriff der Moderne“39 markiert. Damit scheinen die diskursiven Schlachten geschlagen und das Problem der Epochenmarkierung ein für allemal erledigt. Vor dem Hintergrund einer kritischen Diskussion der wichtigsten Theorien zum Theater der 90er Jahre empfiehlt sich allerdings trotz alledem eine Re-Lektüre der einschlägigen Debatten. Die
39 Ruth Mayer: „Postmoderne“, in: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 522f. u. S. 522.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie Wahrnehmung und Charakterisierung der Postmoderne fällt nämlich weitaus vielfältiger aus, als es die vernunftkritische Skepsis gegenüber dem Fortschrittsprinzip und gegenüber einer teleologischen Zeitverlaufsvorstellung vermuten lässt. Hans Ulrich Gumbrecht hat Analoges bereits für den Begriff der Moderne dargelegt. Er weist zu Recht darauf hin, dass Epochenmarkierungen nicht einfach an den res gestae abgelesen werden können, sondern Resultat begriffsgeschichtlicher und damit sprachlich-gesellschaftlicher Selektionsmechanismen sind. Mit anderen Worten: Der Grenzverlauf zwischen den Zeiten muss wiederholt hergestellt werden und ist damit das Resultat eines performativen Aktes. Dabei besteht, schon aus Gründen der idealtypischen Zuspitzung, stets die Gefahr, diachron zu vereinheitlichen, wo man sich eigentlich vielschichtiger Synchronie gegenübersieht.40 Genau das lässt sich für die gängige Postmoderne-Erzählung konstatieren. So gehen bereits die ersten, ansonsten durchaus differenten Diagnosen zum Epochenbruch Moderne/Postmoderne allesamt von einem radikalen Wertewandel innerhalb der industrialisierten Gesellschaften aus. Jean-François Lyotard etwa konstatierte in seiner Untersuchung zum Paradigma des Wissens der postindustriellen Gesellschaft als einer der ersten eine „Merkantilisierung des Wissens“, die sich in Europa seit Ende der 50er Jahre ausgebreitet habe: „Das alte Prinzip, wonach der Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung (Herv. i. O.) des Geistes und selbst der Person verbunden ist, verfällt mehr und mehr.“41 Das Paradigma des Wissens als „große Erzählung“ im Namen der Emanzipation habe, so Lyotards kulturkritisch geprägte Wahrnehmung, seine Glaubwürdigkeit eingebüßt. Auch Wolfgang Welschs Bestandsaufnahme der Postmoderne war mit einem universellen Anspruch verbunden. Auch er sprach von einem unübersehbaren Wertewandel, einer – diesmal positiv bewerteten – Anerkennung radikaler Pluralität, begriffen als „Einsicht in das irreduzible Eigenrecht und die Unüberschreitbarkeit des Vielen […] angesichts von Defiziten einer an Ganzheitsidealen orientierten Realität“.42 Peter V. Zima wiederum bewertete dieselben Phänomene als Auflösungs- und Partikularisierungstendenzen. Während die Moderne noch mit der Kategorie der Ambivalenz zu beschreiben gewesen sei, könne man in der Postmoderne lediglich von der Kate40 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: „Modern, Modernität, Moderne“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 93-131, S. 94f. 41 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Passagen 1999, S. 24. 42 Wolfgang Welsch: „Einleitung“, in: Ders.: Wege aus der Moderne, S. 1-43, S. 16.
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Theater als Ort der Utopie gorie der Indifferenz sprechen, die wiederum ausschließlich zwei Reaktionen hervorrufen könne: „Gleichgültigkeit und Ideologisierung“.43 Die auf der einen Seite als begrüßenswert empfundene Entgrenzung normativer Kategorisierungen und Grenzziehungen bewirkte andernorts, komplementär zur Utopiekritik, eine Skepsis nicht nur gegenüber dem Status der Zukunft, sondern auch gegenüber dem der Vergangenheit, der Herkunft. So schrieb Peter Sloterdijk zur Blütezeit postmoderner Modernekritik: „Postmoderne kann darum zunächst kein Epochenbegriff mit Anspruch auf geschichtsphilosophische Substantialität, sondern nur ein Index für Reflexionssteigerung sein.“44 Seit das Vertrauen in die Zukunft verloren gegangen sei, könne auch, so die Diagnose weiter, Geschichte keine Begründungen mehr leisten. Fortschritt sei eine sich im endlosen Regress befindende, leerlaufende Kategorie geworden. Noch resignativer formuliert dies Paul Virilio: „Die Geschichte ist auf die Zeitmauer gestoßen, d.h. auf die Mauer jener ‚Echtzeit‘, die der kosmologischen Konstante der Geschwindigkeit im luftleeren Raum entspricht. Einem Rückschwenk gleich bedingt der Rückstoß der Geschichte das Zurückweichen des Erreichten, den Rückzug des Fortschritts (Herv. i. O.).“45 Und auch aus Hans-Ulrich Gumbrechts Überlegungen, wie vor dem pessimistischen Horizont der postmodernen „Menschendämmerung“ ein konstruktiver Gegenentwurf auszusehen hätte, spricht eher Ratlosigkeit als Gewissheit: „Ersetzen des eine Telos durch viele Nahziele; vielleicht die Substitution des einen Begriffes von der Perfektibilität durch einen Begriff der Erhaltung des Menschen; vielleicht die Ablösung des (zur Vervollkommnung aufgerufenen) geistigen durch den (um seine Erhaltung besorgten) physischen Menschen.“46 Die allgemeine Ratlosigkeit, die sich in pauschalen Verabschiedungsgesten und einem resignativen Grundton der meisten Postmoderne-Analysen manifestiert, ist weniger ein Indiz dafür, dass die Reflexion über den gesellschaftlichen, philosophischen und kulturellen Status der westlichen Gesellschaft in bislang unerreichte Höhenlagen vorgestoßen wäre, wie gerne behauptet wird. Vielmehr belegen sie, dass ein einheitliches Epochenbild „der“ Postmoderne schlichtweg nicht besteht. Die Diagnosen sind, wie schon die Dy43 Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne, Tübingen, Basel: Francke 1997, S. XIIf. 44 Peter Sloterdijk: „Nach der Geschichte“, in: W. Welsch: Wege aus der Moderne, S. 262-273, S. 262f. 45 Paul Virilio: Ereignislandschaft, München: Hanser 1998, S. 11f. 46 Hans Ulrich Gumbrecht: „Posthistoire Now“, in: Ders./Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literaturund Sprachhistorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 34-50, S. 48.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie namik des Zeitbewusstseins gezeigt hat, von Antinomien gekennzeichnet, die sich nur um die Preisgabe der Komplexität der einzelnen Entwicklungen aufheben lassen. In den Kunstwissenschaften stellt sich die Lage nicht weniger diffus dar. So berücksichtigt etwa Ihab Hassans Merkmalskatalog ästhetischer Erscheinungsformen der Postmoderne, an denen der Autor eine neue, spezifisch postmoderne Konstellation festmacht, zahlreiche Aspekte, die auch schon zuvor für die Beschreibung moderner Kunst fruchtbar gemacht wurden. Er charakterisiert in elf sich mehr oder weniger überschneidenden Topoi das Epochenbild „Postmoderne“ folgendermaßen: das Ausstellen von Unbestimmtheitsstellen innerhalb von Kunstwerken; Fragmentarisierung inhaltlicher und formaler Kriterien; die Auflösung des Kanons als Subversion gängiger Kunstkonventionen; die Konzentration auf Oberflächenstrukturen statt auf Tiefendimensionen; die Darstellung des Un-Darstellbaren; die Strategie der Ironisierung und Karnevalisierung als Verweigerung von eindeutigen Bedeutungszuordnungen; Hybridisierung als Ausdruck von Genre-Mutationen; Performanz als Zeichen aktiver und gleitender Grenzüberschreitungen und schließlich Immanenz als Zeichen symbolhafter Verständigung abseits religiöser Konnotationen.47 Auf den ersten Blick vermittelt diese Definition eine Befreiung von sämtlichen bis dato scheinbar gültigen ästhetischen Konventionen und Werturteilen. Berücksichtigt man aber die in Kapitel I. erwähnten Kanonkompenenten, die Siegfried J. Schmidt für die ästhetische Moderne zusammengefasst hat, so zeigt sich, dass die Epochenmarkierung „Postmoderne“ gerade auch im Bereich der Kunstwissenschaften das Resultat von mehr oder weniger kollektiven Selektionsmechanismen ist, die nicht nur auf eine durch historische Erzählung konstruierte Traditionslinie zurückgreifen müssen, sondern darüber hinaus, in der Absage an ästhetische und begriffliche Reglements, ihrerseits ein neues ästhetisches Normensystem etablieren. Auch Heinrich Klotz’ positiv konturierte Definition der Postmoderne als „Zweiter Moderne“, die nach dem Scheitern der Bemühungen der Avantgarde, die Kunst in das Leben zu überführen, für eine „Neusetzung der Fiktion“ eingetreten sei und sich von den Altlasten der Avantgarde befreit habe,48 ist nur auf Kosten inhaltlicher wie geschichtstheoretischer Reduktionen plausibel zu machen: Nicht nur verkürzt Klotz’ vergröberte Wiederauflage von Peter Bürgers These vom Scheitern der Avantgarde die tatsächliche Komplexität
47 Vgl. Ihab Hassan: „Postmoderne heute“, in: W. Welsch: Wege aus der Moderne, S. 47-56. 48 Vgl. Heinrich Klotz: Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne, München: Beck 1994, S. 10f.
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Theater als Ort der Utopie der historischen Gegebenheiten. Darüber hinaus markiert das Nach der Moderne hier ein Fortschreiben eines retrospektiv eingeschobenen Sukzessionsschemas im Geschichtsverlauf selbst, das eine implizite Fortschrittsgeschichte teleologisch fortschreibt und den gegenwärtigen Standpunkt selbst als ahistorischen verortet.49 Der Blick auf die Texte von Hassan und Klotz, die hier beispielhaft für viele andere stehen, legt die argumentative Crux derartiger Definitionsversuche offen: Zum einen ist die Rede von einer zeitlich eindeutig festlegbaren Zäsur, die mit der These von der Auflösung traditioneller Stil- und Wertmaßstäbe verbunden ist, de facto schwer legitimierbar. Zum anderen wird mittels des Singulars „Postmoderne“ implizit die These von der radikalen Pluralität widerlegt. Dazu passt Burckhardt Steinwachs’ Beobachtung, dass trotz aller „Wendung vom Epochalen zum Kontingenten […] epochen-relative Prädikationen wie z.B. ‚aufklärerisch‘ oder ‚romantisch‘ weitgehend unkritisch als zentrale Begründungs- und Abgrenzungskategorien im Umlauf“50 geblieben sind. Tatsächlich schreiben die gängigen Definitionsversuche der Postmoderne in vieler Hinsicht fort, was sie doch eigentlich verabschiedet wissen wollten: das teleologisch orientierte, bessere Programm einer nach vorne schreitenden Entwicklungslinie. Ex post betrachtet offenbaren die genannten Diagnosen damit weniger eine historisch wertfreie Einordnung in einen zeitlichen Ablauf als – nicht zuletzt aufgrund ihres apodiktischen Charakters – die Abhängigkeit von kulturkritischen Deutungsmustern. In der Zwischenzeit wurden einzelne Diskursbewegungen postmoderner Vernunftkritik nicht nur von Autoren einer Kritik unterzogen, denen dieses Denken ohnehin von vornherein fremd gewesen war.51 Auch unter den Diskursteilnehmern von damals wurden Stimmen laut, die die Postmoderne-Diagnose noch einmal zu überdenken empfahlen. So distanzierte sich etwa Peter V. Zima wenige Jahre nach seiner Studie zur Postmoderne von der Kategorie der Indifferenz, um in seiner „Theorie des Subjekts“ wieder zur „spätmoderne[n] Position der Ambivalenz“52 und einem dialogischen Subjektbegriff zurückzukehren. Mitreflektiert sehen wollte er dabei so49 So wird etwa eine der funktionalistischen Diagnosen mit ethischer Reichweite von Avantgarde-Kunst, nämlich, die in der Kunst gewonnenen Freiräume in die Gesellschaft zu übertragen, nicht ausreichend problematisiert. Vgl. ebd., S. 52. 50 Burckhardt Steinwachs: „Was leisten (literarische) Epochenbegriffe?“, in: H. U. Gumbrecht/U. Link-Heer: Epochenschwellen und Epochenstrukturen, S. 312-323, S. 319. 51 Vgl. Alan Sokal/Jean Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen, München: Beck 1999. 52 Peter V. Zima: Theorie des Subjekts: Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen, Basel: Fink 2000, S.XIV.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie wohl die im letzten Jahrhundert aufgedeckten Unterwerfungs- und Disziplinierungsmechanismen, denen sich das Subjekt ausgeliefert sah, als auch die Kategorie vom Subjekt als intentional Handelndem. Die von Kontinuitäten und Traditionslinien gekennzeichnete Begriffsverwendung lässt augenscheinlich ihre Bedingtheiten umso prägnanter hervortreten, je mehr sie geleugnet werden. Das aber bedeutet, dass auch die „Postmoderne“ und der Wandel ihrer Wahrnehmung im Kontext sich wandelnder Geschichtsbilder zu verorten und der Modus ihrer Narration, der dann erst zu Geschichte wird, mitzuvollziehen ist, auch – oder: gerade – wenn zu erwarten ist, dass die „Epoche“ Postmoderne dasselbe Schicksal ereilen wird wie alle vorhergehenden auch, nämlich, dass sie historisiert und im Archiv der Geschichte ihren Platz finden wird.53 Dass die Verabschiedung des historischen Denkens zum Teil Ausdruck einer überspitzten Kritik am Linearitätsdenken eines bestimmten Moderneverständnisses ist, ergibt sich über die im vorigen Kapitel angeführte ideengeschichtliche Konstellation, die seit dem Ausbilden des Fortschrittsdenkens eben auch von einer linearen Historiographie begleitet war. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert mit seiner historisch orientierten Weltwahrnehmung, die auf die Geschichtlichkeit aller Werte, Ordnungen und Erkenntnisse abhob, ist im 20. Jahrhundert mit den Erkenntnissen der analytischen Philosophie und dem sogenannten „linguistic turn“, der jegliche Wirklichkeit als über Sprache vermittelt erachtet, Geschichte als Bezugsgröße, nun selbst „prekär geworden“.54 „Postmoderne“ könnte dann, vor diesem Hintergrund besehen, als Ausdruck einer Kurskorrektur verstanden werden, die das universalistische Fortschrittsprinzip verabschiedet. Das Ersetzen des großen Telos durch unterschiedlichste konkurrierende Fortschrittserzählungen, die, wie die Erzählung vom postdramatischen Theater, je für sich in Anspruch nehmen, an der Spitze einer ästhetischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu stehen, würde jedoch die Erkenntnis über die Relativität des eigenen Standpunkts voraussetzen. Dass sich damit jedoch nicht unbedingt ein Verabschieden der Kategorie der Geschichte andeutet, wie in einzelnen Verfallserzählungen ventiliert, sondern eher die Anerken53 Chris Lorenz beschreibt anhand der Texte Foucaults, Derridas und Whites den „Postmodernismus“ als epochale Phase, die als „Gegenbewegung“ gegen die Voraussetzungen der Moderne“ zu verstehen sei und sich insbesondere gegen den Gedanken der „Einheit“ richte. Vgl. Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1997, S. 154ff. 54 Vgl. Wolfhart Pannenberg: „Weltgeschichte und Heilsgeschichte“, in: Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung, München: Fink 1973, S. 307-323.
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Theater als Ort der Utopie nung vielfältiger und auch inkohärenter Zugangsweisen zu dem, wie Historie eingeordnet werden soll, soll im Folgenden dargestellt werden.
II.3 Vom Wandel theoretischer Ordnungsstrukturen II.3.1 ZUM STATUS DER GESCHICHTSFORSCHUNG IM 20. JAHRHUNDERT ALLGEMEIN Die Skepsis gegenüber einer bestimmten Form von Historiographie reicht mit Nietzsches folgenreicher Historismus-Kritik bis ins 19. Jahrhundert zurück.55 Um die Jahrhundertwende kam eine innerdisziplinäre Kritik an einer rein positivistisch archivgestützten Methodologie des Faches in Gang. Während der Politikgeschichte als Staaten- und Nationengeschichte auch weiterhin ein ausgezeichneter Stellenwert zugemessen wurde, erweiterte sich der Blick der Forschung doch allmählich hin zu einem multiperspektivischen Geschichtsverständnis, dem grundsätzlich alle Daseinsbereiche als potentiell legitime Erzählfelder offenstanden.56 Der heutige Stand geschichtstheoretischer Überlegungen geht maßgeblich auf diese kritischen Impulse zurück, auch wenn, wie Lutz Raphael erörtert hat, sich die Geschichtsforschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allen Dingen eng verbunden mit einer je spezifischen Form von Staatlichkeit und Nationalbildung entwickelte. Vor allem in der Positivismuskritik der Schule der Annales – benannt nach der 1929 gegründeten Zeitschrift „Annales d’histoire économique et sociale“ – fand die Kritik an den Bezugsgrößen von „Geschichte“ schließlich Ausdruck in einer Veränderung der Methodologien der Geschichtswissenschaft.57 Trotz der Gegenbewegung substantialistischer Volksgeschichten in Europa – hier vor allen Dingen jene im Nationalsozialismus – erreichte die Schule der Annales auf lange Sicht eine erhebliche Breitenwirkung, die, wie in Kapitel V.3 zu zeigen 55 Vgl. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Ders.: Werke, München: Hanser 1981, S. 111-174. Wie White erörtert hat, werde bereits im 19. Jahrhundert mit Johann Gustav Droysen Methoden der Geschichtsschreibung reflektiert. Vgl. H. White: Die Bedeutung der Form, S. 112ff. u. S. 120. 56 Vgl. Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München: Beck 2003, S. 66ff. 57 Vgl. Jacques Le Goff/Roger Chartier/Jacques Revel Hg.): Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M.: Fischer 1990.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie sein wird, auch in der Reflexion der heuristischen Kategorie des Ereignisses ihren Niederschlag gefunden hat. Kulturanthropologische Erkenntnisse aus der Ethnologie einerseits und sprachphilosophische Überlegungen andererseits erweiterten schließlich das Untersuchungsfeld der Historiker auf alltags-, ideen- und sozialgeschichtliche Bereiche, während zugleich das methodologische Instrumentarium durch Zyklen- und Stufenmodelle, den typologisierenden Vergleich historischer Abläufe sowie räumlich-beziehungsgeschichtliche Perspektiven ergänzt wurde.58 Gleichwohl, eine sukzessive Abfolge unterschiedlicher Methodologien im Laufe des 20. Jahrhunderts ist innerhalb der Geschichtswissenschaft nicht auszumachen: Die Einspannung der Geschichtsschreibung in den Kausalzusammenhang eines fortschrittsorientierten Prozesses der Zivilisation erhielt hauptsächlich über die Verbindung von Politik und Geschichte in der marxistischen Geschichtsschreibung, die Geschichte als Resultat antagonistischer Klassenverhältnisse deutete, erneute Triebkraft.59 Etwa zeitgleich kam es zu einer umfassenden Kritik am Paradigma der Narration. Hayden White wies darauf hin, dass man sich gegen ein im 19. Jahrhundert gängiges Verständnis von Geschichtsschreibung deshalb richtete, „weil sie die typische Form ihres Diskurses, die Narration, als Inhalt, d.h. als Narrativität auffaßt. Sie begreift die ‚Narrativität‘ als ein Wesenselement, das sowohl Diskursen als auch Ereignisfolgen gemeinsam ist.“60 Whites eigene Arbeiten setzten diese kritischen Impulse fort, indem er mit der gängigen Vorstellung vom Referenzcharakter historischen Erzählens brach. Ihm zufolge gibt es keine adäquate Repräsentation einer als faktisch vorgestellten Wirklichkeit. Geschichtsschreibung habe immer auch Fiktionalitätscharakter.61 Das führte White selbst zur Annahme, keine Form der Geschichtsschreibung könne aufgrund epistemologischer Erwägungen favorisiert werden. Vielmehr sei es so, dass die Wahl einer bestimmten Form von Geschichtsschreibung in erster Linie mit moralischen, politischen oder ästhetischen Erwägungen zu tun habe. Gegenüber dem Vorwurf des Relativismus und dem radikalen Vorbehalt von Narration als Modus der Historiographie setzte White sich zur Wehr, indem er darauf hinwies, dass „jeder historische Gegenstand […] durch eine Reihe
58 Vgl. L. Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 104ff. u. 198ff. 59 Vgl. ebd., S. 119ff. 60 H. White: Die Bedeutung der Form, S. 45. 61 Vgl. Hayden White: Metahistory. The historical imagination in nineteenthcentury Europe, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1973.
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Theater als Ort der Utopie gleich plausibler Beschreibungen und Erzählungen seiner Prozesse dargestellt werden“62 könne.63 Derartige Reflexionen auf Darstellungsweisen der Historie haben der Geschichtswissenschaft wichtige Impulse gegeben und finden Ausdruck in heterogenen Methodologien. Nach der Konzentration und Befestigung von Nationalgeschichten bildet heute, so Raphael, durch weltweite Vernetzung unterschiedlichster Ansätze die „Kritik an imperialistischen, eurozentristischen Fehldeutungen fremder Vergangenheiten“ sowie an einer männerzentrierten Geschichtsdeutung einen wesentlichen Bestandteil der westlichen Wissenschaftsund Kulturgeschichte, die parallel zu einer Pluralisierung der Methoden verläuft.64 Die Pluralisierung der Ansätze internationaler Geschichtsforschung arbeitet dabei vor allem Einem entgegen: der „Zerstörung von Geschichtsmythen“.65 Einer dieser Mythen ist die Fortschrittsgeschichte der Kunst, die, wie in Kapitel I. erörtert, bis heute einen erheblichen Anteil an diesem eindimensionalen Narrativ der Moderne hält. Im Folgenden gilt es deshalb, den Status von Theater und Kunst vor dem Hintergrund sich wandelnder historiographischer Überlegungen darzulegen.
II.3.2 ZUM STATUS DER JÜNGEREN GESCHICHTSTHEORIE IN DER THEATERWISSENSCHAFT Es hat durchaus seine Gründe, warum metatheoretische Fragen der Geschichtsschreibung eher selten am Horizont der Theaterwissenschaft auftauchen. Schließlich sieht sich kaum eine andere historische Wissenschaft schon auf der Ebene der Datenerhebung mit ver-
62 H. White: Die Bedeutung der Form, S. 99. 63 Kritik erfuhr Hayden Whites Modell der vier Stilfiguren (Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie), die, White zufolge, als narrative Grundtropen historische Erzählungen präfigurierten. Der performative Widerspruch gründe darin, dass White seine narrative Tropologie als wahr erachte, während alle anderen Theorien auf ideologischen und ästhetischen Prämissen beruhten. Vgl. C. Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit, S. 177. 64 L. Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 22. 65 Ebd., S. 61. Wichtige Denkanstösse zur Analyse der Wechselwirkung von Geschichtsbewusstsein und Methodik gehen auf Reinhart Koselleck zurück, dessen Untersuchungen auf der Prämisse gründen, dass „Geschichte und Historie […] aufeinander verweisen, letztlich sich gegenseitig begründen, ohne vollständig auseinander ableitbar zu sein“. Vgl. Reinhart Koselleck: „Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropolo– gische Skizze“, in: Christian Meier/Jörn Rüsen (Hg.): Historische Methode. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 5, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 13-61, S. 18.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie gleichbaren Problemen konfrontiert. Sowohl der traditionelle Untersuchungsgegenstand der Theaterwissenschaft, die Aufführung, als auch theatrale Ereignisse außerhalb des Kunsttheaters, die als Folge eines erweiterten Theatralitätsbegriffs in letzter Zeit verstärkt zum Gegenstand der Forschung geworden sind,66 zeichnen sich durch ihren ephemeren Charakter aus. Die Historiographie hat es hier also mit einem Gegenstand zu tun, der, wie Hans-Peter Bayerdörfer betont hat, „nur im Moment [seines] Sich-Ereignens Wirklichkeit ist“ und sich somit durch „radikale Geschichtlichkeit“67 auszeichnet. Aufgrund der relativ späten Entstehung der Theaterwissenschaft als universitärer Disziplin, fehlen hier zugleich – worauf Stefan Hulfeld hingewiesen hat – die in anderen Fächern im 19. Jahrhundert publizierten Standardwerke.68 So verwundert es kaum, dass tiefgreifende methodologische Reflexionen zur Theatergeschichtsschreibung eher selten sind.69 Eine Ausnahme bilden die jüngsten Anregungen zu einer kritischen Theaterhistoriographie des Leipziger Theatralitätskonzepts und die, Impulse von jenem aufnehmende, „Arbeitsgruppe Theaterhistoriographie“ des Schweizer Instituts für Theaterwissenschaft Bern, die das Manko linearer und damit stellenweise auch petrifizierter Theatergeschichtsschreibung aufzeigen. Ursache dafür sei, so Andreas Kotte, dass es immer noch nicht gelungen sei, die Gravitationskraft des Theaterbegriffs des 18. Jahrhunderts, nämlich die „Trias Autor/Schauspieler/Zuschauer, vereint im Kunstwerk Aufführung un-
66 Zur Geschichte der Theaterwissenschaft siehe: Erika Fischer-Lichte: „Theatergeschichte und Wissenschaftsgeschichte: Eine bedenkenswerte Konstellation. Rede zur Eröffnung des Ersten Kongresses der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e.V. in Leipzig“, in: Dies./Wolfgang Greisenegger/HansThies Lehmann (Hg.): Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Tübingen: Narr 1994, S. 13-24. 67 Hans-Peter Bayerdörfer: „Probleme der Theatergeschichtsschreibung“, in: Renate Möhrmann (Hg.): Theaterwissenschaft heute, Berlin: Reimer 1990, S. 41-63, S. 41 u. S.47. 68 Vgl. Stefan Hulfeld: „Historiographie zwischen ‚Theater‘ und Theater. Das Leipziger Theatralitäts–konzept als Leitfaden durch die Geschichte?“, in: MIMOS. Zeitschrift der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur 54/1 (2002), S. 13-21, hier S. 15. 69 Dem methodologischen Selbstverständnis entspricht heute ein offener Begriff von Theatergeschichtsschreibung abseits eindimensionaler Ursprungserzählungen. Vgl. Jens Ilg/Thomas Bitterlich (Hg.): Theatergeschichtsschreibung. Interviews mit Theaterhistorikern, Leipzig: Tectum 2006. Dieses Selbstverständnis wird jedoch nicht auf allen Ebenen, zumindest nicht auf der Ebene der Analyse und Historiographie des postdramatischen Theaters, wirksam.
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Theater als Ort der Utopie ter dem Dach eines Theatergebäudes“,70 vollständig zu neutralisieren. Darüber hinaus würden historische Kontinuitäten und Ursprungsmythen durch den Begriff des „Paradigmenwechsels“ vordergründig kaschiert.71 Dieser Umstand führe innerhalb der sich verhärteten Selektionsprozesse schließlich auch zu einer erschwerten Reselektierung, zu der, so Andreas Kotte weiter, die Wucherung des Theatralitäts-Begriffs nicht eben wenig beigetragen habe. Ein Blick auf andere kunstwissenschaftliche Disziplinen zeigt, dass diese Form methodologischer Selbstkritik in der Theaterwissenschaft vergleichsweise spät eingesetzt hat. Hans Robert Jauß opponierte bereits 1967 gegen eine substantialistische Literaturgeschichtsschreibung, die sich lange durch eine Verengung auf das Mimesisideal des bürgerlichen Realismus, die ahistorische Festschreibung der Kategorie des Schönen, ein unkritisches, unilineares Fortschreiben eines gesicherten Kanons und das Festhalten an einem einschichtigen Innovationsparadigma auszeichnete. Dem setzte Jauß die verstärkte Einbeziehung des Rezipienten entgegen.72 Doch obwohl inzwischen die Anerkennung eines offenen Rezeptionsprozesses und die damit verbundene Einsicht in die Unabschließbarkeit der Interpretation sowie die Anerkennung einer nichtrepräsentationalen Ästhetik zum Status quo von Theater- und Kunstwissenschaften gehören, halten sich lineare Zeitverlaufsvorstellungen und Genealogien vor allem im Bereich der jüngeren Theatergeschichte hartnäckig. So etwa dann, wenn es um die Erörterung von Ästhetiken am Ende des 20. Jahrhunderts geht, die sich weitgehend linear auf die historische Avantgarde als Ursprungsgeschichte beziehen. Auch die jüngere Kritik an der Kunstgeschichtsschreibung offenbart die hartnäckige Existenz kunstwissenschaftlicher Ideologeme, die in starkem Kontrast zur Kritik der Geschichtswissenschaft an anderer Stelle stehen. Hans Beltings Kritik bietet auch für die Theatergeschichtsschreibung reichlich Anregungspotential für wei-
70 Andreas Kotte: „Zur Theorie der Theaterhistoriographie“, in: MIMOS. Zeitschrift der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterwissenschaft 54/1 (2002), S. 5-12, hier S. 5. 71 Vgl. ebd. 72 Vgl. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz: Universitäts-Verlag 1967, S. 7ff. Jauß liefert den auch für eine Geschichtsschreibung der jüngeren Theatergeschichte aufschlussreichen Hinweis: „[...] und wenn ein bedeutendes Werk dem literarischen Prozeß eine neue Richtung zu geben scheint, bleibt es von einer oft unübersehbaren Produktion umgeben, die einer alten Geschmacksrichtung entsprechen, in ihrer gesellschaftlichen Wirkung aber nicht geringer zu veranschlagen sind, als die oft unverstandene Neuheit des einen Werkes, das für das homogene Nacheinander der geschichtlichen Progression allein zu Buche schlägt“. Vgl. ebd., S. 19.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie terführende Überlegungen. Über die Kunstgeschichtsschreibung nach 1945, die auch die positiven Konnotationen einer postmodernen Kunst in einem anderen Licht erscheinen lässt, schreibt Belting: „Wenn die Gegenwart krank war, so sollte wenigstens die Kunst die Gegenwart so gesund erscheinen lassen, wie sie es werden würde, wenn sich die Gesellschaft nur umerziehen ließ. Man sprach vom ‚Ideal der Kunst‘ und meinte das Ideal der eigenen Weltanschauung, ebenso wie man umgekehrt, und ähnlich militant, in den Künstlerkreisen von der ‚neuen Gesellschaft‘ sprach, um darin die ‚neue Kunst‘ durchzusetzen. Diese Auseinandersetzung übertrug sich von der Kunst bald auch auf die Kunstgeschichte, der – unter dem Druck der Öffentlichkeit, die Aufgabe zufiel, die gewünschte Kunst in einer ‚richtigen‘ Geschichte der Kunst zu rechtfertigen. […] In der Spielart der ‚political correctness‘ lässt die Kunst jedoch nur die Freiheit eines einzigen Standpunktes, des eigenen nämlich, zu und schränkt sie für den Betrachter auf den Akt der blinden Zustimmung ein. Die Mechanismen in diesem Vorgang sind besonders wirksam, weil sie die Sache der Moral mit der Sache der Kunst in einer einschüchternden Weise verbinden, ja auch die Kultur, die in sich immer das liberale Erbe der Aufklärung trug, als Waffe der Politik benutzen: einer Politik, der Gruppeninteressen, die sich ihren polemischen Ausdruck in der Kunst suchen, in der ‚richtigen Kunst‘ natürlich.“73
Beltings Anmerkungen legen ein Manko kunstwissenschaftlicher Historiographie offen, das auch für die theaterwissenschaftliche Geschichtsschreibung der Performance Art und des postdramatischen Theaters von Bedeutung ist, auch wenn in Rechnung gestellt werden muss, dass der Übergang zwischen Historiographie und Theorie, geht es um das Theater der jüngeren Vergangenheit, oft fließend ist. Gerade über den Sachverhalt einer methodisch problematischen Grenze wird nämlich deutlich, dass die Absage an teleologische Geschichtsdeutungen offenbar nur für einen Teil der Historiographie, nämlich den, der sich der älteren Geschichte zuwendet, reklamiert wird, nicht aber für die gegenwartsnahe, jüngere Historie. Hierbei zeigt sich, dass binnenwissenschaftliche Erläuterungen oft gar nicht ausreichen, um die Rolle des Theaters und der Kunst im Verlauf des historischen Prozesses zu erläutern, zumal, wenn es darum geht, metatheoretische Funktionsweisen zu erörtern, die binnenwissenschaftliche Narrative präfigurieren. Das folgende Kapitel soll zeigen, welche Erklärungsmodelle in den letzten Jahren herangezogen wurden, um die Funktionsweise der Kunst im Modernisierungsprozess zu erläutern. Sie selbst sind, zumindest auf den ersten Blick, von einer Kritik an verfallstheoretischen Topoi geprägt und haben
73 Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München: Beck 1995, S. 45 u. S. 58.
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Theater als Ort der Utopie die Wahrnehmung der Funktionsweise von Kunst in der Moderne stark beeinflusst. Die Rede ist von der Begriffsgeschichte und der Systemtheorie.
II.3.3 NARRATIVE DER MODERNE UND DIE ROLLE DER KUNST: VON DER BEGRIFFSGESCHICHTE ZUR SYSTEMTHEORIE In der Vergangenheit hat man auf unterschiedlichem Wege die Epoche der Moderne, das Fortschrittsdenken sowie die damit verbundene Rolle der Kunst einzugrenzen und ihre Entwicklungslogik außerhalb verfallstheoretischer Narrative aufzuzeigen versucht. Die Festlegung einzelner Schnittstellen und Umbruchszeiten mit unterschiedlicher Konsequenz auf die epistemologische und kulturelle Entwicklung stand dabei meist im Vordergrund. So gehört zu den grundlegendsten Erkenntnissen über die Moderne, dass, wie bereits in Kapitel II.1 angedeutet, sich das Fortschrittsdenken komplementär zur Entwicklung des geschichtsphilosophischen Denkens herausbildete und für diese Entwicklung als Ursache, zumindest in Teilen, auf den seit Beginn der Neuzeit sich stetig dynamisierenden Prozess der Säkularisierung und damit der zunehmenden Entfernung von einer transzendenten Weltdeutung verwiesen wurde. Begriffs-, sozial- und ideengeschichtliche Untersuchungen haben zunächst zum Verständnis der Entwicklung von Moderne abseits einer impliziten Fortschritts- oder Kausallogik beigetragen. Das methodische Vorgehen war zugleich von der Gewissheit über die Unvereinbarkeit semantischer Begriffe und ihrer Bezugspunkte geprägt. Wie Reinhart Koselleck notiert, ist nämlich die semantische Funktion von Begriffen eben nicht allein ableitbar aus den sozialen und politischen Gegebenheiten, auf die sie sich beziehen: „Mit jedem Begriff“, so Kosellecks durchaus begriffskritische Devise, „werden bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfahrung und denkbarer Theorie gesetzt.“74 Für das Verständnis einer nun selbst zum Kanon gewordenen Vorstellung von der Leistung des Fortschrittstopos einer genuin nicht-repräsentationalen Ästhetik, wie er innerhalb der Theorie und Historiographie zum postdramatischen Theater und zur Performance Art verfochten wird, ist es wichtig, auf Erklärungsmodelle außerhalb des binnenwissenschaftlichen Diskurses hinzuweisen. In den letzten Jahren haben Begriffsgeschichte und Systemtheorie mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen den Anteil der Kunst am Modernisierungsprozess betont hervorgehoben. Dabei wird gerade anhand der Kontrastierung dieser beiden Methoden deutlich, wie
74 R. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 120.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie prägend die Verbindung von Fortschritt und Kunst für die Kunstwissenschaften ausfiel und immer noch ausfällt. So notierte Hans Ulrich Gumbrecht in dem Lexikon-Beitrag „Modern, Modernität, Moderne“ zunächst, dass die begriffsgeschichtliche Definition abseits einer impliziten Fortschrittslogik eben die Anerkennung historisch und kontextuell je unterschiedlicher Bedeutungen eines Begriffs voraussetzte.75 Unter dem Bewusstsein der „Überlappung von Begriffsbedeutungen“76 wählt Gumbrecht demgemäß einen offenen Begriff von „modern“, der je nach (historischem) Kontext als Gegenbegriff zu „vorherig“, als Gegensatzpaar von „alt“ und „neu“, oder als Gegenüberstellung von „vorübergehend“ und „ewig“ zu verstehen sei.77 Als zeitliche wie inhaltlich bestimmte Zäsur einer begriffsgeschichtlichen Konkretisierung von „modern“ wird schließlich das Gegenwartsbewusstsein der Aufklärer als Kennzeichen eines ersten Schritts zur Loslösung der Modernität vom Vorbild der Antike verstanden.78 Dabei wird nicht nur die quantitative Häufung des Begriffs „modern“ als Indiz für die Entwicklung der Moderne herangezogen. Auch der Kunst wird eine überaus exponierte Rolle am Modernisierungsprozess zugewiesen. Vor allen Dingen die 1687 einsetzende Debatte über den Status gegenwärtigen Zeitempfindens in der „Querelle des Anciens et des Modernes“, in der die „Modernes“ für ein vorher nicht dagewesenes Gegenwartsbewusstsein fochten, hat aus begriffsgeschichtlicher Perspektive einen maßgeblichen Anteil am Fortschrittsdenken der Moderne. So ging es in der „Querelle“ vornehmlich darum, neben dem Beitrag der Wissenschaften zur Perfektibiliät des Menschen auch die Künste zu profilieren. Das Ergebnis dieser Debatte lag schließlich in der Anerkennung der Besonderheit der eigenen Epoche und des individuellen Schöpfertums gegenüber der Vorrangstellung der Antike und ihrer vermeintlichen Wiederholbarkeit, wodurch das Fortschrittsdenken auch über die Selbstbehauptung und -thematisierung ästhetischer Funktionen ei-
75 Vgl. H. U. Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne, S. 95. Die methodologischen Fragen einer Begriffsgeschichte mit Einfluss auf die Sozialgeschichte hat Reinhart Koselleck erörtert in: R. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 114ff. 76 Vgl. R. Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 118. 77 H. U. Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne, S. 96. Das Adjektiv „modernus“ ist seit Ende des 5. Jahrhunderts belegt. Der Begriff diente zunächst der Abgrenzung einer Institution zu „jener, welche sie gerade abgelöst“ hat. 78 Vgl. ebd., S. 99ff.
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Theater als Ort der Utopie ne wichtige Schubkraft, zumindest innerhalb der Theoriedebatten, erhielt.79 Indem Gumbrecht die Bedeutung der Kunstentwicklung und der sie begleitenden Diskurse akzentuiert, folgt er auch aus begriffsgeschichtlicher Perspektive implizit nicht zuletzt jenem Selbstverständnis der Künste und der Ästhetik, das seit der „Querelle“ eben immer auch den genuinen Anspruch von Innovation und Überbietung für sich reklamierte. Der Fokus einer Definitionsbestimmung von Moderne liegt in diesem Aufsatz eindeutig beim bewußtseinsprägenden Anteil durch Kunst und Ästhetik. Ihr expliziter Beitrag zum Fortschritt wird auch anhand der Darstellung des weiteren historischen Verlaufs der begriffsgeschichtlichen Definition festgeschrieben und Kunst somit gegenüber anderen (Wissenschafts-)Bereichen – gesellschaftlichen, philosophischen, politischen, juridischen – ein privilegierter Status zugebilligt. So etwa werde das moderne Gegenwartsbewusstsein maßgeblich über die Kunst bestimmt. Einen herausragenden Stellenwert erhält bei Gumbrecht etwa Baudelaires Ästhetik. In dessen Aperçu „la modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contigent“ sei das Modernebewusstsein als radikales Gegenwartsbewußtsein auf die Spitze getrieben. Nur der Kunst könne es gelingen, demgegenüber Ewigkeit herzustellen.80 Die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen legen so einerseits zwar die Vielschichtigkeit des Modernebewusstseins innerhalb der Ästhetik offen. Nicht zu verkennen ist aber andererseits, dass sie selbst aufgrund der selektiven Lektüre ganz bestimmter Texte und damit dank einer ganz bestimmten Gedächtnisleistung die Vorrangstellung der Kunst innerhalb des Modernisie-
79 Ebd., S. 100f. Wie schon Hans Robert Jauß erörterte, lässt sich am Begriffspaar „antiqui/moderni“ der säkulare Prozeß verfolgen, „in dem sich die Literatur und Kunst der Neuzeit vom Kanon der Antike als ihrer vorbildhaften Vergangenheit gelöst hat.“ Die Querelle des Anciens et des Modernes (1687-1697), angeregt von Charles Perrault, führte zur Erkenntnis, dass „die Werke der Alten wie die der Neueren als Hervorbringung verschiedener geschichtlicher Epochen, also nach einem relativen Maß des Schönen und nicht mehr nach einem absoluten Begriff des Vollkommenen zu beurteilen seien“. Von Perrault provoziert fühlte sich Akademiemitglied Nicolas Boileau-Despéraux, woraufhin es zur Bildung zweier Parteien kam, die ihren jeweiligen Standpunkt schließlich relativierten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist mit der Bezeichnung „modern“ nicht mehr ein Epochenbegriff verbunden, sondern die Einsicht, so die begriffsgeschichtliche Diagnose, dass das Moderne „sich nur noch von sich selber“ absetze. Vgl. Hans Robert Jauß: „Antiqui/moderni (Querelle des Anciens et des Modernes)“, in: J. Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 409-414. 80 Ebd., S. 110.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie rungsprozesses bestätigen.81 Ob sich daraus tatsächlich auf einen kollektiven Bewusstseinswandel schließen lässt, ist zumindest fragwürdig, handelt es sich hier doch streng genommen um Diagnosen, die sich gerade aufgrund der Anerkennung eines heterogenen Entwicklungsprozesses nicht auf einen Begriff bringen lassen.82 So zeigt sich auch anhand einer neueren Lektüre der QuerelleDebatte, dass es dabei durchaus nicht ausschließlich um binnenästhetische Fragestellungen ging, sondern in hohem Maße auch um eine politisch-ideologische Parteinahme:83 Während die Vertreter der Modernes, wie Charles Perrault, als „Nutznießer absolutistischer Kulturpolitik“84, ihre regierungsnahe Position über die Argumentation rechtfertigten, Wissenschaften und Künste leisteten einen genuinen Perfektibilitätsbeitrag für eben jene absolutistische Regierungsform, übten die Anciens, wie Nicolas Boileau-Despréaux oder Jean de la Bruyère, nicht allein Kritik am absolutistischen Fortschrittsdenken, sondern auch an der politischen Marginalisierung des Adels und am luxuriösen Lebensstil des Hofes. Eine Kritik, die von Jean-Jacques Rousseau, wie in Kapitel III.4.1 gezeigt werden soll, aufgenommen wird. Antikenverehrung galt ihnen als Mittel der Distanznahme zur eigenen Gegenwart. Die zeitlichen und politischen Polarisierungen von alt und neu weisen darüber hinaus auf bevorstehende Mentalitätsverschiebungen hin. Die letztlich übereinstimmende Einsicht in den historischen Eigenwert einer jeden Epoche am Ende der Debatte resultiere daraus, so Carsten Zelle, „dass die Querelle mehr ist als ein Streit zwischen den Verehrern des Altertums und den Freunden der Moderne. Die Querelle erweist sich als ein Kampf zwischen zwei genuin modernen Positionen, insofern in dieser Auseinandersetzung der Konflikt zwischen dem Be-
81 Zur Entstehung des Innovations- und Originalitätsbewusstseins siehe auch: Walter Haug: „Innovation und Originalität. Kategoriale und literarhistorische Vorüberlegungen“, in: Ders./Burghart Wachinger (Hg.): Innovation und Originalität, Tübingen: Niemeyer 1993, S. 1-13. 82 Hans Ulrich Gumbrecht selbst erörterte „Dimensionen und Grenzen“ der begriffsgeschichtlichen Methode. So gehöre zu den Leistungen der Begriffsgeschichte, dass, basierend auf Erkenntnissen der Sprachphilosophie und dem damit verbundenen „linguistic turn“, das Verhältnis von historischer Semantik und geschichtlicher Bedeutung überhaupt reflektiert wurde. Gleichwohl blieben Unbestimmtheitsstellen bestehen. Die Begriffsgeschichte, so Gumbrecht, vermochte es nicht, eine verbindliche Methode zu entwickeln, genausowenig wie es ihr gelang, Einsichten in die Gesetze historischer Veränderung zu erbringen. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München: Fink 2006, S. 24ff. 83 Vgl. Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart, Weimar: Metzler 1995. 84 Ebd., S. 78.
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Theater als Ort der Utopie wußtsein der wissenschaftlich-technischen Funktionäre des neuen absolutistischen Verwaltungsstaates und der modernen Einsicht in eine negative Anthropologie aufbricht.“85 Die vor den wissenschaftlichen Errungenschaften mit Francis Bacon bestehende Einheit von ars und scientia wird zunehmend verlassen. Noch bleibt unbefragt, ob scientia oder ars den Fortschrittsmotor bildet, da die Kategorie des Fortschritts wie der Innovation als immanente Bewegung selbst neu und damit auch als kulturtypologischer Abgrenzungsmodus eben ein Novum ist. Zelle spricht schließlich auch von zwei Arten von Moderne, nämlich einer technisch-zivilisatorischen und einer künstlerischen Moderne, die „als Artikulationsmedium eines Unbehagens an der modernen Technik und Wissenschaft fungieren kann“.86 Definitionsversuche von „Moderne“ zielten dementsprechend ins Leere, weil sie, so Zelles Fazit, fälschlicherweise unterstellten, es könne darauf mit einem inhaltlich definierbaren Zeitabschnitt geantwortet werden.87 Im Gegensatz zu inhaltsbezogenen und begriffsgeschichtlichen Erörterungen unternimmt Niklas Luhmann den Versuch, mit seiner Systemtheorie die Funktionsweisen des Systems Kunst als eines unter mehreren anderen gesellschaftlichen Systemen zu veranschaulichen. Die Systemtheorie versucht damit mindestens zwei gängige kultur- wie sozialwissenschaftliche Narrative einer Kritik zu unterziehen: Die behauptete Vorrangigkeit eines Systems innerhalb einer Gesellschaft sowie die (implizit) geschichtsphilosophischen Deutungsmuster, die auch noch begriffsgeschichtliche Untersuchungen, wie erläutert, präfigurieren. Nicht zuletzt wegen ihres hohen Abstraktionsgrads hat die Systemtheorie in den letzten Jahren auf die Kunstwissenschaften eine große Anziehungskraft ausgeübt.88 Die Systemtheorie bietet eines der wenigen Instrumentarien, die es ermöglicht, sowohl binnensystemische als auch gesamtgesellschaftliche Funktionsweisen und Entwicklungsprozesse zu erklären und darzustellen, mit anderen Worten: Die Innen- und Außenposition eines Beobachterstandpunkts lassen sich kombinieren. Weniger um die Anwendung der Luhmann’schen Systemtheorie auf die Funktionsweisen des Theater- bzw. Kunstsystems und auf eine bestimmte Ästhetik soll es im Weiteren gehen, als darum, zu zeigen, welche Konsequenzen dieses neue Narrativ auf eine bestimmte Wahrnehmung des Kunstsystems hat. Um geschichtsphilosophische Deutungsmuster zu vermeiden, hat Luhmann eine Kombination von Evolutionstheorie und Kultur85 86 87 88
Ebd., S. 87. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Thomas Dreher: Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia, München: Fink 2001.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie theorie entwickelt, die von einer phänomenologischen Weltbeschreibung absieht. Dabei folgt er einer radikal konstruktivistischen Erkenntnistheorie, die jegliche Korrespondenz- und Repräsentationsvorstellungen aufgibt.89 Eine Besonderheit des systemtheoretischen Modells gegenüber anderen Formen der Weltbeschreibung ist es, dass es die Anschauung des Prozesses der historischen Entwicklung mit jener der gesellschaftlichen Funktionsweise der Gegenwart kombinieren kann. Luhmann überträgt das modifizierte Modell der Evolutionstheorie nämlich nicht nur auf den Prozess der Geschichte, sondern nutzt es auch als Beschreibungsinstrumentarium für die Prozesse der Gegenwart. Grundvoraussetzung der Übertragung von biologischen Überlegungen auf eine Kulturtheorie ist dabei die Unterscheidung von Nervensystem und Bewusstseinssystem, als deren Folge der Begriff des Subjekts durch den des psychischen Systems ersetzt werden kann. Die Unterscheidung von Nervensystem und Bewusstseinssystem ermöglicht es Luhmann, die für die Systemtheorie so wichtigen Kategorien der Beobachtung und der Kommunikation für weitreichende erkenntnistheoretische Folgen abzusichern.90 Durch die Auffassung der Gesellschaft als „universelles, selbstreferentiell geschlossenes Kommunikationssystem“91 und die damit verbundene Übertragung der Evolutionstheorie auf soziale Entwicklungen ergibt sich die Möglichkeit, auch innerhalb eines sozialen Systems Mechanismen der Variation, Selektion und Stabilisierung nachzuweisen. Abseits einer Chronologisierung können so unterschiedliche kulturelle Entwicklungsstufen und Diskontinuitäten im historischen Ablauf kenntlich gemacht und kurzlebige sowie inhaltlich problematische Epochenmarkierungen vermieden werden. Die Folge davon ist, dass die Privilegierung eines bestimmten gesellschaftlichen Funktionssystems wie Politik, Recht, Wirtschaft, Reli-
89 Zu den kognitionstheoretischen Positionen der Vertreter des Radikalen Konstruktivismus Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela und Heinz von Foerster, auf die sich Niklas Luhmann bezieht, siehe: S. J. Schmidt: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. 90 Beobachtungen werden von Luhmann als Operationen bezeichnet, die (sinnerzeugende) Unterscheidungen treffen. Beobachtung ist demgemäß nicht als Aktivität eines Subjekts zu verstehen, sondern als autologischer Prozess. Vgl. Niklas Luhmann: Konstruktivistische Perspektiven. Soziologische Aufklärung, Bd. 5, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 16f, vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 19ff. 91 Niklas Luhmann: „Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie“, in: H. U. Gumbrecht/U. Link-Heer: Epochenschwellen und Epochen– strukturen, S. 11-33, S. 19.
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Theater als Ort der Utopie gion oder eben auch Kunst entfällt.92 In Absage an Tendenzen der älteren Soziologie, die Komplexität und Systemdifferenzierung von Gesellschaft als einen kontinuierlichen und unilinearen Steigerungszusammenhang auffasste, zielt Luhmanns Hypothese darauf, dass die Komplexität eines Gesellschaftssystems von der Form seiner Differenzierung abhängt.93 Luhmann, der davon ausgeht, dass Steigerungen im Komplexitätsniveau der Gesellschaft epigenetisch und emergent erfolgen, kann infolgedessen von einer unilinearen Fortschritts- und Kausallogik absehen und konzedieren, dass gesellschaftliche Entwicklung eine „Nebenfolge von strukturellen Umlagerungen, vor allem von Änderungen der Differenzierungsform“94, ist. Statt eine dichotome Subjekt-Objekt-Kategorie vorauszusetzen, vermag dieser Zugriff, Veränderungen als „Resultat von Anpassungen mentaler Reduktionen und Vereinfachungen an die Veränderungen der Selektivität im Relationieren der Elemente“95 anzuerkennen. Die als funktional differenziert bezeichnete (moderne) Gesellschaft hat nach dieser Lesart schließlich einen Entwicklungsstand erreicht, innerhalb dessen die einzelnen dehierarchisierten Systeme wie Politik, Recht, Religion, Wirtschaft und eben auch Kunst einen so hochentwickelten Komplexitätsgrad erreicht haben, dass jedes auf eine Funktion spezialisiert ist und nicht mehr jedes seiner Elemente mit anderen verbinden kann. Nicht nur den Begriff der Autonomie setzt Luhmann zur Bezeichnung dieses gesellschaftlichen Wandels dementsprechend zentral.96 Auch die Kategorie des Fort-
92 Vgl. hierzu auch: Hans-Jürgen Hohm: Soziale Systeme, Kommunikation, Mensch. Eine Einführung in die soziologische Systemtheorie, Weinheim, München: Juventa 2000, S. 51f. Die Erkenntnis einer bestimmten Entwicklung ergibt sich für Luhmann dabei über die „Beobachtung“ der Verbreitungstechniken der Kommunikation (Rede, Schrift, Druck) und die Formen der Systemdifferenzierung (segmentär, stratifikatorisch, funktional). Damit würden unterschiedliche Ereignisse nicht unter bestimmte kontinuierliche, globale Epochenbegriffe subsumiert, sondern diese würden gegebenenfalls als sich überlagernde Sequenzen begriffen. Vgl. N. Luhmann: Das Problem der Epochenbildung, S. 20. 93 Es gehe, Luhmann zufolge, darum, Relationen nicht allein über sinnmäßige Begriffszusammenhänge zu erschließen. Vielmehr müsse man davon ausgehen, dass auch die „gepflegte Semantik nur im Erleben und Handeln real“ ist. Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 20. 94 Ebd., S. 22. 95 Ebd, S. 24. 96 Luhmann schreibt: „Erst die funktionale Differenzierung setzt alle nach diesem Prinzip gebildeten Teilsysteme operativ autonom, weil jetzt keines
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie schritts folgt hier nicht mehr einer transzendenten und transzendentalen Notwendigkeit. Da es keine Letztgegebenheiten und -begründungen mehr gibt, wird eine nach vorne offene Progression ermöglicht, deren Grenzen nur noch über „operative Notwendigkeiten“ und einen provisorischen Konsens hergestellt werden.97 Als entsprechendes Analysekriterium dient bei Luhmann die Unterscheidung zwischen System und Umwelt, die das metaphysische Paradigma der zirkulären Teil-Ganzes-Differenzierung ablösen und ermöglichen soll, innerhalb von Systemen weitere System/Umwelt-Differenzen zu erkennen.98 Die System/Umwelt-Differenzierung ist aber zugleich auch Ausdruck der im Systembegriff enthaltenen konstruktivistischen Grundhypothese, nach der Objekt und Erzeugungsprozess identisch sind. Die Bestimmung von (System-)Grenzen ist dann auch die Bestimmung von Identität, oder mit Luhmanns Worten: „Grenzerhaltung (boundary maintenance) [ist] Systemerhaltung.“99 Die Systemtheorie scheint nun gerade insofern für eine Beschreibung „der“ Kunst eine aufschlußreiche Theoriegrundlage zu bilden, als sich damit nicht mehr eine hierarchische Stellung des Systems Kunst, sein genuiner Anteil am Fortschrittsprozess der Gesellschaft oder eine herausragende ideologiekritische Funktion herauspräparieren lässt. Jedes System fungiert für sich autonom und kann jeweils als System oder als Umwelt und damit auch mit seinen Wechselwirkungen beobachtet werden. Es gibt keine Instanz mehr, die darüber entscheidet, welchen Normen eine bestimmte Ästhetik zu folgen habe: „Es geht nicht mehr um Kritik, nicht mehr um Theorie, nicht mehr um begründete Urteile auf einer Ebene der Reflexion, die sich zum Kunstbetrieb selbst in beobachtender Distanz hält. Die akademische Ästhetik ist abgeschrieben; sie sagt der Kunst nichts mehr (wenn man Künstler fragt). Nicht mehr die Phänomene (welcher Art immer) zählen, sondern der performative Selbstwiderspruch, die auf sich selbst zurückwirkende „Dekonstruktion“. Man sucht Möglichkeiten einer Selbstinszenierung der Kunst auf der Ebene von Operationen, die sich als Kunstwerke – und das bleibt der in die Selbstnegation einbezogene Anspruch – der Beobachtung stellen.“100
mehr die spezifische Funktion des anderen erfüllen kann.“ N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 219. 97 Vgl. N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S.33. 98 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 35ff. 99 Ebd., S. 35. 100 N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 479.
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Theater als Ort der Utopie Nun ist es aber erstaunlicherweise so, dass Luhmann mit der Übernahme des Modells der Evolutionstheorie nicht nur eine implizite Naturalisierung festschreibt,101 sondern auch so, dass er über den Begriff des „Beobachtens zweiter Ordnung“, der in besonderer Weise das Kunstsystem auszeichne, entgegen der eigenen Intention implizit eine Privilegierung des Kunstsystems gegenüber anderen Systemen bestätigt. Luhmann verweist affirmativ auf den Begründer der philosophischen Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten, der die sinnliche Erkenntnis gegenüber der rationalen aufgewertet habe. Er übernimmt damit die innerhalb der philosophischen Tradition kanonisierte Lesart, nach der die Ästhetik, als Lehre von der „Aisthesis“, die affektive Seite der Wahrnehmung zum Thema macht und modifiziert sie nur insofern, als er Schönheit und Perfektion, die zentralen Kategorien, unter denen dieser Diskurs seit dem 18. Jahrhundert steht, aus der Untersuchung ausklammert und stattdessen, über den Begriff der Beobachtung, Wahrnehmung und Kommunikation zusammenführt.102 Gemäß der Absage an eine transzendente und transzendentale Erkenntnistheorie ist es die Beobachtung und nicht ein „extramundanes Subjekt“,103 die eine Unterscheidung trifft und das System von seiner Umwelt bzw. Formen voneinander zu trennen vermag. Wie in „Die Kunst der Gesellschaft“ erläutert, spielt der Aspekt der Beobachtung gerade innerhalb des Systems Kunst aber eben eine entscheidende Rolle. Nicht nur die Herstellung eines Kunstwerks ist bereits Beobachtung. Auch die Betrachtung eines Kunstwerks ist Beobachtung und damit Beobachtung zweiter Ordnung, wodurch dem Aspekt der Selbstreferentialität im System Kunst ein außerordentlicher Status zugewiesen wird.104
101 Die Systemtheorie habe, Sigrid Weigel zufolge, Erklärungsmechanismen der traditionellen Evolutionstheorie, in denen Zufall und Mutation einen zentralen Stellenwert einnehmen, durch den aus der Kybernetik kommenden Modus der Selbstregulation ersetzt. So sollten Kräfte des Evolutionsgeschehens, wie das Verhältnis von Phäno- und Genotyp oder von genetischer Information und epigenetischen Entwicklungen, einsichtig gemacht werden können. Weigel weist nach, dass Luhmann durch die Übertragung des Evolutionsbegriffs auf die Systemtheorie deren Entwicklungsachse vernachlässigt wird. Veränderungen würden, da sie nurmehr über die Mechanismen der Variation, Selektion und Stabilisierung erklärt würden, entzeitlicht. Vgl. Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München: Fink 2006, S. 206f. 102 N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 29f. 103 Ebd., S. 95. 104 Ein Kunstwerk als Kunstwerk zu identifizieren läuft „über ein Beobachten des Beobachtens, über ein Beobachten der Disposition des Künstlers, die
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie Luhmann ersetzt jenseits einer Inhalts- oder Regelästhetik oder auch eines gattungsdifferenzierenden Begriffs – und damit jenseits einer ontologischen Bestimmung von Kunst – die Analyse des Was durch die des Wie.105 Nicht der Gebrauch einer Substanz/AkzidenzUnterscheidung, sondern die Analyse der Differenz Medium/Form soll schließlich an die Stelle jeglicher substantialistischer Annahmen gestellt werden. Während die Form die (historischen) Differenzen in der Folge und die Differenzen zu anderen Formen offenlegt, bezeichnet das Medium die Art und Weise, in der die jeweilige Form vermittelt ist – mehr oder weniger festgelegt durch Rahmung, Material, Topographie, oder einen imaginierten Raum. Diese neuen Analysekategorien zeigen an, dass der systemtheoretische Zugriff darum bemüht ist, essentialistische Lesarten zu vermeiden. Allerdings zeigt sich, anhand der Herleitung von Luhmanns Begrifflichkeit, dass Luhmanns Diagnosen selbst nicht außerhalb von Texten liegen, mit Hilfe derer sich eben dieser Status des Selbstreflexivwerdens innerhalb des Systems Kunst auch anzeigen lässt. Auch für traditionell begriffsgeschichtlich arbeitende Autoren war es von jeher eine Selbstverständlichkeit, dass die Moderne Ausdruck eines Modus der Selbstreflexivität sei und Kunst genau das System, das diese Modusveränderung anzeige. In dem Aufsatz „Weltkunst“ kommt Luhmann auf den Anteil des deutschen Idealismus und der Romantik an einer gesteigerten Selbstreflexion und Autonomisierung des Systems Kunst zu sprechen, wodurch der These der genuinen Selbstreflexivität des Systems Kunst noch einmal Nachdruck verliehen wird. Von einem Kunstsystem lässt sich demgemäß erst sprechen, als es in der Kunst bzw. der Kunstrezeption – analog zu dem von Koselleck analysierten Kollektivsingular „Geschichte“ – zum Modus zweiter Beobachtung kommt: „Man kann die Reflexionsbegrifflichkeit des deutschen Idealismus und der Romantik als ein erstes Experiment mit einem unterscheidungsgeleiteten Be-
genau darauf gerichtet ist, durch Rejektion aller anderen Unterscheidungen als irrelevant die Aufmerksamkeit auf sich selber zu lenken. Hat man ein Objekt als Kunstwerk identifiziert, so kann man es als solches betrachten und als Thema für Kommunikationen verwenden. Einem Beobachter zweiter Ordnung wird dies nicht genügen. Er wird dem Kunstwerk selbst weitere Beobachtungen entnehmen und nur, wenn diese gelingen, es als Kunstwerk identifizieren wollen. Dazu muss er das Kunstwerk anhand der Formen beobachten, die in das Werk selbst eingearbeitet sind. Auch dies sind immer Differenzformen mit der Besonderheit, dass auf der einen Seite etwas festgelegt ist, was der anderen Seite den Spielraum des Beliebigen nimmt.“ Ebd., S. 119. 105 Vgl. ebd., S. 163.
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Theater als Ort der Utopie obachten ansehen und historisch darin die Semantik einer Übergangsperiode erkennen.“106 Die „Funktion“ der Kunst liegt schließlich nicht mehr darin, das Wahre, Schöne, Gute sinnlich zu vergegenwärtigen oder die Idee einer „imitatio“ zu verfolgen. Sie vermag vielmehr, jenseits einer normativen Ästhetik oder einer funktionalen Zweckgerichtetheit, über die unendliche Ausdifferenzierung der Formenkombinationen, die allein durch die Eigendynamik des Marktes und die Ausrichtung am jeweiligen Neuheitswert reguliert werde, Kunst als Kunst qua Selbstreferenz auszuzeichnen. Auch wenn sie nicht prinzipiell aufgegeben würden, verlören moralische Erbauung und Belehrung, so Luhmann, zunehmend ihren Geltungsanspruch.107 Einerseits ist das Neue damit auch im Luhmann’schen System eine künstlerische Kategorie par excellence. Dies geschieht nicht nur, so Luhmann, weil sich das Neuheitsbewusstsein parallel zur Ausdifferenzierung der Gesellschaft entwickelt habe, sondern, weil sich an ihr überhaupt die Unterscheidungen ablesen ließen, die das System als Selbsterhaltung braucht.108 Da das Neue aber ein Effekt der Selbstreferenz ist, wird Zeit zu einer Leerstelle im System, was auf eine Antinomie im Ansatz der Systemtheorie, denkt man sie tatsächlich universell, hinweist. Die Vorstellung eines unbewegten Bewegers bleibt erhalten. Das System erhält sich durch die Differenz zur Umwelt selbst, alles, was außerhalb davon stattfindet, ist nicht Teil des Systems und deshalb als ideell widerstreitende Voraussetzung irrelevant. Alternative kunsttheoretische Ansätze zum Status der Kunst, die nicht mit Luhmanns konstruktivistischer Theorie konform gehen – etwa solche, die der Kunst nach wie vor eine Funktion im Sinne einer teleologisch instrumentierten Ideologiekritik zugestehen (vgl. Kapitel I.) – sind Bestandteil des Systems und damit, zugespitzt formuliert, zu einer Spielart des Systems geworden. Tatsächlich stehen einzelne Entwürfe von ästhetischer Erfahrung, um die es im folgenden Kapitel gehen soll, jedoch quer zum 106 Niklas Luhmann: „Weltkunst“, in: Ders./Frederick D. Bunsen/Dirk Baecker (Hg.): Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux 1990, S. 7-45, S. 11. 107 Vgl. N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 251. Luhmann folgt hier in einer historisch affirmativen Lesart dem Begriff des „interesselosen Wohlgefallen“, den Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ entwickelt hat. Dieser zeige, so Luhmann, die Selbstprogrammierung des Kunstsystems an. Vgl. ebd., S. 329f. 108 Vgl. ebd., S. 339. Dieser „take off“, wie Luhmann diese Strukturveränderung innerhalb der Evolution des Kunstsystems bezeichnet, habe weltgeschichtlich (!) absolut singuläre Bedeutung und zeige schließlich die Konstanz der einmal erreichten Perfektion an. Vgl. ebd., S. 381.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie metaphysikkritischen Begriff der Systemtheorie. Bestimmte Positionen innerhalb der Ästhetik entziehen sich in letzter Konsequenz dem „Credo“ der Systemtheorie und lassen sich ausschließlich von der Systemtheorie selbst als selbstreferentielle Diskursbewegung beschreiben. Für die Betrachtung bestimmter kulturwissenschaftlicher Narrative bedeutet dies, dass sich offenbar – nach wie vor – unterschiedliche Universaltheoreme unvereinbar gegenüberstehen. Im weiteren Verlauf der Diskussion soll deshalb gezeigt werden, wie sich Kontinuitäten innerhalb von Diskursen halten, die, anders als in Luhmanns Systemtheorie, Reste metaphysischer Letztbegründungen enthalten. Vorgestellt werden sollen demgemäß Konzepte zur ästhetischen Erfahrung, die auch das Diskursfeld der Theaterwissenschaft entscheidend prägen. Vor allem die Kontrastierung mit traditionellen Texten der Ästhetik – namentlich Schiller und Kant – soll zeigen, dass die gegenwärtigen Konzepte der ästhetischen Erfahrung in sich widersprüchlich sind. Zum einen wird, wie auch Luhmann konzediert, das Konzept einer normativen Ästhetik abgelehnt. Zum anderen wird, anders als bei Luhmann, mit dem Konzept einer ästhetischen Erfahrung durchaus eine „ethische Option“ (Lehmann) verbunden. Also eine Funktionsbestimmung, die im Widerspruch zum Begriff des Normverlustes steht. Abseits einer Epochendifferenzierung von „modern“ versus „postmodern“ soll im weiteren Verlauf der diskursive Rahmen bestimmt werden durch die Gegenüberstellung der Rede und Gegenrede von Kunst als Ort der Utopie. Diese Kontrastierung soll in dem Sinne verstanden werden, dass Utopie als Sinnorientierungsangebot innerhalb einer Gesellschaft fungiert, in dem auch die Entscheidung für eine bestimmte Funktion von Kunst, respektive ästhetischer Erfahrung, als Resultat einer (Re-)Aktivierung und Selektion traditioneller Denkmuster anerkannt wird. Diese wiederum kann nicht auf ontologische Vorannahmen zurückgeführt werden, noch kann sie allein als Effekt eines Modus der Selbstreferentialität, wie Luhmann vorgibt, interpretiert werden.109
109 Hierzu passt die Revision des konstruktivistischen Ansatzes durch Siegfried J. Schmidt. Beobachtet werden müsse, „wer in welcher Situation zu welchem Zweck die Wahrheitsfrage stellt“. Demgemäß folgt Schmidt der Prämisse, dass Sinnstrukturen als Effekte von Setzungen und Voraussetzungen ohne ontologische Vorannahmen verstanden werden müssten. Alle Menschen (Aktanten) seien in Geschichten und Diskurse verstrickt, die dem Komplementärzusammenhang von Setzungen und Voraussetzungen (Selektionen) folgten, um „die Sozialität ihres Handelns und Kommunizierens zu ermöglichen“. Siegfried J. Schmidt: Geschichten & Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus, Hamburg: Rowohlt 2003, S. 140 u. 25.
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Theater als Ort der Utopie
II.4 II. 4 Rede und Gegenrede von Kunst als „Ort der Utopie“
ODER
II.4.1 ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG APORIEN EINES NEUEN KONZEPTS DER ÄSTHETIK
Geschichts- und wissenschaftstheoretische Untersuchungen haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass ontologische Vorentscheidungen, die wissenschaftliche Erkenntnisse unbemerkt vorstrukturieren, einer nachhaltigen Kritik unterzogen wurden. Bemerkenswert selten trifft man auf derartige Überlegungen dagegen in den Kunstwissenschaften, insbesondere in der jüngeren Theorie und Historiographie zu einem (neo-)avantgardistischen Theater. Das vorliegende Kapitel will einen Schritt in diese Richtung unternehmen und zwar, indem es einerseits auf die Herkunft des Topos der Utopie verweist und andererseits verschiedene Ästhetik-Konzepte des 20. Jahrhunderts kontrastiert. Damit sollen nicht nur Traditionslinien und Kontinuitätsbildungen bestimmter ideologiekritischer Vorstellungen aufgezeigt werden, die die Matrix eines Großteils theaterund kunsttheoretischer Überlegungen bilden. Der Vergleich der verschiedenen ästhetischen Konzepte soll zudem vor Augen führen, dass keiner der innerhalb des Diskursfelds „Theater und Kunst“ diskutierten Vorschläge zu einer Funktionsbestimmung von Kunst universalisierbar ist, und das obwohl – oder vielmehr gerade weil – die Begründungslast dafür in der Regel auf einem emphatischen Begriff der ästhetischen Erfahrung aufruht. Um diese These zu erläutern, bedarf es zunächst einer Erörterung des Status von Ästhetik und ästhetischer Erfahrung. Voraussetzung für die Entwicklung des Begriffs der ästhetischen Erfahrung, wie man ihn heute in der Regel verwendet, ist der um die Mitte des 18. Jahrhunderts spürbar werdende, allgemeine Bewußtseinswandel, der sich, als Reaktion auf die Erosion metaphysischer Gewissheiten, unter anderem in einem gesteigerten Fortschrittsdenken ausspricht. Auch Kunst und Kunsttheorie geraten in den Sog dieser gedanklichen Bewegung.110 Wie schon anhand
110 Zu den Texten, die diesen Wandel markieren, werden in aller Regel gezählt: Alexander Gottlieb Baumgartens „Texte zur Grundlegung der Ästhetik“ und Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“. Baumgarten, der Begründer der Ästhetik, schreibt hierzu: „Die Ästhetik (Theorie der freien Künste, untere Erkenntnislehre, Kunst des schönen Denkens, Kunst der Vernunft ähnlichen Denkens) ist Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.“ Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, Hamburg: Meiner 1983, S. 13. Zur Autonomie-Debatte siehe auch: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Revolution und Autonomie: Deutsche Autonomie-
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie der Entwicklung von Niklas Luhmanns Systemtheorie erörtert wurde, wird Kunst seitdem weitgehend der Status der Autonomie und Selbstreflexivität zuerkannt. Das Zusammenspiel von Reflexion und Sinnlichkeit avancierte unter wirkungsästhetischen Gesichtspunkten zu einer bedeutungstragenden ästhetischen Kategorie. Mit der Formierung der Ästhetik als philosophischer Disziplin ergab sich, so Christoph Menke, eine „Neubestimmung des Sinnlichen“ gegenüber dem Rationalen, die zunächst die Erfahrung des Schönen „als eine Selbstreflexion (Herv. i. O.) der gewöhnlich sinnlichen Vollzüge“ erfasste und damit schließlich die „moderne reflexive Bestimmung auf den Weg brachte“.111 Das sinnliche Erkennen wurde nun erstmals als aktiver Prozess eines sich seiner selbst vergewissernden Subjekts interpretiert.112 Es ist die Descart’sche Trennung von Geist und Körper, die bis zu jenem Zeitpunkt die rationalen Kräfte privilegierte und die nun mit der Entdeckung und vor allem der Thematisierung der Wahrnehmungsfähigkeit des Subjekts zu einer Neueinschätzung von Erkenntnis überhaupt führte. Von nun an entwickelt sich die moderne Ästhetik als eine „Theorie der ästhetischen Reflexivität im Medium des Kunstwerks“.113 Traditionelle Vorstellungen, die das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit meist unter normativen Richtlinien bestimmten – beispielsweise unter religiösen und politischen Vorgaben – verloren mit dem voranschreitenden Modernisierungsprozess und der Ausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft zunehmend ihre Legitimationsgrundlage. Eine Aufwertung der Erkenntnisdimension und der Erziehungsfunktion von Kunst beeinflusste vor dem Hintergrund der Autonomiediskussion nachhaltig das Konzept der künstlerischen Freiheit. Zunehmend verlor damit auf dem Theater die neoaristotelische Regelpoetik, die dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit im Zeichen einer imitatio-naturaeKonvention verpflichtet war, an Verbindlichkeit, während der gleichfalls aristotelische pädagogische Grundimpetus bestehen blieb.114 Welche erzieherische Funktion der ästhetischen Erfahrung zukommt und wie genau sie sich ins Werk setzen könnte, war allerdings von Anfang an umstritten. Seit ihrer Trennung von der praktischen Moralethik und der theoretischen Vernunftwahrheit durch Kant haben sich, so Ruth Sonderegger und Andrea Kern, zwei unterschiedliche „Ästhetikverständnisse“ entwickelt: Die eine Seite
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ästhetik im Zeitalter der französischen Revolution, Tübingen: Niemeyer 1990. Christoph Menke: „Die Reflexion im Ästhetischen“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 46/2 (2001), S. 161-174, S. 164f. Ebd., S. 165. Ebd., S. 167. Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung, S.28-33.
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Theater als Ort der Utopie nimmt die Rede von der Autonomie des Ästhetischen wörtlich und spricht der ästhetischen Erfahrung den Einfluss auf außerästhetische Zusammenhänge weitgehend ab (mit der Konsequenz, dass der Ästhetik als Disziplin innerhalb der Philosophie nur eine geringe Rolle zugestanden wird). Die andere Seite privilegiert demgegenüber die ästhetische Erfahrung als Instanz ethischer Erkenntnis, weil sie nicht interessegeleitet und zweckbestimmt sei und damit überhaupt erst die Erfahrung des Wahren und Guten ermögliche.115 Die Aufwertung von Reflexivität und Subjektivität sollte im 20. Jahrhundert schließlich auch die gängigen Vorstellungen darüber modifizieren, wie Kunst angemessen zu interpretieren sei. Dieser Perspektivwandel war eng in die Auseinandersetzungen um den philosophischen Begriff der Wahrheit eingebunden, in deren Zusammenhang das Phänomen der Kunstbetrachtung eine besondere Herausforderung darstellte. Die Kunst diente, wie Rüdiger Bubner schreibt, „als ein Medium, in dem die Philosophie Vergewisserung über ihren eigenen theoretischen Status sucht“.116 Im 20. Jahrhundert waren, Bubner zufolge, hierfür zwei Schulen bestimmend: „Die Hermeneutik, die im Gefolge von Heidegger und Gadamer das Verstehen von Wahrheit jenseits eingefahrener Erkenntnismethoden lehrt, und die kritische Auslegungskunst, die nach dem Vorbild Benjamins und Adornos hinter allen ideologischen Schein dringen will, konvergieren unzweifelhaft in der ästhetischen Problematik. Beiden nämlich gilt die Kunst als Ort einer Wahrheit, die gerade für die Philosophie eine paradigmatische Bedeutung gewinnt.“117
Im Verlauf der Emanzipationsbewegung der Kunst, die einen Angriff auf den geschlossenen Werkbegriff nach sich zog, kam es schließlich dazu, dass Konzepte, die einen ontologischen Ort des Auftretens von Wahrheit voraussetzten, zunehmend fragwürdig wurden.
115 Als „falsche Gegensätze“ bezeichnen Sonderegger und Kern diese Dichotomie, von der auch das problematische Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie selbst geprägt sei: Kunst werde in der Philosophie häufig marginalisiert, sie diene als Anregung für eine selbstreflexive Vergewisserung der Philosophie. Eine Annäherung der beiden konträren Positionen über die Anerkennung ästhetischer Erfahrung schlagen demgegenüber die Autorinnen vor. Vgl. Andrea Kern/Ruth Sonderegger: „Einleitung“, in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 7-15, S. 7ff. Vgl. hierzu auch: Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. 116 Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 11. 117 Ebd.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie Aus kunsthistorischer Perspektive hat Hans Belting die Entgrenzungsbewegung, die eine Auflösung des Werkbegriffs intendierte und für die sich im Anschluss an die historischen Avantgardebewegungen vor allem Fluxus-, Happening- und Body-Art-Künstler engagierten, als Widerstandsbewegung gegen einen traditionellen Kunstbegriff beschrieben: „Der Widerstand richtete sich seit etwa 1960 nicht gegen die Kunst, sondern gegen den veralteten Anspruch, die Idee der Kunst in einem monadischen Werk zu repräsentieren, das sie nicht einlösen konnte, aber keine anderen Aufgaben mehr besaß und deswegen das Monopol der Darstellung von Kunst an sich gerissen hatte.“118 Das stabile Werkideal, von dem sich – mit Auswirkungen auf die jüngere Debatte zum „performative turn“ –, die „Generation um 1960 emphatisch lossagte“, habe es jedoch, so Belting, nie gegeben. Es sei in Wahrheit „immer ein Produkt von Konflikten gewesen, auch von Konflikten zwischen der Kunst und den technischen Medien des Alltags […].“119 Konzepte, die nach wie vor einen geschlossenen Werkbegriff unterstellten, seien deshalb, wie Belting notiert, „am wenigsten geeignet, gegenwärtige Kunst auf den Begriff zu bringen.“120 Das ist nur einer der Gründe für die Vieldeutigkeit des Begriffs der ästhetischen Erfahrung, die von der Forschung schon vor 30 Jahren konstatiert wurde.121 Wie ein Blick in ein aktuelles Übersichtswerk zeigt, gilt dieser Befund unverändert. Der Begriff ästhetische Erfahrung, so Joachim Küpper und Christoph Menke, bezeichne nicht nur den Gegenstandsbereich der Ästhetik, sondern beziehe „alle Ebenen der Ästhetik – Kunstkritik, Kunstwissenschaften und Philosophie“122 auf die Erfahrung zurück. Dieser Umstand führte wiederum zu einer „Entgrenzung und Pluralisierung“ des „Feldes der Ästhetik“, das nun auch Design, Mode, Körpertechniken, Medien, Natur“123 umfasst. Hinter dieser Diffusion verbergen sich allerdings diverse Antinomien, wie an den unterschiedlichsten kunsttheoretischen Konzepten der Gegenwart abzulesen ist. So zeigt sich einerseits, dass die mit dem Terminus der ästhetischen Erfahrung verbundene Begriffserweiterung zwar auf die Abschaffung herkömmlicher idealistischer Kunstkonzeptionen zielte, gleichzeitig aber. wie in Kapitel I.1 118 Hans Belting: Szenarien der Moderne. Kunst und ihre offenen Grenzen, Hamburg: Philo & Philo Fine Arts 2005, S. 67. 119 Ebd. 120 Ebd., S. 34. 121 Vgl. Willi Oelmüller (Hg.): Ästhetische Erfahrung, Paderborn u.a.: Schöningh 1981. 122 Joachim Küpper/Christoph Menke: „Einleitung“ in: Dies. (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2003, S. 7-15, S. 7. 123 Vgl. ebd., S. 9.
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Theater als Ort der Utopie gezeigt, universalistische Implikationen bestehen blieben. Das wiederum hatte und hat zur Folge, dass teleologische Deutungsmuster (implizit) fortgeschrieben werden. Ein Beispiel dafür ist die in der zeitgenössischen Ästhetik mantrahaft wiederholte Behauptung, erst ästhetische Erfahrung ermögliche es, sich „in der Welt zu orientieren“, sie habe deshalb als „Gradmesser für das Gelingen einer Kultur“124 zu gelten. Die idealistische Blaupause dieser Kunstkonzeption ist kaum zu übersehen. Eine Reihe von Konzeptionen, die eine derart idealistische Ästhetik vertreten, sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Erika Fischer-Lichte etwa konzipiert den Begriff ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung.125 Aufgeladen mit ideologiekritischen Implikationen geht die „Metapher der ‚Schwelle‘“ davon aus, dass vor allem ästhetische Erfahrung die Möglichkeit generiere, jegliche Alltagserfahrungen und Wahrnehmungsgewohnheiten zu transzendieren. Dabei heißt es: „[N]ur wer sich auf das Risiko gesteigerter Kontingenz einlässt, wird mit weitreichenden Wirkungsversprechen belohnt […].“126 Für das Konzept der ästhetischen Erfahrung rekurriert Erika Fischer-Lichte dabei auf Victor Turners von Arnold van Gennep übernommenes Modell aus der Ritualforschung, demzufolge sich Riten in drei Phasen – Trennung, Schwelle, Angliederung – einteilen lassen.127 Den mittleren Zustand, den Turner als Zustand der Liminalität, als „labile Zwischenexistenz“ bezeichnete, überträgt Fischer-Lichte nun auf den Prozess der Rezeption von Theateraufführungen, während derer der Zuschauer eine ebensolche Transformation erfahren könne. Diese generiere weitere und neue Wahrnehmungsprozesse und Praktiken und ziele schließlich „auf Veränderung des ganzen Menschen“128 Problematisch ist hier allerdings nicht nur die Übertragung eines heuristischen Modells aus der Ritualtheorie auf den Bereich der ästhetischen Erfahrung. Vermischt werden hier Funktionen, die Riten – der älteren ethnologischen Forschung zufolge – innerhalb einer streng konventionalisierten Ordnung einer Gesellschaft einnehmen, mit Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen innerhalb gesellschaftlicher Praktiken, die alles andere als mit derartigen Ritualen vergleichbar sind. Wie in Kapitel III.3.3 gezeigt werden soll, ist für diese Konzeption vor allem der Nexus zwischen einer ästhetischen Erfahrung und der Utopie einer „Communitas“ von zentraler Bedeutung. Fraglich ist indes, ob es 124 Ebd., S. 11. 125 Vgl. Erika Fischer-Lichte: „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung“, in: J. Küpper/C. Menke: Dimensionen ästhetischer Erfahrung, S. 138-161. 126 E. Fischer-Lichte: Äuf der Schwelle, S. 9. 127 Vgl. ebd., S. 139. Hierzu siehe außerdem: Kapitel III.3.3 128 Ebd., S. 152.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie angesichts einer ausdifferenzierten Gesellschaft überhaupt möglich, respektive notwendig und sinnvoll ist, den mündigen Zuschauer mittels ästhetischer Erfahrung zu transformieren. Ähnliches gilt für Martin Seels Unterfangen, ästhetische Erfahrung als Teil einer „Ethik des guten Lebens“ zu entwerfen.129 In seiner „Ästhetik des Erscheinens“ geht es Seel darum, den „Begriff des Erscheinens so weit zu entfalten, wie es nötig ist, um ihn als einen aussichtsreichen Grundbegriff der Ästhetik zu etablieren“.130 Entscheidend für ein ästhetisches Bewusstsein sei das „spürende Sichgegenwärtig-Sein, das das Verweilen bei der sinnlichen Besonderheit von etwas begleitet. Die besondere Gegenwärtigkeit des Gegenstands der Wahrnehmung ist so an eine besondere Gegenwärtigkeit des Vollzugs dieser Wahrnehmung gebunden.“131 Als minimaler Begriff der ästhetischen Begegnung können, Seel zufolge, alle Objekte und Phänomene ästhetisch erfahren werden. Gerade diese Offenheit, die sich auch auf die sinnliche Betrachtung (Begegnung) von Alltagsgegenständen bezieht, versteht Seel auch als Offenheit für „viele weitere Bestimmungen“.132 Dabei favorisiert Seel einen kontextfreien Begriff von ästhetischer Erfahrung. Dieser solle zwar die Kategorien von Gegenwart und Zukunft nicht suspendieren, doch könne er verstanden werden als Entfernung von der je historischen Gegenwart und als „Suche nach einer verlorenen oder nie gewese129 Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 347. Wenn es nicht von Erkenntnisinteressen oder Handlungsintentionen dominiert ist, könne, Seel zufolge, alles, nicht ausschließlich Natur, zum Anlass „kontemplative[r] Empfänglichkeit“ werden, selbst die „Tektonik einer Plastiktüte“ oder „die Unordnung eines überquellenden Aschenbechers“. Das Charakteristikum ästhetischer Kontemplation sieht Seel dabei in der Absenz von allem, „was kulturelle Intention an ihren Gegenständen und Umgebungen ist; sie sieht Natur – die Lebendigkeit, das Momentane, Vergängliche, Veränderliche, das sinnfreie Werden und sinnfrei Gewordene – in allem, was sie empfindet und sieht.“ Seel betrachtet ästhetische Erfahrung in diesem Sinne immer auch als „eine ethische Erfahrung, und zwar in einem starken Sinn, der nicht auf regionale Kulturen und partikulare Lebensweisen beschränkt ist. […] Ein Korrektiv individueller und kollektiver Ideale des Lebens ist das Naturschöne ja gerade darum, weil es eine transsoziale Gegenwart erfüllter Zeit darstellt, in der zugleich Bedingungen der Möglichkeit sozialer Freiheit bekannt werden können.“ Vgl. ebd., S. 62, 69 u. 349. Eine Möglichkeit des Einwirkens ästhetischer Erfahrung auf Lebensführung und moralisches Handeln konstatiert auch Marcus Düwell. Vgl. Marcus Düwell: Ästhetische Erfahrung und Moral. Zur Bedeutung des Ästhetischen für die Handlungsspielräume des Menschen, Freiburg, München: Alber 1999, S. 317. 130 Vgl. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser 2000, S. 11. 131 Ebd., S. 60. 132 Ebd., S. 66.
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Theater als Ort der Utopie nen Zeit.“133 Die so verstandene ästhetische Erfahrung ermögliche es, „eine Anschauung der unverfügbaren Gegenwart unseres Lebens“134 zu gewinnen. Dieses idealistische Konzept von ästhetischer Erfahrung steht auch innerhalb der Theaterwissenschaft hoch im Kurs und befindet sich darüber hinaus in enger Nachbarschaft zum Konzept der „Atmosphäre“, das Gernot Böhme entwickelt hat. Gernot Böhme geht davon aus, dass grundlegend für Wahrnehmung „das atmosphärische Spüren von Anwesenheit“135 sei. Als universalistisches Theorem jenseits von kulturellen, ethnischen oder geschlechterspezifischen Codierungen entwirft Böhme, anknüpfend an seine These, unter anderen die Kategorien des Atmosphärischen und der Atmosphäre als „quasi objektive“ in actu sich vollziehende Wahrnehmungsgegenstände, deren Eigenschaft ihm zufolge als „zwischen Subjekt und Objekt“136 changierend beschrieben werden kann. Die Anerkennung der Atmosphären bzw. des Atmosphärischen soll nach Böhme den Blick auf diese besonderen Wahrnehmungskategorien lenken, die von der Ästhetik bisher vernachlässigt worden seien. Vor jeder weiteren sinnlichen Ausdifferenzierung, die zugleich eine Distanzierung des Atmosphärischen bedeute, artikuliert sich, Böhme zufolge, in diesem Spüren von Anwesenheit das „Spüren von mir als Wahrnehmungssubjekt wie auch das Spüren der Anwesenheit von etwas“.137 Dieses spezifische Verständnis von Wahrnehmung bleibt aber nicht allein auf die Ebene des Empfindens beschränkt. Böhme versteht sein Konzept auch als ästhetische Praxis zur Erweiterung bestimmter Fähigkeiten138, als „Kritik an der Naturwissenschaft“, als „Forderung einer ästhetischen Erkenntnis der Natur, und damit einer Bestimmung der Grenzen ihrer naturwissenschaftlichen Erkenntnis.“139 Die „Produktion von Atmosphäre“ sei die „eigentliche Aufgabe ästhetischer Arbeit“, ihre „Rezeption in handlungsentlasteter Situation“ die „charakteristische Kunsterfahrung“.140 Gegen diese Ontologie der Anwesenheit, die nach dem Verabschieden der Substanzontologie, die dem „Zwischenphänomen[en] (Herv. i. O.)“ Atmosphäre eine „selbständige Seinsweise“141 zuschreibt, obwohl zugleich jegliche Sub133 Ebd., S. 67. Seel unterscheidet drei verschiedene Formen des „Erscheinens“. Vgl. ebd., S. 150ff u. 186. 134 Ebd., S. 9. 135 Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München: Fink 2001, S. 42. 136 Ebd., S. 54. 137 Ebd., S. 45. 138 Vgl. ebd., S. 177. 139 Ebd., S. 182. 140 Ebd., S. 187f. 141 Ebd., S. 55.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie stanzontologie als verabschiedet gelten soll, hat Michael Hauskeller zu Recht Widerspruch eingelegt.142 Die Ursache derartiger Antinomien nun, die sich über eine idealistische Bestimmung von ästhetischer Erfahrung ergibt, liegt meist in der Konzeption solcher Theorien selbst. Problematisch sei, so Rüdiger Bubner, dass beispielsweise künstlerische Werke in den Dienst ästhetischer Theorie gestellt würden und damit gleichzeitig den Werken ein Impetus oktroyiert würde, der in sie ein vorentschiedenes Resultat lege und damit erlaube zu bestimmen, was beispielsweise als avantgardistisch gelte und was nicht.143 Bubner bemerkt hierzu kritisch: „Auf diese Weise wird Ästhetische Theorie selbstgenügsam und schließt sich in einer narzisstischen Spiegelung gegen Zweifel und Erschütterung von außen ab. Fremdes kann ihr nicht begegnen, Neues wird sie nicht erfahren, denn auf jede Möglichkeit hat sie sich vorab schon ihren Reim gemacht. Demgegenüber heißt Erfahrung aber die Bereitschaft zum Unvorhergesehenen, die sich durch keine Theorie anwenden lässt.“144 Worauf Bubner hinweist, nämlich, dass vielen zeitgenössischen Konzeptionen von ästhetischer Erfahrung die Tendenz innewohnt, die eigene Position – und damit die jeweils präferierte praktische Ästhetik – gegen Kritik abzudichten, zeigt, dass man dem Selbstanspruch der Autoren, jegliches Utopiedenken hinter sich gelassen zu haben, nicht unbedingt blind vertrauen sollte. Es stellt sich im Folgenden die Frage, auf welche traditionellen Denkmuster die hier angeführten Konzeptionen von ästhetischer Erfahrung zurückgreifen, so dass es schließlich in der jüngeren Theater- und Performancewissenschaft zu einer implizit normativen, kryptoidealistischen Konzeption von avantgardistischem Theater gekommen ist, die die
142 Wie Michael Hauskeller expliziert, könne das Konzept nicht erfüllen, was Böhme ihm abverlange, „denn wenn die Atmosphäre, die von einem Kunst-werk ausgeht, dieselbe ist, wie die, die mit seiner Hilfe kennengelernt werden soll, dann ist nicht einzusehen, warum wir dadurch lernen sollten, besser mit ihr umzugehen, als wir es vorher vermochten, als sich die Kunst ihrer noch nicht angenommen hatte.“ Michael Hauskeller: „I could go for something Koons. Neue Ästhetik und Kommunikative Kunst“, in: Ziad Mahayni (Hg.): Neue Ästhetik: Das Atmosphärische und die Kunst, München: Fink 2002, S. 173-182, S. 180f. 143 Vgl. R. Bubner: Ästhetische Erfahrung, S. 90. 144 Ebd., S. 91. So trifft auf der Ebene ästhetischer Theorie zu, was Carsten Zelle auf der Ebene der Periodisierungsschemata und Epochenglie– derungen als Problem einer einheitlich konstruierten Ästhetik begreift: „Die gegenläufige Ambiguität des Gegenstandes muss erst zum Verschwinden gebracht werden, damit der Witz seines Interpreten und die Homogenität seines methodischen Zugriffs triumphieren kann.“ C. Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 5.
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Theater als Ort der Utopie Theoriediskussion noch an der Schwelle zum 21. Jahrhundert beherrscht (vgl. Kapitel I.). Um einer Klärung näherzukommen, soll zunächst eine Erörterung von exemplarischen Texten zur Kunst (also nicht zu Mode, Design, Körpertechniken oder Natur) unternommen werden, die, obwohl in ihnen das Theater meist nur am Rande eine Rolle spielt, dennoch zu Stichwortgebern für die Theorie und Historiographie des sogenannten Avantgarde- und Performancetheaters geworden sind. Sie wird unter anderem zeigen, dass beispielsweise Adornos, Lyotards und Deleuzes Positionen zur Kunst im Rückgriff auf Kant auf der Anerkennung von Kunst als vernunft- und/oder gesellschaftskritischer Instanz beruhen. Ästhetischer Erfahrung wird hier die Möglichkeit eines Korrektivs außerästhetischer Wahrnehmung und damit auch Einfluss auf kunstexterne Diskursfelder und Praktiken zuerkannt. Neben Niklas Luhmanns metaphysikkritischem Entwurf, auf dessen Antinomien bereits hingewiesen wurde, haben Arnold Gehlen und Odo Marquard Kunst nur eine marginale Bedeutung innerhalb einer ausdifferenzierten Gesellschaft zugebilligt. Vor allem im Bereich der Avantgarde-Forschung ist diese „antiutopische“ Haltung heute ebenfalls anzutreffen (vgl. Kapitel IV.4). Dabei fällt auf, dass der Verweis auf derart utopieskeptische Konzepte innerhalb des Diskursfelds zur ästhetischen Erfahrung erheblich geringer ausfällt als der Verweis auf jene, die einen emphatisch ideologiekritischen Impetus verfolgen. Kurz: Die idealistische Bestimmung von Kunst, wie sie in Diskursen um 1800 vorherrschend war, ist bis heute prägend.
II.4.2 ZUM STATUS VON UTOPIE UND FREIHEIT IN TRADITIONELLEN TEXTEN DER ÄSTHETIK Auch wenn die Wortbedeutung von Utopie145 den Begriff zunächst topographisch definiert, hat er doch immer auch eine zeitliche Dimension. Denn der Traum von einer wahren und gerechten Lebensordnung unternimmt eine Gegenwartskritik, die als solche wesentlich auf eine verbesserte Zukunft verweist, ob diese Verbesserung nun in dieser oder auch erst in einer anderen Welt erwartet wird.146 Seit Thomas Morus’ „Utopia“ (1516) fußen, wie Ferdinand Seibt gezeigt hat, die weitaus meisten utopischen Entwürfe auf ähnlichen
145 Zum Utopiebegriff und seiner Kritik siehe auch: Arnhelm Neusüss (Hg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Frankfurt a.M.: Campus 1986. 146 Vgl. Ferdinand Seibt: Utopica. Zukunftsvisionen aus der Vergangenheit, München: Orbis 2001, S. 10.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie Grundannahmen: Sie gehen aus von der Perfektibilität des Menschen, sie sind konnatural und beruhen auf der vorausgesetzten Übereinstimmung zwischen dem Denkbaren und dem Wirklichen und sind deshalb auf eine in der Welt befindliche Bedürfnisbefriedigung abgestellt und nicht jenseitsbezogen. Zudem entspricht der Glaube an die erkennbare Objektivität von Welt dem Glauben an ihre Veränderbarkeit, weswegen utopische Entwürfe getragen sind von der rationalistischen Erfassung der menschlichen Gesellschaft.147 Wie Seibt am Beispiel der utopischen Entwürfe des Mittelalters in Deutschland belegt, gibt es eine große Übereinstimmung zwischen revolutionären, sprengenden Programmen und konservativen, konservierenden Ideologien. Nach Seibt unterscheiden sich historische Utopien insofern von funktionalen, als erstere auf ein „goldenes Zeitalter“ zurückgreifen, um es wiederherzustellen, während letztere für alle Zukunft an einem anderen Ort den geschichtlichen Wandel aufheben möchten. Zentral in Seibts Erörterung ist, dass beide Konzepte dennoch ein Verhältnis zum Transzendenten beanspruchen: Zum einen als Rechtfertigung für Lohn und Strafe, zum anderen, um die Allgemeingültigkeit sittlicher Normen und Gesetze abzusichern.148 In den politischen und ästhetischen Schriften des deutschen Idealismus sind beide Konzepte gleichermaßen präsent, allerdings löst nun die Kunst Religion und Politik als wichtigsten Resonanzraum utopischer Hoffnungen ab. Utopie wird hier nicht nur zum Erwartungsraum (Koselleck), sondern gleichfalls zur Erwartungszeit. Mit den Worten des Herausgebers der Briefe Friedrich Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795), Klaus L. Berghahn, „markiert“ Schillers „ästhetische Utopie“ einen „Wendepunkt in der Geschichte utopischen Denkens.“149 Nicht mehr im Staatsroman, sondern „im Kunsterlebnis“ selbst entwirft Schiller in Kritik an der als prekär erfahrenen Gegenwart – hier ist als empirisches Datum vor allen Dingen die Reaktion auf die negativen Auswirkungen der Französischen Revolution zu nennen – eine „Sozialutopie.“150 Die Kultur selbst, also Kunst und Gelehrsamkeit, haben – das Echo Rousseaus ist deutlich zu vernehmen – zur Depravation des Charakters des Menschen beigetragen und die harmonischen Kräfte „entzweyt“, wie Schiller im 5. und 6. Brief schreibt.151 Die 147 Ebd., S. 252f. 148 Vgl. ebd., S. 51. 149 Klaus L. Berghahn: „Nachwort. Ästhetische Utopie und schöner Stil“, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart: Reclam 2000, S. 253-286, S. 272. 150 Ebd., S. 268. 151 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart: Reclam 2000, S. 18ff.
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Theater als Ort der Utopie durch Kunst zerstörte Totalität der Natur soll schließlich durch eine „höhere Kunst“ wiederhergestellt werden; sie stellt das Werkzeug zur Veredelung des Charakters dar, der, nach Schillers Worten, auf der einen Seite roh, auf der anderen schlaff, erst gebildet werden muss, und gleichsam die Basis darstellt für eine „moralische Staatsverbesserung.“152 Oberstes Telos der Schiller’schen Ästhetik ist die Freiheit des Menschen. Mit den Mitteln der Kunst, also durch Schönheit, soll der Mensch wieder zu einem vollendeten Ganzen werden. Erst diese Ganzheit ermöglicht, wie Schiller im 17. Brief notiert, wahre Freiheit. Kunst und ästhetische Erfahrung werden hier ganz offensichtlich zu ethischen Kategorien, denn sie sind die Voraussetzung der Bildung des Menschen zu Freiheit und Sittlichkeit. Das Vertrauen in diese Zukunft ist dabei durchaus gebrochen. Der von Antinomien durchzogene Argumentationsweg Schillers lässt die mögliche Nichtrealisierbarkeit dieses Ideals auf empirischer Basis in den Briefen anklingen.153 In seiner ästhetischen Utopie führt Schiller nicht so sehr Rousseau’sche als vielmehr Kantische Motive fort. Während bei Kant in erster Linie die Vernunft Garant für die Möglichkeit einer Verbesserung des Menschen ist, nimmt bei Schiller die ästhetische Erfahrung diese Stelle ein. Er übernimmt diese Kategorie zwar ebenfalls von Kant, doch seine Deutung geht weit über das hinaus, was Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ vorgesehen hatte. Gleichwohl bildet die „Kritik der Urteilskraft“ einen so wichtigen Bezugsrahmen für die ästhetischen Utopien des Deutschen Idealismus und ihr Fortleben in der Gegenwart, dass es sinnvoll erscheint, ihre zentralen Argumentationslinien hier noch einmal in Umrissen nachzuzeichnen. Kant, der Kunst- und Naturerfahrung ungetrennt voneinander denkt, analysiert in der „Kritik der Urteilskraft“ die Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Urteile über das Schöne und scheidet dabei das Erkenntnis- vom Geschmacksurteil. Während ersteres immer auf ein Objekt bezogen zustande kommt und damit zweckgebunden ist, soll das Geschmacksurteil subjektbezogen ein freies Urteil, ohne alles Interesse – und damit unterschieden von dem parteiischen Gefühl des Angenehmen (Glückseligkeit) oder des Guten (Moral) – sein. Dennoch soll es Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Private Gründe scheidet Kant dabei aus und erklärt, wie in
152 Ebd., S. 29. 153 Ausdrücklich verweist Carsten Zelle auf die antinomische Struktur und das nahezu abrupte Ende der Briefe hin. Dieser Argumentationsstil sei ein Indiz, das gegen „vulgäridealistische Trivialisierungen“ spreche. Vgl. C. Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne, S. 174ff.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie der praktischen Ethik, einen Gemeinsinn zur Grundlage des Geschmacksurteils.154 Das a priorische Prinzip der Sittlichkeit, das Kant in seiner praktischen Philosophie entwirft und das auch seine Überlegungen zur politischen Philosophie bestimmt, erfährt in der „Kritik der Urteilskraft“ nun eine andere, gleichwohl von den Gedanken einer praktischen Ethik bestimmte Umwertung. Ausdruck dieser Reformulierung ist nicht nur, dass Kant die in den ersten beiden Kritiken getrennten Kategorien von theoretischem Verstand (Naturwahrnehmung) und praktischer Vernunft (Vernunftideen) in der „Kritik der Urteilskraft“ vor allem mit der Begründung über eine Naturteleologie zu verbinden sucht, sondern auch, dass der politische Gedanke der Freiheit prinzipiell einen prominenten Stellenwert einnimmt. Er durchzieht gleichsam Kants gesamtes Systemdenken.155 Vor allem in den nachkritischen, der politischen Philosophie zugewandten Schriften wird der Grundgedanke der Freiheit als noch utopisches, gleichwohl verpflichtend anzustrebendes Ziel dann immer deutlicher formuliert. Mit ihm lässt sich auch das Prinzip der Freiheit im Geschmacksurteil, wie in der „Kritik der Urteilskraft“ entworfen, nachvollziehen. Ein Blick auf die Kantischen Grundgedanken zu einer praktischen Philosophie soll diese Reformulierungen verdeutlichen, denn der Anspruch auf eine Freiheit im Urteil nimmt in der „Kritik der Urteilskraft“ auf ästhetische Urteile bezogen eine Schwerpunktverlagerung ein, bleibt aber an die politische Idee der Freiheit immer gebunden. Kants mit der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) vollzogener revolutionärer Nachweis für die theoretische Philosophie, dass die Metaphysik keine Letztgewissheiten über die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes treffen kann, sollte schließlich auch für die praktische Philosophie, die Welt des Handelns gelten.156 Anders als die theoretische Vernunft, der die Aufgabe zukommt, die Erscheinungswelt verständlich zu machen, kommt demnach der praktischen Vernunft die Aufgabe zu, die in der Welt der Erscheinungen liegende Ordnung durch eine vom Sit-
154 Kant schreibt: „So kann er keine Privatbedingungen als Gründe des Wohlgefallens auffinden, an die sich sein Subjekt allein hängte, und muss es daher als in demjenigen begründet ansehen, was er auch bei jedem anderen voraussetzen kann; folglich muss er glauben Grund zu haben, jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten.“ I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 48. 155 Vgl. Hans Saner: Widerstreit und Einheit. Wege zu Kants politischem Denken, München: Piper 1967, S. 15f. 156 Vgl. Otfried Höffe: Immanuel Kant, München: Beck 2000, S. 170.
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Theater als Ort der Utopie tengesetz geprägte Ordnung zu ergänzen.157 Die Einschränkung der Freiheit des Einzelnen resultiert als Vernunftgebot aus dem äußeren Freiheitsbegriff. Die Zwangsgesetze ergeben sich damit aus der reinen a priori gesetzgebenden Vernunft, die auf keinen empirischen Zweck rückgeführt werden kann. Ähnlich wie Hobbes, der als Erster den Freiheitsbegriff von theologischen Implikationen löste und politisch begriff, argumentiert Kant mit einem vorstaatlichen Naturzustand, den es mit Hilfe eines Vertrags zu überwinden gilt. Anders jedoch als Hobbes’ zweckrationale Begründung, die schließlich für das Einsetzen eines Souveräns argumentiert, stellt für Kant der Vertrag ein a priori geltendes Gebot der Vernunft dar. Nicht nur soll dieser dem Gesetzgeber als Maßstab dienen, um gerechte Gesetze zu erlassen. Als Postulat der Vernunft ist die Freiheit ein Begriff, der bereinigt ist von allen Naturgegebenheiten. Er bildet somit die Basis für die Autonomie des Willens dar. Auch innerhalb der sinnlichen Erfahrung spielt der Begriff der Freiheit bei Kant die entscheidende Rolle, die dann zu der vielfältigen Rezeptionsgeschichte des Autonomiebegriffs der Kunst führen wird. Der Begriff der Freiheit wird in der „Kritik der Urteilskraft“ nun aber so verfasst, dass Freiheit im Geschmacksurteil weder moralisch konnotiert sein soll, noch an einem theoretischen Erkenntnisvermögen orientiert ist. Weder Erkenntnis, noch Moral dürfen das Geschmacksurteil a priori als Zweck präfigurieren. Vielmehr ist es das Gefühl der Lust und der Unlust, das sowohl dem Gegenstand in seiner Objekthaftigkeit die Freiheit lässt, als auch auch dem Betrachter in seinem Urteilsvermögen: „Aller Zweck, wenn er als Grund des Wohlgefallens angesehen wird, führt immer ein Interesse als Bestimmungsgrund des Urteils über den Gegenstand der Lust bei sich. Also kann dem Geschmacksurteil kein subjektiver Zweck zum Grunde liegen. Aber auch keine Vorstellung eines objektiven Zwecks, d.i. die Möglichkeit des Gegenstands selbst nach Prinzipien der Zweckverbindung, mithin kein Begriff des Guten kann das Geschmacksurteil bestimmen; weil es ein ästhetisches und kein Erkenntnisurteil ist, welches also keinen Begriff von der Beschaffenheit und inneren oder äußeren Möglichkeit des Gegenstandes durch diese oder jene Ursache, sondern bloß das Verhältnis der Vorstellungskräfte zueinander, sofern sie durch eine Vorstellung bestimmt werden, betrifft.“158
Zweckfreier Zweck heißt nach Kant, dass in der ästhetischen Wahrnehmung Einbildungskraft und Verstand sich gegenseitig affizieren
157 Vgl. Ralf Ludwig: Kategorischer Imperativ und Metaphysik der Sitten. Die Frage nach der Einheitlichkeit von Kants Ethik, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1992, S. 13. 158 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 59.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie und das subjektive Gefühl der Lust als Resultat dieses freien Spiels sich einstellt, das gleichwohl aber verbindlich sein soll. Rein ist das Geschmacksurteil nach Kant dann, wenn es Folge der „Beurteilung einer freien Schönheit (der bloßen Form nach)“159 ist. Über das Ideal der Schönheit verbindet Kant seine Vorstellung vom zweckfreien Zweck: „Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.“160 Wie Kant zuvor ausführt, ist es aber nicht die „Normalidee“ der Schönheit, die mit einer Vorstellung vom SittlichGuten in Verbindung steht, sondern die Vorstellung eines Ideals der Schönheit, die die Vernunft erst mit der Idee der höchsten Zweckmäßigkeit verbindet und die nach Kant nie nur rein ästhetisch sein kann. Unfrei von moralischen Konnotationen ist damit auch das reine Geschmacksurteil von Kant nicht, was wiederum mit dem in der „Kritik der praktischen Vernunft“ entworfenen Begriff der Freiheit als politischer Kategorie zusammenhängt, die als Prinzip schließlich auf die ästhetische Form übertragen wird. Der Begriff der Freiheit ist durch den des Zwecks bestimmt, was implizit auf die Antinomie des Freiheitsprinzips (nicht nur) in der Kantischen Ästhetik hinweist: Der Zweck ist selbst gebunden an das letztlich nicht uneingeschränkt eindeutig bestimmbare Prinzip der Freiheit und daher nicht frei im Sinne einer alles erlaubenden Kategorie. Doch auch auf anderer Ebene zeigt sich, dass Kant, trotz aller Betonung des Prinzips der Freiheit, traditionelle Denkmuster noch nicht verlassen hat. Wie Volker Rühle erörterte, zeigt sich dies anhand der Ausführungen über Ton und Farbe im §14 der „Kritik der Urteilskraft“, ein Artikel der „zur Bedingung der Empfindung und schöpferischer Erfahrung“ erhoben wird, im Sinne eines Erfahrungsbegriffs, der „von aller Beimengung der Empfindung und der Erkenntnis“161 gereinigt ist. Am Kantischen Formbegriff wird die Zwischenstellung deutlich, die dessen Überlegungen zu einer Befreiung von einer Nachahmungsästhetik eignet, indem er die Form eben noch nicht radikal prozessual denkt, sondern, wie Volker Rühle konstatiert, etwa den Ton wiederum der Komposition und die Farbe der Zeichnung unterordnet: das „Korsett des klassischen Nachahmungspostulates“ sowie der Mechanismus kausaler Sukzession, dem Prinzip von Zweckursachen folgend, ist noch nicht verlassen.162 Deutlicher wird das Verbleiben in metaphysischen Denkka159 Ebd., S. 70. 160 Ebd., S. 77. 161 Volker Rühle: „Transformationen der idealistischen Ästhetik im Blick auf Kant und Schelling. Kunsterfahrung im Spannungsfeld von Reflexion und Produktion“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 47 (2002), S. 191-215, S. 197. 162 Vgl. ebd., S. 199f.
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Theater als Ort der Utopie tegorien ohnehin im zweiten Teil der „Kritik der Urteilskraft“, bezeichnet als „Kritik der teleologischen Urteilskraft“, der auf die zukunftsmäßige Bestimmung des Kantischen Entwurfs verweist, in dem Kant den ethikoteleologischen Begriff von der Zweckmäßigkeit der Natur entwirft. Diese können wir, so die Crux, nicht erkennen und müssen sie uns deshalb, wie im §86 in ausdrücklicher Referenz nicht auf Gott, aber auf ein „Urwesen“ formuliert, hinzudenken.163 Der Zweck enthält, in Kombination mit einem übergeordneten Prinzip, das in den Kausalfolgen der Natur von Kant erkannt wird, noch theologische Bestimmungen, die sich auszeichnen durch einen Glauben, den Kant in das Vertrauen auf eine Besserung der zu sich selbst gelangenden, vernünftigwerdenden Menschheit legt. Gegenüber stehen sich bei Kant damit einerseits der antinomische Gedanke der Freiheit, der sich innerhalb der ästhetischen Erfahrung Ausdruck im freien Spiel der Erkenntnisvermögen verschafft – der eben auch heute noch dazu führt, Kants Ästhetik affirmativ zu rezipieren 164 –, und andererseits die Vorstellung eines notwendigen teleologischen Geschichtsverlaufs. Eine eindeutiger herausgestellte Verbindung der Begriffe Moral und ästhetisches Urteil und, darüber hinaus, ein Indiz über das Verbleiben in einer metaphysischen Vorstellungswelt ergibt sich jedoch über den Kantischen Begriff des Erhabenen, von dem vor allen Dingen die nachkantische, religiös konnotierte Begriffsgeschichte des Erhabenen Zeugnis ablegt, wie schließlich auch die Relektüre des Erhabenen durch François Lyotard zeigt, die wiederum selbst in enger Verbindung mit einer idealistischen Ereignis-Ästhetik steht. Die Trennung vom Schönen und Erhabenen in Kants „Kritik der Urteilskraft“ wurde bereits von dem englischen sensualistischen Materialisten Edmund Burke durchgeführt, der die Begriffe vom Schönen und Erhabenen als vollkommen ahistorisch verortete und erstmals das Erhabene mit dem Gefühl des Schreckens kombinierte.165 Die Burke’sche Verbindung entspricht ausschließlich einer
163 Vgl. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 314. 164 Jens Kulenkampff hat dargelegt, dass Kant auch mit der Idee des Schönen im metaphysischen Argumentationsmuster verbleibt. So sei der Kantische Schönheitsbegriff nichts anderes als „die Spur von Gottes schöpferischer Hand“. Kritisch hinterfragt Kulenkampff demgemäß die Inanspruchnahme der „Kritik der Urteilskraft“ für eine Beschreibung von Gegenwartskunst. Vgl. Jens Kulenkampff: „Metaphysik und Ästhetik. Kant zum Beispiel“, in: A. Kern/R. Sonderegger: Falsche Gegensätze, S. 49-80, S. 58. 165 Vgl. Friedrich Bassenge: „Einleitung“, in: Edmund Burke: Vom Erhabenen und Schönen, Berlin: Aufbau 1956, S. 5-31, S.17ff.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie theologischen Bestimmung des Erhabenen.166 Im Erhabenen würden wir, so Burke, der „Winzigkeit unserer eigenen Natur vor Gott“ gewahr, der nichts entgegenzusetzen ist, da es Ausdruck „natürliche[r] Macht“167 sei. Das Erhabene ist auch nach Kant nun der Zustand, der die menschlichen Vorstellungskräfte übersteigt und sich deshalb von der Beurteilung des Schönen unterscheidet: „Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft.“168 Während bei der Beurteilung des Schönen durch Einhelligkeit von Verstand und Einbildungskraft die „subjektive Zweckmäßigkeit der Gemütskräfte“ hervorgebracht wird, bringen bei der Beurteilung des Erhabenen Einbildungskraft und Vernunft durch ihren Widerstreit diese hervor und damit das Vermögen, das Erhabene überhaupt in seiner Monumentalität, die seine kognitive Erfassung verbietet, zu denken. Erst über das Gefühl der Unlust wird bei der Wahrnehmung des Erhabenen das Gefühl der Lust erzeugt. Ein reines ästhetisches Urteil des Erhabenen darf – wie beim Urteil über das Schöne – keinen Zweck des Objekts zu seiner Bestimmung haben, muss also von Verstandesund Vernufturteilen geschieden sein. Aufzeigen lässt sich nach Kant das Erhabene an der „rohen Natur“, die sich vom Gemachten des Kunstprodukts als auch von Naturdingen – Kant nennt hier Tiere „von bekannter Naturbestimmung“ als Beispiel – unterscheidet. Das Erhabene bezeichnet also nicht nur die Wahrnehmung und Beurteilung roher Natur wie etwa auch den „grenzenlosen Ozean“, Vulkane in ihrer „zerstörenden Gewalt“, „am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krächen einherziehend“, bei der der Mensch seine „physische Ohnmacht“169 erfährt, sondern auch die Vernunft als Erhabenes, die sich von der Macht der Natur nicht erdrücken lasse. Im Gegenteil, sich ihrer Überlegenheit und Unabhängigkeit von ihr gewahr wird. In der Anschauung des Erhabenen, bei dem sich das Subjekt seiner Vernunftfähigkeit erst bewusst wird, liegt nach Kant damit zugleich die sittliche Idee der Freiheit begründet. Anhand der Interpretation des Erhabenen gelingt es Kant, von der sittlichen Idee in uns selbst zu sprechen und sich nicht auf ein transzendentes Objekt beziehen zu müssen. Entscheidend ist hier Kants Verweis in Verbindung mit dem Erhabenen, dass die Sinnlichkeit unsere Vorstellung vom Unendlichen begrenzt, wir uns des166 Schönheit verbindet Burke dezisionistisch hingegen mit Attributen wie „Kleinheit“, „Glätte“, „einer bestimmten Proportionalität“, „Zartheit“ und „hellen Farben“. Vgl. ebd., S. 158. 167 Ebd., S. 103f. 168 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 94. 169 Ebd., S. 107.
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Theater als Ort der Utopie halb die Natur nur als „Idee in ihrer Unendlichkeit“170 vorstellen können. Es ist die Vernunft in uns selbst, die – auch wenn zukünftig erst zur vollen Entfaltung gelangt – die apriorische Idee der Freiheit als moralischer Kategorie zum Grund der sich selbst bewußt werdenden Vernunft setzt. Damit wird noch eher anhand des Begriffs des Erhabenen als des Schönen ein Wandel deutlich, der der ästhetischen Erfahrung Funktionen zuweist, die vormals der traditionellen Metaphysik vorbehalten waren und die später nicht nur für eine Inanspruchnahme des Erhabenen durch den romantischen Religionsbegriff sorgen, der es „als eine Kategorie unmittelbarer, religiöser Versöhnung“171 beansprucht, wie Ernst Müller ausführt, sondern, der auch in der ästhetischen Erfahrung einer säkularisierten Welt seinen Platz findet. Die Kategorie des Ereignisses bezieht, wie zu zeigen sein wird, auch in gegenwärtigen Bestimmungen von einer ästhetischen Erfahrung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, etliches von jener Semantik des Erhabenen. Das wiederum heißt, dass zwar ästhetischer Erfahrung durch die Kategorie der freien Urteilskraft der Status der Autonomie zuerkannt wird, dass aber umgekehrt durch die „offene Definition“172 des Erhabenen Möglichkeiten bereitet werden, religiöse Konnotationen in den Kantischen Begriff, die doch eben verabschiedet worden sind, überhaupt erneut oder wiederholt hineininterpretiert werden können. Kant entwirft zwar den Begriff der Freiheit, der gleichsam seine ganzen Schriften durchzieht, als Erster konsequent auf der rationalen, ethisch-moralischen und ästhetischen Ebene immer unter den Auspizien eines intersubjektiv vermittelten Gemeinsinns. Die äußersten Konsequenzen dieses idealistischen Programms werden aber in die Zukunft verlagert, wovon die naturteleologische Geschichtsphilosophie, die einen apriorischen Zweck in der Natur anerkennt und damit letztlich das Verbleiben in der Metaphysik markiert, Zeugnis ablegt. Mit Kant wird, so könnte man für den vorliegenden Argumentationshorizont sagen, die Antinomie des FreiheitsBegriffs überhaupt erst virulent. Ästhetische Erfahrung heute muss folglich, wie Rüdiger Bubner angibt, ein freies Urteil evozieren können und kann nicht dazu führen, ontologische Vorentscheidungen oder Postulate zu historiographischen Kategorien zu erheben. Es zeigt sich somit, dass die 170 Ebd., S. 99. 171 Vgl. Ernst Müller: „Beraubung oder Erscheinung des Absoluten? Das Erhabene als Grenzkategorie ästhetischer und religiöser Erfahrung“, in: Jörg Herrmann/Andreas Mertin/Eveline Valtink (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München: Fink 1998, S. 144164, S. 148 u. 52. 172 Vgl. ebd., S. 148.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie Schriften Kants und Schillers mit ihrem ambivalenten Charakter nicht nur eine Schwellenposition innerhalb eines Modernisierungsprozesses einnehmen, der sich vor allem auch über das Spannungsverhältnis von Empirie und Geschichtsphilosophie ergibt, sondern, dass hier auch erst die Möglichkeit für eine Rezeptionsgeschichte geboten wird, sie für höchst unterschiedlich ausgerichtete Implikationen auch zu instrumentalisieren.
II.4.3 VOM ENDE DER KUNST ALS REDE VON IHREM IMMER SCHON VORHANDENEN ENDE ZUR SPALTUNG EINER ZWEIWERTIGEN FUNKTIONSBESTIMMUNG VON KUNST Eine Rezeptionsgeschichte anderer Art kommt in Gang, als Hegel mit seiner Diagnose vom „Ende der Kunst“ in seiner dreistufigen geschichtsphilosophischen Konzeption den Vergangenheitscharakter der schönen Kunst betont, weil in der bürgerlichen Gesellschaft das „höchste Bedürfnis des Geistes“173 nicht mehr im Medium der Anschaulichkeit befriedigt werden könne. Analog zur geschichtsphilosophischen Argumentation Schillers verlagert Hegel die Totalität der Natur in die Vergangenheit. Anders jedoch als bei Schiller ist nicht die Kunst das Medium, auf dem die Hoffnungen ruhen, es werde die verlorene Totalität dereinst wieder herstellen können, sondern der zu sich selbst gekommene, absolute Geist. Der Kunst wird in diesem zeitlichen Ablauf eine Zwischenposition zugewiesen. Die Kombination von Kunst und Utopie hat dementsprechend im System Hegels keinen Platz mehr. Hegel schreibt: „Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt.“174 Mit teleologischer Gewißheit als Matrix wird das Ideal in ein vergangenes Zeitalter der klassischen Ästhetik verortet, in dem die Kunst das Absolute zu vermitteln vermochte, aber durch Reflexion überboten wird. Das gleiche Schicksal widerfährt der Religion, von der Hegel, in Folge der Kantischen Kritik, nicht mehr voraussetzen kann, noch eine integrative Funktion zu besitzen. In der Gegenwart verortet Hegel den zu sich selbst gekommenen Geist, in dem die Reflexion die höchste Stufe erreicht hat. Das – vergangene – Ideal der Kunstform bringt Hegel, obwohl er, im Gegensatz zu Kant, das Naturschöne aus der Betrachtung des Kunstschönen ausklammert, dennoch ebenfalls mit dem Begriff der Freiheit in Verbindung. In der Ästhetik heißt es ausdrücklich: „In dieser ihrer Freiheit nun ist die schöne Kunst erst wahrhafte Kunst, und löst dann erst ihre höchste Aufgabe, wenn sie sich in den gemeinschaftlichen Kreis mit
173 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Ders.: Werke, Bd. 13, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 142. 174 Ebd., S. 24.
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Theater als Ort der Utopie der Religion und Philosophie gestellt hat, und nur eine Art und Weise ist, das Göttliche (Herv. i. O.), die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen.“175 Genau diese Aufgabe vermag sie in der modernen Welt nicht mehr zu erfüllen: „In allen diesen Bestimmungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren, und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als dass sie in der Wirklichkeit ihre frührere Notwendigkeit behauptete, und ihren höheren Platz einnähme. Was durch Kunstwerke in uns erregt wird, ist außer dem unmittelbaren Genuß zugleich unser Urteil, indem wir den Inhalt, die Darstellungsmittel des Kunstwerks und die Angemessenheit und Unangemessenheit beider unserer denkenden Betrachtung unterwerfen.“176
Hegel konstatiert zwar einen genuinen Zusammenhang zwischen Kunst und Geist, insofern der Geist es ist, der Kunstwerke überhaupt hervorbringt und sich folglich das Sinnliche als vom Geist durchdrungen dem Menschen darbietet. Zugleich wird jedoch deutlich, dass Kunst dem Hegel’schen Geist gegenüber immer defizitär erscheinen muss: Der Geist bringt die Kunst hervor, während die Kunst demgegenüber „nur“ eine Etappe zur Selbsterkenntnis des Geistes darstellt. Als Ausdruck für das dem dialektischen Prinzip unterworfene Ideal in der Vergangenheit fungiert die klassische Kunstform, in welcher der Geist, eingebettet in die retrospektiv ideal konzipierte Polis, seiner selbst ansichtig wird. Innerhalb der Systematisierung der Kunstformen bewertet Hegel bekanntermaßen das Drama höher als Epos und Lyrik, „weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendeten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden [kann]. Denn den sonstigen sinnlichen Stoffen, dem Stein, Holz, der Farbe, dem Ton gegenüber ist die Rede allein das der Exposition des Geistes würdige Element, und unter den besonderen Gattungen der redenden Kunst wiederum die dramatische Poesie diejenige, welche die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Principe der Lyrik sich vereinigt.“177
Die hohe Wertschätzung des Dramas ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass sich in ihm eine aus dem Innern des Charakters entspringende Handlung vollzieht. Mit der „dramatischen Aufführung“
175 Ebd., S. 20f. 176 Ebd., S. 25. 177 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, in: Ders.: Werke, Bd. 15, Frankfurt a.M. Suhrkamp 1986, S. 474.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie als Vollendung der Totalität der Handlung gelangt diese überhaupt erst zu ihrer inneren und äußeren Wirklichkeit: „[Da]s Handeln [bewegt sich] auch zur äußeren Realität heraus und erfordert den ganzen Menschen in seinem auch leiblichen Dasein, Tun, Benehmen, in seiner körperlichen Bewegung und seinem physiognomischen Ausdruck der Empfindungen und Leidenschaften, sowohl für sich als auch in der Einwirkung des Menschen auf den Menschen […]“.178 Doch auch diese Einschätzung ist trügerisch. Denn der nach Hegel im Christentum beginnende Zerfall der Einheit von innerer und äußerer Natur hat schließlich in der romantischen Kunstform der Gegenwart seinen vollendeten Ausdruck erreicht. Davon ist auch die Gattung des Dramas nicht verschont geblieben. Die Subjektivierung, die die romantische Kunstform auszeichnet, steht in direktem Widerspruch zu jener Funktion, die Hegel dem Drama ursprünglich zugewiesen hat. Der Riss zwischen Innen und Außen hat sich, Hegel zufolge, als irreduzibel erwiesen. Mit Hegels Reflexion über die Kunst als einer historisch gewordenen, mithin auch endlichen Form menschlicher Selbstvergewisserung lässt sich schließlich auch eine lineare Kunstgeschichtsschreibung entwickeln, in der der Künstler ab einer bestimmten Stufe der Entwicklung des absoluten Geistes von normativen Ansprüchen freigestellt ist.179 Die Kunst bildet, so lässt sich argumentieren, für Hegel also immer nur die Folie, die, als historische Verfallsgeschichte gezeichnet, den Anlass bietet, die immer schon vorausgesetzte Privilegierung des Geistes zu belegen.180 Diese Verfallsdiagnose wird im Laufe des 19. Jahrhunderts kontrovers bewertet und findet schließlich auch Eingang in unterschiedliche Ästhetik-Konzepte. Sie sind das Resultat einer Ausdifferenzierung der Hegel’schen Thesen, deren Pole, so könnte man sagen, auch noch die ästhetischen Grundpositionen der jüngeren Ästhetikgeschichte konturieren. Dabei zeigt sich, dass die kulturellen Denkmuster wie Fortschrittsglaube und Verfallsdenken gleichsam den Subtext dieser äußerst kontrovers bestimmten Funktionszuweisungen von Kunst bilden. Wie Jürgen Habermas erläutert hat, steht auf der einen Seite der Linkshegelianismus, der die Hegel’sche Kulturkritik von einer entzweiten Moderne aufnimmt und sie praxisphilosophisch wendet. Hierfür steht Marx mit seinem Produktionsparadigma, das kritisch das Hegel’sche Selbstbewusstsein und die Befürwortung eines „starken Staats“ in Arbeit wendet und den Gedanken der Revolution in die Geschichtsphilosophie mitaufnimmt. Demge-
178 Ebd., S. 504f. 179 Vgl. H. Belting: Das Ende der Kunstgeschichte, S. 134ff. 180 Vgl. J. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 42.
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Theater als Ort der Utopie genüber stehen die Konzepte des Rechtshegelianismus, die, vom Entzweiungsparadigma ausgehend, auf Bewahrung von Traditionen abgestellt sind und in quasireligiösen Ersatzleistungen kompensatorische Funktionen für die Abstraktionen und Funktionalisierung der modernen Gesellschaft erkennen.181 So zeigt sich bereits an der ideengeschichtlichen Spaltung der Hegel-Rezeption die Bipolarität eines Diskurses, wie er aktuell mit all seinen Ausdifferenzierungen im Bereich der Ästhetik und Kunstwissenschaften zu finden ist. Mit Hegel wird nicht nur das Kantische Ideal der Freiheit und mit Schiller das der Utopie diskursstrategisch verlängert und variiert, sondern umgekehrt, dasselbe auch negiert und an seine Grenzen geführt. Beide Diskurselemente finden darüber hinaus in Binnendifferenzierungen unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Dazu gehört auch, dass im 19. Jahrhundert der Gedanke der Verbindung von Utopie und Kunst, gepaart mit einer mystischen Vorstellung vom Fest, vor dem Hintergrund der Erfahrung des Modernisierungsprozesses noch einmal an Bedeutung gewinnt: in Richard Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks und in Nietzsches Vorstellung von Kunst als dionysischem Ausnahmezustand, der nicht ohne den utopischen Gedanken des Fests auskommt.
II.4.4 WIDERSPRÜCHE: DISKURSE ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG IM 20. JAHRHUNDERT II.4.4.1 Ästhetik als Ersatzreligion: Arnold Gehlen Im Folgenden sollen, wie angekündigt, Positionen der Ästhetik angeführt werden, die sich auf die oben erläuterten beziehen und diskursstrategische Schlüsselfunktionen einnehmen: Eine Lesart von Kunst, die ihr die Möglichkeit einer utopischen Veränderungskraft abspricht, verfolgt Arnold Gehlen mit seiner Analyse der bildenden Kunst.182 Gehlen folgt weitestgehend Hegels Diagnose vom Verlust einer religiösen Bedeutung der Kunst und ihrem daraus folgenden Vergangenheitscharakter.183 Auch Gehlen argumentiert teleologisch mit einer Drei-Stufen-Konzeption, die die Entwicklung der Kunst mit einem werkimmanenten Reduktionismus verbindet, den Gehlen als historisch notwendig beschreibt. Hierzu ist zu erläutern, dass Geh-
181 Vgl. ebd., S. 65ff.. 182 Vgl. Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a.M., Bonn: Athenäum 1960. Zur „Ende-der-Kunst“These bei Gehlen, Adorno und Heidegger siehe auch: Günter Seubold: Das Ende der Kunst und der Paradigmenwechsel in der Ästhetik, Freiburg, München: Alber 1998. 183 Vgl. ebd., S. 19.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie lens teleologisches Programm auf einem mimetischen Kunstbegriff basiert, in dem sich Kunst zeichenhaft vergegenwärtigend auf Wirklichkeit bezieht, eingespannt in eine bipolare Form/Inhalt-Ästhetik. Natur ist hierbei immer das a priori, auf das sich Kunst bezieht, was sie im Verlauf des fortschreitenden Modernisierungsprozesses aber nicht mehr zu leisten vermag.184 Entsprechend ihrer historischen Verlaufsform wechseln die Bezugssysteme von Religion über Natur hin zu Subjektivität im dritten Stadium, das sich entsprechend durch „Reflexionskunst“ auszeichnet. Als Legitimation dieser von Gehlen als notwendigen unterstellten Entwicklung zieht der Autor Werke der Kunstgeschichte heran, anhand derer er den Verlauf der Entgrenzung und Ablösung von einer Inhaltsästhetik exemplifiziert.185 Diese Minimierung der Formen und Inhalte muss notwendigerweise irgendwann ihren Zielpunkt erreicht haben. Gehlen sieht ihn in der Gegenwart, also in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Abstraktion des Informel erreicht. Analog zu Horkheimers und Adornos Diagnose einer dialektischen Entwicklung sieht auch Gehlen in der Bewegung hin zur vollkommenen Reduktion des Inhalts einen Funktionsverlust der Kunst. Wenngleich es unendlich viele Möglichkeiten zu neuen Experimenten gibt, kann es wahrhaft Neues, nach Gehlens Logik, ähnlich wie bei Hegel, nicht mehr geben.186 Auch Gehlen zeichnet also eine Verfallsgeschichte, die der Soziologe des Posthistoire in erster Linie mit den Sachzwängen und Krisenerfahrungen der industriellen Gesellschaft in Verbindung bringt. Vor diesem Hintergrund ist die Einheit des Menschen mit der Natur
184 Das erste Stadium kennzeichnet nach Gehlen die feudalgesellschaftliche „ideelle Kunst der Vergegenwärtigung“; sie war Kunst „der großen Repräsentation der Kirchen und Herrschaften, sie war ihrer Absicht nach dirigierend, […].“ Das zweite Stadium, das Gehlen als „Realistische Kunst“ bezeichnet, beginnt mit der Neuzeit und endet erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ist die Kunstform der aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft, ihr primäres Motiv ist abgestellt auf die Wiedererkennbarkeit einer außerkünstlerischen Natur, es ist das Interesse am „Gegenwärtigen“ und „Vorhandenen“. Das dritte Stadium schließlich ist das der „Abstrakten Malerei“. Sie ist die genuine Kunstform der heterogenen industriellen Gesellschaft. Nicht mehr der Inhalt ist ihr Bezugspunkt, die Form bleibt „allein übrig“. Vgl. ebd., S. 15. 185 Der Reduktionsprozess lässt sich, Gehlen zufolge, allein schon anhand eines Bildervergleichs bestätigen. Über den Vergleich eines Raffael mit einem Delacroix, einem Kandinsky und schließlich mit einem monochromen Gemälde lasse sich die Reduktion sowohl mittels der Farb- und Formgebung, der Hell-Dunkel-Verhältnisse als auch der Absage an inhaltliche Sujets nachweisen. 186 Vgl. ebd., S. 150f. u. 224.
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Theater als Ort der Utopie endgültig entzweit, weshalb sie sich der Mimesis entzieht. Gehlen zufolge lassen sich unter den Bedingungen einer demokratischen Gesellschaft auch im Bereich der Kunst keine Verbindlichkeiten mehr herstellen: „Endlich lief gleichzeitig im Gefolge der unaufhaltsamen Demokratisierung die repräsentative Funktion der Kunst leer. Letzten Endes empfand niemand irgendein bloßes Dasein und Sosein mehr als vorbildlich, geschweige denn das eigene.“187 Das Verschwinden der Inhalte greift dabei mit einem bestimmten Stand der künstlerisch-technischen Entwicklung ineinander: „Gewissen sachlichen, von den Objekten ausgehenden Forderungen ist eines Tages genügt. So waren spätestens um 1900 die überhaupt erreichbaren Sujets durchgespielt, zum Teil seit Jahrhunderten.“188 Als Konsequenz aus dieser Erscheinung von „Repristination und Ermüdung“189 sieht Gehlen, dass Kunstwerke nicht mehr für sich selbst stünden, sondern zunehmend erläuternder Kommentare bedürfen, die erklärten, was das Kunstwerk selbst nicht zu kommunizieren vermag: „Da das abstrakte Bild zugleich mit dem Gegenstand das Wiedererkennen abtrug, erscheint es als ,irrational‘, und es entsteht die Frage, wohin die unserer Anschauung beigegebene Begrifflichkeit abgewandert ist: in die Kommentarliteratur, die geradezu als Bestandteil dieser Kunst angesehen werden muss, ihr zugeordnet ist wie die Singstimme der Musik: Parallelebene der Gedanklichkeit.“190 Die Argumentation Gehlens zeigt nicht nur, dass er der Wirksamkeit utopischer Entwürfe in politischen, soziologischen und philosophischen Konzepten nicht mehr vertraut, sondern dass auch Kunst kein utopiefähiges Potential mehr bereithalten kann. Ähnlich wie Hegel, der von einer unendlichen Ausdifferenzierung von Kunstformen spricht, sieht auch Gehlen, dass Kultur an „Totalität“ und „innerer Fülle“ abnimmt, gleichzeitig aber an „Breite“ und „Selbständigkeit der Auseinandersetzungswege“191 zunimmt, ein Prozess, der, Gehlen zufolge, wiederum Resultat gesteigerter Selbstreflexivität ist. Reflexivität als Auseinandersetzung von Kultur mit „ihren eigenen gegenwärtigen und früheren Formen, Gehalten und Werträngen“ statt in der „geistig-moralischen Durchstilisierung des Lebensnotwendigen“192 ist das letzte Angebot von Kunst, die in dieser Hinsicht lediglich noch Entlastungsfunktion in einer von Sachzwängen gekennzeichneten Gesellschaft hat. Kunst als Antizipation und Utopie gibt es bei Gehlen nicht, als Funktion einer Entlastung ist sie – 187 188 189 190 191 192
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,
S. S. S. S.
43. 41. 202. 16.
S. 232.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie immerhin – darauf gerichtet, das Gegenwärtige und Vergangene nachzuvollziehen. II.4.4.2 Ästhetik als Kompensationsbewegung: Odo Marquard Eine rechtshegelianische Lesart nimmt auch Odo Marquard auf, der Joachim Ritters Kompensationstheorie193 auf das Feld der Ästhetik überträgt und, ähnlich wie Gehlen, die letzte verbliebene Funktion der Kunst darin sieht, dass sie, wie er pointiert formuliert, ihr eigenes Ende kompensiere.194 Kompensation meint bei Marquard ausdrücklich keine psychoanalytische Kategorie. Er leitet den Begriff vielmehr aus der Theodizee-Debatte des 18. Jahrhunderts ab, deren Grundintention nach das Übel in der Welt nicht ohne Ausgleich hingenommen werden könne. Auch die Ästhetik hat nach Marquard eine kompensatorische Funktion, wobei man eine negative und eine positive Kompensationsleistung unterscheiden kann. Negativ betrachtet kompensiert die Kunst in erster Linie ein Sinndefizit. Sie ist als Gegenform zur politischen Praxis auch „Gegenform der Utopie“195 und daher nicht in der Lage, die Gesellschaft zu verändern. Positiv betrachtet erfüllt die Kunst aber gerade dadurch auch eine konstruktive Funktion. In einer von Sachzwängen und Entzweiungen gekennzeichneten Welt dient sie einer „neuen Verzauberung, die zur prekären Entschädigung für den Verlust der alten wird.“196 Durch die absolute Selbstverantwortung, die dem Menschen im Modernisierungsprozess aufgebürdet wird, entsteht erst der „Entlastungsbedarf, der das Ästhetische lanciert.“197 Die autonom gewordene Kunst wird nach Marquard in dem Moment zum Refugium für „Unbelangbarkeit“, in dem der Mensch sich nicht mehr für seine Existenz rechtfertigen muss. In Folge davon breche ihr absoluter Anspruch zusammen.198 Offenbar nimmt Marquard mit seiner Kompensationstheorie Hegels Diagnose vom Ende der Kunst auf, ergänzt deren geschichts-
193 Joachim Ritter übernimmt Hegels Interpretation des Modernisierungsprozesses. Ritter sieht in der Subjektivität, die nun im Bereich des Religiösen und des Ästhetischen als kompensatorischer Ausgleich für abhandenge– kommene metaphysische Letztbegründungen fungiere, einen geschichtsphilosophischen Verlauf begründet, der, Ritter zufolge, nur durch die Wissenschaft überhaupt adäquat zu erfassen sei. Vgl. Joachim Ritter: „Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft“, in: Ders.: Subjektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 105-140, S. 137ff. 194 Vgl. Odo Marquard: „Kunst als Kompensation ihres Endes“, in: W. Oelmüller: Ästhetische Erfahrung, S. 159-168. 195 Ebd., S. 160. 196 Ebd., S. 161. 197 Ebd., S. 166. 198 Vgl. ebd., S. 162.
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Theater als Ort der Utopie philosophische Prämissen jedoch durch das Postulat vom ästhetischen „Entlastungsbedarf“ der modernen Gesellschaft. Von einem idealistischen Standpunkt aus betrachtet, ist diese Position offensichtlich ketzerisch, bedeutet sie doch die endgültige Absage an jegliche gesellschaftsverändernden Hoffnungen, die mit der Kunst seit Schiller verbunden waren. Wie auch bei Gehlen, wenn auch mit anderer Schwerpunktsetzung, bilden Autonomie, Freiheit und Gesellschaftskritik hier nicht länger die Eckpfeiler eines utopischen Programms. Die Funktion der Kunst reduziert sich auf „Kompensation“ und „Entlastung.“ II.4.4.3 Nicht--Identischen: Theodor W. Adorno II.4.4.3 Die Identität des Nicht Angesichts der offenkundigen Differenzen zwischen links- und rechtshegelianisch geprägten Ästhetiken übersieht man nur zu leicht, wie nahe beide Positionen sich zugleich doch sind. In der „Dialektik der Aufklärung“ entfalten, wie bereits in Kapitel II.1 angesprochen, Horkheimer und Adorno aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und den Auswirkungen des Kapitalismus in den USA, das Szenario eines linear ablaufenden Regressionsprozesses. Nachdem die praktische Anwendung von Theorie und Philosophie in der Gesellschaft durch die Erkenntnisse über den Stalinismus und die Erfahrungen mit dem Faschismus in den Augen der Theoretiker der Frankfurter Schule gescheitert ist und Zweifel an zweckgerichteten, metaphysischen, systemischen und damit auch ideologisch gewendeten Theorien hervorgerufen hat, wird der Hoffnung auf die humanisierenden Kräfte von Vernunft und Kultur eine Absage erteilt. Die Steigerung der Vernunft, die parallel zur gesteigerten Beherrschung der Natur verläuft und in einer instrumentellen Verengung der Vernunft endet, führt schließlich zu einer Zerstörung des Subjekts. „Aufklärung ist totalitär“199 lautet die radikale Schlussfolgerung aus der Sicht der aufgeklärten Philosophen.200 Das für die Selbsterhaltung des Menschen von Horkheimer und Adorno zur Notwendigkeit erklärte objektivierende Denken hat nicht, wie von Hegel projektiert, zu einer Emanzipation des Geistes geführt, sondern das Gegenteil hervorgerufen. Naturbeherrschung und Selbstbeherrschung werden als komplementäre Phänomene anerkannt. Unterdrückung der Natur resultiert in Unterdrückung einer arbeitenden Klasse seitens einer herrschenden. Objektivation der äußeren und inneren Natur werden von Horkheimer und Adorno als reziproke und zeitgleich notwendige Vorgänge dargestellt.
199 M. Horkheimer/T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 12. 200 Zur Kritik von Horkheimers und Adornos Ideologiekritik siehe: Axel Honneth: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie Das ursprünglich utopisch ausgerichtete geschichtsphilosophische Programm, das eine Besserung des Menschen anvisierte, ist ins Negative umgeschlagen. Auch Kunst ist von dieser Bewegung nicht verschont geblieben und in Massenproduktion aufgegangen, wie das Kapitel über die „Kulturindustrie“ in der „Dialektik der Aufklärung“ belegt.201 Als zentrales Krisenmoment der modernen Kunst sieht Adorno, ähnlich wie seine anti-utopisch eingestellten „Kontrahenten“, den Verlust des Religiösen: „Die Absenz wie immer auch modifizierten theologischen Sinns spitzt in der Kunst sich zu als Krise ihrer eigenen Sinnhaftigkeit“,202 heißt es in der postum veröffentlichten „Ästhetischen Theorie“, die qua ihres Fragment-Charakters als Plädoyer für das Nicht-Identische zu verstehen ist. Anders als Gehlen hat Adorno aber Kunst, die nicht funktionalisiert und instrumentalisiert ist, zum alleinigen Ort erkoren, an dem ästhetische Erfahrung im Sinne einer Utopie, verstanden als Einflussnahme auf den außerästhetischen Diskurs, noch möglich ist. Denn: Die Möglichkeit zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch praktisches Handeln bzw. eine Einflussnahme auf dieselbe über die Wissenschaften oder auch die Philosophie, wie noch in den Anfangsjahren der Frankfurter Schule projektiert, sieht Adorno nicht mehr gegeben.203 Mit dem Begriff der Autonomie ist Adorno aber auch weiterhin dem „alten“ idealistischen Prinzip ästhetischer Erfahrung verbunden, die nur dort autonom ist, wo sie auch im Kantischen Sinn zweckfrei ist und den „genießenden Geschmack“204 hinter sich lässt. Obwohl Adornos Antinomien befürwortender Schreibstil gegen einen eindeutig definierbaren Kunstbegriff spricht, bleibt gleichwohl deutlich: Kunst als Nicht-Identische, die ihren Rätsel-Charakter verbürgt, kann Negation zur Gesellschaft und damit Gesellschaftskritik – moralisch konnotiert, weil utopisch auf Gesellschaftsverän-
201 Die industrialisierte Massenkultur, so die Autoren, verhindere das Neue, diene allein dem affirmativen Amusement und dem schnellen Effekt. Vor allem gegen den Cartoon, gegen den Kriminal- und Abenteuerfilm und gegen den Jazz richten sich die Vorbehalte: „In der Kulturindustrie ist das Individuum illusionär nicht bloß wegen der Standardisierung ihrer Produktionsweise. Es wird nur so weit geduldet, wie eine rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen außer Frage steht.“ Vgl. M. Horkheimer/T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 163. 202 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 506. 203 Vgl. Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München, Wien: Hanser 1986. 204 T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 26.
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Theater als Ort der Utopie derung abzielend – werden.205 Adornos Kunstverständnis appelliert damit auch gegen eindimensional aufgehende Sinnzusammenhänge und gegen Totalität im Sinne einheitlich verstandener Identitäten.206 Denn: „Ästhetische Identität soll dem Nicht-Identischen beistehen, das der Identitätszwang in der Realität unterdrückt.“207 Auch wenn Adorno sich gegen einen trivialisierten Utopie-Begriff ausspricht, ist zumindest implizit Utopie eine entscheidende Triebkraft seiner Ästhetik. Die Hoffnung einer Restautarkie des Individuums liegt in der Vorstellung vom autonomen Kunstwerk: „Der Widerstand des Subjekts gegen die empirische Realität im autonomen Werk ist auch einer gegen die unmittelbar erscheinende Natur.“208 Als Konsequenz dieses Widerstands darf es nur Kunst geben, die sich dem Identischen, als identische Nachahmung einer außerkünstlerischen Realität begriffen, verweigert. Diese Argumentation leitet Adorno wiederholt von seiner negativen Zeitdiagnose her, wie sie in der „Dialektik der Aufklärung“ entworfen wurde, derzufolge „das Barbarische […] das Buchstäbliche“209 ist. Auch Adornos Kritik am Fortschritt als geschichtsphilosophischer Idee bleibt ambivalent. Zwar lehnt Adorno diese im Sinne oben erwähnter Kulturkritik ab. Gleichwohl erkennt er an, dass der Fortschritt in der Kunst und damit der ästhetischen Mittel vom Fortschritt der Produktivkräfte nicht zu lösen ist.210 Während aber beispielsweise der Film Adorno als Exempel der Affirmation einer manipulativen Massenkultur dient, in deren Rahmen Fortschritt in Wahrheit Regression bedeutet, macht er andererseits in der Kunst seiner Gegenwart auch Gegenbeispiele aus: Samuel Beckett, Alban Berg und Arnold Schön-
205 Auch Hans-Thies Lehmann beruft sich in seinen Überlegungen zum „postdramatischen Theater“ auf Adorno. Vgl. H. T. Lehmann: Ein Schritt fort von der Kunst (des Theaters), S. 173. 206 Zentral hierfür steht Adornos Kritik an einer auf Wahrheitsfindung abzielenden Intention von ästhetischer Erfahrung, die auch die Interpretation leite: „Der Tradition der Ästhetik, weithin auch der traditionellen Kunst gemäß war die Bestimmung der Totalität des Kunstwerks als eines Sinnzusammenhangs. Wechselwirkung von Ganzem und Teilen soll es derart als Sinnvolles prägen, dass dadurch der Inbegriff solchen Sinns koinzidiere mit dem metaphysischen Gehalt.“ Es ist, Adorno zufolge, wieder die Emanzipation des Subjekts, die dazu geführt habe, dass alle sinnverleihenden Ordnungszusammenhänge zerstört worden sind und der Begriff des Sinns als „Refugium der verblassenden Theologie immer fragwürdiger wird.“ Sinnvoll werden Kunstwerke für Adorno, dialektisch gewendet, durch Negation von Sinn. Vgl. T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 228ff. 207 Ebd., S. 14. 208 Ebd., S. 104. 209 Ebd., S. 97. 210 Vgl. ebd., S. 56.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie berg vertreten eine Ästhetik des Nicht-Identischen. Der Nexus von Kunst und Fortschritt ist hier positiv konnotiert.211 Die Negation von traditionellen ästhetischen Normen, die die moderne Kunst von jeher ausgezeichnet hat, gehört auch zu Adornos Vorstellung von avancierter Ästhetik, wenngleich er dieses Negationspostulat nicht zur starren Norm verabsolutiert sehen will. Eine avantgardistische Kunst, die den Fortschritt quasi automatisiert hat, widerspricht Adornos Kunstkonzept des Nicht-Identischen.212 Kunst ist Kunst nach Adorno nur im Sinn „ihrer eigenen Negation“, dort also, wo sie sich einer „Imitation der Welt“213 verweigert. Vor diesem Hintergrund will Adorno selbst die Idee der Utopie dialektisch denken, damit sie Utopie bleiben kann: „Was als Utopie sich fühlt, bleibt ein Negatives gegen das Bestehende, und diesem hörig. Zentral unter den gegenwärtigen Antinomien ist, dass sie aber, um nicht Utopie an Schein und Trotz zu verraten, nicht Utopie sein darf. Erfüllte sich die Utopie von Kunst, so wäre das ihr zeitliches Ende.“214 Es ist die zwangsläufige Folge dieser bewusst in Kauf genommenen Antinomien, dass jede konkrete künstlerische Realisation hinter dem absoluten philosophischen Anspruch auf Nicht-Identität stets zurückbleiben muss. Man kann, wie Peter Bürger erörtert hat, Adorno unter dieser speziellen Rücksicht deshalb durchaus als Anti-Avantgardisten betrachten.215 Es handelt sich dann allerdings um einen utopischen Anti-Avantgardismus, denn anders als Gehlen und Marquard geht Adorno weiterhin davon aus, dass, wenn Kunst auch in der Lage sein mag, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern, sie doch den einzigen Ort darstellt, an dem deren Widersprüche anschaulich gemacht werden können. Ungeklärt bleibt allerdings, nach welchen anderen als dezisionistischen Kriterien eine Kunst, die dieses leistet, von einer, die diesen Anspruch nicht erfüllt, unterschieden werden kann, mit welchem Recht also etwa Be-
211 Vgl. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a.M. 2003, S. 44f. u. 194f. 212 Bei Adorno heißt es: „Weiter hat der Begriff der Avantgarde über viele Dezennien hinweg dem jeweils sich als die fortgeschrittensten erklärenden Richtungen reserviert, etwas von der Komik gealterter Jugend.“ T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 44. 213 Ebd., S. 503. 214 Ebd., S. 54. 215 Vgl. Peter Bürger: „Der Anti-Avantgardismus in der Ästhetik Adornos“, in: Ders.: Das Altern der Moderne. Schriften zur bildenden Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 31-47. Zur Kritik an Adornos linearen Konstruktionsprinzipien siehe: Peter Bürger: „Probleme gegenwärtiger Ästhetik“, in: W. Oelmüller: Ästhetische Erfahrung, S. 200-244, S. 205.
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Theater als Ort der Utopie ckett und Schönberg als avanciert gelten können, Strawinsky und „der“ Film als künstlerisches Medium dagegen nicht. II.4.4.4 II.4.4.4 Die Kraft der Avantgarde: JeanJean-François Lyotard Lyotard Die kritische Einschätzung der Gegenwart teilt der vom Marxismus enttäuschte Jean-François Lyotard mit Adorno und Gehlen. Darüber hinaus sind dessen Thesen zur gesellschaftlichen Funktion der Avantgarde für die Performance-Theorie von höchster Wichtigkeit.216 Lyotards Zeitdiagnose kritisierte, wie bereits erwähnt, den ideologisierenden Effekt der von ihm so genannten „großen Erzählungen“ und die dort entfalteten Kategorien sozialer Selbstbeschreibung wie „die Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns, die Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts“.217 Angriffsziel der „postmodernen“ Aufklärungs- und Emanzipationskritik ist das nach dieser Auffassung an Effizienz und Machterhalt ausgerichtete Denken in den Wissenschaften, die sich um ihrer eigenen Legitimation willen auf eben jene großen Erzählungen bezögen. Dem setzt Lyotard den Entwurf einer programmatischen Heterogenität entgegen, einer Vielzahl nicht-hierarchisch organisierter Diskurse, die den holistischen Anspruch der etablierten Erzählformen und Erklärungsmuster unterlaufen. Der Orientierungspunkt für diese epistemische Utopie ist interessanterweise ästhetischer Natur: Denn nach Lyotard hat die nicht-repräsentationale Kunst diese Heterogenität bereits im Hier und Jetzt realisiert. Umgekehrt gilt für ihn jedwede Ästhetik, die am Konzept der Repräsentation festhält, als affirmativ. Das klingt zunächst wie eine Wiederholung der Kernthese von Adornos „Ästhetischer Theorie“. Tatsächlich jedoch wirft Lyotard Adorno vor, mit seinem Denken die Kategorie der Repräsentation nicht wirklich hinter sich gelassen zu haben. Er führt dies anhand von Adornos Musiktheorie aus.218 Für Lyotard hat die Musik erst mit John Cage mit
216 Vgl. Luk van den Dries: „The Sublime Body“, in: Ders. u.a. (Hg.): Body Check. Relocating the Body in Contemporary Performing Art, Amsterdam: Rodopi 2002, S. 71-95, S. 78. Siehe auch: E. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung, S. 262. 217 J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 13. 218 Über Adorno und die atonale Musikkonzeption schreibt Lyotard: „Mit Adorno kommt die Kritik an ihr Ende. Er ist die letzte Rakete im Feuerwerk ihrer Enthüllung. […] Adorno sieht, daß Schönberg anstelle der Musik-Erzählung einen Musik-Diskurs führt (aber einen paradoxen, einen Glaubensdiskurs); und Schönberg macht tatsächlich eine solche Musik. Adorno und Schönberg auf des (Rasier-)messers Schneide. Wir aber, die wir uns nicht mehr da befinden, brauchen eine Musik der Intensitäten, eine Klangmaschine ohne Finalität. […] Adornos Werk ist – wie das von
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie jeglicher Tonalität und erst damit auch mit jeglicher Repräsentation gebrochen.219 Sie wird für ihn damit zum Ort einer ästhetischen Erfahrung, an der sich, wie Lyotard sich ausdrückt, „Intensitäten“ und damit widerständiges Potential entfalten. Lyotard meint, sich mit dieser Konstruktion vom problematischen Modell des ästhetischen Fortschritts, dem noch Adorno bei aller Skepsis verbunden geblieben war, verabschiedet zu haben. Tatsächlich jedoch vermag er nicht, seine Vorstellungen von avancierter, nichtrepräsentationaler Kunst ohne Rekurs auf die Kategorie des Fortschritts zu formulieren. Denn auch die „parodistische Arbeit von Nichts“,220 die er für Cage beansprucht, verdankt ihre Dignität ja ihrem avantgardistischen Avancement, d.h., ihrer spezifischen Stellung in einer Geschichte des künstlerischen Fortschritts. Dieser mag bei Cage zwar in Hinblick auf Adornos Kategorie der Materialbeherrschung zum Stillstand gekommen sein. Gleichwohl ist deren avantgardistisches Potential in der Reflexion auf die Notwendigkeit dieses Stillstands aufgehoben. Nach Lyotard wird die im philosophischen Denken geforderte, aber nicht geleistete Praxis heterogener Sprachspiele im Bereich der Ästhetik also durchaus eingelöst. Dabei ist es die Ästhetik der Avantgarde, die jeden „sensus communis“ destabilisiert221 und damit als ästhetische Erfahrung das leistet, was dem philosophischen Diskurs nicht mehr gelingt: die Destabilisierung von Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten. Um die von ihm vorgenommene Privilegierung der Ästhetik der Avantgarde argumentativ zu stützen, verweist Lyotard auf den von Kant in der „Kritik der Urteilskraft“
Schönberg – durch die Nostalgie geprägt.“ Jean-François Lyotard: Intensitäten, Berlin: Merve 1978, S. 41ff. 219 Über John Cage schreibt Lyotard: „Diese Kombination ist im Entstehen. In Amerika symbolisiert der Name John Cage eine Strömung, in der sie sich bereits verwirklicht.“ Ebd., S. 26. 220 Ebd., S. 47. 221 Vgl. Jean-François Lyotard: „Das Erhabene und die Avantgarde“, in: Ders.: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien: Passagen 1989, S. 159187, S. 182. Lyotard notiert: „Bedarf es wenigstens eines Rahmens für die Leinwand? Nein. Farben? Das schwarz auf weiß gemalte Quadrat von Malewitsch hatte diese Frage bereits 1915 beantwortet. Ist ein Gegenstand notwendig? Body Art und Happening verstanden zu zeigen, dass Gegenstände entbehrlich sind. […] In dieser Situation der Isolation und des Unverständnisses ist die Avantgarde-Kunst verletzlich und der Repression ausgesetzt. Sie scheint die Identitätskrise zu verstärken, die die Gesellschaft im Zuge der langen ‚Depression‘ von den dreißiger Jahren bis zum Ende des ‚Wiederaufbaus‘ Mitte der fünfziger Jahre ergreift.“ Ebd., S. 181ff.
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Theater als Ort der Utopie entfalteten Begriff des Erhabenen.222 In Lyotards Interpretation, die er am Beispiel der Werke Barnett Newmans entfaltet, ist dieses Erhabene ausdrücklich mit der Zeiterfahrung des „Jetzt“ verbunden.223 Erhaben, so Lyotard, sei „das Gefühl des ‚da ist es‘“.224 Dabei sei die Botschaft nicht Repräsentation, sondern Präsentation, und zwar als „Botschaft […] von der Präsenz“.225 Und weiter heißt es: „Was das Werk Newmans von der übrigen Avantgarde und vor allem vom ,Abstrakten Expressionismus‘ unterscheidet, ist nicht die Tatsache, dass es vom Problem der Zeit beherrscht wird – diese Art der Besessenheit teilen viele andere Maler mit ihm –, sondern dass Newman auf dieses Problem eine unerwartete Antwort gibt: dass das Bild selbst die Zeit ist.“226 Die Präsenz als tautologisches „Jetzt“ im Sinne einer Unterbrechung des Geschichtskontinuums bezeichnet bei ihm also die Möglichkeit, aus dem Verlauf der „großen Erzählungen“ und der ihnen zugrundeliegenden, autoritären Vernunftkonzeption auszubrechen. Die Utopie des Jetzt, des Augenblicks, ist dabei nicht neu. Sie verbindet Lyotard auch mit anderen Philosophen und Kunsttheoretikern der Moderne (vgl. Kapitel V.). Der Rekurs auf den Begriff des Erhabenen liefert Lyotard nicht nur eine – historisch allerdings höchst fragwürdige – Genealogie, die die Avantgarde direkt an Kant anschließen lässt – “der Avantgardismus ist keimhaft in der Kantischen Ästhetik des Erhabenen enthalten“227 –, sondern eröffnet darüber hinaus einen metaphysisch instrumentierten Konnotationsraum, der, wie Ernst Müller dargelegt hat, von der bei Kant hergestellten Verbindung von Religion und Ästhetik im Begriff des Erhabenen herrührt.228 Während tradi222 Vgl. ebd. Siehe auch: Jean-François Lyotard: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektion, München: Fink 1994. 223 Barnett Newmans Kunstbegriff basiert selbst auf einer Modernekritik und einer Kritik an der Repräsentation. Vgl. Barnett Newman: „Interview with Emile de Antonio“, in: Ders.: Selected Writings and Interviews, New York: Knopf 1990, S. 302-308, S. 302f. Vgl. Barnett Newman: „The Plasmic Image“, in: Ders.: Selected Writings, S. 138-155, S. 140. 224 Jean-François Lyotard: „Der Augenblick, Newman“, in: Ders.: Das Inhumane, S. 141-157, S. 144. 225 Ebd., S. 145. 226 Ebd., S. 141. 227 J.-F. Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde, S. 182. 228 So notiert Ernst Müller: „[D]er Ästhetik [werden] Funktionen zugewiesen, die traditionell Metaphysik (oder lebensweltlich die Religion) inne hatten“, weshalb sich vor allem Lyotards rhetorische Figur der „Darstellung des Undarstellbaren“ im „Rahmen der historischen Genese des modernen Religionsbegriffs aufweisen“ lasse. Die Rede von der „Darstellbarkeit des Undarstellbaren“ bezeuge nicht nur die Nähe zur „negative[n] Theologie“, sondern mache auch die Affinität, den Begriff des Absoluten beizubehalten, „der sich jeglicher mythologischer oder symbolischer Repräsentation
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie tionelle Mimesis die Fähigkeit zur Darstellung des Wahren, Schönen und Guten ein für alle Mal eingebüßt hat,229 stellt die Avantgarde die verlorene Verbindung von Ästhetik und Ethik über die Erfahrung des Erhabenen wieder her. Lyotard schreibt: „Daher ist das Erhabene nichts anderes als die opferbringende Ankündigung der Ethik auf ästhetischem Gebiet. […] Dadurch kündigt sich das Ende einer Ästhetik – nämlich der des Schönen – im Namen der Bestimmung des Geistes hinsichtlich seines Endzwecks, der Freiheit, an“.230 Der negative Repräsentationsgedanke repräsentiert für Lyotard das Verabschieden traditioneller Funktionszuweisungen an die Kunst. Tatsächlich ist damit aber ein Konzept verbunden, das neben Lyotard, wie Jörg Herrmann gezeigt hat, etliche andere Künstler des 20. Jahrhunderts, wie Kandinsky, Klee, Rothko, Reinhardt und Hopper, teilen: Der negative Repräsentationsgedanke, Ausdruck einer umfassenden Vernunftkritik, verweise auf nichts anderes als auf die Verbindung von Mystik und Ästhetik. Die systematische Konstante, die, so Herrmann, darüber hinaus eine Strukturhomologie von mystischer und ästhetischer Erfahrung erkennen lasse, artikuliert sich im Bilderverbot, einem der theologischen Kerngedanken der Mystik, in der Askese, in der vollkommenen Selbstentäußerung, in der Kontemplation, in der Zweckfreiheit und schließlich in der Zeitkategorie der Gegenwart, die im Bereich der mystischen Erfahrung auf eine Verschmelzung mit dem Göttlichen hinführen soll und im Bereich der ästhetischen Erfahrung die „unio“ mit der Natur, der Kunst oder dem „Anderen“ anstrebt.231 Bemerkenswerterweise opfert Lyotard selbst für seine Begründung einer nicht-repräsentationalen Ästhetik damit ein philosophisches Prinzip, das er selbst in seiner politischen Philosophie mit der pluralistischen Konzeption des Widerstreits aufgestellt und projektiert hat: das Postulat eines von Heterogenitäten gekennzeichneten
entzieht“, kenntlich. Vgl. Ernst Müller: „Beraubung oder Erschleichung des Absoluten? Das Erhabene als Grenzkategorie ästhetischer und religiöser Erfahrung“, in: J. Herrmann u.a.: Die Gegenwart der Kunst, S. 144-164, S. 145f. 229 Vgl. Jean-François Lyotard: „Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit“, in: J.-F. Lyotard: Das Inhumane, S. 207-230, S. 216ff. 230 Jean-François Lyotard: „Nach dem Erhabenen, Zustand der Ästhetik“, in: Ders.: Das Inhumane, S. 231-244, S. 234f. 231 Vgl. Jörg Herrmann: „‚Wir sind Bildhauern gleich‘. Von der Verwandlung mystischer in ästhetische Erfahrung“, in: Ders./A. Mertin/E. Valtink: Die Gegenwart der Kunst, S. 87-105, S. 98ff. Siehe auch: Thomas Rentsch: „Der Augenblick des Schönen. Visio beatifica und Geschichte der ästhetischen Idee“, in: Ebd., S. 106-126.
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Theater als Ort der Utopie Diskurs- und Geschichtsverlaufs.232 Gerade das aber führt zu nicht anerkannten Paradoxien. Denn Lyotard muss zum einen stillschweigend darüber hinweggehen, dass Avantgardekünstler wie die italienischen und russischen Futuristen ihre Kunst ideologisch ebenso in den Dienst der Politik gestellt haben wie ihre realistisch arbeitenden Konkurrenten. Er darf zum anderen nicht eingestehen, dass die Kunstproduktion der Avantgarde sowohl durch eine enorme Diversität als auch durch strategische Selektion gekennzeichnet ist (vgl. Kapitel IV). II.4.4.5 II.4.4.5 Das Rhizom als Wurzel der Erkenntnis: Gilles Deleuze Wie Ernst Müller herausgearbeitet hat, zeichnet sich das ästhetische Denken Lyotards durch die Sehnsuchtsbewegung „nach dem unmittelbaren Innewerden des Unendlichen“233 aus. Dies, sowie das grundsätzliche Festhalten am utopischen Anspruch der Kunst, verbindet seine Position mit der seines Landsmannes und Generationsgenossen Gilles Deleuze, die ebenfalls in kunst- und theatertheoretischen Texten der Gegenwart aufgenommen wird.234 Wie Lyotard ist auch Deleuze enttäuscht von Marxismus und Schulphilosophie auch für seine Überlegungen zur Ästhetik nimmt Kant eine Schlüsselposition ein, auch für ihn wird die Kunst zum ausgezeichneten Gegenstand philosophischer Reflexion.235 Es ist zunächst die Frage nach der Verbindlichkeit philosophischer Begriffe, die Deleuze zur Auseinandersetzung mit der Ästhetik führt.236 Während für Deleuze das begriffliche Denken in der Regel logisch linear vorgeht und damit der Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit nicht gerecht wird, ist für
232 Argumentationshintergrund bildet für Lyotard der in „Das postmoderne Wissen“ modifizierte Wittgenstein‘sche Sprachspielbegriff, der davon ausgeht, dass die Regeln der Sprachspiele nicht a priori existieren, sondern durch die Diskursteilnehmer erst konstituiert werden. Vgl. J.-F.: Das postmoderne Wissen, S. 36ff. 233 E. Müller: „Beraubung oder Erschleichung des Absoluten?“, S. 161. 234 Nicht nur Hans-Thies Lehmann verweist in „Postdramatisches Theater“ auf Gilles Deleuzes Philosophie. Auch an anderer Stelle stand und steht der französische Philosoph hoch im Kurs. Vgl. Carmelo Bene: „Notate zum Theater“, in: Tilmann Broszat/Gottfried Hattinger (Hg.): Theater etcetera zum Theaterfestival ’97 in München, München: Spielmotor München e.V. 1997, S. 74-77. 235 Neben den zahlreichen Verweisen auf die Kunst innerhalb der philosophischen Schriften wären hier auch jene Werke zu nennen, die sich explizit mit Kunst und Ästhetik beschäftigen. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. Und: Gilles Deleuze: Proust und die Zeichen, Frankfurt a.M.: Ullstein 1978. 236 Hierzu siehe: Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München: Fink 1996.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie ihn die Kunst der Ort, an dem derart eingeschliffene Denkmuster aufgebrochen werden können. Ein Denken, das dergestalt radikal am Denken selbst Kritik übt, kann natürlich nicht seinerseits ebenfalls linear vorgehen, sondern ist darauf angewiesen, sich die wahrheitserschließende Kraft der Kunst für seine Zwecke zunutze zu machen. Unter Berufung auf das aphoristisch fragmentarische Denken Nietzsches erhofft sich Deleuze deshalb vom literarischen Schreiben ein Gegenmittel gegen den homogenisierenden Sog hierarchischen Systemdenkens, seine Einheitlichkeit und seine Dichotomien. Denn im literarischen Schreiben mit seinen Brüchen und seinem Raum für Widersprüche und Assoziationen lässt sich zeigen, dass die vermeintlich selbstverständliche Logizität des begrifflichen Denkens in Wahrheit eine Fiktion und damit den tatsächlichen Gegebenheiten unangemessen ist. Zusammen mit Félix Guattari schreibt Deleuze: „Die Begriffe sind Schwingungszentren, und zwar jeder für sich und alle untereinander. Darum herrscht überall Resonanz, anstatt Abfolge oder Korrespondenz. Es besteht keinerlei Grund, warum die Begriffe aufeinanderfolgen sollten. Als fragmentarische Totalitäten sind die Begriffe nicht einmal Teile eines Puzzles, da ihre unregelmäßigen Umrisse einander nicht entsprechen. Sie bilden wohl eine Mauer, eine Trockenmauer allerdings, und wenn alles zusammengetragen ist, so auf auseinander laufenden Wegen. Selbst die Brücken von einem Begriff zum anderen sind noch Kreuzungen oder Umwege, die keinerlei diskursiven Zusammenhang umschreiben. Es sind bewegliche Brücken. In dieser Hinsicht lässt sich durchaus annehmen, daß sich die Philosophie im Zustand permanenter Digression und Digressivität befindet.“237
In diesem Zusammenhang erklärt sich auch die Bedeutung der vielzitierten Metapher des „Rhizoms“ – sie beschreibt das Denken als einen Prozeß, in dem Vagheit, Vieldeutigkeit und Ambivalenz nicht störende, sondern konstitutive Größen bilden.238 Das Denkgeflecht des Rhizoms verbindet „einen beliebigen Punkt mit einem anderen beliebigen Punkt, wobei nicht unbedingt jede seiner Linien auf andere, gleichartige Linien verweist: es bringt ganz unterschiedliche Zeichenregime und sogar Verhältnisse ohne Zeichen ins Spiel. Das Rhizom lässt sich weder auf das Eine noch auf das Mannigfaltige zu-
237 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 30. 238 In „Was ist Philosophie?“ erläutern Deleuze/Guattari, dass es ihnen um „Deterritorialisierungen“ eingeschliffener Denkkategorien gehe. Die aus der Geographie entlehnte Metapher richtet sich gegen ein auf Linearität und Kausalität ausgerichtetes Denken. Damit verbunden ist auch der Verzicht auf vorgegebene (geopolitische) Raumordnungsvorstellungen. Vgl. ebd., S. 97f.
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Theater als Ort der Utopie rückführen. Es ist nicht das Eine, das zu zwei wird, oder etwa direkt zu drei, vier oder fünf etc. Es ist kein Mannigfaltiges, das sich aus der Eins herleitet und dem man die Eins hinzuaddieren kann (n + 1). Es besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen, oder vielmehr aus beweglichen Richtungen.“239
Zwar sprechen Deleuze/Guattari ausdrücklich von Philosophie, Wissenschaft und Kunst als grundsätzlich gleichberechtigten Denkformen,240 tatsächlich unterstellen sie jedoch, dass die Kunst ein höheres oder, wie man in ihrer Diktion formulieren müsste, ein rhizomatisches Entwicklungsstadium erreicht hat. Für die Philosophie heißt das, dass sie erst noch zu leisten hätte, was nach Deleuze etwa in der Malerei bereits bewerkstelligt ist: „Die Theorie des Denkens ist wie die Malerei, sie bedarf jener Revolution, die die Wendung von der Repräsentation zur abstrakten Kunst bewerkstelligt – was den Gegenstand einer Theorie des bildlosen Denkens ausmacht.“241 Wie auch bei Adorno und Lyotard mündet die Kritik am Repräsentations- und Identitätsgedanken bei Deleuze in eine Apologie künstlerischer Verfahren, die sich diesen Kategorien vermeintlich widersetzen. Beispielhaft dafür ist der Gedankengang, den er in „Differenz und Wiederholung“ entfaltet. Das Prinzip der Wiederholung will Deleuze in diesem Zusammenhang nicht als bloße Repetition des Identischen verstanden wissen, sondern als Akt, der ein Höchstmaß an Differenz hervorbringt. Differenz wiederum wird nicht im Hegel’schen Sinne als Anti-These verstanden, aus der eine Synthese und damit neue Identität erwachsen könnte, sondern in einem – weniger begründeten als vielmehr postulierten – „Jenseits“ dialektischer Bewegungen verortet: „Man muss die Wiederholung im pronominalen Sinn denken, das Selbst der Wiederholung finden, die Singularität in dem, was sich wiederholt. Denn es gibt keine Wiederholung ohne ein Wiederholendes, nichts Wiederholtes ohne wiederholende Seele. Eher noch als Wiederholtes und Wiederholendes, Objekt und Subjekt müssen wir schließlich zwei Formen von Wiederholung unterscheiden. In jedem Fall ist die Wiederholung die begriffslose Differenz. In einem Fall ist die Differenz bloß als dem Begriff äußerlich gesetzt, als Differenz zwischen Objekten, die unter demselben Begriff repräsentiert werden, und fällt in die Indifferenz des Raums und der Zeit. Im anderen Fall aber ist die Wiederholung der Idee immanent; sie entfaltet sich als reine schöpferische Bewegung eines dynamischen Raums und einer dynamsichen Zeit, die der Idee entsprechen. Die erste Wiederholung ist Wiederholung des Selben, die sich durch die Identität des Begriffs oder der Repräsentation expliziert; die zweite ist diejenige, die die 239 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992, S. 36. 240 Vgl. G. Deleuze/F. Guattari: Was ist Philosophie?, S. 234ff. 241 Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München: Fink 1997, S. 345.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie Differenz umfaßt und sich selbst in der Andersheit der Idee, in der Heterogenität unter einer ‚Appräsentation‘. […]. Die eine ist statisch, die andere dynamisch.“242
Als Beispiel dient hier überraschenderweise ausgerechnet das Kantische Sittengesetz, das Deleuze zufolge nur zustande komme, weil es transzendental gedacht sei und sich deshalb auf keine empirische Begründbarkeit stütze.243 Im vorliegenden Zusammenhang geht es jedoch weniger um die Frage, ob Deleuzes Kant-Exegese angemessen ist oder nicht, sondern vielmehr darum, welche Konsequenzen er für seine Theorie der Avantgarde daraus zieht. Dabei ist festzuhalten: Deleuze benutzt den Begriff der Wiederholung in zweierlei Bedeutung. Einerseits im Sinne bloßer, routinierter Repetition eines Identischen. Andererseits philosophisch-emphatisch im Sinne einer doppelten Verdammung von Gewohnheit und Gedächtnis und damit als befreiende Inversion der alltagssprachlichen, identischen Wiederholung. Ein Beispiel für eine derartige emphatische Form der Wiederholung entdeckt Deleuze, wie auch Jacques Derrida im Avantgarde-Theater, insbesondere im Theaterkonzept Antonin Artauds: „Das Theater der Wiederholung tritt dem Theater der Repräsentation gegenüber, wie die Bewegung dem Begriff gegenübertritt, durch die sie auf den Begriff bezogen wird. Im Theater der Wiederholung erfährt man reine Kräfte, dynamische Bahnen im Raum, die unmittelbar auf auf den Geist einwirken und ihn direkt mit der Natur und der Geschichte vereinen, eine Sprache, die noch vor den Wörtern spricht, Gesten, die noch vor den organisierten Körpern, Masken, die vor den Gesichtern, Gespenster und Phantome, die vor den Personen Gestalt annehmen – den ganzen Apparat der Wiederholung als ‚schreckliche Macht‘.“244
242 Ebd., S. 42f. 243 Als Gesetz manifestiere es sich allein aufgrund eines ständigen Wiedervollzugs. Nahezu parodistisch liest Deleuze hier Kants kategorischen Imperativ, der auf das Prinzip der Wiederholung angewiesen sei: „Du sollst, was immer Du willst, so wollen, dass Du auch dessen ewige Wiederkunft willst.“ Die Wiederholung, so Deleuze, sichert die Legitimität des Sittengesetzes, zugleich aber erlaubt sie auch, es zu unterwandern: „Die Form der Wiederholung in der ewigen Wiederkehr ist die brutale Form des Unmittelbaren, die Form in der sich Singuläres und Universales vereinigen, und die jedes allgemeine Gesetz entthront, die Vermittlungen zerschmelzen und die dem Gesetz unterworfenen Besonderen untergehen lässt.“ Die Wiederholung steht damit, Deleuze zufolge, jenseits von Gut und Böse. Weil sie in letzter Konsequenz auf die Freiheit des Willens verweist, ist sie für Deleuze eine letzte, irreduzible ethische Kategorie. Vgl. ebd., S. 22. 244 G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 26.
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Theater als Ort der Utopie Hier zeigt sich, dass Deleuze, ähnlich wie er zwischen „schlechter“ und „guter“ Wiederholung unterscheidet, offensichtlich auch zwischen „schlechter“ und „guter“ Kunst unterscheidet: einer traditionellen, begriffsaffinen, affirmativen Kunst der Repräsentation auf der einen, und einer vorrationalen, sinnlichen, begriffszersetzend subversiven Kunst auf der anderen Seite. Auf sie setzt Deleuze seine Hoffnungen, ihr billigt er gesellschaftsverändernde Kraft zu. Diese Bewertung gründet auf der emphatischen, an die Kategorie des „daist-es“ von Lyotard gemahnenden These, das Kunstwerk sei ein „Empfindungsblock (Herv. i. O.)“, eine „Zusammensetzung aus Perzepten und Affekten“, die als „Wesen […] durch sich selbst gelten und über alles Erleben hinausreichen“.245 Es ist offensichtlich, dass eine solche These nicht im strengen Sinne bewiesen, sprich, nicht durch systematische Kategorisierung und historische Genese an konkreten Beispielen analysiert und exemplifiziert246, sondern allenfalls als ästhetiko-metaphysische Unterstellung rhetorisch angesonnen werden kann. Genau das ist der Zweck von Formulierungen wie: „Man ist nicht in der Welt, man wird mit der Welt, man wird in ihrer Betrachtung. Alles ist Schauen, Werden. man wird Universum. Tier-Werden, Pflanze-Werden, Molekular-Werden, Null-Werden.“247 Da ästhetische Erfahrung nach Deleuze im „Null-Werden“ gipfelt248, genießt die abstrakte Kunst, und hier insbesondere die monochrome Malerei, seine besondere Wertschätzung. In ihr ist seiner Auffassung nach der Nullpunkt der Bedeutung, der auf nichts mehr als auf sich selbst verweist, erreicht. Sie ist für ihn Ausdruck eines Spiels dynamischer Kräfte, die Deleuze, wie schon Kandinsky, mit dem Kosmischen verbindet.249 Die Parallele zu Lyotards affirmativer Lesart der Avantgarde sowie dessen Paralleli-sierung von ästhetischem Erleben und mystischer Erfahrung ist, obwohl Deleuze eine radikale Philosophie der Immanenz zu entwerfen verspricht, unübersehbar. Mit Lyotard verbindet ihn auch, dass er die Gegenwart als prekär und veränderungswürdig erfährt, dabei politischen Lö-
245 G. Deleuze/F. Guattari: Was ist Philosophie?, S. 191ff. 246 Assoziativ entfalten Deleuze/Guattari ihre Konzeption des „Empfindungsblocks“ anhand der Werke von van Gogh, Giacometti, Kleist, Melville, Proust, Gauguin und Bacon. 247 G. Deleuze/F. Guattari: Was ist Philosophie?, S. 199. 248 Deleuze exemplifiziert anhand der Malerei Fancis Bacons seine Kritik an der Repräsentation. Bacon habe die Ebene des Figurativen verlassen und die Figuren damit „von ihrer repräsentativen Rolle befreit“. Ebenso wie Lyotard stellt Deleuze die Verbindung zum Bilderverbot her. Das Verlassen der bildnerischen Ebene bei Bacon verbindet Deleuze wiederum mit Artauds Bezeichnung vom „organlosen Körper“. Vgl. Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logik der Sensation, München: Fink 1995, S. 13. 249 Vgl. ebd., S. 216f.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie sungen misstraut, zugleich aber an eine revolutionäre Potenz ästhetischer Erfahrung glaubt.
ODER
II.4.5 VOM WETTSTREIT DER DISKURSARTEN ANMERKUNGEN ZU EINER ZEITGENÖSSISCHEN VORSTELLUNG VON ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG
Die meisten Grundannahmen der Ästhetik-Konzeptionen Adornos, Lyotards und Deleuzes finden sich, wenn nicht explizit, so doch zumindest implizit, in zahlreichen heutigen theaterwissenschaftlichen Diskursen zum postdramatischen Theater und zur Performance Art wieder, so etwa das Postulat, einer bestimmten Form ästhetischer Erfahrung wohne per se ein vernunft- bzw. ideologiekritisches Potential inne. Dagegen werden Luhmanns, Gehlens und Marquards Einwände gegen die utopische Überbeanspruchung des Ästhetischen, die zwangsläufig daraus folgt, wenn man der Kunst eine herausragende Lebensanleitungs- oder Erkenntnisfunktion gegenüber anderen Diskursformationen und Welterklärungsmodellen zubilligt, im selben Zusammenhang selten diskutiert. Zugleich wird meist übersehen, dass die Selektionsmechanismen, mit denen die Theatertheorie und -historiographie auf diesem Feld operiert, auf geschichtsphilosophischen Vorannahmen basiert, die nicht unbedingt aus sich selbst heraus einleuchtend sind und deshalb zumindest kritisch reflektiert werden müssten. So hat der Philosoph Christian Demand Strategien der Immunisierung von Kunsttheorie und -kritik gegenüber einer Kritik von außerhalb des Systems seit dem 18. Jahrhundert nachgewiesen und dabei eine Konstante festgestellt: Der Wandel von der Kategorie der Schönheit, die im 18. Jahrhundert mit der Wahrheit in Verbindung stand, hin zum Fortschrittsmodell in den Künsten, das nun – nach wie vor – an das Wahrheitskriterium gebunden wird, ist begleitet von einer „Beschämung“ jener, die diesem Modell nicht Folge leisten wollten. Während so die ehemals am Schönen, Wahren und Guten ausgerichtete Norm für künstlerische Vollendung sich inhaltlich wandelte, blieb die Strategie der Normsetzung und Abgrenzung auf der Basis eines dichotomen Geschichtsbilds konstant.250 Zahlreiche Textstellen belegen Demands These, derzufolge das „Lagerdenken bzw. die bewährte Strategie, dem realen (oder vermeintlichen) Gegner pauschal die Urteilskraft abzusprechen, um ihn so, zumindest symbolisch, vom Diskurs auszuschließen“,251 weiterhin kursiert.
250 Vgl. Christian Demand: Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte, Springe: zuKlampen 2003. 251 Ebd., S. 260.
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Theater als Ort der Utopie Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Wolfgang Ullrich, der die Strategien kritisiert, die dafür sorgen, dass normative Vorstellungen von ästhetischer Erfahrung sowohl den theoretischen Diskurs als auch die Kunstproduktion beherrschen: „‚Frei‘ und ‚autonom‘ sind beliebte Epitheta der Kunst – in der Charakteristik der Kunstbetrachtung spielen sie hingegen die längste Zeit fast keine Rolle mehr. Vielmehr werden dem Publikum […] häufig Vorschriften gemacht, wie es sich Kunstwerken zu nähern habe; man setzt ein bestimmtes Verhalten bei ihm voraus. Die Lenkung der Kunstrezeption durch feste Rituale bedeutet aber, daß deren Mißachtung auch als moralisches Manko – als Fehltritt – gewertet werden kann, während sich ihre Erfüllung wie eine gute Leistung würdigen lässt. Dies hat Konsequenzen, die nur selten bedacht werden und die nicht zuletzt den Status jener Freiheit und Autonomie der Kunst in anderem Licht erscheinen lassen.“252
Mit Verweis auf die Marketingstrategien eines großen, auch von Kapitalinteressen beherrschten Kunstmarkts253, den die Künstler selbst mitbedienten, fragt Ullrich, ob die hohe Bewertung von Kunst und ästhetischer Erfahrung in Verbindung mit ethischen Kategorien eigentlich noch zeitgemäß sei: „Das Interesse an der Fundamentalopposition ist ihnen [den Künstlern, Anm. d. Verf.] in der freiheitlichen Wohlstandskultur abhanden gekommen; die Kunst steht somit nicht mehr unter dem Druck der Totalverweigerung, sie muss nicht mehr – im heiligen Ernst – Avantgarde sein, um die Menschen – wie eigentlich? – aus einer üblen, verdorbenen Welt zu führen.“254 Der Kriterienverlust infolge der Autonomisierung der Kunst hat Ullrich zufolge vor allem dazu geführt, dass sich nunmehr jede beliebige Verweigerung von Bedeutung und Narration unter Verweis auf die Freiheit der Kunst legitimieren lasse. Auf der Seite der Kritik tritt an die Stelle normgeleiteter Argumentation die dogmatische Ausgrenzung der Rezipienten, die bei der Beurteilung derselben Werke anderen ästhetischen Vorlieben folgen. Anstelle eines kulturkritischen Szenarios tritt bei Ullrich – dasselbe gilt für Demand – die Aufforderung, sich von der ethischen Überbeanspruchung der Kunst zu lösen und dem damit einhergehenden Funktionsverlust nüchtern ins Auge zu sehen.
252 Wolfgang Ullrich: Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst, Berlin: Wagenbach 2003, S. 13. 253 Zu Differenzieren wäre hier zwischen der Frage nach Subvention von Kunst, dem Anteil von Sponsoring durch große Wirtschaftskonzerne und – anders als im Theater – dem börsennotierten Kapitalwert von Kunstwerken, der meist durch den Einfluß von Kunstsammlern mitbestimmt wird. 254 W. Ullrich: Tiefer hängen, S. 59.
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Zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie Beide Studien verweisen also nicht nur kritisch auf historisch konstante Diskursstrategien und daraus resultierende Machteffekte im System Kunst. Sie zeigen darüber hinaus den performativen Widerspruch auf, den die Inanspruchnahme ethischer Kategorien in Verbindung mit der Affirmation einer bestimmten Ästhetik generiert: Im Namen der Moral werden der Freiheit und Autonomie des Rezipienten im Umgang mit Kunst Grenzen gesetzt, wenn er die Programmatik der Künstler nicht teilt. Eine solche Hegemonie der Urteilskraft im kunstwissenschaftlichen Diskurs aber läuft den Prinzipien eines der Pluralität heutigen Kunstschaffens angemessenen „Wettstreits der Mundarten“ (Deleuze) offensichtlich zuwider. Hans Belting notiert hierzu: „In der Ära der Aufklärung begründete man ihr [der Kunst, MD] Verständnis als Trägerin einer universal gültigen Ästhetik, deren Sprache überall auf der Welt verstanden würde. Heute hat der Universalismus, den man in diesem Kunstideal propagiert, selbst im Westen seine Unglaubwürdigkeit offenbart. […] Der alte Universalismus, der den westlichen Kunstglauben nährte, ist dem neuen Globalismus der kulturellen Verschiedenheit direkt entgegengesetzt.“255 Was hier für den Bereich der bildenden Kunst geltend gemacht wird, lässt sich ohne weiteres auch auf das Feld des Theaters übertragen. Auch dort nämlich gilt: Wer bereit ist, den Wertpluralismus einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ernst zu nehmen, kann den theoretischen Diskurs über die Künste keinem normativen Apriori mehr unterstellen und das auch dann nicht, wenn er damit die besten emanzipatorischen Absichten verbinden mag. Ob also ästhetische Erfahrung als genuiner Ort der Utopie und Vernunftkritik ausgewiesen werden kann oder auch nicht, ob dem Theater die Möglichkeit politischer Einflussnahme oder auch eine Form von Erkenntnisgewinn zugestanden wird oder nicht, ob bestimmte künstlerische Ausdrucksformen auf die Anerkennung ebenso klar definierter Rezeptionshaltungen angewiesen sind oder auch nicht – all dies kann nicht in pädagogischer Absicht verordnet, sondern allenfalls zur freien Verhandlung unter grundsätzlich gleichberechtigten Diskursteilnehmern vorgelegt werden.
255 Hans Belting: „Hybride Kunst? Ein Blick hinter die Fassade“, in: Ders.: Szenarien der Moderne. Kunst und ihre offenen Grenzen, S. 122-153, S. 135f.
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III. III. FEST UND UTOPIE
III.1 Paradigm continued: Das Theaterfestival SPIELART – ein kritisches Porträt Ziel des vorangegangenen Kapitels war es zu zeigen, dass Theorie und Historiographie des postdramatischen Theaters Anleihen bei Denkmustern nehmen, die ursprünglich ihren Platz in der idealistischen Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatten. Vermittelt wurden sie über den ästhetischen Utopismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie er idealtypisch von Adorno, Lyotard oder auch Deleuze formuliert worden ist. Ein Indiz für das Fortwirken idealistischen Denkens dieser Prägung in der Theaterwissenschaft ist die bemerkenswerte Rolle, die hier nach wie vor der Begriff der ästhetischen Erfahrung spielt. Er dient nämlich in den seltensten Fällen nur als Analyseinstrument. Weit öfter wird er als die entscheidende Instanz erachtet, über die die Kunst angeblich ihre gesellschaftsverändernde Kraft geltend machen kann, wobei die geschichtsphilosophischen Implikationen der idealistischen Ästhetik (unter der Hand) mitübernommen werden. Ähnlich utopisch aufgeladen ist in der Theaterwissenschaft der Begriff des Fests. In zahlreichen Festtheorien, aber auch in der programmatischen Literatur zu Festspielen und Festivals wird das Fest mit Vorliebe als ästhetische Gegenwirklichkeit angesichts der Prosaizität und Kommerzialität des Alltags und mithin als genuiner Ort zur Herstellung einer vom Interesse an höheren Werten getragenen Gemeinschaft beschworen. Beispielhaft hierfür sind die Ausführungen, mit denen im Jahr 1995 Festivalleiter Tilmann Broszat zusammen mit den Programmgestaltern Gottfried Hattinger und Sigrid Gareis das Theaterfestival SPIELART ankündigte. „Lust machen auf unkonventionelles neues Theater über alle geographischen Grenzen hinweg – das will SPIELART“,1 hieß es im Editorial des Programmhefts von 1995. Was demgegenüber als konventionell und alt zu gelten habe, wurde zwar nicht ausdrücklich benannt, ergab sich aber implizit durch die Ankündigung, man werde deutsche Produktionen
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Programmheft: SPIELART 1995“, S. 2.
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Theater als Ort der Utopie zeigen, die sich „gegenüber den mächtigen Strukturen der Stadtund Staatstheater“2 zu behaupten wüssten. Zur zweiten Auflage von SPIELART 1997 erweiterten die Veranstalter das theoretische Begleitprogramm und präsentierten zudem eine Aufsatzsammlung mit programmatischen Texten. Broszat wies dort, analog zur ersten Festivalkonzeption, SPIELART als „Forum für innovatives Projekttheater“ aus, das sich als „manifeste Kritik an lange gepflegte Legenden unbeweglicher Kulturbewahrer“3 verstehe. Das Festival wolle ein Theater abseits der „herkömmlichen ästhetischen Gesetzmäßigkeiten“ präsentieren, das sich nicht der „Interpretation von Literatur“ verschrieben habe, sondern „das originäre Formen von Akteuren, Medien und Materialien (darunter durchaus Literatur) zu Bühnenereignissen“ in den Vordergrund rücke. Kurz, den Veranstaltern ging es um die Anerkennung und Etablierung der „Performing Art als eigenständige[r] Kulturform“.4 Um die Relevanz dieses Vorhabens herauszustellen, verwies Broszat erneut auf den vermeintlichen Antagonismus zwischen Avantgardeund Staatstheater. Dabei stellte er sein Festivalprojekt in die Tradition der Theatermacher der 70er Jahre, deren Anliegen die Entrümpelung der „Dekorationskulissen des Renaissance-Theaters“ gewesen sei. Namen wie Robert Wilson, Jan Fabre und The Wooster Group bildeten die künstlerische Matrix für das Konzept, wie es in München künftig alle zwei Jahre zur Realisierung gelangen sollte. Aus heutiger Perspektive mag sich diese These – das konservative, unbewegliche Staatstheater im Gegensatz zum innovativen, offenen Projekttheater – wie eine marketingstrategische Zuspitzung lesen. Sie fügt sich allerdings nur zu harmonisch in den gängigen Diskurs über das postdramatische Theater ein, wie er auch in der Theaterwissenschaft gepflegt wird. Zwar überraschte Broszat nur zwei Jahre später mit der Feststellung, der Antagonismus zwischen Staatstheater und Projekttheater habe sich mittlerweile „in Wohlgefallen“ aufgelöst. Die Diskussion habe beide Systeme belebt und sie voneinander profitieren lassen, es sei sogar ein „Überdruß an dekonstruktiven Techniken, an strategisch-intellektuellem Kalkül ausgeklügelter Regiekonzepte“ zu erkennen, vor dessen Hintergrund sich möglicherweise sogar eine „konservative Kehrtwende der thea-
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Ebd. SPIELART wird geleitet von Tilmann Broszat und Gottfried Hattinger und getragen von Spielmotor München e.V., einem Verein, der 1979 von der Landeshauptstadt München und von BMW ins Leben gerufen wurde. Tilmann Broszat: „Vorwort“, in: Ders./Gottfried Hattinger (Hg.): Theater etcetera. Zum Theaterfestival ‘97 in München, München: Spielmotor München e.V. 1997, S. 9-12, S.9 u. 11. Ebd., S. 10.
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Fest und Utopie tralen Kunstformen“ abzeichne.5 Zum Beleg hierfür verwies der Veranstalter auf den bemerkenswerten Erfolg traditionell narrativ angelegter Stücke junger britischer Autoren. Auf den Umstand angesprochen, dass mit der BMW AG ein international agierender Großkonzern SPIELART finanziell unterstützt,6 womit der ideologiekritische Anspruch der Programmatik des Festivals zum Bestandteil einer globalen Marktstrategie werde, relativierte Broszat ebenfalls die dichotome Programmatik der Anfangsjahre: „Ich glaube, dass man mit dem alten Schwarz-Weiß-Muster aus der Vergangenheit nicht mehr weit kommt. Genauso wie ich auch der Meinung bin, diese Worte, die man früher gebraucht hat, wie Utopie oder die Idealvorstellungen vielleicht im Kunstbetrieb oder Theater nicht mehr so ganz angemessen sind und vielleicht ist es auch richtig so, dass mal ein bisschen zurechtgerückt wird, was man da jeweils so macht.“7 Berücksichtigt man überdies, dass es bis heute immer wieder zu Gastspielen in und Koproduktionen mit feststehenden Häusern kam, so könnte man zur Überzeugung gelangen, Broszat hätte sich von der bis 1997 propagierten Disjunktion „institutionelles Theater versus Projekttheater“ späterhin verabschiedet.8 Tatsächlich jedoch blieb diese Revision in praktischer Hinsicht auf theoretischer Ebene folgenlos. Bis 2005 waren Programm und Marketing eindeutig an den Leitwerten „ästhetische Innovation“ und „Avantgarde abseits des staatlichen Literaturtheaterbetriebs“ ausge5
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Vgl. Tilmann Broszat: „Vorwort“, in: Ders./Gottfried Hattinger (Hg.): Theater etcetera zum Theaterfestival SPIELART München 1999, München: Spielmotor München e.V. 1999, S. 9-13, S. 11. Thomas Girst, Leiter des Referats Kulturkommunikation der BMW AG verkündete, dass BMW zwar die Investition in die Standortpflege im Blick habe, im Kerngeschäft es aber ums Geld gehe. Vgl. Martin Hammer: „Stille Hilfe mit Nebeneffekt. Ob Bank oder Autobauer, die Münchner Konzerne geben Millionenbeträge für Spenden und Sponsoring aus“, in: Süddeutsche Zeitung vom 8.11.2004, S. 47. Tilmann Broszat: Interview mit der Autorin am 13.12.2006, unveröffentlicht. So etwa bei der Ko-Produktion mit den Münchner Kammerspielen „Der Fall der Götter“ von Zuidelijk Toneel Hollandia (2001), die auch bei den Salzburger Festspielen gastierte sowie bei der Christoph-Marthaler-Produktion „O.T. Eine Ersatzpassion“ des Schauspielhauses Zürich, die 2005 bei SPIELART zu sehen war. Die strikte Trennung beider Sphären war jedoch schon von Beginn an eher programmatischer Traum als pragmatische Realität. Seit 1995 profitierte SPIELART davon, dass die festen Münchner Häuser dem Festival ihre Spielstätten zur Verfügung stellten. Die Presse monierte angesichts dieser immer stärker werdenden Vernetzung das recht hohe Maß an Etabliertheit. Hierzu siehe: Egbert Tholl: „Her mit dem echten Leben! Das Theater-Festival ‚SPIELART 2007‘ in München“, in: Süddeutsche Zeitung vom 03.12.2007, S. 12.
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Theater als Ort der Utopie richtet, folgte die ideelle Festivalkonzeption also der alten binären Logik. Auch dort, wo es um die künstlerische Selbstverortung des Festivals ging, spielte dessen Leiter „konservatives“ und „innnovatives“ Theater, Staats- und Festivalbetrieb weiterhin gegeneinander aus.9 Mit diesem programmatischen Credo steht Tilmann Broszat in der Szene nicht allein. Elisabeth Schweeger, von 1993 bis 2001 Leiterin des Münchner Marstall-Theaters, der Nebenspielstätte des Bayerischen Staatsschauspiels, verkündete in einem Gespräch anlässlich des SPIELART-Festivals von 1999: „Die sogenannte Avantgarde oder neue Kunst hat es immer schwieriger in diesem Freiraum, weil einfach die Gelder nicht vorhanden sind, weil sie für Sponsoren uninteressant ist […].“10 Mit umfassendem kulturkritischen Gestus bemängelte sie, dass „die“ Kulturpolitik nur noch an großen Events interessiert sei: „Wenn ich nicht die Massen garantieren kann, dann hab’ ich auch keine Existenzberechtigung. Und das ist das Problem von einer Gesellschaft die zuviel produziert“11 – wobei die avantgardistischen Produktionen selbstverständlich vom Vorwurf des „zuviel“ ausgenommen waren. Die Überzeugung, dass an institutionalisierten Häusern lediglich eine Art Theatertextverwaltung betrieben werde, teilt auch die Theaterkritikerin Silvia Stammen: „Bei einem Blick auf die deutsche Theaterlandschaft fällt […] auf, dass die institutionelle Theaterproduktion weit überproportional vertreten ist, was unschwer erkennbar damit zusammenhängt, dass den öffentlichen Trägern die Subventionierung von kommunalen oder staatlichen Institutionen eher geheuer ist, als die von unabhängigen Einzelunternehmungen.“12 Tilmann Broszat selbst grenzt sein eigenes Projekt mittlerweile auch von solchen Festivals ab, die aus Sicht postdramatischer Äs-
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„Ich glaube nach wie vor, dass in diesem Nicht-Staatstheaterraum grundsätzlich eine größere Innovationskraft liegt. Davon bin ich nach wie vor überzeugt. Es hat sich in der Hinsicht sogar noch verstärkt, weil die großen Theater eigentlich immer weniger Risiken eingehen können. […] Ich finde aber, es findet inzwischen eine ganz sinnvolle Arbeitsteilung statt. Die risikoreichen Projekte, da wo etwas Neues ausprobiert wird, […], das findet beispielsweise in Häusern [statt], die sich um die freie Szene kümmern und natürlich in Projekten, die sich außerhalb von Theaterhäusern bewegen.“ Tilmann Broszat: Interview mit der Autorin am 13.12.2006, unveröffentlicht. 10 Elisabeth Schweeger: „Irgendwann gibt es Zwetschgen. Interview mit Gottfried Hattinger“, in: T. Broszat/G. Hattinger: Theater etcetera 1999, S. 25-36, S. 25. 11 Ebd., S. 30. 12 Silvia Stammen: „Meute oder Rudel. Über die Wechselwirkung von Produktionsweise und Produkt“, in: T. Broszat/G. Hattinger: Global Hero/Local Player, S. 93-103, S. 96f.
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Fest und Utopie thetik in Verdacht stehen, selbst staatstheaterartige Züge angenommen und damit das Ethos des Festivals als Ort der Gegenkultur verraten zu haben.13 Festivals wie sein eigenes hält Broszat nach wir vor für Instanzen, die selbst innovativ Kunst in Gang bringen, indem sie sich darüber austauschen, welche Künstler ihrer Ansicht nach gefördert und welche Kooperationen angestrebt werden sollen.14 Innerhalb der deutschsprachigen Theaterlandschaft steht das bei Publikum und Presse gleichermaßen beliebte SPIELARTFestival15 exemplarisch für die Förderung von Spielformen des Theaters, die sich nicht der theatralen Konvention des Literaturtheaterbetriebs unterordnen wollen. Dass SPIELART allerdings selbst in einem Kontext kultureller Entwicklungen steht, vor dessen Hintergrund die vermeintliche Ausnahmestellung weit weniger exzeptionell erscheint, als das die programmatischen Selbstaussagen glauben machen wollen, soll im Folgenden zur Debatte stehen.
III.2 Festivals im Kontext: KulturKultur - politische Transformationsprozesse Die in der Selbstdarstellung der Veranstalter und in vielen der Begleittexte immer wieder mehr oder weniger ausdrücklich vorgebrachte Behauptung, SPIELART sei ein genuiner Ort der Innovation, während an den etablierten Häusern lediglich der immer gleiche Repertoirebetrieb fortgeschrieben werde, bezieht ihre Glaubwürdig-
13 Broszat nannte die Münchner Opernfestspiele, die ihre Produktionen der laufenden Spielzeit zeigen, die großen, repräsentativen Festivals wie die Salzburger Festspiele sowie Festivals, die im Sog der Mechanismen des öffentlichen Kulturbetriebs anlässlich von Geburtsjahren initiiert würden. Vgl. Tilmann Broszat: Interview mit der Autorin am 13.12.2006, unveröffentlicht. 14 Ebd. 15 Die „Süddeutsche Zeitung“ sprach 2001 vom Festival als einer „festen Größe im Theaterkalender“. Vgl. Antje Weber: „Viel Theater um den Zuschauer“, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.11.2001, S. 21. 2003 hieß es in der SZ: „Theater muss es auch erst einmal schaffen, den Zuschauer so profund aufzuregen, wie es manches bei SPIELART tat.“ Egbert Tholl: „Das Traumlabor. Nach dem fünften SPIELART-Festival gehts uns besser“, in: Süddeutsche Zeitung vom 10.11.2003, S. 46. Die „Abendzeitung“ notierte: „Aber das wirklich Spannende ist doch, dass München sich seit 1995 zum fünften Mal ein internationales Theaterfestival leistet.“ Gabriella Lorenz: „Ein Forum für alle SPIELARTen“, in: Abendzeitung vom 10.11.2003, S. 18. 2005 hieß es: „[…] während SPIELART wird halt deutlich, was möglich wäre.“ Egbert Tholl: „Zugabe“, in: Süddeutsche Zeitung vom 10.12.2005, S. 46.
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Theater als Ort der Utopie keit aus der implizit mitbehaupteten These von der Ausnahmestellung des Festivals in der zeitgenössischen Theaterlandschaft.16 Genau diese These entpuppt sich bei näherer Betrachtung aber eher als identitätsfördernde Rhetorik denn als empirisch nachweisbare Realität. Tatsächlich hat das Festivalwesen hierzulande längst Formen angenommen, die sich in punkto Etabliertheit kaum noch von denen des subventionierten Staats- und Stadttheaters unterscheiden. Theaterfestivals sind ein Wachstumsmarkt. Während das „Deutsche Bühnen-Jahrbuch“ für den deutschsprachigen Raum in der Spielzeit 1984/1985 noch 25 Festspiele verzeichnete, stieg deren Zahl 1994/1995 auf 43, 2002/2003 auf 49 und 2008/2009 auf 68.17 Auch die Statistiken der „European Festivals Association“ (EFA) bezeugen eine stetige Zunahme der Zahl ihrer Mitglieder – seit dem Gründungsjahr der EFA 1952 ist ihre Anzahl von 15 auf 61 im Jahr 1993 angewachsen,18 2008 zählte die Organisation bereits über 100 Mitglieder in 38 Ländern.19 SPIELART ist damit aber nicht nur Teil eines quantitativen Prozesses, sondern auch eines ideellen. Thematisch in unmittelbarer Nachbarschaft stehen in Deutschland einige andere Festivals mit ähnlicher konzeptioneller Ausrichtung. Hierzu gehören etwa das Sommerfestival in der Hamburger Kampnagelfabrik, das 1991 in Leipzig ins Leben gerufene Festival „euroscene“ oder das Festival „Plateaux“ im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt. Dass Theaterfestivals ganz allgemein vermehrt auf öffentliche Resonanz treffen, zeigt, dass hier dieselben Ausdifferenzierungsprozesse stattfinden, die auch im Bereich der Musik oder des Films festzustellen sind.20 Dass Festivals wie SPIELART, die von ihrem avantgardistischen Selbstverständnis her allenfalls eine Nischenposition auf diesem expandierenden Markt behaupten dürften, tatsächlich auf weit größere Resonanz stoßen, lässt darauf schließen, dass sie erfolgreich Interessen und Bedürfnisse bedie-
16 Explizit formuliert wird diese in einem Ergebnisbericht der 2005 gegründeten Initiative FIT (Festivals in Transition) von acht Festivalveranstaltern, die Argumente für die besondere Förderwürdigkeit ihrer Aktivitäten versammelte. Vgl. Tilmann Broszat: „Theatre Festivals – why?“, in: www.thea-terfit.org/results_all_festivals.html, S. 1-11, S. 2 u. 3. vom 28.03.2008. 17 Vgl. Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (Hg.): Deutsches Bühnenjahrbuch, Hamburg: Bühnenschriften-Vertriebs-Gesellschaft 1985; Dies. (Hg.): Deutsches Bühnenjahrbuch (1995); Dies. (Hg.): Deutsches Bühnenjahrbuch (2003); Dies. (Hg.): Deutsches Bühnenjahrbuch (2008). 18 Vgl. Matty Verhoef: European Festivals, Lausanne: European Festivals Association 1995, S. 142. 19 Vgl. http://www.efa-aef.eu vom 28.04. 2008. 20 Bezeichnend für diese Entwicklung ist auch der 2007 erstmals erschienene Festivalführer für den deutschsprachigen Raum. Vgl. Rolf Hosfeld (Hg.): Festivals 2007/2008, Hamburg: Metz 2007.
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Fest und Utopie nen, die im Rahmen des staatlichen und städtischen Betriebs offenbar nicht mehr dem gesamten potentiellen Publikum glaubhaft präsentiert werden können. Insofern steht die Rhetorik vom Antagonismus etabliert/innovativ nicht im luftleeren Raum. Die Nachhaltigkeit, mit der sie sich nun schon seit Jahrzehnten hält, deutet eher darauf hin, dass sie ein Unbehagen am Subventionstheater benennt, das, auch wenn es derart dichotome Theoreme vielleicht nicht rechtfertigen mag, so doch auch nicht vollkommen ungerechtfertigt ist. Ob der Festivalbetrieb seinerseits keinen Anlaß zu einem derartigen Unbehagen bietet, ist damit allerdings noch nicht beantwortet. Wovon hier auf Seiten der Staatstheater die Rede ist, macht ein Text wie Henning Röpers 2001 erschienener zum „Theatermanagement“ deutlich, in dem der Autor einen umfassenden betriebswirtschaftlich orientierten Lösungsvorschlag zur „Existenzsicherung der öffentlichen Theater“21 vorlegt. Pragmatisch rechnet Röper vor, dass die subventionierten Theater erlernen müssten, selbstverantwortlich und effizienzorientiert zu wirtschaften. Besonderen Nachdruck legt er aber darauf, dass der Legitimationsdruck überhaupt als eine Folge von gesellschaftlich differenzierten Erlebnisangeboten anzuerkennen sei. Über die politische Legitimation hinaus, die die Finanzierung durch öffentliche Gelder zu rechtfertigen hat, gehe es darum, einen Statuswandel innerhalb der Gesellschaft zu akzeptieren, der sich im Schwinden der „Verbindlichkeit früher zuverlässig tradierter Bildungsinhalte und Verhaltensmuster“22 äußere: „Die Auflösung des Bildungsbürgertums“, so Röper, „geht notwendig damit einher, dass ehemals nicht ernstlich in Frage gestellte kulturpolitische Konsenspositionen nun verstärkt zur Disposition stehen, […].“23 Das Erbe des Theaters als „moralische Anstalt“, das subkutan im Rechtfertigungsjargon der einzelnen Interessensvertreter meist diffus mitschwingt,24 ist angesichts dieser gesellschaftlichen und strukturellen Veränderungen nicht mehr conditio sine qua non. Röper wirft hier die aus produktionsästhetischer Sicht vermutlich eher unattraktive Frage auf, ob „der Genuss an der künstlerischen Umsetzung und die Freude an den unterhaltenden, spannenden oder 21 H. Röper: Theatermanagement, S. 1. 22 Ebd., S. 486. 23 Ebd. Skepsis gegenüber der Praxis der Staats- und Stadttheater formulierte auch Arno Paul. Vgl. Arno Paul: „Vom Krebsgang des Stadttheaters. Trotz der nationalen Wiedervereinigung blieb das deutsche Schauspiel im Schatten der siebziger und achtziger Jahre“, in: Forum Modernes Theater 15/2 (2000), S. 99-112, hier S. 109. 24 Erkennbar, wie in Kapitel II.1 erwähnt, an den Legitimationsbemühungen der Arbeitsgruppe „Zukunft von Theater und Oper in Deutschland“. Vgl. J. Flimm u.a.: Zwischenbericht der Arbeitsgruppe, S. 64-73.
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Theater als Ort der Utopie auf andere Weise beeindruckenden Momenten“25 aus Sicht der Besucher nicht ohnehin stets wichtiger gewesen sei als die ideelle Botschaft. In den diffusen Zielsetzungen auf Seiten von Theaterleitungen und Interessenvertretungen sieht Röper einen Grund dafür, weshalb die etablierten Häuser sich in einer chronischen Legitimitätskrise befinden. Darüber hinaus bringt aber auch eine veränderte Theaterlandschaft die etablierten Institutionen unter Druck. Es gibt im deutschsprachigen Raum mittlerweile nämlich auch zahlreiche nichtöffentliche Anbieter, die dem Theaterpublikum ebenfalls Unterhaltung, Spannung und außergewöhnliche Erlebnisse vermitteln. Dazu zählen, neben Musical- und Gastspielbetrieben, eben die Theaterfestivals. Im Konkurrenzkampf des Kulturbetriebs spricht, neben dem eigentlichen Programmangebot, die „flexible Kostenstruktur“, der geringere Bedarf an öffentlichen Zuschüssen sowie der touristische Mehrwert für sie.26 So gut wie alle Festivals, wie sehr sie sich in anderer Hinsicht auch unterscheiden mögen, beanspruchen, mit ihrem Programm ideelle Zielsetzungen zu erfüllen, die im gewöhnlichen Repertoirespielbetrieb auf der Strecke bleiben. Schon bei der Gründung der Festspiele von Bayreuth, und später der Salzburger Festspiele, war dieses Anliegen zentral.27 Ganz so klar verlaufen die Trennlinien in der Praxis allerdings nicht. Was etwa den Spagat zwischen Ideal und Ökonomie angeht, unter dem die subventionierten Theaterbetriebe nach Ansicht der Festivalprogrammatiker so sehr leiden, dass sie ihre ursprüngliche Aufgabe nicht mehr wahrzunehmen in der Lage sind, so stellt sich die Situation für die Festivals nicht wirklich anders dar.28 Allein schon die Tatsache, dass sie sich in der Regel von Wirtschaftskonzernen finanziell fördern lassen, deren gewinn-
25 H. Röper: Theatermanagement, S. 506. 26 Vgl. ebd., S. 519f. 27 Zu einem historischen Vergleich der beiden Festspiele siehe: Helmut Schanze: „‚Grüner Hügel‘ – ‚Felsenreitschule‘. Festspielkonzeptionen aus mediengeschichtlicher Sicht“, in: Peter Csobàdi u.a. (Hg.): ‚Und Jedermann erwartet sich ein Fest‘. Fest, Theater, Festspiele, Anif: Müller-Speiser 1996, S. 55-64. Ebenso wie in Bayreuth stand auch in Salzburg die Erneuerung der Theaterlandschaft im Vordergrund. Max Reinhardt ging es, nach den Erfahrungen mit dem Ersten Weltkrieg, neben der völkerverbindenden Funktion und der Belebung der österreichischen Kulturlandschaft auch um ökonomisch-touristische Aspekte. Hierzu siehe: Edda Fuhrich/Ulrike Dembski/Angela Eder (Hg.): Ambivalenzen. Max Reinhardt und Österreich, Wien: Brandstätter 2004, S. 75-105. 28 Sponsoren füllen dabei offenbar nur zum Teil die Lücke, die die Kommunen nicht mehr zu schließen vermögen. Vgl. Div.: Die Stadt leidet unter Sparzwang – andere Lösungen müssen gefunden werden. Münchens Weg zu neuen Geldquellen, in: Süddeutsche Zeitung vom 06.11.2004, S. 49.
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Fest und Utopie und wachstumsorientierte Unternehmenspolitik offensichtlich im Widerspruch zu dem in den Programmheften präsentierten, ökonomie- und konsumkritischen Idealismus steht – in Deutschland treten u.a. BMW, Allianz, Volkswagen, Siemens und die Deutsche Bank in diesem Umfeld als „Kooperationspartner“ aufzeigt, wie dünn das Eis für eine Selbstlegitimation geworden ist, die auf universalistische Theoreme und Utopieentwürfe baut. Wie Hartmut Häußermann und Walter Siebel zeigen konnten, geht es vor dem Hintergrund der Internationalisierung der Märkte und Bevölkerungsstrukturen bei Veranstaltungsformen wie Festivals eben nicht nur um uneigennützige, zweckfrei ästhetische Repräsentationsformen, sondern auch ganz explizit um strategische „Instrumente der Städtekonkurrenz“, die auf Folgeinvestionen Dritter zugeschnitten sind.29 Die Zunahme von strategisch geplanten Events seit den 80er Jahren hat, den Autoren zufolge, zugleich das Gesicht kommunaler Politik insgesamt verändert: „Festivalisierung“ bedeute auf diesem Feld zunehmenden Effizienzdruck.30 Eine eindeutig errechenbare Kosten-Nutzen-Rechnung habe sich allerdings aufgrund der widersprüchlichen und auch indirekten Wirkungen als illusionär erwiesen. Stadtpolitisches „Eigendoping“, eine auf sich selbst gerichtete Innovationsstrategie der Politik sowie Inszenierung von Gemeinsinn und Identifikation aufgrund der wachsenden Schwierigkeit regulativer Politik zeigten nicht nur positive Auswirkungen auf Seiten der Produzenten: „Mit der Vervielfältigung außergewöhnlicher Ereignisse, hat sich eine neue Expertenelite aus Planern, MarketingFachleuten, Event-Managern, Ökologen, professionellen Innovatoren und Bedenkenträgern gebildet, für die das große Ereignis Honorarquelle und Bühne zugleich darstellt.“31 Einen weiteren Beleg für die widerstreitenden Kräfte, denen derartige Veranstaltungsinitiativen unterliegen, bietet die Geschichte der „European Festivals Association“ (EFA), die 1952 in Genf von dem Dirigenten Igor Markevitch und dem Schriftsteller Denis de Rougemont ins Leben gerufen wurde und damals 15 Mitglieder zählte.32 Ab 1991 sollte die zunächst als Vereinigung der Musikfestspiele gegründete Institution auch Tanz und Theater miteinbeziehen. Die Idee einer kulturellen Integration Europas sowie die Unterstützung und Förderung kultureller Vielfalt war nach der Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg das Hauptanliegen der Initiato29 Vgl. Hartmut Häußermann/Walter Siebel: „Die Politik der Festivalisierung und die Festivalisierung der Politik“, in: Dies. (Hg.): Festivalisierung der Stadtpolitik. Stadtentwicklung durch große Projekte, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 7-31, S. 11f. 30 Vgl. ebd., S. 22. 31 Ebd., S. 23. 32 Vgl. M. Verhoef: European Festivals, S. 8ff.
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Theater als Ort der Utopie ren.33 Die Probleme, die dem Sendungsbewusstsein der Initiatoren im Laufe der Jahre vor allen Dingen durch die sich schon recht früh abzeichnende Kommerzialisierung entgegenstanden, resultierten in ausgreifenden Bemühungen um eine weitreichendere Legitimationsgrundlage. Ergänzt wurden die Programmpunkte durch die Unterstützung der Diversität der Festivals, die Verfolgung einer Kulturpolitik, die die soziale Bedeutung von Künstlern unterstützt sowie die völkerrechtliche Verständigung im Zeichen des Friedens.34 Eine Definition aus dem Jahr 1957 verspricht demgemäß: „A festvial is primarily a festive event, a total program of artistic performances which transcends the quality of everyday programming to achieve a level of exceptional festivity at specific location. It therefore has a unique splendour which can only be maintained for a limited period of time. This character must be marked by the high quality of the performed work (both classical and experimental) and the pursuit of perfection, as well as by the exploitation of the environment, creating a particular atmosphere in which the landscape, character of the city, the committment of its inhabitants and the cultural tradition of the entire region form contributing factors.“35
Die Vorgeschichte zu dieser idealtypischen Definition belegt, dass Festivals, die, ebenso wie subventionierte Theaterbetriebe, auf finanzielle Fremdunterstützung – entweder durch Sponsoring oder durch öffentliche Gelder – angewiesen sind, einen ähnlichen Legitimationsdruck verspüren wie die subventionierten Staats- und Stadttheaterbetriebe, ganz abgesehen von den national je unterschiedlichen Förderstrukturen öffentlicher Theater. Nach einem Konsens innerhalb dieses kulturellen „Subsystems“ seitens der ohnehin spärlichen Kommentare einzelner Veranstalter wird man schließlich auch hier lange suchen müssen. Immer wieder geht es um Positionsbestimmungen, die den Hiatus zwischen Realität und Idealität deutlich hervortreten lassen.36
33 Bis heute gelten folgende Satzungspunkte: Förderung der internationalen Zusammenarbeit von Festivals untereinander oder mit verwandten Organisationen und Institutionen; Vertretung der Festivals gegenüber nationalen und internationalen Organisationen; Erfahrungsaustausch unter den Festivals; Erarbeitung einer gemeinsamen Basis für Künstler, Besucher und Behörden; Verkaufsförderung durch geeignete Maßnahmen. Vgl. ebd., S. 250. 34 Vgl. ebd., S. 17ff. 35 Ebd., S. 10. 36 Beispielhaft hierfür stehen die zum Teil recht widersprüchlichen Positionen im Rahmen einer Dokumentation der Saalfeldener Musiktage. Vgl. Gerhard Eder/Wolfgang Gratzer (Hg.): Der Trend zum Event. Dokumentation Saalfeldner Musiktage, Saalfelden: Zentrum Zeitgenössischer Musik 1998.
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Fest und Utopie
III.3 Systematische Festforschung und die Konstruktion universalistischer Parameter III.3.1 DAS THEATER ALS FEST: ZUM STATUS DER FORSCHUNG Theater und Fest, darüber besteht in der Theaterwissenschaft weitgehend Konsens, sind eng miteinander verknüpft.37 Das zeigt sich nicht nur darin, dass Feste sich theatraler Darstellungsformen bedienen und andererseits Theateraufführungen ein festlicher Nimbus umgibt. Der Zusammenhang liegt auch historisch nahe.38 Das Theater der griechischen Antike im sechsten Jahrhundert v. Chr., das den Anfangspunkt des europäischen Theaters markiert, war in eine umfassende und weitreichende Festkultur eingebunden. Auch wenn die Entstehung des griechischen Theaters im Dunkeln liegt,39 so kann man doch davon ausgehen, dass die Gemeinsamkeit von Dionysos-Kult und der Aufführung der Tragödie der Anlass für die wiederkehrenden Festakte der Polis war: die Huldigung des Dionysos Eleuthereus im Rahmen der Großen Dionysien, dem „bedeutendsten attischen Stadtfest“.40 Indem der Mythos in der Tragödie nicht einfach nur erzählt, sondern als Schauereignis präsentiert und damit geistig und emotional in Distanz gebracht wurde, wurden unter anderem wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung des griechischen Menschenbildes geschaffen.41
37 Trotz der „historisch nachhaltigen Liaison von Theater und Fest“, so Erika Fischer-Lichte und Matthias Warstat in einem nach Abschluss der vorliegenden Studie publizierten Sammelband, lasse „[d]er gegenwärtige Stand der Forschung […] erkennen wie schwer es fällt, eine interkulturell tragfähige Definition des Festbegriffs zu formulieren“. Vgl. Erika FischerLichte/Matthias Warstat: „Einleitung. Staging Festivity. Theater und Fest in Europa“, in: Dies. (Hg.): Staging Festivity. Theater und Fest in Europa, Tübingen, Basel: Francke 2009, S. 9-16, S. 11f. 38 Eine Aufarbeitung leistete Miriam Haller mit ihrer – weitgehend utopisch grundierten – Studie zur Relation der Begriffe Fest und Theater vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Vgl. Miriam Haller: Das Fest der Zeichen. Schreibweisen des Festes im modernen Drama, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2002. Für einen kursorischen Überblick über die Festforschung siehe: Bernhard Teuber: „Fest/Feier“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 367-380. 39 Zu den unterschiedlichen Ursprungstheorien des abendländischen Theaters siehe: Eli Rozik: The roots of theatre: rethinking ritual and other theories of origin, Iowa City: University of Iowa Press 2002. 40 Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd.1, Stuttgart, Weimar: Metzler 1993, S. 7. 41 Den Unterschied zum Mythos markierte hier vor allem, so Hans-Thies Lehmann, die „neue Form der Darstellung (Herv. i. O.)“. Auch wenn, wie Leh-
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Theater als Ort der Utopie In derselben Weise waren auch die anderen antiken Feste stets eingebettet in Ätiologien, die das Wirken von Göttern, mythischen oder historischen Personen in Erinnerung rufen sollten.42 Es gab also neben kultischen auch zahlreiche profane Anlässe für Festveranstaltungen. Sie dienten etwa dazu, den Sieg der Polis bei einer entscheidenden Schlacht zu verewigen, die Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und demokratische Verfassung zu feiern, oder einer historischen Persönlichkeit zu huldigen. Dabei prägten neben „erhabenen“ Zielen wie Selbstbestätigung der Gemeinschaft und Legitimation der Polis durchaus ebenso Unterhaltung und Belustigung das Gesicht der Athener Feste.43 Ihre formale Gestaltung bewegte sich, folgt man Angelos Chaniotis, grundsätzlich in den immer gleichen Bahnen: Prozession, Opfer, Gebet, Singen von Päanen, Festmahl und Spiele strukturierten sowohl historische Gedenktage wie auch religiöse Kulthandlungen. Schon in der griechischen Antike verschmolzen also im Fest derart unterschiedliche Anlässe, Funktionen und Erwartungen, dass der Verdacht naheliegt, eine monokausal substantialistische Deutung könne der Komplexität des Phänomens nicht gerecht werden. Das betrifft nicht zuletzt, wie zu zeigen sein wird, die in der geisteswissenschaftlichen Festforschung und, davon ausgehend, auch in der jüngeren Theaterwissenschaft beliebte, utopisch grundierte Vorstellung vom Fest als Stiftungsereignis einer „Communitas“. In beiden Disziplinen hält sich erstaunlich hartnäckig der „Jargon der Eigentlichkeit“, der schon die ersten systematischen Forschungsbemühungen Anfang des 20. Jahrhunderts auszeichnete.44 Das ist insofern ein problematisches Erbe, als damit, wie Paul Hugger gezeigt hat, die Tendenz einherging, empirische Befunde an
mann erörtert, in der Tragödie der Kult aufhörte, Kult zu sein, waren es doch kultische Handlungen einer ausgeprägten Festkultur, welche den Rahmen bildeten für diese neue Darstellungsform. Vgl. Hans Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart: Metzler 1991, S. 11f. 42 Vgl. Angelos Chaniotis: „Gedenktage der Griechen. Ihre Bedeutung für das Geschichtsbewußtsein griechischer Polis“, in: Jan Assmann (Hg.): Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt, Gütersloh: Mohn 1991, S. 123-145. 43 Vgl. Christian Meier: „Zur Funktion der Feste in Athen im 5. Jahrhundert vor Christus“, in: Walter Haug/Rainer Warning (Hg.): Das Fest, München: Fink 1989, S. 569-591. 44 Eine Ausnahme hiervon bildet Jennifer Elferts Studie „Theaterfestivals“, die sich systematisch mit historischen, ökonomischen und kulturellen Wechselwirkungen auseinandersetzt. Vgl. Jennifer Elfert: Theaterfestivals. Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells, Bielefeld: transcript 2009.
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Fest und Utopie einer ahistorischen Idee des Fests zu orientieren, das Fest also zu ontologisieren bzw. es ausschließlich auf eine Funktionszuweisung zu reduzieren.45 Bemerkenswerterweise verhält sich die Ritualforschung, die dasselbe Phänomen aus einem anthropologischen und ethnologischen Blickwinkel heraus untersucht und deren Anfänge noch einige Jahrzehnte früher liegen als die der Festforschung, in dieser Hinsicht weitaus skeptischer – sie begegnet universalistisch orientierten Denkmustern inzwischen in aller Regel mit Distanz.46 Allerdings lassen sich, wie der folgende Überblick zeigen soll, die Forschungsbereiche auf diesem Feld nicht wirklich sauber voneinander trennen. Vielmehr haben sich Erkenntnisse aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven, philosophischen, soziologischen und kulturanthropologischen, von Anfang an immer wieder überschnitten. Das gilt auch für die Theaterwissenschaft selbst, die immer wieder zahlreiche dieser Anregungen aufgenommen hat, wobei hier allerdings universalisierende, utopisch aufgeladene Denkmodelle bis heute eine besondere Wertschätzung genießen.
III.3.2 DIE ANWESENHEIT DER GÖTTER ABSOLUTHEITSERFAHRUNG IM FEST
ODER DIE UNIVERSALISTISCHE IDEE EINER
Die Tendenz, das Phänomen Fest idealistisch zu überhöhen, indem man den Ausnahmezustand der kollektiven Feier als den wichtigsten Gegenentwurf zur Profanität des Alltags begreift, lässt sich schon in der älteren Festforschung nachweisen. Von dem in letzter Konsequenz spirituell aufgeladenen Begriff des Numinosen, wie er für diese Konzeption prägend war, führt eine direkte Verbindung zum utopisch aufgeladenen Begriff der ästhetischen Erfahrung in vielen zeitgenössischen Texten zum postdramatischen Theater. In beiden Bereichen spielen klassische Utopie-Motive in Kombination mit Spekulationen über Funktion und Wirkungsweise von Präsenzerfahrungen eine entscheidende Rolle (vgl. Kapitel V.), die, in jeweils unterschiedlicher Weise, als Erfahrung des Transzendenten gedeutet werden. In beiden Bereichen wird bevorzugt mit dichotomen Deutungsmustern gearbeitet, in beiden besteht die Tendenz, die historische Entwicklung auf dem jeweiligen Forschungsfeld in Kategorien von Profanisierung und Verfall zu beschreiben, und zwar in-
45 Vgl. Paul Hugger: „Einleitung. Das Fest – Perspektiven einer Forschungsgeschichte“, in: Ders. (Hg.): Stadt und Fest. Zu Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur, Unterägeri: W&H Verlag 1987, S. 9-24, S. 10f. 46 Vgl. Catherine Bell: Ritual. Perspectives and Dimensions, New York, Oxford: Oxford University Press 1997. Catherine Bell erörtert die Anfänge der Ritualforschung, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Vgl. ebd., S. 3ff.
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Theater als Ort der Utopie teressanterweise auch dort, wo innerhalb der Forschung der Begriff des „Fests“ schon längst durch den des „Events“ ersetzt worden ist. Dass in der älteren Festforschung dichotome Denkmuster vorherrschen, ist kein Wunder. Die polare Begrifflichkeit, mit der sie sich ihrem Gegenstand näherte, ist ein Erbe der religionsphänomenologischen Debatten vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Die beiden grundlegenden Schriften auf diesem Gebiet waren Rudolf Ottos weit über die FacHgrenzen hinaus rezipierte Studie „Das Heilige“47 aus dem Jahr 1917 sowie die fünf Jahre früher erschienene Schrift Émile Durkheims „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“.48 Während Otto streng phänomenologisch argumentierte und dabei den Ritus, also das religiöse Fest, nur am Rande streifte, war für den Soziologen Durkheim, der in erster Linie der sozialen Funktion des Religiösen nachspürte, der Ritus von vornherein ein zentrales Thema. Riten sorgen, Durkheims Ansatz zufolge, für Orientierung und wirken als Repräsentationen kollektiver Erfahrungen gemeinschaftsbildend. Ihre Struktur ist paradox: Einerseits sind Riten Ausdruck von Glaubensüberzeugungen, andererseits bestätigen sie diese durch zeremonielle Wiederholung stets aufs Neue. Sie erzeugen damit also in gewisser Weise das Phänomen, dessen Ausdruck sie doch eigentlich sein sollten.49 Rudolf Otto hätte mit einer solchen Rationalisierung des Religiösen wenig anfangen können. Er war in erster Linie am Erlebnisgehalt ritueller Handlungen interessiert, an all dem also, was, wie er schrieb, „auch in uns zeitweilig das Gemüt mit fast sinn-verwirrender Gewalt erregen und erfüllen kann“.50 In einem zentralen Punkt aber kamen beide Autoren über-
47 Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München: Beck 1987. 48 Vgl. Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. 49 Das „Heilige“ ist dabei nicht als in sich homogener Bereich zu verstehen. Vielmehr ist, wie Durkheim notiert, das Religiöse als ein „Ganzes zu begreifen, das aus unterschiedlichen und relativ individualisierten Teilen besteht. Jede homogene Gruppe von heiligen Dingen oder sogar jedes heilige Ding von einiger Bedeutung bildet ein Organisationszentrum, um das eine Gruppe von Überzeugungen und Riten oder ein Sonderkult kreisen. Es gibt keine Religion, wie einheitlich sie auch sei, die nicht eine Pluralität von heiligen Dingen anerkennt.“ Riten sind schließlich in diesem Kontext dann jene „Verhaltensregeln, die dem Menschen vorschreiben, wie er sich heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat“. Der religiöse Glaube basiere dabei nicht nur auf der Anerkennung der Trennung von Transzendenz und Immanenz. Seine Existenz verdanke sich zudem einer kollektivgesellschaftlichen Übereinstimmung: „Der Glaube“, so Durkheim, „ist nur aktiv, wenn er geteilt wird.“ Vgl. ebd., S. 67 u. 569. 50 R. Otto: Das Heilige, S. 13.
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Fest und Utopie ein: in der immensen Bedeutung nämlich, die sie der Trennung zwischen dem Heiligen und dem Profanen zumessen. Für Durkheim stellt sie die grundlegendste Form von Welterkenntnis überhaupt dar, für Otto benennt sie eine irreduzible Qualität religöser Erfahrung. Doch gleich ob epistemologisch oder phänomenologisch betrachtet – in beiden Fällen ergibt sich eine strikte und unhintergehbare Polarität zwischen dem weiten Bereich alltäglicher Normalität und dessen eng begrenztem, striktem Gegenbild, dem Numinosen, Anderen. Damit lieferten Otto und Durkheim das allgemeine begriffliche Raster, in das wenig später die Festforschung dann ihren speziellen Gegenstand einspannen sollte. Rudolf Otto ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, weil er die Erfahrung des „Numinosen“ in Termini beschreibt, die bereits auf den utopisch aufgeladenen Begriff der ästhetischen Erfahrung, wie er in Kapitel II. beschrieben wurde, vorausweisen. Für Otto handelt es sich beim Numinosen um eine „Kategorie vollkommen sui generis“, die sich jedem rational zergliedernden Denken entzieht, „wie jedes ursprüngliche und Grunddatum nicht definibel“ und damit zugleich um ein „ineffabile“51, das sich begrifflich nicht erfassen lässt, sondern erlebt werden muss.52 Man kann sich der religiösen Erfahrung allerdings sprachlich annähern, indem man sie in ihrer spezifischen Intensität und Qualität von ähnlichen Empfindungswerten nicht-religiöser Art unterscheidet. Bei diesem Unterfangen setzt Otto weitgehend auf das begriffliche Instrumentarium, das an Kants Analytik des Erhabenen erinnert: das Schauervolle, das „tremendum“, die absolute „Unnahbarkeit“53, das Gefühl des Übermächtigen („majestas“), in dem sich, nach Otto, das Selbst als ohnmächtig gegenüber der „All-realität des Transzendenten (Herv. i. O.)“54 erfährt. Als einzig außerästhetisches Moment des Numinosen benennt Otto das „Energische“, als irrationales Moment der Gottesidee, das einer rational-philosophischen Spekulation gegenüberstehe und für die dynamischen Affekte, etwa einen unstillbaren „Tatendrang“, verantwortlich sei. Während das Erhabene bei Kant, kurz gesagt, eine gemischte Empfindung bedeutet, bei der der Mensch der Erfahrung des Unendlichen, Großen seine Erkenntnisfähigkeit entgegenzusetzen vermag, gehört es bei Otto zur Erfahrung des „ganz Anderen“, die, als mystische Erfahrung, eine von der herkömmlichen Wahrnehmung vollkommen geschiedene ist. Die Erfahrung dieses „ganz Anderen“ als vorrationale Gefühlskategorie ist dann, Otto zufolge, das Gefühl des Heiligen: „Ungreifbar ist der
51 52 53 54
Ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 7. Ebd., S. 22. Ebd., S. 24.
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Theater als Ort der Utopie wirklich ‚mysteriöse‘ Gegenstand nicht nur deswegen, weil mein Erkennen in Bezug auf ihn gewisse unaufhebbare Schranken hat, sondern weil ich hier auf ein überhaupt ‚Ganz anderes‘ stoße, das durch Art und Wesen meinem Wesen inkommensurabel ist und vor dem ich deshalb in erstarrendem Staunen zurückpralle.“55 Wie prägend die von Otto und Durkheim eröffneten Perspektiven für die Festforschung waren, zeigt Karl Kerényis einflussreiches Buch „Vom Wesen des Festes“ aus dem Jahr 1938.56 Kerényi geht darin ganz selbstverständlich davon aus, dass Fest und Kult nicht zu trennen seien. Man habe das Wesen des Festes in der Anwesenheit des Göttlichen zu suchen. Dieser Gedanke begleitet seither als basso continuo die anthropologische, philosophische und theologische Festforschung, wie man bei so unterschiedlichen Autoren wie Johan Huizinga, Hans-Georg Gadamer oder Josef Pieper verfolgen kann. Karl Kerényi selbst ging so weit, das Fest zum Ausgangspunkt eines grundlegenden Verständnisses religiöser Praxis als solcher zu erklären. Entscheidend war für ihn dabei nicht die Differenz zum Alltag allein, die ja als solche auch in einer bloßen Überhöhung des Alltäglichen bestehen könnte. Es geht, wie bei Otto, um das irreduzibel Andere des Alltags, das nur als Religiöses existieren kann: „Eine rein menschliche Bemühung, eine gewöhnliche Pflichterfüllung ist eben kein Fest, und vom Unfestlichen aus wird man ein Fest weder begehen noch verstehen können. Es muss etwas Göttliches hinzukommen, wodurch das sonst Unmögliche möglich wird. Man wird auf eine Ebene erhoben, wo alles ist ‚wie am ersten Tage‘, leuchtend, neu und ‚erstmalig‘, wo man mit Göttern zusammen ist, ja selbst göttlich wird, wo Schöpfungsodem weht und man an der Schöpfung teilnimmt. Das ist das Wesen des Festes […].“57
Ähnlich argumentiert zwei Jahrzehnte später Mircea Eliade in seiner Studie „Das Heilige und das Profane“ (1957), die von der Festforschung seither immer wieder aufgegriffen wurde.58 Eliade führte die von Otto und Durkheim angeregte Distinktion von Heiligem und Profanem im Wesentlichen auf die grundlegende Distinktion zweier irreduzibler, qualitativ unterschiedlicher Raum- und Zeitvorstellungen zurück: einerseits heiligen Raum und heilige Zeit, andererseits profanen Raum und profane Zeit. Während die Erfahrung des Heiligen von Brüchen und Inkonsistenzen gekennzeichnet sei, werde das
55 Ebd, S. 32f. 56 Vgl. Karl Kerényi: „Vom Wesen des Festes“, in: Ders.: Antike Religion, Stuttgart: Klett-Cotta 1995, S. 33-51. 57 Ebd., S. 43. 58 Vgl. Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a.M., Leipzig: Insel 1998.
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Fest und Utopie Profane als weitgehend homogen erlebt. Heiliger Raum und heilige Zeit und ihre profanen Gegenstücke folgen also je eigenen Gesetzen: „Die religiöse Teilnahme an einem Fest impliziert das Heraustreten aus der ‚gewöhnlichen‘ Zeitdauer und die Wiedereinfügung in die mythische Zeit, die in diesem Fest reaktiviert wird.“59 So bringt Eliade zwar neue Termini in den Diskurs über das Fest ein, führt dabei jedoch das dichotome, in der Vorstellung von unhintergehbaren Wesensbestimmungen befangene Denken seiner Vorgänger weiter. Interessanterweise lässt sich der Hang zu derartigen, strikt bipolaren Erklärungsmodellen auch dort beobachten, wo das Phänomen Fest nicht aus dem Kult, sondern aus dem Spiel abgeleitet werden soll. In seiner einflussreichen und vielrezipierten Studie „Homo ludens“ von 1938 entwirft der Kulturhistoriker Johan Huizinga eine Kulturtheorie, in der er das Spiel mit seinen ihm eigenen – von Huizinga aber ebenfalls nicht näher konkretisierten – Zeitund Raumgesetzen zur anthropologischen Voraussetzung für das Entstehen von Kultur überhaupt erklärt.60 Huizinga radikalisiert und universalisiert damit Überlegungen, die auf Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) zurückgehen. Während aber Schiller den „Spieltrieb“ nicht ausdrücklich, sondern lediglich implizit mit dem Fest in Beziehung setzt,61 geht Huizinga ein Jahrhundert später von einer grundsätzlichen Analogie von Fest und Spiel aus. Zum Fest gehöre, wie er schreibt, wesentlich „die Ausschaltung des gewöhnlichen Lebens, […] die zeitliche und räumliche Begrenztheit, das Zusammengehen von strenger Bestimmtheit und echter Freiheit“.62 Was an dieser Stelle noch wie eine Paraphrase auf den Schiller’schen Freiheitsgedanken wirkt, wird von Huizinga später allerdings in die Nähe zu mystischer Erfahrung gerückt. So verliert auch bei ihm das Spiel die Dimension des Leichten, Unschuldigen, Unreflektierten, alltäglich Selbstverständlichen, um wiederum zwischen die beiden Großbegriffe des Heiligen und des Profanen zu geraten: „[I]n dem Begriff Spiel selbst wird die Einheit und Untrennbarkeit von Glauben und Nichtglau-
59 Ebd., S. 63. Welche das genau sind, wird von Eliade nicht weiter konkretisiert, sondern, wie bei Rudolf Otto, qua Negation ermittelt: Das Heilige ist im emphatischen Sinne das Andere des Profanen. Die Dichotomie gewinnt ihre besondere Bedeutung dadurch, dass eine Begegnung mit dem Transzendenten nach Eliade nur durch das „periodische Eintauchen in diese heilige und unzerstörbare Zeit“ möglich ist. Vgl. ebd., S. 78. 60 Vgl. Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg: Rowohlt 1987. 61 Vgl. B. Teuber: Fest/Feier, S. 367. 62 J. Huizinga: Homo ludens, S. 35.
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Theater als Ort der Utopie ben, die Verbindung von heiligem Ernst mit Anstellerei und ‚Spaß‘ am besten begriffen.“63 Wie ernst es Huizinga mit dem Spiel tatsächlich ist, wie weit er sich in seinen Überlegungen vom alltäglichen Spielbegriff mit seinen Musse- oder Unterhaltungs-Assoziationen distanziert, machen seine Ausführungen zum Krieg deutlich. Huizinga sieht im Krieg Momente des Festes und des Spiels zugleich angelegt. Für eine derartige Begründung wählt er die Unterscheidung zwischen einem anthropologisch ursprünglichen, „wahren“ Krieg und dessen modernen Verfallsformen. Während letztere auf ethisch verwerflichen Akten wie Überfall, Hinterhalt und Ausrottung beruhen, hat im „wahren“ Krieg das spielerisch Agonale, die aufrichtige Auseinandersetzung zwischen gleichberechtigten Partnern, einen genuinen Entfaltungsraum.64 Symptomatisch und deshalb bemerkenswert ist, dass Huizinga diesen Befund nicht etwa durch historische Quellen und eine detaillierte Diskussion über die Realität des Krieges vor der Ausbildung des Völkerrechts stützt, sondern, dass er wiederum eine bipolare Metatheorie entwickelt, die den Blick auf die empirischen Phänomene entscheidend präformiert. Noch einen Schritt über Huizinga hinaus ging Roger Caillois, der in „Der Mensch und das Heilige“ (1939) die Festpraxis archaischer Stammes- und Agrarkulturen untersuchte. Mit seinem vielzitierten Aperçu „la guerre correspond à la fête“ radikalisierte er Huizingas Gedanken, denn für Caillois ist das Fest wesentlich ein Purgatorium. Im verschwenderischen Exzess oder der systematischen Ausschaltung alltäglicher Ordnungsstrukturen, wie Marcel Mauss dies 1950 empirisch beschreiben sollte, lässt der Mensch bedrängende Altlasten hinter sich. Feste der modernen Gesellschaften erscheinen ihm wie Schwundstufen der „Urform“. Demzufolge bilde nur noch der Krieg als „Totalphänomen“ einen Kontrast zur gleichförmig verlaufenden Friedenszeit. Mit anderen Worten: Die Erneuerung der gesellschaftlichen Ordnung wird paradoxerweise durch die Zerstörung dieser Ordnung erkauft – das Echo der martialischen Hymnen von den Futuristen bis Ernst Jünger ist deutlich zu vernehmen.65 63 Ebd., S. 34. Huizingas universalistischer Entwurf führt schließlich auch dazu, dass er so inkohärente Bereiche wie die Tänze der sogenannten „Loango-Neger“, die Präludien von Bach oder auch antike Tragödien unter den Spielbegriff fasst. 64 Vgl. ebd., S. 102. 65 Vgl. Roger Caillois: Der Mensch und das Heilige, München, Wien: Hanser 1988, S. 132f. u. S. 220. In „Die Gabe“ untersuchte Marcel Mauss Verhaltensweisen des Gabentauschs – genannt Potlatsch – in Polynesien, Melanesien und Nordwestafrika. Dabei erkannte er, dass das „unentwirrbare Netz von Riten, rechtlichen und wirtschaftlichen Leistungen“ durch sämtliche politischen Ränge hauptsächlich auf dem „Prinzip der Rivalität und des Anta-
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Fest und Utopie Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs änderte sich der Ton in der Festforschung merklich, das Denken in starren Polaritäten jedoch blieb bestehen. Ein typisches Beispiel dafür ist HansGeorg Gadamers Aufsatz „Über die Festlichkeit des Theaters“ aus dem Jahr 1954. Gadamer verweist darin auf den religiösen „Ursprung“ der europäischen Theaterkultur, in der mystische und ästhetische Erfahrung stets ineinander verwoben gewesen seien. Im Idealfall biete das Theater den Zuschauern die Erfahrung absoluter Gegenwart und wirke dadurch gemeinschaftsstiftend: „[I]mmer hat das Fest etwas Erhebendes an sich, das seine Teilnehmer heraushebt aus dem Alltäglichen und hinaufhebt zu einer alle Teilnehmer ergreifenden Gemeinsamkeit. Zum Fest gehört daher eine ihm eigene Zeitlichkeit. Es ist seinem Wesen nach wiederkehrend. […]. Die Erinnerung an den Jahrestag eines festlichen Ereignisses wird selbst festlich begangen. Ja, Begehung ist die Seinsweise des Festes, und in aller Begehung ist Zeit zum ‚nunc stans‘ einer erhebenden Gegenwart geworden. Erinnerung und Gegenwart sind darin eins. […] Das Mysterium der Festlichkeit ist Stillstand der Zeit.“66
Obgleich wesentlich zweckfrei, befördert das Fest offenbar die „Erhebung“ jedes einzelnen Teilnehmers „in ein verwandeltes Sein“67 und hat so eine religiös-sittliche Bedeutung. Das gleiche gilt analog für die Festlichkeit des Theaters. In der Betonung des zweckfrei spielerischen Moments im Fest folgt Gadamer den Spuren Huizingas. Der gedankliche Zugriff erfolgt bei ihm zwar nicht aus kulturhistorischer, sondern aus philosophischer Perspektive, wenn er, in ausdrücklicher Weiterführung der Überlegungen Kants in der „Kritik der Urteilskraft“, das Fest unter dem Gesichtspunkt untersucht, welche ästhetischen Erfahrungen sich an einem solch ziellos selbstreferentiellen, zugleich aber vernunftregulierten Geschehen machen lassen.68 Das Resultat ist gleichwohl dasselbe, auch dieser Weg führt wieder ins Mystische. Folgt man Gadamer, so eröffnet das gelungene Fest nämlich den Raum für eine ganz spezifische Zeiterfahrung, die jenseits der auf Zweckbindung und Verrechenbarkeit fixierten Zeiterfahrung des Alltags liegt. In einem Aufsatz von 1974 bestimmt er sie „im Unterschied zu der auszufüllenden leeren Zeit“, als „erfüllte“ oder auch
gonismus“ beruhte. Vgl. Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, bes. S. 24f. 66 Hans-Georg Gadamer: „Über die Festlichkeit des Theaters“, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8, Tübingen: Mohr 1993, S. 296-304, S. 297f. 67 Ebd., S. 298. 68 Vgl. Hans-Georg Gadamer: „Über die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest“, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 94-142.
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Theater als Ort der Utopie „Eigenzeit.“69 Diese Eigenzeit wird von den Teilnehmern im Idealfall als unkalkulierbare Dauer erlebt, als Erfahrung absoluter Präsenz. Das Fest birgt somit die Möglichkeit einer immanenten Absolutheitserfahrung. Auch wenn Gadamer gerade in seinen Ausführungen zum Theater historisch-genetisch zu argumentieren scheint, läuft seine Theorie doch letzten Endes auf eine ontologische Bestimmung, eine Lehre vom unveränderlichen „Wesen“ des Festes, hinaus. Genau auf dieser Ebene findet sich dann auch die bekannte dichotome Denkfigur von „wahrer“ und „falscher“, von „eigentlicher“ und „abgeleiteter“ Festpraxis wieder. Strukturell ähnlich, wenngleich gedanklich gröber, argumentiert schließlich die theologische Festtheorie Josef Piepers, die ein knappes Jahrzehnt nach Gadamers Überlegungen zur Festlichkeit des Theaters erschien. Pieper gesteht zwar zu, dass es die unterschiedlichsten Feste und Festformen gebe, den Namen haben sie seiner Ansicht nach aber nur dort verdient, wo sie auch in einem religiösen Kontext verortet sind. Pieper reichert damit das Basistheorem Karl Kerényis durch heilsgeschichtliche Vorstellungen an. Dadurch reißt die dichotome Kluft noch einmal weiter auf als bei Gadamer: „Es gibt weltliche, aber keine rein profanen Feste. […] Das Fest ohne Götter ist ein Unbegriff“.70 Konsequenterweise klammert Pieper deshalb Feste aus, die angeblich Verfallsformen anzeigen, weil sie, wie etwa die Maiparaden in den sozialistischen Staaten, auf äußerem Zwang beruhen oder aber dem Publikum lediglich „rasch verfügbare, sozusagen käufliche Surrogate“71 liefern. Auch hier also funktioniert, wie praktisch überall in der älteren Festforschung, die Wesensbestimmung des Untersuchungsgegenstand nach der dichotomen Mechanik der Inklusion bzw. Exklusion.
69 Ebd., S. 132. 70 Josef Pieper: Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des Festes, München: Kösel 1963, S. 56. 71 Ebd., S. 127. Die Dichotomie Feier und Fest stellt auch Winfried Gebhardt in einer soziologischen Studie auf: Das Fest trenne von der Feier, dass es an ein „rein aktuelles, spontanes und emotionales“ erwünschtes Verhalten gebunden sei, einen Freiraum eröffne und, im Extremfall, ins Ekstatische führe. Der Feier hingegen liege „ein bewußt ausgearbeitetes Weltbild zugrunde“, sie sei „ein bis ins kleinste Detail geregeltes und durchorganisiertes Geschehen“. Vgl. Winfried Gebhardt: Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1987, S. 53f. u. 63f.
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Fest und Utopie
UND DIE
III.3.3 DIE HOMOLOGIE VON FEST UND KUNST VERLÄNGERUNG DES SOZIALUTOPISCHEN TOPOS FREIHEITLICHER, ANTIUTILITARISTISCHER VERGEMEINSCHAFTUNG
Seit Mitte der 1950er Jahre erhielten die dogmatisch theozentrischen Erklärungsmodelle der älteren Festforschung zunehmend Konkurrenz. Einerseits entstanden nun historische Arbeiten, die weniger spekulativ vorgingen, sich dafür enger an die Quellen hielten und vermutlich deshalb nur selten eine Neigung zu bipolaren Vereinfachungen zeigten.72 Nachhaltiger als diese bewusst auf eine bloße Morphologie des Fests beschränkten Studien wirkten im Bereich der ästhetischen Reflexion73 auf Dauer allerdings Arbeiten wie die des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin – sie stammen bereits aus den 30er Jahren, wurden aber erst 1965 veröffentlicht – sowie die ethnologischen, vom erweiterten Textbegriff der modernen Linguistik beeinflussten Studien von Clifford Geertz und Victor Turner. Bachtins Theorien gelangten unter anderem über Julia Kristevas Schriften zur Intertextualität in die Theaterwissenschaft. Geertz und Turner waren wiederum für den Performancetheoretiker Richard Schechner ständiger Bezugspunkt. Auf den ersten Blick wurden auch in diesen Arbeiten die starr dichotomen Denkmuster verabschiedet, wie sie bis zu diesem Zeitpunkt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Fests geprägt hatten. Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings, dass bei Bachtin wie bei Geertz und Turner nichtsdestotrotz eine Grundtendenz zu bipolarem Denken herrscht, die das ideelle Erbe der älteren Festforschung fortschreibt. Bei Bachtin wird das vor allem in seiner Deutung des Karnevals deutlich, der bei ihm zum subversiven Gegenentwurf zur offiziellen Feudalgesellschaft des Mittelalters und der Renaissance wird. Seine dialogische, Gegensätze nicht versöhnende, sondern austragende Struktur muss seiner Ansicht nach als ideologiezersetzendes Antidot zu einer mit dem Fortschreiten der Moderne tendenziell immer monologischer verfassten Offizialkultur begriffen werden. Dieser Depravationslogik folgend, beschreibt Bachtin das 16. Jahrhundert als das Jahrhundert, in dem das potentiell wertrelativierende, sozial destabilisierende Moment des öffentlichen Lachens von der Gesellschaft noch ausgehalten wurde. Im 17. Jahrhundert verbinde sich das Lachen, so Bachtin, „mit dogmatischer Ablehnung und wird auf
72 Jean Jacquot: Les Fêtes de la Renaissance, Paris: Centre national de la Recherche scientifique 1956; Richard Alewyn: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, München: Beck 1985. 73 Vgl. B. Teuber: Fest/Feier, S. 374.
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Theater als Ort der Utopie den privaten Bereich beschränkt“.74 Das 17. Jahrhundert wird entsprechend eindimensional als ideologisch rationalistisch-autoritäres Zeitalter vorgeführt: „In der neuen offiziellen Kultur setzen sich Tendenzen zu Abgeschlossenheit und Stabilität des Lebens und zu eindeutiger, einsinniger Seriosität durch. Die Ambivalenz des Grotesken wird unannehmbar, und die hohen Gattungen des Klassizismus befreien sich völlig von Resten der grotesken Lachtradition. […] Die volkstümlich-festliche Karnevalsheimat der Rabelaisschen Phantastik war noch nicht vergessen, doch ihre Motive wanderten vom bevölkerten Marktplatz in die höfische Maskerade, und damit änderte sich ihr Stil und ihre Bedeutung. […] Repräsentativ für die andere, bürgerliche Entwicklungslinie des volkstümlich-festlichen Erbes ist der ‚komische Roman‘ des 17. Jahrhunderts.“75
Renate Lachmann hat in ihrer Interpretation von Bachtins Kulturtheorie die klassischen Utopie-Motive überzeugend herausgearbeitet: Auch bei Bachtin setze das zweckfreie Fest das Utopische frei, und zwar in diesem Fall in der Ambivalenzerfahrung des Lachens.76 Ambivalenz meint hier das momenthafte Auseinanderbrechen offizieller Hierarchien und Ordnungsmuster. Damit ist jedoch die Diachronie, die Bachtin von der Antike bis zur Renaissance konstruiert und deren Kontinuum die Lachformen einer Volkskultur in Auseinandersetzungen mit der Kultur der Agelasten (der Lachfeinde)77 darstellt, wie ein Vergleich etwa mit den empiriegesättigten Studien Dietz-Rüdiger Mosers78 zeigt, nicht Ergebnis historischer Forschung, sondern zwangsläufige Konsequenz des dieser Forschung vorgeschalteten, idealistischen Konzepts. Trotz dieser einseitigen Perspektive führte die Rezeption von Bachtins Thesen doch auch zu neuen Erkenntnissen und Forschungsperspektiven. Über das von ihm so stark betonte Moment 74 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 149. 75 Ebd., S. 149ff. Bachtins Überlegungen zum Karneval sind in erster Linie als Theorie und weniger als historische Analyse zu verstehen. Vgl. Horst Fuhrmann: Einladung ins Mittelalter, München: Beck 1987, S. 294. 76 Renate Lachmann: „Vorwort“, in: M. Bachtin: Rabelais, S. 7-46, S. 20. 77 Vgl. ebd., S. 19. 78 Dietz-Rüdiger Moser: Fastnacht – Fasching – Karneval. Das Fest der ‚Verkehrten Welt‘, Graz, Wien, Köln: Edition Kaleidoskop 1986. Zu erwähnen ist hier auch Peter Burkes Darstellung des venezianischen Karnevals, der erstmals 1268 datiert und, trotz bruchstückhafter Quellenlage, Motive der Ausschweifung und Übertretung von Gesetzen sowie ritualisierte Formen von Aggression aufweist. Auch die Kommerzialisierung und Professionalisierung des Karnevals im 16. Jahrhundert erörtert Burke. Vgl. Peter Burke: Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock, Berlin: Wagenbach 1987.
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Fest und Utopie der nonverbalen Kritik an der offiziellen Kultur erhielt die Rolle des Körpers sowie die Anerkennung des Physischen, der Handlung und Aktion im Ritus wie im Fest besondere Aufmerksamkeit. Das Bild des grotesken Körpers, das Bachtin, auf Rabelais Bezug nehmend, entwirft, weist auf einige zentrale Kategorien der PerformanceTheorie voraus, etwa den Begriff der Ambivalenz und der Schwellensituation, zu der das Lachen im Entwurf Bachtins der Schlüssel ist: „Der groteske Körper ist, wie schon mehrfach betont, ein werdender. Er ist nie fertig und abgeschlossen, er ist immer im Entstehen begriffen und erzeugt selbst stets einen weiteren Körper.“79 Auch die Jahrzehnte später entstandenen, weniger deutlich kulturkritisch ausgerichteten, kultur- und sozialanthropologischen Ansätze etwa eines Clifford Geertz80, Edmund Leach oder Milton Singer forcierten eine, gegenüber der phänomenologischen Festforschung alter Schule, veränderte Interpretation von Festen und Ritualen, die teilweise mit den Ideen von Michail Bachtin korrespondieren. Anstöße hierzu gab es über die strukturalistische Vorstellung von Kultur, die wie ein Text zu lesen und interpretieren sei. Das Entstehen von Kultur wird nicht mehr (ausdrücklich) unter biologistische Metaphern und Denkmodelle gestellt, sondern wird anerkannt als Folge einer Reziprozität, in der, wie bei Edmund Leach, das Ritual als Medium kulturelle Werte und Ideale ausdrückt, was im Gegenzug den Effekt einer Orientierung und des Verstehens von sozialem Verhalten impliziert.81 Der Aspekt der Darstellung und damit der Aspekt des Physischen, des Körpers, rückt auch hier ins Zentrum der Ritual- wie – untrennbar damit verbunden – der PerformanceTheorie.82 Zu einer modellbildenden Kategorie avancierte dabei Milton Singers Begriff der „cultural performance“.83 Der von Singer aus
79 M. Bachtin: Rabelais, S. 358. 80 Clifford Geertz vertiefte diese Ansätze und betonte die Integrationskraft religiöser Rituale im Hinblick auf alltägliche Handlungen. Geertz bediente sich hierfür eines semiotischen Kulturbegriffs, wonach der Mensch in ein komplexes Bedeutungsgewebe verstrickt sei und Wissenschaft dementsprechend nicht nach abstrakten Regelmäßigkeiten zu suchen habe, sondern Erläuterungsfunktion übernehmen solle. Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 36f. 81 Vgl. Edmund Leach: Kultur und Kommunikation. Zur Logik symbolischer Zusammenhänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978. 82 Catherine Bell notiert hierzu: „The use of the term „ritualization“ by performance theorists, probably borrowed from ethological studies, undoubtedly helped to formulate a way of looking at ritual activity that is picked up in recent theories of human activity as praxis.“ C. Bell: Ritual, S. 76. 83 Vgl. Milton Singer: „The Cultural pattern of Indian Civilization“, in: The Far Eastern Quarterly XV/1 (1955), S. 23-36, S. 27.
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Theater als Ort der Utopie dem Feld des Theatralen in die Ethnologie übertragene Terminus wurde dann von den Performance-Studien wieder aufgegriffen – der seit den 90er Jahren populär gewordene Begriff der „Theatralität“ stellt die bislang letzte Metamorphose dar –, allerdings ohne dass dabei die Problematik einer solchen Rückübertragung noch systematisch thematisiert worden wäre. Eine besondere Nähe zum utopischen Entwurf in Bachtins Theorie der karnevalisierten Literatur zeichnet Victor Turners Schrift „Vom Ritual zum Theater“84 aus, die, wie der Autor selbst erklärte, einerseits Arnold van Genneps Studie „Les rites de passage“ (1909), andererseits seiner Begegnung mit den Schriften Richard Schechners verpflichtet ist. Turner versucht, Wirkung und Funktion von Riten bzw. Festen und theatralen Aufführungen aus einer gemeinsamen Wurzel abzuleiten und betont, in Anlehnung an Singer, den Aspekt der Darstellung in kulturellen Verhaltensmustern: „In einem gewissen Sinne ist jede Art der kulturellen Darstellung – Ritual, Zeremonie, Karneval, Theater und Dichtung eingeschlossen – Erklärung und Entfaltung des Lebens selbst […]. Gerade durch den Prozeß der Darstellung wird das, was normalerweise hermetisch in den Tiefen des soziokulturellen Lebens verschlossen, der Alltagsbeobachtung und dem Verstand nicht zugänglich ist, ans Licht befördert.“85 Die nachhaltige Präsenz ethnologischer Theoriemodelle für die heutige Theaterwissenschaft zeigt sich unter anderem an der Übernahme von Begriffsprägungen aus diesem Bereich. Ein besonders prominentes Beispiel dafür ist der Begriff des Liminalen. Er wurde ursprünglich von Arnold van Gennep geprägt und diente bei ihm zur Beschreibung von Initiationsriten bei Naturvölkern, während derer die Beteiligten der jeweiligen Zeremonie eine markante biographische und soziale Grenze überschreiten. Eine solche Passage folgt nach van Gennep typischerweise einem dreistufigen Prozess, in dem die Initianden von ihrem bisherigen Status über eine liminale Phase, in der keine verbindlichen sozialen Regeln mehr gelten, in ihren künftigen Status wechseln.86 Turner übernimmt den Begriff des 84 Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M.: Campus 1989. 85 Ebd., S. 17. 86 Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt a.M., New York: Campus 1981. Arnold van Gennep gelangt nach vergleichenden Studien zur Differenzierung dreier Phasen: Trennung, Schwelle, Angliederung. Die unterschiedliche Funktion dieser (Initiations-)Riten wie Reintegration, Reinigung und (Re-)Institutionalisierung ist vor allen Dingen an biologische Lebensrhythmen wie Geburt, Pubertät, Heirat und Tod gebunden, bei denen der Statuswandel einer Person angezeigt wird. Einem evolutionistischen Ansatz verpflichtet, geht van Gennep davon aus, dass, je „primitiver“ die
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Fest und Utopie Liminalen, weitet ihn aber aus, indem er Liminalität als soziale Bedingung der Möglichkeit des Utopischen überhaupt interpretiert. Allein im liminalen Feld werde eine Regeneration und Erneuerung ermöglicht, wie sie sonst, Turner zufolge, in den kontrollierten Bereichen gesellschaftlichen Handelns unterdrückt sei. Das Liminale bezeichnet der Ethnologe als einen Zustand außerhalb der normalen Gesellschaftstruktur, der aber gesellschaftlich sanktioniert ist. Durch die Vermischung sämtlicher Ordnungsstrukturen, die auch hier wieder mit dem Begriff des Ludischen vorgestellt wird, entsteht, Turner zufolge, Kreativität und damit Neues. Analog zu Bachtins Ambivalenz-Begriff sieht Turner in diesem Zwischenzustand die „Befreiung der kognitiven, affektiven, volitionalen, kreativen usw. Fähigkeiten des Menschen von den normativen Zwängen“.87 Wie Turner die auf Momenthaftigkeit beschränkte, sich jeglicher stabilisierenden Verfügbarkeit entziehende Erfahrung von Liminalität beschreibt, weist in der Tat auf Formulierungen voraus, die näher in Kapitel V erläutert werden, wenn es um die „Ästhetik des Augenblicks“ gehen wird. Turner schreibt: „Das Liminale kann […], so exotisch es auch scheinen mag, nie mehr sein, als ein kurzes Aufflackern. […] Ich sehe in ihm aber eine Art institutioneller Kapsel oder Hülle, die den Samen künftiger sozialer Entwicklung, gesellschaftlichen Wandels auf eine Weise in sich birgt, dass die zentralen Tendenzen eines sozialen Systems niemals ganz zu Sphären werden können, in denen Recht und Ordnung sowie die ihnen dienenden Formen der sozialen Kontrolle den Ausschlag geben.“88 Das Liminale ist also der Garant dafür, dass eine Gesellschaft nicht vollkommen verhärtet, dass sie nicht nur verhaltensnormierender Sozialverband ist, sondern Communitas werden kann, „echte Gemeinschaft“, wie Turner in Abwandlung eines marxistischen Topos schreibt. Einer Communitas aber, die bei ihm auf wunderbare Weise zugleich Bedingung für die größtmögliche Individualität ihrer Mitglieder ist: „Je mehr spontan ‚gleich‘ Menschen werden, umso
Gesellschaft, umso klarer einzelne gesellschaftliche Gruppierungen abgrenzbar seien. In den modernen Gesellschaften sei daher lediglich – wie eben auch Durkheim und Caillois konzedierten – von einer klaren Abgrenzung zwischen säkularem und profanem Bereich auszugehen. Zudem, so van Genneps Verfallslogik, dominiere in „primitiven“ Gesellschaften der Bereich des sakralen, in „zivilisierteren“ Gesellschaften werde dieser zunehmend neutralisiert. 87 V. Turner: Vom Ritual zum Theater, S. 68. Auch Revolutionen und die Epoche der Romantik stellen für Turner derart liminale Prozesse dar. 88 Ebd.
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Theater als Ort der Utopie mehr spezifisch ‚sie selbst‘ werden sie; je mehr sie aber sozial gleich werden, umso weniger sind sie individuell sie selbst.“89 Michael Bristol betont also völlig zu Recht, dass es in den Studien von Durkheim, Caillois, Bachtin bis hin zu Turner stets um den Entwurf einer kohärenten, intakten Communitas gehe. Der IstZustand der Gesellschaft wird als ein von Inkohärenzen geprägter, streng hierarchischer geschildert, „die“ Gesellschaft ist ein potentiell restriktives, autoritäres System. Demgegenüber wird das Fest zu jenem einheitsstiftenden Moment erklärt, das sämtliche Partikulärinteressen integriert.90 In Turners spezifischer Ausformung dieses sozialutopischen Denkens am Leitfaden des Rituellen wird die Phase der Liminalität zur Quelle kultureller Formen wie Kunstwerken, Riten und philosophischen Systemen. Die Rhetorik der Depravation, wie sie in der Gegenüberstellung „Liminal“ versus „Liminoid“91 auftritt, gehört dabei zu den typischen Merkmalen universalisierender, teleologischer Deutungsmuster. Utopisches Denken und Ästhetik spielen bei Turner aber noch auf einer weiteren Ebene ineinander. Die vielzitierte Formulierung vom „sozialen Drama“, die Turner in Anlehnung an die Aristotelische Definition von den Bauprinzipien einer Tragödie formuliert, geht Hand in Hand mit dem universalistischen Anspruch, den Turners Studie, entgegen seiner eigenen Beteuerungen,92 auszeichnet.93 Die Rede von einer Genealogie kultureller Darstellungsformen ist dabei nicht nur metaphorisch. Für Turner ist das „soziale Drama“ – und die mit ihm inhärierenden Rituale – Ursprung und Keimzelle der Kultur. Turner betont dabei ausdrücklich
89 Ebd., S. 73. Turner selbst kommt noch einmal auf eine Differenzierung dreier unterschiedlicher „Communitas“-Formen zu sprechen, wie er sie bereits 1969 in „The Ritual Process“ entworfen hat. Vgl. ebd., S. 74ff. 90 Vgl. Michael D. Bristol: Carnival and Theatre. Plebeian culture and the Structure of Authority in Renaissance England, New York, London: Methuen 1985, S. 26ff. 91 Turner entwirft einen Katalog distinkter Funktionen, bei dem liminale Phänomene (die in Agrargesellschaften und Stammeskulturen anzutreffen seien) als in gesellschaftliche Prozesse integrierte Ausdrucksformen verstanden werden und ein „vollständig Ganzes“ bilden. Hier bedient Turner sich des von Mihaly Csikszentmihaly entwickelten Begriffs des „flow“, welcher von einer Verschmelzung von Wahrnehmung und Handeln sowie unterschiedlicher Zeitparameter wie Vergangenheit und Zukunft ausgeht. Während liminale Phänomene auf Pflicht basierten, seien liminoide Erscheinungsformen – deren Vorstufe das Liminale ist – freiwilliger Natur (Sportarten, Kunstformen, Zusammentreffen in öffentlichen Räumen wie Bars und Restaurants [!]). Vgl. V. Turner: Vom Ritual zum Theater, S. 83ff. 92 Vgl. ebd., S. 114. 93 Zum Begriff „soziales Drama“ siehe: Ebd., S. 10ff. u. 113.
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Fest und Utopie die performative Dimension von Ritualen, womit er sich von der älteren Definition des Rituals als vorgeschriebenem, förmlichen Verhalten entfernt. Zugleich hält er an der von der Religionsphänomenologie betonten Dimension des Magischen, und somit an der Orientierung an transzendenten Kräften, fest. Es sind schließlich jene (nicht erklärbaren) Kräfte, die für Turner, wie in der klassichen Festforschung auch, den Unterschied von genuinem Ritual und bloßer Zeremonie manifestieren und letztere damit – kulturkritisch – als heteronome Erlebnisform markieren. Der von van Gennep geprägte und von Turner erweiterte Begriff des Liminalen, des „betwixt and between“, nimmt in der jüngeren Theaterwissenschaft bekanntlich eine prominente Stellung ein. Allerdings wird er hier aus dem ethnologischen Zusammenhang gelöst und tritt nun als besondere Form ästhetischer Erfahrung auf, der sich bei bestimmten Aufführungen Schauspieler wie Zuschauer, Performer wie Teilnehmer aussetzen.94 Diese These wird auf zweierlei Weise begründet: Der Schauspieler nehme, so die eine Argumentationsstrategie, beim Spielen einer Rolle einen Zustand ein, der zwischen Ritual und Theater changiere, denn die Darstellung sei häufig von anstrengendem körperlichen Einsatz geprägt. Da der körperliche Einsatz aber nicht mehr die Rolle betreffe, sondern denjenigen, der diese Rolle spielt, übernehme das Spiel in jenen Momenten auch Ritualfunktion. Die zweite Begründung beruft sich auf die Autorität einer Theatergeschichte, die um die vermeintliche Emanzipation des modernen Theaters von der Erblast der Repräsentation kreist: Die Grenzziehung zwischen Ritual und Theater sei von den Theaterpraktikern um die 68er-Bewegung bewusst torpediert worden: „Während ganz im Gegensatz zu diesem Ritualbegriff [Turners, Anm. d. Verf.] im Zuge und Gefolge der 68er-Bewegung, zumindest in Deutschland, Rituale als rigide Grenzziehungen und damit als Instrumente der Repression durch die herrschende Klasse verschrien wurden, deren Abschaffung man im Sinne der Aufklärung konsequent betreiben muss, bezogen sich Aktions- und Performance-Künstler in Deutschland wie im übrigen Europa und in den Vereinigten Staaten im selben Zeitraum auf Rituale, um mit ihren Aktionen eben solche Situationen zu schaffen, die imstande sind, die Beteiligten in den Zustand eines radikalen ,betwixt and between‘ zu versetzen und ihnen so Spielräume für Innovationen zu eröffnen.“95
Diesen theaterästhetischen Impetus der Innovation und Grenzverwischung verlängert Fischer-Lichte bis in die jüngste Theaterge-
94 Vgl. Erika Fischer-Lichte: „Ritualität und Grenze“, in: Dies. u.a. (Hg.): Ritualität und Grenze, Tübingen, Basel: Francke 2003, S. 11-30. 95 Ebd., S. 26.
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Theater als Ort der Utopie schichte hinein. Nicht nur Grotowski, Abramović, Beuys und Schechner, sondern auch Jan Fabre, Reza Abdoh, LaLaLa Human Steps, Castorf, Haußmann, Schleef und Schlingensief betrieben jene Grenzauflösung, die sich gegen ein Theater des „als ob“ richtete. Der Wille zum Experiment und dessen Gelingen fallen dabei offenbar zwanglos in eins: „Damit setzten auch sie sich selbst und ihre Zuschauer einem Zustand des ‚betwixt and between‘ aus und stürzten sie so in eine Krise.“96 Eine solch apodiktische Feststellung, die wohlgemerkt nicht auf empirischen Befunden – etwa Zuschauerbefragungen – oder alternativen Theoriemodellen zur Funktionsweise von Wahrnehmung basiert, sondern lediglich postuliert, was der eigenen Theorie zufolge gelten müsste, sagt offensichtlich weniger über die Phänomene aus, denen sie gewidmet ist, als vielmehr über die beeindruckende Sogwirkung der ethnologischen Denkmodelle, der sich ihre Prämissen verdanken und ihrer zentralen Termini wie „Innovation“ und „Grenzverwischung“. Einmal abgesehen davon, dass man durchaus bezweifeln darf, ob „die“ Zuschauer der besagten Aufführungen tatsächlich samt und sonders in eine Krise gestürzt bzw. in einen liminalen Zustand versetzt wurden, ist auch die hier stillschweigend vorgenommene Verwischung zwischen dem Begriff des Rituals und dem der theatralen Aufführung – wie diese auch im Einzelnen bestimmt werden mag – höchst problematisch. Denn anders als beim in der Tat nur schwer zu identifizierenden Unterschied zwischen Fest und Ritual, kann man beim (westlichen) Theater davon ausgehen, dass es immer in einem konventionalisierten Rahmen, also innerhalb des Systems Kunst stattfindet. Dieser Rahmen präformiert aber stets die Deutung dessen, was als Aufführung geboten wird, und weiche es noch so sehr von bekannten Mustern ab. Wer dagegen, etwa bei einer Street-Performance, außerhalb des Kunstrahmens Zeuge eines Geschehnisses wird, das, ohne dass dies ausdrücklich kenntlich gemacht wäre, als künstlerische Manifestation intendiert ist, dessen Reaktionen können wiederum nicht als Beleg für eine binnentheatrale ästhetische Theorie dienen und das, auch wenn sie noch so gut in das Muster des „betwixt and between“ passen. Von ritualisierter Praxis im Theater lässt sich dagegen nur dort sprechen, wo bestimmte Darstellungsformen eindeutig als Konvention erkennbar sind (in übertragenem Sinne womöglich auch dort, wo sie Techniken archaischer Rituale aufgreifen – was aber nicht heißt, dass sie damit auch schon Rituale wären).97 Auf der Bühne hat der
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Ebd., S. 27. Darüber hinaus könnte man allenfalls noch in einem sehr prosaischen Sinn an ritualisiertes Verhalten denken, etwa an das Zurechtmachen vor
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Fest und Utopie körperliche Einsatz eines Schauspielers nur insofern eine „rituelle“ Komponente, als er eben bestimmte, die Theaterästhetik betreffende, stellenweise konventionalisierte Verhaltensweisen im Darstellungsprozess übernimmt. Mit religiösen Ritualen hat das jedoch allenfalls noch implizit, über Verweis und Imitation, zu tun. Zu Recht betont Eli Rozik den prinzipiellen Unterschied zwischen Ritual und Theater, wenn er darauf beharrt, Rituale seien „a mode of action“, das Theater dagegen „a kind of medium“. Die beiden Bereiche könnten nicht vermengt werden, da beide „entities on different ontological levels“98 sind. Eine Theorie des Performativen, die diese Grundunterscheidung unterläuft, ohne dafür überzeugendere Gründe als universalisierende Analogieschlüsse auf Forschungsansätze aus Religionsphänomenologie und Ethnologie anbieten zu können, steht deshalb auf schwachen Füßen und muss sich fragen lassen, ob sie mit einem derart groben Deutungsraster dem ausdifferenzierten Unterhaltungs- und Sinnangebot postindustrieller Gesellschaften wirklich gerecht wird.
III.3.4 DIE GEDÄCHTNISFUNKTION DES FESTS ALS ERGEBNIS EPISTEMOLOGISCHER NEGATION DICHOTOMER BEGRIFFSKONSTRUKTIONEN Die Einsicht, dass sich Theater, Fest und Ritus kaum mehr als durch vage Analogien parallelisieren lassen, legt es nahe, sich von den essentialistischen Prämissen zu lösen, die diesen Ansatz zunächst attraktiv erscheinen ließen und sich dabei möglichst auch gleich von den, für ein Denken in Wesenskategorien unvermeidlichen, dichotomen Erklärungsmustern zu verabschieden. Für den Bereich der Festforschung bedeutet dies, nach Deutungsmöglichkeiten zu suchen, die nicht auf bipolaren Kategorien aufbauen. Eine entscheidende Anregung hierzu ging 1989 von einem Kolloquium der Gruppe „Poetik und Hermeneutik“ aus, die das Phänomen des Festes in weiten Teilen der kulturwissenschaftlichen Forschung auf
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einem Theaterbesuch oder das Abreißen der Karten, Verhaltensweisen also, die ähnlich ritualisiert ablaufen wie beispielsweise Höflichkeitsbekundungen in öffentlichen Räumen. E. Rozik: The roots of theatre, S. xi. Rozik erläutert: „Whereas as a mode of action ritual reflects intentions and purposes, as a medium theatre is neutral with regard to intentions and purposes and can be employed for any kind of action, including ritual. […] Consequently, ritual and theatre are mutually independent; therefore, ritual can only opt for rejecting or adopting theatre. Because of its nature, theatre can neither reject nor adopt ritual.“ Ebd.
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Theater als Ort der Utopie Alternativen zu derart petrifizierten Positionen untersuchte.99 Ziel des Projekts war es, die bekannten dichotomen Formeln, nach denen im Fest entweder die „affirmative Überhöhung der bestehenden Ordnung“ oder aber ein „normensprengender Exzeß“ gesehen wird, durch weniger einseitige, methodologisch reflektiertere Beschreibungs- und Deutungskategorien zu ersetzen.100 Die systematische Erörterung dieser theoretischen Neujustierung ergab sich dabei allerdings eher über die implizite Methodik der einzelnen Beiträge als über eine ausführliche Erörterung theoretischer Zusammenhänge. Vor allem die Aufsätze von Joachim Küchenhoff101 und Aleida Assmann102 berührten, neben literaturwissenschaftlichen, (kunst-)historischen und philosophischen, auch metatheoretische Fragen. Küchenhoff distanzierte sich von den Dichotomien der älteren Festforschung, indem er sie als Ausdruck der Schwierigkeit beschrieb, den „Widerspruch der regelhaften Regellosigkeit“103 des Festes zu denken. Das herrschaftliche Fest, Festtyp der affirmierenden Ordnung, und das ekstatische Fest, Festtyp der normsprengenden Subversion, könnten gar nicht kategorial geschieden werden und müßten folglich in ihrer dialektischen Reziprozität anerkannt werden. Beide Funktionen bleiben stets aufeinander bezogen und können folglich nicht unvermittelt nebeneinander stehen.104 Diese über eine dichotome Funktionszuweisung hinausgehende Bestimmung vermittelt aber, dass neben den Festen auch die Festtheorien in ihrer Kontextualität zu betrachten sind. Sie selbst spiegeln im theoretischen Begründungsvorgang, was ideell in der Funktion des Fests anerkannt werden soll. Aleida Assmanns Beitrag zeichnete genau diesen komplementären Wandel der Festkultur und ihrer Wahrnehmung an der Schwelle von einer Feudal- zur bürgerlichen Gesellschaft nach. Dieser Wandel äußere sich nicht nur in den festlichen Aktivitäten selbst, sondern auch in den Kommentaren darüber, wie etwa im Anstandsbuch des Stefano Guazzo „La Civil Conversazione“ (1574), das als eine Art didaktischer Kommentar
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Vgl. W. Haug/R. Warning: Das Fest. Einen umfassenden kulturgeschichtlichen Überblick strebte auch die ein Jahr zuvor publizierte Anthologie „Das Fest“ an. Aufgrund der historischen Fokussierung wurden methodische Fragen eher am Rande verhandelt. Vgl. Schultz, Uwe: Das Fest. Walter Haug/Rainer Warning: „Vorwort“, in: W. Haug/R. Warning: Das Fest, S. XV-XVII, S. XV. Vgl. Joachim Küchenhoff: „Das Fest und die Grenzen des Ich. Begrenzung und Entgrenzung im ‚vom Gesetz gebotenen Exzeß‘“, in: W. Haug/R. Warning: Das Fest, S. 99-119. Vgl. Aleida Assmann: „Festen und Fasten. Zur Kulturgeschichte und Krise des bürgerlichen Fests“, in: W. Haug/R. Warning: Das Fest, S. 227-246. J. Küchenhoff: Das Fest und die Grenzen des Ich, S. 102. Vgl. ebd., S. 101ff.
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Fest und Utopie den allmählichen Wertewandel vom Adel der Geburt zum Adel des Verhaltens anzeige.105 Assmanns Analyse verdeutlicht, dass verschiedene, sich kreuzenden Funktionen aristokratische Formen der Festkultur auszeichneten. Genauso vertreten ist aber auch die puritanische Kritik am Fest, die auch eine an der verschwenderischen Lebensweise des Adels ist, welche eine dominante Position im Sinne der neuen Arbeitsethik wird.106 Der Grundimpetus einer impliziten Kulturkritik an der schädigenden, weil verschwenderischen Wirkung des Fests, die im Widerspruch zu einer (christlichen) Vorstellung von Enthaltsamkeit und Askese steht, stellt also eine ideengeschichtliche Konstante auch innerhalb einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft dar. Zwar lieferten die einzelnen Beiträge wichtige Anregungen zur Neujustierung überholter Forschungsparameter, dennoch mündeten sie nicht in einen Neuaufbruch expliziter Festforschung. Seit den 1990er Jahren stammen die interessantesten Untersuchungen zum Thema aus Forschungsfeldern, für die das Fest nur eines von vielen kulturwissenschaftlich erklärungsbedürftigen Phänomenen darstellt. Ein typisches Beispiel stellt die von Jan Assmann ausgearbeitete Theorie des kulturellen Gedächtnisses dar. Sie untersucht die Art und Weise des Erhalts von kulturellen Konventionen, die über verschiedene Speichermedien im Gedächtnis behalten werden. Neben dem Speichermedium der Schrift, das die Möglichkeit bietet, sich vergangener Lebensformen überhaupt zu erinnern, verweist Assmann auf weitere kulturelle Techniken mit Erinnerungsfunktion, zu denen er auch Riten und Feste zählt. Sie bilden das Kontinuum schriftloser wie schriftlicher Kulturen und tragen „zur Ausbildung sozialer Sinn- und Zeithorizonte“107 bei. Zu den unterschiedlichen Formen des externalisierten Erinnerns – also außerhalb des menschlichen Bewusstseins – zählt Assmann nicht nur das Gedächtnis von Objekten, die dem Menschen ein „Bild seiner selbst“108 spiegeln, und das kommunikative Gedächtnis, das über Interaktion mittels Sprache funktioniert, sondern auch das mimetische Gedächtnis, etwa im Nachahmen eines Alltagshandelns von Brauch und Sitte. Sie bilden den entscheidenden Rahmen für die Überlieferung von Sinn: „Wenn mimetische Routinen den Status von ,Riten‘ annehmen, d.h. zusätzlich zu ihrer Zweckbedeutung noch eine Sinnbedeutung besitzen, wird der Bereich des mimetischen Handlungsgedächtnisses überschritten. Riten gehören in den
105 Vgl. A. Assmann: Festen und Fasten, S. 230. 106 Vgl. ebd., S. 238. 107 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck 1997, S. 31. 108 Ebd., S. 20.
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Theater als Ort der Utopie Bereich des kulturellen Gedächtnisses, weil sie eine Überlieferungsform des kulturellen Sinns darstellen. Dasselbe gilt für Dinge, wenn sie nicht nur auf einen Zweck, sondern auf einen Sinn verweisen: Symbole, Ikonen, Repräsentationen wie etwa Denksteine, Grabmale, Tempel […] überschreiten den Horizont des Dinggedächtnisses, weil sie den impliziten Zeit- und Identitätsindex explizit machen.“109
Erst durch die verschiedenen Praxen der Mnemotechnik, so zeigt Assmanns Studie, entstehen überhaupt Vergangenheit und Zukunft, die menschliche Vorstellung von Zeit. Zu den primären Erinnerungsformen, die nicht nur Vergangenheit erinnernd vergegenwärtigen, sondern darüber hinaus auch identitätsstiftend wirken, und damit den Bereich der rein chronologischen Reihung verlassen, zählt Assmann eben den Ritus und das Fest: „Feste und Riten sorgen im Regelmaß ihrer Wiederkehr für die Vermittlung und Weitergabe des identitätssichernden Wissens und damit für die Reproduktion der kulturellen Identität. Rituelle Wiederholung sichert die Kohärenz der Gruppe in Raum und Zeit.“110 Assmann verdeutlicht, dass vor allen Dingen in schriftlosen Kulturen „das Fest als primäre Organisationsform des kulturellen Gedächtnisses“ die Zeit in Alltagszeit und Festzeit“111 gliedert. Doch diese Unterscheidung ist, wie Assmanns Erläuterungen zeigen, selbst historisch. Während in schriftlosen Kulturen profane und heilige Zeit einer einheitlichen Ordnung angehören, in der die Feste Strukturierungsfunktion dieser Ordnung übernehmen, wird die tatsächliche Unterscheidung von heiliger und profaner Zeit erst auf „einer entwickelteren Kulturstufe“112 erreicht. Gerade in schriftlosen Kulturen tragen vor allem auch Feste, Riten, Theater, Tänze, Spiele und Melodien zu den verschiedenen Formen der „Selbstvergewisserung einer Gruppe“113 bei, die dann, je nach Zeitbewusstsein, die Funktion einer kontrapäsentischen (gegenwartsrelativierenden) oder fundierenden (gegenwartsbekräftigenden) Mythomotorik haben können.114 Durch das kulturelle Gedächtnis „gewinnt das Leben“, so Assmann, „eine Zweidimensionalität oder Zweiseitigkeit, die sich durch alle Stadien der kulturellen Evolution durchhält“.115 Erinnerung als Reflexion begriffen, hat dabei immer eine sinnstiftende Funktion. Erinnerung stiftet Identität und erzeugt kulturelle Teilhabe, die ihrerseits auf Gesellschaft angewiesen ist.
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Ebd., S. 21. Ebd., S. 58. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Ebd., S. 59. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 78f. Ebd., S. 57.
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Fest und Utopie Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses steht, weil sie sich auf die Formen des kulturellen Erinnerns bezieht, damit quer zu einer Apotheose der teleologischen Präsenzmetaphysik. Die in den älteren Festtheorien aufgestellte Dichotomie von profaner und heiliger Zeit stellt Jan Assmann mit dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses zur Disposition und ermöglicht somit, die einzelnen Formen des Zeitverstehens innerhalb der rituellen und Festpraxen selbst aufzudecken.116 Dadurch wird es möglich, die Beschwörung absoluter, leerer Zeit selbst als Topos der Festforschung und zugleich als Modus ästhetisch-philosophischer Erinnerungskultur zu erkennen.
III.3.5 DAS EVENT: SURROGAT DES UNFESTLICHEN Wie bereits erwähnt, blieb die Initiative der Gruppe „Poetik und Hermeneutik“, die Festforschung einer methodologischen Revision zu unterziehen, zunächst weitgehend folgenlos. Es spricht vieles dafür, darin ein Indiz für eine allgemeine Interessenverschiebung zu sehen. Ende der 80er Jahre, als der Band „Das Fest“ erschien, gab es bereits seit längerem keine dezidiert auf das Phänomen Fest ausgerichtete Theoriebildung mehr, zumindest nicht mehr in dem Umfang und dem Anspruch, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts betrieben wurde und daran hat sich seither wenig geändert. Wer heute einen theoretischen Zugang zum Phänomen des Fests gewinnen will, ohne dabei wieder nur die altbekannten Thesen hin und her zu wenden, muss sich weiträumiger ausgerichteten kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen, wie beispielsweise Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses, zuwenden. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Dichotomien und die utopische Gesellschaftskritik der Festtheorien älterer Prägung damit auch wirklich verschwunden wären. Tatsächlich finden sich die meisten der einschlägigen verfallstheoretischen Topoi und teleologischen Denkmuster in der zeitgenössischen Eventforschung wieder. Die Kontinuität verdankt sich nur in Ausnahmefällen einer bewussten und reflektierten Rezeption der Texte der älteren Festforschung. Schon für Guy Debord, der Ende der 60er Jahre mit der These von der modernen Gesellschaft als einer „Gesellschaft des Spektakels“117 116 Darstellungsformen und Funktionsweisen des kulturellen Gedächtnisses auf dem Theater untersuchte: Friedemann Kreuder: Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers, Berlin: Alexander 2002, S. 147. 117 Mit „Spektakel“ benannte Debord einen erreichten Zustand eines entfesselten Kapitalismus, der seiner Ansicht nach sämtliche Produktionsbedingungen beherrsche und ein ubiquitäres Bewusstsein darstelle. Dazu zählte Debord auch die nur noch medial vermittelt wahrgenommene Realität, die jegliche authentische Wahrnehmung eingebüßt habe. Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg: Edition Nautilus 1978.
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Theater als Ort der Utopie zu den Ersten gehörte, die sich den Phänomenen zuwandten, die seither unter Labeln wie „Event-Kultur“ oder „Erlebnis-Gesellschaft“118 verhandelt werden, spielte der religionsphänomenologische Zugang zu diesem Feld keine Rolle mehr. Einige gedankliche Parallelführungen ergeben sich jedoch schlichtweg aus der Logik der Sache. Wer nämlich den Begriff des Events definieren will, kommt nicht umhin, sich auch mit dem des Fests auseinanderzusetzen, denn zumindest in Hinblick auf die gemeinschaftsstiftende Funktion ist beides zunächst kaum auseinanderzuhalten. So notiert Hubert Knoblauch, dass in „diesem anthropologischen Sinne […] ,events‘ kommunikative Veranstaltungen [sind], bei denen in leibhafter Kopräsenz eine größere Zahl Handelnder auf eine mehr oder weniger festgelegte, rituelle Weise miteinander fokussiert kommuniziert“.119 Das Verbum „fokussiert“ soll hier vermitteln, dass es um beabsichtigte, interessengeleitete Veranstaltungen geht. Dabei können diese durchaus mehr oder weniger festgelegte Handlungsabläufe aufweisen, „die häufig konventionellen, in vielen Fällen auch rituellen Charakter annehmen“.120 Kommunikation, körperliche Kopräsenz, eine gegenüber dem Alltag herausgehobene Erfahrung sind offenbar Attribute, die das „Event“ vom „Fest“ noch nicht grundsätzlich unterscheiden.121 Als markantes Unterscheidungskriterium bietet sich nun aber eine Konstruktion an, die genau der kulturkritischen Diagnose erneut in die Hände spielt, obwohl diese von Seiten der Diskurskritik eigentlich als wissenschaftstheoretischer Ausschlussmechanismus enttarnt worden ist: Die Unterstellung einer singulären Macht, die hinter den Veranstaltungen als zentrale Triebkraft wirkt – das rein auf das Ökonomische reduzierte Interesse der jeweiligen Veranstalter, die sich mit seinen Unterhaltungsangeboten an ein seinerseits ausschließlich am kurzen Vergnügungseffekt interessiertes Publikum richten. Nach Winfried Gebhardt werden Events als einzigartige Erlebnisse planmäßig erzeugt und durchgeführt, es sind also öffentliche Ereignisse. Häufig bedienen sich die Veranstalter, so Gebhardt, der Formensprache eines kulturellen und ästhetischen Synkretismus (etwa im Rückgriff auf Wagners Idee des Gesamtkunstwerks) und 118 Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Campus 1992. 119 Hubert Knoblauch: „Das strategische Ritual der kollektiven Einsamkeit. Zur Begrifflichkeit und Theorie des Events“, in: Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.): Events. Soziologie des Außergwöhnlichen, Hemsbach; Opladen: Leske + Budrich 2000, S. 33-50, S. 38. 120 Ebd., S. 36. 121 Zuzustimmen ist Bernhard Teuber, dem zufolge sich Kriterien des Gelingens und Misslingens nur unzureichend verifizieren ließen. Vgl. B. Teuber: Fest/Feier, S. 368.
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Fest und Utopie profitieren auf diese Weise parasitär vom Sinnversprechen der (Hoch-)kunst, ohne es aber einlösen zu können oder auch nur zu wollen. Tatsächlich gehe es bei der Eventplanung darum, das scheinbar „universale Bedürfnis der Menschen nach einem außergewöhnlichen Erlebnis professionell auszubeuten“.122 Events bedienen also die Nachfrage nach kurzfristiger Ablenkung von einer in Routine und Zwängen gefangenen Alltagswelt und vermitteln einer in Szenen aufgesplitterten Gesellschaft das Gefühl exklusiver Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit (weswegen sie in der Regel monothematisch fokussiert seien).123 Das Neue gegenüber den Festen der höfischen Gesellschaft, den Feiern der Französischen Revolution, den mittelalterlichen Narren- und Eselsfesten oder auch den festlichen Masseninszenierungen des sozialistischen Staates (Gebhardts Beispiele) wäre damit der Warencharakter, der das öffentliche Feiern in spätmodernen kapitalistischen Gesellschaften zunehmend kennzeichnet.124 Die jeglichen Inhalt nivellierende Kraft des ökonomischen Interesses, dem sich die prosperierende Eventkultur der Gegenwart verdankt, mache, so eine der zentralen Thesen Gebhardts, Hitzlers und Pfadenhauers – neben religiösen, populärkulturellen oder sportzentrierten Massenevents – auch vor hochkulturellen Veranstaltungen nicht halt und führe zu Neuschöpfungen, die bewusst das traditionelle Festspielangebot sprengten. Wie bei jedem Konsumangebot bestehe das zentrale Ziel auch in diesem Fall in der „Herstellung emotionaler Bindung an das zu verkaufende Produkt […]“.125 Während es der älteren Festtheorie also vor allem um die sozial integrativen Kräfte ging, die Feste freisetzen können, ihre Wirkung als gesellschaftliches Bindemittel, stehen in der Eventforschung offenbar die ökonomischen Kräfte, die auf dem Markt der Kulturevents Angebot und Nachfrage steuern, im Zentrum des Interesses. Nicht nur sämtliche alltägliche Lebensbereiche werden unter das Primat der Notwendigkeit der Warenzirkulation gestellt, auch das ehemals zweckfrei gedachte Feste-Feiern wird nun unter die Kategorie des ökonomischen Zwangs, des rein pekuniären Gegenwerts, gestellt. Auch wenn Gebhardt betont, dass dieser Bedeutungswandel seine Ursache in den veränderten Formen und Modalitäten der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung habe, womit eine verfalls122 Winfried Gebhardt: „Fest, Feiern und Events. Zur Soziologie des Außergewöhnlichen“, in: Ders./R. Hitzler/M. Pfadenhauer: Events, S. 17-31, S. 26. 123 Vgl. ebd., S. 24-28. 124 Gebhardt konstatiert ausdrücklich eine „akzelerierende Eventisierung der Festlandschaft“. Ebd., S. 24. 125 Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer: „Einleitung“, in: Dies.: Events, S. 9-13, S. 9.
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Theater als Ort der Utopie theoretische Deutung eigentlich ausgeschlossen sein sollte, funktioniert diese Konstruktion nur unter der impliziten Annahme, das Event sei die unter kapitalistischen Bedingungen entstandene Schwundform einer ehedem lebendigen Festkultur. Gebhardt vertritt mit dieser Haltung keineswegs einen Außenseiterstandpunkt. Auch im Rahmen des Herausgeberbandes „Performativität und Ereignis“ werden Events als kommerzialisierte Surrogate und Derivate einer ursprünglich zweckfreien Festkultur beschrieben. So notiert Herbert Willems, in einer Zeit von „Orientierungsdefiziten, Interaktionsstörungen, Verletzungen, Fehlleistungen, sozialen Rückzügen“, kurz, „zeremonieller Desorganisation“126, sei auch „die Gemeinschaft“ zum „bloßen Vehikel individueller Bedürfnisbefriedigungen“127 depraviert. Eine moralische Transformation sei erkennbar, ein „Schwinden von sozialer Identifikation und Solidarität als Gemeinschaftsprinzipien“. Events spiegelten diesen Wertewandel, zeichneten sie sich doch gerade dadurch aus, „dass die Teilnehmer nichts bindet und hält als ihr eigener Wille und (d.h.) ihr Interesse“.128 Events sind dann nur noch Strategien zur Befriedigung des „konsumistischen Erlebnisindividualismus“129, deren Gesicht korrumpiert ist von gezielt orientierten Werbestrategien, ausgerichtet allein an einer möglichst effizienten Vermarktung ehemals eherner, nun aber verkümmerter Ideale. Die Plausibilität dieser denkbar einschichtigen kulturkritischen Konstruktion ist allerdings dadurch erkauft, dass sie, statt die eigenen Thesen empirisch abzusichern, einen Popanz geißelt. Das Positiv-Bild zu den von Willems unterstellten Veränderungen bleibt diffus, das vermeintliche „Goldene Zeitalter“ des Feierns ideelles Postulat, auf überzeugende Indizien kann es sich jedenfalls nicht stützen. Die Ergebnisse der historischen Festforschung geben vielmehr Grund zu der Annahme, dass es sich bei der Klage über die Eventisierung der Festkultur um die Wiederauflage einer altbekannten moralisierenden Denkfigur handelt: Die Kritik an der Kommerzialisierung und der überbordenden Zunahme des Festefeierns war nämlich bereits im 16. und 17. Jahrhundert ein eingeführter kulturkritischer Topos.130 126 Herbert Willems: „Events: Kultur – Identität – Marketing“, in: E. FischerLichte u.a.: Ritualität und Grenze, S. 83-97, S. 86. 127 Ebd., S. 89. 128 Ebd., S. 86 u. 89. 129 Ebd, S. 91. 130 Dies belegt die Studie Vera Jungs, die die Fest- wie Tanzkultur des 16. und 17. Jahrhunderts untersucht hat. Die Autorin gelangt zu dem Ergebnis, dass die These von der Disziplinierung des Körpers durch die Obrigkeit einseitig ist. Vgl. Vera Jung: Körperlust und Disziplin. Studien zur Fest- und Tanzkultur des 16. und 17. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2001.
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Fest und Utopie An einem solchen Vorgehen zeigt sich, dass auch die um den religionsphänomenologisch unvorbelasteten Begriff des Events zentrierte, zeitgenössische Festforschung noch immer der Verführung durch ein Wesensdenken erliegt, das sie längst abgelegt zu haben glaubt. Misstrauisch stimmt auch, dass aus diesen Prämissen in der Regel Thesen folgen, die einen Verblendungszusammenhang konstruieren. Im Gegensatz zu dieser höchst spekulativen, kulturpessimistischen Hypothesen ist aber doch wohl eher anzunehmen, dass eine klare Trennlinie zwischen einem rein aus Marketinginteressen veranstalteten Event und anderen Formen öffentlicher Festveranstaltungen sich viel weniger leicht sinnvoll und begründet ziehen lässt, als kulturkritische Positionen dies unterstellen müssen.131 Zugleich liegt der Verdacht nahe, der verfallstheoretisch aufgeladene Begriff des Events könnte gerade wegen dieser implizit negativen Wertbesetzung als Leitbegriff kulturwissenschaftlicher Forschung womöglich nur sehr bedingt geeignet sein.
III.3.6 JENSEITS VOM „JARGON DER EIGENTLICHKEIT“: NEUE TENDENZEN ZUR ANALYSE VON VERGEMEINSCHAFTUNGSFORMEN Für die Haltlosigkeit substantialistischer Definitionsversuche und Typologien sprechen unter anderem auch die Ergebnisse der anthropologischen Ritualforschung. Ähnlich wie die Festforschung war auch sie lange Zeit durch einen evolutionistischen und religionsphänomenologischen – und damit in weiten Teilen ahistorischen – Zugriff geprägt, der auf die Ergründung des Ursprungs des Religiösen abzielte. Mittlerweile hat sie sich jedoch von der Suche nach dem Wesen „des“ Rituals verabschiedet: „The survey of genres and ways of acting demonstrates that there is no intrinsic or universal understanding of what constitutes ritual“132, stellt Catherine Bell in ihrem umfassenden Überblick über die Ritualforschung fest. Diese forschungslogische Wende ist von der Einsicht getragen, dass das Phänomen des rituellen Handelns komplexer ist, als die ältere Ritualforschung angenommen hatte. Schon die Kategorisierung nach unterschiedlichen Typen (Übergangsriten, Fasten- und Festriten, kalendarische Riten, Opferriten, Leidensriten, politische Riten) ist angesichts der schier unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen und Kontexte sowie der prinzipiellen Überdeter-
131 Das gleiche gilt auch für die Dichotomie „Rituelle Feste“ und „Populäre Events“, die Andreas Hepp und Waldemar Vogelsang vorgeschlagen haben. Vgl. Andreas Hepp/Waldemar Vogelsang: „Ansätze einer Theorie populärer Events“, in: Dies. (Hg.): Medienevents, Spielevents, Spaßevents, Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 11-36, S. 16. 132 C. Bell: Ritual, S. 164.
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Theater als Ort der Utopie miniertheit sozialer Interaktion zwangsläufig hoch interpretationsgesättigt und damit stets ein hypothetisches Konstrukt.133 Auf die Frage nach Funktion und Bedeutung von Ritualen können, je nach kulturellem und historischem Kontext, die unterschiedlichsten Antworten gegeben werden. Zugleich sind Riten nicht nur Ausdruck und Übermittler kulturell je variabler Werte, sondern stellen diese Werte durch bekräftigende Wiederholung stets auch her. Das gilt übrigens auch für ritualisiertes („ritual-like“) Verhalten im Alltagsleben.134 Das gestische, mimische wie verbale Repertoire von Umgangsformen und Höflichkeitsregeln in einer Gesellschaft etwa, das Ausdruck eines stellenweise streng konventionalisierten Verhaltens ist, divergiert nicht nur je nach Kulturkreis, sondern auch nach sozialem Status. Ein bestimmter Habitus geht, wie schon Pierre Bourdieu gezeigt hat, mit einer bestimmten Schichtenzugehörigkeit einher. Diese stützen sich wiederum auf Tradition, Dauer und Wiederholung und sind damit auch indirekte Formen des Zeitverstehens. Schon anhand dieser Überlegungen wird deutlich, dass essentialistische und universalistische Theoriekonzepte dem komplexen Phänomen des rituellen Handelns unangemessen sind und deshalb zu Recht durch einen multiperspektivischen Forschungszugang abgelöst worden sind: „Today we think of ‚ritual‘ as a complex sociocultural medium variously constructed of tradition, exigency, and self-expression; it is understood to play a wide variety of roles and to communicate a rich density of overdetermined messages and attitudes.“135 Die Überlegungen Bells bestätigt auch der erste deutschsprachige Sammelband136 zum Thema jüngerer Ritualforschung, dessen Herausgeber sich ausdrücklich zum Konzept der Multiperspektivität bekennen.137 Sie gehen davon aus, dass wichtige Anregungen dazu nicht nur von Fachwissenschaftlern wie Geertz, Turner oder Goffman, sondern auch von den darstellenden Künsten, der Happening- und Fluxus- Bewegung seit den 60ern, entdeckt und entwickelt wurden.138 Die Gewissheit über die zentrale Bedeutung der 133 Vgl. ebd., S. 93-137. 134 Einen entscheidenden Anstoß, Unterschiede und Gemeinsamkeiten religiöser und säkularer Rituale zu untersuchen, gaben: Sally F. Moore/Barbara Myerhoff (Hg.): Secular Ritual, Assen, Amsterdam: Van Gorcum 1977. 135 C. Bell: Ritual, S. XI. 136 David J. Krieger/Andréa Belliger: „Einführung“, in: Dies. (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 7-34, S. 7. 137 Vgl. Jan Platvoet: „Das Ritual in pluralistischen Gesellschaften“, in: D. Krieger/A. Belliger: Ritualtheorien, S. 173-190. 138 Nicht uneingeschränkt zuzustimmen ist hier allerdings der idealtypischen Konstruktion, die von Krieger und Belliger vorgeschlagen wird, wenn es
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Fest und Utopie Darstellungsfunktion von Ritualen ermöglicht es schließlich, strukturelle Parallelen zwischen religiösen Ritualen und ritualisierten Verhaltensweisen in nicht-religiösen Kontexten abseits substantialistischer Definitionen zu erforschen.139 Das bedeutet nicht, dass religiöse und säkulare Riten damit auch schon ununterscheidbar geworden wären. Denn eines lässt sich aufgrund von empirischen Untersuchungen religiöser Praktiken feststellen: Je strenger die Verhaltens- und Darstellungsweisen in einer religiösen Gruppe geregelt sind, umso stärker ist der Zusammenhalt dieser Gruppe, umso effizienter ihr (ökonomisches) Wirken und umso länger ihre Überlebensdauer.140 Entscheidendes Kriterium für den Zusammenhalt religiöser Gemeinschaften ist allerdings nach wie vor die Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz, auf die sich die jeweils Handelnden beziehen. Auf epistemologischer Ebene ist dieser Unterschied allerdings eben nicht mehr als Wesensbestimmung des zu beobachtenden Phänomens anzuerkennen. Vielmehr muss man jene Unterscheidung selbst als eine Kategorie verstehen, auf die sich die Handelnden beziehen. Von Interesse sind damit die (realitätsbildenden) Effekte einer solchen Distinktion auf der Interaktionsebene der jeweils Beteiligten. Die Genese des komplexen Ritualbegriffs lässt sich auch zur Schärfung des Blicks für die methodologischen Desiderate der Fest-, respektive Eventforschung anwenden, in der – ganz wie im Bereich der ästhetischen Erfahrung – a priorische Glaubensfragen mit besonderer Nachhaltigkeit die theoretische Perspektive bestimmen. So schwierig es nämlich ist, zwischen den einzelnen Ritualformen zu unterscheiden, so schwierig ist es auch, eine klare Grenzlinie zwischen Ritus und ritualisiertem Verhalten und ferner zwischen Ritus und Fest zu ziehen. Es lässt sich keine differentia specifica angeben, die es per se erlauben würde, das Phänomen des Ritus von dem des Fests bzw. Events eindeutig abzugrenzen. Die vermeintlich
um die Analyse des Performance-Theaters in Bezug auf das Ritual geht. Anstatt einer historisierenden Lektüre der ideellen Implikationen Schechners, Grotowskis und Turners gelangen die Autoren zu der eher reduktionistischen Definition von Kunst als „ritueller Performance“, wenn diese ideologiekritisch im „Hinblick auf Emanzipation und Durchbrechung sozialer Zwänge“ verfahre. Vgl. ebd., S. 12. 139 Constantin Klein und Thomas Schmidt-Lux etwa kommen über den Vergleich zwischen religiösen Praktiken und Fußball-Matches zu dem Resultat: „Fußball ist nicht Religion, aber mitunter ist er religionsfähig.“ Vgl. Constantin Klein/Thomas Schmidt-Lux: „Ist Fußball Religion? Theoretische Perspektiven und Forschungsbefunde“, in: Engelbert Thaler (Hg.): Fußball – Fremdsprachen – Forschung, Aachen: Shaker 2006, S. 18-35, S. 35. 140 Vgl. Richard Sosis: „Teure Rituale“, in: Gehirn & Geist 1/2 (2005), S. 4450.
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Theater als Ort der Utopie unproblematische Unterscheidung zwischen Ritual und Fest, die das Ritual als streng konventionalisiertes, regelgeleitetes Verhalten erachtet, demgegenüber das Fest genau jene Konventionalität unterlaufe und sprenge, beruht also tatsächlich auf Voraussetzungen, die keineswegs selbstverständlich sind. Eine a priorische Bestimmung des Fests ist, wie die Erläuterungen gezeigt haben, Teil einer idealtypischen Konstruktion, die sich, ebenso wie die ästhetische Erfahrung, weder universalisieren noch grundsätzlich auf die empirische Ebene übertragen lassen. Auch in diesem Fall gilt: Eine historisierende Lektüre der einzelnen Theorien sagt mindestens ebenso viel über menschlichen Wahrnehmungsweisen und über epistemologische Prämissen aus wie über die Phänomene, die man mit Hilfe dieser Theorien erklären will.
III.4 Festutopien der Moderne oder geschichtsphilosophische Antinomien Antinom ien auf dem Weg zu einer avantgardistischen Kunst III. 4.1 DER FESTBEGRIFF JEAN-JACQUES ROUSSEAUS: AUFKLÄRUNGSKRITIK UND (VOR-)REPUBLIKANISCHE SELBSTBESTÄTIGUNG IM FEST Wie weit die Vorgeschichte der von der Festforschung etablierten und in den Selbstinterpretationen des zeitgenössischen Festivalbetriebs noch immer lebendigen Topoi zurückgeht, lässt sich an JeanJacques Rousseaus „Brief an d’Alembert über das Schauspiel“141 aus dem Jahr 1758 zeigen. Er ist einer der meistzitierten Texte der Festforschung. Die Bezugnahme auf Rousseau dient dort in der Regel dazu, einen gewichtigen Kronzeugen für die These vom utopischen Moment des – idealtypisch interpretierten – Fests vorzuführen.142 Das ist insofern naheliegend, als Rousseau in der Tat dem Fest die Kraft zubilligt, wahrhaftige Communitas zu stiften. Der Festbegriff, den er dazu aufbietet, ist allerdings so eng gefasst, dass er – und das ist der Unterschied zu den meisten modernen Festtheorien – Theater und Schauspiel ausdrücklich ausschließt. Rousseaus zentrales Argument gegen das Theater ist bekanntlich der Vorwurf inhärenter Scheinhaftigkeit, ein Topos, der eine modifizierte
141 Jean-Jacques Rousseau: Brief an d’Alembert über das Schauspiel, in: Ders.: Schriften, Bd. 1 (1978) München, S. 333-474. 142 Vgl. P. Hugger: Das Fest – Perspektiven einer Forschungsgeschichte, S. 11f; vgl. A. Assmann: Festen und Fasten, S. 238ff,
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Fest und Utopie Wiederauflage der Platonischen Nomoi darstellt143 und der in der Medienkritik der Moderne noch einmal ein nachhaltiges Echo finden sollte. Das Schauspiel ist bei Rousseau also gerade nicht festlich im utopischen Sinne. Wenn man den Text als Generalaffirmation der Kultur des Feierns lesen will, muss man diese drastische Verengung des Festbegriffs, die Fest und Kunst säuberlich auseinanderzuhalten versucht, berücksichtigen: Rousseaus Festbegriff ist politisch, nicht ästhetisch. Er huldigt einer neuen Gesellschaftsform, die in seiner Gegenwart noch keinen Platz gefunden hat und an deren theoretischer Konzeption er rastlos arbeitet. In „Du contrat social“ (1762) entwirft Rousseau die Theorie einer politischen Ordnung, die auf Vereinbarung beruht und als deren Legitimationsgrundlage, anstelle des leibhaftigen Souveräns, der Allgemeine Wille (volonté générale) des Gesamtwesens getreten ist.144 Die Plausibilität dieser Konstruktion ist allerdings dadurch erkauft, dass sie jegliche Form von Pluralität der Gemeinschaft leugnen muss. Da es Glück und Ordnung für Rousseau offenbar nur in der Einzahl gibt, kann er divergierende politische Zielvorstellungen nur als Zeichen einer (moralischen oder intellektuellen) Defizienz begreifen. Gewaltenteilung oder politische Repräsentation sieht Rousseaus Entwurf deshalb gar nicht erst vor – im Zweifelsfall müssen die Menschen, notfalls bei Todesstrafe145, zu ihrem Glück gezwungen werden.146 Hannah Arendt hat die Dynamik herausgearbeitet, die in Rousseaus politischem Denken, gegen seine eigenen Absichten, zu totalitären Konsequenzen führt. „Du contrat social“ ist für Arendt gleichsam der Urtext des modernen Totalitarismus, der am Beginn jeglicher Ausschaltung politischer Einzelinteressen stand und entscheidend zur Entstehung nationaler Begriffe – und Ideologien – beitrug:
143 Weder zur Erkenntnis, noch zur Wahrheit, Tugend und Schönheit leistet nach Platon die Kunst einen Beitrag. Vgl. Platon: Der Staat, in: Platon: Werke in acht Bänden, Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 803. 144 Rousseau schreibt: „Damit nun aber der Gesellschaftsvertrag keine Leerformel sei, schließt er stillschweigend jene Übereinkunft ein, die allein die anderen ermächtigt, dass, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als dass man ihn zwingt, frei zu sein […].“ Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart: Reclam 1977, S. 21. 145 Vgl. ebd., S. 37f. 146 Vgl. Reinhard Brandt/Karlfriedrich Herb: Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Berlin: Akademie 2000.
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Theater als Ort der Utopie „Der Wille kann in der Tat nur funktionieren, wenn er ungebrochen einer und in sich unteilbar ist; ‚ein geteilter Wille ist unvorstellbar‘; es gibt kein mögliches Übereinkommen zwischen Menschen, die Verschiedenes wollen, wie es ein Übereinkommen gibt zwischen Menschen, die verschiedener Meinung sind. […] Rousseaus Theorien kamen den Männern der Französischen Revolution so außerordentlich gelegen, weil er anscheinend ein höchst ingeniöses Mittel gefunden hatte, eine Vielzahl von Menschen an den Platz zu stellen, der bisher von einer einzigen Person ausgefüllt worden war; denn der Allgemeine Wille war nichts mehr und nichts weniger, als was die Vielen in eine Einheit zusammenbinden sollte.“147
Rousseau ist also nur bedingt als Kronzeuge für die gemeinschaftsstiftenden Kräfte des Fests einsatzfähig. Sein utopischer Entwurf einer sozial relevanten Festkultur geht von der problematischen Voraussetzung aus, der Zivilisationsprozess habe zu einer von ihren Ursprüngen entfernten, verweichlichten (höfischen) Gesellschaft geführt, deren maroder Zustand unter anderem an der überbordenden Inszenierungssucht abzulesen sei. „Zurück zur Natur“ bedeutet für Rousseau die Abkehr von diesen uneigentlichen, verzärtelten Lebensformen. Askese, Reinheit, Härte – das ist das Mantra seiner Vision von der neuen, republikanischen Gesellschaft. Erstmals macht er dafür ein geschichtsphilosophisches Gesetz geltend, dessen (ethiko-)teleologische Ausrichtung später auch Kant, Schiller und Hegel verfolgen werden. Rousseau ist der Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus gut sei, seine Tugendhaftigkeit aber im Verlauf der Geschichte verloren gegangen ist. Zu den Widerständen gegen diesen wieder anzustrebenden Naturzustand zählt Rousseau – neben den Frauen – eben auch das Schauspiel, das für ihn die größtmögliche Entfernung von der Natur, vom Sein darstellt.148 In der republikanischen Gesellschaft setzt das Ethos der Zähmung des Menschen im Zeichen der Pflicht eine freiwillige Verpflichtung zur Selbstzucht voraus. Selbstzucht wiederum setzt ihrerseits Konzentration voraus, Beschränkung auf Weniges. Schauspiele sind für Rousseau aber nun einmal das Gegenteil von Konzentration, denn sie verdanken ihre Wirkung in erster Linie der Zerstreuung des Publikums. Das macht sie zu natürlichen Feinden des pflichtbewussten Republikaners: „Beim ersten Blick, den ich auf diese Einrichtungen werfe, sehe ich, daß das Schauspiel ein Zeitvertreib ist, und wenn es wahr ist, dass der Mensch Zeitvertreib braucht, werden Sie wenigstens zugeben, dass er nur so weit als notwendig erlaubt ist und dass aller unnütze Zeitvertreib ein Übel für ein Wesen bedeutet, dessen Leben so kurz und dessen Zeit so kostbar ist. […] Der Barbar
147 Hannah Arendt: Über die Revolution, München: Piper 1965, S. 96f. 148 Vgl. J.-J. Rousseau: Brief an d’Alembert, S. 446.
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Fest und Utopie hatte recht. Man glaubt sich zum Schauspiel zu versammeln, dort aber trennt sich jeder von jedem, man vergißt seine Freunde, Nachbarn und Verwandten, um sich mit Märchen aufzuhalten, um traurige Schicksale längst Verstorbener zu beweinen oder auf Kosten der noch Lebenden zu lachen.“149
Zum Zeitvertreib als solchem kommt die schädliche emotionale Wirkung.150 Doch nicht nur die Wirkung des Theaters allein ist schädlich. Schon 1750 attackiert Rousseau im „Discours sur les sciences et les arts“ die verderbliche Wirkung der Kunst überhaupt im Prozess der Zivilisation. Kunst und Wissenschaft sind einerseits Triebfedern des zivilisatorischen Fortschritts, zugleich aber Ursache für die Auswüchse einer dekadenten Gesellschaft.151 Genauso leidenschaftlich, wie Rousseau die Wirkung der Künste negiert, so nachdrücklich fällt sein Plädoyer für die Wirkung der Feste aus: „Wie? Soll es in einer Republik denn gar kein öffentliches Schauspiel geben? Im Gegenteil, man braucht sogar viele. In den Republiken wurde das Schauspiel geboren, in ihrem Schoß sieht man es wahrhaft festlich blühen. […] In frischer Luft und unter freiem Himmel sollt ihr euch versammeln und dem Gefühl eures Glücks euch überlassen. Eure Vergnügungen seien weder verweichlicht noch kommerziell, damit nichts, was nach Zwang oder Interesse riecht, sie vergifte, damit sie frei und hochherzig seien wie ihr, damit die Sonne euer unschuldiges Schauspiel beleuchte, ihr seid es selbst, das würdigste Schauspiel, auf das die Sonne scheinen kann. […] Mit der Freiheit herrscht überall, wo viele Menschen zusammenkommen, auch die Freude.“ 152
Wenn Rousseau schließlich im Brief zu einer Hasspredigt auf die Scheingefechte der Theaterbühne und die eitle Prunk- und Putzsucht der Theaterbesucherinnen anhebt, die ihm nichts als Zeitverschwendung bedeuten, und dem das einfache, überschaubare Leben in den Schweizer Bergdörfern mit seinen gemeinschaftsstiftenden Volksfesten gegenüberstellt, so beruft sich das Plädoyer für die Präsenz, die unhintergehbare Gegenwart dieser Feste auf eine zeitökonomische Argumentation in ethischer Absicht: Gegen den Zeitvertreib und die Zeitverschwendung hilft nur das Mittel der Präsenz, 149 Ebd., S. 348. 150 Vgl. ebd., S. 350. Das Fatale daran ist, dass das Publikum der Wirkung solcher rhetorischen Kunstgriffe hilflos ausgeliefert ist: „Das einzige Mittel, die Leidenschaften zu läutern, ist die Vernunft, und ich habe schon gesagt, dass die Vernunft auf dem Theater gar keine Wirkung hat.“ Ebd., S. 353. 151 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und der Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat? Von einem Bürger Genfs, in: Ders.: Schriften, Bd. 1, S. 27-66, S. 37. 152 J.-J. Rousseau: Brief an d’Alembert, S. 462.
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Theater als Ort der Utopie also der bewusste Ausstieg aus der Zeit; dieser aber ist das angemessene Mittel auf dem zeitlich (!) beschreitbaren Weg zu einer tugendhaften Gesellschaft. Man kann, mit Jean Starobinski, das Rousseau’sche Fest als Sinnbild der idealen republikanischen Bürgergesellschaft verstehen – gefeiert unter der Transparenz des freien Himmels ist im Akt der Feier alle Ungleichheit aufgehoben: „La substance de la fête, son véritable objet, c’est l’ouverture des coeurs. […] Chacun est à la fois acteur et spectateur, chacun a droit à la même part de lumière, à la même quantité d’attention.“153 Auf diese Weise garantiert das Fest für den als zeitlos erlebten Moment der gemeinsamen Feier die ideale, egalitäre, zwanglos einstimmige Gesellschaft. Das republikanische Fest, das solches leistet, ist allerdings peinlich von der prunkvollen Festkultur der höfischen Welt zu unterscheiden: „Mit bescheidenen Festen und Spielen ohne allen Prunk rief Sparta seine Bürger zurück, jenes Sparta, welches ich nicht genug hervorheben kann für das Beispiel, das wir uns an ihm nehmen sollten. So sehnte sich inmitten der schönen Künste Athens, in Susa im Schoße des Luxus und der Verweichlichung der gelangweilte Spartiate nach seinen ungehobelten Festmählern und ermüdenden Übungen.“154 Hier zeigt sich deutlich das utopische Moment des Rousseau’ schen Gesellschaftsentwurfs und zugleich dessen antinomi-scher Charakter: Die ideale Gemeinschaft realisiert sich nur in der zeitlosen Präsenz der gemeinsamen Feier. In der alltäglich konkreten Welt der Zeitlichkeit dagegen arbeitet ihr – zumindest nach dem Geschichtsmodell der ersten Preisschrift155 – das Verhängnis der Zivilisation ständig entgegen. Die zutiefst ambivalente Haltung zwischen Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie, die sich in dem geschichtsphilosophischen Motiv der pädagogisch, also auf die Verbesserung der Zukunft bedachten, Vergangenheitsverklärung ausspricht, lässt sich retrospektiv als Reflex auf die Schwierigkeit deuten, die die Pluralität der Demokratie für das auf singuläre Gewalten ausgerichtete politische Begriffsinstrumentarium des 18. Jahrhunderts bedeutet. Ambivalent ist auch Rousseaus Einschätzung 153 Jean Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l‘obstacle, Paris: Plon 1957, S. 115. 154 J.-J. Rousseau: Brief an d’Alembert, S. 470. 155 Derrida zufolge beschreibt Rousseau den Prozess der Zivilisation in späteren Schriften nicht mehr ausschließlich als Verfallsgeschehen. Im „Essai sur l‘origine des langues“ (1781) etwa birgt der Gang der Geschichte auch ein Potential zum Besseren: „[A]usgehend von einem sich teilenden und aus sich heraustretenden Ursprung oder Zentrum wird ein historischer Kreis beschrieben, der im Sinne einer Entartung verläuft, aber einen Fortschritt und kompensatorische Wirkungen in sich birgt.“ J. Derrida: Grammatologie, S. 347.
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Fest und Utopie der Wirkung des Ästhetischen und damit seine Haltung in der Autonomiefrage. Einerseits hat die (autonome) Kunst an der Verwirklichung der tugendhaften Gesellschaft keinen Anteil, ja sie behindert diese nur und muss deshalb für die höhere Sache geopfert werden. Andererseits beruht die gemeinschaftsstiftende Kraft des Fests wesentlich auf denselben ästhetischen Wirkkräften, die auch die Kunst auszeichnen. Die Festkonzeptionen von Goethe, Wagner und Nietzsche antworten später, auf je unterschiedliche Weise, auf diesen unbefriedigenden Lösungsvorschlag. Welchen Einfluss die Schriften Rousseaus auf die französischen Revolutionäre hatten, ob und in welcher Weise einzelne Ereignisse nach 1789 also als Versuch einer Verwirklichung seiner Gesellschaftsutopie gewertet werden können, lässt sich nicht pauschal beantworten.156 Dass bei der Ausrichtung der großen Revolutionsfeiern Rousseau eine zentrale Bezugsgröße war, kann dagegen als erwiesen gelten.157 Sämtliche der äußerst prachtvollen und unter großem finanziellen Aufwand gestalteten Feste, von der „Fête de la Fédération“ am 14. Juli 1790 bis zur „Fête de la Concorde“ am 14. Juli 1799, waren systematisch durchorganisiert und dienten zur Befestigung und Legitimierung der neu ausgerufenen Gesellschaftsordnung, die mit der am 26. August 1789 verkündeten „Déclaration des droits des hommes et du citoyen“ beschlossen worden war.158 „Das revolutionäre Fest“, schreibt der französische Historiker Michel Vovelle, „ist gewiß das wichtigste Ereignis, in dem der Traum einer neuen Gesellschaft und einer idealen Welt sich artikuliert hat. […] In der Unmittelbarkeit des Festes sind alle Träume des Augenblicks zusammengefaßt. Hier verbindet sich die Prägnanz eines auf dem Höhepunkt der Aufklärung entwickelten Modells – das von Rousseau inspirierte staatsbürgerliche oder nationale Fest als ideale Begegnung, bei der es keinen Unterschied mehr zwischen Akteuren und Zuschauern gibt und der Genuß eines jeden die Freude aller ist.“159
156 Zu den politischen Wirkungszusammenhängen vor der französischen Revolution siehe: Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M.: Campus 1996. 157 Vgl. Dieter Düding: „Einleitung. Politische Öffentlichkeit – politisches Fest – politische Kultur“, in: Ders./Peter Friedemann/Paul Münch (Hg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Hamburg: Rowohlt 1988, S. 10-24, S. 14. 158 Vgl. Marie-Louise Biver: Fêtes révolutionnaires à Paris, Paris: Presses Universitaires de France 1979. 159 Michel Vovelle: Die französische Revolution – Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, München, Wien: Oldenbourg 1982, S. 127.
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Theater als Ort der Utopie Ein genauerer Blick auf diese Festkultur belegt allerdings, dass sich die hochgespannten Erwartungen, die Rousseau und seine geistigen Erben mit den – durch das republikanische Fest gezähmten – Kräften des Ästhetischen verbanden, nicht ohne weiteres einlösen ließen. Die Antinomien des utopischen Denkens forderten ihren Preis in der politischen Wirklichkeit. Wie die Historikerin Mona Ozouf in ihrer detaillierten Studie schreibt, ist die Geschichte der „festomanie revolutionnaire“ vor allem „l’histoire d’une immense déception“.160 Die Utopie einer transparenten Gemeinschaft wird in den Festen zunehmend verraten: „Dans ces conditions, les fêtes ne célèbrent plus que faussement la paix et l’unanimité du coeur, et deviennent un camouflage: facade plaquée sur une réalité lugubre qu’elles ont mission de dissimuler.“161 Zur Machtdemonstration heiligt der Zweck eben die Mittel. Und um der Staatsräson eine ihrer Legitimationsgrundlagen zu liefern, wird, wie Ozouf notiert, soldatischer Gehorsam verlangt.162 Bei der revolutionären Festkultur mit ihrem ausgeprägt pädagogischen Impetus geht es aber nicht allein um die Demonstration und Legitimation politischer Macht. Das kollektive Zeremoniell ist zugleich stark sakral aufgeladen.163 Mona Ozouf spricht in diesem Zusammenhang von einem regelrechten „transfert de sacralité“, der den Verlust religiöser Verbindlichkeiten im säkularen Klima der ersten Revolutionsphase kompensieren sollte. Vor allem auf dem Land war nämlich nur ein geringer Teil der Bevölkerung bereit, dem dezidiert antiklerikalen Kurs des Konvents nach 1790 zu folgen und künftig auf konfessionelle Riten weitgehend zu verzichten. Die antiklerikalen Kräfte spürten diesen Gegenwind und sie bemühten sich, dem metaphysischen „horreur du vide“164 aktiv entgegenzuwirken. Die naheliegendste Lösung dafür war ein parareligiöses Ersatzpro-
160 Mona Ozouf: La fête revolutionnaire 1789-1799, Paris: Gallimard 1976, S. 19. 161 Ebd. 162 Wenn der Bischof Charles Maurice de Talleyrand-Périgord, Mitglied der Nationalversammlung und späterer Außenminister Napoleons, im Vorfeld der „fêtes fédératives“ davon spricht, es sei „la France armée qui va se réunir“ und nicht „la France délibérante“, so ist das Echo von Rousseaus Sparta-nerhymnik nicht zu überhören. Vgl. ebd., S. 56. 163 Catherine Bell verweist auf die machterhaltende Funktion von Ritualen in politischen Kontexten: „In its cosmological mode, this „dramaturgy of power“ involves the creation of comprehensive ritual systems that raise the ruler above normal human interaction. The restriction of admittance to the ruler‘s presence and the decorous regulation of behaviour required of all those given admittance create relationships that actually empower the ruler.“ C. Bell: Ritual, S. 130. 164 M. Ozouf: La fête revolutionnaire, S. 322.
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Fest und Utopie gramm nach dem Motto „Remplacer, c’est d’abord imiter“.165 So entstanden, neben Orten und Zeremonien der Begegnung, Schriften zur moralischen Erbauung, zudem Gebete, Lieder und ein ausgeprägter Märtyrerkult.166 Mit Rousseaus Traum von der authentischen Erfahrung gemeinschaftsstiftender Unmittelbarkeit im Fest hatte die Realität der Revolutionsfeste folglich nur bedingt etwas zu tun. Tatsächlich überlagerten und durchdrangen sich hier die unterschiedlichsten Zielsetzungen, Theorien, Hoffnungen und Programme, für die neben der transzendenten auch ganz konkrete lebensweltlich-praktische Dimensionen relevant waren. Analog zu den oben erwähnten Feststellungen in Bezug auf die Ritual- bzw. Festforschung gilt auch hier: Eine historisierende Lektüre der einzelnen Theorien zur Funktion der Revolutionsfeste sagt oft mehr über die versteckten Vorannahmen der jeweiligen Autoren aus als über die Phänomene, die sie mit Hilfe dieser Theorien erklären wollen.167 Der Blick auf Rousseaus spartanisch republikanische Festidee veränderte sich mit dem Wandel des Blicks auf die Revolution insgesamt, mit dem Wandel des Erkenntnisinteresses, mit dem Wandel zentraler Begriffe wie Nation, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit.168 Dass dieser Wandel bei einem emotional, ideologisch und utopisch derart aufgeladenen und deshalb polarisierenden Ereignis wie der französischen Revolution besonders dynamisch ausfällt, liegt auf der Hand. Man kann darüber, wie Helmut Berding erörtert hat, als Historiker nicht berichten, ohne zugleich Stellung zu den Wertvorstellungen zu beziehen, für bzw. gegen die in den Jahren
165 Ebd., S. 323. 166 Vgl. ebd, S. 323ff. 167 Aussagekräftig hierfür sind die konkurrierenden Diskurse der Historiker. Anders als Ozouf teilt Vovelle, der in den Festen das Mittel zur Subversion par excellence erblickt, die Entwicklung der Feste in drei linear ablaufende Phasen: während die erste noch ganz im Zeichen eines liturgischen Zeremoniells gestanden habe, ging es in der zweiten Phase der Föderationsfeiern darum, die errungene Einheit zu materialisieren, während die dritte Phase schließlich in eine Explosion von Feiern mündete. Anstelle der liturgischen Rituale trat die Wiederverwendung lange verschütteter Formen des karnevalesken Fests. Vgl. M. Vovelle: Die Französische Revolution, S. 127. 168 Zu Demographie, Literatur, Antikenrezeption sowie Agrarkultur, Ökonomie, Bürokratie, Religionspraxis und Adel im Vergleich zu Deutschland siehe: Helmut Berding/Günter Oesterle (Hg.): Die Französische Revolution, Bd. 1, 2, Gießen: Verlag der Ferber‘schen Universitätsbuchhandlung 1989, 1990. Und: Helmut Berding/François Etienne/Hans-Peter Ullmann (Hg.): Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.
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Theater als Ort der Utopie um 1789 verhandelt, gestritten und gekämpft wurde.169 „Die“ Revolution gibt es aus diesem Grund ebenso wenig wie „das“ Revolutionsfest. Beide erscheinen in den zahllosen unterschiedlichen Schilderungen der Geschehnisse und Hintergründe vielmehr „in ständig veränderter Gestalt“.170
III.4.2 JOHANN WOLFGANG GOETHES FESTSPIELE ZWISCHEN SUBVERSION UND AFFIRMATION, ZWISCHEN NATIONALER SELBSTFINDUNG UND AUTONOMER KUNSTFORM Mit Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks wird innerhalb der Theaterwissenschaft bis heute die Vorstellung einer epochemachenden Zäsur verbunden.171 Wagners Vision von einer Synthese sämtlicher Kunstformen im feierlichen Festspiel, die, in bewusster Anknüpfung an die griechische Theatertradition, die Rückgewinnung der in der Moderne – vermeintlich – verlorenen Einheit von Kunst und Leben propagierte, bildete nach dieser Auffassung den Auftakt für das Absolutheitspathos der antirealistischen Theaterreformbewegungen Ende des 19. Jahrhunderts,172 die dann ihrerseits die Theaterentwicklung des folgenden Jahrhunderts maßgeblich bestimmen sollten. Eine derartige Entwicklungslinie lässt sich zwar durchaus plausibel aufzeigen, doch sollte man ihr, wie allen Ursprungserzählungen, mit Skepsis begegnen. Schließlich entstand die Festidee Richard Wagners nicht als singuläre und kontextfreie Setzung im luftleeren Raum der reinen Theorie, sondern entwickelte sich in ähnlich komplexen Bezügen, wie sie für die Festidee Rousseaus aufgezeigt wurden. So kann man für das Festspiel durchaus auch auf plausible Genealogien verweisen, die sich weder auf den Gedanken einer Wiedererneuerung der antiken Theatertradition beziehen, noch einen derart weitreichenden gesellschaftsreformerischen Anspruch stellen. Bei Johann Wolfgang Goethe etwa, der schon in der Zeit der 169 Zu den unterschiedlichen ideologischen Vorannahmen, die sich anhand der Historiographie der französischen Revolution ablesen lassen, siehe: Helmut Berding: Die Französische Revolution in der Kontroverse, in: Ders./Günter Oesterle: Die Französische Revolution, Bd. 1, S. 9-27. 170 Ebd., S. 9. 171 Vgl. Peter Simhandl: Theatergeschichte in einem Band, Berlin: Henschel 2007, S. 186f; vgl. E. Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, S. 193ff. 172 Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: „Wege des Mythos ins ‚Theater der Zukunft‘. Richard Wagner und die Theaterreformbewegung der Jahrhundertwende“, in: Dieter Borchmeyer (Hg.): Wege des Mythos in die Moderne. Richard Wagner ‚Der Ring des Nibelungen‘, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1987, S. 182-201.
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Fest und Utopie Napoleonischen Kriege in dem Genre tätig war und der zugleich den Begriff erstmals ausdrücklich als Gattungsbezeichnung verwendete173, zeigt sich das Festspiel als Drama und als Festakt zugleich. Vor dem Hintergrund nationaler Identitätssuche im politischen Umbruchsklima der Jahrhundertwende ist es eingespannt in ein ambivalentes Spannungsgeflecht, das sich weder allein ästhetisch noch eindeutig politisch verorten lässt. Als Beitrag zur „Interpretationsleistung“ der „Gesellschaft“174 wirkt es identitätsstiftend, besitzt also durchaus soziale Relevanz, jedoch nicht im Sinne der ästhetischen Utopie im Gefolge der Wagner’schen Festspielkonzeption. Goethes Festspiele sind vom Hofe für offizielle Festakte in Auftrag gegebene „Gelegenheitsdichtungen“175, erschöpfen sich jedoch nicht in affirmativem Herrscherlob, sondern führen die – ästhetisch wie gesellschaftlich – konfligierenden Kräfte jener Zeit exemplarisch vor Augen. Damit schließt Goethe aber weniger an die griechische Tragödie als vielmehr an Spieltraditionen des Mittelalters und der Renaissance an, die bereits wesentliche Züge des Festspiels des 19. Jahrhunderts aufweisen und sich, nebenbei, ihrerseits ebensowenig auf einen singulären Bedeutungsaspekt verkürzen lassen. Weder dienten die mittelalterlichen Spielformen lediglich der geistlichen Erbauung, noch lassen sich die um Mitte des 15. Jahrhunderts auftretenden und von einem Herrscher in Auftrag gegebenen Festspiele, wie etwa die italienischen Trionfi oder auch die französischen Entrées solenelles und die englischen Masques und Pageants, auf rein politische Zwecke reduzieren. So wie die mittelalterlichen Spielformen die Hierarchie der Gesellschaft legitimierten, so waren die vermeintlich ausschließlich politischem Zweck gehorchenden Darstellungsformen der Renaissance mit zahlreichen theatralen Aspekten durchsetzt, die vor allem die Schaulust befriedigen sollten.176
173 Goethe prägte den Begriff in Gemeinschaftsarbeit mit Schiller und fügte ihn offiziell erstmals als Untertitel seinem Festspiel „Paläophron und Neoterpe“ bei. Vgl. Ursula Dustmann: Wesen und Form des Goetheschen Festspiels, Köln: o. V. 1963, S. 136; siehe auch: Peter Sprengel: Die inszenierte Nation. Deutsche Festspiele 1813–1913, Tübingen, Basel: Francke 1991, S. 23. 174 Manfred Hettling/Paul Nolte: „Bürgerliche Feste als symbolische Politik im 19. Jahrhundert“, in: Paul Nolte (Hg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, S. 7-36, S. 13. 175 Vgl. U. Dustmann: Wesen und Form des Goetheschen Festspiels, S. 34ff. 176 Vgl. Klaus Sauer/German Werth (Hg.): Lorbeer und Palme. Patriotismus in deutschen Festspielen, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1971, S. 17.
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Theater als Ort der Utopie Folgt man Klaus Sauers und German Werths ursprungsgesättigter Interpretation, so eignet dem Festspiel im deutschen Sprachraum gegenüber den italienischen und französischen Darbietungsformen eine Besonderheit: Hier fallen „die Anfänge des Festspiels mit der Ursprungsgeschichte des neuzeitlichen Theaters […] schlechthin zusammen“.177 Den Beleg hierfür liefert den Autoren die Aufführung von Jakob Lochers „Historia de Rege Francie“ in lateinischer Sprache anlässlich eines Universitätsfestes im Jahre 1495 in Freiburg im Breisgau. Die Apotheose auf Kaiser Maximilian I. fußte zwar auf einem italienischen Vorbild, wies aber erstmals selbständige Züge auf.178 Neben den einen konkreten politischen Zeitbezug aufgreifenden barocken Trauerspielen sind es schließlich, so die Autoren weiter, die Freudenspiele, die in der Nachbarschaft zum Festspiel stehen. Auch wenn sie einer reichspatriotischen Idee verpflichtet sind, entwerfen sie doch ein utopisches Gegenbild zur politischen Realität und thematisieren vor allen Dingen nach dem Dreißigjährigen Krieg als politisches Ziel den Frieden als „Garanten der Größe des Reichs“.179 Noch zu Goethes Lebzeiten stellte das Festspiel vor allem eine theatrale Repräsentationsform zur politischen Huldigung des Absolutismus bzw. zur Affirmation der monarchisch-ständischen Gesellschaftsordnung dar. Obwohl Goethe kein Hehl aus seiner eher reform- als revolutionsorientierten sowie pronapoleonischen Haltung machte, hielt sich das Interesse des seit 1776 im Dienste des Weimarer Hofes stehenden Geheimen Legationsrats an dieser Form theatraler Darstellung doch lange Zeit in Grenzen. Zur Festpraxis des Hofes trug er zunächst lediglich durch die Inszenierung von Maskenzügen etwa für die höfischen Winterfeste bei, einer Tätigkeit, der er selbst offenbar nur geringe Bedeutung beimaß.180 In seinen letzten drei Lebensjahrzehnten jedoch zeichnete sich eine gegenläufige Bewertung ab: Während die Produktion von genuinen Bühnenstücken zunehmend in den Hintergrund rückte, widmete Goethe
177 Ebd., S. 11. 178 Vgl. ebd. 179 Ebd., S. 28. Angesichts der eindeutigen Zweckgebundenheit des Festspiels entwirft Peter von Matt eine strenge Typologie. Er schreibt: „Das Festspiel, wenn es seinen Namen verdient, ist Propaganda-Literatur.“ Es trage bei zu einer kollektiven Identitätsstiftung und sei „szenisch arrangierte Selbstreflexion“. Vgl. Peter von Matt: „Die ästhetische Identität des Festspiels“, in: Balz Engler/Georg Kreis (Hg.): Das Festspiel: Formen, Funktionen, Perspektiven, Willisau: Theaterkultur-Verlag 1988, S. 12-35, S. 12 u. 14. 180 Vgl. Christoph Siegrist: „Dramatische Gelegenheitsdichtungen: Maskenzüge, Prologe, Festspiele“, in: Walter Hinderer (Hg.): Goethes Dramen. Neue Interpretationen, Stuttgart: Reclam 1980, S. 226-243, S. 227f.
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Fest und Utopie sich immer mehr der theatralen Gattung des Festspiels.181 Wie die Goethe-Forschung nahegelegt hat, dürfte zudem die Begegnung mit dem römischen Karneval während seiner Italienreise im Jahr 1787/1788 großen Einfluss auf sein Spätwerk genommen haben.182 Hier traf er auf eine Form kollektiver Festlichkeit, die über die enge Funktionsorientiertheit des höfischen Festspiels hinauswies. Im Zentrum seiner Beobachtungen stand sowohl die (erlaubte) Subversion herrschender Ordnungsstrukturen, die sich vor allen Dingen auch über das Tauschen der Geschlechterrollen (Masken) äußert, als auch der Volkscharakter des Spektakels. Der römische Karneval, notierte er, „ist ein Fest, das dem Volke eigentlich nicht gegeben wird, sondern das sich das Volk selbst gibt. Der Staat macht wenig Anstalten, wenig Aufwand dazu.“183 Ähnliches gilt auch für die Feste der napoleonischen Zeit in Deutschland. Wie die Untersuchungen zur bürgerlichen Festkultur um die Jahrhundertwende übereinstimmend zeigen, konnten die höchst zahlreichen Volksfeste zwar durchaus von Festakten mit traditionell monarchischer Ausrichtung flankiert sein. Sie waren aber nicht von oben verordnet, sondern meist von Gesellschaften und Vereinen initiiert und organisiert, die darin in einer Zeit stark eingeschränkter politischer Handlungsmöglichkeiten eine Chance sahen, Öffentlichkeit und damit einen Raum des Politischen herzustellen. In der Zeit des Vormärz, als Versammlungs- und Pressefreiheit nahezu vollständig aufgehoben waren, stellten öffentliche Feste sogar eine der wenigen legalen Möglichkeiten für Liberale und Demokraten zu politischer Wirksamkeit dar.184 Den Festen kommt also eine entscheidende Bedeutung für die Selbstvergewisserung der neu sich etablierenden Bürgergesellschaft zu, für die um 1800 zum ersten Mal die Nation eine „politisch orientierte Bewußtseinsgesamtheit“ darstellte, „die als solche handlungsbereit und handlungswillig“185 war. In dieser dezidiert politischen, auf die Bezugsgröße der Nation ausgerichteten Dimension ist auch der wesentliche Unterschied zu den Festen des absolutistischen Zeitalters zu sehen. Erfüllten bürgerliche und höfische Feste unter diesem Aspekt höchst gegensätzliche Funktionen, so durchdrangen sich die Ziel181 Vgl. Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, Weinheim: Beltz Athäneum 1998, S. 494f. 182 Vgl. Edward M. Batley: „,Das Römische Carneval‘ oder Gesellschaft und Geschichte“, in: Goethe-Jahrbuch 105 (1988), S. 128-143. 183 Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise, München: Beck 1998, S. 484. 184 Vgl. D. Düding: Politische Öffentlichkeit – politisches Fest – politische Kultur. 185 Ernst-Wolfgang Böckernförde: Staat, Nation, Europa: Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 38f.
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Theater als Ort der Utopie setzungen in vielen Fällen auch. Schließlich lässt sich „die Nation“ als Legitimationsinstanz für die unterschiedlichen politischen Programme reklamieren. Nicht nur die um politische Gestaltungsmacht ringenden Bürger, auch die politischen Repräsentanten der Fürstenstaaten setzten auf die Strahlkraft politisch ausgerichteter Nationalfeste.186 Die Siegesfeier anlässlich der Befreiung von der napoleonischen Fremdherrschaft im Jahre 1815,187 die sowohl aus republikanischer als auch aus monarchischer Perspektive als national bedeutsames Ereignis empfunden wurde und das zwei Jahre später gefeierte Wartburgfest188 mit seiner offen antifeudalen Stoßrichtung,189 bezeichnen deshalb eher die Pole eines Kontinuums als starre Gegensätze. Überdies ist in Rechnung zu stellen, dass weder bürgerliche noch höfische Feste monofunktionale politische Veranstaltungen waren. Die politische Zielsetzung war vielmehr in beiden Fällen verschränkt und eingebunden in den für öffentliche Feiern aller Art charakteristischen Akt der Herstellung und Erfahrung von Gemeinsamkeit, der sich zwar politisch instrumentalisieren, aber nicht auf das Politische allein reduzieren lässt. Nicht einmal in Bezug auf die karnevalesken Züge der Feiern lässt sich eine klare Dichotomie zwischen höfischem und bürgerlichem Typus herstellen – auch die Zeit des bürgerlichen Festefeierns war im wesentlichen „kontrollierte und disziplinierte Zeit“.190 Goethe hält in seinen Festspielen die Ambiguität des Festlichen bewusst offen, indem er sich einer eindeutigen politischen Funktionalisierung verweigert. Auf allen inhaltlichen, strukturellen sowie produktionsästhetischen Ebenen wird von ihm bereits im ersten 186 Vgl. D. Düding: Politische Öffentlichkeit – politisches Fest – politische Kultur, S. 17. 187 Selbst die Wahrnehmungen von Goethes 1815 aufgeführtem Festspiel „Des Epimenides Erwachen“ drifteten auseinander. So spalteten sich zwei Beifalls-Chöre, die zu unterschiedlichen Äußerungen applaudierten. Vgl. K. Sauer/G. Werth: Lorbeer und Palme, S. 41. 188 Vgl. Peter Brandt: „Das studentische Wartburgfest vom 18./19. Oktober 1817“, in: D. Düding/P. Friedemann/P. Münch (Hg.): Öffentliche Festkultur, S. 89-112. Brandt schildert hier, dass das Fest der studentischen Burschenschaften zwar einer geschlossenen politischen Zielsetzung „gesamtgesellschaftlicher Art“ entbehrte. Alles in allem ging es aber auch hier um die Ausbildung eines nationalen Vaterlandsgedankens und um bürgerliche Ehrbarkeit. Dabei überwog allerdings, so Brandt, der Begriff der „inneren Freiheit“, verstanden als sittliche Persönlichkeitsfreiheit und Entwicklung der Humanität. Vgl. ebd., S. 90f. 189 Einen dementsprechenden Hinweis auf symbolhafte Inszenierungen während der Festakte geben auch die Autoren Hettling und Nolte. Vgl. M. Hettling/P. Nolte: Bürgerliche Feste, S. 20. 190 D. Düding: Politische Öffentlichkeit – politisches Fest – politische Kultur, S. 8.
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Fest und Utopie Festspiel „Paläophron und Neoterpe“ (1800) der Gedanke des Festlichen als solcher reflektiert: Im Blick auf das Publikum, im bewussten Thematisieren des Momenthaften der Theatersituation, in der Beschwörung eines Gemeinschaftserlebnisses, im symbolhaften Durchspielen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – in all diesen Aspekten werden die Festspiele, über eine ideelle Reflexion der aktuellen Gegenwartssituation hinaus, zu einer vielschichtigen, hochreflektierten Zeitdiagnose. Mehr als das genuine Schauspiel sind Goethes Festspiele auf das integrative Moment, die Thematisierung des Gemeinschaftlichen angelegt. Die theatrale Situation soll die binäre Akteur-Zuschauer-Differenz transzendieren. Das Publikum soll in aktiver Teilnahme am Geschehen zu einer idealen Gemeinschaft werden. Im Vorwort von „Paläophron und Neoterpe“, das anläßlich des Geburtstages der Herzogin Amalia von SachsenWeimar verfaßt wurde, weist Goethe selbst darauf hin, dass die Lektüre der Textvorlage des Festspiels dieser Dimension nicht gerecht wird. Das Festspiel muss miterlebt werden: „Durch gegenwärtigen Abdruck kann man dem Publicum freilich nur einen Theil des Ganzen vorlegen, indem die Wirkung der vollständigen Darstellung auf die Gesinnungen und die Empfänglichkeit gebildeter Zuschauer, auf die Empfindung und die persönlichen Vorzüge der spielenden Personen, auf gefühlte Recitation, auf Kleidung, Masken und mehr Umstände berechnet war.“191 Dass die Reden der Figuren „ad spectatores“ gerichtet sind, belegt ebenfalls den beabsichtigten Bezug auf ein leibhaft anwesendes – zu diesem Zeitpunkt allerdings noch überwiegend höfisches192 – Publikum. „Paläophron und Neoterpe“ zeichnet sich denn auch weniger über einen aktionsreichen Handlungsgang aus. Die Idee eines gemeinschaftsstiftenden präsentischen Festspiels wird vielmehr über die Darstellung einer diskursiven Auseinandersetzung vermittelt: Dargestellt wird ein Diskurs über die Eigenschaften der Zeit, über das bewahrende „Alte“ und das vorwärtstreibende „Neue“, der damit zu einer Parabel über das Ancien Régime und die Revolutionszeit wird.193 Für den Diskurs von Alt und Neu wählt Goethe die Form der Allegorie, indem er die Personifikationen der alten (Paläophron) und der neuen (Neoterpe) Zeit auftreten lässt. Obwohl er sonst gegen den so inflationär wie indifferent gewordenen Gebrauch dieses
191 Johann Wolfgang Goethe: „Paläophron und Neoterpe“, in: Ders.: Werke, Bd. 13, Weimar: Böhlau 1894, S. 1-22, S. 3. 192 Dieter Borchmeyer notiert, dass eine neunzehn Jahre spätere Aufführung bereits im privaten Rahmen stattgefunden habe, was die Abkehr von der „höfischen Kasusgebundenheit“ anzeige. Vgl. D. Borchmeyer: Weimarer Klassik, S. 497. 193 Vgl. ebd.
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Theater als Ort der Utopie barocken Stilmittels polemisch Stellung bezog,194 bot es ihm hier die Möglichkeit – seiner ästhetisch-theoretischen Konzeption gemäß195 –, einen offenen politischen „Gelegenheitsdiskurs“ zu umgehen und damit die Alltagsgebundenheit einer politisch funktionalisierten Kunstform zu transzendieren. Erst der Festakt allerdings sichert dieses Ziel ab: Die durch das harmonisierende Ende recht ausgewogene – weil politisch verträgliche – Weltwahrnehmung des dramatisierten Gedankenspiels von Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie wird, wie der Nachdruck im Vorwort suggeriert, im theatralen Moment des Festes zugleich bestätigt und aufgehoben. Das der Kunst zugeordnete „interesselose Wohlgefallen“ gewinnt als utopisches Programm in der Begegnung aller am Fest Beteiligten jene ereignishafte Dimension, die, als Augenblickserfahrung aller, sämtliche konkreten Zeit- wie Raumbezüge aufheben soll. Das Vertrauen in den Augenblick, den zunächst nur der erfahrene Paläophron zu schätzen weiß – „Das Ernste kommt euch eben wild und düster vor, / Weil ihr, gewöhnt an flache leere Heiterkeit, / des Augenblicks Bedeutung nicht empfinden könnt“ (V. 145-147) – wird angesichts der einstürzenden Glaubenssysteme zum Hoffnungsträger kollektiven Weltvertrauens. So lässt Goethe Neoterpe im zweiten von drei Schlussbildern sagen: „Laß uns die empfangnen Gaben, / Ohne Säumen, weiter tragen / und sie der Versammlung bieten, / die auf uns die Augen richtet“ (V. 295-298). Wie im „Faust“ und im Gedicht „Vermächtnis“ (1829) werden auch in „Paläophron und Neoterpe“ die Zeitmomente Augenblick und Ewigkeit kontrastierend miteinander verbunden. In seinem zweiten Festspiel, der Fragment gebliebenen und zu Goethes Lebzeiten nie aufgeführten „Pandora“196 (1808) treibt Goethe die Zeitreflexion weiter. Obwohl der Titel ein eindeutiges Versprechen abgibt, tritt Pandora nicht auf. Dennoch ist die mythische Figur in Handlungsgang und Konzeption des Festspiels ständig gegenwärtig. Pandora wurde einst von Hephaistos als Zeus’ Rachewerkzeug gegen Prometheus, den Feuerräuber, geschaffen. Da dieser Pandora jedoch abwies, wird sie die Frau von Prometheus’ Bruder Epimetheus. Die Handlung ist auf den Familienkonflikt der Brüder und deren Kinder beschränkt und setzt ein, nachdem Pandora Epimetheus verlassen hat. Dieser kommt über den Verlust 194 Vgl. K. Sauer/G. Werth: Lorbeer und Palme, S. 34. 195 Diese resultierte u.a. aus der Programmatik der von Schiller 1795 begründeten Zeitschrift „Horen“, in der Goethe wie Schiller ihre zahlreichen theoretischen Schriften publizierten. Vgl. D. Borchmeyer: Weimarer Klassik, S. 247ff. 196 Der Status des Fragments erklärt auch die Auffassung dem Festspiel gegenüber seitens der Sekundärliteratur. Das Stück gilt als schwierig und hat unterschiedliche Interpretationen hervorgerufen.
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Fest und Utopie nicht hinweg und flüchtet sich in Traum und Schlaf. Aufgestört wird er von seinem Neffen Phileros, der seinem Onkel von seiner neuen Liebe berichtet, nicht wissend, dass es sich um seine Cousine Epimelea handelt. Als Phileros aufgrund eines Missverständnisses annimmt, seine Angebetete habe ihr Herz schon einem anderen geschenkt, verwundet er diese schwer. Prometheus rät seinem Sohn zur Flucht, das Unglück nimmt seinen Lauf. Während sich Phileros in die Fluten stürzt, ist die unglückliche Epimelea bereit, sich den Flammen zu übergeben. Gerettet wird das Liebespaar schließlich durch die Göttin Eos. Auf struktureller Ebene wiederholt der Bruderzwist zwischen den mythischen Figuren Prometheus und Epimetheus den Kinderstreit zwischen Phileros, Prometheus’ Sohn, und Epimelea, Epimetheus’ Tochter. Dieser Zwist ruft wiederum eine Rückbesinnung auf die Liebesgeschichte zwischen Pandora und Epimetheus hervor.197 Das Festspiel „Pandora“ bildet gleichsam die Projektionsfläche, anhand derer zwei unterschiedliche Lebensentwürfe und ideelle Konzeptionen durchgespielt und in der Schwebe gehalten werden können. Neben unterschiedlichen Liebeskonzeptionen, die im Eros einerseits das Zersetzende (Prometheus), andererseits das Harmonisierende (Epimetheus) anerkennen, geht es auch hier wieder um eine Reflexion über die Zeit. Die verschiedenen (neo-) platonischen und -aristotelischen Erinnerungsbilder – phantasiegeleitet bei Epimetheus, aus der Kombinationsgabe hervorgehend bei Prometheus – bezeichnen, so Graevenitz, typisch geschichtsphilosophische Denkfiguren der Neuzeit. Aus ihnen resultiert nicht nur ein doppelter Erinnerungsbegriff als Grundlage der Geschichtserkenntnis, sondern auch ein doppelter Wahrheitsbegriff sowie schließlich die Erkenntnis eines doppelten Geschichtsverlaufs: Gegenüber Prometheus’ Plädoyer für das praktische, fortschrittsorientierte Handeln – „Der Fackel Flamme, morgendlich dem Stern voran / In Vaterhänden aufgeschwungen, kündest du / Tag vor dem Tage! Göttlich werde du verehrt. / Denn aller Fleiß, der männlich schätzenswerteste, / Ist morgendlich; nur er gewährt dem ganzen Tag / Nahrung, Behagen, müder Stunden Vollgenuß.“198– steht Epimetheus’ rückwärtsgewandtes, kontemplatives Ideal eines göttlichen Ideenplans – „Des Hahnes Krähen fürchtend, wie des Morgensterns / Voreilig Blinken. / Besser blieb es immer Nacht! / Gewaltsam schüttle Helios die Lockenglut; / Doch Menschenpfade, zu erhellen
197 Vgl. Gerhart von Graevenitz: „Erinnerungsbild und Geschichte. Geschichtsphilosophie in Vicos ,Neuer Wissenschaft‘ und in Goethes ,Pandora‘“, in: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 77-88. 198 Johann Wolfgang Goethe: Pandora. Ein Festspiel, Leipzig: Insel 1913, S. 11.
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Theater als Ort der Utopie sind sie nicht.“199 Dies entspricht der Bestimmung der Natur „als einer Gegebenheit der Anschauungssphäre“, in der die Natur-Idylle als Produkt künstlerischer Anschauung hervorgebracht wird, in die sich der Künstler wiederum harmonisch einfügt.200 Goethes naturwissenschaftliches Erkenntnismodell eines dialektischen Wechselspiels von Vergehen und Entstehen, das (gebrochene) Natur- wie Kunsterfahrung gleichsam affiziert und selbst nicht chronologisch, sondern zirkulär vorgestellt werden muss, findet hier seinen Ausdruck.201 In der „Pandora“ erweist sich das Unterlaufen einer strengen Dichotomie als formalästhetisches Prinzip mit geschichtsphilosophischer Konsequenz. Die auf mehreren Handlungsebenen sich ausdifferenzierende Struktur (Spiegelung der Figurenkonstellation, Wiederholung der Konfliktstruktur) verläuft ebenfalls zirkulär.202 Nicht nur inhaltlich, sondern dramaturgisch verweist Goethes „Pandora“ damit auf die sich immer stärker aufdrängenden Immanentisierungsschübe, die ihrerseits eine „profane Transzendenz“203 vor Augen führen: selbst die Götter haben keine eindeutigen Antworten mehr – Kontingenzerfahrung schiebt sich zunehmend in den Blick. Die Veränderung der politischen Verhältnisse durch die Niederlage Napoleons, die schließlich die verschiedenen Schlussbilder der „Pandora“ prägten, treten vor allen Dingen in seinem letzten Festspiel „Des Epimenides Erwachen“204 (1814) zutage. Die politischen Verhältnisse hatten sich rasant gewandelt,205 was nicht heißen sollte, dass damit eine politische Instrumentalisierung des Festspiels 199 Ebd., S. 5. 200 Vgl. Kaiser, Gerhard: „Exkurs zu Goethes Festspielen. ‚Pandora‘ und ‚Des Epimenides Erwachen‘“, in: Ders.: Wanderer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977, S. 290-295, S. 292. 201 Vgl. G. Kaiser: Wanderer und Idylle, S. 40. 202 Vgl. G. v. Graevenitz: Erinnerungsbilder und Geschichte, S.85. 203 Ebd., S. 87. Der politische Wandel fordert den ästhetischen heraus: Goethe passte den Schluss der „Pandora“ dem Zeitgeschehen an. Wie Graevenitz notiert, reagierte Goethe nach dem Sieg Napoleons 1807 mit einer Geschichtsphilosophie „nach oben“, ins Göttliche, während er nach 1813 im 20. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ den Schluss in eine Zweideutigkeit „nach unten“ ins Dämonische korrigierte. Vgl. ebd. 204 Johann Wolfgang Goethe: „Des Epimenides Erwachen“, in: Ders.: Werke, Bd. 16, Weimar: Böhlau 1894, S. 331-381. 205 1801 wurden die linksrheinischen Gebiete de iure französisch, 1803 erfolgte der Reichsdeputationshauptschluss, 1806 wurde der Rheinbund geschaffen, 1807 erfolgte der Beginn der preußischen Reformen, 1813 kam es zur Befreiung von der napoleonischen Fremdherrschaft durch die Völkerschlacht bei Leipzig.
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Fest und Utopie ausgeblieben war. Im Gegenteil: Das Auftragsstück war anlässlich einer Siegesfeier der antinapoleonischen Allianz verfasst worden. Obwohl es bereits 1814 zahlreiche Festveranstaltungen in vielen hundert Städten und Dörfern gegeben hatte,206 gelangte es erst am 30. März 1815, am Jahrestag der Einnahme von Paris, zur Aufführung.207 Epimenides, der weise Held, erwacht, wird aber von den Xenien angehalten, wieder in Schlaf zu sinken. Dadurch geht eine Zeit des Krieges und des Umbruchs, veranschaulicht durch einen Disput der Dämonen des Krieges, der List und Unterdrückung sowie der Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung, unbemerkt an ihm vorüber. Als er endlich wieder erwacht, muss er feststellen, dass sich die ehemals idyllische Welt drastisch verändert hat: „Hier – keine Spur von altem Glanz, / Nicht Spur von Kunst, von Ordnung keine Spur! / Es ist der Schöpfung wildes Chaos hier, Das letzte Grauen endlicher Zerstörung“ (V. 716-719). Die Xenien verweisen Epimenides jedoch auf die Möglichkeit des Neubeginns, die sich aus der Zerstörung der alten Ordnung ergibt, und beschwören eine bessere Zukunft. Dass sie mit ihrer Voraussage Recht behalten werden, erfährt das Publikum durch die Personifikation der „Einigkeit“: „Das was ich lehre scheint so leicht, / Und fast unmöglich zu erfüllen:/ ‚Nachgiebigkeit bei großem Willen.‘/ Nun ist des Wortes Ziel erreicht, Den höchsten Wunsch seh’ ich erfüllen“ (V. 915-919). Was dieser höchste Wunsch für die Gegenwart bedeutet, verrät der Chor: „So rissen wir uns rings herum / Von fremden Banden los. / Nun sind wir Deutsche wiederum, / Nun sind wir wieder groß. / So waren wir und sind es auch / Das edelste Geschlecht, / Von biederm Sinn und reinem Hauch / und in der Thaten Recht. / Und Fürst und Volk und Volk und Fürst / Sind alle frisch und neu! / Wie du dich nun empfinden wirst / Nach eignem Sinne frei“ (V. 955-966). Wie schon bei den vorhergegangenen Festspielen geht es auch hier wieder um den mahnenden Ausgleich, der in diesem Fall über ein ethikoteleologisches Weltmodell vermittelt wird: Epimenides’ 206 Vgl. Dieter Düding: „Das deutsche Nationalfest von 1814: Matrix der deutschen Nationalfeste im 19. Jahrhundert“, in: Ders./P. Friedemann/P. Münch: Öffentliche Festkultur, S. 67-88. Düding notiert, dass die in erster Linie als bürgerlich zu bezeichnenden, aber durchaus unterschiedlich aufgefassten Feste eine weitgehend kohärente Dramaturgie aufwiesen: die Versammlungen unter freiem Himmel wurden begleitet vom Entzünden großer Feuer, militärischer Musik, der Rezitation national-deutscher, oder kirchlich-religiöser Lieder, einem Gottesdienst am folgenden Tag, Jugend- und Kinderfesten am Nachmittag sowie einer ausklingenden Tanzveranstaltung oder einem Feuerwerk am Abend. 207 Zur Entstehungsgeschichte siehe: P. Sprengel: Die inszenierte Nation, S. 21ff.
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Theater als Ort der Utopie Stadien des Erwachens und Schlafens stehen für das dreistufige Geschichtsmodell, wie es Schiller entworfen hatte. Auf die Einheit folgt, nach deren Zerstörung, eine neue intakte und wiederhergestellte Ordnung.208 Die Allegorie weist den Krieg dabei als notwendigen Verlauf der Geschichte aus, die Dämonen können dem Kreislauf der ihnen je zugewiesenen Aufgaben nicht entrinnen. Mit der Pointierung des Schlafes des Helden wird, neben den mahnenden Worten der Tugenden, jedoch auch hier eine kriegsbegeisterte und damit allzu affirmative politische Stellungnahme zur jüngeren Vergangenheit und Gegenwart erneut umgangen. Was Goethes Festspiele bei aller Unterschiedlichkeit verbindet, ist die Tatsache, dass sie zwar allesamt gemeinsschaftsstiftend wirken sollen, dabei aber keine konkreten Gesellschaftsutopien transportieren und ebenso wenig in Kategorien wie subversiv/affirmativ erfassbar sind. Damit stellt Goethe Rousseaus anti-ästhetische, republikanisch rigoristische Festidee gleichsam vom Kopf auf die Füße, sprich: auf die Bühne, die nicht nur Szene, verstanden als Ort der (Re-)Präsentation, sondern auch Ort der Begegnung sein soll. Wie die aus dieser Begegnung erwachsende Gemeinschaft konkret aussehen bzw. ob und wohin sie über den Augenblick der Communitas hinaus führen soll, bleibt auch bei Goethe weitgehend ungeklärt. Während „Paläophron und Neoterpe“ noch in den Rahmen höfischer Festpolitik gestellt ist, sich aber bei einer späteren Aufführung davon entfernt, und „Pandora“, aufführungstechnisch gesehen, gedankliche Spekulation bleibt, findet die Uraufführung von „Des Epimenides Erwachen“ verspätet, im räumlich begrenzten Rahmen am Berliner Schauspielhaus vor dem Preußischen König und seinem Hof – nicht unter freiem Himmel – und ohne allzu direkte politische Anspielungen, statt.209 Das Festspiel passt sich als Gelegenheitsdichtung den politischen Umständen an, die gleichwohl immer eine andere Form der Vergemeinschaftung mitvollzieht. Es ist der theatrale Anlaß selbst, der diese in actu manifest werden lässt. Als ästhetische Dichtung sollen die eingesetzten theatralen Stil- und Darstellungsmittel einen rein politischen Funktionalismus unterlaufen und eine Utopie ästhetischer Erfahrung anvisieren, die 208 Vgl. Marinus Pütz: „Goethes ‚Des Epimenides Erwachen‘ – politisch betrachtet“, in: Goethe-Jahrbuch 113 (1996), S. 287-290, S. 288. 209 Wie Peter Sprengel notiert, hatte sich der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. allzu direkte politische Anspielungen verbeten. Zur Premiere waren auch der russische Zar Alexander I. und der österreichische Kaiser geladen (wenngleich nicht erschienen). So musste Goethe auf Anraten des Auftraggebers Iffland eine Anspielung auf Königin Luise sowie die Kostümierung der Truppen in preußischer Kavallerieuniform und das Brandenburger Tor als Bühnenbild (für die Premiere) streichen. Vgl. P. Sprengel, Die inszenierte Nation, S. 24.
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Fest und Utopie frei von Heteronomie ist. Die Kunst liefert, wie schon in Schillers dreistufigem Geschichtsmodell, das idealistische Angebot, das innerhalb des politischen Tagesgeschäfts nur partiell realisiert werden kann. Die Festspiele zeigen somit Goethes schwachen Autonomiebegriff der Kunst. Einerseits ist Kunst, wie in Schillers ÄsthetikKonzeption, der Ort der Utopie, jener Ort, an dem (und mit dem) Freiheit sich verwirklichen lässt. Andererseits wird über den regierungsnahen Festakt die politische Zustimmung festlich legitimiert. Die universalistische Idee der Freiheit erhält eine gesellschaftspolitische Anbindung und damit das universalistische Konzept eine Rücknahme ins Konkrete. Das bedeutet, dass die Konzeption der Gattung Festspiel bei Goethe in sich paradox ist. Das bedeutet aber auch, dass Goethe keine Gewissheit über metaphysische wie politisch-praktische Letztbegründungen bietet.
III.4.3 RICHARD WAGNERS AMBIVALENTE METAPHYSIK DES FESTS: FESTUTOPIE ZWISCHEN POLITISCH-ÄSTHETISCHEM REVOLUTIONSPATHOS UND SKEPTISCHER GEGENWARTSVERNEINUNG Als wichtiger Bestandteil einer ausgeprägten Festkultur erlangte die Musik schon vor Wagners theatertheoretischen Konzeptionen, gerade im Rahmen des neu erwachenden Nationalbewusstseins, erhebliche Bedeutung. Die Musikfeste des Vormärz verband, neben einem hohen ästhetischen Anspruch und einer politischen Orientierung, die gemeinsame Ausrichtung auf ein ambitioniertes Bildungsziel:210 Die Wiederherstellung einer als vernachlässigt empfundenen Musikkultur. Nach Ernst Lichtenhahn, der zahlreiche zeitgenössische Kommentare zum Musikleben ausgewertet hat, lautete eine häufige Klage, die Musik habe ihre gesellschaftliche Bedeutung eingebüßt, sei inhaltsleer geworden und zur reinen Unterhaltung depraviert.211 Die Initiatoren der zahlreichen Musikfeste, die damals entstanden – das gilt z.B. für das Musikfest von Frankenhausen 1810, das Berner Musikfest 1813 oder auch das Basler Musikfest von 1820 –, versprachen sich von ihrem reformatorischen Engagement eine umfassende Signalwirkung, die über das enge Feld der musikalischen Ästhetik hinausgehen sollte. Durch die Präsentation anspruchsvoller „Tonkünstler“ wie etwa Haydn, Händel oder Beethoven und die Förderung junger Talente sollten mittelbar auch politisch-gesellschaftliche Ziele befördert werden: Man suchte angestrengt nach einer Anbindung der Kunst an die drängenden Fragen der Zeit, ins-
210 Vgl. Ernst Lichtenhahn: „Das bürgerliche Musikfest des 19. Jahrhunderts“, in: P. Hugger: Stadt und Fest, S. 161-179, S. 163. 211 Vgl. ebd., S. 161f.
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Theater als Ort der Utopie besondere an die patriotische Vision einer vereinten deutschen Nation.212 Allein schon dieser Umstand lässt es wenig sinnvoll erscheinen, die Festspielidee Richard Wagners als historische Zäsur zu verstehen – einmal ganz abgesehen davon, dass Wagner selbst im Laufe seines Lebens höchst unterschiedliche Interpretationen dieses vermeintlich singulären Festspielgedankens vorgelegt hat,213 so dass auch von dieser Seite aus die These vom radikalen Bruch unzureichend ist. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Diskussion ist es weitaus interessanter, demgegenüber auf die geistesgeschichtliche Kontinuität hinzuweisen, in der der Wagner’sche Traum vom gesellschaftsverändernden Gesamtkunstwerk steht. Im Lichte der Verbindung von radikaler Zivilisationskritik und Festutopie, wie sie Rousseau verfaßt hat, bedeuten Wagners emphatische Kunstpredigten weniger einen Neuanfang als vielmehr eine Fortführung und Umformung. Aus diesem Grund konzentrieren sich die folgenden Erörterungen vorwiegend auf Wagners politische Ästhetik, wie er sie in den Schriften unmittelbar nach 1848 formulierte – „Die Kunst und die Revolution“ (1849), „Das Kunstwerk der Zukunft“(1850), „Oper und Drama“ (1851) – und nicht auf seine theoretischen und praktischen Beiträge zur binnenlogischen Entwicklung der musikalischen Problemstellungen seiner Zeit. Wagners frühe Programmschriften sind mehr als nur rhetorische Begleittexte zu seinem künstlerischen Werk. Das konzediert mittlerweile auch die spezialisierte Wagner-Forschung. In Wagners Fall, so urteilt etwa Richard Klein, stellt die Theorie „keine ideologische Beigabe des Künstlerischen dar, sondern bestimmt die ästhetische, kompositorische und dramaturgische Sphäre in der Substanz mit“.214 Zugleich tritt sie mit dem Anspruch genuiner politischphilosophischer Theorie auf, d.h., über ihre musikästhetische Bedeutung hinaus, als zentraler Beitrag zu den gesellschaftlichen Debatten der Zeit. Dieser Anspruch macht sich auch dann geltend, wenn man Wagners widersprüchliche und unsystematische Argumentation kritisiert215 oder feststellt, sein politisches Denken sei „durchgehend theologisch grundiert“216. Dass genau jene kulturkri212 Vgl. ebd., S. 173ff. 213 Vgl. Carl Dahlhaus: „Richard Wagners ,Bühnenfestspiel‘. Revolutionsfest und Kunstreligion“, in: W. Haug/R. Warning: Das Fest, S. 592-609. 214 Richard Klein: „Wagners plurale Moderne“, in: Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.): Richard Wagner. Konstrukteur der Moderne, Stuttgart: Klett-Cotta 1999, S. 185-225, S. 190. 215 Vgl. Peter Wapnewski: Weißt du wie das wird...? Richard Wagner – Der Ring des Nibelungen, München: Piper 1995, S. 58. 216 Peter Hofmann: Richard Wagners politische Theologie. Kunst zwischen Revolution und Religion, Paderborn u.a.: Schöningh 2003, S. 17.
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Fest und Utopie tischen und geschichtsphilosophischen Ideen Wagner gerade zur Legitimation eines sich immer stärker ausprägenden – und durchaus salonfähigen – Antisemitismus dienten, gehört zu den dunklen Kapiteln seiner Biographie.217 Sie prägen bis heute die divergierenden Positionen von Wagnerianern und Anti-Wagnerianern und lassen den Aspekt des Politischen und damit auch den Begriff der Freiheit in einem äußerst problematischen Licht erscheinen. Schon an der ersten der Schriften, „Die Kunst und die Revolution“218, wird deutlich, wie sehr Wagners Denken, bei allen individuellen Momenten wie dem beinahe zwanghaften Drang zu Selbstbekenntnissen219 eingebunden ist in die allgemeinen politischen Debatten einer Zeit, die in einem heute kaum mehr vorstellbaren Maße bis hinein in Kleidung und Grußformeln durchdrungen war von dem Bedürfnis nach Anbindung der Politik an ethische Prinzipien wie Freiheit und Gerechtigkeit, nach nationaler Selbstvergewisserung und einer freiheitlichen Bürgergesellschaft.220 Darüber hinaus spiegelt „Die Kunst und die Revolution“, neben seinen eigenen Erfahrungen als Oppositioneller – Wagner musste nach der Beteiligung an den Aufständen zur Unterstützung der Reichsverfassung 1849 ins Exil gehen – seine Auseinandersetzung mit der Institutionenkritik, Kunstkritik, Kirchen- und Religionskritik sowie der frühen Kapitalismuskritik des Vormärz, wobei sich Wagner keiner der in den Debatten diskutierten Programmatik wirklich anschließen kann. Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive erstaunt zunächst die Verve, mit der Wagner nicht allein gegen die politischen Missstände,
217 Eine ausführliche Untersuchung von Text und Kontext der beiden Fassungen von „Das Judentum in der Musik“ (1850/1869) bietet: Jens-Malte Fischer: Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt a.M.: Insel 2000. 218 Richard Wagner: „Die Kunst und die Revolution“, in: Richard Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3, Leipzig: Breitkopf et Härtel 1914, S. 8-41. 219 Bereits Nietzsche kommentierte: „Wagner hatte Literatur nötig, um alle Welt zu überreden, seine Musik ernst zu nehmen, tief zu nehmen, ‚weil sie Unendliches bedeute‘; er war zeitlebens der Kommentator der ‚Idee.‘“ Friedrich Nietzsche: „Der Fall Wagner“, in: Ders.: Der Fall Wagner. Schriften – Aufzeichnungen – Briefe, Frankfurt a.M.: Insel 1983, S. 93-129, S. 115. Peter Hofmann wies darauf hin, dass Wagner selbst diesen Zustand mehrfach krank und abnorm genannt hatte. Vgl. P. Hofmann: Richard Wagners politische Theologie, S. 84. 220 Vgl. Wolfgang Kaschuba: „1848/49: Horizonte politischer Kultur“, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Revolution in Deutschland und Europa 1848/49, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 56-78.
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Theater als Ort der Utopie sondern auch gegen die Kunst seiner Zeit zu Felde zieht. Dabei hat es der manische Theaterliebhaber, wie schon Rousseau, ausgerechnet auf das Theater abgesehen. In Wagners Augen hat tragischerweise ausgerechnet diese „höchste“ Kunstform zu seinen Lebzeiten einen Tiefpunkt erreicht: „Unser Theater bietet bloß den bequemen Raum zur lockenden Schaustellung einzelner, kaum oberflächlich verbundener, künstlerischer, oder besser: kunstfertiger Leistungen.“221 Der Verfall der Theaterkultur geht nach Wagner aber nicht allein auf binnenkünstlerische Entwicklungen zurück, sondern ist die Folge einer umfassenden Degeneration der Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Das zum bloßen Schaubetrieb verkommene Theater bedient ein Publikum, das seinerseits innerlich verkommen ist, es stellt somit „die Blüthe der Fäulniß einer hohlen, seelenlosen, naturwidrigen Ordnung der menschlichen Dinge und Verhältnisse“222 dar. Ein deutlicher Beleg für diese Naturwidrigkeit ist für Wagner die zunehmende Ausrichtung der Kunst am Ökonomischen, an „Industrie“ und „Gelderwerb“.223 Wagners kapitalismuskritische Rede, die die marxistische Entfremdungsthese des 1848 publizierten „Kommunistischen Manifests“ aufscheinen lässt und auch Anleihen bei Ludwig Feuerbach nimmt, belässt es jedoch nicht bei der abstrakten Negation. In der Kunst liegen für ihn Verderbnis und Rettung zugleich. In programmatischem Rückbezug auf das Theater der griechischen Antike, vor allem der aischyleischen Tragödie,224 wirbt Wagner für eine universale Kunst, die die partikuläre Existenz des Menschen in der modernen Gesellschaft aufhebt und ihn, vermittelt durch das Ästhetische, zum Teil eines sinnvollen politischen Ganzen macht: Die Einheit der auf Freiheit gegründeten Staatsform gründet auf den zur Einheit gebrachten verschiedenen Kunstformen und umgekehrt. Offen spricht Wagner hier aus, was Rousseau nur angedeutet und Goethe zurückgewiesen hatte: Dass der Weg zur neuen Ordnung nur über die Zerstörung der alten Ordnung führt, sprich: über die Revolution. Die Ursache dieser Gegenwartsverneinung liegt, wie schon bei Rousseau, in der von Idiosynkrasien gekennzeichneten Gegenwartsdiagnose. Nicht zuletzt deshalb ist Wagners Geschichtsphilosophie von Antinomien gekennzeichnet: Offene Kirchen- und Religionskritik auf der einen, implizit heilsgeschichtlich-teleologische Argumentation und ein christlich grundier-
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R. Wagner: Die Kunst und die Revolution, S. 20. Ebd. Ebd., S. 19. Vgl. Dieter Bremer: „Vom Mythos zum Musikdrama. Wagner, Nietzsche und die griechische Tragödie“, in: D. Borchmeyer: Wege des Mythos in die Moderne, S. 41-63.
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Fest und Utopie tes Ethos der Askese auf der anderen Seite.225 Gegenwartskritik und nostalgische Schwärmerei für Vergangenes neben der emphatischen Apologie des Neuen. Für alle restaurativen Züge bei Wagner lassen sich entsprechend inverse Gegenbeispiele anführen. Die Ambivalenz der Argumentation in den Schriften schlägt, wie Dieter Borchmeyer notiert hat, auch auf die Praxis durch: Wagners Haltung zur Monarchie ist von einer Kritiklosigkeit gekennzeichnet, die in offenem Widerspruch zum revolutionären Anspruch der eigenen Theorie steht.226 Im Exil entfernt sich Wagner dann zunehmend von konkreten Bezugnahmen zur politischen Theorie und Praxis. Zwar ist auch im „Kunstwerk der Zukunft“227 die Kritik am gesellschaftlichen IstZustand nicht verklungen, doch der Aufruf zum revolutionären Handeln weicht nun einer abstrakten Utopie, die, wie bei Schiller, ins Ideelle verlagert und weniger in der konkreten Wirklichkeit verortet ist. Einheit des Volkes und Einheit der Kunst sind eins, wie Wagners emphatisches Plädoyer vermittelt: „Gemeinsam aber werden wir auch den Bund der heiligen Nothwendigkeit schließen, und der Bruderkuß, der diesen Bund besiegelt, wird das g e m e i n s a m e K u n s t w e r k d e r Z u k u n f t sein. In ihm wird auch unser großer Wohltäter und Erlöser der Vertreter der Nothwendigkeit in Fleisch und Blut, – d a s V o l k , kein Unterschiedenes, Besonderes mehr sein; denn im Kunstwerk werden wir eins sein, – Träger und Weiser der Nothwendigkeit, Wissende des Unbewußten, Wollende des Unwillkürlichen, Zeugen der Natur, – g l ü c k l i c h e M e n s c h e n .“228
Wie dieser Zustand konkret herbeigeführt werden könnte, bleibt unklar – was zuvor die politische Aktion erreichen sollte, wird nun zu einer Sache des Glaubens an die politische Verwandlungskraft des Ästhetischen. Die Einheit der wahren, freien Kunst, als Einheit 225 So schreibt Wagner: „Denn das vollendete Kunstwerk der große einige Ausdruck einer freien schönen Öffentlichkeit, das Drama, die Tragödie, ist – so groß Tragiker auch hier und da gedichtet haben – noch nicht wiedergeboren, eben weil es nicht wieder geboren, sondern von Neuem geboren werden muss.“ Als Maßstab für ein Plädoyer einer auf Gleichheit und Liebe beruhenden Gesellschaft dient Wagner Jesus Christus, neben Apollon der „erhabenste Lehrer der Menschheit“. R. Wagner: Die Kunst und die Revolution, S. 29 u. 41. 226 Wagners „revolutionäres Ideal“ war Borchmeyer zufolge, „das einer monarchischen Republik, eines vom Adel getrennten, unmittelbar dem Volk verbundenen Königtums“. Dieter Borchmeyer: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt a.M., Leipzig: Insel 2002, S. 426f. 227 Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft, in: Ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 3 (1914), S. 42-177. 228 Ebd., S. 50.
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Theater als Ort der Utopie der von Wagner als gegenwärtig in Vereinzelung verharrend wahrgenommenen Einzelkünste „Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst“, den „drei urgeborenen Schwestern“,229 erfordert nun einmal die Einheit des Volkes und wird demgemäß auch geschaffen von einer Genossenschaft der Künstler. Der Weg zur wahren Communio führt, wie schon bei Rousseau, über das Erlebnis unmittelbarer Präsenz – echte Gemeinschaft findet sich im Hier und Jetzt: „Das wirkliche Kunstwerk“, schreibt Wagner, „das heißt das unmittelbar sinnlich dargestellte, in dem Momente seiner leiblichsten Erscheinung, ist daher auch erst die Erlösung des Künstlers, die Vertilgung der letzten Spuren der schaffenden Willkür, die unzweifelhafte Bestimmtheit des bis dahin nur Vorgestellten, die Befreiung des Gedankens in der Sinnlichkeit, die Befriedigung des Lebensbedürfnisses im Leben“.230 Dass es ausgerechnet die über die gemeinsame Teilnahme an der Aufführung vermittelte Erfahrung unmittelbarer Gegenwart ist, die Gemeinschaft stiftet, also ausdrücklich keine diskursive Größe, macht nicht nur deutlich, wie sehr hier die Kunst zum alleinigen Hoffnungsträger des Politischen geworden ist, es zeigt auch die Grenzen einer Theorie auf, die sich dezidiert als politische versteht, dabei aber vorwiegend in ästhetischen Kategorien denkt. Dem Begriff der Freiheit bekommt diese Blickverengung nicht. Wie schon Rousseau muss auch Wagner davon ausgehen, dass sich einer idealen Gemeinschaft das Problem der Pluralität, des Widerstreitens von Interessen und Meinungen, gar nicht erst stellen wird. Damit aber ist seine ästhetische Theorie politisch nicht länger satisfaktionsfähig. In „Oper und Drama“ wird dieses Dilemma noch deutlicher. Hier sind politische Idealgemeinschaft und Festspielpublikum endgültig eins geworden,231 in der Aufführung verschmelzen Künstler und Zuschauer, Kunstwerk und Gesellschaft: „Eine solche ahnungsvolle Stimmung hat der Dichter uns zu erwecken, um aus ihrem Verlangen heraus uns selbst zum notwen-
229 Ebd., S. 67. 230 Ebd, S. 46. 231 Dass diese Gemeinschaft erst eine herzustellende ist und Wagner dies mit durchaus elitärem Anspruch zu vermitteln bereit ist, ergibt sich auch aus folgenden Formulierungen: „Der Beherrscher des öffentlichen Kunstgeschmacks ist nun aber derjenige geworden, der die Künstler jetzt so bezahlt, wie der Adel sie sonst belohnt hatte; der für sein Geld sich das Kunstwerk bestellt und die Variation des von ihm beliebten Themas einzig als das Neue haben will, durchaus aber kein neues Thema selbst – der Philister. Wie dieser Philister die herzloseste und feigste Geburt der Zivilisation ist, so ist er der eigenwilligste, grausamste und schmutzigste Kunstbrotgeber.“ Richard Wagner: Oper und Drama, Stuttgart: Reclam 1984, S. 390.
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Fest und Utopie digen Mitschöpfer des Kunstwerks zu machen (Herv. i. O.).“232 Berücksichtigt man, dass in „Oper und Drama“ auch Wagners antisemitisch grundierte Musiktheorie wiederanklingt, enttarnt die Botschaft der Utopie einer absoluten Einheit des Volkes durchaus das ideologische Gesicht einer von Ressentiments geleiteten politischen Theorie: als Gemeinschaft, zu der nur bestimmte Individuen Zutritt haben.233 Man kann Wagners Schriften daher als Beitrag zu einer politischen Theorie betrachten, deren Ziel, ähnlich wie bei Schiller, darin besteht, die gemeinschaftsbildende Kraft des Ästhetischen zum Wohle der Gesellschaft wirksam zu machen. Allerdings ignoriert diese so vehement vorgetragene Utopie die Tatsache, dass der Widerstreit gesellschaftlicher Kräfte und Diskursformationen, allen zeitlich bedingten Umständen zum Trotz, zu den Realia des politischen Lebens gehört. Dabei folgen die kompositorischen und szenischen Problemstellungen und Lösungen durchaus den gleichen utopischen Grundgedanken. Auch im Bereich der Musik soll die durch die parti-kularisierenden Kräfte der Moderne verloren gegangene ursprüngliche Einheit wiederhergestellt werden. In „Oper und Drama“ entfaltet Wagner diesen Gedanken zunächst am Ideal der im Kunstwerk der Zukunft wieder zur Einheit gelangten Einzelkünste. Während im antiken Drama Musik und Wort noch eng verbunden waren, fallen im modernen Theaterbetrieb durch die Trennung von Musik und Drama, Ausdruck und Inhalt auseinander. Die Oper, eigentlich prädestiniert, die Nachfolge des antiken Dramas anzutreten, sei, so Wagner, zu einer „bloßen Modeerscheinung“234 depraviert.235 Wer die Musik zu „Hohlheit, Seichtigkeit und künstlerische[n] Nichtigkeit“236 herabwürdigt, begeht in Wagners Augen künstlerischen Verrat. Die Rückkehr zum wahren Drama und damit zur Handlung237
232 Ebd., S. 344. 233 Jens Malte Fischer sieht in „einigen Passagen“ von „Oper und Drama“ „auch eine Art Antwort auf solche Ansichten und eine Fortentwicklung des ‚Judentum in der Musik‘“. Vgl. J. M. Fischer: Richard Wagners ‚Das Judentum in der Musik‘, S. 75. 234 R. Wagner: Oper und Drama, S. 109. 235 Als Beispiele hierfür gelten ihm die „wirkungssüchtigen“ Kompositionen Rossinis, bei denen der Dichter zur „völligen Null herabgesunken“ sei, Webers gescheiterte Synthese-Anstrengungen und schließlich die Opern des Juden Meyerbeer, deren „billiges Geheimnis“ der „Effekt“ sei. Vgl. ebd., S. 90, 97 u. S. 101. 236 Ebd., S. 106. 237 Klaus Kropfinger zufolge erschließt sich der Sinn des diffusen Verdikts Wagners über den Status der Oper („Der Irrtum in dem Kunstgenre der Oper bestand darin, dass ein Mittel des Ausdrucks (die Musik) zum Zwe-
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Theater als Ort der Utopie liegt für Wagner hingegen in der Wiederherstellung des komplexen Wirkungsgeflechts von Wort- und Tonsprache, wozu das Zusammenspiel von „dichterischer-musikalischer Periode“ und „dramatischer Situation“ ebenso gehöre wie die Verbindung von „Versmelodie“ und „Orchestermelodie“, die jede nichtnotwendige, heteronome Herleitung ablehnt. Ohne die Dichtkunst sei nämlich die Melodie, Wagner zufolge die „wirkliche Gestalt der Musik“,238 nicht in ihr Recht gesetzt.239 Die implizite Notwendigkeit, die Wagner seiner idealistischen Programmatik zukommen lässt, erklärt diese zu einer von kulturellen Entwicklungen unbeeinflussbaren Naturnotwendigkeit. Die Beschwörung des Momentum, verstanden als „unio mystica“, scheint sich in Wagners theoretischen Konzeptionen damit förmlich aufzudrängen. Die Bedeutung des Zeitmodus der (gemeinsam erfahrbaren) Präsenz als Innehalten einer chronologisch ablaufenden Zeit ist aber gerade aufgrund der musikdramaturgischen Gestaltung und aufgrund der Skepsis Wagners gegenüber einer allzu offensichtlichen Erlösungshoffnung ambivalenter, als es die Unterstellung einer affirmativen und einheitlichen Augenblicks-Ästhetik – oder wie Adornos folgenreiches Verdikt lautet: einer „falschen Identität“240 – zunächst vermuten lässt. Es ist gerade die recht verschlungene, vorhandene Textvorlagen einarbeitende Dramaturgie etwa des „Ring des Nibelungen“, anhand derer sich der ambivalente Status des ästhetischen Augenblicks exemplifizieren und die zudem die Frage der Ästhetik des Augenblicks als eine Frage der Perspektive erscheinen lässt. Die Dramaturgie folgt nämlich, wie in Kapitel VI.3 zu erläutern sein wird, einem komplexen Geflecht von Zyklität und Linearität. Sie lässt, Klein zufolge, die bis dato übliche musikdramatische Zeitgestaltung hinter sich und lässt gerade anhand des Geflechts der Motive, als einer vielgestaltigen Gesamtdramaturgie, Wagners
cke, der Zwecke des Ausdrucks (das Drama) aber zum Mittel gemacht war“) in einem Brief an Ferdinand von Zigesar. Dort kritisierte Wagner, dass das Drama als Mittel für die Musik verwendet werde, die Musik aber auf einer reinen Empfindungsebene angesiedelt sei. Wagner zufolge sollten aber Musik und Drama gleichermaßen zur dramatischen Handlung beitragen. Vgl. Klaus Kropfinger: „Nachwort“, in: Ders. (Hg.): Richard Wagner. Oper und Drama, Stuttgart: Reclam 1984, S. 430-532, S. 447. 238 R. Wagner: Oper und Drama, S. 110. 239 Wagner hat, Dieter Bremer zufolge, das Verhältnis von Musik und Drama in einzelnen Schriften unterschiedlich bestimmt. Vgl. D. Bremer: Vom Mythos zum Musikdrama, S. 45f. 240 Theodor W. Adorno: Versuch über Wagner, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 95.
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Fest und Utopie Verständnis von Moderne allein über die Verklammerung von Fortschrittseuphorie und Traditionalismus erkennen.241 Zwar wiederholt sich, wie Dieter Borchmeyer dargelegt hat, sein Einheitsstreben unter all seiner Vielfalt der Bezüge, auch auf produktionsästhetischer Ebene.242 Die Partikularisierungstendenzen einer ausdifferenzierten Gesellschaft erkennend, geht es hier durchaus um die Wiederherstellung einer immanenten Ganzheit, die theologische „Legitimationsdefizite“ mittels Kunst ausgleicht. Diese lassen sich dann modern, also variabel, d.h. sowohl politisch, als auch ästhetisch und philosophisch interpretieren.243 Dennoch ist dieses Ganzheitsstreben durch einen Bruch erkauft und damit selbst ein Gebrochenes. Ebensowenig wie die Festkonzeption insgesamt einem einmütig zukunftsorientiertem Utopismus244 huldigt, so wenig zeigt das Wagner’sche Werk eine einheitliche Ästhetik des Augenblicks. Auch Dahlhaus’ Verweis auf Wagners Verrat an der ideellen Konzeption der Präsenz löst nur scheinbar den Hiatus zwischen Utopie und deren vermeintlicher Preisgabe: Dahlhaus betont, dass zunächst zwar das Ereignishafte der szenischen Präsenz – als Gegenposition zum Repertoirespielbetrieb – in Wagners Konzeption vorherrschend gewesen, dieser Gedanke später aber vom „Drang nach Monumentalisierung“245 ersetzt worden sei. Nach der Gründung Bayreuths folgte, so Dahlhaus, dem Hohelied auf das singuläre Ereignis die Beschwörung der Wiederholung und der Dauer. Die politischen Umstände um Wagners Konzeption und den untrennbar 241 Vgl. R. Klein: Wagners plurale Moderne, S. 192f. 242 Vgl. D. Borchmeyer: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, S. 207 u. 304ff. 243 Hier ist Manfred Frank zuzustimmen: „Ist einmal der Tod des Mythos für den Verlust an intersubjektiver Verbindlichkeit verantwortlich gemacht und wird ferner – von Schlegel über Schelling und Wagner bis zum Expressionismus – der Künstler dazu ausersehen, den Mythos aufs neue hervorzubringen, dann lässt sich absehen eine hohe Politisierung der Kunst-Tätigkeit einerseits, ihr Abzwecken auf die Wiederherstellung eines kollektiven Mythos andererseits.“ Manfred Frank: „Vom ‚Bühnenweihefestspiel‘ zum ‚Thingspiel‘. Zur Wirkungsgeschichte der ‚Neuen Mythologie‘ bei Nietzsche, Wagner und Johst“, in: W. Haug/R. Warning: Das Fest, S. 610-638, S. 612. 244 Aufschlussreich hierfür ist auch die Skepsis Wagners gegenüber der Errichtung eines feststehenden Gebäudes. Die Konstante der Idee bildet letztlich jenes Fest, das in der absoluten Präsenz aufgeht und das es, streng genommen, gar nicht geben darf. Vgl. Richard Wagner: Briefe an Theodor Uhlig, Wilhelm Fischer, Ferdinand Heine, Leipzig: Breitkopf et Härtel 1888, S. 60. Und: Richard Wagner: Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth, Leipzig: Fritzsch 1873, S. 14. 245 C. Dahlhaus: Richard Wagners ,Bühnenfestspiel‘, S. 599.
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Theater als Ort der Utopie damit verbundenen, langwierigen Realisierungsprozess seiner Festspielidee zeigen zwar, dass die Empirie hier durchaus in die ideelle Konzeption hineinragt. In der Tat dürfte sich Wagner auch ideell – wie schon Goethe – einem Anpassungsdruck von außen gefügt haben, der folglich auch in einem (scheinbaren) Gesinnungswandel mündete.246 Zu differenzieren ist aber – abseits einer biographischen Markierung –, zwischen einer Teleologie des Augenblicks, welche Wagner anvisiert hat, einerseits und seiner Skepsis gegenüber jenem Erlösungsstreben, die sich ja gerade im komplexen dramaturgischen Wirkungsgeflecht entfaltet, andererseits.247 Philosophisch betrachtet können beide Konzeptionen durchaus als komplementäre Positionen einer anvisierten Ganzheitserfahrung aufgefaßt werden. Zugleich artikuliert sich hier aber der prekäre Status einer universalistischen Augenblicks-Ästhetik, die, letzten Endes, immer nur in Antinomien münden kann. Die angesprochenen Ambivalenzen stehen damit aber quer zu einer einseitigen Deutungsperspektive auch des Erlösungsanspruchs selbst. Richard Klein zufolge tritt Wagner zwar für eine Erneuerung der Gattung Oper ein, mit der Darstellung des Mythos verweigere Wagner jedoch auf einer weiteren Ebene eine linear ablaufende, geschichtsphilosophische Darstellung: „Der Mythos ist mehr als eine Utopie bzw. eine Antizipation der noch ausstehenden, noch nicht realisierten Zukunft freier politischer Allgemeinheit. […] Er steht vielmehr für ein Verhältnis zur Wirklichkeit, das sich mit den Mitteln des rein historischen Denkens nicht verständlich machen lässt, weil es von seinen Grundlagen her durch den Widerstand gegen zeitliche Entwicklungsvorstellungen, insbesondere gegen die fortschreitende Temporalisierung menschlicher Lebens- und Erlebnisbereiche in der Moderne definiert ist“.248 Auch hier zeigt sich, dass der Status der ästhetischen (Augenblicks-)Erfahrung und des damit verbundenen Erlösungsanspruchs prekär ist, weil er uto-
246 Zu den langwierigen und widersprüchlichen (politischen) Entscheidungsprozessen siehe: D. Borchmeyer: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, S. 408ff u. 432ff; vgl. Martin Gregor-Dellin: „Bayreuth. Mythos und Gegenwart“, in: Uwe Schultz (Hg.): Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München: Beck 1988, S. 318-327. 247 Nicht zuletzt verweist Dahlhaus selbst in seinem Aufsatz auf eine Durchkreuzung der Teleologie aufgrund des „Gewebes der Leitmotive“ auf der Ebene der Dramaturgie, die damit auch verschiedene Zeit- und Reflexionsebenen mitvollzieht. Das „Bühnenfestspiel“, so Dahlhaus, „prägt als Fest und als Drama verschiedene oder sogar entgegengesetzte Zeitstrukturen aus, die sich einerseits in der Musik, die zum System tendiert, und andererseits in der Handlung, die dennoch ein Prozeß bleibt, manifestieren.“ Vgl. C. Dahlhaus: Richard Wagners ‚Bühnenfestspiel‘., S. 606f. 248 R. Klein: Wagners plurale Moderne, S. 194.
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Fest und Utopie pisch-teleologische Prämissen voraussetzt, die derartige Widersprüche ausblenden.
III.4.4 NIETZSCHES FEST: DIONYSOS – DER LEBENDE UNTER DEN TOTEN GÖTTERN ODER MIT WAGNER GEGEN WAGNER Wagners utopische Konzeption hat ihm neben enthusiastischer Zustimmung auch erbitterte Kritik eingebracht. Einer der pointiertesten Angriffe gegen den „falschen Schein“ des Wagner’schen Musikdramas findet sich bei Theodor W. Adorno: „Die sich selbst übertreibende Verschleifung aller Elemente ineinander hat nicht zum letzten die Funktion, darüber zu täuschen. Je weniger das Musikdrama als Stil gelingen kann, um so angestrengter muss es sich stilisieren. Das Ganze wird zur Einheit nicht mehr aus einer vorgegebenen, sei’s auch bloß konventionellen Abgestimmtheit der Ausdruckselemente aufeinander. Sondern die einander entfremdeten, von keinem wie immer gearteten Sinn mehr verbundenen Medien werden durchs Diktat des vereinzelten Künstlers, und darum willkürlich, zusammengebogen. […] Es ist die Form der falschen Identität.“249
Das trifft noch immer punktgenau die schwache Stelle jeder Augenblicks-Ästhetik, die, indem sie jeglichen theatralen Schein kategorisch ablehnt, das ästhetische Heil ins kunstlos Nicht-Inszenierte verlegt. Damit dieses im Rahmen der Aufführung als solches erkennbar werden kann, muss sie es jedoch umso kunstvoller inszenieren. Dass Adornos eigene Ästhetik in ähnlichen Vorstellungen von emphatischer Präsenz aufgeht, könnte man als bloßen Zufall betrachten, gälte dasselbe nicht auch für Friedrich Nietzsche, dessen erbitterte Kritik am Wagner’schen Musikdrama in ihrer Substanz den Gedankengang Adornos bereits vorwegnimmt. Es passt ins Bild, dass Nietzsche, der die wüstesten Verunglimpfungen und zugleich die luzidesten Analysen des Phänomens Wagner artikuliert hat, seine ersten Schriften als bekennender Wagnerianer schrieb. Über die gesamte Spanne dieser Auseinandersetzung ist sein Verhältnis zu Wagners Werk und Person von einer qualvollen Verbundenheit grundiert, einer „doppelgesichtigen Passion“.250 Nietzsches zutiefst zwiespältiges Kunstverständnis bewegt sich zwischen den Polen der Apotheose des Komponisten und seiner völligen Ablehnung.251 Dabei ist es nicht nur die von Nietzsche selbstmisstrauisch 249 T. W. Adorno: Versuch über Wagner, S. 95. 250 Vgl. D. Borchmeyer: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, S. 445ff. 251 Zu Nietzsches Kunstbegriff siehe: Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst, Tübingen, Basel: Francke 1993.
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Theater als Ort der Utopie als Pathogenese geschilderte Beziehung, in der Gemeinsamkeiten anklingen.252 Es ist vielmehr die kategorische Zurückweisung des Scheins, des falschen, theaterhaften Pathos, das in der Negation die Kohärenz des gemeinsamen Ideals verbürgt. Nietzsche schreibt: „Zu dritt und zu schlimmst: die Theatrokratie –, den Aberwitz eines Glaubens an dem Vorrang des Theaters, an ein Recht auf Herrschaft des Theaters über die Künste, über die Kunst...Aber man soll es den Wagnerianern hundertmal ins Gesicht sagen, was das Theater ist: immer nur ein Unterhalb der Kunst, immer nur etwas Zweites, etwas Vergröbertes, etwas für die Massen Zurechtgebogenes, Zurechtgelogenes! Daran hat auch Wagner nichts verändert: Bayreuth ist große Oper – und nicht einmal gute Oper... Das Theater ist eine Form der Demolatrie in Sachen des Geschmacks, das Theater ist ein Massen-Aufstand, ein Plebiszit gegen den guten Geschmack […].“253
Zivilisationskritik bildet auch bei Nietzsches stark von Wagner beeinflusster Frühschrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“254 (1872/1886) den Rahmen zu einer Ästhetik mit Erlösungsanspruch.255 Die Ablehnung gilt, wie schon bei Rousseau, einer von den eigentlichen Zielen und Wirkungszusammenhängen entfernten Ästhetik, die ebenfalls ein Ungenügen an der Gegenwart ausdrückt. Allerdings hat sich Nietzsches Ästhetik ganz von politischen und gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen entfernt. Sie ist nicht mehr politische, sondern philosophische Ästhetik. Zugleich nimmt Nietzsches Anknüpfung an die antike Tragödie eine durchaus andere Wendung als bei Wagner, der von einer im Prinzip einheitlichen antiken Ästhetik ausgeht. Die ahistorische, weil aus der „Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers (Herv. i. O.)“256 hervorgehende Doppelung des Dionysischen und Apollinischen dient Nietzsche zunächst dazu, innerhalb ästhetischer Kategorien, die These von der Einheitlichkeit als einseitige Unterstellung zu kritisieren. Das Apollinische (die Kunst des Bildners) bedarf des Dionysischen (der unbildlichen Kunst der Musik), um so den Weg zu einer eigentlichen, seit der Euripideischen Dichtung depravierten Ästhetik freizumachen. Während das Apollinische das Begrenzte, Rationale, das kohärente Schönheitsbild – für das Nietzsche die Analogie des Traumes wählt – verkörpert, steht der
252 In „Der Fall Wagner“ bezeichnet Nietzsche Wagner zunächst als „une névrose“, um kurz darauf einzugestehen, dass er selbst von der Wagner’schen Krankheit befallen sei. F. Nietzsche: Der Fall Wagner, S. 104ff. 253 Ebd., S. 121. 254 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie [1886|, in: Ders.: Werke, S. 7-110. 255 Vgl. M. Frank: Vom ‚Bühnenweihefestspiel‘ zum ‚Thingspiel‘, S. 611. 256 F. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 19.
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Fest und Utopie Begriff des Dionysischen für das entgegengesetzte Prinzip der Entgrenzung, des Rausches, der Selbstveräußerung des Individuums. Mit dem Apollinischen kommt das „principium individuationis“ in die Welt, das Erkenntnis und Zivilisation ermöglicht. Das Dionysische verweist auf die Fragilität dieses Prinzips. „Kräftige Wahnvorstellungen und lustvolle Vorspiegelungen“, die „Schönheit des Scheins“ der apollinischen Kultur versprechen Erlösung von der „schreckliche[n] Tiefe der Weltbetrachtung“ und der „reizbarste(n) Leidensfähigkeit“257 zu geben. Das Dionysische hingegen zerbricht genau dieses Prinzip einer letztlich gemäßigten Vorstellung des schönen Scheins: „Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so tun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches (Herv. i. O.) gebracht wird. Entweder durch den Einfluß des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjektive zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet.“258
In den dionysischen Festen sieht Nietzsche – analog zu Rousseaus Festbegriff – dieses Prinzip am Walten, das gerade aufgrund der Aufhebung jeglicher Individuation als Hinaustreten über das maßvoll Schöne, den Bund der Gemeinsamkeit mit anderen Menschen und mit der Natur zu schließen vermag: „Singend und tanzend“, so Nietzsche, „äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.“259 Wenngleich auch Nietzsche der Kunst Erlösungsfunktion zugesteht und er eine retrospektiv begrüdete Utopie der Gemeinschaft anvisiert, geht es ihm dabei doch viel weniger als Wagner in seinen frühen Schriften um eine offen politisch motivierte Utopie einer homogenen Gemeinschaft oder gar um konkrete politische Handlungsanweisungen, auch wenn dieses Ideal in der Antizipation einer Einheit von Volk und Kultur anklingt. Das ideale Fest verhandelt Nietzsche nicht zuletzt deshalb eher am Rande, es hat aber eine ähnliche Funktion wie bei Wagner. Seit Sokrates, Nietzsches Personifizierung des „theoretischen Menschen“, hat der Mensch qua Erkenntnis die allerhöchste Stufe eines Verblendungszusammenhangs erreicht, der nur durch das „Wieder257 Ebd., S. 27. 258 Ebd., S. 21. 259 Ebd., S. 22.
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Theater als Ort der Utopie erwachen des dionysischen Geistes und die Wiedergeburt der Tragödie“260 geläutert zu werden vermag. Da sich im Fest das Dionysische Prinzip geltend macht, verspricht es die – antisokratische – Wiederherstellung der in der tragischen Dichtung immer schon als vorhanden vorgestellten Einheit von Mensch und Mensch sowie Natur und Mensch. Dass diese Argumentation inkohärent verläuft, ist offensichtlich. Einerseits verweist Nietzsche darauf, die beiden Kategorien seien wechselseitig aufeinander angewiesen – die Entgrenzung bedarf logisch der Grenze –, was bedeutet, dass auch dem Apollinischen zugestanden werden muss, das Dionysische aufzuheben: „Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung reißt das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des dionysischen Vorgangs hinweg […].“261 Worauf Nietzsche im Verlauf des Textes dann aber immer wieder hinarbeitet, ist die einseitige Privilegierung des Dionysischen: „Das Drama, das in so innerlich erleuchteter Deutlichkeit aller Bewegungen und Gestalten, mit Hilfe der Musik, sich vor uns ausbreitet, als ob wir das Gewebe am Webstuhl im Auf- und Niederzucken entstehen sehen – erreicht als Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen liegt. In der Gesamtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Übergewicht; sie schließt mit einem Klange, der niemals von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte.“262
Den Dithyrambus erklärt Nietzsche zur den genuinen Ausdrucksformen des dionysischen Fests. Nietzsche schließt an Schopenhauer an, wenn er davon spricht, dass es nur der Musik, weil sie vor aller Sprache sei, gelänge, das innere Wesen, den Willen auszudrücken.263 Der Chor verweist bei ihm auf den Ursprung der Tragödie aus dem Mächten des Dionysischen. Der metaphysische Trost, den die Tragödie spendet, objektiviert sich im Satyrchor, „als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Zivilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben“.264 Diese ehemals intakte Einheit ist es schließlich auch, die die Kategorie des (distanzierten) Zuschauers nicht kennt, weil dieser aufgehoben in der Einheit des
260 261 262 263 264
Ebd., S. 92. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 77. Ebd., S. 40.
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Fest und Utopie Chores nicht nur Beobachter, sondern integraler Bestandteil des dramatischen Geschehens ist.265 Jede Absicht, welche die Tragödie auf Moral oder Belehrung hin ausgelegt wissen will, möchte Nietzsche tilgen, zumal das Dionysische, als jenseits aller begrenzenden Kategorien vorgestelltes Prinzip, ohnehin nicht auf diese angewiesen ist. Jenseits aller utilitaristischen Funktionszuweisungen befindet sich der im dionysischen Zustand verweilende Musiker nahe dem Ur-Einen. Nietzsche schreibt: „Er ist zuerst als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und produziert das Abbild dieses Ur-Einen als Musik […].“266 In dieser Vorstellung vom Anteil des Dionysischen am Ur-Einen liegt das Zentrum von Nietzsches Schrift, das, so Margot Fleischer, diese weniger als eine „metaphysische Ästhetik“ denn als eine „ästhetische Metaphysik“267 auszeichne. Ein Hinweis auf das Verständnis des Ur-Einen findet sich allerdings nicht in der Tragödien-Schrift, sondern in einem nachgelassenen Text, den „Luganer Aufzeichnungen“, die im Umkreis der Tragödienschrift entstanden sind.268 Das UrEine wird dort beschrieben als das zeitlose Prinzip des Zeugens und Vernichtens: „Dem Ur-Einen als Urwiderspruch und Ding an sich eignet ein immanentes, nicht (bzw. zunächst nicht) zum Erscheinen aus sich herausgehendes Zeugen. Ewig zeugt es sich selbst, und ewig vernichtet es sich selbst. Es ist dieser Urwiderspruch als (zeitloser) Prozess.“269 Das hier aufscheinende Prinzip der ewigen Wiederkehr von Werden und Vergehen, welches das Lebensprinzip selbst ist, soll aber nicht mehr eindeutig metaphysisch begründet werden. Es gibt keinen Schöpfer, der für dieses Prinzip allein verantwortlich zeichnen
265 Im Gegensatz zu Wagner hat für Nietzsche die Musik eindeutig Vorrang. Nach dem Bruch mit Wagner richtet er sich entschieden gegen die Symbiose von Musik und Drama und tritt für eine Gattungstrennung ein. Hierzu siehe: T. Meyer: Nietzsche und die Kunst, S. 96ff. 266 F: Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 32. 267 Margot Fleischer: „Dionysos als Ding an sich. Der Anfang von Nietzsches Philosophie in der ästhetischen Metaphysik der ‚Geburt der Tragödie‘„, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 17 (1988), S. 74-90, S. 74. 268 Dort heißt es: „Was in dieser entsetzlichen Konstellation der Dinge leben will das heißt leben muss, ist im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruches, muss also in unserer Augen ‚welt- und ergemäß Organ‘ fallen als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also als Werden. Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen Leben und Morden ist eins.“ Zitiert nach: Ebd., S. 81. 269 Ebd., S. 81.
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Theater als Ort der Utopie würde: Ein Gott (Dionysos) steht neben einem anderen (Apoll) als dessen polarer Gegensatz. Der Widerspruch ist in dem von ihm ausgesteckten Theorierahmen nicht aufzulösen. Diese unauflösliche Antinomie ist aber das Resultat von Nietzsches Festhalten an zwei grundsätzlich unvereinbaren Prämissen. Einerseits steht der Verzicht auf jegliche Form metaphysischer Letztbegründung. So heißt es in „Menschliches, Allzumenschliches“ (1878) unter dem Lemma „Zeitalter der Vergleichung“ unmissverständlich: „Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so größer wird die innere Bewegung der Motive, um so größer wiederum, dementsprechend, die äußere Unruhe, das Durch–einanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen gibt es jetzt noch einen strengen Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen gibt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste nebeneinander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Kulturen.“270
In Nietzsches (postmoderner) Welt eines potentiell endlosen Stilund Wertepluralismus gibt es also keine Sicherheiten mehr, auch keine philosophischen.271 Andererseits aber versucht Nietzsche weiterhin die Leerstelle, die durch die Preisgabe der Metaphysik entstanden ist, durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr auszufüllen.272 In „Also sprach Zarathustra“ durchwaltet das Prinzip den gesamten Kosmos und das Leben selbst – das nur noch als ästhetisches – mit metaphysischer Reichweite – auch ein vollendetes Leben ist: „Alles geht, alles kommt zurück, ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins.“273 Als extremste Figur der Krisis des Nihilismus ist der Übermensch, dem es gelingt, den Gedanken der ewigen Wiederkehr auszuhalten, nicht mehr nur „Besieger Gottes, sondern auch der Besieger des Nichts“.274 Wie die Utopie des dionysischen Fests beschreibt damit die Denkfigur von der ewigen Wiederkehr das Aus-
270 Friedrich Nietzsche: „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, in: Ders.: Werke, S. 231-479, S. 247. 271 Vgl. Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart: Kohlhammer 1956, S. 15ff. 272 Bereits in der Tragödienschrift notierte Nietzsche: „Denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.“ F. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 34. 273 Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen“, in: Ders.: Werke, S. 545-778, S. 697. 274 K. Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr, S. 56.
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Fest und Utopie halten des Kreislaufs als „Besiegen des Nichts“, als Affirmation des Lebens im Hier und Jetzt. Der Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen gibt keine Handlungsanweisung zu einer Utopie mit Realitätsgehalt und ist auch nicht ausdeutbar als literarisch-poetisches Werk. Vielmehr steckt in ihm metaphorisch der Gedanke von der Epiphanie des Augenblicks, der dem Verstand inkommensurabel, als Ereignis nicht rational nachzuvollziehen ist.275 Er steht als „Weltlehre“ gegen den Mythos des Seins und der unbewegten Ewigkeit in einer Welt, in der es den Sündenfall nicht gegeben hat. Zeit und Wiederkehr können hier nur aus dem Augenblick selbst begriffen werden und müssen, wie Heidegger später notieren wird, als Widerstreit der Zeiten im Augenblick ausgehalten werden.276 Die nietzscheanische Augenblicks-Philosophie, die den Prozess von Werden und Vergehen bezeichnet, stellt damit den Versuch dar, die dichotomen Kategorien aufzulösen. Zugleich zeigt sie aber, dass sie diese Auflösung nur monistisch denken kann.277 Im Rahmen des Vorbehalts gegenüber petrifizierten historischen Kontinuitätsvorstellungen wirkt sie fortan wie ein metatheoretisches Antidot, das sich vor allem die Nietzsche-Rezeption mit Foucault und Derrida angeeignet hat. Auch die philosophische Perspektive zeigt: Die Apotheose eines einseitig interpretierten Ereignis-Begriffs begrenzt die Einsicht in dessen vielfältige und widersprüchliche Wirkungsmöglichkeiten. Die historischen Avantgardebewegungen haben sich auf Wagners und Nietzsches geschichtsphilosopische Konstruktionen berufen. Zugleich bricht mit Nietzsche eine Phase geschichtskritischen Denkens an, von dem die gegenwärtige Kritik am Kontinuitäts- und Ursprungsdenken etliche Impulse bezogen hat. Vor diesem Hintergrund unternimmt das folgende Kapitel eine Neukontextualisierung des Avantgarde-Topos. Aufgezeigt werden soll zum einen, auf welchen geschichtsphilosophischen Denkmustern die Konzepte der historischen Avantgarden beruhten. Zugleich soll erörtert werden, 275 Vgl. Tobias N. Klass: „Jenseits von Ahnen und Erben: Nietzsches Ereignis“, in: Marc Rölli (Hg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München: Fink 2004, S. 43-61. Und: Bruno Hillebrand: Ästhetik des Augenblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit – von Goethe bis heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, S. 69ff. 276 Vgl. ebd., S. 76. 277 Die in der Frühschrift sich als unüberwindbar darstellende Antinomie, die, wie Margot Fleischer notiert hat, auch auf die „Altlasten“ einer Verehrung für Schopenhauer und Wagner zurückzuführen sei, löse Nietzsche im Spätwerk zunehmend dahingehend auf, dass er selbst das Leben als Ästhetisches begreifen wolle. Vgl. M. Fleischer: Dionysos als Ding an sich, S. 89.
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Theater als Ort der Utopie dass sich gegenwärtige Theoriemodelle, trotz einer nachhaltigen Kritik an Fortschrittszentriertheit und Geschichtsphilosophie, nach wie vor derselben Deutungsmuster bedienen. Zur Herstellung einer idealtypischen Identität werden, wie schon bei dem Topos der idealtypisch interpretierten Communitas im Fest, auch im Bereich der Avantgarde-Theorie die Deutungsmuster von Inklusion und Exklusion herangezogen.
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IV. „DIE“ AVANTGARDE: DAS EWIG UNVOLLENDET UNVOLLENDETE E PROJEKT
IV.1 Positionen der AvantgardeAvantgarde -Forschung Ausdauernd hält sich, wie in den vorigen Kapiteln bereits angesprochen, in der Theaterwissenschaft zum postdramatischen Theater und der Performance Art implizit oder explizit die Rede von der fortwährenden Avantgarde. In der Regel beruft man sich überall dort, wo Theater programmatisch eine nicht-repräsentationale Ästhetik forciert, darauf, in der Kontinuität dieser Bewegung zu stehen. Mit diesem Anspruch ist normalerweise der Glaube an eine besondere legitimierende Kraft einer Avantgarde verknüpft, die ihren ausgezeichneten ideellen Status auf die unbedingte Opposition zu den Ritualen etablierter Kunstübung gründet, wie sie schon Richard Wagner formulierte: Wer heute unter der Flagge der Avantgarde segelt, kämpft deshalb wahlweise gegen als traditionell interpretierte ästhetische Kriterien, gegen die „Marktlogik“, gegen die „politische Uniformität“, gegen den „Kunstbetrieb“ und seine Institutionen oder gegen alles zusammen. Die Frage ist allerdings nicht nur, inwieweit sich angesichts der Etablierung einer damit verbundenen (nichtrepräsentationalen) Ästhetik innerhalb der Theaterinstitutionen und des Kunstbetriebs und einer zunehmenden Vernetzung von Kunst und privatwirtschaftlichen Geldgebern herkömmliche, aus den historischen Avantgardebewegungen und der sogenannten Neoavantgarde stammende Oppositionshaltungen auf Seiten der Kunstproduktion heute noch aufrecht erhalten lassen. Die Frage ist vor allem, ob auch auf der Ebene der Wissenschaft die stereotype Phraseologie und das normierte Vokabular, in dem der avantgardistische Anspruch in aller Regel vorgetragen wird, dem vielfältig ausdifferenzierten Theaterbetrieb der Gegenwart und dessen Wahrnehmung eigentlich gerecht werden? Die mittlerweile zumindest im Feld der Performance Art, des postdramatischen Theaters und der bildenden Kunst nahezu schon kanonisierte Negation einer sogenannten repräsentationalen Ästhetik – zu der auch das Konzept einer wie immer stark interpretierbaren Utopie gehört – und die damit verbundene, (theoretisch begründete) Apologie von akausalen Narrationsmustern hat nicht nur, wie
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Theater als Ort der Utopie die vorhergehenden Kapitel angedeutet haben, selbst eine lange Tradition. Die ideellen Implikationen, auf die sich der Begriff der Innovation bezieht, insofern er seine Legitimation wesentlich durch die Verbindung mit einer nicht-repräsentationalen Ästhetik begründet, zeichnen sich, wie bereits in Kapitel II.4.4.3 bis II.4.4.5 gezeigt, ebenso durch ein historisches Kontinuum aus: Avantgardistische Künstler wähnten sich schon je an der Spitze einer Fortschrittsbewegung. Fragwürdig wird indes der direkte, lineare Bezug auf die geschichtsphilosophischen Ideale der historischen Avantgarde in zeitgenössischen Debatten vor allen Dingen dann, wenn diese selbst einer Kurskorrektur geschichtsphilosophischer, linearer Erzählungen verpflichtet sind. Im vorliegenden Kapitel soll nun nicht eine neue Geschichte der historischen Avantgardebewegungen geschrieben werden, sondern es soll in erster Linie darum gehen, Positionen zur Rezeption und zum Wandel des Avantgarde-Begriffs vorzustellen, um so die Mehrschichtigkeit des Avantgardeverständnisses bis hin zu den Diskussionen der Gegenwart darzulegen. Am Avantgarde-Topos und den damit verbundenen geschichtsphilosophischen Deutungsmustern soll sich damit die Unvereinbarkeit jener Deutungsmuster mit inhaltlich disparaten Bestimmungen aufzeigen lassen. Die Einbeziehung kunsthistorischer Überlegungen ist dabei nicht nur dem Umstand geschuldet, dass es gerade in den Performance-Studien immer wieder zu Korrelationen von kunstund theaterwissenschaftlichen Diskursen kam, die der Grenzposition der Kunstform Performance geschuldet sind. Sie soll auch zeigen, dass, je nach Perspektive, unterschiedliche epistemologische Voraussetzungen den Untersuchungsgegenstand präformieren. Die historische oder auch als klassisch bezeichnete Theateravantgarde der Jahre 1890 bis 1935 gilt innerhalb der Theaterwissenschaft als sehr gut dokumentiert und aufgearbeitet. In zahlreichen Studien und Einzelaufsätzen wurden die einzelnen Strömungen untersucht und die Bedeutung für das Theater erörtert.1 Abseits recht disparater Erscheinungsformen und Impulse hat man in den historischen Überblicksdarstellungen vor allen Dingen die Opposition gegen einen bürgerlichen Kulturbegriff, der sich in der Suche nach einem neuen ästhetischen Formenvokabular artikulierte, als die feste und einheitliche Größe benannt, unter der sich die verschiedenen Strömungen um die vorletzte Jahrhundertwende zusammenfassen lassen. So schreibt Erika Fischer-Lichte in einem Überblick des Bandes „TheaterAvantgarde“ von einem durch technische und wissenschaftliche Neuerungen hervorgerufenen, „radika-
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Vgl. Petra Maria Meyer: Intermedialität des Theaters. Entwurf einer Semiotik der Überraschung, Düsseldorf: Parerga 2001, S. 40.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt le[n] kulturelle[n] Wandel“2 um 1900, der sich auf produktionsästhetischer Ebene vor allen Dingen gegen die herkömmlichen, „linearen“ Kategorien von Handlung und Psychologie der Figuren sowie gegen eine „perspektivisch fixierte Beobachterposition“3 richtete. Umfangreiche Wechselbeziehungen zwischen Wahrnehmung, Sprache und Körper führten zu umfassenden Neuerungen auf der literarischen und sprachlichen Ebene genauso, wie auf der musikalischen, der visuellen und der darstellerischen.4 Manfred Brauneck konzediert ebenfalls eine umfassende ästhetische Neuorientierung der bisherigen Ästhetik durch die Avantgardebewegungen der vorigen Jahrhundertwende, angesichts der zuvor angestrebten, aber letztlich angeblich wirkungslos gebliebenen Reformversuche: „Hier nun“, so Brauneck, „setzten die Avantgardebewegungen an und begründeten den ästhetischen Umsturz mit der Forderung nach ‚radikaler Modernität‘ im Theater“.5 Trotz der Vielfalt des ästhetischen Formenvokabulars lag – darin kommen die meisten theaterhistorischen Überblicksdarstellungen überein – der gemeinsame geschichtsphilosophisch grundierte Impetus der avantgardistischen Künstler im Aufbegehren gegen einen funktionalistischen Kunstbegriff. Die Vertreter der einzelnen Ismen wie Futurismus, Konstruktivismus, Expressionismus, Surrealismus und Dadaismus und einzelne Künstler wie Filippo Tommaso Marinetti, Wsewolod Meyerhold, Wassily Kandinsky, Hugo Ball, Kurt Schwitters, Oskar Schlemmer, Antonin Artaud, Erwin Piscator bishin zu Bertolt Brecht u.a. opponierten gegen einen Kunstbegriff, der die Kunst gegenüber anderen Lebenszusammenhängen und Welterschließungsmodellen als minderwertig, also heteronom, erachtete. Allerdings standen, wie die vorigen Kapitel gezeigt haben, die Programmatiken jener Künstler dabei durchaus in einem sich im 19. Jahrhundert ausbildenden Denkkontinuum, das die in den Überblickswerken übliche Rede von der „Radikalität“ dieses Wandels erheblich relativiert. Die Autonomie-Debatte ist, wie zu zeigen sein wird, entscheidend davon betroffen. Sie gelangte in eine neue Phase ihrer Positionsbestimmung, was nicht bedeutete, dass mit der Abgrenzung von einem bürgerlichen Kunstbegriff, wie gemein2
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Erika Fischer-Lichte: „Wahrnehmung – Körper – Sprache. Kultureller Wandel und Theateravantgarde, in: TheaterAvantgarde. Wahrnehmung – Körper – Sprache, Tübingen, Basel: Francke 1995, S. 1-14, S. 6. Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 6. Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 4, Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, S. 49, vgl. P. Simhandl: Theatergeschichte in einem Band, S. 362, vgl. Günter Berghaus: Theatre, Performance, and the Historical Avant-garde, New York, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2005, S. 37.
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Theater als Ort der Utopie hin suggeriert, die antinomischen Bestimmungen von Autonomie einer Lösung entgegentraten. Selbst die häufig in theater- wie kunsthistorischen Debatten als Einheit vorgestellte, von den Künstlern beabsichtigte Überführung von Kunst in Leben ist viel stärker von Widersprüchen gekennzeichnet, als es die Unterstellung eines einheitlich verstandenen Vorstoßes zu einem neuen Kunstverständnis vermuten lässt. Kritik von Seiten der Theaterwissenschaft erfuhr in den letzten Jahren die Art und Weise, wie die Geschichte der historischen Avantgarde traditionell als Geschichte eines radikalen und einzigartigen historischen Bruchs erzählt wird, wodurch die Theatergeschichte wie von selbst in eine vor- und eine nach-avantgardistische Periode zu zerfallen scheint. Auffallend ist dabei nicht allein die historische Statusbestimmung der historischen Avantgarde als Basis, von der aus sich gleichsam eine nicht-repräsentationale oder, damit verbunden, gar ethisch legitimere Theatergeschichte erzählen lassen kann, die sich, anders als die vermeintlich repräsentationale Ästhetik, der Kraft einer negativen Ästhetik verpflichtet fühlt. Auch die implizit pejorative Bestimmung der Vorgeschichte führt letztendlich dazu, alle bis dato stattfindenden szenischen und inhaltlichen Entwicklungen und ihren Beitrag zu den historischen Avantgarden als für die Entwicklung irrelevant auszublenden. Jurij Striedter hat hier bereits Anfang der 90er Jahre die Kontextfrage erörtert und darauf verwiesen, dass „aus der Sicht der europäischen Literaturgeschichte […] der Bruch mit der mimetisch-realistischen Wirklichkeitsnachahmung zugunsten des künstlerischen Schaffens bewußt ‚artifizieller‘ Visionen und Wirklichkeiten bereits ein Kernstück symbolistischer Ästhetik seit Baudelaire“6 war. Hans-Peter Bayerdörfer verwies kritisch auf den Kollektiv-Singular einer Theatergeschichtsschreibung „der“ Avantgarde und plädierte stattdessen für eine „Theatergeschichtsschreibung im Wirkungsbereich von Avantgarde“.7 Am Beispiel des vermeintlich für tot erklärten dramatischen Dialogs seit 1890 zeige sich, dass zu jener Zeit der Dialog gerade nicht an sein Ende gekommen war, sondern, im Gegenteil, sich seine Gestalt vor allen Dingen auch durch den Einfluß des „angeblich trivialen Theaters“ wie Varieté, Kabarett, Zirkus und Jahrmarktschau auf vielfältige Weise wandelte.8 Auch Eric Alexander Hoff6
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Jurij Striedter: „Einleitung“, in: Ders./Herta Schmid (Hg.): Dramatische und theatralische Kommunikation: Beiträge zur Geschichte und Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert, Tübingen: Narr 1992, S. 7-21, S. 8. Hans-Peter Bayerdörfer: „Der totgesagte Dialog und das monodramatische Experiment. Symptome der ‚Umsetzung‘ im modernen Schauspieltheater“, in: E. Fischer-Lichte: TheaterAvantgarde, S. 242-290, S. 246. Ebd., S. 287.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt mann, der sich für eine polykontexturale Theatergeschichte auf der Folie von Luhmanns Systemtheorie einsetzt, beanstandet die eindimensionale Theaterhistoriographie im Diskursfeld der historischen Avantgarde, die reklamiert, dass es sich dabei um eine umfassende Kulturrevolution gehandelt habe.9 Problematisch sei vor allen Dingen die in der Theaterwissenschaft üblich gewordene Reduktion der Avantgarde auf Traditionsnegation, Stilinnovation und auf den theaterhistorisch fragwürdigen Aspekt der sogenannten „Retheatralisierung“.10 Zu unterscheiden sei, so Hoffmann, vor allen Dingen zwischen den ästhetizistischen „unio-mystica“-Vorstellungen eines Wagner, Appia, Behrens, Fuchs und Reinhardt einerseits und einer avantgardistischen Aktivierung der Zuschauer, wie sie Marinetti, Eisenstein, Tretjakov oder Arvatov betrieben, andererseits.11 Einen umfassenden Beitrag zur Erweiterung und Neujustierung herkömmlicher, historiographischer Perspektiven hat schließlich Klaus von Beymes umfangreiche Studie über die Avantgardebewegungen von 1905 bis 1955 geleistet.12 Jenseits einer eurozentristischen Perspektive und einer biologistisch gefärbten Generationentheorie, legt der Autor das streng historisierende Augenmerk auf eine sozial- und politikhistorisch begründete Netzwerkanalyse, die auch Künstler abseits der in der Historiographie etablierten Höhenkamm-Kunst berücksichtigt. Bedeutsam sei vor allen Dingen die Anerkennung der Bemühungen der einzelnen Künstler selbst zur Herstellung eines Selbstbildes und -bewußtseins einer kollektiven Identität, die sich nicht nur über das jeweilige künstlerische Schaffen, sondern auch über die lange Zeit als randständig titulierte Programmschriften ergebe.13 Beyme zeigt, dass es zwar zahlreiche inhaltliche und ästhetische Unterschiede gab, ein Selbstverständnis aber hauptsächlich über die Distanznahme gegenüber einer meist nicht genau bestimmten Tradition und die Ausschöpfung internationaler Kommunikationsmöglichkeiten entwickelt wurde, die einen ganz entscheidenden Beitrag zur Übereinstimmung eines nichtrepräsentationalen Kunstbegriffs der einzelnen Künstler lieferte: „Von der Masse Tausender von Künstlern im Zeitraum 1905 – 1955 unterscheidet sich“, so Beyme, „die Avantgarde durch das Bewusstsein einer kollektiven Identität, verbunden durch Organisationen (Künstlergruppen, internationalen Ausstellungen, gemeinschaftli9
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Eric Alexander Hoffmann: „Historische Avantgarde. Versuch einer Bestimmung und Vorstudien zu einer Geschichte und Theorie des modernen Theaters“, in: Forum Modernes Theater 16/2 (2001), S. 135-150. Ebd., S. 143. Ebd., S. 145. Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905–1955, München: Beck 2005. Ebd., S. 221ff.
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Theater als Ort der Utopie chen Publikationsprojekten) und durch eine innovative ästhetische Orientierung.“14 Das Bewusstsein einer kollektiven Identität wurde entscheidend über den anschaulichen Begriff der Avantgarde befördert, der die Traditionsmüdigkeit und unbedingte Innovationsbereitschaft der Künstler in Analogie zum kämpferischen Vorwärtsstreben militärischer Eliteeinheiten setzte und so heroisch überhöhte.15 Während jedoch die militärische Avantgarde, zuständig für Heeressicherung und Kompensation für mangelnde Gefechtsbereitschaft, seit dem Ersten Weltkrieg durch Panzer, Flugzeuge und Aufklärunssatelliten ersetzt wird, hält sich, so Hannes Böhringer, über den Begriff der künstlerischen Avantgarde die Überzeugung, „dass es einen allgemeinen Fortschritt der Menschheit und ihrer Freiheit in der Geschichte gebe und dass der Fortschritt unweigerlich sei“.16 Dabei gehen ästhetizistische und gesellschaftsreformerische Intentionen von Beginn an Hand in Hand, wie ein Blick auf die sogenannten Saint-Simonisten Anfang des 19. Jahrhunderts belegt, die sich als erste die Avantgarde-Metapher zunutze machten, um ihre Vorstellungen von einem notwendigen Geschichtsverlauf zu begründen, an dessen Ende Freiheit und Frieden stehen sollten. Von Wissenschaftlern und Industriellen enttäuscht, sprachen ClaudeHenri de SaintSimon und seine Adepten die Kraft zu einem Wandel bestehender Verhältnisse schließlich allein dem Künstler zu. Kunst wurde, wie sich in den militanten Appellen des Saint-Simonisten Olinde Rodrigues verdeutlicht, in den Dienst einer politisch motivierten Idee gestellt.17 Die sich im Anschluss an die Saint-Simonisten häufende Verbindung von Rhetorik und Krieg im Umfeld der AvantgardeBeschwörungen ist dabei kein Zufall. Der kämpferisch vorgetragene Wille zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ist spätestens seit der Französischen Revolution Bestandteil öffentlicher politischer Auseinandersetzung im Kampf um Freiheit und Mitbestim-
14 Ebd., S. 21. Ausführlich erörtert Beyme auch die Rolle der Frauen und die ökonomischen Gesetze des Kunstmarkts: Die Herstellung der eigenen Identität ging allzu oft auf Kosten der Frauen, die sich meist auf die Rolle der Partnerin beschränken und als Projektionsfläche männlicher (Sexual-) phantasien herhalten mussten. Vgl. ebd., S. 125ff. u. 170ff. 15 Vgl. Hannes Böhringer: „Avantgarde – Geschichte einer Metapher“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 22/1 (1978), S. 91-115, S. 90f. 16 Ebd., S. 94. 17 Vgl. ebd., S. 98ff. Im Dialog „L‘Artiste, le Savant et l‘Industriel“ von 1825 schreibt der Saint-Simon-Schüler Rodrigues: „Wir sind es, die Künstler, die als Avantgarde dienen werden. Die Gewalt der Künste ist tatsächlich am unmittelbarsten. Wir haben Waffen aller Art. Wenn wir neue Ideen unter den Menschen verbreiten wollen, schreiben wir sie auf Marmor oder auf Leinwand.“ Zitiert nach: Ebd., S. 97.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt mung. Das Fortschrittspathos findet sich, wie Hannes Böhringer nachweist, dabei in sämtlichen Avantgarde-Journalen. Zu elitären Minderheiten stilisiert, rechtfertigen sie ihren Führungsanspruch in erster Linie dadurch, dass sie „allen anderen in irgendetwas voraus sind“.18 Das Gefühl, eine Minderheit zu sein, sowie die zu jener Zeit noch gängige Überantwortung individueller Handlungsansprüche an einen notwendigen Geschichtsverlauf werden zur Legitimationsgrundlage einer kämpferischen Rhetorik, die das (klein-)kollektive Pathos beglaubigt. Es zeigt sich als kleinster, dabei recht umfassender, gemeinsamer Nenner disparater Haltungen und auch Erscheinungsformen, der zugleich eine inhaltlich eindeutige und zeitlich fest umgrenzbare Definition „der“ Avantgarde ad absurdum führt. Eine Avantgarde als historisches Singularsubjekt ist nur um den Preis reduktionistischer Annahmen zu erkaufen. Die Tatsache, dass die Künstler sich selbst nie als „Avantgarde“ bezeichnet haben19, führt zudem vor Augen, dass die Bezeichnung letzten Endes auch als Effekt ihrer Historisierung anerkannt werden muss. Für methodologische Überlegungen erweist sich deshalb im Abstand von über hundert Jahren ein erweiterter Avantgardebegriff als hilfreich, wie ihn Klaus von Beyme vertritt:“Theoretische Grundsätze für die gesamte Avantgarde zu rekonstruieren müssen notwendigerweise recht abstrakt bleiben. Selbst eine so integrierte Gruppe wie die Surrealisten war polyzentrisch angelegt.“20 Für die Historiographie des Avantgarde-Topos, wie er im Kontext der Theorie zum postdramatischen Theater und der PerformanceStudien rezipiert wird, ergeben sich dabei gleich mehrere Konsequenzen. Zum einen, dass das einheitliche Bild „der“ Avantgarde vor allem dadurch zustande kommt, dass man die Heterogenität der historischen Abläufe weitgehend außer Acht lässt und, statt über konkrete Künstler und Aktionen, über ein abstraktes Programm spricht. Obwohl etliche ideelle Vorstellungen jener Zeit nach wie vor eine zentrale Position – zumindest innerhalb der gegenwärtigen künstlerischen Produktion – einnehmen, erweist sich die wissenschaftliche Verlängerung genau jener geschichtsphilosophischen Deutungsmuster für die heutige Situation als unzureichend. Die Überprüfung der gedanklichen Kontinua wird hier gleichsam zum 18 Ebd., S. 104. In einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung verweist Ludger Fischer, neben der Bedeutung der Saint-Simonisten, auf den Fourierismus. Daraus hätten sich zwei Avantgarde ergeben: eine sozialistischrealistische (Saint-Simonismus) und eine anarchistisch-abstrakte (Fourierismus). Vgl. Ludger Fischer: „Avantgarde – Die Vorhut der alten Ratten. Versuch einer Begriffsgeschichte“, in: H. Holländer/C. W. Thomsen: Besichtigungen der Moderne, S. 41-52, S. 47. 19 Vgl. L. Fischer: Avantgarde – Die Vorhut der alten Ratten, S. 43. 20 K. v. Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden, S. 20.
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Theater als Ort der Utopie Lakmus-Test einer Debatte um die Funktion von Kunst in westlichen Industrienationen am ausgehenden 20. Jahrhundert und danach. Die folgende Lektüre einiger ausgewählter Positionen der historischen Avantgarde soll dabei das Kontinuum einer Debatte aufzeigen, die auch heute noch, wenngleich nicht mit demselben Pathos, mit ganz ähnlichen Ausschlusskriterien argumentiert.
IV.2 Zweckgebundene Einheit wider die Heteronomie: Ausgewählte theoretische Positionen der historischen Avantgarde Viele der zahllosen ästhetisch-politischen Pamphlete, die ein Charakteristikum, wenngleich, wie im vergangenen Kapitel mit Blick auf Wagner und Nietzsche gezeigt, keine Erfindung der „klassischen“ Avantgarde sind, gehören zum etablierten Kanon theaterwissenschaftlicher Quellentexte. In der Regel werden sie dort angeführt, um die These vom großen Bruch zu befestigen. Diese Lesart ist allerdings weder zwangsläufig noch alternativlos. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Diskussion lässt sich an denselben Texten beispielsweise aufzeigen, dass sich die theoretischen Konzepte weder allein als ästhetisch, als politisch oder als kulturrevolutionär beurteilen und benennen lassen. Dabei stellt sich unter anderem heraus, dass eine disjunktive Bestimmung der verschiedenen avantgardistischen Intentionen – etwa als „unio mystica“ einerseits oder als beabsichtigte Aktivierung von Zuschauern andererseits – den Antinomien innerhalb des Diskursfelds „der“ Avantgarde nicht gerecht zu werden vermag. Zum anderen lässt sich herausarbeiten, dass die einzelnen Konzepte in ihren Formen und Intentionen zwar durchaus variantenreich, ihrer dichotomen Struktur und dem geschichtsphilosophischen Impetus nach aber erstaunlich homogen ausfallen. Gerade an diesem Punkt lässt sich zeigen, dass spätere, neoavantgardistische Positionen mit denselben Deutungsmustern von Inklusion und Exklusion operieren wie die historischen Avantgardebewegungen und dass auch bei ihnen romantische Verklärung von Vergangenheit und die Bejahung einer erneuerbaren Zukunft häufig Hand in Hand gehen. Ein fundamentales Problem bei einer solchen Veranschaulichung bipolarer und geschichtsphilosophischer Deutungsmuster betrifft die Auswahl der Texte. In der Theaterwissenschaft hat sich bekanntlich die Unterscheidung zwischen einer (moderateren) Theaterreformbewegung und einer (radikaleren) Theateravantgarde eingebürgert. Zu den Reformern werden u.a. Adolphe Appia, Peter Behrens, Georg Fuchs, Edward Gordon Craig und Jacques Copeau ge-
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt zählt.21 Dementsprechend werden ihre Texte nur am Rande berücksichtigt, wenn es um die Kunst der Avantgarde geht. Problematisch an dieser Vorgehensweise ist, dass damit die These vom avantgardistischen Bruch bereits auf der Materialebene befestigt und so eine inhaltliche Vorentscheidung schon vor der tatsächlichen Exegese getroffen wird. Demgegenüber erscheint es sinnvoller, zunächst die Texte beider Gruppierungen gleichermaßen zu berücksichtigen und erst danach zu entscheiden, ob und inwieweit hier womöglich unüberbrückbare Differenzen bestehen. Zwar unterscheiden sich zwei typische Autoren wie Appia und Marinetti ohne Zweifel deutlich in der Vehemenz ihres Vortrags und in der Radikalität, mit der sie ihre Thesen formulieren. Hinter rhetorischen Differenzen liegen jedoch zahlreiche inhaltliche Gemeinsamkeiten: Die Reformer formulierten ihre Thesen zwar moderater, sie waren aber von demselben Sendungsbewusstsein durchdrungen wie die Avantgardisten, sie operierten mit denselben kulturkritischen Topoi, sie stellten ähnlich weitgespannte Forderungen nach einer Versöhnung von Kunst und Leben und auch der ideengeschichtliche Horizont, vor dem sie ihre Programme entfalteten, war derselbe. Andersherum bezogen viele avantgardistische Künstler ihrerseits wichtige Impulse von dem Ende des 19. Jahrhunderts virulenten Gedanken des Volkstheaters.22 Die Plausibilität der Trennung zwischen Reformen und Avantgardisten leidet zusätzlich dadurch, dass sich wichtige Künstlerpersönlichkeiten der Zeit keiner der beiden Gruppierungen zuordnen lassen. Das gilt insbesondere für Autoren wie Maurice Maeterlinck, Stéphane Mallarmé und Alfred Jarry, die gegen herkömmliche, bürgerliche Theatersprachen opponierten und einen eigenen Theaterbegriff entwickelten, der ebenfalls gesellschaftlich umfassend angelegt war und weit über eine Erneuerung eines stilistischen Formenvokabulars hinausging.23 Die Umrisse dieses Programms blieben zwar häufig eher diffus, es war aber ähnlich polemisch gegenüber den herrschenden Zuständen ausgerichtet und setzte ähnlich hohe Erwartungen in das Veränderungspotential des Theaters. Die Auswahl der folgenden Texte soll stellvertretend für viele andere Vertreter der historischen Avantgarde die Gemeinsamkeiten und Unterschiede
21 Vgl. Manfred Brauneck: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Hamburg: Rowohlt 1989, S. 39ff; vgl. P. Simhandl: Theatergeschichte in einem Band, S. 362ff. 22 Vgl. Katharina Keim: „Körper – Raum – Bewegung. Tendenzen der Theateravantgarde zwischen Jahrhundertwende und Neuer Sachlichkeit“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Über Avantgarden, München: edition text + kritik im Richard-Boorberg-Verlag 2001, S. 105119, S. 105. 23 Vgl. M. Brauneck: Die Welt als Bühne, Bd. 3, S. 598ff. u. 605f.
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Theater als Ort der Utopie von den Theaterreformern bishin zu den Dadaisten veranschaulichen. Vor allen Dingen die Analogie von Fest und Theater als Projektionsfläche zur Herstellung einer neuen (später auch wahlweise sozialistisch oder faschistisch geprägten) Gemeinschaft deutet hier das beständige Kontinuum einer idealistischen Ästhetik an. Adolphe Appias Schrift aus dem Jahre 1899 „Die Musik und die Inscenierung“24 bildet hier die erste Auseinandersetzung und Weiterentwicklung mit Richard Wagners Theateridee in Form einer umfassenden Darstellungstheorie, die neben der Reflexion über die Funktion von Wort und Ton auch eine über die Umsetzung des szenischen Schauspiels ist.25 Raum und Zeit erhalten in diesem Konzept den Status gleichsam a priorischer Kategorien, die, analog zu Kants transzendentalen Verstandeskategorien von Raum und Zeit, die Idee einer erneuerbaren Bühnengestaltung präformieren. Nach Appia kann eine zeitgemäße und dem Theater gerechte Darstellungsweise nur dann erreicht werden, wenn man sich über die Bedeutung dieser Kategorien bewusst wird. Die Annäherung von Leben und Kunst soll demgemäß über die Annäherung einer umfassenden Dreidimensionalität erreicht werden, bei der der Kategorie der Zeit eine herausragende Rolle zugewiesen wird. Die Musik ist es, die Appia zufolge die Kategorie der Zeit zum Ausdruck bringt, die Darstellung hingegen bringt die des Raumes mit ins Spiel, ist sogar, Appia zufolge, der Grund ihrer Hervorbringung: „Der Umfang und die Bedeutung der Wort-Tondichtung (worunter ich die vollständige Partitur des Dramas verstehe) ersetzen also für den Interpreten dieses Dramas das Leben“.26 Die innerhalb der Theatertheorie seit Lessings „Laokoon“ herausragende Bedeutung der Kategorie Zeit wird auch für Appia damit zum Modus, der Analogie von Leben und Theater Nachdruck zu verleihen. Die Forderung einer Enthierarchisierung der Einzelkünste und die Apotheose des Augenblicks, also die Bekräftigung ästhetischer Kriterien, die später auch für das postdramatische Theater geltend gemacht werden, gehen dabei Hand in Hand: „Im Wort-Tondrama dagegen ist der Darsteller nicht mehr der einzige, auch nicht mehr der höchste Vermittler zwischen Dichter und Publikum; hier ist er: eines der Ausdrucksmittel, nicht mehr und nicht minder notwendig als alle übrigen Bestandteile des Dramas“.27 Die Musik hat hier als Zeitkunst unterstützende Kraft: „[…] indem sie gleichzeitig und mit der gleichen Genauigkeit den Inhalt des gegenwärtigen Augenblicks 24 Adolphe Appia: Die Musik und die Inscenierung, München: Bruckmann 1899. 25 Vgl. K. Keim: Körper – Raum – Bewegung, S. 107f. 26 A. Appia: Die Musik und die Inscenierung, S. 13. 27 Ebd., S. 15.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt und die in der Erinnerung auftauchende Vergangenheit ausdrückt“.28 Neben den zahlreichen Erörterungen Appias, die nicht nur für eine neue Darstellungskunst im Sinne einer Schaukunst, sondern auch für eine neue Bühnenästhetik bis hin zur Bühnenraumgestaltung plädierten, zeigt sich hier vor allem am Stellenwert der Kategorie der Zeit, wie sehr der Gedanke des Ephemeren gegenüber der Vorstellung einer qua Abbildbarkeit feststehenden Repräsentation profiliert wird. Die Homologie einer betont transitorischen Ästhetik als Fluchtpunkt einer repräsentationalen Ästhetik zur Idee des Fests begriffen, als einer sich in der Zeitordnung des „nunc stans“ vollziehenden Herstellung einer idealen Gemeinschaft – kurz, die Nachbarschaft von Ästhetik und gesellschaftlicher Utopie – deutet sich hier, wenn nicht als offene Sozialutopie, so doch als ästhetischer Entwurf eines neuen Theaters an. Auch wenn sich bei Appia keine expliziten Ausführungen zum Fest finden, wird die (nationale) Bedeutung Bayreuths als Festspielzentrum ausdrücklich betont. Es ist, so Appia, „ein Ort der Eintracht und bereichernden Austausches für alle Kulturen“.29 Exemplarisch für diese Idee steht schließlich der NietzscheAnhänger Peter Behrens mit seinem Entwurf eines neuen Theaterraums in „Feste des Lebens und der Kunst“ (1900). Der Maler und spätere Architekt und Industriedesigner tritt ein für eine Utopie des Theaters als Fest, die sich mit der Kritik an überkommenen traditionellen Kunstformen verbinden lässt und pathetisch als Bewegung einer inneren Notwendigkeit verteidigt wird: „In unserm rechten Stolz auf unsere Zeit, in unsrer Freude über das, was einzelne Künste an Neuem schon geschaffen haben, im Vertrauen auf das, was besseres noch zu schaffen ist, und anregend für uns zu höheren Zielen, wollen wir nun ein Haus errichten, das der gesamten Kunst eine heilige Stätte sein soll, ein Sinnbild unsres Überschusses an Kraft, zur Feier unserer Kultur.“30 Eine illusionsgebende Guckkastenbühne ist für Behrens dabei das denkbar inadäquateste Modell eines neuen Theaters. Behrens schlägt hingegen eine Sitzordnung vor, die offen ist, so dass „der Verkehr zwischen allen Plätzen ermöglicht bleibt“.31 Es gibt keine Verdunkelung und keine bestimmte Tageszeit, an der gespielt werden soll, die Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne soll durch eine amphitheatralische Anordnung aufgehoben werden, weder „Coulissen“ noch „Soffiten“ sollen das Theater von seiner eigentlichen Funktion ablenken. Ziel dieses ästhetischen Reduktionismus ist eine Funktion, die Beh28 Ebd., S. 14. 29 Ebd., S. 180. 30 Peter Behrens: Feste des Lebens und der Kunst. Eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kultursymbols, Darmstadt: Diederichs 1900, S. 5f. 31 Ebd., S. 13.
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Theater als Ort der Utopie rens wiederholt mit dem Begriff der Erhabenheit kombiniert, wie er bereits in den Schriften zur Ästhetik von Burke und Kant entfaltet wurde: „Soll nun das Theater keine Illusion geben? Gewiss! Es soll, denn es kann eine geben. Aber nicht die unmögliche der Natur, sondern die der Erhabenheit über sie: Kultur heißt diese Illusion! […] Wir wollen erhoben werden durch die Kunst, durch die der Dichtung wie der Darstellung, über die rohe Natur hinaus!“32 Behrens beschwört, wie knapp hundert Jahre später auch die Veranstalter von SPIELART, die Abschaffung unechter Bühnendekorationen und falscher Imitationsleistungen der Schauspieler. Anstelle dessen soll eine übersteigerte Leistung von Schauspiel und Ausstattung das gegenwärtig vorgeführte ins Erhabene transzendieren und den Zuschauer zum „Teilnehmer an einer Offenbarung des Lebens“33 werden lassen. Offen wird mit diesem utopischen Konzept dem gedanklichen Vater Richard Wagner eine Reverenz erwiesen, die die Ästhetik des Theaters als eine Ästhetik des Lebens begreift. Die buchstäblich raumgreifende Utopie des Theaters sollte eine lebensumspannende Utopie sein. Die Utopie des Theaters soll das Versprechen zur umfassenden Einheit abgeben, die das alltägliche Leben selbst nicht einzulösen vermag. Ein Topos, der, wie in Kapitel I. angeführt, explizit oder implizit auch die Theorien zum postdramatischen Theater und zur Performance Art begleitet. Man könnte es als Ironie der Geschichte bezeichnen, es ist aber vor allen Dingen eher der Disparatheit avantgardistischer Intentionen und ihrer Realisierbarkeit zuzurechnen, dass Behrens’ persönliche Lebensutopie, zumindest gegen Ende seines Lebens, nicht nahtlos aufging.34
32 Ebd., S. 10f. 33 Ebd., S. 12. 34 Der Architekt und Städtebauer Behrens war in seinen späteren Lebensjahren wiederholt um Anerkennung durch die nationalsozialistische Regierung, vor allen Dingen durch den Generalbauinspektor Albert Speer, bemüht. Diese wurde indes von den Nationalsozialisten selbst nicht in der gewünschten Form erbracht. Vgl. Georg Krawietz: Peter Behrens im Dritten Reich, Weimar: VDG 1995, S. 101f u. 143f. In diesem Zusammenhang dürfte auch die Korrektur des Einheits-Image von Interesse sein, wie es das 1933 geschlossene Bauhaus im Nachkriegsdeutschland genoss. Winfried Nerdinger verweist darauf, dass Walter Gropius, Mies van der Rohe und auch Oskar Schlemmer versuchten, sich zu Beginn der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten mit dem Regime zu arrangieren: „Gropius und Mies konnten 1934 noch Abteilungen der Ausstellung ‘Deutsches Volk – Deutsche Arbeit‘ gestalten, und Mies erhielt sogar anschließend noch den Auftrag zur Planung des deutschen Pavillions auf der Weltausstellung in Brüssel 1935.“ Winfried Nerdinger: „Modernisierung – Bauhaus – National-
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt Eine teleologisches Utopiekonzept grundiert auch Georg Fuchs’ Programmatik in „Die Schaubühne der Zukunft“ (1904).35 Fuchs polemisiert in militanter Rhetorik gegen ein „Leben aus zweiter Hand“ und verbindet diese Gegenwartskritik mit dem Plädoyer für eine neue Volksgemeinschaft: „Wir haben nicht nur die Künste befreit von den Fesseln und Larven der versunkenen Zeitalter, sondern wir haben den Kampf aufgenommen gegen j e d e fälschende Formung des Lebens.“36 Mit der seit Rousseau bewährten kulturkritischen Verfallsrhetorik beschwört er die Wiedergeburt einer Gesellschaft, „in welcher die Standesvorurteile der Feudalzeit vollkommen zurücktreten, und welche sich in schroffem Gegensätze fühlt zu der chaotischen Welt des ‚großen Publikums’, und zu ihrer parvenuhaften Pseudokultur.“37 Wie sehr sich Fuchs mit seinem Reformprogramm Richard Wagner verpflichtet fühlt, schlägt sich zum einen in seinen musikdramatischen Ausführungen nieder, wird aber vor allem in der zentralen Stellung deutlich, die die Metaphorik des Festes in seiner Konzeption einer neuen Schaubühne einnimmt. Wie in den jüngeren Debatten zur Funktion des postdramatischen Theaters ist auch Fuchs’ Programmatik von einem Sendungsbewusstsein getragen, das gegen einen in Routine befangenen Spielbetrieb Stellung bezieht. Gegenüber dem „konventionellen Theater“, das nur die „demütigende Talmikultur“ der „Imitation“38 hervorbringen kann, soll das neue Theater ein Antidot gegen die Kontingenz des Lebens sein, indem es die „Seele festlich zu ergreifen verspricht“ und den Zugang zu „intensiven Lebensformen“39 verkündet, Lebensformen, die, wie Fuchs betont, vor dem Verfall des Theaters selbstverständlich waren.40 Wie bei Wagner dient die Verfallsrhetorik also auch hier der Imagination einer Gesellschaft, die sich nicht als flexibles und plurales Funktionsganzes, sondern als organisch einheitliche Gemeinschaft versteht: „Diese Kunst ist mit dem Volke, oder sie ist überhaupt nicht.“41 Die These vom Verfall des traditionellen Theaters und der Notwendigkeit radikaler Veränderungen vertrat auch Edward Gordon Craig, der sich intensiv mit Adolphe Appia austauschte, seinerseits aber ausdrücklich nicht als Reformer angesprochen werden woll-
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sozialismus“, in: Ders. (Hg.): Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus, München: Prestel 1993, S. 9-23, S. 19f. Georg Fuchs: Die Schaubühne der Zukunft, Berlin, Leipzig: Schuster & Loeffler 1905. Ebd., S. 6f. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 39. Ebd., S. 70.
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Theater als Ort der Utopie te.42 Der reformatorische Anspruch seines Programms steht allerdings außer Zweifel. In „The actor and the Über-Marionette“ (1907) heißt es etwa: „Do away with the real tree, do away with the reality of action, and you tend towards the doing away with the actor. This is, what must come to pass in time, and I like to see the managers supporting the idea already. Do away with the actor, and you do away with the means by which a debased stage-realism is produced and flourishes.“43 Auch bei Craig ist die Zivilisationskritik, die durch seine Realismuskritik hindurchscheint, gepaart mit einer Verklärung vergangener, vermeintlich harmonisch-intakter Zeiten: „The marionette appears to me to be the last echo of some noble and beautiful of a past civilization. But as with all art which has passed into fat or vulgar hands, the puppet has become a reproach.“44 Die Puppe steht für eine ästhetische Idee, die das Leben selbst transzendieren soll.45 Dies gelingt allerdings nur in der größtmöglichen Entfernung von der Vorstellung einer adäquaten Abbildung einer vorgestellten Realität, die Craig vorschwebt und die er in der Negation jeglicher Form von Natürlichkeit anerkannt sieht – in der Über-Marionette, die selbst die Fäden zum sie dirigierenden Spieler durchschnitten und sich so von jeglicher Heteronomie befreit hat. Der Künstler ordnet sich die Dinge und Materialien unter und nicht umgekehrt. Das Bild von der Über-Marionette, deren Daseinssinn „beyond-life“ zu suchen ist, ist ein Amalgam aus Kleists Gedanken zum Marionettentheater und Nietzsches Konzept des Übermenschen, verbunden mit einer impliziten Technikbegeisterung, wie sie dann explizit von den italienischen Futuristen vorgetragen wird. Das zeigt noch einmal, wie wenig sinnvoll eine allzu mechanisch vorgenommene Trennung zwischen reformerischen und avantgardistischen Künstlern und Bewegungen ist. Gerade der Futurismus steht, seinem eigenen Anspruch zum Trotz, im selben ideengeschichtlichen Strom, der auch die reformatorische Programmatik
42 Das notiert Craig ausdrücklich in „Some Evil Tendencies Of The Modern Theatre“ (1908), einem Essay, in dem er nicht nur gegen die Hektik und mangelnde Ruhe der „business men“ am Theater polemisiert, sondern auch gegen deren Geschäftstüchtigkeit. Tendenzen zur „Verbesserung“, wenn auch nur marginale, sieht Craig am Court Theatre London, am Deutschen Theater Berlin, am Moskauer Künstlertheater und am Théâtre Antoine in Paris. Vgl. Edward Gordon Craig: „Some Evil Tendencies Of The Modern Theatre“, in: Ders.: On the Art of Theatre, London: Mercury Books 1962, S. 95-111, S. 95. 43 Edward Gordon Craig: „The Actor and the Über-Marionette“, in Ders.: On the Art of Theatre, S. 54-94, S. 81. 44 Ebd., S. 82. 45 Vgl. ebd., S. 84.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt speist. Insofern muss die Selbstverständlichkeit überraschen, mit der die Veröffentlichung des ersten futuristischen Manifests durch Filippo Tommaso Marinetti im Pariser „Figaro“ am 20. Februar 1909 gemeinhin als historisches Ereignis, als Zäsur betrachtet und zum Anfangspunkt von etwas qualitativ Neuem erklärt wird.46 Zweifellos ist Marinettis politisch-ästhetischer Anspruch außergewöhnlich radikal, doch dies eben nicht nur im Vergleich zu den sogenannten Reformern, sondern auch zu anderen Positionen innerhalb der Avantgarde, die ja ihrerseits kein monolithischer Block war, sondern ein loses Mit-, Neben- und Gegeneinander verschiedener Konzepte und ästhetischer Ausdrucksformen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass im Gefolge des futuristischen Manifests die Zahl ähnlich strukturierter Bekenntnisschriften sprunghaft ansteigt, dass man also durchaus, wie Walter Fähnders notiert hat, vom Beginn einer „Manifestomanie“ sprechen kann, einem Bekenntnisfieber internationalen Ausmaßes, bei dem die Autoren allerdings häufig nicht mehr verband, als dass sie im Fragmentarischen den Anspruch aufs Totale erhoben.47 Die im ersten futuristischen Manifest offen zur Schau gestellte Destruktionswut bleibt allerdings uneinholbar. In elf Punkten entfaltete Marinetti eine rauschhafte, chauvinistische Apotheose der Gewalt und des Krieges, als „einzige Hygiene der Welt“, der Menschenmassen, der Geschwindigkeit, der Industrialisierung, gepaart mit der „Verachtung des Weibes“, des Moralismus, der Bibliotheken, Museen und Akademien.48 Nur die Zerstörung ist es, die für Marinetti den Weg aus den lähmenden Klauen der Vergangenheit und einer als paralysiert wahrgenommenen Gegenwart weisen kann: „Drauf! Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken! ... Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen!... Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen!.“49
46 Vgl. Wolfgang Asholt/Walter Fähnders: „Der Futuristische Aufbruch der Avantgarde (1909-1916)“, in: Dies. (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 1f., S. 1. 47 Vgl. Walter Fähnders: „Projekt Avantgarde und avantgardistischer Manifestantismus“, in: Ders./Wolfgang Asholt (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam: Rodopi 2000, S. 69-95. Als gattungstypische Eigenschaften dieser zunächst im Bereich des Politischen anzutreffenden Textsorte gelten: Diskursive Programmatik, Eindeutigkeit und Öffentlichkeit des Textes. Vgl. ebd., S. 77. 48 Vgl. F. T. Marinetti: „Manifest des Futurismus“, in: W. Asholt: Manifeste und Proklamationen, S. 4-7, S. 5. 49 Ebd., S. 6.
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Theater als Ort der Utopie Es liegt nahe, dass die Futuristen bei ihren Aktionen aufgrund ihrer Ablehnung eines bürgerlichen Kunstbegriffs, Anleihen bei populären Unterhaltungsformen nehmen: der Music-Hall, dem Varieté und schließlich dem Kabarett, die sich als Unterhaltungsprogramme seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bewährt hatten. Kennzeichen ist eine Nummerndramaturgie, die keine geschlossene Handlung aufweist und den Fokus vor allem auf die visuelle und akustische Abfolge von sich überbietenden (komischen) Überraschungen legt, wodurch die inhaltliche Forderung nach Erneuerung auch als dramaturgische Strategie zum Tragen kommt.50 Marinettis praktisches Wirken bleibt, anders als bei anderen Avantgarde-Vertretern, keineswegs auf eine ästhetische Programmatik und ihre Realisierung beschränkt. Als Anhänger des Irredentismus trat Marinetti schon früh für die nationalistische Bewegung ein, die politisch konkrete Gestalt annimmt, als Marinetti im Jahr 1919 selbst für die faschistische Partei im Wahlkreis Mailand kandidiert.51 Allerdings blieb der Faschismus-Begriff der Futuristen diffus und ihr Verhältnis zur Politik widersprüchlich.52 Auch wenn die realpolitische Bedeutung des Futurismus insgesamt wohl eher gering war: Als Indiz für die komplexen Verwicklungen von Macht und Kunst jener Zeit verweist die futuristische Inanspruchnahme der Kunst für politische (Propaganda-)Zwecke wohl am deutlichsten auf die Antinomien des Autonomiebegriffs, die sich auch aus der Retrospektive nicht mittels einheitlicher Begriffsbestimmungen glätten lassen. Marinetti steht im Kontext vitalistischer Lebenskonzepte, die ähnlich wie die Festtheorien Wagner’scher Prägung, die Rettung der Welt und des Menschen durch die Erfahrung des Außerordentlichen vorsehen. Allerdings sieht Marinettis Festprogramm nicht mehr die Ekstase des Musikdramas, sondern ein Purgatorium aus Krieg und Exzess vor. Weniger bellizistisch, aber ebenso grundstürzend waren die Vorstellungen, mit denen die russischen Avantgardisten an die Konzepte der italienischen Futuristen anknüpften. Auch ihnen ging es um die Kritik an einem erstarrten bürgerlichen Kunstbegriff mit den Mitteln der Kunst. In dem vorrevolutionären Manifest „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ (1912) sprechen die unterzeichnenden Künstler Wladimir Majakowski, David Burljuk, Welimir Chlebnikow und Alexej Krutschonych eine deutliche Sprache: „Puškin, Dostojevskij, Tolstoj usw. sind vom Dampfer der Gegenwart zu wer50 Vgl. Susanne de Ponte: Aktion im Futurismus. Ein Versuch zur methodischen Aufarbeitung von ‚Verlaufsformen‘ der Kunst, Baden-Baden: Koerner 1999, S. 107ff. 51 Vgl. Manfred Hinz: „Futurismus und Faschismus“, in: W. Asholt/W. Fähnders: Der Blick vom Wolkenkratzer, S. 449-466. 52 Vgl. ebd.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt fen. […] Aus der Höhe von Wolkenkratzern blicken wir herab auf ihre Nichtigkeit.“53 Auf dem Theater richtete sich die Ablehnung vor allem gegen den seit Jahrzehnten in Wiederholung erstarrten Spielplan und den naturalistischen Inszenierungsstil, wie er etwa am Moskauer Künstlertheater, dem MChaT, unter Konstantin Stanislawski praktiziert wurde. Gegen einen mimetischen Darstellungsstil in der Malerei polemisierte der Begründer des Suprematismus Kasimir Malewitsch. In dem Pamphlet „Über das Museum“ (1919) notierte er: „Anstatt Altes anzusammeln müssen wir Werkstätten eines allgemeinen schöpferischen Bauapparats einrichten, und aus seinen Achsen werden Künstler der lebendigen Formen und nicht toter Darstellungen des Gegenständlichen treten.“54 Es ist dem ideellen Absolutheitspathos avantgardistischer Teleologie geschuldet, dass Malewitsch sich in seinen Schriften, wie später Michail Bachtin, des „archaistischen, neoprimitivistischen Motivschatzes einer Korporalisierung von Kosmos und Welt“55 bediente – ein Absolutheitspathos, das allerdings wiederum im Widerspruch zu linksutopischen Entwürfen von Vertretern des Proletkult stand.56 In dem Traktat „Gott ist nicht gestürzt“ verleiht Malewitsch dem Streben nach einer „unio mystica“ Ausdruck: „Er (der Mensch, Anm. d. Verf.) als einziger begann nach einer Erkenntnis der Natur als dem Gott der Vollkommenheit zu streben, herausgetreten aus dem Nichtdenken als der absoluten Vollkommenheit, strebt er erneut danach, sich über seine vollkommenen Gegenstände in die Vollkommenheit absoluten, nichtdenkenden Wirkens hineinzuverkörpern, […].“57 Während Marinetti die Zerstörung der alten Ordnung propagierte, aber als Ekstatiker der Destruktion wenig darüber zu sagen hatte, was nach dem orgiastischen Fest der Zerstörung eigentlich noch kommen sollte, projektierten die russischen Futuristen von vornherein den Wiederaufbau einer neuen Gesellschaftsordnung. Mit der Revolution von 1917 schienen diese Überlegungen eine realpoliti-
53 David Burljuk u.a.: „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“, in: Ders. u.a. Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack. Russische Futuristen, Hamburg: Edition Nautilus 2001, S. 55f. 54 Kazimir Malevič: „Über das Museum“, in: Boris Groys/Aage Hansen-Löve (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 203-210, S. 207. 55 Aage Hansen-Löve: „Anmerkungen. Gott ist nicht gestürzt“, in: Ders. (Hg.): Kazimir Malevič. Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik, München: Hanser 2004, S. 475-499, S. 480. 56 Auf die ablehnende Reaktion von Malevičs Traktat seitens der linksutopischen Kunstavantgarde verweist Hansen-Löve ebenfalls. Vgl. ebd., S. 476. 57 Kazimir Malevič: „Gott ist nicht gestürzt“, in: A. Hansen-Löve: Kazimir Malevič, S. 64-106, S. 76f.
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Theater als Ort der Utopie sche Basis bekommen zu haben.58 Die russischen Avantgardisten empfanden sich in den ersten Jahren danach deshalb zunächst noch als Teil der revolutionären Bewegung und versuchten aktiv den Schulterschluss: „Revolutionär bedeutete für sie“, so Boris Groys, „affirmativ zu sein in Bezug auf die herrschende revolutionäre Macht.“59 Kunst konnte dementsprechend nicht mehr autonom sein, sondern musste Teil der vita activa werden.60 In der von Wladimir Majakowski herausgegebenen Zeitschrift LEF (Linke Front der Künste) erschien 1923 das Manifest „Perspektiven des Futurismus“ von Sergej Tretjakov, das diesen Impetus in wenigen Worten vermittelt: „Und wenn das Maximalprogramm der Futuristen die Auflösung der Kunst im Leben, die bewusste Reorganisation der Sprache im Hinblick auf den neuen Alltag und der Kampf um das emotionale Training der Produzenten-und Konsumenten-Psyche ist, so besteht das Minimalprogramm der futuristischen Wortarbeiter darin, ihr sprachliches Können in den Dienst der praktischen Tagesaufgaben zu stellen.“61 Während die vorrevolutionäre und revolutionäre Zeit von der Entstehung unterschiedlichster Gruppierungen geprägt war, wurden die avantgardistischen Tendenzen mit dem Erstarken der sowjetischen Regierung zunehmend kanalisiert, ehe die Kunst in den 30er Jahren mit der Proklamation des Sozialistischen Realismus endlich vollkommen unter das Diktat der Partei gestellt wurde. Fast zur gleichen Zeit, als in Italien die Futuristen auf den Plan treten, veröffentlicht Wassily Kandinsky 1911 seine theoretische 58 Die Ziele der einzelnen Künstler und der Vertreter der neuen Institutionen divergierten auch hier. Innerhalb des Narkompros, des von der bolschewistischen Partei gegründeten Volkskommissariats für Kultur und Bildung, wurde 1917 die IZO, die Abteilung für bildende Kunst, ins Leben gerufen, deren Künstlerkollegium auch Wladimir Majakowski angehörte. Zum Leiter der Theaterabteilung, TEO, wurde Wsevolod Meyerhold berufen. Da das ästhetische Vokabular der Futuristen nicht mehr ausreichend die gesamtpolitische Idee vermittelte, wurde 1918 auf der ersten gesamtrussischen Konferenz Proletarischer Kulturorganisationen in Moskau die Vereinigung Proletarskja kul‘tura (Proletkul‘t) gegründet, die mit der Herstellung einer genuin proletarischen Kultur betraut war und sich den Aktivitäten der Arbeiterklasse im Sinne der Revolution widmen sollte. Den Vertretern des Poletkul‘t galt der Futurismus als zu bürgerlich und der politischen Idee unangemessen. Vgl. Christian Mailand-Hansen: Mejerchol‘ds Theaterästhetik in den 1920er Jahren – ihr theaterpolitischer und kulturideologischer Kontext, Kopenhagen: Rosenkilde und Bagger 1980, S. 27ff. 59 Boris Groys: „Im Namen des Lebens“, in: B. Groys/A. Hansen-Löve: Am Nullpunkt, S. 11-22, S. 13. 60 Vgl. ebd. 61 Sergej Tret‘jakov: „Perspektiven des Futurismus“, in: B. Groys/A. HansenLöve: Am Nullpunkt, S. 267-276, S. 271.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt Hauptschrift „Über das Geistige in der Kunst“.62 Während sich die Futuristen in ihrer Zweckbestimmung ganz auf die Affirmation des Materiellen berufen – bis hin zum Eingreifen in die politische Praxis –, ist Kandinskys Kunstbegriff ganz auf eine immanente Transzendenz gerichtet. Kandinskys unsystematischer Zukunftsentwurf richtet sich gegen die Vergröberungen der Seele, gegen die selbstgenügsame Parole des „l’art pour l’art“ und gegen eine Kunstwelt, die von Habgier, Befriedigung des Ehrgeizes und einer daraus resultierenden Überproduktion gekennzeichnet sei.63 Die Unfähigkeit des Publikums, „feinere Gefühle“ zu entwickeln, soll durch eine neue Ästhetik kompensiert werden.64 Denn die eigentliche Funktion der Kunst liege vor allem in ihrer „prophetischen Kraft“, die nicht einmal die herkömmlichen Religionen zu erreichen vermögen.65 Sein teleologisches Weltbild begründet Kandinsky allerdings nicht mehr mit der Konstruktion eines dreistufigen Geschichtsmodells, sondern mit der eines geistigen Dreiecks, das sich ständig nach „vor- und aufwärts“ bewege und an dessen Spitze allein, das Echo Nietzsches ist zu vernehmen, ein mit Sehergabe ausgestatteter Mensch stehe.66 Angesichts der diagnostizierten Verfallserscheinungen innerhalb der westlichen Kultur wird für Kandinsky die Kunst der sogenannten Primitiven, wie sie etwa die Inder hervorgebracht hätten, zur Inspirationsquelle einer Erneuerungsbewegung, die sich von starren Denksystemen befreien soll.67 Mit den Dadaisten wie Hugo Ball, Tristan Tzara und Richard Huelsenbeck, die innerhalb der Theaterhistoriographie als dritte bedeutende antibürgerliche Oppositionsbewegung nach Expressio-
62 Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst insbesondere in der Malerei, Bern: Benteli 2004. 63 Vgl. ebd., S. 29f. 64 Vgl. ebd., S. 27. 65 Kandinsky notiert: „Das geistige Dreieck bewegt sich langsam nach vorund aufwärts. Heute erreicht eine der untersten größten Abteilungen die ersten Schlagworte des materialistischen ,Credo‘ – religiös führen ihre Einwohner verschiedene Titel. Sie heißen Juden, Katholiken, Protestanten usw. In Wirklichkeit sind sie Atheisten, was einige der Kühnsten oder Beschränktesten auch offen bekennen […] Wissenschaftlich sind sie Positivisten und anerkennen nur das, was gewogen, gemessen werden kann. […] In der Kunst sind sie Naturalisten, wobei sie bis zu einer gewissen Grenze, die von anderen gezogen wurde und an die sie deswegen unerschütterlich glauben, Persönlichkeit, Individualität und Temperament des Künstlers anerkennen und schätzen.“ Vgl. ebd., S. 40f. 66 Ebd., S. 33. 67 Auch in Alfred Kubin und Maurice Maeterlinck und dessen Anwendung des Wortes als „innerer Klang“ sieht er einen der ersten „Hellseher des […] Niederganges.“ Ebd., S. 49.
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Theater als Ort der Utopie nismus und Futurismus gelten,68 erleidet das Pathos vom radikalen Bruch erstmals selbst deutliche Risse. Zwar prägt der appellative Charakter der futuristischen Manifeste auch die dadaistischen Schriften, die überdies allesamt kämpferisch Partei für Künstler und Bewegungen mit avantgardistischem Anspruch nehmen, und das bemerkenswerterweise unabhängig von der Radikalität und Konsequenz der jeweiligen Position – die Beschwörung der gemeinsamen Identität einer oppositionellen Kunstbewegung überspielt also auch weiterhin die größten inhaltlichen Gegensätze. So wird der im Vergleich mit den Dadaisten geradezu quietistische Mystiker Kandinsky bei Hugo Ball zu einer Lichtfigur in der düsteren Gegenwart, der es beschieden sei, die Position des Propheten zu bekleiden: „Kandinsky ist Befreiung, Trost, Erlösung und Beruhigung. Man sollte wallfahren zu seinen Bildern: sie sind ein Ausweg aus den Wirren, den Niederlagen und Verzweiflungen der Zeit.“69 Dabei gehören Prophetie und Verfolgtsein für Ball zusammen. Künstler wie Kandinsky „stehen im Gegensatz zur Gesellschaft wie die Ketzer des Mittelalters“.70 Vor dem Hintergrund der Zerstörungen durch den Ersten Weltkrieg, die der Kreis um Ball vom Schweizer Exil aus verfolgte, war das künstlerische Selbstverständnis bei Dada allerdings von einer latenten Skepsis geprägt, die sich von den italienischen und russischen Avantgardegruppen substantiell unterschied. Sie betraf sowohl das Vertrauen in den technischen Fortschritt, der sich als inhuman herausgestellt hatte, als auch die Hoffnung auf die politische Vernunft, die offenbar versagt hatte,71 und schließlich den Glauben an die gesellschaftsverändernde Kraft der Kunst. Die darin implizierte Selbstkritik macht sich bereits im ersten dadaistischen Manifest von 1916 bemerkbar: „Ein internationales Wort. Nur ein Wort und das Wort als Bewegung. Sehr leicht zu verstehen. Es ist ganz furchtbar einfach. Wenn man eine Kunstrichtung da-
68 Vgl. G. Berghaus: Theatre, Performance, and the Historical Avantgarde, S. 135. 69 Hugo Ball: „Kandinsky. Vortrag. gehalten in der Galerie Dada (Zürich, 7. April 1917)“, in: Burkhard Schlichting (Hg.): Hugo Ball. Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 41-53, S. 45. 70 Ebd., S. 43. 71 Dada-Berlin nimmt hier eine Ausnahmestellung ein. Richard Huelsenbeck und George Grosz verstanden sich mit ihren Aktionen als legitime Mitglieder der Arbeiterbewegung. In seiner Zeit in Berlin gehörte Hugo Ball zur Redaktion der linksradikal orientierten Zeitschrift „Die Aktion“, darüber hinaus rezipierte er die Schriften Gustav Landauers und Michail Bakunins. Vgl. G. Berghaus: Theatre, Performance, and the Historical Avantgarde, S. 136ff.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt raus macht, muss das bedeuten, man will Komplikationen wegnehmen. Dada Psychologie, Dada Deutschland samt Indigestionen und Nebelkrämpfen, Dada Literatur, Dada Bourgeoisie, und ihr, verehrteste Dichter, die ihr immer mit Worten, aber nie das Wort selber gedichtet habt, die ihr um den nackten Punkt herumdichtet. Dada Weltkrieg und kein Ende, Dada Revolution und kein Anfang, Dada ihr Freunde und Auchdichter, allerwerteste, Manufakturisten und Evangelisten Dada Tzara, Dada Huelsenbeck, Dada m’dada. Dada m’dada Dada mhm, dada dera dada Dada Hue, Dada Tza.“72
Neologismen, verdrehte Syntax, die Bindung der Schreibweise an die Phonetik bilden das ästhetische Instrumentarium dadaistischer Lyrikproduktionen. Doch die ästhetische Strategie ist keineswegs Selbstzweck. Auch wenn der Inhalt von einem radikalen Skeptizismus zeugt, ist das Vertrauen in die ästhetische Form offenbar ungebrochen: Das idealistische Telos ist in Form einer nicht hintergehbaren Artikulation, als negative Ästhetik in die ästhetischen Verlautbarungen integriert. Die negative Ästhetik des Dadaismus sollte bis in die neoavantgardistischen Bewegungen hinein das Bild von der Artikulation des Unaussprechlichen prägen: „Das ‚Poème simultan‘ handelt vom Wert der Stimme. Das menschliche Organ vertritt die Seele, die Individualität in ihrer Irrfahrt zwischen dämonischen Begleitern. Die Geräusche stellen den Hintergrund dar; das Unartikulierte, Fatale, Bestimmende. […] In typischen Verkürzungen zeigt es den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar ist.“73 Die Gegenwart wird, wie bei allen anderen Gruppen auch, als prekär erfahren. Und auch wenn der ernsthafte pathetische Gestus einer sozialutopischen Konzeption bei den Dadaisten eine selbstironische Wendung erfährt, bleibt auch hier der Glaube an die Veränderbarkeit von gesellschaftlichen Zuständen mit den Mitteln der Kunst grundsätzlich bestehen. D.h., die geschichtsphilosophische Konzeption und die Denkmuster von Inklusion und Exklusion bilden bei sämtlichen avantgardistischen Konzeptionen die Basis, von der aus die unterschiedlichen Weisen einer erhofften Absolutheitserfahrung konstruiert werden können – mystisch bei Kandinsky, als faschistische oder sozialistische Erlösungshoffnung bei den italienischen und russischen Futuristen, selbstironisch gebrochen bei den Dadaisten. Die immanenten Antinomien, die in den theoretischen Konzeptionen zutage treten – etwa der Widerspruch zwischen autonomer Kunst und utilitaristischem Anspruch – können auch hier 72 Hugo Ball: „Das erste dadaistische Manifest (Zürich, 14. Juli 1916)“, in: B. Schlichting: Hugo Ball, S. 39-40, S. 39. 73 Hugo Ball: „Das Wort und das Bild“, in: Ders.: Die Flucht aus der Zeit, Leipzig: Duncker & Humblot 1927, S. 75-191, S. 85f.
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Theater als Ort der Utopie nur um die Preisgabe einer Befürwortung dieser Antinomien erkauft werden. Auf empirischer Ebene zeigt sich die Widersprüchlichkeit der Konzeption. Der ideelle Gedanke war nicht ohne weiteres durchzusetzen. Er war wiederholt von innen und außen bedroht. So weist Beyme darauf hin, dass es, abseits der einzelnen mehr oder weniger homogen zu bezeichnenden idealistischen Intentionen einzelner Künstler, bei den diversen Strömungen zwar zu internationalen Gruppenbildungen bishin zu eindeutigen Imitationen kam, dass diese aber in sich wiederum weit weniger geschlossen ausfielen als häufig suggeriert. Abgrenzungshaltungen der einzelnen Künstler untereinander stellten einen wichtigen Modus zur Herstellung der eigenen Identität dar.74 Wer welcher Gruppe angehörte, konnte letzten Endes nicht das subjektive Selbstempfinden des Künstlers entscheiden, sondern, wie Beyme erörtert, seine Anerkennung von außen. Gebrochen wurde das Gruppenbewusstsein ohnehin auch von sich zu Einzelgängern stilisierenden Künstlern, die sich, wie etwa Marcel Duchamp, dem „Konformismus des Anti-Konformismus“75 entzogen. Insgesamt betrachtet führte der Druck von außen zu einer Verstärkung der Identität nach innen: „Das Gruppenbewusstsein des Großaggregats, das über die sich befehdenden Ismen hinausreichte, wurde vor allem durch die Feindseligkeit einer öffentlichen Meinung und später durch die Repressionen der Diktaturen von Russland bis Spanien erzeugt.“76 Die durch Diktaturen hervorgerufenen „Wanderungsbewegungen“ führten Beyme zufolge schließlich dazu, dass sich die Avantgarde in Amerika etablieren konnte. Damit ergab sich nicht nur eine topographische Verschiebung der Avantgarde, sondern auch der Beginn einer Historiographie, die innerhalb der gegenwärtigen Theaterwissenschaft hauptsächlich an den stilistischen Einflüssen und Modifikationen amerikanischer Künstler auf die heutige Ästhetik des Performance- und des postdramatischen Theaters bemessen wird. Das folgende Kapitel unternimmt demgegenüber eine Neuperspektivierung der Rezep74 So ist es beispielsweise die Feindschaft gegenüber dem Expressionismus, die den Dadaisten – die Beyme als die am stärksten pluralisierte Bewegung bezeichnet – zunächst zur Einheit verhalf. Diese löste sich aber bald, gerade aufgrund von Rivalitäten und der Erkenntnis einer Selbstausbeutung, auf. Zentrifugale Kräfte gab es in der auf den ersten Blick am längsten bestehenden Bewegung – bei den italienischen Futuristen. Recht disparate Anschauungen führten schließlich auch zu Distanznahmen einzelner Künstler dem „Chefideologen“ Marinetti gegenüber, was wiederholt zu Modifikationen der Positionierung des Futurismus führte. Vgl. K. v. Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden, S. 116ff. 75 Ebd., S. 107. 76 Ebd., S. 37.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt tion der Avantgarde in Amerika und damit den Versuch einer anderen Historisierung, die dem erweiterten Avantgarde-Begriff, wie Beyme ihn vorgeschlagen hat, gerecht werden soll.
IV.3 Topographie eines Perspektivwechsels: Perspektivwechse ls: Von Europa in die USA oder die Neoavantgarde im Widerspruch zwischen Wiederholung und Neuschöpfung Die umfassenden Fluktuationen durch die Emigration europäischer Künstler und Intellektueller und die Rezeption der europäischen Avantgarde in den USA haben nicht nur die Theater-, Performanceund Theater- und Kunstgeschichte selbst maßgeblich beeinflusst, sondern auch die Perspektive, aus der die sogenannte Neoavantgarde historisch bis heute aufgearbeitet wird. Die Rezeption der Avantgarde durch amerikanische Künstler ist auch innerhalb der theaterwissenschaftlichen Forschung zu einer wichtigen Bezugsgröße geworden, um gegenwärtige Phänomene erklärbar zu machen. Sie markiert nach der historischen Avantgarde gleichsam eine Art zäsurbildende Zwischenetappe zu gegenwärtigen, als avantgardistisch bezeichneten, ästhetischen Ausdrucksformen. Eine eindeutige Bestimmung, aus welcher Perspektive nun vor allem die Performance Art wissenschaftlich als „Erstes“ aufgearbeitet wurde, ist indes schwer auszumachen, da es, wie zu zeigen sein wird, immer wieder darauf ankommt, aus welcher Perspektive und in welchem Kontext sie geschildert wird – aus der Sicht der Theaterwissenschaft, respektive des Theaters, oder aus der Sicht der Kunstgeschichte, respektive der bildenden Kunst. Zudem ist von Interesse, aus welcher nationalen Perspektive die Historie geschildert wird: aus amerikanischer oder europäischer, respektive deutscher Sicht. Die deutsche Theaterwissenschaft hat, wie in Kapitel I. erörtert, auf die neoavantgardistischen Experimente innerhalb der amerikanischen Kunstgeschichte hingewiesen. So werden die Performances von John Cage am Black Mountain College zum Stiftungsereignis einer performativen Kultur erklärt, die die Theaterästhetik seither maßgeblich beeinflusst habe. Nicht mehr ging es seither, so der zentrale Topos, um das Repräsentieren außertheatraler Handlungen, sondern um das Ausführen realer Handlungen im „Hier und Jetzt“. Die deutsche Theaterhistoriographie folgt hier, wie bereits erwähnt, der amerikanischen Perspektive, wie sie bereits von RoseLee Goldberg aufgestellt worden ist.77 Die jüngere amerikanische Historiographie hat demgegenüber vor allem den Abstrakten 77 Vgl. R. Goldberg: Performance Art.
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Theater als Ort der Utopie Expressionismus mit seinen Künstlern, wie Jackson Pollock, Mark Rothko und Barnett Newman und die berühmt gewordenen „Action Paintings“ von Jackson Pollock zum US-amerikanischen Anknüpfungspunkt an die europäische Avantgarde erklärt, der in den Aufsätzen Clement Greenbergs zugleich seine theoretische Begründung fand. Hier zeigt sich, dass aus der Perspektive der bildenden Kunst das Verlassen des durch einen Rahmen geschlossenen Tafelbilds und das bis dato nicht übliche Vorführen der Aktion des Malens in Raum und Zeit, die Möglichkeit bieten, eine Art Ursprungsmythos der Performance Art zu begründen. Der Malakt vereint dabei mehrere Funktionen: Er ist Artefakt, ohne Kunstwerk zu sein. Zugleich ist er unverkäuflich und bestätigt in der Apotheose des Momenthaften die Verweigerung jeglicher Form von Dauer.78 Auch wenn diese divergierenden Haltungen der jüngeren Performance-Studien unterschiedliche Schwerpunktsetzungen offenlegen, weisen sie eine Gemeinsamkeit auf: sie können letzten Endes auf einen, innerhalb der Performance-Studien etablierten Kanon zurückgreifen, sowohl die Praxis als auch die Theorie betreffend. Zu diesem gehören zum einen ebenso anerkannte Künstler und Aktionen wie John Cage mit seinen Performances, Yves Klein mit seinen „Anthropometrien“, die Happenings von Allan Kaprow, George Maciunas, Dick Higgins, Chris Burden, Vico Acconci und Carolee Schneemann und, unter anderen, die theoretischen Beiträge eines Clement Greenberg, Michael Fried, Michael Kirby oder Richard Schechner. Nicht zu vernachlässigen sind auch hier die Beiträge zu einer Identitätsherstellung über Kommentare und Texte der Künstler selbst. So erklärte John Cage 1973 beispielsweise: „Wie Duchamp möchte ich die Unterschiede zwischen Kunst und Leben, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Darsteller und Publikum usw. aufheben.“79 Die Lektüre von Antonin Artauds „Das Theater und sein Double“ war, wie Cage 1974 erörtete, für die Entwicklung einer neuen ästhetischen Ausdrucksform von ausschlaggebender Bedeutung.80 Allan Kaprow wiederum stellte selbst den Einfluss von 78 Henry M. Sayre schreibt hierzu: „[…] the abstract expressionism recognized that the action painting itself was the mere record of the series of moves that was the action of painting. The ,work‘ as activity was privileged in this way over the ,work‘ as product. A museum might well have purchased a Pollock, but it could never purchase the action of Pollock painting – the event itself, the real work.“ H. M. Sayre: The object of Performance, S. 4. 79 John Cage: „John Cage über sich selbst“, in: Richard Kostelanetz (Hg.): John Cage im Gespräch zu Musik, Kunst und geistigen Fragen, Köln: DuMont 1989, S. 10-42, S. 32. 80 Vgl. John Cage: „John Cage über seine Performances“, in: R. Kostelanetz: John Cage, S. 89-108, S. 92. John Cage selbst hebt bei einer Beschreibung von „4‘33‘‘“ das Ereignishafte der Performance hervor: „Ich glaube, mein
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt John Cage und Jackson Pollock für seine eigene Arbeit heraus. Dabei ging er mit seiner Zurückweisung eines „konventionellen“, von Sprache dominierten Theaters sogar so weit, den Einsatz von Berufsschauspielern für seine Happenings zu vermeiden: „They wanted to have stellar roles. They wanted to speak for the most part, and I utilized little verbiage in my work. And all the things which I suggested were quite contrary to their background. Even with the best of intentions, they were very self-conscious and awkward.“81 Auf programmatischer und theoretischer Seite wurden also bereits Mitte der 60er und in den 70er Jahren Kennzeichen der Performance zusammengefaßt, auf die dann auch noch Ende der 90er affirmativ zurückgegriffen werden konnte. So beinhaltet etwa Jerome Rothenbergs Charakteristik der sich neu etablierten Kunstform „Performance“ bereits alles, was auch in späteren Diskursen für spätere Erscheinungsformen der Performance und des postdramatischen Theaters geltend gemacht wird: „There is an unquestionable and far-reaching breakdown of boundaries and genres: between ‚art and life‘ (Cage, Kaprow), between various conventionally defined arts (intermedia and performance art, concrete poetry), and between arts and non-arts (musique concrète, found art, etc.).“82 Dazu gehören, unter anderen, Aspekte wie „a continuum, rather than barrier, between music and noise; between poetry and prose […]; between dance and normal locomotion“, „no hierarchy of media in the visual arts, no hierarchy of instrumentation in music“, „a move away from the idea of ,masterpiece‘ to one of the transientness and self-obsolence of the art-work“.83 Auch der Verweis auf Victor Turners Begriff der Liminalität ist 1977 bereits integrativer Bestandteil der P ferformance-Studien: „The action hereafter is ‚between‘ and
bestes Stück, zumindest das, was ich am liebsten mag, ist das stille Stück („4‘33‘‘“, 1952). Es hat drei Sätze, und in keinem dieser Sätze gibt es einen Ton. Ich wollte mein Werk von meinen Neigungen und Abneigungen befreien, da ich der Ansicht bin, dass Musik nicht von den Gefühlen und Gedanken des Komponisten abhängen darf. […] Es gibt keine Stille. Das, was man als Stille […] empfand, war voller zufälliger Geräusche […]. Während des ersten Satzes […] konnte man draußen den Wind heulen hören. Im zweiten Satz prasselte Regen aufs Dach, und während des dritten Satzes machte das Publikum allerhand interessante Geräusche.“ John Cage: „John Cage über seine Musik bis 1970“, in: R. Kostelanetz: John Cage, S. 57-73, S. 62f u. 59. 81 Allan Kaprow: „A statement“, in: Michael Kirby (Hg.): Happenings. An illustrated Anthology, New York: Dutton 1965, S. 44-66, S. 48. 82 Jerome Rothenberg: „New Models, New Visions. Some Notes Toward a Poetics of Performance“, in: M. Benamou/C. Caramello: Performance in Postmodern Culture, S. 11-17, S. 13. 83 Ebd.
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Theater als Ort der Utopie ‚among‘, the formal hybrid and vigorous and pushing always towards an actual and new completeness. Here is the surfacing, resurfacing, in fact of that ‚liminality‘ that Victor Turner recognizes rightly as the place of ‚fruitful chaos‘ and possibility – but no less ‚here‘ than ‚there‘.“84 Das bedeute, so Rothenberg, dass nicht mehr länger von Interesse sei, welche formalen oder ästhetischen Kriterien ein Künstler verfolge, sondern „how he performs it in a given context“.85 Dazu gehöre dann eben auch die Betonung des Prozessualen, das Ausagieren der Präsenz eines Darstellers in Realzeit.86 Im selben Band verweist Richard Palmer, John L. Austins Sprechakttheorie zitierend, auf die performative Dimension der Performance Art, die zugleich ein moralischer Akt sei: „For our concep-tion of performance, this means that we must think beyond the categories of mere representation and re-enactement to the ‚thing done‘ in the performance itself. Performance is not just an aesthetic act but a moral act, a community act, a celebration of what is being brought to experiental fullness through performance. Performance of a text does not just ‚say‘ something; it does something, and we need to reflect more deeply on that doing.“87 Für ein Verständnis der Performance Art, so Palmers epistemologische Konsequenz, sei deshalb die Korrelation mit poststrukturalistischer Diskurs- und Subjektkritik, in Folge eines Nietzsche, Heidegger, Wittgenstein, Foucault und Derrida unerlässlich. Nur die Korrelation ästhetischer und philosophischer Konzepte könne zugleich ein umfassenderes Verständnis von Interpretation hervorbringen.88 Die praktische Bezugnahme der Künstler der Neoavantgarde auf Aspekte der historischen Avantgarde einerseits und ihre epistemologische Auseinandersetzung bishin zu begrifflichen Konkretisierungen mit methodologischen Konsequenzen andererseits zeigen deshalb vor allen Dingen eines an: die kontinuierliche Herstellung und Befestigung sowohl praktischer und theoretischer Parameter, die bis in die jüngste Gegenwart abrufbereit das Telos einer fort84 Ebd. 85 Ebd., S. 14. 86 Vgl. ebd., S. 14f. Rothenberg schreibt: „Signs if the artist‘s or poet‘s presence are demanded in the published work, and in our own time this has come increasingly to take the form of his or her performance of that work, unfolding it or testifying to it in a public place. The personal presence is an instance as well of localization, of a growing concern with particular and local definitions […].“ Ebd., S. 14. 87 Richard Palmer: „Toward a postmodern Hermeneutics of Performance“, in: M. Benamou/C. Caramello: Performance in Postmodern Culture, S.19-32, S. 20. 88 Vgl. ebd., S. 30.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt schrittlichen Kunstproduktion genuin avantgardistischer Kunst zu bestätigen vermögen. Ob die Perspektive, mit der etwa das „Happening“ erfasst wird, aus der bildenden Kunst oder dem Theater heraus erfolgt, offenbart sich dabei eher als Mechanismus einer wissenschaftstheoretischen Binnendifferenzierung. Der avantgardistische und nicht-repräsentationale Impetus ist letztlich derselbe. Exemplarisch zeigt sich dies beispielsweise anhand von Michael Kirbys betont theatertheoretischer Begriffsbestimmung des „Happening“ von 1965, der die Gemeinsamkeit der Happenings von Allan Kaprow, Red Grooms, Robert Whitman, Jim Dine und Claes Oldenburg induktiv zu bestimmen versucht und diese, obwohl die Gattungszugehörigkeit sich genealogisch nur schwer bestimmen lässt, als eine Form des Theaters bezeichnet. Von Interesse ist, dass Kirbys theoretischer Vorstoß vor allen Dingen auch dem Umstand geschuldet war, dass, seiner Meinung nach, zu viele falsche Vorstellungen über das Happening kursierten. Vor allen Dingen solche, die die neue Kunstform mit traditionellen Normvorstellungen zu beschreiben suchten: „Happenings did not develop out of clear-cut, intellectuell theory about theatre and what it should or should not be. […]. If a definition is to be arrived at now, it must be inclusive enough to take in all of these works and rigorous enough to exclude works, that although they might have a certain resemblance, are not commonly referred to as Happenings. Although some of their advocates claim they are not, Happenings are, like musicals and plays, a form of theatre, just as collage is a new form of visual art, […].“89
Den Gegenbegriff, den Kirby zum Happening entwirft und von dem es sich abhebt, basiert nicht auf einer Charakterisierung der bildenden Kunst, sondern des Theaters, auch wenn er eine Analogie zur bildenden Kunst herstellt.90 Das Happening, so Kirbys Umschreibung, habe Kategorien wie Plot, eine dramaturgische Struktur mit Exposition, Entwicklung, Höhepunkt und Lösung sowie eine auf Emotionalität und Psychologie basierende Figurendarstellung und eine kausale Handlungsfolge zurückgewiesen.91 Stattdessen zeichneten sich Happenings durch eine insuläre, kontingente, improvisierte und daher unkontrollierte Struktur aus, bei der das Umfeld (Environment) Teil der Aktion sei und die Darstellenden nicht in eine, durch ein Stück vorgegebene Matrix von Zeit und Ort eingebunden und somit determiniert seien. Das Happening ist demgegen-
89 M. Kirby: Happenings, S. 10f. 90 Vgl. ebd., S. 20. 91 Vgl. ebd., S. 13.
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Theater als Ort der Utopie über, so Kirby, „nonmatrixed performing“.92 Kirby, der, wie viele Künstler auch, in seinem Überblick auf die Vorbildfunktion von Dadaismus, Surrealismus, Futurismus, Bauhaus und auf Einzelpersonen wie Kurt Schwitters, Antonin Artaud, Laszlo Moholy-Nagy, Walter Gropius, Mary Wigman, John Cage und Merce Cunningham verweist, legt so bereits Mitte der 60er Jahre auch auf theatertheoretischer Ebene das historische Kontinuum von der historischen Avantgarde zur Neoavantgarde fest. Aus der Retrospektive wird damit ersichtlich, dass es sich um ein weitgehend immer wieder neu hergestelltes lineares Diskurskontinuum handelt, das sich auf theoretischer Ebene weitgehend der Aufarbeitung stilistischer Formenvariationen zuwendet und zugleich den ideologiekritischen Impetus der Künstler aufnimmt. Nicht umsonst konnten Künstler wie Theoretiker schließlich von einer gewachsenen „Performancementalität“ und dem zunehmenden Interesse seitens Presse und Film profitieren.93 Anhand dieser kontextuellen Rahmungen zeigt sich, dass die unterschiedlichen epistemologischen Gewichtungen und zuerkannten Einflussnahmen insgesamt eher eine Frage chronologischer und medienspezifischer Perspektivierung sind, welche künstlerische Aktion denn nun als genuin performativer Akt zu gelten habe und welche nicht. Zwei Aspekte fallen hier vor allen Dingen ins Gewicht: Durch die Diktaturen in Europa verschob sich die Avantgarde in die USA, während sich eine durch die nationalsozialialistische Regierung als „entartete Kunst“ diffamierte künstlerische Praxis im zerstörten Deutschland und Europa erst wieder konsolidieren musste. Die meist als Wiederholung und Anknüpfung an die historische Avantgarde ausgegebene Neoavantgarde konnte unter anderem auch deshalb auf fruchtbaren Boden stoßen, weil es nicht nur, wie Beyme notiert, zu einer „ungewollten Ausweitung des Netzwerks“ durch Vertreter des Bauhauses und vieler Künstler des Konstruktivismus und Surrealismus kam,94 sondern auch, weil sich die Bewegung, die sich in Amerika unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg herausbildete, der Abstrakte Expressionismus, nicht mehr so radi92 Ebd., S. 16. In seiner Schrift „A formalist theatre“ plädiert Kirby für die Entwicklung eines Instrumentariums zur Analyse theatraler Darstellungsweisen abseits der klassischen Dramenanalyse. Er konkretisiert den Begriff des „Acting“ und verortet ihn auf einer idealtypischen fünfgliedrigen Skala von Not-Acting (nonmatrixed performance), über Symbolized Matrix, Received Acting und Simple Acting bishin zum Acting als Complex Acting. Vgl. M. Kirby: A formalist theatre, S. 3ff. 93 Vgl. Johannes Lothar Schröder: Identität, Überschreitung, Verwandlung: Happenings, Performances und Aktionen von bildenden Künstlern, Münster: LIT 1990, S. 25f. 94 Vgl. K. v. Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden, S. 37.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt kal kämpferisch geben musste wie einst die klassischen Avantgarden. Die amerikanische Avantgarde stieg, wie Beyme notiert hat, nicht zuletzt deshalb von einer „regionalistischen Selbstgenügsamkeit in wenigen Jahren zur Führungskraft der internationalen Avantgarde“95 auf. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die gängigen Schilderungen der Geschichte der Performance Art, zeigt sich, dass sie nicht nur eine recht einmütige, eindeutig kausale Chronologie von Avantgarde und Neoavantgarde herstellt, sondern auch, dass der Fokus der zu erörternden Phänomene tatsächlich in erster Linie auf der Chronologie stilistischer Formenvariationen und veränderter Programmatiken liegt. Der funktionale und kontextuelle Wandel dieses neuen Avantgarde-Verständnisses und die damit verbundenen Selektionsmechanismen hingegen bleiben weitgehend unberücksichtigt. In Rechnung zu stellen ist deshalb eine weitere Perspektive der Geschichte der Performance Art, die auch die Ursachen ihres Erfolgs – und infolgedessen des postdramatischen Theaters –, abseits von rein aufs Ästhetische bezogenen Fragen, auf einer weiteren Ebene aufzeigbar macht. Was in der Regel innerhalb der etablierten Historiographie nämlich vernachlässigt wird, ist der Umstand, dass die amerikanischen Künstler und ihre Förderer selbst Distinktionen produzierten, die erheblich dazu beitrugen, Amerika bewusst eine Führerrolle auch in der Kunst zuzugestehen. Exemplarisch zeigt sich dies etwa an den europakritischen Anmerkungen eines Barnett Newman, die den Impetus einer gewünschten Hegemonie amerikanischer Kunstproduktion verraten. Als Sprachrohr anlässlich der Jahresausstellung der „American Modern Artists“ (1943) verkündete der Künstler: „This exhibition is a first step to free the artist from the stifling control of an outmoded politics. For art in America still is the plaything of politicians. Isolationist art still dominates the American Scene. […]. America has the opportunity of becoming the art center of the world.“96 Die Selbstfindung einer neuen ästhetischen Konzeption, wie sie von Newman in einer Programmschrift abgesichert wird, läuft dabei ganz entscheidend über die Distanznahme zur europäischen Tradition. Europas Kunstgeschichte sollte generell negiert werden, um eine neue amerikanische Bewegung ins Leben zu rufen, allerdings bei gleichzeitiger Inanspruchnahme durchaus traditionell europäischer Auswahlkriterien.97
95 Ebd. 96 Barnett Newman: „American Modern Artists“, in: Ders.: Selected Writings and Interviews, S. 29-30, S. 29f. 97 Vgl. Barnett Newman: „The Plasmic Image“, in: Ders.: Selected Writings and Interviews, S. 138-155, S. 146.
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Theater als Ort der Utopie Barnett Newmans antieuropäischer Vorstoß war dabei aber keineswegs einer singulären Künstlermeinung zuzuschreiben. Wie der Kanadier Serge Guilbaut nachgewiesen hat, war während des Zweiten Weltkriegs das öffentliche Bestreben, amerikanische Kunst aus einem selbstgenügsamen Dornröschenschlaf zu wecken, Teil einer umfassenden Strategie, Amerika nicht nur politisch, sondern auch auf dem Gebiet der Kunst eine internationale Vorreiterrolle zukommen zu lassen.98 Ausgerichtet am Internationalismus und Liberalismus sollte auch die Kunst zur Herstellung einer kulturellen Identität ihren Beitrag leisten. So gab es seit Mitte der 30er Jahre von der Regierung unterstützte Förderprogramme für Künstler, wie etwa die 1935 gegründete „Works Progress Administration“ (WPA) oder die 1937 ins Leben gerufene „Buy American Art Week“, die nicht nur zur Demokratisierung von Kunst beitragen und Kunst einer breiten Bevölkerungsschicht näherbringen, sondern Amerika auch innerhalb der Kunstwelt eine internationale Vorreiterrolle zukommen lassen sollten.99 Die zunächst hauptsächlich noch vom Museum of Modern Art präsentierte und unterstützte Kunst aus Paris konnte hier nicht mehr länger die Vorbildfunktion übernehmen, die sie lange Zeit gehabt hatte. Immer lauter wurden die Rufe nach einer eigenen, genuin amerikanischen Kunstsprache, die nicht die
98 Vgl. Serge Guilbaut: Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, Basel: Verlag der Kunst 1997. Serge Guilbaut geht es in seiner Studie nicht um die Degradierung künstlerischer Konzepte und Arbeiten, sondern um das Aufdecken der Konstruktion einer neuen Identität, die innerhalb der amerikanischen Kunstgeschichte aufgrund der Konzentration auf stilistische Fragen meist ausgeblieben war. Vgl. ebd., S. 31. 99 Clement Greenberg selbst spricht den Einfluss der WPA und der europäischen Avantgarde – die auch im Guggenheim-Museum präsentiert wurde – auf die amerikanischen Künstler an: „Ich bezweifle allerdings, ob dies ohne die Gelegenheit zum ungezwungenen Arbeiten möglich gewesen wäre, die das Art Project der Works Progress Administration den meisten von ihnen Ende der dreißiger Jahre gegeben hatte. […] Und in New York konnten sie sich gewinnbringender an Europa messen, als sie es jemals als Exilanten in Paris gekonnt hätten.“ Clement Greenberg: „Amerikanische Malerei“, in: Karlheinz Lüdeking (Hg.): Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 194-224, S. 197f. Hauptsächlich wegen politischer Auseinandersetzungen innerhalb der amerikanischen Linken und der sich reduzierenden Hilfeleistungen der WPA entwickelte sich 1940 um Meyer Schapiro die „Federation of Modern Painters and Sculptors“ (FMPS), die eine Politisierung der Kunst ablehnte und letzten Endes maßgeblich die amerikanische Kunstlandschaft während der Kriegsjahre veränderte. Vgl. S. Guilbaut: Wie New York die Idee der Modernen Kunst gestohlen hat, S. 64f.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt des Realismus sein sollte.100 Hierfür setzten sich vor allen Dingen Museumsleiter, Kunstkritiker und -sammler wie Peggy Guggenheim, Alfred Barr, James Johnson Sweeney und Clement Greenberg ein, die schließlich in Jackson Pollock den Künstler erblickten, der in ihren Augen die neue amerikanische, abstrakte Kunst und ihr gerade entstehendes Selbstbild am besten verkörperte. Dem Erstarken des neuen amerikanischen Weges half zudem die wirtschaftliche Konsolidierung, die bereits 1944 eine immense Kaufkraft in Gang setzte, welche schließlich die Umsätze auf dem Kunstmarkt und, implizit, auch das Bewußtsein einer neu entstehenden Mittelschicht beeinflusste.101 Die umfassende Verteidigung der Abstraktion und die Zurückweisung einer repräsentationalen Kunst sind zentrale Bestandteile der kunsttheoretischen Diskussionen in den USA. Ihre Reichweite und ihre Bedeutung für die Theoriebildung der Performance Art und das postdramatische Theater können ohne Bezug auf den von Guilbaut erörterten Kontext nicht angemessen gewürdigt werden. So verweist Guilbaut darüber hinaus darauf, dass die USA den Emigranten nicht nur einen Zufluchtsort boten, der, anders als in Deutschland und in anderen europäischen Diktaturen, die Prinzipien von Freiheit und Demokratie verkörperte. Gleichzeitig konnte die Apologie einer nicht-repräsentationalen Ästhetik innerhalb der USA eben auch in einen herrschenden politischen Diskurs über die Verteidigung des Liberalismus integriert werden. Nur scheinbar paradoxerweise entbehrte dabei die Rhetorik im Kampf um (künstlerische) Autonomie und Freiheit nicht eines stellenweise offen aggressiv und ideologisch vorgetragenen Untertons.102 Dabei ergab sich nicht nur, dass die Befürwortung des Liberalismus und der Autonomie der Kunst die ehemals vehement vorgetragenen politisch grundierten Botschaften der Avantgarden zunächst entpolitisierte. Es ergab sich auch, dass sich die neu-alte Avantgarde, trotz einiger konservativer Vorbehalte und Angriffe, über eine offen vorgetragene antikommunistische Stoßrichtung schließlich harmonisch in die hegemoniale und antikommunistische (Außen-)politik einfügen kon100 Vgl. ebd., S. 86. 101 Vgl. ebd., S. 111f u. 119ff. Zu Kriegsbeginn gab es in New York 46, 1946 bereits 150 Galerien. Die Auktionseinnahmen von Parke-Bernet erhöhten sich zwischen 1939 und 1942 von 2.500.000 Dollar auf 4 Mio. und 1945 schließlich auf 6,5 Mio. 102 Guilbaut verweist auf den stellenweise ideologischen Sprachgebrauch Clement Greenbergs bei der Entwicklung eines genuin amerikanischen Kunstbegriffs. So spielte Greenberg Jackson Pollock nicht nur offen gegen den Franzosen Jean Dubuffet aus. Er fügte sich, so Guilbaut, auch in die herrschende politische Linie des Antikommunismus ein. Vgl. ebd., S. 205 u. 218.
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Theater als Ort der Utopie nte. Die Avantgarde der Mitte nach 1948, so ergeben Guilbauts Ausführungen, konnte im Klima einer hegemonialen LiberalismusPolitik gedeihen und wurde so unfreiwillig zum Repräsentanten des neuen Amerika.103 Abstraktion, als Kritik an der Repräsentation begriffen, war demzufolge nicht mehr nur als Kritik eines bürgerlichen Kunstbegriffs zu verstehen, der von den einstigen AvantgardeKünstlern noch auf eine eindeutig geschichtsphilosophisch grundierte Basis zurückgreifen konnte. Abstraktion bedeutete nun das Eintreten in einen konsensfähigen Diskursraum, der innerhalb der bildenden Kunst die Abstraktion schließlich zum beherrschenden Stil werden ließ.104 Die Befürworter der Abstraktion sahen im radikalen Verzicht auf die traditionellen Darstellungsmittel des Mediums eine zeitgemäße Form, auf die Undarstellbarkeit der Realität angemessen zu reagieren. Innerhalb der amerikanischen Theoriediskussion wurden dabei auf mehreren Ebenen die aus der historischen Avantgarde bekannten Gegensatzpaare erneut abgerufen. Sie sollten die inferiore Position einer repräsentationalen Ästhetik gegenüber einer nicht-repräsentationalen bestätigen. In dem überaus einflußreichen kulturkritischen Essay Clement Greenbergs über das Verhältnis von Avantgarde und Kitsch aus dem Jahre 1939, der vor allen Dingen als Reaktion auf die stalinistischen und faschistischen Auswüchse in Europa und Russland zu verstehen ist, zugleich aber auch eine frühe Historisierung der Avantgarde enthält, wird jeglicher mimetischer Kunst eine Absage erteilt.105 Die Gegenwart (und damit auch die Zukunft) gehört der Avantgarde, einer Kunst, die aus sich selbst heraus schöpferisch wird, weil sie sich, Greenberg zufolge, im Rahmen dessen abspielt, was ihr das Material bietet und nicht, weil sie auf etwas Vorgegebenes verweisen müsse. Maler und Bildhauer wie Picasso, Braque, Mondrian, Miró, Kandinsky, Brancusi, Matisse, Klee und Cézanne und Dichter wie Mallarmé, Valéry, Éluard und Pound bezögen, so Greenberg, „ihre hauptsächliche Inspiration aus dem Medium in dem sie arbeiten.“106 Greenberg festigt mit dieser Schrift entscheidend das Bild der klassischen wie der Neoavantgarde, die für ihn eine Kunst in „Bewegung“ ist, eine – analog zum militärischen Ver103 Vgl. ebd., S. 236. 104 Der Wandel innerhalb der Kunsttheorie sei ohne Clement Greenberg, so Thomas Dreher, nicht nachzuvollziehen. Das Ende einer Kunsttheorie, die sich an klassischen Kunstgattungen orientierte, lasse sich vor allem anhand der Pollock-Interpretation Greenbergs und Kaprows ablesen. Vgl. Thomas Dreher: „Aktions- und Konzeptkunst“, in: http://mitglied.lycos.de /ThomasDreher/1_Aktions-u.Konzeptkunst.html vom 04.09.2007. 105 Vgl. Clement Greenberg: „Avantgarde und Kitsch“, in: K. Lüdeking: Die Essenz der Moderne, S. 29 -55. 106 Ebd., S. 35.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt ständnis von Avantgarde – „Vorhut.“107 Um die Exklusivität der Avantgarde zu bestimmen rekurriert auch Greenberg auf das traditionelle Deutungsmuster von Exklusion und Inklusion. Die Avantgarde kann sich ihres Vorreiterstatus schon deshalb gewiß sein, weil sie nicht ist, was den industrialisierten Westen sonst noch beherrscht: Kitsch. Hierzu zählt Greenberg Literatur mit Vierfarbdrucken, Zeitschriftentitelbilder, Illustrationen, Werbeanzeigen, Groschenromane, Comics, Schlagermusik, Steptanz und, last but not least, Hollywood-Filme108: „Kitsch, für diejenigen bestimmt, die unempfänglich für die Werte der Kultur sind, aber dennoch nach der Zerstreuung hungern, welche nur Kultur, gleich welcher Art verschaffen kann, […].“109 Kitsch also ist somit ein Phänomen der industrialisierten Gesellschaften, in denen sich, Greenberg zufolge, nur eine Minderheit den Anstrengungen echter – sprich: Avantgarde- – Kunst aussetzen wollen. Greenbergs Interpretation der Avantgarde schafft die Möglichkeit, die Avantgarde nicht nur als AntiTradition zu bezeichnen, sondern sie auch zu einer neuen Tradition zu erklären, die von Europa nach Amerika gewandert ist. Dieses Kontinuitätsversprechen, durch das die amerikanischen Gegenwartskünstler als legitime Erben der gesellschaftlich fortschrittlichen Kräfte des alten Europa ausgewiesen wurden, war die Voraussetzung dafür, dass die Avantgarde in den USA nach dem Krieg von der Peripherie ins Zentrum des ästhetischen Diskurses rücken konnte.110 An Greenbergs Argumentationsgang zeigt sich allerdings auch, dass die Avantgarde auf dem besten Wege war, zur Kunst der bürgerlichen Eliten zu werden – wenn sie es nicht schon ohnehin immer gewesen war. Demgegenüber erblickte Greenberg in der trivialen Kunst der Massen, dem Kitsch, das neue-alte Feindbild, mit dem sich die gewohnten Animositäten aufrecht erhalten ließen. Die naive Liebe zum Realismus war nach wie vor das Kennzeichen des unmündigen Bürgers.“111 Greenbergs offen zur Schau gestellte Herablassung dem „einfachen“ Volk gegenüber, unentschieden schwan-
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Ebd., S. 38. Ebd. Ebd., S. 40 Was nicht heißen sollte, dass Bedrohungsszenarien verworfen wurden. Greenberg notierte:„Die neueste abstrakte Malerei erregt bei vielen Menschen Anstoß, auch bei manchen, die im Prinzip die Abstraktion gutheißen. Neue Malerei […] provoziert noch immer Skandale, was Neuheiten in der Literatur und Musik offenbar kaum mehr gelingt.“ Clement Greenberg: „Amerikanische Malerei“, in: K. Lüdeking: Die Essenz der Moderne, S. 194-224, S. 194. 111 Vgl. C. Greenberg: „Avantgarde und Kitsch“, S. 49.
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Theater als Ort der Utopie kend zwischen Mitleid und Überheblichkeit, zeigte eine Denkhaltung, die er eigentlich verabschiedet wissen wollte.112 In den 50er Jahren reüssierte Greenberg zum unumstrittenen Doyen des Abstrakten Expressionismus und wurde in der Rolle des Vorkämpfers für die Avantgarde seiner Zeit zu einem der Schlüsselautoren für die weitere Rezeption und Historiographie der historischen Avantgarden. Seine einfache Methode der Abgrenzung von Avantgarde und Kitsch war allerdings spätestens in dem Moment überholt, als die von ihm protegierten Künstler, allen voran Jackson Pollock, ihrerseits ein Massenpublikum anzogen. Spätestens seit Mitte der 60er Jahre war die Avantgarde selbst zum Mainstream geworden, so dass das Spiel von Inklusion und Exklusion nun zunehmend nicht mehr zur Abgrenzung gegen das rückschrittliche Publikum und seine Lieblingskünstler gespielt werden musste, sondern dem Renommeegewinn zugunsten der eigenen künstlerischen Position innerhalb des professionellen Betriebs diente. Dass die Konfliktlinien mittlerweile durch die Avantgarde selbst führten, zeigt einer der zentralen Texte für die Selbstinterpretation der Neoavantgarde, Michael Frieds Frühschrift „Kunst und Objekthaftigkeit“ von 1967.113 Zwar bezieht sich dieser Text auf die bildende Kunst und nicht auf das Theater. Aber gerade an Michael Frieds Instrumentalisierung des Begriffs „theatralisch“ verdeutlichen sich die Gemeinsamkeiten der abstrakten bildenden Kunst und des Happenings respektive der Performance Art umso mehr. Dabei geht es nämlich um nichts anderes als um das Vordringen zu einem „eigentlichen“ Begriff ästhetischer Erfahrung. Michael Frieds Text richtete sich gegen die avantgardistische Selbsteinschätzung der minimalistischen Objektkünstler um Tony Smith, Robert Morris und Donald Judd, die ihrerseits gegen den Avantgardestatus des abstrakten Expressionismus polemisiert hatten. Gegenüber den monumentalen Leinwänden der gestischen Maler zeichneten sich diese Werke durch den Einsatz bewusst „kunstloser“ Materialien und Techniken und den Verzicht auf Expressivität aus. Dadurch, so ihre Argumentation, stellten sie aber zugleich eine größere Herausforderung an das Publikum dar, das sich über den Kunststatus ihrer Werke nie sicher sein konnte. Für Michael Fried trog diese Selbsteinschätzung. Die Minimal Art war nur scheinbar radikal reduktiv, in Wahrheit war sie eine zutiefst „theatralische“ Kunst. Mit 112 In folgendem Zitat wird der Widerspruch deutlich: „Höhere Kultur zählt zum Ausgeklügeltsten, was der Mensch geschaffen hat, und der Bauer findet in sich keinen „natürlichen Antrieb, der ihn allen Schwierigkeiten zum Trotz zu Picasso drängen würde. Am Ende wird der Bauer wieder zum Kitsch zurückkehren, wenn er Bilder anschauen möchte, denn Kitsch kann er ohne eigene Anstrengung genießen.“ Ebd., S. 51. 113 Vgl. M. Fried: Kunst und Objekthaftigkeit.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt „theatralisch“ geht Michael Fried davon aus, dass durch die Verwendung bloßer Objekte im Kunstkontext ein Kunstbegriff verteidigt würde, der im „Kriegszustand“114 mit der modernen Malerei stünde. Es handele sich nicht um eine Kunst, die eine andauernde und zeitlose Gegenwart herstelle, sondern um eine, die auf die Anwesenheit des Betrachters angewiesen sei.115 Den Gedanken der Präsenz, den Theoretiker des Happenings positiv gegen eine repräsentationale Ästhetik entwerfen, lehnt Fried dabei – aus der Perspektive der Performance Art ironischerweise – zunächst rundheraus ab: „Weiterhin ist die Gegenwart der literalistischen Kunst, die Greenberg als erster analysierte, im Grunde ein theatralischer Effekt oder eine theatralische Eigenschaft – eine Art Bühnenpräsenz. Sie ist eine Funktion nicht nur der oft sogar aggressiven Aufdringlichkeit der Kunstwerke, sondern auch der der besonderen Mitwirkung, welche die Arbeiten vom Betrachter verlangen.“116 Fried richtet sich explizit gegen den Gedanken des momentanen Erlebens, das synonym für das in seinen Augen „Theatralische“ steht und das, Fried zufolge, von den oben genannten Künstlern projektiert wird. Gegenüber dieser Ausspielung von Malerei und Objektkunst sieht Fried die Lösung in der Hervorhebung des Bildhaften, der „Essenz“ der Malerei, die ihre eigene Objekthaftigkeit durch das Medium der Form überwinden oder aufheben könne.117 Durch die Disjunktion zweier Zeitkonzepte untermauert Fried dabei seine These von der theatralischen Kunst, die es zu überwinden gälte.118 Während die theatralische, Kunst sich durch die „Gegenwärtigung endloser oder unbestimmter Dauer“ auszeichne und daher notwendigerweise mit der „Dauer der Erfahrung“ korreliere, sei das Werk moderner Kunst und Skulptur „selbst in jedem Moment gänzlich manifest […].“119 Anders ausgedrückt: Während theatralische Kunst lediglich im Moment ihres SichEreignens existiert, kann sich die „wahre“ moderne Kunst und Skulptur auch ohne den Betrachter ihrer Gegenwärtigkeit gewiss sein. Frieds diffuser Theatralitäts- und Zeitbegriff und sein Engagement gegen eine Kunst, die bereits ihrerseits abstrakt ist sowie gegen ein Diffundieren der Künste, zeigt, dass es innerhalb der Abstraktion immer schwieriger geworden war, sich von den ähnlichen Positionen kategorisch abzuheben und seinen eigenen Standpunkt anderen gegenüber als besonderen zu behaupten. Die Gemeinsamkeit dieser scheinbar unaufhebbaren Antinomie jener Diskurslage – 114 115 116 117 118 119
Ebd., S. 353. Vgl. ebd., S. 364. Ebd., S. 345. Vgl. ebd., S. 354. Vgl. ebd, S. 359. Ebd., S. 365.
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Theater als Ort der Utopie Ablehnung des Theaters von Seiten der Kunstgeschichte (Fried) versus Ablehnung des Theaters von Seiten der Theatertheorie (Kirby) – artikuliert sich darin, dass beide Positionen gegen einen Theaterbegriff opponierten, der mit den Kategorien des Uneigentlichen, Effekthascherischen und wie Fried selbst es nennt, des „Unauthentischen“ arbeitet.120 Ursache hierfür ist letzten Endes der Versuch einer substantialistischen, auf dichotomen Begriffsbildern basierenden Bestimmung dessen, was das Happening oder die moderne Malerei in ihrer Essenz ausmache. An der Auflösung dieser Unvereinbarkeit versucht sich schließlich die jüngere Performance-Theorie: In Abgrenzung an normative Vorstellungen eines Greenberg und eines Fried sei in Rechnung zu stellen, dass die Performance eben gerade wegen ihres ephemeren Charakters die politische und offene, Widersprüche generierende und zulassende Kunstform per se sei: „As a medium,“ so Henry M. Sayre, „performance was initially intensely political in orientation“.121 Betrachtet man dieses Bekenntnis aus der Perspektive der in Kapitel I vorgestellten Historiographie der Performance Art seinerseits als Effekt eines Selektionsmechanismus und stellt sie den Analysen des Avantgarde-Topos gegenüber, so ergibt sich daraus, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, dass im Diskursfeld der Avantgarde-Forschung, spätestens seit Peter Bürgers „Theorie der Avantgarde“, unterschiedliche, miteinander konkurrierende Haltungen gegenüber dem Status der Avantgarde im Umlauf sind. Deren jeweilige Hierarchisierung ist letzten Endes als Effekt einer Parteinahme für ein jeweiliges Diskurskontinuum, wie sie in Kapitel II.4 erörtert wurden, zu interpretieren.
IV.4 Historisierungen oder von den Antinomien des AvantgardeAvantgarde - Topos Im Jahr 2001 notierte Gerhard Plumpe in einem Sonderband der Zeitschrift „text + kritik“ zum Thema „Avantgarden“, es sei aus heutiger Perspektive die Einsicht unausweichlich geworden, dass „Avantgarde in der Gegenwart – ob als Post-, Neo-, Trans-, Ultraoder wie immer Avantgarde – nur noch reflexiv und ironisch sein
120 Fried kritisiert die opakisierende Überinterpretation der Objektkunst. Vgl. ebd., S. 347 u. 356ff. 121 H. M. Sayre: The object of Performance, S. 13.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt kann als Inszenierung vergangener Gesten im Rahmen moderner Kunst und ihrer spezifischen Kommunikationskonventionen.“122 Diese, aus der Perspektive des noch immer weit verbreiteten Glaubens an die gesellschafts- und bewusstseinsverändernden Wirkungsmöglichkeiten avantgardistischer Kunst pessimistische Diagnose, deutet nicht nur, wie bereits in den vorigen Kapiteln angezeigt, auf die Inkohärenzen innerhalb des Diskurs- und Wirkungsfelds künstlerischer Praxis und Theorie. Sie verweist auch noch auf eine weitere Ebene, die aufgrund dieser recht nüchternen Einschätzung augenfällig wird. Mit Plumpes Worten wird erneut auf den Status und Modus der Historisierung von Avantgarde verwiesen, wie er bisher, mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen auf praktischer und theoretischer Seite, reflektiert wurde. Zugleich zeigen sie auf, dass im gegenwärtigen Diskursfeld eine normativ geschichtsphilosophische Prämisse, die von einer genuin fortschrittszentrierten (avantgardistischen) Kunst ausgeht, im Wettstreit mit anderen Postulaten steht, die diesem Telos widersprechen. In Deutschland formierte sich schon kurz nach dem Krieg eine konservativ argumentierende Kritik an der Avantgarde, die von Autoren wie Hans Sedlmayr, Wilhelm Hausenstein und Wladimir Weidlé maßgeblich getragen wurde.123 Dabei stand aber weniger der Avantgardebegriff als solcher im Vordergrund als vielmehr eine Kritik an Positionen der Gegenwartskunst, vornehmlich Malerei und Literatur, die diese als typische Symptome eines vermeintlichen Kulturverfalls ins Visier nahm. Erst 1964 formulierte Hans Egon Holthusen ausdrücklich das Unbehagen an dem Geschichtsbild, das durch die Metapher von der ewigen Bewegung der Avantgarde transportiert werde.124 Spätestens nach den Surrealisten habe sich gezeigt, dass Revolution und Avantgardismus, die für Holthusen notwendig aneinander gebundenen Kriterien eines avantgardistischen Kunstverständnisses, auseinandergedriftet seien. Seither befinde sich die sogenannte avantgardistische Kunst in einer leerlaufenden Wiederholung ehemals verbindlicher Topoi. Holthusens rhetorische Frage ist zugleich die Diagnose: „Was ist aus der Idee des Avantgardismus geworden in einer Zeit, die den Sieg der kommunistischen Revolution – als der zeitweise beliebtesten Metapher für
122 Gerhard Plumpe: „Avantgarde. Notizen zum historischen Ort ihrer Programme“, in: H. L. Arnold: Aufbruch ins 20. Jahrhundert, S. 8-14, S. 14. 123 In dem kulturkritischen Werk „Verlust der Mitte“ (1948) diagnostizierte Hans Sedlmayr, dass es Architektur, Skulptur und Malerei in einer säkularen Welt an innerer Form mangele. Auch Wilhelm Hausenstein und Wladimir Weidle begegneten der abstrakten Kunst mit großer Skepsis. 124 Vgl. Hans Egon Holthusen: Avantgardismus und die Zukunft der modernen Kunst. Essay, München: Piper 1964.
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Theater als Ort der Utopie den Freiheitsdrang der Avantgarden –, nicht mehr vor sich, sondern in einem ausgedehnten Teil der bewohnten Erde hinter sich hat, während sie in dem vergleichsweise bürgerlich gebliebenen Teil auf ein atemversetzendes Accelerando von künstlerischen Revolutionen zurückblicken kann, zurückblicken aber eben mit dem nagenden Verdacht, dass das revolutionäre Prinzip in der Kunst sich hier inzwischen zu Tode gesiegt haben könnte, obwohl viele nach wie vor von neuen Siegen träumen?“125
Die Lösung dieses Problems sieht Holthusen schließlich auch nicht in der Kompensation dieses Verlustes mit Hilfe einer neuen, als noch fortschrittlicher bezeichneten Konzeption, sondern in der Freiheit, sich von der „abgelebten Ideologie der Freiheit loßzureißen“ und sich von den ohnehin immer schon bürgerlichen Intentionen im postrevolutionären Zeitalter loszusagen.126 Dass die Kritik aus konservativer Perspektive recht ernüchternd ausfiel, verwundert kaum. Umso erstaunlicher ist es, dass Hans Magnus Enzensberger – auf den Holthusen sich seinerseits bezog – bereits 1962 von links polemisch das „Projekt“ Avantgarde ins Visier nahm und auf das Problem der Historisierung von Gegenwart anhand des Avantgarde-Topos hinwies. Enzensberger warf die Frage auf, wem das Recht zuzugestehen sei, zu beurteilen, was als avantgardistische Kunst gelte und was nicht.127 Seine eigene Beurteilung fiel ernüchternd aus. Er bedachte die ästhetischen Ausdrucksformen der Neoavantgarde, des Tachismus, des „art informel“, des „action painting“, der konkreten Dichtung und Teile der „neuesten Musik“ mit Attributen und Vergleichen wie „blödsinnig“, „harmlose Einfalt“ und „Beliebigkeit“.128 Zwar bewegten sich die Kritiken der Avantgarde der 60er Jahre noch im Bereich des Essayistischen, doch sollten sie die Distanznahme zu einem universell fortschrittszentrierten Projekt deutlich trüben. Eine zwar weniger angriffslustige, aber durchaus ebenso po125 Ebd., S. 25. 126 Vgl. ebd., S. 57f. 127 Hans Magnus Enzensberger formulierte seine Kritik folgendermaßen: „Wo das Wort Avantgarde mit dem Präsens konstruiert wird, entsteht ein doktrinärer Satz. Unrecht hat bereits, wer auf objektive Notwendigkeit, Materialzwang und zwangsläufige Weiterentwicklung sich versteift. […] Das Modell, an dem sich die Vorstellung der Avantgarde orientiert ist untauglich. Das Voranschreiten der Künste in der Geschichte wird als lineare, eindeutige übersichtliche und überschaubare Bewegung gedacht, in der jeder seinen Platz, Spitze oder Troß, selber bestimmen könnte. […] Das avant der Avantgarde enthält seinen eigenen Widerspruch; es kann erst a posteriori markiert werden.“ Hans Magnus Enzensberger: „Die Aporien der Avantgarde“, in: Hans Magnus Enzensberger: Einzelheiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962, S. 50-80, S. 63. 128 Vgl. ebd., S. 68f.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt lemische Sichtweise auf die Avantgarde folgte gut zehn Jahre später mit Peter Bürgers Ansatz einer systematischen Aufarbeitung der ideellen Implikationen der historischen Avantgardebewegungen und der Neoavantgarde. In seiner „Theorie der Avantgarde“ aus dem Jahre 1974 erörterte er nicht nur den Status und die Funktion der historischen Avantgarde, sondern auch die Situation der Neoavantgarde. Bürger zufolge lag der Hauptimpetus der historischen Avantgarden darin, den Funktionsverlust der Kunst aufgrund ihrer solipsististischen Selbstgenügsamkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft anzuprangern und gegen den autonomen Status, den Kunst dort erreicht haben soll, zu opponieren: „Die Intention der Avantgardisten lässt sich bestimmen als Versuch, die ästhetische (der Lebenspraxis opponierende) Erfahrung, die der Ästhetizismus herausgebildet hat, ins Praktische zu wenden. Das, was der zweckrationalen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft am meisten widerstreitet, soll zum Organisationsprinzip des Daseins gemacht werden.“129 Die Opposition der historischen Avantgarden äußerte sich demgemäß, so Bürger, in einem Angriff auf den geschlossenen Werkbegriff, auf eine damit verbundene Form-Inhalt-Totalität und auf eine von der Lebenspraxis abgehobene Institution Kunst. Nach Bürger sind die historischen Avantgarden aber gerade mit dem Versuch gescheitert, die Differenz zwischen Kunst und Leben zu planieren. Die künstlerische Praxis der Neoavantgarde beweist seiner Ansicht nach, dass die „Werkkategorie restauriert worden ist und die von der Avantgarde in antikünstlerischer Absicht ersonnenen Verfahrensweisen zu künstlerischen Zwecken gebraucht werden“.130 Die Kunstwerke und Aktionen der Neoavantgarde zeigten, dass die ehemals zentrale Kategorie des Schocks und der Provokation zu einem Kalkül erstarrt, der Bruch mit der Tradition und damit die Kategorie des Neuen inszeniert und der Zufall zum absichtsvollen Produktionsparadigma geworden seien.131 Peter Bürger rechnet ab mit einer qua Wiederholung leerlaufenden Avantgarde-Formel, der jeglicher Geltungsanspruch abhanden gekommen sei. Bürgers Angriff, der selbst auf einer idealistischen Kunstkonzeption basiert, macht keine Zugeständnisse mehr. Zumindest für seine Gegner ist deshalb Bürgers umfassende Absage an die Wirkungskraft avantgardistischer Kunst so provokant wie unnachvollziehbar. Ebenso wie Hegels Diagnose vom Ende der Kunst ist das Ende der Avantgarde ein unumkehrbares. Liest man in Bürgers Diktum aber mehr als nur das seinerseits wirkungsmächtige Plädoyer gegen einen (vermeint-
129 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 44. 130 Ebd., S. 78. 131 Vgl. ebd., S. 78 u. 85.
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Theater als Ort der Utopie lich) leerlaufenden Kunstbetrieb und seine Diskursformationen, kann man darin sowohl den Status einer kunstwissenschaftlichen Historisierung erkennen als auch einen Positionierungswettkampf konkurrierender Wahrnehmungen und Standortbestimmungen innerhalb des Systems Kunst, wie er bis heute anhält. In der Zwischenzeit wurde nämlich die auf der Folie einer teleologischen Argumentation basierende Kritik Peter Bürgers selbst einer Kritik unterzogen. Das Hauptargument dabei machte geltend, Bürger folge einer linearen und universalisierenden Logik, die der Kritik nicht nur einen evolutionistischen Entwicklungsbegriff unterlege, sondern auch von einer historischen Totalität und einem Ursprungsmythos der historischen Avantgardebewegungen ausgehe, die sich global als Kritik gegen einen ebenso einheitlichen bürgerlichen Kunstbegriff verstehen lasse und die innerhalb des historischen Prozesses deshalb so etwas wie einen Endpunkt darstelle.132 Hal Foster begegnete Bürgers Position nicht nur mit der Frage ob „one theory can comprehend the avantgarde“.133 Foster kritisierte darüber hinaus Bürgers Fokussierung auf eine lineare Entwicklung der Kunstformen, die eine Erzählung der Avantgarde „as an evolution“ offenbare.134 Hal Foster zufolge verkenne Bürger die utopische Dimension der Avantgarde. Demgegenüber sei jedoch die performative Dimension avantgardistischer Intentionen in Rechnung zu stellen: „If the historical avant-garde focuses on the conventional, the neo-avant-garde concentrates on the institutional“.135 Bürgers Skepsis gegenüber der Avantgarde und Fosters Zurückweisung dieser Kritik stehen analog zur Rede und Gegenrede von Kunst als Ort der Utopie, wie sie in Kapitel II. erörtert wurde. Die binnendiskursive Auseinandersetzung, d.h. die unvereinbare Funktionszuweisung an eine als avantgardistisch deklarierte Kunst zeigt auf, dass die Funktion der Kunst in pluralisierten Gesellschaften nicht mehr mit singulären und teleologischen Postulaten zureichend beschrieben werden kann. Neben einer Ausdifferenzierung
132 Tatsächlich liest Peter Bürger den Autonomie-Begriff als Abkoppelung von politischen oder sakralen Funktionszuordnungen in ehemals religiösen und feudalen Handlungsbezügen. Die bürgerliche Gesellschaft habe gezwungenermaßen einen Autonomie-Status erreicht, der aber zu einem Funktionsverlust der Kunst geführt habe. Dieser Autonomie-Status beschränke aber die Wirkungsmöglichkeit der Künstler und sei deshalb die Ursache der Oppositionshaltung der Avantgarde-Künstler, die wiederum erst als Selbstkritik zur Zeit der Avantgarde möglich geworden sei. Vgl. ebd., S. 35. 133 Hal Foster: The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge, London: MIT Press 1996, S. 8. 134 Ebd., S. 9. 135 Ebd., S. 17.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt und damit einer Historisierung stilistischer Formenvarianten der klassischen Avantgarde in den einzelnen Künsten steht deshalb die theoretische Aufarbeitung des Avantgarde-Topos für einen Status der Historisierung der Avantgarde, der bis zu den gegenwärtigen Debatten entweder affirmativ (linke Kritik) oder kritisch (konservative Kritik) ausfallen kann. Die unterschiedlichen Effekte dieser Historisierung hat Paul Mann ausführlich in seiner Studie „The Theory-Death of the Avant-Garde“ belegt.136 Die Diskussion der Avantgarde, so eine seiner zentralen Thesen, habe sich, nach dem Abschied binärer und geschichtsphilosophischer Deutungsmuster, in die Diskurse über die Avantgarde selbst verlagert. Paul Mann geht so über Arnold Gehlens These von der Kommentarbedürftigkeit der Kunst hinaus. Die zahlreichen Toterklärungen der Avangarde seien ein Indiz für die Lebendigkeit des Diskurses, der nun nicht mehr unter das große geschichtsphilosophische Telos von einst gestellt werden könne.137 Eine der Ursachen für die Antinomien innerhalb der Theorien der Avantgarde liege darin, dass der poststrukturalistische Diskurs etliche Topoi und Deutungsmuster des avantgardistischen Diskurses implementiert habe: „The language of inside and outside is endemic to any discussion of the avant-garde, but it is clearly problematic. […]. Deconstruction has all but completely infolded the margin and made many of the avant-garde’s outlaw claims sound quaint and delusional, while at the same time (in deconstruction’s most sophisticated applications) preserving some of its differential force.“138 Das Zeitalter nach der klassischen Avantgarde verweigere somit die übliche chronologische Einteilung in Perioden, zugleich halte es an alten idealistischen Implikationen fest. Ohne eine kulturkritische Färbung kommt allerdings auch Paul Mann nicht aus. Eine seiner zentralen Thesen von der Verlagerung fortschrittsorientierter Postulate in den Binnendiskurs der Avantgarde-Forschung, respektive der Kunstkritik, steht in enger Verbindung zu der Überzeugung, dass der Kunstdiskurs selbst kapitalistische Züge angenommen habe: „Hence the relationship between avant-garde and capitalist impulses toward innovation are totalized in cultural discourse. This poses severe problems for new art. In the first place novelty as such is reduced to a term of marketing; anything radically new in the avant-garde project is compro-mised the moment innovation reveals its stake in capitalist social production.“139 Paul Manns Lösungsvorschlag lautet entsprechend: Es gibt keine. Letztbegründungen könnten nicht länger über transzendente 136 Paul Mann: The Theory-Death of the Avant-Garde, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1991. 137 Vgl. ebd., S. 19. 138 Ebd., S. 13. 139 Ebd., S. 69.
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Theater als Ort der Utopie oder transzendentale Setzungen erfolgen. Übrig bliebe die reine Immanenz des Diskurses.140 Paul Mann benennt die Unmöglichkeit transzendentaler und transzendenter Begründungen innerhalb des Diskursfelds der Ästhetik im Zuge der poststrukturalistischen Diskurskritik. Seine Theorie vom Tod der Avantgarde-Theorie steht somit exemplarisch für eine Konzeption (post-)moderner Ästhetik, die sich gegen teleologische und universalistische Postulate behauptet. Allerdings ist Manns These selbst von der Überzeugung vom Verschwinden des Subjekts im Text getragen, die den poststrukturalistischen Diskurs am Ausgang des letzten Jahrhunderts beherrschte. Die Frage aber ist, was die These vom Widerstreiten der Kräfte innerhalb dieser avantgardistischen Diskursökonomie nach der ideologiekritisch orientierten poststrukturalistischen Theoriebewegung für den Subjektbegriff bedeutet? Es ist zwar, wie bereits in Kapitel II angeführt, obsolet geworden, Kunst mit eindeutig bestimmbaren, substantialistischen Funktionszuordnungen zu belegen. Kunst und Theater sind nicht länger der Ort, an dem sich das Wahre, Schöne und Gute Ausdruck verschafft. Zugleich ist aber davon auszugehen, dass auch diese gegenuniversalistische These im Widerstreit mit universalistischen Theoremen steht. Analog zu einem Konzept ästhetischer Erfahrung, das vom Wettstreit der Diskursarten ausgeht, bedeutet das für die Debatte um eine avantgardistische Kunst, dass die widerstreitenden Positionen innerhalb des Avantgarde-Diskurses nicht nur unauflösbar sind. Es bedeutet auch, dass es darum geht, die Antinomien dieser Debatten bewusst „auszuhalten.“ Lässt man die widerstreitenden Positionen unberücksichtigt – wie das in den meisten Debatten mit einer utopischen Funktionszuweisung geschieht –, umgeht man lediglich die daraus resultierenden Fragestellungen und Aufgaben. Die Bindung des Fortschritts- und Avantgarde-Topos an eine bestimmte Kunstform hängt also nicht nur zutiefst von der Perspektive derjenigen ab, die sich für diese Topoi verwenden. Diese Kombination muss auch anerkennen, dass sich die unterschiedlichen Rezipienten für ein derartiges Postulat möglicherweise nicht einspannen lassen. Denn innerhalb einer ausdifferenzierten Gesellschaft ist nicht nur ein singulärer Fortschritts-Topos, sondern auch ein einheitlicher Kollektiv-Singular, der von „dem“ Zuschauer spricht, obsolet geworden. Nicht zuletzt spiegelt ja gerade die vielfältige Festival-Landschaft, innerhalb derer mit Sicherheit die meisten Festivals für sich in Anspruch nehmen, die Herstellung einer besonderen (fortschrittlichen) Gemeinschaft zu garantieren, dass „der“ Zuschauer eine idealistische Konstruktion darstellt. Für die theoretische Ebene bedeutet das aber auch, dass die These vom Aushalten der Antinomien innerhalb des Diskurs-
140 Vgl. ebd., S. 145.
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„Die“ Avantgarde: das ewig unvollendete Projekt felds der Avantgarde auch auf der Ebene der theoretischen Begründung von den in der nicht-repräsentationalen Ästhetik so populären Parametern – Ereignis und Präsenz – zur Anwendung kommen muss.
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V. EREIGNIS UND PRÄSENZ ALS THEATERWISSENSCH THEATERWISSENSCHAFTLICHE AFTLICHE PARAMETER UND IHRE
BEDEUTUNG FÜR DIE ÄSTHETISCHE ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG
V.1 Die Transitorik: Glück und Dilemma der Theaterwissenschaft Wie bereits erörtert, richten sich jüngere geschichtstheoretische Methodologien vor allen Dingen gegen ein Linearitätsdenken verbunden mit der Kritik einer homogenisierten Kontinuität, Progressivität und Universalität. Gleichwohl folgen geschichtstheoretische und methodologische Prämissen gerade dann, wenn es um ästhetische und theater- bzw. kunstwissenschaftliche Überlegungen zum postdramatischen Theater und der Performance Art geht, nach wie vor versteckten teleologischen Deutungsmustern. Der Blick auf die derzeitige Popularität des Ereignis-Begriffs, der die Möglichkeit bereitstellt, eben jene Basisannahmen aufzudecken und zurückzuweisen,1 verdeutlicht einmal mehr die – meist nicht in Rechnung gestellten – Antinomien, mit denen sich zwangsläufig auseinanderzusetzen hat, wer versucht, die Apologie des Ereignisses und der Präsenz mit einer fortschrittsorientierten Historiographie zu verbinden. Die auf Aufführungen des Kunsttheaters bezogenen Definitionen von Ereignis und Präsenz, welche in jüngster Zeit für die Ästhetik des postdramatischen Theaters und der Performance Art veranschlagt werden, gehen dabei von einem ganz bestimmten Ereignisund Präsenz-Begriff aus (vgl. Kap. 1). Dieser kann nicht nur, wie zu zeigen sein wird, auf eine lange Traditionslinie im Bereich der Ästhetik zurückblicken, er wird auch gleichzeitig mit ganz bestimmten inhaltlichen Implikationen ausgestattet, die auf eine Verlängerung der ästhetischen Funktion von Kunst als Ort der Utopie hinweisen. Innerhalb der Theoriediskussion nehmen die Kategorien des Ereignisses und der Präsenz insofern einen wichtigen Stellenwert ein,
1
Vgl. Marc Rölli: „Einleitung. Ereignis auf Französisch“, in: Ders.: Ereignis auf Französisch, S. 7-40, S. 11.
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Theater als Ort der Utopie als sie zeittranszendierende Erfahrung ermöglichen sollen. Auffallend ist vor dem Hintergrund dieser Bestimmung aber, dass systematische Erläuterungen zur Zeitdarstellung im Kontext der jüngeren theatertheoretischen Überlegungen eine Marginalie darstellen.2 Und das sowohl im Rahmen jener Analysemethoden, die sich einer repräsentationalen Ästhetik zuwenden, als auch bei jenen, die sich der Analyse nicht-repräsentationaler Ästhetiken widmen. So findet der Aspekt der Zeitdarstellung bereits in der „Semiotik des Theaters“ von Erika Fischer-Lichte zwar als suprasegmentales Zeichen mittels der Binäropposition „transitorische/länger andauernde“ Zeichen eine (implizite) Erwähnung.3 Eine darüber hinausgehende Konkretisierung, die analog zur Komplexität der anderen Zeichensysteme auch die nicht minder komplexen Temporalstrukturen von Theateraufführungen erörterte, bleibt jedoch aus. Ein indirekter Hinweis ergibt sich lediglich aus der Beobachtung (para-) linguistischer, proxemischer und kinesischer Zeichen, die jeweils auch als (Artikulations-)Bewegung, also hinsichtlich ihrer zeitlichen Erstreckung im Raum, ausgewiesen werden.4 Dabei war es offenbar
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3
4
Hans-Thies Lehmann schreibt hierzu: „Unter der Blickverengung, die die Verkennung der Differenz von Theater und Drama mit sich bringt, leidet ganz besonders das Verständnis und überhaupt die Wahrnehmung der zum Performance Text und Inszenierungstext gehörigen Dramaturgie der Zeit.“ H. T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 309. Eine Ausnahme hiervon bildet Hinderk M. Emrichs Aufsatz, in dem der Autor aktuelle neurowissenschaftliche Forschungen diskutiert und die mit oben genannten Postulaten durchaus konform gehende These entfaltet, durch die „Form der radikalen Gegenwärtigkeit“ von Kunstwerken werde ein befreiender Zugang zur Vergangenheit ermöglicht. Vgl. Hinderk M. Emrich: „Zeitphilosophische Aspekte der Wahrnehmung“, in: E. Fischer-Lichte/J. Roselt: Kunst der Aufführung, S. 201-208. Vgl. Erika Fischer-Lichte: „Die Zeichensprache des Theaters. Zum Problem theatralischer Bedeutungsgenerierung“, in: R. Möhrmann: Theaterwissenschaft heute, S. 233-259, S. 237. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Das System theatralischer Zeichen, Bd. 1, Tübingen: Narr 1998, S. 28 u. 47ff. Hinweise zur Semiotik der Zeit finden sich bei Winfried Nöth, der schreibt, dass Zeit keine eigene segmentale Ausdruckssubstanz habe, sondern nur suprasegmental, meist räumlich, in Verbindung mit anderen Zeichen stehe. Eine Semantik der Zeit ergibt sich hauptsächlich über Zeitunterbrechungen und Ereignisse, die zu bestimmten Zeitpunkten stattfinden. Die „eigentlichen Bedeutungsträger“ sind also „Handlungen und Ereignisse.“ Zeichen der Zeit sind dabei meist indexikalischer Art und lassen sich ermitteln über „temporale Adverbien“ und „Zeichen für Zeitrelationen.“ Zeitverläufe und Zeiträume können, wie z.B. in Kalendern und Chronologien, auch ikonisch dargestellt werden. Darüber hinaus kann die Darstellungszeit der Zeichen ikonisch für Nichtzeitliches stehen, vor allem über Längen, Kürzen, Tempo
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter immer schon das Faktum der Transitorik des szenischen Geschehens (Theaterzeit = Lebenszeit), die die Erörterung des Zeitverlaufs als problematisch erachtete. Peter Pütz bestritt sogar ausdrücklich, dass der Kategorie der Gegenwart in Bezug auf die literarische Gattung des Dramas und seine szenische Realisierung irgendeine Bedeutung zukäme. „Die Zeitform der Gegenwart (‚Vergegenwärtigung‘)“, schreibt er, „wird zwar nicht übersehen, aber sie bleibt für das Drama irrelevant; denn sie ist als unmittelbare und sinnliche Gegebenheit das, was das theatralische Spiel mit dem wirklichen Leben gemeinsam hat.“5 Systematische Erörterungen zum „prekären“ Status der Transitorik finden sich in Manfred Pfisters „Theorie des Dramas“, bei der er immer auch Aspekte der szenischen Realisierung mitein-bezogen wissen will. Wie Pfister schreibt, ist es nämlich inhaltlich „ein Unterschied, ob die fiktive Handlung in einer mythischen Vorzeit, einer historisch faßbaren Vergangenheit, in der Jetzt-Zeit der Rezipienten oder in unfixierter a-historischer Überzeitlichkeit angesiedelt ist, und diese unterschiedliche zeitliche Distanz zum realen zeitlichen Kontext impliziert einen jeweils verschiedenen Bezug des Textes auf die zeitgenössische Wirklichkeit. […] weder brauchen zeitliche Distanzierung und Aktualität einander auszuschließen, noch muss Deckung der Zeitstufen immer einen verstärkten Realitätsbezug implizieren. Hier bedarf es also in jedem Einzelfall einer differenzierten Funktionsanalyse, die zum Beispiel auch zu berücksichtigen hat, wie stark die zeitliche Situierung konkretisiert ist, bzw. wie vage die fiktive Zeitstufe bleibt.“6 Pfister selbst hat einen umfassenden Kriterienkatalog entwickelt, in dem die unterschiedlichen Strukturen und Präsentationsformen von Zeit und ihre Effekte – wie Progression versus Stasis, Zyklik versus Linearität, Aktualisierung versus
5
6
und Rhythmus in Sprache, Musik und Film. Die Darstellung der Zeit kann wiederum ikonisch auf nichtzeitliche Sachverhalte verweisen, vor allem in der narrativen Literatur als Ausdruck der unterschiedlichen Modalitäten zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. D.h., „Zeichen der repräsentierten (oder dargestellten) Zeit finden sich im Wortschatz der Sprache, im Tempussystem der Grammatik, aber auch in Form von bildlichen und filmischen Darstellungen“; als „repräsentierende (Herv. i. O.) Zeit kann die Zeitdimension im Prozeß des Zeichengebrauchs selbst zum Zeichen werden.“ Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 287ff. Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970, S. 17. Pütz beschränkt sich in seiner Erörterung zur Technik der dramatischen Spannung dementsprechend auf die Sukzession sowie den zeitlichen Vor- bzw. Rückgriff. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse, München: Fink 1997, S. 360.
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Theater als Ort der Utopie Distanzierung, Sukzession versus Simultaneität sowie Tempovariationen, Rhythmus und Spannung – erörtert und ihre Anschlussmöglichkeit für Analysen theatraler Aufführungen diskutiert werden.7 Angesichts der Fokussierung auf die Kategorie der Gegenwart im postdramatischen Theater erweist sich die Trennung von fiktiver gespielter Zeit und realer Spielzeit allerdings als unzureichende Orientierungshilfe für eine Analyse derartiger Spielformen.8 Dem Ziel, dafür ein geeigneteres Instrumentarium zu schaffen, sollen zunächst die systematischen und historischen Überlegungen dieses Kapitels zum Begriff der Zeit dienen. Dabei soll in einem weiteren Schritt gezeigt werden, dass die (ideologiekritische oder erfahrungstranszendierende) Kategorie des Ereignisses und der Präsenz durchaus auf traditionelle Denkmuster innerhalb der Ästhetik zurückgreifen.
V.2 Einheit und Vielheit der Zeit: Zur Erforschung des de s ZeitZeit - Verstehens Im allgemeinen Sprachgebrauch wird als „Ereignis“ bezeichnet, was einen herausragenden und überraschenden Einschnitt in ein zeitliches Kontinuum darstellt. Das Ereignis trennt den Zeitverlauf in ein Vorher und Nachher, während es selbst als etwas Außergewöhnliches, Noch-Nicht-Dagewesenes erfahren wird, das dem weiteren Zeitverlauf eine andere Wendung bringen kann. Die Offenheit, die das Ereignis damit auszeichnet, ist für das Ereignis konstitutiv. Was darüber hinaus als Ereignis bezeichnet wird, hängt zumeist von Definitionshoheit und Perspektive ab. Dabei werden kollektive Ereigniserfahrungen, wie etwa Naturkatastrophen, Kriege oder Terrorakte von solchen, die individueller Natur sind wie Geburt, Tod, Krankheit oder eben auch jene, die den Alltag rhythmisieren, wie beispielsweise Feste, ein Theater,- Konzert,- und Ausstellungsbesuch, oder als subjektiv zu bewertende, alltägliche Begebenheiten, unterschieden. Bereits die Etymologie zeigt an, dass das Ereignis eine Kategorie der Wahrnehmung ist. Der seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anzutreffende Begriff Ereignis als „Geschehen“
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Vgl. ebd., S. 327-382. Pfister notierte hierzu: „Unter der realen Spielzeit wollen wir dabei die Dauer der Aufführung selbst verstehen, den realen Zeitraum vom Beginn bis zum Ende der Aufführung, abzüglich der Pausen. […] Die fiktive gespielte Zeit dagegen ist bereits im Textsubstrat mehr oder weniger präzise fixiert und braucht im inszenierten Text nur noch verdeutlicht und sinnfällig gemacht werden.“ Ebd., S. 369.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter oder „Vorkommnis“ geht auf das reflexive Verbum „sich zutragen“ zurück. Die Herkunft des Wortes gibt zugleich einen Hinweis auf den damit verbundenen Zeitmodus: Der aus dem Althochdeutschen stammende Begriff „irougen“ (8. Jahrhundert n. Chr., zu ahd. ouge, Auge) entwickelte sich im Frühneuhochdeutschen zu „eräugen“ („vor Augen stellen“, zeigen“).9 Damit ist nicht nur das Ereignis zeitlich bestimmt nämlich, als Dauer eines Augenblicks. Damit verbunden ist auch die Erfahrungsweise des Ereignisses, das erst als ein vor Augen-Geführtes, als Dargestelltes zur Wahrnehmung gelangt und damit als sinnlich erfahrbares erst seine Existenz verbürgen kann. Mit dem Ereignis, verstanden als sich ereignender Vollzug, ist damit sein Zeitmodus als Erfahrungsmodus bestimmt: als Erfahrung von Gegenwart. Dass sich kollektive mit individuellen Erfahrungen überschneiden und deshalb wechselseitig beeinflussen mögen und auch der Zeitraum von Ereignissen sich jeweils quantitativ unterscheiden kann, ist eher als Indiz für das komplexe Phänomen Ereignis zu erachten, das normative Ereignis- und damit Zeitkonzeptionen unterläuft. Der Ereignis-Begriff als heuristische Kategorie ist damit, so vermittelt es zunächst dieser allgemeine Sprachgebrauch, in besonderer Weise dazu angetan, auch historiographisch gebildete Kontinuitäten zu unterlaufen. Der Begriff der Präsenz, der ebenso wie der Ereignis-Begriff eine Kategorie der Gegenwart ist, wird häufig mit dem Ereignis-Begriff synonym verwendet. Doch bezeichnet er nicht nur die Transitorik eines Phänomens. Als Gegenstück zum Begriff der Repräsentation hat er, wie in Kapitel III. bereits angesprochen, auch eine ideologische Dimension. Die Präsenz ist hierbei eine Denkkategorie, die ein Phänomen bereinigt von jeglicher Heteronomie begreifen will, die zum „Eigentlichen“ vordringen soll, wie beispielsweise in der Herstellung einer „Communitas“. Zugleich bedeutet Präsenz aber nicht nur Gegenwart, sondern auch Anwesenheit.10 Gerade auf dem Theater ist die Anwesenheit des Menschen, seine leibhaftige Präsenz, das genuin dieser Kunstform zugehörige Attribut, das wiederum auf die Kongruenz von Lebenszeit und Theaterzeit verweist. Die Kategorie der Präsenz wird hier gleichsam zur existentiellen Kategorie par excellence. Eine exakte Distinktion von Ereignis und Präsenz erweist sich allerdings, wie auch schon bei den Begriffen von Ritual und Fest, als problematisch. So wird immer am Einzelfall überprüft 9
Vgl. Wolfgang Pfeifer (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 1, Berlin: Akademie-Verlag 1993, S. 293. 10 Etymologisch steht der Begriff „Präsenz“ seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts für „(bewußt wahrgenommene) Gegenwärtigkeit“. Er ist gleichbedeutend mit dem frz. ‚présence‘, dem afrz. ‚prescence‘ und dem lat. ‚preasentia‘, abgeleitet von dem lat. ‚praesens‘. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 1038.
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Theater als Ort der Utopie werden müssen, wann man von der Kategorie der Präsenz und in welchem Kontext man von Ereignis spricht. Als Kategorien der Gegenwart sind allerdings beide immer auf den Kontext ihrer jeweiligen Temporalstruktur angewiesen, was bedeutet, dass die Kategorie der Zeit das entscheidende Kriterium zu ihrer jeweiligen Bestimmung darstellt. In Kritik an einseitig progressiven, fortschrittsorientierten Deutungsmustern ist im Folgenden nun nicht nur von Seiten der Historiographie der Aspekt der Pluralität und Ausdifferenzierung in Rechnung zu stellen, sondern auch von Seiten der systematischen Beschäftigung mit dem Phänomen Zeit selbst. Zu untersuchen sind dabei zum einen die Kategorien des Ereignisses und der Präsenz im Wechselspiel mit systematischen Erörterungen zum Phänomen Zeit. Daran anknüpfend steht zum anderen die Rolle des Begriffs Ereignis im Bereich der Historiographie im Zentrum der Diskussion. Schließlich ist der Bedeutung und Reichweite der Begriffe Ereignis und Präsenz in philosophischen Erörterungen nachzugehen und ihr Einfluss auf die oben angesprochene theaterwissenschaftliche Konstruktion eines bestimmten Gegenwarts-Begriffs zu erörtern. Zu unterscheiden ist hier bereits vorab nicht nur eine philosophische Zeitbetrachtung, die wiederholt von der Bewegung geleitet war, die Aporien der Zeitspekulation in einer ganzheitlichen Zeiterfahrung aufzulösen, von einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema auch außerhalb philosophischer Theoreme. Zu unterscheiden ist darüber hinaus zwischen einer Erörterung der Zeitdarstellung als sukzessive Narration unter den Regularien des Prinzips der unumkehrbaren Kausalität und einer Apotheose des Ereignisses und der Präsenz, verstanden als ästhetische Kategorie des „nunc stans“, die auch firmiert unter den Begriffen „Plötzlichkeit“ und „Augenblick“. Der naheliegendste Grund für die recht marginale Beschäftigung mit dem Thema Zeit in der Theaterwissenschaft dürfte in der Komplexität des Untersuchungsgegenstands „Zeit“ zu suchen sein. Allen Bemühungen um eine Klärung des Begriffs von der Antike bis heute zum Trotz gilt „Zeit“ weder als definier- noch als erklärbar. Das Thema entzieht sich, sobald man es begrifflich zu konkretisieren versucht.11 Entsprechend lapidar klingt deshalb der Eintrag
11 Hans Michael Baumgartner schreibt hierzu: „Gleichwohl entzieht sich die Zeit noch immer einem direkten Zugriff: Denn auch in subjektiver Hinsicht muss der Versuch, die Zeit definierend zu begreifen, scheitern und in den Zirkel führen, da das Bewußtsein der Zeit dem Begreifen wesentlich und darum Definieren ohne Voraussetzung von Zeit unmöglich ist.“ Hans Michael Baumgartner: „Einleitung“, in: Ders. (Hg.): Das Rätsel der Zeit. Philosophische Analysen, Freiburg, München: Alber 1996, S.9-14, S. 9f. Hierzu
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter zum Begriff Zeit im Brockhaus-Lexikon: „Soweit wir heute wissen, ist es nicht möglich, die Zeitlichkeit der Natur mittels Theorien auf fundamentalere Eigenschaften zurückzuführen. Die Eigenschaften der Zeit lassen sich deshalb beschreiben, aber die Zeit kann nicht erklärt werden.“12 Wie die im Hinblick auf epistemologische Fragen nach der Zeit reichlich apodiktisch anmutende Definition des Lexikonartikels vermittelt, lässt sich über Zeit also nur spekulieren, konkreten Aussagen eignet demzufolge höchstens der Status defizitärer Hilfskonstruktionen. Die Literatur zum Thema vermittelt nun aber, zumindest rein quantitativ, einen gegenteiligen Eindruck: Die Erforschung der Zeit hat sich in den meisten universitären Disziplinen, ob Geistes- oder Naturwissenschaften, zu einer fast unübersehbaren Publikationsflut ausgewachsen.13 Physik, Biologie, Philosophie, Soziologie, Ökonomie, Psychologie und Theologie haben dabei recht unterschiedliche heuristische Annäherungsformen hervorgebracht. Geht es um die Frage einer möglichen Vereinheitlichung der unterschiedlichen Ansätze, wird in der Regel auf die unüberbrückbare Differenz zwischen Zeit als quantifizierbarer Naturgröße und symbolische, kulturelle Konstruktion des Menschen verwiesen.14 Dass dieser siehe auch: Wilhelm Dupré: „Zeit“, in: Hermann Krings (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd.3, München: Kösel 1974, S. 1799. 12 Art. „Zeit“, in: Brockhaus. Die Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, Bd. 24, Leipzig, Mannheim: Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus 1999, S. 491-496, S. 491. 13 Vgl. Anton Peisl/Armin Mohler: Die Zeit, München: Oldenbourg 1983; Stephen Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums, Hamburg: Rowohlt 1988; Günter Dux: Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989; Peter Gendolla: Zeit. Zur Geschichte der Zeiterfahrung. Vom Mythos zur ‚Punktzeit‘, Köln: DuMont 1992; Friedrich Cramer: Der Zeitbaum. Grundlegung einer allgemeinen Zeittheorie, Frankfurt a.M., Leipzig: Insel 1993; Karl Hinrich Manzke: Ewigkeit und Zeitlichkeit. Aspekte für eine theologische Deutung der Zeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992; Armin Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer sozialen Theorie der Zeit, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993; Kurt Weis (Hg.): Was ist Zeit? Zeit und Verantwortung in Wissenschaft, Technik und Religion, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1995; Hermann Fechtrup/Friedbert Schulze/Thomas Sternberg (Hg.): Zwischen Anfang und Ende. Nachdenken über Zeit, Hoffnung und Geschichte, Münster: LIT 2000. 14 Mike Sandbothe verweist auf die gegensätzlichen Positionen eines Zeitrelativismus, der Zeit als rein variable Erlebnisfunktion partikularer Subjekte versteht einerseits (Scheler, Simmel, Spengler, Klages, Minkowski u.a.) und eines Zeituniversalismus andererseits, der Zeit als substantielle und subjektunabhängige Grundstruktur von Wirklichkeit erachtet (von Baader, Bolzano). Mike Sandbothe: Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtendenzen
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Theater als Ort der Utopie Umstand nicht zur Entwicklung einer alles umgreifenden Definition des Zeitbegriffs geführt hat, wurde gar als „methodologisches Dilemma“15 bezeichnet. Anstelle der Enttäuschung über eine fehlende einheitliche Zeitdefinition soll dieses „Manko“ hier genutzt werden und die Nicht-Erklärbarkeit ins Zentrum des Interesses rücken. Ein sinnvoller Ausgangspunkt dafür ist Hans Michael Baumgartners Feststellung, dass mit Newton und Kant eine „Relativierung und Perspektivierung der Zeitvorstellung“ einsetzt. Zeit verliert ihren „Absolutheitscharakter“ und tritt „in reziproker Umkehrung nun immer mehr als eine von Systemen (z.B. der Natur, der individuellen Existenz oder der Gesellschaft) abhängige Variable“ hervor.16 Es sei folglich fortan eine „Vielheit von Zeiten“ in Rechnung zu stellen, die eine Monodefinition von Zeit nicht gewährleisten kann. Zu vermeiden ist dabei ein einseitiger Zugriff sowohl in Geistes- als auch in Naturwissenschaften, da es ein „komplexes Netzwerk von Zeitrhythmen [gibt], in dem sich physikalische, biologische, psychologische und soziale Prozesse überlagern und beeinflussen. Zeit ist daher nach unserem heutigen Wissen ein fachübergreifender Begriff par-excellence, für dessen adäquate Behandlung sich sowohl ein natur- als auch kulturwissenschaftlicher Reduktionismus verbietet.“17 Allerdings geht der Zugriff der vorliegenden Untersuchung davon aus, dass sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf geisteswissenschaftliche Erkenntnisbildungsprozesse nicht ohne weiteres übertragen lassen. Der Schwerpunkt liegt demgemäß auf geisteswissenschaftlichen Erörterungen, wenngleich nicht abgestritten der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 84ff. Eine differenzierte Sichtweise dieser Extreme formuliert Günter Dux, der davon ausgeht, dass sich die Zeit in einem Konstrukt darstellt: „Die ontische Dimension der Zeit ist für den Menschen in einer eigentümlichen Weise doppellagig: Die vorkategoriale Zeit des Universums […], ist unabhängig von uns, auch wenn sie nur in den Konstrukten unserer Erfahrung sich darstellt. Wir versuchen, sie zu erreichen, ihr uns in einer Konstruktadäquanz zu nähern, ohne jemals den Konstruktcharakter durchbrechen zu können.“ Anthropologisch gesehen verschaffe der Mensch qua seiner eigenen Leiblichkeit dem Konstrukt eine ontische Dimension. G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, S. 38f. 15 Kay Kirchmann: Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozeß, Opladen: Leske + Budrich 1998, S. 75. 16 Vgl. H. M. Baumgartner: Das Rätsel der Zeit, S. 10. 17 Klaus Mainzer: Zeit. Von der Urzeit zur Computerzeit, München: Beck 1995, S. 7. Für die Anerkennung einer „Pluralität der Zeiten“ plädieren auch Dietmar Kamper und Christoph Wulf. Vgl. Dietmar Kamper/Christoph Wulf: „Die Zeit, die bleibt“, in: Dies. (Hg.): Die sterbende Zeit. Zwanzig Diagnosen, Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1987, S.7-10, S. 10.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter werden soll, dass physikalische und philosophische Überlegungen sich bisweilen gegenseitig beeinflussen. So hat beispielsweise Mike Sandbothe naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit philosophischen Zeitstudien kontrastiert und explizite Gemeinsamkeiten der modernen Zeitauffassung nachweisen können. Seine Hauptthese gründet, analog zu geschichtstheoretischen Studien, in der hier zuzustimmenden Diagnose von der Verzeitlichung der Zeit in der Moderne, die Abschied nimmt von universalistischen und metaphysischen Zeitvorstellungen in beiden Untersuchungsfeldern.18
V.2.1 DIE ZEIT ALS GESCHLOSSENE ENTITÄT Schon ein kursorischer historischer Überblick über die theoretische Beschäftigung mit dem Begriff der Zeit ergibt ein äußerst diversifiziertes Bild von Zeitverstehen, das je nach Perspektive variiert.19 Ein gravierender Unterschied besteht etwa zwischen der theoretischen Zeitspekulation, die jeweils durch ihren historischen Kontext bestimmt ist und der Zeitwahrnehmung außerhalb davon, die den Alltag und das Zusammenleben der Menschen seit den frühen Hochkulturen regulierte – erkennbar etwa an den kulturell und historisch divergierenden Kalenderreformen.20 Der Begriff Zeit (griech. χρόνος, lat. tempus) selbst, ist eine Schöpfung der griechischen Philosophie, dennoch gilt auch für vorgriechische Kulturen, dass „Zeit“ in „höchstem Maße bedeutungsgeladen war“.21 Die Wechselwirkung von Zyklisierung und Linearisierung war auch dort schon insofern fundamental, als Riten der zyklisierenden Institution dienten, während lineare Konstruktionen für das Entstehen und den Erhalt eines sozialen und kulturellen Gedächtnisses sorgten. Eine Linearisierung und Zukunftsorientierung der Zeit erfolgt erstmals im frü-
18 Vgl. M. Sandbothe: Die Verzeitlichung der Zeit, S. 4. 19 Mit Rudolf Wendorff meint „theoretische Beschäftigung“ hier den Umgang mit Zeit durch Zeitgliederung und -messung, der mit der Verschriftlichung einhergeht. Vgl. R. Wendorff: Zeit und Kultur, S. 13. 20 Vgl. Thomas Vogtherr: Zeitrechnung. Von den Sumerern bis zur Swatch, München: Beck 2001. Vogtherr zeigt, dass die vielfältigen Entwicklungen der Zeitrechnungen, die dem Versuch geschuldet waren, die Kalender dem Umlauf der Erde um die Sonne und des Mondes um die Erde anzupassen, seit je Phänomene von Elitekulturen gewesen waren. Die Anpassungsversuche sind damit wiederholt auf die Differenz zwischen Mondjahr und Sonnenjahr zurückzuführen sowie auf die Inkohärenzen, die sich aus der Erdumdrehung um die Sonne ergeben, welche länger als die Tageseinheit von 24 Stunden dauert. Erst der Gregorianische Kalender (1582) hat eine hinreichende Präzision erreicht. 21 Jan Assmann u.a.: „Zeit“, in: J. Ritter u.a.: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, S. 1186-1262, S. 1186.
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Theater als Ort der Utopie hen Monotheismus Israels. Sie ist gebunden an die Vorstellung einer göttlichen Vorsehung, durch die alles, was geschieht, im Zeitverlauf auch als notwendig erscheint.22 Auch die ersten Versuche einer systematischen Reflexion über die Zeit, wie sie mit den Vorsokratikern einsetzt und über Heraklit (der erstmals vom Zeitpfeil spricht) zu Platon weitergeführt wird, sind geprägt vom Glauben an die Ewigkeit und Unveränderlichkeit der Ideen, der Logik und der mathematischen Gesetze, die allesamt an die Bewegungen des Kosmos gebunden sind.23 So werden bereits in der Antike die zwei entscheidenden Zeitmodalitäten – Zeitpfeil und Zeitkreis – geschaffen, die ihre Gültigkeit bis in unsere Gegenwart behaupten und gleichzeitig von der Schwierigkeit künden, Zeit auf eine Begriffsmaxime zu bringen. Aristoteles nun hat sich bekanntlich als Erster von dem platonischen Prinzip der göttlichen Zeit entfernt und sie mit Bewegung und Zahl in Verbindung gebracht. Da die Zeit, Aristoteles zufolge, weder ausschließlich Prozeß, noch ausschließlich ein Moment im Prozess ist, sondern eine Relation aus beidem, lautet seine Definition: „Erleben wir also nur ein einziges Jetzt und entweder keine Abfolge von Bewegungsphasen oder auch den Jetztpunkt nicht als den identischen Punkt zwischen einer früheren und einer späteren Prozeßphase, dann haben wir nicht den Eindruck, es sei Zeit verstrichen, weil wird dann auch nicht den Eindruck haben können, es sei ein Prozeß vor sich gegangen. Erleben wir hingegen eine Abfolge von Phasen, dann sprechen wir von einer Zeit. Denn eben dies ist ja die Zeit, die Anzahl für die Bewegung hinsichtlich ihrer Phasenfolge.“24
Auch die Vorstellung der Zeitfolge ist dabei an das omnipräsente Prinzip von Ursache und Wirkung gebunden, wie es Aristoteles in der „Metaphysik“ beschreibt.25 Der Aristotelische Bewegungsgedanke bleibt zwar immer auf den Kosmos bezogen, wird aber von ihm als ursprungslos und unvergänglich aufgefasst. Zeit hat also nicht mehr, wie bei Platon, eine Mittlerfunktion zwischen den Ideen und der Welt des Wandels inne. Zeit findet bei Aristoteles immer in der Bewegung statt und ist nicht außerhalb davon vorstellbar. Bei Aristoteles wird damit zwar auch die „Verbindung zum Ewigen herge-
22 Vgl. R. Wendorff: Zeit und Kultur, S. 28. 23 Vgl. K. Mainzer: Zeit, S. 13ff. 24 Aristoteles: Physikvorlesung. Buch IV, in: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 11, Berlin: Akademie 1967, S. 112f. 25 Aristoteles hat in der „Metaphysik“ das Prinzip der Kausalität erörtert und das Prinzip der einen Ursache durch vier unterschiedliche, gleichwohl miteinander verbundene Ursachendimensionen ersetzt: die materielle Ursache, die formale Ursache, die Wirkursache und die Zweckursache. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, Berlin: Akademie 2003.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter stellt, aber erst vermittelt über die Begründung der Himmelsbewegung“.26 Die daraus resultierenden Aporien konnte Aristoteles jedoch nicht auflösen, da es ihm nicht gelingen sollte zu klären, was die Zeit nun an der Bewegung ist, bzw. was diese von jener unterscheidet – ein Paradoxon, das die Phänomenologie der Zeit bis weit ins 20. Jahrhundert beschäftigen sollte.27 Eine von derartigen Aporien absehende Linearisierung der Zeitvorstellung befestigte sich außerhalb der philosophischen Zeitspekulation vor allem über die christliche Zeitrechnung, die über die Erzählung der Bibel die Weltgeschichte zur Stufenfolge einer Heilsgeschichte verwandelte und die geprägt war vom Gedanken der Herrschaft Christi „über Raum und Zeit“.28 Sedimente dieses Zeitbilds finden sich noch in Geschichtsphilosophie, Utopie- und Fortschrittsdenken der Moderne (vgl. Kapitel II.1). Die mit der christlichen Zeitrechnung einsetzende Relativierung hellenistischer, römischer und regionaler Zeitorientierungen im Jahr 525 n. Chr. durch den Abt Dionysius Exiguus, zeigte ihre Wirkung schließlich auch in den einzelnen Kalendereformen, die wiederum das innere Zeitbewusstsein der Menschen prägten.29 Teleologische, gerichtete Zeitvorstellung und ein Zeitbewusstsein, das eine zirkuläre Struktur auswies, konnten so parallel existieren. Dabei ist es vor allem die Wiederkehr der Feste, die das Kirchenjahr nicht nur rhythmisiert(e), sondern auch, wie bereits erörtert, Gedächtnis- und Integrationsfunktion übernahm. Eine umfassende Auseinandersetzung mit der Nichterschließbarkeit des Phänomens Zeit entwickelte der Kirchenvater Augustinus um 400 n. Chr. im 11. Buch seiner „Confessiones“.30 Es handelte sich dabei um eine Differenzierung von Zeit und Ewigkeit, die zu einer Auflösung des linearen Zeitbegriffs führt.31 Augustinus beschäftigt die Immanenz des Zeitbewusstseins, die aus der Trennung
26 Hans Poser: „Zeit und Ewigkeit. Zeitkonzepte als Orientierungswissen“, in: H. M. Baumgartner: Das Rätsel der Zeit, S. 17-50, S. 35. 27 Vgl. Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Die erzählte Zeit, Bd. 3, München: Fink 1991, S. 28ff. Diese Aporien äußern sich, so Ricoeur, vor allen Dingen in der Aristotelischen Vorstellung des Jetzt, das immer ein Schnitt in einem Kontinuum darstellt, dieses zugleich aber verbindet, wodurch es immer dasselbe Bewegte bleibt. Der Unterschied zwischen einem beliebigen Jetzt und einer „lebendigen Gegenwart“ bleibt, Ricoeur zufolge, ungeklärt. 28 Vgl. Hans Maier: „‚Die Zeit ist edler als tausend Ewigkeiten‘ (Angelus Silesius). Das Christentum und die Zeit“, in: H. Fechtrup/F. Schulze/ T. Sternberg: Zwischen Anfang und Ende, S. 17-41, S. 18f. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. Augustinus: Bekenntnisse, Frankfurt a.M., Leipzig: Insel 2004. 31 Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit, Frankfurt a.M.: Klostermann 1992, S. 52ff. u. 65ff.
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Theater als Ort der Utopie der Begriffe Zeit und Ewigkeit hervorgeht. Unerklärbar war für Augustinus der Unterschied zwischen dem Wandel der Zeit, demgegenüber das Göttliche, Augustinus zufolge, für Ewigkeit und Unwandelbarkeit stand. Seine zentrale Frage nach dem Paradoxon lautet dementsprechend: Wie kann es also die erst mit Gott erschaffene Zeit im Sinne einer wandelbaren Vergangenheit und Zukunft geben, wenn Gott im Ewigen immer zeitlos präsent ist? Zeit geht stets vorüber, sie ist also nie: Weder Zukunft noch Vergangenheit sind gegenwärtig und selbst die Gegenwart zerfällt sofort in ein Noch-nicht und ein Nicht-mehr. Augustinus stellte damit eine zentrale Frage nach der Gegenwärtigkeit und Dauer der Zeit, die nicht Ewigkeit bedeutet. Damit nimmt, wie Friedrich-Wilhelm von Herrmann formuliert, das philosophierende Zeitverständnis eine „präzisierende Korrektur“32 des vorbegrifflich „Natürlichen“ vor: Es ist vor allem die subjektive Kategorie der Wahrnehmung, über die Zeit als Gegenwärtige sich einstellt, weil sie im Wahrnehmungsakt sich ereignet, wo sie „eine Gegenwart von Vergangenheit, eine Gegenwart von Gegenwärtigem, eine Gegenwart von Künftigem“33 und demnach in Erinnerung, Wahrnehmung und Erwartung als Gegenwärtige auch seiend ist.34 Damit unterscheidet Augustinus das alltägliche Zeitbewusstsein, das die Zeit als linearen Verlauf von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft denkt, von der reflexiven Zeiterfahrung, in der Zeit durch den jeweiligen Modus der Wahrnehmung strukturiert wird.35 Obwohl Augustinus sich also von der linearen Zeitvorstellung abhebt und nach dem Verhältnis der Dreiheit der Zeit, die nicht allein in Sukzession aufgeht, fragt, bleiben auch hier die Aporien zwischen einer Zeit der Seele und einer Zeit der Welt unaufgelöst. Zugleich ist die theoretische Zeitauffassung nach wie vor geprägt von der Aristotelischen Vorstellung von Zeit als einer Folge von Jetzt-Punkten. Eine Kritik dieser Auffassung setzt mit Nietzsche und schließlich mit Heidegger ein, die dann auch Auswirkungen auf das Verständnis von Ereignis und Präsenz nach sich zieht, wie gesondert in Kapitel V.4 zu zeigen sein wird.
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Ebd., S. 66. Augustinus: Bekenntnisse, S. 342f. Vgl. F.-W. v. Herrmann: Augustinus, S. 74. Vgl. ebd., S. 72ff. Zur Verbindung des dreifach differenzierten Zeitbegriffs und der trinitätstheologischen Vorstellung von der Dreifaltigkeit Gottes siehe: Michael von Brück: „Wo endet Zeit? Erfahrungen zeitloser Gleichzeitigkeit in der Mystik der Weltreligionen“, in: K. Weis: Was ist Zeit?, S. 207262.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter
V.2.2 AUF DEM WEG ZUR SUBJEKTIVIERUNG DES ZEIT-BEGRIFFS Während sich die Linearisierung der Zeit mit nachhaltiger Wirkung auf das bereits angesprochene Fortschrittsdenken entwickelte, wurde Zeit in der Physik zu einem absoluten Parameter erklärt: Nach der kopernikanischen Wende, die eine Lösung vom geozentrischen Weltbild bedeutete, führte Newton die absolute Zeit als universaltheoretische Größe ein, deren Bezugspunkt nach wie vor das schöpferische Wirken Gottes bildete. So heißt es bei Newton in „Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie“ von 1687: „Die absolute wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihrer Liegendem, und man nennt sie mit einer anderen Bezeichnung ‚Dauer‘.“36 Unabhängig von den Bewegungen der Himmelskörper existierte nun eine immer gleichbleibende, richtungslose Zeit, derzufolge die topologische Struktur als zeitliche Sukzession von Ereignissen in Bezug auf ein definiertes Zeitmaß unabhängig vom Beobachter festgesetzt werden konnte.37 Die Entwicklungen der neuzeitlichen Feinmechanik, mit der Erfindung von Uhren und Chronometern seit dem frühen 13. Jahrhundert, erlaubte über eine Bestimmung genauer Zeitpunkte durch Zahlen hinaus, schließlich, Zeitrechnung und ökonomischen Nutzen zu kombinieren. Die gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Entwicklung waren bekanntlich tiefgreifend. Wie Norbert Elias in seiner Schrift „Über die Zeit“ notiert hat, ist „die Verwandlung des Fremdzwangs der sozialen Zeitinstitution in ein das ganze Leben umgreifendes Selbstzwangmuster des einzelnen Individuums […] ein anschauliches Beispiel dafür, in welcher Weise ein Zivilisationsprozess zur Ausprägung des sozialen Habitus beiträgt, der zum integralen Bestand jeder individuellen Persönlichkeitsstruktur gehört“.38 Zeitsymbole wie Uhren, Kalender und Riten haben, Elias zufolge, die Funktion von orientierungsstiftenden Regulatoren in der Koordination des intersubjektiven Austauschs. Über die alltagsspezifische Regulierungsfunktion hinaus finden wie 36 Isaac Newton: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, Hamburg: Meiner 1988, S. 44. 37 Dabei ging es vor allen Dingen um die Kombination der Kepler‘schen Gesetze der Planetenbewegung mit Galileis Fallgesetzen, die eine Übertragung makrokosmischer Ordnungsvorstellungen auf den sublunaren Bereich ermöglichte und die Wirkungen beider je unterschiedlicher Kraftfelder als identisch erachtete. Dadurch wurde wiederum die Entwicklung der Infinitesimalrechnung ermöglicht. Vgl. M. Sandbothe: Die Verzeitlichung der Zeit, S. 10f. 38 Norbert Elias: Über die Zeit, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 9, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 21.
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Theater als Ort der Utopie Michel Foucault gezeigt hat, die Gesetze von Zeitökonomie und Arbeitsmoral schließlich auch im Bereich des Strafsystems ihren Niederschlag.39 Die Messbarkeit des Zeitverlaufs führte in der klassischen Mechanik nun zu einem Verständnis von Zeit als „reelle[r] Koordinate in Bewegungsgleichungen, die auch bei Transformationen mit umgekehrter Zeitrichtung unverändert gültig bleibt“.40 Entscheidend im Newton’schen System ist damit, dass Zeit als ideale Größe messbar und reversibel ist, also weder Vergangenheit noch Zukunft kennt und somit alle Ereignisse in einem idealen Umfeld als umkehrbar verstanden werden. Damit wurden zwar auf Basis des Kausalitätsprinzips die Bedingungen, um physikalische Gesetze zu benennen, erst geschaffen, irreversible Zeiterscheinungen fanden in diesem Idealsystem allerdings nicht ihren Platz. Auch Leibniz, der die Newton’sche Vorstellung absoluter Zeit anfocht und demgegenüber die These von der Relativität der Zeit aufstellte, die davon ausgeht, dass Geschehnisse und Dinge nicht in sich selbst, unabhängig von Zeit existierten, verließ das begriffliche Ordnungssystem der Newton’schen Kausalstruktur nicht.41 Vor allem mit Kant erfährt die Zeittheorie schließlich einen Wandel, indem sie diese nicht mehr, wie in den Naturwissenschaften, als objektive Größe ansieht, sondern, wie den Raum, als eine synthetische Kategorie a priori, die die Wahrnehmung des Menschen erst strukturiere und damit die Subjektivität der Zeitvorstellung befestige. In der „Kritik der reinen Vernunft“ (1787) heißt es dazu: „Die Zeit ist 1) kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden. Denn das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Grunde läge. […] 2) Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori gegeben.“42
Kant entwirft eine Erkenntnistheorie, die die sinnliche Erkenntnis zum Grundstein von Erkenntnis überhaupt erklärt. Mit der Setzung der sinnlichen, d.h. zeitlichen, Wahrnehmung als transzendentaler
39 Michel Foucault geht noch einen Schritt weiter und beschreibt die Disziplinierungsmechanismen des 18. Jahrhunderts als am Fortschritt orientierte Auswirkungen auf die Körpertechniken. Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 158 u. 167. 40 Vgl. K. Mainzer: Zeit, S. 32. 41 Vgl. ebd., S. 35f. 42 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Meiner 1956, S. 74.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter Anschauungsform, gelingt es ihm, den Objektivismus der Naturwissenschaften zu relativieren, ihn zugleich aber beizubehalten. Trotz der Kritik an den metaphysischen Implikationen des Newton’schen Zeitbegriffs stellt damit auch für Kant die Wahrung der Transzendenz ein entscheidendes Motiv seiner Zeitlehre dar.43 In der Physik schließlich führen die Resultate aus der Wärmelehre und ferner der Relativitätstheorie zu einem Aufbrechen des Verständnisses einer absoluten, richtungslosen Zeit. Der im 19. Jahrhundert entwickelte Zweite Hauptsatz der Thermodynamik trug zur Erklärbarkeit irreversibler Prozesse in der Physik bei. Als Ergebnis aus der Beobachtung von Körpern unter Wärmeeinwirkung besagt er, dass kein Vorgang ohne Energieverlust stattfindet, d.h. dass die im System der absoluten Zeit vorliegende Symmetrie gebrochen wird. Der abnehmende Energievorrat stellt hier „ein Maß für die Zeit“44 dar. Der Begriff der „Entropie“ bezeichnet in diesem Zusammenhang schließlich das Maß der Unordnung in einem geschlossenen System, während man von thermischem Gleichgewicht dann spricht, wenn innerhalb eines Systems der Endzustand erreicht ist.45 Die Vorstellung der Asymmetrie, die in die Physik die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft hineinnimmt – wie später die Ergebnisse der Heisenberg’schen Unschärferelation, die auf der Annahme basieren, dass Zukunft indeterministisch, also offen ist –, hat schließlich auch die philosophische Zeiterörterung beeinflusst: Die Rede ist von der Anerkennung der Offenheit der Zeit.46 Mit dieser Erkenntnis konnte man allerdings wiederum nicht die nun konträren Zeitvorstellungen, nämlich die deterministischreversible und die der linear-irreversiblen Entwicklung zum thermischen Gleichgewicht, erklären. Das von Ilya Prigogine bezeichnete „Paradox der Zeit“ blieb bestehen und sollte auch durch die Erkenntnisse der Evolutionstheorie nicht aufgelöst werden, die ihrer-
43 Die theologischen Implikationen der Kantischen Zeitauffassung hat Karl Hinrich Manzke erörtert: „Die Frage nach der Einheit der Zeit wird bei Kant ihre Beantwortung in dem Hinweis auf die zeitlose Einheit des Selbstbewußtseins, das sich als Subjekt aller Erkenntnis und aller Erfahrung weiß und setzt, erhalten. Darin wird die Erfahrung der Zeitlichkeit gleichsam stillgelegt. So zeigt die Analyse des Zeitphänomens bei Kant am Ende als der gigantische Versuch, die unendliche gegebene Zeit durch die postulierte Einheit des endlichen Subjekts zur Einheit zu bringen.“ K. H. Manzke: Zeitlichkeit und Ewigkeit, S. 56. 44 Vgl. K. Mainzer: Zeit, S. 74. 45 Zu einer ausführlichen Diskussion der naturwissenschaftlichen Debatte um eine reversible und irreversible Zeitvorstellung siehe: M. Sandbothe: Die Verzeitlichung der Zeit, S. 18-52. 46 Vgl. Georg Picht: Hier und Jetzt: Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 371.
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Theater als Ort der Utopie seits wiederum für eine Störung vom Bild des absoluten Gleichgewichts sorgten.47 Eine entscheidende Rolle spielte dabei, wie Prigogine angibt, erst die Einführung der „Idee des Ereignisses“, die davon ausgeht, dass man das Ereignis als nichtdeterministische Größe anerkennt. Damit wurde, so Prigogine, überhaupt erst die Voraussetzung der Irreversibilität geschaffen, ergänzt um die – trivial klingende – Erkenntnis, dass das Ereignis den weiteren Verlauf entscheidend verändert, ihm also eine neue Richtung gibt.48 Die Einstein’sche Relativitätstheorie wiederum bricht mit der Vorstellung einer in allen Systemen absolut gleichen Zeit und spricht von der System- bzw. Raumabhängigkeit der Zeit. Die bisherige Auffassung einer Unabhängigkeit der Zeitdimension als eindimensionales Kontinuum vom Raum, der in der euklidischen Geometrie das flache, dreidimensionale Kontinuum darstellt (drei kartesische Koordinatenachsen eines Körpers, die in der Anschauung durch die Größen Länge, Breite und Höhe wiedergegeben werden), weicht einer Kombination von Raum und Zeit. Doch obwohl es nach der speziellen Relativitätstheorie (1905) keine „bezugssystemunabhängige Einteilung in Ebenen simultaner Ereignisse mehr gibt“49 und nach der allgemeinen Relativitätstheorie (1915) Zeit selbst an Prozesse gekoppelt ist, d.h. je nach Gravitationsfeld das Verhalten der Körper und der Gang der Uhren variiert und damit weg-, also raumabhängig ist, bilden auch bei der Relativitätstheorie immer noch Zeit und Raum den „Rahmen zur Ereignisbeschreibung“, was bedeutet, dass „Ereignisse durch Raum-Zeit-Punkte repräsentiert“50 werden. Die Physik liefert somit, Manfred Stöckler zufolge, keine Theorie des Raumes und der Zeit, vielmehr „verwendet (Herv. i.
47 Vgl. Ilya Prigogine: Das Paradox der Zeit. Zeit, Chaos und Quanten, München: Piper 1993, S. 40f. Das „Paradox der Zeit“ äußert sich, Prigogine zufolge, erstmals im Briefwechsel zwischen Leibniz und dem Newtonianer Clarke: Gegenüber stehen sich das kausalistisch-immanente Prinzip von Ursache und Wirkung (Leibniz) und die Vorstellung der Entstehung von Neuem durch Gott (Newton, Clarke). Vgl. ebd., S. 59f. 48 Vgl. ebd., S. 74f. 49 Manfred Stöckler: „Ereignistransformationen. Relativierungen des Zeitbegriffs in der Physik des 20. Jahrhunderts“, in: H. M. Baumgartner: Das Rätsel der Zeit, S. 149-177, S. 157. 50 Ebd., S. 155. Die im Folgenden von Hermann Minkowski entwickelte Kategorie der vierten Dimension der Raum-Zeit konnte ebenfalls nicht zur Klärung darüber beitragen. Die „gewisse Vermischung“ von Raum und Zeit, von der Stöckler angesichts des Minkowski-Theorems spricht, findet „nur bei den Transformationsformeln [statt], nicht aber bei der Bedeutung der Zeit- und der drei Raumkoordinaten“. In der Quantenfeldtheorie treten Raum und Zeit dann als „Mannigfaltigkeit auf, die die Raum-Zeit-Transformationen betreffen und bei der Materie“- Vgl. ebd., S. 158 u. S. 165.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter O.)“51 sie Raum und Zeit. Der aus den Erkenntnissen der Relativitätstheorie resultierende Widerspruch zur traditionellen Physik hatte schließlich auch eine philosophische Konsequenz: Er setzte die herkömmliche ontologische Vorstellung von Zeit, bestehend aus einem Kontinuum von Jetzt-Punkten, außer Kraft.52
V.2.3 DIE OFFENHEIT DER ZEIT Henri Bergson hat mit seinen Zeitstudien maßgeblich gegen das naturwissenschaftliche Linearitätsdenken und das Kausalitätsprinzip einer absoluten, richtungslosen Zeit aus der klassischen Mechanik opponiert. Dieses Prinzip sollte nicht die alleinige Basis für die Erklärbarkeit sukzessiver Ereignisse darstellen. Bergsons Kerngedanken kreisen um die Begriffe „Intuition“ und „Dauer“, mit denen er sich von einem homogenen Zeitbegriff distanzieren möchte. In „Zeit und Freiheit“ (1889) extrapoliert er den Begriff der Dauer (la durée) in Differenz sowohl zum Begriff des Raumes als auch zur Vorstellung einer linearen Zeit. Bergson zufolge ist es erst die Analogisierung von Raum und Zeit als jeweils voneinander abgrenzbare und damit messbare Homogenitäten, welche die Vorstellung einer reinen Dauer verhindert. Demgegenüber profiliert Bergson die Dauer als einen sich ständig verändernden Prozess, mit dem zugleich eine Gedächtnisfunktion verbunden ist. Bergsons Kritik gilt damit einem Zeitbewusstsein, das Ereignisse der Zeit in den Raum hineinprojiziert, so dass einzelne Ereignisse nicht ineinander, sondern immer nur nebeneinander erscheinen.53 Während Zeit, Bergson zufolge, eine durch aneinandergereihte Entitäten entstehende Linie auszeichnet, eignet der reinen Dauer eine Heterogenität im Sinne einer Vielheit einander durchdringender Momente. In Kritik an Kants homogenisiertem Zeitbegriff entwirft Bergson die reine Dauer im Unterschied zur Vorstellung von Sukzession als Aneinanderreihung einzelner Momente. Die Dauer des lebendigen Ichs ist, wie Bergson schreibt: „[E]ine qualitative Mannigfaltigkeit, die mit der Zahl keine Ähnlichkeit hat; eine organische Entwicklung, die jedoch keine wachsende Quantität ist, eine reine Heterogenität, innerhalb derer es keine unterschiedenen Qualitäten gibt. Kurz, die Momente der innern Dauer sind nicht einander äußerlich.“54 Diese Vorstellung der Dauer findet schließlich über den Begriff der Diskontinuität Eingang in Bergsons spätere Schriften. In „Materie und Ge-
51 Ebd., S. 158. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Hamburg: Europäische VerlagsAnstalt 1999, S. 79f. 54 Ebd., S. 168.
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Theater als Ort der Utopie dächtnis“ (1896) wertet der Philosoph die Vergangenheit gegenüber der Gegenwart und Zukunft auf und gelangt somit zu seiner von ihm projektierten eigentlichen Zeitvorstellung, was wiederum zu einer hierarchischen Bestimmung des Verhältnisses der Zeitmodi führt. Vor allem die Unterscheidung zweier Formen von Gedächtnis legt Bergsons ontologische Auslegung der Zeit offen: „Wir sagten es gäbe zweierlei durchaus verschiedene Formen des Gedächtnisses: die eine, an den Organismus gebunden, ist nichts anderes als die Gesamtheit der intelligent montierten Mechanismen, welche eine passende Antwort auf die verschiedenen möglichen Fragen verbürgen. […] Das andere ist das wahre Gedächtnis. Koextensiv mit dem Bewußtsein, hält es alle unsere Zustände fest und reiht sie, wie sie sich einstellen, aneinander, lässt jeder Tatsache ihren Platz und gibt ihr ihr Datum, bewegt sich wirklich in der endgültigen Vergangenheit und nicht wie das erste in einer Gegenwart, die unaufhörlich von neuem beginnt.“55
Während also Gegenwart, Bergson zufolge, immer ein zweckgebundenes, auf die Zukunft hin gerichtetes Verhalten impliziert, ermöglicht die Zeitform der Vergangenheit zweckfreie Kontemplation. Die Differenzierung zweier Gedächtnisse als auch die damit verbundene Vorstellung eines unverstellt zugänglichen, wahren Gedächtnisses, markiert bei Bergson eine noch substantialistisch-metaphysische Zeitvorstellung, die zwar Befürwortung, aber auch nachhaltige Kritik provozierte.56 Obwohl Bergson die Zeit getrennt vom Raum denken will, greift er wiederholt auf die Raummetaphorik zurück, um den Begriff der reinen Dauer zu extrapolieren. Er setzt damit die Tradition der Immanentisierung und Subjektivierung der Zeit fort. Der Chemophysiker Ilya Prigogine hat sich nun Bergsons Kritik an der universalistischen Zeitvorstellung für seine naturwissenschaftlichen Studien zunutze gemacht und die Dichotomie zwischen einem physikalischen, deterministischen und einem subjektivistischen Zeitverständnis hinterfragt. Prigogines zentrale Kritik an der „Ideologie der Physik“ galt der Leugnung des Zeitpfeils innerhalb der Physik und der damit verbundenen Nichtanerkennung irreversibler Prozesse, die unvorhersagbare Ereignisse und die Entstehung von Neuem überhaupt erst gewährleisten. Nachdem er den traditionellen Status einer universalen Zeit mit den neuen Erkenntnissen der Thermodynamik dissipativer Systeme erweiterte, kann für Prigogine das Zeitparadox als Resultat einer Nichtvereinbarkeit reversibler und irreversibler Darstellungen inzwischen weitgehend als geklärt und aufgehoben gelten. Prigogine schreibt hierzu: „Irreversibilität 55 Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, Hamburg: Meiner 1991, S. 146. 56 Zur Kritik an Bergsons Analogiekonzept von Raum und Zeit siehe: M. Sandbothe: Die Verzeitlichung der Zeit, S. 87-92.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter und Wahrscheinlichkeit werden zu objektiven Eigenschaften. Sie sind Ausdruck der Tatsache, dass die physikalische Welt, die wir beobachten, nicht auf einzelne Trajektorien oder einzelne Wellenfunktionen reduziert werden kann. […] Es gibt allerdings klassische Systeme, die stabil und zeitlich reversibel sind. Sie entsprechen, wie wir heute wissen, Grenzsituationen, Sonderfällen.“57 Erkenntnisse aus Biologie, Quantentheorie und Chaosforschung führten schließlich dazu, indeterministische Vorgänge überhaupt beschreibbar zu machen. Nicht nur hat man entdeckt, dass lineare Zeitentwicklungen dynamischer Systeme sich neu organisieren und infolgedessen zu neuen Ordnungsstrukturen führen (Bifurkationen).58 Auch Evolution wird damit erklärbar als Ergebnis dissipativer Selbstorganisation, bei der es immer zu Neustrukturierungen von Ordnungssystemen (Emergenz) kommt. Eine entscheidende Erkenntnis der neueren Physik ist demzufolge die Vorstellung eines – aus Beobachtung hervorgegangenen – nichtlinearen Zeitbegriffs. Auch der Chemiker Friedrich Cramer formuliert: „Daraus muss man schließen, daß Chaos eine regelhafte, in der Natur und ihrer Systematik vorgesehene Zustandsform ist, dass also die Welt in ihrer Grundstruktur nichtlinear ist, dass sie aber aus dem deterministischen Chaos immer wieder Inseln der Ordnung hervorbringt, auf denen unsere einfachsten linearen Gesetze angewendet werden können. Die Linearisierung, die wir im kartesisch-newtonschen System notwendigerweise durchführen müssen, um überhaupt physikalische Gesetze hinschreiben zu können, ist daher insulär.“59 Cramer zufolge gleicht die Veranschaulichung der Realität dieser prozessualen Struktur schließlich auch einem verzweigten ZeitEreignis-Diagramm, von dem die Newton’sche Nichtverzweigtheit eine Ausnahme darstellt.60 Hieraus folgert Cramer, dass man in der Beschreibung von Zeit sowohl reversible als auch irreversible Prozesse anerkennen müsse. Entwicklungen ließen sich nicht, wie Evolution und Molekularbiologie paradigmatisch gezeigt hätten, durch „lineare Trajektorien, durch Kreis- oder Ellipsenbahnen darstellen, sondern in Stammbäumen mit vielen Zweigen und charakteristischen Bifurkationen.“61 Für die Physik bedeutet dies allerdings in letzter Konsequenz wiederum, dass, ähnlich wie schon Kant fest57 Vgl. I. Prigogine: Das Paradox der Zeit, S. 315. Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass es aufgrund der nicht unproblematischen Übertragung mikrophysischer Erkenntnisse der Thermodynamik auf eine makrophysikalische Ebene konkurrierende Irreversibilitätstheorien gibt. Vgl. hierzu: M- Sandbothe: Die Verzeitlichung der Zeit, S. 71. 58 Vgl. F. Cramer: Der Zeitbaum, S. 80ff. 59 Ebd., S. 96. 60 Vgl. ebd., S. 97. 61 Ebd., S. 214.
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Theater als Ort der Utopie stellte, die Zeitstruktur von Vergangenheit und Zukunft nicht aus den „Grundgesetzen der Physik […] ableitbar ist“ und immer als „eine a priori vorhandene und objektive Eigenschaft des Naturgeschehens vorausgesetzt werden“62 muss. Messbar ist zwar der „physikalisch objektivierbare Anteil des Zeitgefüges“ von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Da dieses Gefüge aber selbst zeitlich ist, ergibt sich in der Kombination der Modi dieser Dreiheit ein multidimensionales Zeitgefüge, das „keine obere Grenze“63 hat.
V.2.4 DIE DIFFERENZ DER ZEITEN Unentscheidbarkeiten der theoretischen Zeitauffassung – objektive versus subjektive Gegebenheit – ist die neurowissenschaftliche Disziplin mit Resultaten aus der empirischen psychologischen Forschung begegnet. Dort wurde das subjektive Zeiterleben mittels der Messung von Hirnaktivität untersucht. Die scheinbar entgegengesetzten Vorstellungen von Zeit als unentwegtem Fluss, der objektiv gegeben ist bzw. von Zeit als subjektiver Größe, wurden so einer Prüfung unterzogen. So hat Ernst Pöppel erkannt, dass die grundlegendste Erfahrung die der Gleichzeitigkeit ist und dass, um Ungleichzeitigkeit zu erfahren, eine „bestimmte zeitliche Grenze“ zwischen Ereignissen „überschritten“64 werden muss. Dabei wurde festgestellt, dass das Hören durch „das kürzeste Intervall zwischen Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit gekennzeichnet ist“.65 Erst bei etwas mehr als circa drei Tausendstelsekunden liegt die zeitliche Fusionsschwelle, bei der zwei physikalisch getrennt gesendete Ereignisse akustisch als solche wahrnehmbar sind. Hier erst ist der Schritt von Gleichzeitigkeit zu Ungleichzeitigkeit physiologisch gegeben, ohne allerdings die zeitliche Reihenfolge wiederzugeben. Das Intervall, das eine zeitliche Folge erkennen lässt, liegt bei circa 30 Tausendstelsekunden.66 Bei dem gegenüber dem Hörsinn viel trägeren Sehsinn liegt die Schwelle der Wahrnehmung von Ungleichzeitigkeit entsprechend höher, nämlich bei 20 bis 25 Tausendstelsekunden. Daraus ergibt sich, dass das Phänomen der Gleichzeitig62 Bernd-Olaf Küppers: „Entropie, Evolution und Zeitstruktur“, in: D. Kamper/ C. Wulf: Die sterbende Zeit, S. 133-151, S. 148. 63 Ebd., S. 150. 64 Ernst Pöppel: „Gegenwart – psychologisch gesehen“, in: Rudolf Wendorff (Hg.): Im Netz der Zeit: Menschliches Zeiterleben interdisziplinär, Stuttgart: Hirzel 1989, S. 11-16, S. 12. 65 Ebd. 66 D.h., die zeitliche Ordnungsschwelle ist beim Hörsinn zehnmal so hoch wie die zeitliche Fusionsschwelle. Der Übergang von Gleichzeitigkeit zu Ungleichzeitigkeit „ist von einem anderen Mechanismus abhängig als der Übergang von Ungleichzeitigkeit zur zeitlichen Folge.“ Ebd., S. 13.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter keit gegenüber der Ungleichzeitigkeit von der Funktionsweise der Sinnesorgane abhängt. Die Schwellen für Ungleichzeitigkeit sind für jedes Sinnesorgan je nach dem sogenannten Transduktionsmechanismus variabel. Während die Schwelle der Ungleichzeitigkeit verschieden ist, liegt die Wahrnehmung der zeitlichen Ordnung in den drei Sinnesorganen (Hören, Sehen, Tasten) bei etwa 30 Tausendstelsekunden. Das wiederum bedeutet, dass erst nach einer Definition eines Ereignisses als Ereignis dieses sich auch in eine zeitliche Folge stellen lässt. Die Grenze einer solchen Integration zeitlicher Ereignisse zu einheitlichen Wahrnehmungsgestalten liegt, neurophysiologisch betrachtet, bei drei Sekunden. Dass es dennoch zur Vorstellung von Kontinuität kommt, hat, Pöppel zufolge zu tun mit der „semantischen Vernetzung verschiedener Bewußtseinsinhalte“.67 Chronobiologische Untersuchungen haben wiederum ergeben, dass der Hell-Dunkel-Wechsel die circadianische Uhr des Körpers beeinflusst und damit den Schlaf/Wachrhythmus, Blutdruck, Körpertemperatur und Cortisolausschüttung periodisch bestimmt, gesteuert vom suprachiasmatischen Nucleus (SCN) in beiden Gehirnhälften. So bestimmt der Hell-Dunkel-Rhythmus die Zeituhr des Körpers und das subjektive Zeitwahrnehmen, das in der Regel in fünf elementare Formen unterteilt wird: Gleichzeitigkeit, Ungleichzeitigkeit, Aufeinanderfolge, Gegenwart und Dauer.68 Innerhalb der Geisteswissenschaften wiederum hat man versucht, den oben genannten Antinomien mit unterschiedlichen heuristischen Erklärungsmodellen zu begegnen. Paul Ricoeurs Kritik angesichts der diversifizierten Zugriffe in den unterschiedlichen Untersuchungsfeldern etwa richtete sich vor allen Dingen gegen die lange Zeit anhaltenden Synthetisierungsbestrebungen der Phänomenologie: „Diversifikationen, die dem Wort ‚Zeit‘ in den Regionen der Natur, bzw. in den ihnen korrespondierenden Wissenschaften beigelegt werden“, sprächen dafür, die „präsumierte Homogenität der auf die eine Zeitskala projizierten Zeiträume in Frage zu stellen“.69 So ist Paul Ricoeurs umfassende Studie „Zeit und Erzählung“ selbst von der These geleitet, dass „die narrative Komposition“ – und zwar sowohl in Historiographie als auch in Fiktionserzählung – „in
67 Ebd., S. 15. Ergebnisse aus der Beobachtung schizophrener Patienten, die eine Störung der Integrationsfähigkeit aufwiesen, zeigten, dass es sich um einen aktiven Mechanismus des Gehirns und nicht um eine objektiv gegebene Größe handelt. 68 Vgl. Karen Wright: „Chronobiologie. Zeit unseres Lebens“, in: Spektrum der Wissenschaft. Spezial: Phänomen Zeit 1 (2003), S. 62-69. 69 P. Ricoeur: Zeit und Erzählung, S. 148.
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Theater als Ort der Utopie ihrer ganzen Weite genommen, eine Entgegnung auf den aporetischen Charakter der Spekulation über die Zeit darstellt.“70 In der Soziologie wurde demgegenüber das Argument favorisiert, dass alle Zeitformen auf sozialen Konstitutionsleistungen beruhen und Zeitordnungen auf den Vollzug von Handlungen angewiesen sind. Den Bezugsrahmen für neuere Forschungsperspektiven bilden George Herbert Meads und Norbert Elias’ Entwicklungen einer Theorie der sozialen Zeit. In Kenntnis der physikalischen Relativitätstheorie und in Kritik an bewusstseinsphilosophischen Erklärungsmustern entwickelte Mead eine sozialpsychologisch orientierte Theorie der sozialen Zeit, bei der die Anerkennung einer Reziprozität von Bewusstsein und Handeln das entscheidende Merkmal darstellt. Zeit ist demnach weder auf Bewusstseinserlebnisse reduzierbar, wie es die Husserl’sche Phänomenologie des Zeitbewusstseins vorsieht, noch auf die objektive Gegebenheit von Handlungen. Diesen dichotomen Positionen gegenüber verweist Mead auf die Reaktion des Bewußtseins auf das gesellschaftliche Handeln und favorisiert entsprechend einen perspektivischen Zeitbegriff, der immer im Kontext des gesellschaftlichen Handelns gesehen werden muss: „Das Prinzip der Sozialität, […], besteht nun darin, dass das entstehende Objekt in der Gegenwart, in der die entstehende Veränderung auftritt, bei seinem Übergang (passage) aus dem alten in das neue System aufgrund seiner systematischen Beziehungen zu anderen Strukturen verschiedenen Systemen angehört; seine Eigenschaften sind Eigenschaften, die es aufgrund seiner Zugehörigkeit zu diesen verschiedenen Systemen besitzt.“71 Entsprechend ist das Ereignis eine nicht feststehende Kategorie und deshalb von Interesse, weil sich anhand dessen nach einer Reformulierung der Vergangenheit als Bedingung für die Zukunft suchen lässt, und zwar im Sinne einer Kontrolle des Neuentstandenen.72 Mead zufolge, dessen Zeiterörterung der sozialpsychologischen Lesart der Intersubjektivität geschuldet ist, gibt es demnach keinen Ereignisablauf, in dem nicht Vergangenes enthalten ist: „Die Konditionierung dessen, was ge70 Ebd., S. 15. Die These teilen auch die Literaturwissenschaftler John Bender und David E. Wellbery: „Certainly no consideration of narrative could avoid the question of time, and quite probably the converse also holds true. […] The authors [der Aufsatzsammlung, MD] repeatedly depict time as narrative construction. […]. Time is not given but (as our subtitle indicates) fabricated in an ongoing process.“ John Bender/David E. Wellbery: „Introduction“, in: Dies. (Hg.): Chronotypes. The construction of time, Stanford: Stanford University Press 1991, S. 1-15, S. 3f. 71 George Herbert Mead: „Die Philosophie der Sozialität“, in: Ders.: Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969, S. 229-324, S. 296f. 72 Vgl. ebd., S. 244.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter schieht, durch das, was geschehen ist, der Gegenwart durch die Vergangenheit, ist im Ereignisablauf gegenwärtig.“73 Norbert Elias’ weniger systematische Kritik an der ebenso „endlosen“ wie unfruchtbaren Konfrontation zwischen solipsistischen, subjektivistischen und objektivistischen Standpunkten, denen er eine vermittelnde Position gegenüberstellte, verwies ebenso auf die Relativität der Zeit zum seinerseits variierenden Stand sozialer Entwicklungen und Institutionen.74 Raum und Zeit seien dementsprechend in Beziehung zu setzen und zwar in der Form, dass man Raum verstehe als „positionale Relation[en] zwischen bewegten Ereignissen“ und Zeit als „positionale Relationen innerhalb eines Veränderungskontinuums“.75 Gegenüber einer Vereinheitlichungstendenz des Zeitverständnisses, die, wie im Falle Prigogines, vorgibt, die alte Dualität von Naturzeit und Geschichtszeit mittels der Konvergenzthese überwinden zu können einerseits und gegenüber der These von der absoluten Inkommensurabilität von Geschichtszeit und Naturzeit, welche sich in der Vorstellung heterogener, nicht vermittelbarer Zeitkonzepte ausdrückt, favorisiert Mike Sandbothe eine dritte Grundtendenz.76 Sie geht aus von einer grundsätzlichen „Tendenz zur Historisierung und Relativierung (Herv. i. O.) der Zeit“, mit der Überzeugung, „dass die Rolle, welche die Zeit für das menschliche Selbst- und Weltverständnis spielt, Aspekt eines kulturell divergierenden und sich innerhalb einer Kultur geschichtlich wandelnden Netzes von praktischen Weisen des Weltumgangs ist“.77 Diese Vorstellung korrespondiert am einleuchtendsten mit den in der Diskurskritik entwickelten theoretischen Prämissen, dass Gesellschaft weitgehend Resultat vielfältiger und permanenter Ordnungs- und Umordnungsleistungen ist und der Fokus bei der Erforschung historischer Reproduktionen und Transformationen sich entsprechend auf die Praktiken und Vorstellungen kulturellen Ordnens richtet.78 Die physikali-
73 Ebd., S. 246. 74 Vgl. N. Elias: Über die Zeit, S. 93. Um einen essentialistischen Zugriff zu vermeiden, verknüpft Armin Nassehi derlei Überlegungen mit Luhmanns Systemtheorie. Vgl. A. Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 237. 75 N. Elias: Über die Zeit, S. 128f. 76 Vgl. Mike Sandbothe: „Die Verzeitlichung der Zeit in der modernen Philosophie“, in: Antje Gimmler/Mike Sandbothe/Walther Ch. Zimmerli (Hg.): Die Wiederentdeckung der Zeit: Reflexionen – Analysen – Konzepte, Darmstadt: Primus 1997, S. 41-62. 77 Vgl. ebd., S. 44. 78 Vgl. Reinhard Blänkner/Bernhard Jussen: „Institution und Ereignis. Anfragen an zwei alt gewordene geschichtswissenschaftliche Kategorien“, in: Dies. (Hg.): Institution und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstel-
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Theater als Ort der Utopie sche Zeit übernimmt dabei, wie Manfred Stöckler notiert, eine gewisse Rahmenfunktion: „Wenn wir in der Perspektive unserer menschlichen Interessen auf die Zeit Bezug nehmen, nehmen wir immer auch Bezug auf Ereignisse, die im physikalischen Sinne raum-zeitlich eingeordnet sind.“79 Die Erkenntnisse der jüngeren Forschung haben ergeben, dass eine substantialistische und dichotome Bestimmung von Zeit einer offenen, pluralen Zugangsweise gewichen ist. Widersprüchliche und konkurrierende Zeitvorstellungen stehen sich, je nach Untersuchungsschwerpunkt und Bezugsrahmen, zwar gegenüber, müssen sich aber nicht gezwungenermaßen gegenseitig ausschließen. Das allerdings bedeutet nicht, dass keine zu synchronisierenden Aussagen über das Zeitverstehen und den Umgang mit der Zeit getroffen werden könnten. Je nach Kontext variieren, überlagern und überkreuzen sich lineare und nicht-lineare Zeitverlaufsvorstellungen, wenngleich der Verlauf der Zeit für jeden Einzelnen stets in der Sukzession von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlebt wird. Vor dem Hintergrund einer Korrektur (impliziter) geschichtsphilosophischer Topoi, die gerade auf die Linearisierung des Zeitbegriffs angewiesen sind und ihren unhinterfragten Status als objektive Ausgangsposition jeglicher künstlerischer Praxis und ihrer Theoriebildung zum postdramatischen Theater und der Performance Art gegenwärtig – paradoxerweise – halten, bedarf damit auch der Ereignis- und Präsenz-Begriff einer Überprüfung, die der Diversität des Zeitbegriffs geschuldet ist. Das bedeutet aber, eine Akzeptanz der Differenz der Zeiten gilt auch für die Ebene der ästhetischen Erfahrung, ihre Theoriebildung und, in einem weiteren Schritt, der Analyse von Theateraufführungen und Kunstwerken. Mit Sicherheit spielt innerhalb der Zeitspekulation die ästhetische Kategorie des „nunc stans“, die jegliche innerweltlichen Zeitmodi transzendieren soll, eine besondere Rolle. Dennoch, so soll im Folgenden gezeigt werden, handelt es sich dabei um einen ganz bestimmten (ideologiekritischen) Modus der Zeiterfahrung, der selbst auf eine lange Diskurstradition zurückgreift. Keineswegs aber handelt es sich um den einzigen Erfahrungsmodus von Zeit im Bereich ästhetischer Erfahrung. Zuzustimmen ist demgemäß Antje Gimmlers Überlegungen zum Thema „Zeit und Institution“.80 Jenseits der genannten Widersprüche kann Zeit in vorliegendem Kontext nie abgehoben von ihrer unhintergehbaren sprachlichen, praktischen und intersubjektiven Vermitteltheit betrachtet werden: „Die Institutionalisierung von Zeit lungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 9-16, S. 9. 79 M. Stöckler: Ereignistransformationen, S. 176. 80 Vgl. Antje Gimmler: „Zeit und Institution“, in: A. Gimmler/M. Sandbothe/W. Ch. Zimmerli: Die Wiederentdeckung der Zeit, S. 178-196.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter leistet Koordination und Integration in der Form der Synchronisierung der Individuen, indem sie Zeit als unhintergehbare Ordnungsstruktur der Relation von Ereignissen festschreibt und diese objektiviert. Der scheinbar gegenständliche Charakter, den ‚die Zeit‘ in alltäglichen wie in wissenschaftlichen Zusammenhängen erhält, ist Effekt dieser organisierenden Institutionalisierung.“ Zugleich seien jedoch – und dies ist für die vorliegende Studie entscheidend – “Vorfindlichkeit und Konstruktion von Zeitformen gleichermaßen zu berücksichtigen“.81 Eben dieser Forderung soll in Bezug auf die temporalen Begriffe Ereignis und Präsenz Rechnung getragen werden. In diesem Sinne wird deshalb zunächst auf den Status des Ereignisses innerhalb geschichtswissenschaftlicher Überlegungen einzugehen sein, ehe, daran anschließend, der Modus der Gegenwart(serfahrung) im Diskursfeld der Ästhetik erörtert wird, der sich von methodologischen Überlegungen innerhalb der Geschichtswissenschaft zum Teil gravierend unterscheidet. Dabei wird sich herausstellen, dass die vermeintlich schlichten Begriffe Ereignis und Präsenz nicht etwa alltägliche Erfahrungstatbestände beschreiben, sondern vielmehr höchst artifizielle Kategorien sind, die in der Regel bemüht werden, um die paradoxe Erfahrung zeitloser Zeitlichkeit darzustellen, einen – nicht-kommunizierbaren – Erlebnismodus, der zwar traditionell für die mystische Erfahrung reklamiert wird, der aber nicht ungeprüft als Deutungskategorie in die Theaterwissenschaft übernommen werden kann.
V.3 V. 3 „Ereignis“ als historiographische Kategorie oder das Paradox des Ereignisses Der Wandel systematischer Zeitvorstellungen, die Verschränkungen und Wechselwirkungen philosophischer, kultur- und naturwissenschaftlicher Zeittheorien haben gezeigt, dass über alle Diversität hinaus Kontinuitäten in den einzelnen Zeitvorstellungen nachweisbar sind. So hat sich etwa die Frage, ob Zeit eine objektiv gegebene Bezugsgröße ist oder das Ergebnis einer subjektiven Konstruktion darstellt, in einigen Untersuchungsfeldern als unentscheidbar erwiesen, sind biologische von kulturellen Zeitverlaufsvorstellungen nicht zu trennen, vielmehr präformieren diese wiederum die theoretische Auseinandersetzung. Den Bereich der temporalen Organisation in Texten, in Fiktionserzählungen genauso wie in der Historiographie, zeichnet dabei insofern eine Besonderheit aus, als es dort tatsächlich um das mehrschichtige und stark konventionalisierte Verhältnis von einer reinen Abfolge der Ereignisse („histoire“, Ge-
81 Ebd, S. 183.
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Theater als Ort der Utopie schichte) und ihrer strukturellen Anordnung („récit“, Erzählung) geht, die mit der Geschichte nicht identisch ist. Dieses Wechselverhältnis zwischen der Aktualität der Zeit und – mittels Narration – der Verkittung des Zeitverlaufs betrifft jegliche Form diskursiver Anordnung. Beide Ordnungen sind allerdings nicht als epistemologische Opposition zu erachten. Ausschlaggebend ist vielmehr die Beobachtung ihrer Reziprozität, wie sie ihre Darstellung in Fiktionserzählungen und ihrer ebenfalls narrativen Wahrnehmung, respektive Aufbereitung, im historischen Kontext, also ihrer Historiographie, betrifft. Angesichts der theoriekritischen Überlegungen innerhalb der Geschichtswissenschaften und des leitenden Interesses an der Narration von Ereignis(sen) sowie aufgrund der uneinheitlichen Verwendung des Begriffs Ereignis soll der Fokus an dieser Stelle auf dem Begriff des Ereignisses in der geschichtstheoretischen Diskussion gerichtet sein. In den Geschichtswissenschaften eignet dem Ereignis bekanntlich ein äußerst prekärer Status. Nicht nur wurde das Ereignis, einhergehend mit einer Kritik an der politischen Ereignisgeschichtsschreibung als einer Geschichte der „großen Erzählungen“, zugunsten einer Strukturgeschichte in den Hintergrund gedrängt und ergab die dominierende Betrachtung dauerhafter Zusammenhänge eine reduktionistische Auffassung von Einzelereignissen.82 Sowohl serielle wie quantitative Historiographie im Bereich der Wirtschaftsund Sozialgeschichte, die sich, meist deskriptiv, in tabellarischen Auflistungen und graphischen Darstellungen einzelner Serien verlor, ließ Ereignisse und damit Zeit paradoxerweise überhaupt als Folge ahistorischer Modellbildung darin verschwinden.83 Selbst die Auseinandersetzung über die lange Zeit Gültigkeit behauptende Dichotomie Ereignis- versus Strukturgeschichte führte zunächst nicht zu einer Klärung der Struktur des Ereignisses selbst, womit man sich nicht weit von einem Alltagsverständnis des Ereignisses, das es letztlich als einen Punkt in einen logischen Kausalzusammenhang eingereiht versteht, entfernte. Eine erste systematische, nun ihrerseits historisch gewordene, eingehende Beschäftigung mit dieser Thematik im deutschen Sprachraum lieferte der Band „Geschichte – Ereignis und Erzäh82 Vgl. L. Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 117. 83 Vgl. Jochen Hoock: „Ereignis und Konstruktion. Zum Verhältnis von Ereignis- und Strukturgeschichte“, in: Friedrich Balke/Benno Wagner (Hg.): Zeit des Ereignisses – Ende der Geschichte?, München: Fink 1992, S. 41-53. Zur Konzentration auf die Strukturgeschichte als historiographischem Beharrungsmoment im Nachkriegsdeutschland siehe: Andreas Suter/Manfred Hettling: „Struktur und Ereignis – Wege zu einer Sozialgeschichte des Ereignisses“, in: Dies. (Hg.): Struktur und Ereignis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 7-32.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter lung“, der „Poetik und Hermeneutik“- Gruppe, der sich methodologischen Fragen der Geschichtsschreibung jenseits geschichtsphilosophischer Deutungsmuster zuwandte.84 Arno Borst, der eine Begriffsklärung versucht, indem er auf den Ereignis-Begriff in der Historiographie des 19. Jahrhunderts zu sprechen kommt, verweist auf die Analogie zwischen dem Ereignis im historischen und dem Ereignis im Kunstkontext.85 Sein Fazit mündete in das apodiktische Aperçu: Künstlerische Ereignisse gebe es, historische nicht. Denn während historische Ereignisse unwiederbringlich seien, könnte man Kunst aus vergangenen Zeiten auch Jahrhunderte später noch rezipieren.86 Zwar fiel der Beitrag zur theoretischen Klärung des Ereignis-Begriffs gering aus, doch trug Borst damit immerhin zur Befestigung der diskursiven Konvention bei, Kunst wiederholt Gegenwartsfähigkeit zu unterstellen, ein Aspekt, der im folgenden Kapitel ausführlich zur Sprache kommen wird. Im gleichen Band problematisierte Reinhart Koselleck das Verhältnis von Ereignis-und Strukturgeschichte. Die Anerkennung eines säkularen Geschichtsbegriffs sollte auch die Revision eines naturalisierten Ereignis-Begriffs nach sich ziehen.87 Koselleck selbst spricht sich dabei weder für eine Privilegierung des Ereignisses noch der Strukturen aus. Vielmehr betont er, dass die „Faktizität ex post (Herv. i. O.) ermittelter Ereignisse […] nie identisch mit der als ehedem wirklich zu denkenden Totalität vergangener Zusammenhänge“88 sei. Koselleck bestimmt das Verhältnis von Ereignis und Struktur somit derart, dass ein Ereignis als solches, ohne Bezug auf Chronologie und Struktur, nicht denkbar und darüber hinaus auch nicht darstellbar ist: Bestimmte Ereignisse finden erst statt, weil
84 Vgl. Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung, München: Fink 1973. Siehe auch: Jacques Revel: „Die Wiederkehr des Ereignisses – ein historiographischer Streifzug“, in: A. Suter/M. Hettling: Struktur und Ereignis, S. 158-174. 85 Vgl. Arno Borst: „Das historische ‚Ereignis‘“, in: R. Koselleck/W.-D. Stempel: Geschichte – Ereignis und Erzählung, S. 536-540. 86 Vgl. ebd., S. 540. Hans Robert Jauß formulierte demgegenüber: „Das Ereignis liegt dem Zugriff des Historikers immer schon voraus; es ist nicht ein subjektives Schema narrativer Aneignung, sondern dessen äußere Bedingung.“ Hans Robert Jauß: „Versuch einer Ehrenrettung des Ereignisbegriffs“, in: R. Koselleck/W.-D. Stempel: Geschichte – Ereignis und Erzählung, S. 554-560, S. 554. 87 Vgl. Reinhart Koselleck: „Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen“, in: R. Koselleck/W.-D. Stempel: Geschichte – Ereignis und Erzählung, S. 211-222. 88 Reinhart Koselleck: „Ereignis und Struktur“, in: R. Koselleck/W.-D. Stempel: Geschichte – Ereignis und Erzählung, S. 560-571, S. 567.
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Theater als Ort der Utopie bestimmte Strukturen ihr Erscheinen überhaupt ermöglichen und umgekehrt. Problematisch an Kosellecks Erläuterungen ist nun, wie Rainer Leschke einleuchtend erörtert, dass sie zwar, anders als Arno Borst, das Verhältnis von Ereignis- und Strukturgeschichte reflektieren, aber Ereignisse als an individuelle Intentionalität gebunden interpretieren, denen über-individuelle Strukturen gegenüberstehen.89 Allerdings ist, wie Leschke weiter darlegt, ein systemtheoretischer Zugriff nicht minder problematisch. Die systemtheoretisch motivierte Absage an einen emphatischen Ereignis-Begriff ergebe schließlich, dass der Unterschied zwischen „Ereignissen mit und ohne systemverändernde Qualität“90 irrelevant sei. Leschke selbst spricht sich für die Anerkennung des Zirkels von Ereignis und Struktur aus. Das Ereignis gebe es „nur als erzähltes und [sei] als solches das Ergebnis einer Setzung [...], die immanent nicht erklärbar ist“.91 Dabei ist es die Logik der Erzählung, welche „die Konstruiertheit des Ereignisses und damit ihr jeweiliges Subjekt und seine ‚Willkür‘ vergessen lässt. Die Offenheit des Ereignisses sei Effekt des zuvor initiierten Bruchs und im Moment seiner Erzählung bereits wieder vergangen.“92 Analog zu den angesprochenen Zeittheorien werden auch hier Ereignisse – wie Strukturen – als nicht außerhalb ihrer Narration liegende Phänomene erachtet. Ihre Abhängigkeit vom Erzählmodus und der diesem vorausgehende Selektionsprozess ist nicht hintergehbar. Gegenüber der Dichotomie Struktur/Ereignis und der Vorstellung, dass Ereignisse immer nur Ergebnis einer systemischen Operation seien, schlagen Andreas Suter und Manfred Hettling vor, der Komplexität von Ereignissen mit einem ebenso komplexen Analyseraster zu begegnen. Zu den Ereignis-Aspekten, wie Überraschung, verstanden als Durchbrechen einer Erwartungshaltung und dieser Erfahrung als kollektiver, fügen Suter und Hettling den Aspekt der Strukturveränderung hinzu. Abzusehen sei dabei von einem objektiven, bzw. überindividuellen Strukturbegriff und damit von Zusammenhängen, „die jenseits oder unterhalb des menschlichen Handelns […] existierten und die menschliches Handeln im Sinne von geschichtsmächtigen Handlungszwängen, welche die Akteure vorfinden, bestimmen“.93 Demgegenüber sei zwar der Aspekt der Konstruktivität von Ereignissen durch selektive Anordnung und 89 Vgl. Rainer Leschke: „Am Rande der Ereignisse – Überlegungen zu ihrem hermeneutischen Gebrauch“, in: F. Balke/B. Wagner: Zeit des Ereignisses, S. 151-174. 90 R. Leschke: Am Rande der Ereignisse, S. 172. 91 Ebd., S. 162. 92 Ebd., S. 163. 93 W. Suter/M. Hettling: Struktur und Ereignis, S. 26.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter damit die langsam sich verändernden Regelmäßigkeiten und Muster auch in ihrer narrativen Anordnung zu berücksichtigen. Gleichzeitig aber sollten jene Modifikationen immer vor dem Hintergrund der „Erwartungen hegende[n] und Ziele verfolgende[n] Akteure und deren soziale[m] Handeln“ betrachtet werden. Entsprechend definieren die Autoren: „Gesellschaftliche Wirklichkeit werden Strukturen nur durch das Handeln der Menschen, in das sie als erkannte Handlungschancen und -schranken eingehen und deren Resultat sie wiederum darstellen. Aufgrund erkannter Handlungschancen und -schranken handeln Akteure so und nicht anders – und eben dadurch werden Strukturen als intendiertes und nichtintendiertes Resultat menschlichen Handelns aufrechterhalten, variiert und prozeßhaft verändert oder aber durchbrochen und ereignishaft transformiert.“94
Dieser Ansatz berücksichtigt die Bedingungen und Wirkungen von Ereignissen ebenso wie die Logik und Dynamik von Strukturen, jenseits einer rein chronologischen, vermeintlich kausallogischen Reihung.95 Das Ereignis selbst könne dann als kulturell bedingte Komplexitätsreduktion gelesen werden, die einen überkomplexen strukturellen Kontext auf eine „pragmatisch handhabbare Situationsbeschreibung übersetzt“, gleichzeitig aber den „Spielraum für kreative Deutungen und Umdeutungen“96 nicht vernachlässigt. Die der Foucault’schen Diskurskritik analogen Fragen lauten hier: „Welche Strukturen, die wir von außen beschreiben können, gehen in die Situationsdeutung der Akteure ein? Welche bleiben draußen und warum? […] Wie funktioniert der interpretative Konstruktionsprozeß der Akteure? […] Welche Wahrheit sagen uns die Akteure?“97 Eine derartige methodische Doppelbewegung ermöglicht eine Interpretation von Ereignis und Präsenz in ihrer jeweiligen Relation zu den pluralen Strukturen, die über ein reduktionistisches und normatives Kausalitätsprinzip ebenso hinausgeht wie über a priori ideologiekritische Implikationen. So gesehen kann auch alles, was mit dem Feld der ästhetischen Erfahrung verbunden wird – und darüber hinaus, mit einer Theaterhistoriographie, die mit dem Ereignisund Präsenzbegriff arbeitet – nur im Sinne dieser Doppelbewegung interpretiert werden.
94 95 96 97
Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 28. Ebd. Ebd., S. 29.
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Theater als Ort der Utopie
V.4 Die Verzeitlichung der Zeit und das philosophische Jetzt: Ereignis und Präsenz im Kontext des philosophischphilosophisch - ästhetischen Diskurses Ein Diskursfeld, in dem den Begriffen Ereignis und Präsenz besondere Aufmerksamkeit zuteil wird, ist die philosophische Zeittheorie, die im 20. Jahrhundert in enger Verbindung zur Theorie der ästhetischen Erfahrung steht. Dabei zeigt sich, dass die jüngeren Theaterdiskurse zum postdramatischen Theater und zur Performance Art Anleihen bei einem philosophischen Ereignis- und Präsenzbegriff nehmen, der, wie bereits in Kapitel II.4.4.4 gezeigt, einen ganz bestimmten Gegenwartsbegriff favorisiert. In der Regel werden sie auf theoretischer Ebene als Komposita einer nicht-repräsentationalen Ästhetik begriffen, als gegenwarts- und/oder vernunfttranszendierende Erfahrungsmomente und/oder als Modi ideologiekritischer Distanznahme gegenüber kausallogischen Ordnungsmustern. Die Komplexität, die der Ereignis- und Präsenzbegriff innerhalb der philosophischen Zeittheorie einnimmt, bleibt dabei allerdings meist unberücksichtigt.98 Das vorliegende Kapitel ist deshalb auch von der Frage nach dem performativen Widerspruch geleitet, der sich ergibt, wenn man Ereignis und Präsenz, also per definitionem transitorische und gegenwartsbezogene Phänomene, zu einer ahistorischen, statischen Kategorie erklärt. Geboten ist deshalb an dieser Stelle, den Ereignis- und Präsenzbegriff auf den jeweils unterschiedlichen Ebenen der philosophischen Zeittheorie und der ästhetischen Erfahrung zu kontextualisieren und die Begriffe selbst vor dem Hintergrund ihrer Popularität in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Dynamik zu betrachten. Wie schon in Kapitel II.4, III und IV.2 bis IV.4, soll auch hier auf die Antinomien innerhalb der Theoriebewegungen verwiesen werden, über die die allzu einmütige Apologie des Ereignis- und Präsenzbegriffs meist hinweggeht.
V.4.1 DAS „JETZT“ ALS GARANT ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG IN DER PERSPEKTIVE MODERNER ÄSTHETIK-KONZEPTE Geht es um die Erörterung dieses Modus des Zeitverstehens im Kontext zeitgenössischer Studien und deren Tradition, wird deut98 Erstaunlich angesichts der Popularität des Ereignis-Begriffs innerhalb der Theatertheorie ist, dass Erika Fischer-Lichte nur am Rande in einer Fußnote auf Heideggers Gesamtausgabe (!) und auf Lyotards „Essays zu einer affirmativen Ästhetik“ (1982) verweist. Zugleich wird konstatiert, dass „die phänomenologische Analyse von der Ereignishaftigkeit der Aufführung ihren Ausgang“ nehme. Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung, S. 262.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter lich, dass man mit den in Kapitel V.2.4 erörterten physikalischen und neurophysiologischen Erkenntnissen zu Messbarkeit und Wahrnehmung von Zeit bald am Ende der Diskussion angelangt ist. Da neurophysiologische Untersuchungen den Ereignis-Begriff pragmatisch verwenden, sie also Ereignisse nicht als emphatisch zeittranszendierende Erlebnisinhalte, sondern als schlichte Unterbrechung zeitlicher Sukzession verstehen, stehen sie weitgehend quer zu den inhaltlichen Bestimmungen philosophisch-ästhetischer Diskurse. Der von Pöppel erforschte Wahrnehmungsmodus von Zeit lässt zwar die hirnphysiologisch gestützte Hypothese, dass der zeitliche Aspekt der Informationsverarbeitung bei drei Sekunden liegt,99 plausibel erscheinen. Keine Begründung liefert der kognitionstheoretische Zugriff aber, wenn es darum geht zu klären, wie bestimmte traditionelle Deutungsmuster einen bestimmten Ereignis- und Präsenz-Begriff innerhalb des Diskursfelds der Ästhetik präformieren. Eine ähnliche Situation gilt für die Erforschung des Ereignisses innerhalb der Relativitätstheorie und der Theorie der Raum-Zeit, die auch Künstler nach ihrer Entdeckung inspirierte.100 Zwar besagt die spezielle Relativitätstheorie, dass ein Zeitintervall zwischen zwei Ereignissen beobachterabhängig ist, d.h. von einem Beobachter gleichzeitig wahrgenommene Ereignisse sind für einen entgegengesetzt bewegten Beobachter nicht gleichzeitig. Zugleich verhält es sich aber so, dass dieser Effekt erst nahe der Lichtgeschwindigkeit ausgeprägt ist und damit in der Wahrnehmung des Alltags verschwindet.101 Kurz, anzuerkennen sind zwar die Effekte, welche die Vorstellung einer Relativität der Zeit auch auf philosophische Zeittheorien und auf künstlerische Konzepte hatten. Unwahrscheinlich ist hingegen eine sich im Wahrnehmungsprozess dem Zuschauer offenbarende physikalische Relativität, die sich in irgendeiner Form bei der Rezeption von Kunst geltend machen könnte. D.h., über den Status vager Analogiebildungen kommt man mit der Übernahme naturwissenschaftlicher Erkenntnisse derzeit wohl nicht hinaus.
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Vgl. Ernst Pöppel: Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich, München: Hanser 2006, S. 183ff. Pöppel zufolge lässt sich die subjektive Gegenwart als „Drei-Sekunden-Segmentierung“ auch im Bereich der Kunst beobachten. So etwa in der Musik, in der sich die Zeitintervalle musikalischer Motive auf etwa drei Sekunden beschränken (als Beispiele erwähnt Pöppel Joseph Haydn und Gustav Mahler ). Tonale Flächen würden vor allem über das Halten eines Tones von drei Sekunden geschaffen. In der Dichtkunst gelte ebenfalls eine Zeitsegmentierung von drei Sekunden. 100 Vgl. Linda Dalrymple: The Fourth Dimension and Non-Euclidian Geometry in Modern Art, Princeton: Princeton University Press 1983. 101 Vgl. Paul Davies: „Zeitreisen. Bauanleitung für Zeitmaschinen“, in: Spektrum der Wissenschaft. Spezial: Phänomen Zeit 1 (2003), S. 18-23.
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Theater als Ort der Utopie Demgegenüber sollen im Folgenden jene geisteswissenschaftlichen Konzepte zur Debatte stehen, auf die in der Theaterwissenschaft in der Regel (implizit) Bezug genommen wird, wenn dort der Ereignis- und Präsenz-Begriff verhandelt wird. Der Versuch der Bestimmung und Benennung eines Wahrnehmungsmodus außerhalb der Zeit durch eine Metaphorik des Augenblicks, geht nämlich auf philosophische Debatten zurück, die zu dem Zeitpunkt, als sich die Theater- und Kunstwissenschaften des Ereignis- und Präsenzbegriffs annahmen, schon eine lange Geschichte hinter sich hatten und dementsprechend komplex ausdifferenziert waren. Die Präsenz-Metaphorik ist, wie Hans Holländer schreibt, „ebenso alt, wie universal. Sie beginnt in den Epiphanien des Altertums und mit dem Begriff des ‚Kairos‘.“102 Im vorliegenden Zusammenhang ist die von diesem Zeitpunkt an datierende Tradition des Augenblicksdenkens aber erst ab der Wende zum 19. Jahrhundert relevant. Um das Jahr 1800 erfährt es, analog zu den bereits beschriebenen Subjektivierungsprozessen, einen Wandel, der in engem Zusammenhang mit den in Kapitel III.4.1 bis III.4.4 beschriebenen kulturkritischen und geschichtsphilosophischen Denkbewegungen steht. Das Selbstreflexivwerden des Subjekts geht einher mit der „Verzeitlichung der Zeit“. Zugleich wird diese Statusveränderung auf der Ebene ästhetischer Erfahrung durch eine zeittranszendierende Ästhetik kompensiert. Karl-Heinz Bohrer widmete sich in einer Studie mit dem Titel „Plötzlichkeit“103 bereits 1981 diesem Thema. Bohrer konzentriert sich auf das Augenblicksdenkenenken in ästhetischen Schriften der Moderne und gibt Aufschluß darüber, dass die Zeiterfahrung der Plötzlichkeit, die auch für den Ereignis- und Präsenz-Begriff zentrale Bedeutung hat, mit der Romantik zunehmend thematisiert wird.104 Nach Bohrers Meinung lässt sich besonders die fragmenta-
102 Hans Holländer: „Augenblick und Zeitpunkt“, in: Ders./Christian W. Thomsen (Hg.): Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaften, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 7-21, S. 20. 103 Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. Die Studie ist als Fortsetzung des 1978 erschienenen Bandes „Die Ästhetik des Schreckens“ zu verstehen. Hans-Thies Lehmann verweist in „Postdramatisches Theater“ auf Bohrers Zeitanalysen. Die „Ästhetik des Schreckens“ erweise sich als hilfreich, „um die Präsenz genauer zu umreißen“, auf die es in der Performance und im postdramatischen Theater ankomme. Vgl. H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 256ff. 104 Manfred Frank hat zudem erörtert, dass die romantische Zeitspekulation in der modernen Philosophie wirkungsgeschichtlich bis Husserl keine Rolle gespielt habe. Über Kant hinaus sei auch im deutschen Idealismus Zeit
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter rische Erzählweise der modernen Literatur seit der Romantik als Ausdruck des Widerstands gegen temporale Kontinuitätsvorstellungen lesen. Sowohl in philosophischen (Nietzsche, Benjamin, Heidegger) als auch in literarischen (Kleist, Musil, Joyce und Proust) Texten sei zu erkennen, dass die dem instanten Moment verpflichtete zeitliche Konzeption eine bewusste, strategische Negation der Kontinuität des Zeitbewusstseins darstellt. Das Augenblicksdenken, das nach Bohrer mit dem Abschied vom Schönen in der Kunst einhergeht, vereint dabei mehrere eng aufeinander bezogene Motive. Dazu gehören beispielsweise die Epiphanie als durchgängiges Phänomen der Augenblicksliteratur105 sowie die Feier des Augenblicks, der eine reine Selbstpräsenz im Jetzt ermöglicht, wie man es, Bohrer zufolge, etwa in Marcel Prousts berühmter Schilderung der selbstvergessenen, aber zugleich mit außergewöhnlich präsenten Kindheitserinnerungen aufgeladenen Lust antreffen kann, die der Held von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beim Biss in ein Madeleine verspürt.106 Ein weiteres zentrales Motiv dieser für die ästhetische Moderne typischen Erzählstrategie bildet der Schock, der „ohne Erklärbarkeit und extrem in seiner psychischen Wirkung“.107 aus dem Nichts in das Leben der Menschen einbricht. Kulturhistorisch betrachtet ist diese ästhetische Strategie für Bohrer Kennzeichen eines solipsistischen Rückzugs des Subjekts angesichts der Dekadenz der modernen Gesellschaft.108 Bohrers einseitig modernistische Lektüre der Augenblicksliteratur der verzeitlichten Moderne, bei der das Momenthafte universalistisch gegen eine komplexe Zeitdarstellung in sämtlichen Literaturen ausgespielt wird, verdeutlicht, dass,
105 106 107
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noch nicht verzeitlicht gedacht worden. Erstmals in Novalis‘ Schriften gehe es um die Inadäquatheit von Selbstbewusstsein und Sein. Vgl. Manfred Frank: Zeitbwußtsein, Pfullingen: Neske 1990, S. 10f. Vgl. K. H. Bohrer: Plötzlichkeit, S. 63. Vgl. ebd., S. 190. Karl-Heinz Bohrer erörtert dieses, seit Baudelaires Metaphorisierung, „wichtige Inventar der Ästhetik“ in: Karl-Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 161. Auch Carsten Zelle sieht im Modus des Schreckens ein genuin aufklärerisches Konzept. Gegenüber Bohrer konstatiert er jedoch, dass sich die Ästhetik des Schreckens bereits Ende des 17. Jahrhunderts ankündigt. Anhand des damit einhergehenden Wandels von einer moralisch ausgerichteten Wirkungsästhetik hin zu einer Ästhetik des Genusses, die das Grauen als angenehm wertschätze, macht Zelle den Motor des Scheidungsprozesses von Ethischem und Ästhetischem innerhalb der Künste aus. Vgl. Carsten Zelle: ‚Angenehmes Grauen‘. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert, Hamburg: Meiner 1987, S. XXIIIff.
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Theater als Ort der Utopie wie schon bei Lyotard (vgl. Kapitel II.4.4.4) der Augenblick bei ihm den Status eines quasimystischen Erfahrungsmoments einnimmt. Man muss deshalb fragen, ob sich eine derart dominante Privilegierung des Augenblicks aus den fraglichen Texten wirklich so eindeutig destillieren lässt, wie Bohrer das behauptet. So hat etwa Gérard Genette in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ein komplexes Verweissystem temporaler Strukturen nachgewiesen, innerhalb dessen der Augenblick nur eines von vielen erzählstrategischen Momenten und keineswegs das wichtigste ist.109 Man kann also durchaus so weit gehen zu behaupten, dass bei Bohrer der Modus der Ideologiekritik die Wahrnehmung anderer Temporalstrukturen überformt, da aufgrund einer Apologie einer Augenblicks-Erfahrung andere Modi der Zeiterfahrung und -organisation abgewertet werden. Die Apologie des Augenblicksdenkens ist damit auch bei Bohrer – wie schon bei Lyotard, Adorno und Deleuze – nicht allein auf den Moment ästhetischer Erfahrung bezogen. Sie ist umfassenderer Art und steht im Kontext einer idealistischen Ästhetik, die in der Erfahrung des „nunc stans“ den Ort der Utopie und der Ideologiekritik gleichermaßen anerkennt: „So wie das Ideal der traditionellen Utopie immer das Gegenmodell der schlechten Gegenwart impliziert, so setzt auch der utopische ‚Augenblick‘ des der Gesellschaft entfremdeten Ichs immer eine bewußte, entschiedene und radikale Kritik an dieser Gesellschaft voraus. […] Die utopische Qualität, so wäre zu ergänzen, liegt in der spezifischen Graduierung punktuell erfaßbarer Erlebnisse in der Zeit, in der das reine ‚Jetzt‘ mit dem ihm innegewordenen ‚Danach‘ einen Kreis bildet. Das ist die Struktur des reinen Zustands.“110
Analog zu den oben genannten Autoren dient Bohrer eine mimetische Kunst als Negativ-Folie, anhand derer sich die Erfahrung des reinen Zustands als Spezifikum der Plötzlichkeitserfahrung überhaupt herstellen lässt: „Die Öffnung des Phantasie-Potentials des Lesers, die Bedingung einer Utopie des Ästhetischen eben, ist bei abbildenden Schreibweisen im Sinn einer Mimesis weniger wahrscheinlich als bei den verschiedenen Formen einer als ‚surrealistisch‘ oder ‚magisch‘ charakterisierten Moderne“.111 Dass Bohrers Apologie des Momenthaften, die zu weiten Teilen von demselben Sendungsbewusstsein geprägt ist, das er bei den von ihm als Kronzeugen aufgerufenen Autoren diagnostiziert, weder inhaltlich noch von der Emphase her alternativlos ist, zeigen die demgegenüber eher deskriptiven Untersuchungen Günter Wohlfarts, der eine Analyse der „Sprachlichkeit“ des Augenblicks als ästhetischer Zeiterfah109 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, München: Fink 1998, S. 29. 110 K.-H. Bohrer: Plötzlichkeit, S. 187. 111 Ebd.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter rung vorgelegt hat.112 Wohlfart zufolge beginnt die Reflexion darüber nicht erst Ende des 18. Jahrhunderts, sondern bereits mit Platon, der die Kategorie im Phaidros mit der Erfahrung des Schönen verbindet: „Der Augenblick, in dem plötzlich […] das Schöne gesehen wird, ist der Augenblick des ‚Berührtwerdens vom Wahren‘ (Plato): In ihm ist der höchste Augenblick körperlicher Liebe aufgehoben. […] Der Augenblick der Erfahrung des Schönen ist als Augenblick der Erfüllung des Sinns der Augenblick der Erfüllung der Zeit, der Augenblick der Koinzidenz von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, in der die in Dimensionen geteilte Zeit in sich zusammenfällt.“113 Es ist offensichtlich, dass sich diese Interpretation mit Bohrers These von der Auszeichnung der Erfahrung des Augenblicks als genuin modernem Modus ästhetischer Wahrnehmung nicht vereinbaren lässt. Zu ähnlich abweichenden Ergebnissen kommt auch der Philosoph Georg Scherer, der anhand dreier theologischer Positionen eine ähnlich weit zurückreichende Diskursgeschichte rekonstruiert. Wie Scherer darlegt, ist es gerade der ‚Augenblick‘ als „bestimmte Zeiterfahrung“, der auf Gemeinsamkeiten hinweist. Augenblick, verstanden als „erfüllte Zeit, Fülle der Zeit, das plötzlich, überraschend, und unvorhergesehene in die Zeit Einfallende und den Menschen Überkommende“, sind Bedeutungen, die ihrerseits begriffsgeschichtliche Analogien, mit dem griechischen Wort Kairos „als dem günstigen Zeitpunkt, der willkommenen und fruchtbaren Zeit, der Gegenwart gelingenden Lebens“114 erkennen lassen. Im Neuen Testament ist es der eschatologische Kairos mit der Ankunft Jesu, in dem „der von Gott bestimmte, prophetisch bezeugte Heilstermin als Heilssituation der Menschen eingetreten“ und damit das „Vollmaß der Zeit“ erreicht ist, wie es, so Scherer, bei Markus 1,15 und im Epheserbrief 1,10 formuliert ist.115 Die Ankunft Jesu, seine Taten und Worte einerseits sowie das Warten auf seine Wiederkunft als „alles umspannende Erfüllung“ andererseits, sind es aber, welche zugleich das Ephemere und die Doppelseitigkeit dieses Ereignisses bezeichnen. Scherer schreibt hierzu: „Es entzieht sich dann aber wieder in eine unzulängliche Verborgenheit. In diesem Ereignis 112 Vgl. Günter Wohlfart: Der Augenblick. Zeit und ästhetische Erfahrung bei Kant, Hegel, Nietzsche und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust, Freiburg, München: Alber 1982. 113 Ebd., S. 14f. 114 Georg Scherer: „Der Augenblick im Denken Europas“, in: Helmut Girndt (Hg.): Zeit und Mystik. Der Augenblick im Denken Europas und Asiens, Sankt Augustin: Academia 1992, S. 113-128, S. 113. Außerdem siehe: Gianluca Solla: „‚Alles, was der Fall ist.‘ Der Messias als Ereignis überhaupt“, in: N. Müller-Schöll (Hg.): Ereignis, S. 48-59, S. 48. 115 Vgl. G. Scherer: Der Augenblick im Denken Europas, S. 123.
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Theater als Ort der Utopie seines Kommens und Gehens, dem Augenblick erfüllter Zeit, stiftet es aber den Menschen, die es erfahren eine unauslöschliche Erinnerung ein, die sie nicht mehr vergessen.“116 Die Doppelseitigkeit des Ereignisses ist in diesem Fall begründet in der Anwesenheit und Abwesenheit zugleich, wie die einschlägigen Textstellen des Neuen Testaments belegen.117 Augustinus wiederum wendet, wie Scherer weiter nachweist, das platonische Augenblicksverständnis ins christliche. Augenblickserfahrung als erfüllte Zeit, als Gegenwart des Ewigen, im Gegensatz zur Zeit, die immer, weil sie vorübergeht, nicht-seiend ist, ereignet sich bei Augustinus dabei einzig im Dialog mit Gott.118 Die Augenblicksvorstellung von Thomas von Aquin ist schließlich insofern auf Gott und das Ewige bezogen, als er im Schöpfungsakt, der sich selbst ohne Bewegung vollzieht, den Uraugenblick schlechthin erblickt. Dieser Akt ist für Thomas von Aquin nicht zeitlich, sondern verbürgt als ein Akt ohne Bewegung, Kontinuität im Fortdauern der Schöpfung, die damit ein „Fortwähren des Augenblickes“119 ist. Insgesamt betrachtet zeigt die Struktur des transzendenten Augenblicksdenkens, dass auch in den quasi-mystischen Vorstellungen der Moderne, die ihren Ausdruck in einem zeittranszendierenden Begriff von Plötzlichkeit, Augenblick, Ereignis und Präsenz findet, schon je mehr gemeint war als nur die Apologie einer momenthaften Unterbrechung eines linearen Kontinuums. Die Vorstellung zeittranszendierender Erfahrung ist in diesem Zusammenhang in aller Regel mit der Parteinahme für eine Ethik verbunden, die in der Kombination einer bestimmten Zeiterfahrung (Plötzlichkeit, Augenblick, Ereignis, Präsenz) mit gegenwartskritischen Wertvorstellungen gründet. Gegenwartskritische Implikationen lassen sich auch in der philosophischen Zeitbetrachtung des 20. Jahrhunderts nachweisen, die, wie zu zeigen sein wird, das Ereignis- und Präsenzdenken theatertheoretischer Diskurse instrumentiert.
116 Ebd. 117 Georg Scherer verweist hier zudem auf jene Bibelstellen, die um die Auferstehung Jesus Christus‘ sowie die Erscheinung des Heiligen Geistes kreisen: das 20. Kapitel des Johannes-Evangeliums und die Apostelgeschichte (A.p.g. 2, 2). 118 Vgl. ebd., S. 118. 119 Ebd., S. 121.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter
V.4.2 HUSSERLS PHÄNOMENOLOGIE DES INTENTIONALEN ZEITBEWUSSTSEINS ALS GEGENWARTSKRITISCHE GEGENWARTSPHILOSOPHIE Dass im Lauf des 20. Jahrhunderts innerhalb der philosophischen Zeitbetrachtung Zeit immer weniger synthetisierend gedacht werden sollte, hat bemerkenswerterweise nicht zur Auflösung der Apologie der Erfahrung des „nunc stans“ in philosophischen und wissenschaftlichen Erörterungen geführt. Immer wieder ging es darum, ein essentialistisches Erfahrungsmoment zu destillieren, nicht zuletzt auch im Modus der ästhetischen Erfahrung selbst. Es ist vermutlich nicht ganz abwegig, die Ursache hierfür in einer spezifischen modernen Sehnsuchtsbewegung, der Suche nach einer Transzendenz ohne Gott, zu suchen. Ein Verweis auf Husserls phänomenologische Untersuchungen des Zeitbewusstseins als immanente Zeit des Bewusstseinverlaufs, die von Martin Heidegger, Paul Ricoeur und Jacques Derrida ausführlich diskutiert und kritisiert wurde, dürfte hier als „Vorgeschichte“ aufschlussreich sein. Im Anschluss an Husserl ergibt sich nämlich eine diskursgeschichtliche Doppelbewegung: Husserl bezieht Zeit auf ein intentionales Bewusstsein, das diese Zeit operativ herstellt und so Gegenwart konstituiert. Demgegenüber wird im folgenden aber die subjektzentrierte Bewusstseinsphilosophie einer Kritik unterzogen, die konsequenterweise auch in einen dezentrierten Gegenwarts- respektive Ereignis-Begriff münden müsste. Dies ist aber, wie zu zeigen sein wird, nur teilweise der Fall. Vielmehr ist es ein komplexes Gefüge von Metaphysikkritik, Resten metaphysischer Zeitvorstellung und weltanschaulichen Ideologemen, die das Diskursfeld, auf dem der Ereignis-Begriff verhandelt wird, wesentlich prägen. Husserl geht es in „Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“120 (1893-1917) um eine transzendentalphilosophische Begründung des subjektiven Zeitbewusstseins. Sie soll klären, warum sich zeitliche Objektivität trotz subjektiven Zeitbewusstseins einstellt. Um die Funktionsweise zur Herstellung gegenwärtiger Bewusstseinsakte zu veranschaulichen, wählt Husserl das Beispiel der Melodie. Wie ist es möglich, so seine Frage, dass ein Ton als kontinuierlich erfahren werden kann, obwohl die Gegenwart nicht von Dauer ist, weil die Zeit ständig vergeht. Um darauf eine schlüssige Antwort bieten zu können, verwendet Husserl zwei ungewöhnliche Begriffsschöpfungen: Retention und Protention. Während die Retention das Vergangene vergegenwärtigend erinnert – im Sinne eines
120 Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, in: Ders.: Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 10, Dordrecht u.a.: Kluwer 1966.
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Theater als Ort der Utopie gegenwärtigen Anhaltens eines Tones, auch wenn dieser schon verklungen ist –, ist die der Retention entgegengesetzte Protention eine Erwartungsintention, die die Erinnerung begleitet. Der Grund für den Eindruck der Kontinuität liegt, Husserl zufolge, im Bewußtsein(sakt) selbst begründet. Er entsteht dadurch, dass die „Urimpression“ des Tons im Zusammenspiel von Erwartung und Erinnerung verstetigt wird: „Der ‚Quellpunkt‘, mit dem die ‚Erzeugung‘ des dauernden Objektes einsetzt, ist eine Urimpression. Dies Bewußtsein ist in beständiger Wandlung begriffen: stetig wandelt sich das leibhafte Ton-Jetzt […] in ein Gewesenes, stetig löst ein immer neues Ton-Jetzt das in die Modifikation übergegangene ab. Wenn aber das Bewußtsein vom Ton-Jetzt, die Urimpression, in Retention übergeht, so ist diese Retention selbst wieder ein Jetzt, ein aktuell Daseiendes. […] Das TonJetzt wandelt sich in Ton-Gewesen, das impressionale Bewußtsein geht ständig fließend über in immer neues retentionales Bewußtsein.“121
Diese „Ontologisierung der Gegenwart“122 ist der neuralgische Punkt der Husserl’schen Zeitphänomenologie. Sie hält nicht nur an einer Vorstellung einer Kontinuität des Bewusstseinsstromes, der selbst unzeitlich den Objektivationen des Bewusstseins gegenübergestellt wird, fest. Sie ist auch an ein Modell der Intentionalität des Bewusstseins gebunden, das einerseits abgeschieden gedacht werden soll, als ein Ablauf von Punkten der Kontinuität, dem andererseits aber die jeweiligen Jetzt-Wahrnehmungen unverbunden gegenüberstehen.123 Über den Hiatus dieser Konstruktion kann auch die Beteuerung nicht hinwegtäuschen, die Verfassung des inneren Zeitbewusstseins werde allein „durch phänomenologische Introspektion“ und „mit unbezweifelbarer Evidenz“124 erklärt. Der Präsentismus eines unhintergehbaren Anfangsgrundes baut auf einen essentialistischen Zeitbegriff und wirft dadurch mehr Probleme auf, als er löst: „[I]n Husserls Suggestion der einfachen Präsenz eines von sich aus Gegebenen“, so Jürgen Habermas, geht „jene Struktur der Wiederholung verloren, ohne die nichts dem Fluß der Zeit und dem Strom der Erlebnisse entrissen und als dasselbe präsent gemacht werden, eben repräsentiert werden kann.“125 Dass die Verzeitlichung der Präsenz allerdings ebenfalls nicht zur Auflösung einer Apologie einer zeittranszendierenden Gegenwartserfahrung geführt hat, sondern vielmehr gerade diese Form der Zeiterfahrung für den
121 122 123 124 125
Ebd., S. 29. M. Sandbothe: Die Verzeitlichung der Zeit, S. 95. Vgl. M. Frank: Zeitbewußtsein, S. 13ff u. S. 47. M. Sandbothe: Die Verzeitlichung der Zeit, S. 93. J. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 205.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter Bereich der ästhetischen Erfahrung so anziehend machte, soll im Folgenden gezeigt werden.
V.4.3 HEIDEGGERS VERZEITLICHTER ZEITENTWURF UND DIE BESCHWÖRUNG DES „JETZT“ IM EREIGNIS V.4.3.1 Heidegger und das ZeitZeit-Denken als EreignisEreignis-Denken Heidegger, der sich intensiv mit Husserl auseinandergesetzt hat, ist der Ereignis-Denker schlechthin und spielt als Gewährsmann für die zeitgenössische Ästhetik des Performativen eine dementsprechend prominente Rolle. Seine Zeitphilosophie ist Teil seiner Metaphysikkritik, in der er eine Umkehrung der philosophischen Tradition vom „Wesens-Was“ zum „Wesens-Dass“126 anstrebt. Die Kunst wird dabei zu einer Instanz, die die Hoffnung vermittelt, dass der Mensch vor den Verfallserscheinungen der Moderne – die streng genommen die Fortsetzung der abendländischen Seinsvergessenheit bedeuten – bewahrt werden kann. Im Unterschied zu Lyotard und Deleuze, die ihrerseits auf Heidegger Bezug nehmen, sind die Begriffe „Zeit“ und „Ereignis“ bei ihm nicht nur Bausteine einer Philosophie, sondern stehen im Zentrum einer radikalen Metaphysikkritik. Zeitlichkeitsanalyse und ästhetische Erfahrung bilden, vom Funktionscharakter der Kunst ausgehend, bei Heidegger eine Schnittstelle, in der das Ereignisdenken eine Zuspitzung erfährt. Unterschieden werden müssen dabei verschiedene Stationen in Heideggers Schriften, die das Denken von Zeit und Ereignis je anders akzentuieren. In „Sein und Zeit“127 (1927) stellt Heidegger die Frage nach dem Sinn von Sein, die, wie er sagt, von der abendländischen Philosophie die längste Zeit über vernachlässigt, wenn nicht ganz vergessen wurde. Seiendes, so Heidegger, sei in der Geschichte der Ontologie seit den Griechen immer als Anwesenheit, als „ousia“ gedacht worden. Diese griechische Seinsauslegung habe sich allerdings „ohne Kenntnis oder gar Verständnis der fundamentalen ontologischen Funktion der Zeit, ohne Einblick in den Grund der Möglichkeiten dieser Funktion“ vollzogen: „Im Gegenteil: die Zeit selbst wird als ein Seiendes genommen, und es wird versucht, sie selbst aus dem Horizont des an ihr unausdrücklich-naiv orientierten Seinsverständnisses in ihrer Seinsstruktur zu fassen.“128 Heideggers von der Existenz des Menschen ausgehende „Analytik des Seins“ versucht dage-
126 Rainer Marten: „‚Der Begriff der Zeit.‘ Eine Philosophie in der Nußschale“, in: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, S. 22-26, S. 22. 127 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1967. 128 Ebd., S. 26.
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Theater als Ort der Utopie gen aufzuweisen, dass „der Sinn des Seins des Seienden, das wir Dasein nennen“129 nur über die Analyse der Zeitlichkeit verstanden werden kann. Bei Heidegger ist das Dasein deshalb von vornherein „In-der-Welt-Sein“ und schließlich „Mit-Sein“ mit anderen. Das „Inder-Welt-Sein“ als „Mit-Sein“ mit Anderen führt aber zugleich je schon die Verfallenheit an „das Man“ als Seinsentlastung mit sich, das in seiner Alltäglichkeit als uneigentliches Sein seine Durchschnittlichkeit verbürgt. Um zur Eigentlichkeit des Seins vorzudringen, muss man nach Heidegger über die Grundstruktur des Daseins nachdenken. Seine Antwort lautet: Weil das Dasein sich in der Welt zu dieser verhält, ist sein Wesen die Sorge.130 Der Fundamentalanalyse des Daseins folgt die Analyse der Zeitlichkeit, denn „[d]ie gegliederte Strukturganzheit des Seins des Daseins als Sorge wird erst aus ihr existential verständlich.“131 Heidegger entwirft diese „Zeitlichkeit“ zunächst in Differenz zu einem „uneigentlichen“ und einem „vulgären“ Zeitverständnis. Das vulgäre Zeitverständnis, dem es ausschließlich um die zweckgebundene Ver- und Errechnung von Zeit geht, ist als Derivat des Derivats bei Heidegger am weitesten von der eigentlichen Zeitlichkeit entfernt. Das Jetzt dieser Zeit geht als „pures Nacheinander“132 lückenlos in einer Vorher/Nachher-Relation auf. Die uneigentliche Zeitlichkeit ist der eigentlichen dagegen insofern schon näher, als sie der konkreten Besorgtheit des Daseins entspringt und aus ihm die „andrängenden Bedeutungen von ‚Zukunft‘, ‚Vergangenheit‘ und ‚Gegenwart‘ … erwachsen“.133 Die Eigentlichkeit der „eigentlichen“ Zeitlichkeit ergibt sich daraus, dass sie die Gewissheit um den eigenen Tod berücksichtigt, die, wie Rainer Marten bündig formuliert, „das Dasein in der Gewißheit seiner Eigentlichkeit“134 durchherrscht. Dasein ist also nicht nur Sorge, sondern auch ein Sein zum Tode. „Eigentliche Vergangenheit“ meint vor diesem Hintergrund den existentialen zeitlichen Seinssinn des Seienden, das sofern es ist, je schon Geworfenes ist: „Nur weil Sorge in der Gewesenheit gründet, kann das Dasein als das geworfene Seiende, das es ist, existieren.“135 Der Modus des eigentlichen Gewesen-seins ist nach Heideg129 130 131 132 133
Ebd., S. 16f. Vgl. ebd., S. 192. Ebd., S. 234. Ebd., S. 421. Vgl. ebd., S. 326. Uneigentliche Zukunft bestünde demnach im „Sein beim Besorgten“, uneigentliche Vergangenheit im Vergessen, dem „an die ‚Äußerlichkeit‘ des Besorgten verlorene[n] Dasein“, uneigentliche Gegenwart schließlich in der Gerichtetheit auf das nächst Besorgte. Vgl. ebd., S. 337 u. 339. 134 R. Marten: Der Begriff der Zeit, S. 23. 135 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 328.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter ger die Wiederholung. „Eigentliche Zukunft“ ist als Vorlaufen ein Vorlaufen zum Tode. Es eröffnet dem in die Welt geworfenen Menschen, der sich in seinem Sein zu diesem verhält, die eigentlichen Seinsmöglichkeiten. „Eigentliche Gegenwart“ wiederum ist durch den „Augenblick“ gekennzeichnet: „Dieser Terminus muss im aktiven Sinne als Ekstase verstanden werden. Er meint die entschlossene, aber in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet. Das Phänomen des Augenblicks kann grundsätzlich nicht aus dem Jetzt aufgeklärt werden. Das Jetzt ist ein zeitliches Phänomen, das der Zeit als Innerzeitigkeit zugehört: das Jetzt, ‚in dem‘ etwas entsteht, vergeht oder vorhanden ist. ‚Im Augenblick‘ kann nichts vorkommen, sondern als eigentliche Gegen-wart lässt er erst begegnen, was als Zuhandenes oder Vorhandenes ‚in einer Zeit‘ sein kann.“136
Der Augenblick als zeittranszendierende Zeitform – als Zeit ohne Zeit –, in der eigentliche Gewesenheit und eigentliche Zukunft als vorlaufend-wiederholend zusammenfallen,137 wird von Heidegger also offenbar strukurhomolog zur mystischen Erfahrung gedacht. Als genuin an die Daseinsanalyse gebunden wird Zeit damit nicht nur in ein dichotomes Raster von Eigentlich/Uneigentlich eingeteilt.138 Der Gedanke, die Zeit müsse in ihrer Eigentlichkeit zurückgewonnen werden, mündet zudem in einer Apologie des Augenblicks, die jegliche Aporien synthetisieren soll. Indem drei je verschiedene Gegenwartsvorstellungen gesetzt werden, gelingt es, eine synthetisierende Kontinuität in die Augenblickserfahrung selbst zu verlagern. Während das sogenannte vulgäre Zeitverständnis in einer nicht umkehrbaren Jetztfolge Zeit selbst formalisiert und schließlich nivelliert, wird das gegenwärtig-behaltende Gegenwärtigen zur Erfahrung eigentlicher Zeitlichkeit stilisiert. Die Aporie zweier entgegengesetzter Zeitvorstellungen, erweist sich als unauflösbar. Die Apologie einer Augenblickserfahrung mithin als Diskurskontinuum innerhalb einer – jenes vermeintlich durchbrechende – Metaphysikkritik. In den späteren Schriften, vor allem in den postum veröffentlichten „Beiträgen zur Philosophie“ (1936-1938), stehen Begriff und Phänomen des Augenblicks noch stärker im Mittelpunkt. Nicht „ein Gegenständliches“ soll dargestellt werden, vielmehr geht es darum, „dem Er-eignis übereignet zu werden, was einem Wesenswandel des Menschen aus dem ‚vernünftigen Tier‘ (animal rationale) in das Dasein gleichkommt. Die Überschrift lautet daher Vom Ereignis. Und 136 Ebd., S. 338. 137 Vgl. G. Wohlfart: Der Augenblick, S. 123. 138 Vgl. M. Sandbothe: Die Verzeitlichung der Zeit, S. 118f.
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Theater als Ort der Utopie das sagt nicht, dass davon und darüber berichtet werde, sondern will heißen: Vom Ereignis er-eignet ein denkerisch sagendes Zugehören zum Seyn in das Wort ‚des‘ Seyns.“139 Das Ereignis wird so zum Modus des entgrenzenden Denkens par excellence, in dem, so Heideggers Hoffnung, die „Wahrheit des Seyns“ zum Vorschein kommen soll. Heideggers Denkbewegung140 liefert keine Theorie des Ereignisses. Im Kern geht es vielmehr darum, zu wissen, dass „das Wesen des Seyns nie endgültig sagbar ist, bedeutet keinen Mangel, im Gegenteil: das nichtendgültige Wissen hält den Abgrund und damit das Wesen des Seyns gerade fest. Dieses Festhalten des Abgrundes gehört zum Wesen des Daseins als der Gründung der Wahrheit des Seyns. Festhalten des Abgrundes ist zugleich das Einspringen in die Wesung des Seyns dergestalt, dass dieses selbst seine Wesensmacht entfaltet als das Er-eignis, als das Zwischen für die Notschaft des Gottes und die Wächterschaft des Menschen. Das Erdenken des Seyns, die Nennung seines Wesens, ist nichts anderes als das Wagnis, den Göttern hinaus zu helfen in das Seyn und dem Menschen bereit zu stellen die Wahrheit des Wahren.“141
Dieses Zwischen als Ereignis bezeichnet Heidegger selbst als das Durchgangsmäßige der Unterscheidung von Sein und Seiendem,142 die „ontologische Differenz“ damit selbst als in der Schwebe des Unbestimmten.143 Nicht als Lehre will Heidegger folglich die seinsgeschichtliche Wendung erfasst wissen, sondern als „Weisung“. Die Überschriften „Der Anklang“, „Das Zuspiel“, „Der Sprung“, „Die Gründung“, „Die Zukünftigen“, „Der letzte Gott“ bilden in den Beiträgen sechs Fügungen der Fuge, die Heidegger als – aus der Musik entliehenen – Gegenbegriff zum philosophischen Systemgedanken
139 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: Ders.: Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt a.M.: Klostermann 1989, S. 3. 140 Der Begriff Denkbewegung trifft wohl recht annähernd Heideggers Schreibstil in den „Beiträge[n] zur Philosophie“, die sich durch immerwieder-kehrende Motive auszeichnen und damit einer Engführung von Sprache und Denken folgen. Zu diesem Aspekt des „esoterischen“ Textes siehe: Richard Polt: „‚Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis): ‚Ein Sprung in die Wesung des Seyns‘“ in: D. Thomä: Heidegger-Handbuch, S. 184194, S. 185. 141 M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie, S. 460. 142 Zur Unterscheidung von Sein und Seiendem schreibt Heidegger: „Das Da ist die geschehende, er-eignete und inständliche Wendungsaugenblicksstätte für die Lichtung des Seienden in der Ereignung. Die Unterscheidung hat nichts mehr von dem bodenlosen nur logisch-kategorial-transzendental Gemeinten und Benötigten. Die bloße Vorstellung von Sein und Seiendem als Unterschiedenem ist jetzt nichtssagend und irreführend, sofern sie im bloßen Vorstellen festhält.“ Ebd., S. 273. 143 Vgl. ebd., S. 468.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter verstanden wissen will. In ihnen drücke sich die Zusammengehörigkeit der Wahrheit des Seins und des Da-seins, als Ereignis verstanden, in je eigener Weise aus.144 Das Sein als Ereignis wird, so Friedrich-Wilhelm Herrmann, von Heidegger gedacht als Doppelbewegung des Ereignisses des Da-seins als Geworfenheit in das Da und zugleich als daseinsmäßiger Vollzug des ereigneten Entwurfs.145 Über die Augenblicks-Denker Nietzsche, Kierkegaard und Hölderlin hinaus, die Heidegger zu Zeugen werden, „die vergessene Dimension der Wahrheit als Augenblick-Stätte aufzudecken“,146 wird der Augenblick damit genuin von der Grenzsituation des Todes her gedacht, die das Zeitverstehen des Augenblicks als „Gleich“Zeitigkeit der drei Ekstasen rechtfertigt. Damit gibt, wie Otto Pöggeler ausführt, „nicht das Verfügen über eine Substanz, aber die Treue zum offenen Existieren […] der Existenz ihre Stetigkeit, die sich in den Augenblicken bewähren muss.“147 V.4.3.2 Heideggers Ereignis und die Offenbarung der Kunst in der ästhetischen Erfahrung Diese seinsgeschichtliche Ausrichtung des Ereignis-Denkens korrespondiert schließlich mit Heideggers Überlegungen zur Kunst, die selbst einen Teil – die vierte Fügung – auch innerhalb der „Beiträge zur Philosophie“ darstellen. In dem 1936 entstandenen und 1950 veröffentlichten Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerks“148 wird, vor dem Hintergrund des kulturellen Verfalls der Moderne, die Kunst zu einem der Philosophie gleichrangigen Ort der Wahrheit erklärt. Ganz in der Tradition poetologischer Deutungsmuster von Kunst erörtert er anhand einer Begriffsbestimmung von Werk und Ding das „Andere“ der Kunst, um gleichzeitig, so das Ziel, über diese kategoriale Unterscheidung hinauszugelangen. Der Dingbegriff, den Heidegger für beide Erscheinungsformen des Objekthaften ausgezeichnet sieht, ist für ihn die „Synthesis von Stoff und Form“, die sich auf den unmittelbaren Anblick berufen kann und, Heidegger zufolge, auf Natur- wie Gebrauchsdinge gleichermaßen „paßt“.149 Im Unterschied zur „Selbstgenügsamkeit des Kunstwerkes“, ist für Heidegger die Selbstgenügsamkeit des Dings aber von anderer Gestalt. Ein Granitblock etwa, so Heideggers Beispiel, besitzt zwar Form, ist aber nicht in Form gebracht, er ist ein „Stoffliches in einer 144 Hierzu siehe: Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers ‚Beiträgen zur Philosophie‘, Frankfurt a.M.: Klostermann 1994. 145 Ebd., S. 19. 146 Otto Pöggeler: Heidegger in seiner Zeit, München: Fink 1999, S. 62. 147 Ebd., S. 72. 148 Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart: Reclam 2001. 149 Ebd., S. 19.
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Theater als Ort der Utopie bestimmten, wenngleich ungefügten Form“.150 Für das Ding nun, dessen Funktionsbestimmung die Dienlichkeit im Sinne des für „Gebrauch und Brauch“ Hergestellten besitzt, hält Heidegger den Begriff des Zeuges bereit, wie er ihn schon in „Sein und Zeit“ entworfen hat. Das Zeug verbürgt Weltlichkeit, in die das Dasein immer schon gestellt ist. Heidegger schreibt: „Das Zeugsein des Zeuges besteht in seiner Dienlichkeit.“151 Heidegger zufolge erweist sich nun anhand der Auslegungsgeschichte des Dings, analog zur Seinsvergessenheit, dass Werk, Ding und Zeug immer als Seiendes, verstanden als Anwesendes, gedacht worden sind und ihre eigentlichen Bedeutungszuweisungen unterblieben. Am Beispiel von Vincent van Goghs Gemälde „Ein Paar Schuhe“ expliziert Heidegger, was das Werkhafte des Kunstwerks vom Zeug unterscheidet: „Van Goghs Gemälde ist die Eröffnung dessen, was das Zeug, das Paar Schuhe in Wahrheit ist. Dieses Seiende tritt in die Unverborgenheit seines Seins heraus. Die Unverborgenheit des Seienden nannten die Griechen aletheia (άλήθεια). […] So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“.152 Nicht aber als adaequatio im Sinne einer Abbildfunktion einer vorausgesetzten Wirklichkeit will Heidegger seinen Wahrheitsbegriff verstanden wissen. Er versteht die Kunst als jenen Ort, an dem die Eröffnung, das Entbergen des Seins als Wahrheit des Seienden geschieht. Wahrheit, die, wie Heidegger schreibt, immer verstanden worden war als „Übereinstimmung der Erkenntnis mit der Sache“,153 und die nur Abwandlungen eines Begriffs sind, welcher Wahrheit mit Richtigkeit assoziiert, reiche nicht aus, um das Spezifikum der Kunst zu durchdringen. Der Heidegger’sche Begriff der Wahrheit entsteht im Prozess, er ereignet sich im Vollzug, dessen Bedeutung sich nicht vorab ermitteln lässt. Denn: Die Entbergung der Wahrheit als Lichtung des Seins im Kunstwerk enthält, Heideggers Erläuterungen zufolge, immer auch das „Gegenwendige“, die Verbergung. Heidegger greift hier – bezeichnenderweise – auf die Theatermetapher zurück: „Die offene Stelle inmitten des Seienden, die Lichtung, ist niemals eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang, auf der sich das Spiel des Seienden abspielt. Vielmehr geschieht die Lichtung nur als dieses zwiefache Verbergen. Unverborgenheit des Seienden, das ist nie ein nur vorhandener Zustand, sondern ein Geschehnis. Unverborgenheit (Wahrheit) ist weder eine Eigenschaft der Sachen 150 Ebd., S. 20. 151 Ebd., S. 26. 152 Ebd., S. 30. Das Kunstwerk ist eingespannt in die Dialektik von Welt und Erde. Während die Welt das Offene zeigt, stellt die Erde das Sichverschließende dar. 153 Ebd., S. 49.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter im Sinne des Seienden, noch eine solche der Sätze. […] Mit dem verbergenden Verweigern soll im Wesen der Wahrheit jenes Gegenwendige genannt sein, das im Wesen der Wahrheit zwischen Lichtung und Verbergung besteht.“154 Mit der Positionsbestimmung als Da-Zwischen, an der sich die Wahrheit zeigt, ist auch die Nähe zum Ereignishaften bestimmt: „Das Ereignis seines Geschaffenseins zittert im Werk nicht einfach nach, sondern das Ereignishafte, dass das Werk als dieses Werk ist, wirft das Werk vor sich her und hat es ständig um sich geworfen. Je wesentlicher das Werk sich öffnet, um so leuchtender wird die Einzigkeit dessen, dass es ist und nicht vielmehr nicht ist. […] Im Hervorbringen des Werkes liegt dieses Darbringen des ‚dass es sei‘.“155 Damit wird Kunst zum genuinen Ort der Eigentlichkeit erklärt, an dem sich Wahrheit als Vollzug ereignet. Das sich ereignende Kunstwerk ist „eine Instanz“, so Hans-Georg Gadamer, „die vor dem allgemeinen Verlust der Dinge bewahrt. Wie Rilke inmitten des allgemeinen Schwindens der Dingheit die Unschuld des Dinges dichterisch verklärt, indem er es dem Engel zeigt, so denkt der Denker den gleichen Verlust der Dingheit, indem er zugleich ihre Bewahrung im Kunstwerk erkennt.“156 Die typischen Begleiterscheinungen einer quasi-mystischen Funktionszuweisung an die Kunst wurden ausführlich beschrieben.157 Im Rahmen einer zeittypischen Modernekritik diagnostiziert auch Heidegger einen Funktionsverlust der Kunst aufgrund des Reibungsverlusts innerhalb des Kulturbetriebs und durch den „Sog der Technik“, der auf Kosten des Werkseins der Kunst gehe.158 Und wie auch schon bei Adorno – und später dann bei Lyotard und Deleuze – ist es nur eine bestimmte Form der Kunst, der der Status der Eigentlichkeit zugestanden wird.159 Für das Ereignis-Denken von zentraler Bedeutung ist darüber hinaus der Hinweis auf die Dominanz des Zenbuddhismus in Heideggers Auseinandersetzung mit der ostasiatischen Kunst.160 Das Nô-Spiel, Haiku-Dichtung und Hakuins Tuschmalerei werden für den Philosophen zu Exempla dafür, dass das Nicht-Darstellbare dargestellt 154 Ebd., S. 52f. 155 Ebd., S. 66. Im Zusatz heißt es: „Die Besinnung darauf, was die Kunst sei, ist ganz und entschieden nur aus der Frage nach dem Sein bestimmt. Die Kunst gilt weder als Leistungsbezirk der Kultur, noch als eine Erscheinung des Geistes, sie gehört in das Ereignis, aus dem sich erst der ‚Sinn vom Sein‘ bestimmt.“ Ebd., S. 91f. 156 Ebd., S. 112. 157 Vgl. Günter Seubold: Kunst als Enteignis. Heideggers Weg zu einer nicht mehr metaphysischen Kunst, Bonn: Bouvier 1996, S. 18ff. 158 Vgl. M. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, S. 70. 159 Vgl. G. Seubold: Kunst als Enteignis, S. 41ff, 50ff u. 60ff. 160 Vgl. ebd., S. 86f.
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Theater als Ort der Utopie werden könne, ohne dabei Sinnbild zu sein.161 Die Konvergenz von Mystischem und Ästhetischem findet somit auch hier ihren Ausdruck, welcher, darüber hinaus, komplementär zu einem Archetypus des Utopischen entfaltet wird: als die vorausgesetzte Existenz eines vergangenen Ideals, das es zukünftig anzustreben gilt. Ungewöhnlich ist diese Verknüpfung nicht, da Heidegger sich nach anfänglicher Religions- und Theologiekritik auf eine Wiederbesinnung des Mythischen und des Heiligen vor einem Wahrnehmungshintergrund der fortschreitenden Technisierung konzentrierte.162 Obwohl Heidegger sich vehement gegen den Vorwurf zur Wehr setzte, seinerseits eine neue Metaphysik begründen zu wollen, sieht er, wie Otto Pöggeler formuliert, das Göttliche als zugleich anwesend und abwesend in der Augenblicklichkeit des Vorbeigangs aufscheinen.163 Anhand von Heideggers Zeitphilosophie und seinen davon nicht zu trennenden Interpretationen zur Kunst lassen sich die Antinomien innerhalb des Ereignis- bzw. Augenblicksdenkens selbst ablesen. Der Wunsch nach einem radikal verzeitlicht gedachten Sein als Dasein endet zuletzt bei einer vermeintlich „eigentlicheren“, tatsächlich aber entzeitlichten Zeitvorstellung, der Strukturganzheit der drei Ekstasen. Heideggers Zeitkritik ist eine Modernekritik, die im Ereignis die zeittranszendierende Erfahrung schlechthin erblickt. Diese ist als ästhetische Erfahrung aber nicht wertfrei, sondern der Ort der Wahrheit. Auch Heidegger befindet sich somit im Diskurskontinuum der in Kapitel II.4 ausführlich erläuterten idealistischen (quasi-mystischen) Philosopheme. Die Kritik am Repräsentationsgedanken, der von einer Kohärenz von Sache und Erkenntnis ausgeht, mündet hier im Ereignis-Denken in eine andere Syntheseleistung, und zwar projektiert auf die Augenblickserfahrung selbst, die ihre geschichtlich gebildete Kontinuität gleichfalls verbürgen kann. Die Apologie des Ereignisses ist bei Heidegger das Resultat einer radikalen Zeitkritik, die in der Negation der Trivialopposition Präsenz versus Repräsentation ihr Gegenstück findet. Dieses EreignisDenken bildet gleichsam die Matrix für den in der Theaterwissenschaft so populären Ereignis- und Präsenz-Begriff, und für eine, wie in Kapitel I. erläutert, Apologie des Da-Zwischen. Jacques Derrida 161 Vgl. ebd., S. 90 u. 95ff. 162 Vgl. O. Pöggeler: Heidegger in seiner Zeit, S. 258. 163 Vgl. ebd., S. 260. Friedrich-Wilhelm von Herrmann wiederum verwies auf die Verwandtschaft mit dem Gelassenheitsdenken des Meister Eckhart in den „Beiträgen zur Philosophie“. Vgl. F.-W. v. Herrmann: Wege ins Ereignis, S. 386. Analogien zum buddhistischen Denken hat Dieter Sinn nachgewiesen. Vgl. Dieter Sinn: Ereignis und Nirwana. Heidegger – Buddhismus – Mythos – Mystik. Zur Archäotypik des Denkens, Bonn: Bouvier 1990.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter knüpft an Heideggers Metaphysikkritik an. Zugleich markiert er eine der Schnittstellen für die in der Theaterwissenschaft so wichtige Performativitäts-Debatte, die erst verständlich wird, rekurriert man auf den metaphysikkritischen Denkraum, der sie begleitet.
V.4.4 DERRIDAS PRÄSENZKRITIK ZEITERÖRTERUNG
ALS METAPHYSIKKRITISCHE
Jacques Derrida, der für die Theorie des postdramatischen Theaters und der Performance Art so wichtige Exponent des Poststrukturalismus, hat das abendländische Präsenzdenken einer radikalen Kritik unterzogen und sich dabei unter anderem intensiv mit Heidegger auseinandergesetzt. In der für Derrida typischen, Kontinuitäten und Ambivalenzen aufdeckenden Argumentationsweise – kurz, mit dem Verfahren der Dekonstruktion – macht er sich an ein Unternehmen, das auf den ersten Blick Heideggers Metaphysikkritik zu wiederholen scheint: eine Radikalkritik einer philosophischen Tradition, die in Kategorien von Substanz und Ursprung denkt. Tatsächlich geht es bei Derrida aber weniger um ein Wiederholen als um ein Überbieten. Ausdrücklich setzt er sich zum Ziel, über Heideggers Philosophie hinauszugehen, indem er „eine Richtung andeuten will, die von Heideggers Nachdenken nicht erschlossen wird. Wir meinen den verborgenen Übergang, der das Problem der Anwesenheit mit dem der geschriebenen Spur in Verbindung bringt“.164 In dem Aufsatz „Ousia und gramme“, der sich mit dem Aristotelischen und dem Kantischen Zeitbegriff sowie mit Heideggers fundamentalontologischer Kritik der temporalen Struktur des Daseins auseinandersetzt, entfaltet Derrida den ontologiekritischen Gedanken, dass eine Dialektik, die in der Negation der Gegenwart eine andere Gegenwart setze, dem „vulgären Zeitbegriff Tribut zollt“.165 Derrida notiert: „Wir müssen die Verbindung von Wahrheit und Gegenwart denken in einem Denken, das wohl gar nicht länger mehr wahr oder anwesend (Herv. i. O.) zu sein hat und für das der Sinn und der Wert von Wahrheit so fragwürdig geworden sind, wie sie die Philosophie in keinem ihrer Momente je hat in Frage stellen können, vor allem nicht der Skeptizismus mit seinem ganzen System.“166 Derrida gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die Vorstellung eines vulgären Zeitbegriffs der traditionellen Philosophie zur Metaphysik gehöre und dass dieser immer nur das Gegenstück ei-
164 Jacques Derrida: „Ousia und gramme. Notiz über eine Fußnote in ‚Sein und Zeit‘“, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 53-84, S. 54. 165 Ebd., S. 58. 166 Ebd.
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Theater als Ort der Utopie nes anderen Zeitbegriffs sein könne, der seinerseits nur „mit Hilfe anderer metaphysischer oder onto-theologischer Prädikate konstruiert“167 werden kann. Die Konstruktion des Gegensatzpaares ist, Derrida zufolge, Teil des metaphysischen Denkens. Auch Heideggers Differenzierung von Sein und Seiendem löse das metaphysikkritische Versprechen nicht ein.168 Da die im Ursprungsdenken befangene Metaphysik aber nach Derrida in der Tat nicht perpetuiert werden darf, muss eine Möglichkeit gefunden werden, Heideggers kritisches Programm auf andere Weise umzusetzen. Derrida setzt seine Hoffnungen in den Begriff „Spur“. Spur verstanden als „Inschrift in den metaphysischen Text, als Hinweis nicht auf eine andere Anwesenheit oder andere Form von Anwesenheit, vielmehr auf einen ganz anderen Text. Eine derartige Schrift ließe sich nicht more metaphysico denken. […] Sie ist selbst etwas, was sich der Herrschaft entziehen soll. Die Inschrift einer solchen Spur in den metaphysischen Text hat auf eine so undenkbare Art zu geschehen, dass sie als ein Erlöschen der Spur selbst zu beschreiben ist.“169 Mit dem Denken der Spur verfolgt Derrida also eine Dekonstruktion jeglicher dichotomer Struktur. Anund Abwesenheit könnten demgemäß nicht mehr als geschiedene Kategorien gedacht werden, vielmehr ist das eine jeweils immer schon in dem anderen enthalten, und selbst diese Aussage scheint für Derrida schon den Keim zu einem erneuten Rückfall in dichotome Denkmuster zu enthalten. Die radikale Apologie der Ambivalenz, die selbst über eine mögliche Dichotomie innerhalb des Ambivalenz-Denkens hinausgeht, hat Derrida in sämtlichen seiner Texte entfaltet. Seine Metaphysikkritik verbindet er darüber hinaus mit einer Phonozentrismuskritik, die davon ausgeht, dass die abendländische Philosophie die Vorstellung der (Selbst-)Präsenz schon je an die Stimme gebunden habe. Derrida tritt demgegenüber ein für eine Rehabilitierung der Schrift, die er in enger Verbindung mit dem Begriff der Spur anerkannt wissen will. Die Schrift ist der Ort an dem die Differenzen sich artikulieren. Zum Ausdruck bringt Derrida seine an die Schrift gebundene Präsenzkritik in der Schreibweise „différance“, die im Schriftbild jenen Unterschied zum Vorschein bringen soll, der in der gesprochenen Sprache getilgt ist, denn die übliche orthographische Schreibweise ist „différence“.170 In einem Graphem artikuliert Derrida damit die Infragestellung einer Theorie der Anwesenheit, als deren Pendant die Abwesenheit fungiert. Statt der Vorraussetzung eines repräsentierbaren Abwe167 168 169 170
Ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 83f. Ebd., S. 82f. Vgl. Jacques Derrida: „Die différance“, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, S. 29-52.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter senden als Basis eines ontologischen Zeit- und Zeichenbegriffs will „différance“ eine Spielbewegung ausdrücken, welche die differentiellen, nicht arretierbaren Verweisketten des (Sprach-)Systems als ursprungslos zeigt. In Kritik am Husserl’schen Zeitbegriff schreibt Derrida, dass sich die Gegenwart nicht als in sich selbst zusammengefasste Synthese von unaufhörlichen retentionalen und protentionalen Spuren lesen lässt, die als Grund einer transzendentalen Subjektphilosophie von einer absoluten Selbstgegenwärtigkeit ausgeht: „Die différance bewirkt, dass die Bewegung des Bedeutens nur möglich ist, wenn jedes sogenannte ‚gegenwärtige‘ Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, während es das Merkmal (marque) des vergangenen Elementes an an sich behält und sich bereits durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem zukünftigen Element aushöhlen läßt, wobei die Spur sich weniger auf die sogenannte Gegenwart bezieht, als auf die sogenannte Vergangenheit, und durch eben diese Beziehung zu dem, was es nicht ist, die sogenannte Gegenwart konstituiert: es selbst ist absolut keine Vergangenheit oder Zukunft als modifzierte Gegenwart.“171
Die Spur verweist so auf einen dynamischen Zeitbegriff, den Derrida, analog zu Deleuzes Metapher des Rhizoms, als „Raum-Werden der Zeit oder Zeit-Werden des Raumes (Temporisation)“172 begreift. Trotz aller Bemühungen, dem ontologischen Gravitationsfeld auszuweichen, in das Heideggers Ereignis-Begriff nach Derridas Ansicht geraten war, ist sein Begriff der „différance“ ihm dann doch erstaunlich ähnlich. Die „différance“, so Derrida, „bezieht uns auf das, was, auch wenn wir es notwendig nicht wahrhaben wollen, die Alternative von Gegenwart und Abwesenheit überschreitet.“173 Auch Derrida geht es somit, analog zu den bereits beschriebenen Philosophemen von Adorno, Lyotard und Deleuze, um eine Überschreitung der Grenzen der Philosophie und, damit verbunden, um eine Überschreitung des metaphysischen Denkens. Und auch Derrida versucht, seine Thesen mit Hilfe von Beispielen aus der Kunst zu veranschaulichen. Besonders interessant ist im vorliegenden Kontext seine Bezugnahme auf Antonin Artaud. Dessen avantgardistisches Theorem vom „Theater der Grausamkeit“ ist der Leitfaden, an dem er seine eigene Kritik am Repräsentationsgedanken entlangführt. An Derridas Artaud-Exegese, einem der wichtigsten Schlüsseltexte der jüngeren Theaterwissenschaft, zeigt sich, dass die Kritik an der Repräsentation immer auch eine Kritik an der Dichotomie von Abwesenheit und Anwesenheit und damit eine Kritik trivialer Zeitbe171 Ebd., S. 39. 172 Ebd. 173 Ebd., S. 46.
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Theater als Ort der Utopie griffe ist. Auch Artaud, so Derrida, sei es trotz aller Zurückweisung der Repräsentation nicht um eine Rückkehr zum Ursprung, um ein vorrepräsentationales Sein, gegangen: „Artaud wußte, daß das Theater der Grausamkeit weder in der Reinheit der einfachen Präsenz beginnt, noch sich in ihr vollendet, sondern immer schon in der Repräsentation, im ‚zweiten Stadium der Schöpfung‘, im Konflikt der Kräfte, der nicht der eines einfachen Ursprungs sein konnte.“174 Es ist dieser Ort der Grenze, dieses Nicht-Artikulierbare, das DaZwischen, das für Artaud wie für Derrida gleichermaßen, zum Ort der Utopie wird. In diesem Modus der Grenzüberschreitung liegt für Artaud, Derrida zufolge, die Möglichkeit für eine „Zukunft des Theaters“.175 Derridas affirmative Lektüre eines avantgardistischen Theaterbegriffs veranschaulicht ein Diskurskontinuum, das, zumindest an dieser Stelle, Philosophie- und Kunstkritik kombiniert. Von der Zurückweisung einer einfachen Binäropposition hat die Theatertheorie und -praxis etliche Impulse bezogen. Auch die jüngere Theorie des postdramatischen Theaters und der Performance Art will über einen disjunkten Präsenz-/Repräsentationsgedanken hinausgehen. Zugleich verweist aber auch Derridas Repräsentationskritik, die er mit einer bestimmten (avantgardistischen) Ästhetik verbunden wissen will, auf ein Denken, das, trotz aller Metaphysikkritik, auch hier mit mystischen Implikationen durchzogen ist. Joachim Valentin hat auf bestehende Analogien des Verfahrens der Dekonstruktion zu theologischen – talmudischen und kabbalistischen – Positionen hingewiesen. Diese lägen unter anderem in der Verweigerung einer absoluten Präsenzerfahrung und in der Sprache des Unentschiedenen, die den „Ort des unerkennbaren Gottes der Negativen Theologie“176 freigebe. Derridas Absage an eine volltständige Wahrheit durch ein göttliches Subjekt verweise, so Valentin, auf die Loslösung von Autor und Text und offenbare zugleich die ethische Dimension seiner Totalitätskritik.177 Ein Großteil der postdramatischen Theaterästhetik und seiner Theoriebildung rekurriert auf diese Denkfigur. Der Zirkel von radikaler Ursprungskritik und der Kritik an einfachen Binäroppositionen tritt somit in Ästhetik und Philosophie respektive Theorie gleichermaßen hervor und bildet darüber hinaus den Rahmen für den in der Theaterwissenschaft so zentralen Stellenwert des Performativitätsbegriffs. Zugleich artikuliert sich auch in diesem Denken das 174 Jacques Derrida: „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation“, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 351-379, S. 376. 175 Ebd., S. 351. 176 Joachim Valentin: Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jacques Derrida, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 1997, S. 166. 177 Ebd., S. 130.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter Telos einer ästhetischen Erfahrung, das jede Form von Alltagserfahrung transzendieren und, mithin, das Moment einer transpersonalen Erfahrung gewährleisten soll, das jede Arretierung von Sinn übersteigt. Auch bei Derrida bleibt die Ideologiekritik allerdings an eine ganz bestimmte, als avantgardistisch bezeichnete Ästhetik (Antonin Artaud) gebunden. Derrida übernimmt somit eine Schlüsselfunktion. Denn der Philosoph steht nicht nur für ein Diskurskontinuum innerhalb der Ästhetik, die das Moment einer ganz bestimmten, nämlich zeittranszendierenden Erfahrung anvisiert. Mit Derrida ist auch eine der wichtigsten Bezugsgrößen für die Performativitätsdebatte angeführt, die ihrerseits innerhalb der Theatertheorie den Modus der Ideologiekritik verfolgt.
V.5 Ereignis und Präsenz im Kontext der Performativitätsdebatte Anhand der Präsenzkritik Derridas konnte gezeigt werden, dass der philosophisch emphatische Präsenzbegriff offenbar auch dann unweigerlich zu Antinomien führt, wenn er in dezidiert antimetaphysischer Absicht gebraucht wird. Die prominente Stelle, die der Ereignis- und Präsenzbegriff innerhalb der Metaphysikkritik besetzt, hat dabei mehrere Konsequenzen nach sich gezogen. Zum einen fungiert er als die philosophisch-ästhetische Kategorie, mit der jede Form zeitlicher Kontinuitätsvorstellung, jegliches Ursprungsdenken und jegliche Binär-Opposition transzendiert werden soll. Zum anderen macht ihn gerade diese Grenzüberschreitung so empfänglich für eine mystische Bedeutungszuweisung. Im Horizont der ästhetischen Erfahrung wird, wie in Kapitel I. beschrieben, die Kategorie der Gegenwart demgemäß verstanden „als Erscheinen seiner selbst“, als das, was „sich hier und jetzt dem unreduzierten sinnlichen Vernehmen darbietet“ (Martin Seel), als Ästhetik des „quod (dass)“ (Dieter Mersch), als „Art von Epiphanie“ (Hans-Ulrich Gumbrecht) und schließlich nicht so sehr als „Bedeutung“ und „Repräsentation“, sondern als „Wirkung“ (Erika Fischer-Lichte). Wie verhält es sich nun aber mit der komplexen Theorie zu Theatralität und Performativität in einer Kunstform, in der die unhintergehbare körperliche Präsenz des Darstellers zwar zur conditio sine qua non erklärt wird, diese Voraussetzung sich aber nicht allein in quasi-mystischen Bedeutungszuweisungen erschöpft? Wie ist es um die Konvergenz der leiblichen Präsenz des Schauspielers mit der abstrakten Kategorie des Ereignisses bestellt? Und: Wie verhält es sich mit der Instrumentalisierung des Ereignis- und Präsenz-Begriffs für eine bestimmte – avantgardistische – ästhetische Praxis in jener Theorie? Gibt es, abgesehen von den utopischen Im-
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Theater als Ort der Utopie plikationen, die dieser Begriff (stellenweise unhinterfragt) bereithält, eine Theorie des Ereignisses, die ohne vorausgesetzte Idealismen den Ereignisbegriff heuristisch verwendbar macht? Die darüber hinausgehende Frage lautet: Kann in einer Zeit, in der universalistische Zugangs- und Interpretationsweisen problematisch geworden sind und in der unterschiedliche Zugangsweisen zum Begriff „Zeit“ kursieren, eine Ereignis-Ästhetik normativ zu einer Ereignis-Ethik erklärt werden? Wie ist es zu verstehen, dass auf der Ebene ästhetischer Produktion das Prinzip einer teleologischen Erzählweise verabschiedet wird, umgekehrt aber, das Telos einer unhintergehbaren Gegenwartserfahrung im Ereignis wieder Einzug hält? In der zeitgenössischen Theaterwissenschaft steht der Ereignisund Präsenz-Begriff hauptsächlich für einen Modus ästhetischer Erfahrung, dessen Charakteristikum darin bestehen soll, dass er jegliche Form arretierter Sinnzuordnungen transzendiert. Dabei zeigt gerade die Debatte über den Begriff der Performativität, dass, parallel zur Metaphysikkritik, der emphatische Ereignis- und Präsenzbegriff selbst Resultat einer kulturkritisch grundierten Diskursentwicklung ist, die, wie im weiteren Verlauf zu zeigen sein wird, ihre Ursache in der Anerkennung eines nicht-rationalisierbaren Überschusses sprachlicher Kommunikation hat. Angesichts der nahezu ubiquitären „Präsenz“ des Begriffs des Performativen, der weitgehend als Kompositum zum Ereignis- und Präsenz-Begriff fungiert und als „neues Paradigma“178 ausgerufen wurde, gilt es im Folgenden deshalb, jene Diskursbewegungen aufzuzeigen, die sich dem erkenntnistheoretischen Effekt dieser Debatte innerhalb der Theaterwissenschaft zuwenden. Das bedeutet nicht, dass der Performativitätsbegriff pauschal unter Ideologieverdacht gestellt werden soll. Es geht vielmehr darum zu zeigen, dass der Begriff der Performativität, der sich in bestimmten Zusammenhängen durchaus bewährt hat, überlastet wird, wenn er als Basiskategorie für die Deutung aller kulturellen Phänomene seit der Diagnose eines „performative turn“179 beansprucht wird. Das gleiche gilt im Zuge dessen auch für eine uneingeschränkte Apotheose des Ereignis- und Präsenz-Begriffs im Diskursfeld der ästhetischen Erfahrung. Das Konzept des Performativen, das auch die Skepsis gegenüber einer Identität von Erkenntnis, Sprache und Sache auszeichnet, steht dieser 178 Jens Kertscher/Dieter Mersch: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Performativität und Praxis, München: Fink 2003, S. 7-15, S. 7. 179 Dieter Mersch spricht, ebenso wie Erika Fischer-Lichte, von einer eindeutigen Wende innerhalb der Künste, die sich seit den 60er Jahren von der selbstreferentiellen Avantgarde hin zur „Performativität“ der Postavantgarde anzeige. Dabei trenne die Differenz die Ästhetik des Performativen ganz entschieden von einer Werkästhetik. Vgl. D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 13 u. 19.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter Tendenz ohnehin (implizit) entgegen. Im Vorfeld der Entwicklung eines alternativen Analyseinstrumentariums gilt es deshalb, Diskursund Theoriebewegungen innerhalb der Theaterwissenschaft der etzten Jahre zu kontextualisieren.
V.5.1 THEATERSEMIOTIK ALS VORGESCHICHTE ZUM MODELL DER PERFORMATIVITÄT Der heute weitgehend selbstverständliche Konsens, nach dem der zentrale Gegenstand der Theaterwissenschaft, die theatrale Aufführung, nicht gezwungenermaßen auf einen Dramentext rekurriert, stellte, wie einzelne Untersuchungen belegen, lange Zeit durchaus keine theoretische Selbstverständlichkeit dar.180 Die Frage nach Abhängigkeit und Emanzipation von einer literarischen Vorlage, wurde bis in die 90er Jahre diskutiert.181 Zugespitzt könnte man sagen, dass sich der Streit um Methodologien und Fachgrenzen vom Zeitpunkt der Gründung des Fachs an so lange hinzog, bis die wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte diese Entgrenzungsdimension schließlich sogar als überaus zeitgemäß erscheinen ließen.182 Dennoch war man darum bemüht, nach einem langwierigen Ringen um die Positionsbestimmung des Untersuchungsgegenstands „Aufführung“, der die Theaterwissenschaft aus der derivativen Position gegenüber der Literaturwissenschaft endlich befreien sollte, sogar zu einer genuinen Wesensbestimmung von Theater in Abgrenzung zu anderen Künsten zu gelangen.183 Eine etwas klarer umrissene Auffassung sollte sich schließlich auch – in Anknüpfung an die Erkenntnisse der Prager Schule – mit der Etablierung einer Transformation semiotischer Analysemodelle der Literatur- und
180 Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: „Regie und Interpretation oder Bühne und Drama. Fußnoten zu einem unerschöpflichen Thema“, in: Helmut Kreutzer/Dieter Zerlin (Hg.): Literatur, Theater, Museum, München: Bayerischer Schulbuch-Verlag 1987, S. 118-143. 181 Vgl. Andreas Höfele: „Drama und Theater: Einige Anmerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Diskussion eines umstrittenen Verhältnisses“, in: Forum Modernes Theater 6/1 (1991), S. 3-23. 182 Vgl. Alfonso de Toro: „Überlegungen zu einer transdisziplinären, transkulturellen und transtextuellen Theaterwissenschaft im Kontext einer postmodernen und postkolonialen Kulturtheorie der ‚Hybridität‘ und ‚TransMedialität‘“, in: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft 45/3,4 (2001), S. 23-69. 183 Vgl. Arno Paul: „Theaterwissenschaft als Lehre vom theatralischen Handeln“, in: Helmar Klier (Hg.): Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981, S. 208-237.
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Theater als Ort der Utopie Kulturwissenschaft in die Theaterwissenschaft ergeben,184 von denen man sich seit einiger Zeit, aufgrund der Überlagerung einer Theorie des Performativen, wieder zu distanzieren versucht.185 Der semiotische Analysezugriff erlaubte – in Rekurrenz auf sprachwissenschaftliche Modelle –, dem „Plurimedium“ Aufführung eine Bedeutung als „theatralische[n] Text“ zugrundezulegen, der diesen als einen „strukturierte[n] Zusammenhang von Zeichen“186 aufzufassen vermochte und somit gewährleistete, die sich in eben jenem Text vollziehende Bedeutungserzeugung nicht nur auf einen außertheatralischen Bereich, sondern auch auf die historisch sich wandelnde theatralische Norm selbst zu beziehen. Voraussetzung des semiotischen Zugriffs war die Vorstellung, dass es sich bei Theater um eine spezifische Form eines kulturellen Systems handelt, das durch die „Herstellung von Zeichen“187 Bedeutung erzeugt. Die Auffassung von einer genuin zeichentheoretischen Begründbarkeit von Bedeutung basierte ihrerseits auf einem Verständnis von Theater als kulturellem System mit der Annahme eines von der Alltagswelt unterschiedenen „Regelsystem[s] zur Hervorbringung und Interpretation von Zeichen bzw. Zeichenzusammenhängen“,188 genannt „Code“. Dieser – so die implizite Grundannahme dieses Modells – weise sich, kraft relativ homogener Erkenntnisarten und Weltanschauungen innerhalb einer Kultur, durch einen zwar historisch wandelbaren189, dennoch aber weitgehend stabilen, „intersubjektiv gültigen, ‚objektiven‘ Anteil“190 an diesem Bedeutungskomplex aus. Der semiotische Zugriff gründete also nicht nur auf einer stilgeschichtlichen Konvention, sondern auch auf der Annahme eines mehr oder weniger kohärenten Wirklichkeitsverständnisses, nämlich einer einfach denotierbaren Welt und – darauf bezogen – einer
184 Das Verhältnis von gestischen und sprachlichen Zeichen auf der Bühne wurde bereits im 18. Jahrhundert reflektiert. Zu schauspieltheoretischen Positionen Lessings und Diderots siehe: E. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung, S. 158ff; und: Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Vom ‚künstlichen‘ zum ‚natürlichen‘ Zeichen, Bd. 2, Tübingen: Narr 1999. 185 Hierzu siehe auch: Marvin Carlson: „Semiotic and Its Heritage“, in: Janelle G. Reinelt/Joseph R. Roach (Hg.): Critical Theory and Performance, Michigan: University of Michigan Press 2007, S. 13-25. 186 Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Die Aufführung als Text, Bd. 3, Tübingen: Narr 1995, S. 10. 187 Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Das System der theatralischen Zeichen, Bd. 1, Tübingen: Narr 1998, S. 8. 188 Ebd., S. 10. 189 Vgl. E. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Vom ‚künstlichen‘ zum ‚natürlichen‘ Zeichen. 190 E. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Das System theatralischer Zeichen, S. 9.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter schlüssigen Dechiffrierung der Zeichen, die sich auf diese Welt beziehen. Die Übernahme des von Charles W. Morris entwickelten Modells einer dreifachen relationalen Verbindung von Zeichen erlaubte es schließlich, das theatrale Zeichensystem auf syntaktischer, semantischer und pragmatischer Ebene zu untersuchen.191 Zur Unterscheidung des theatralen Zeichensystems von anderen, ähnlichen Zeichensystemen griff die Theatersemiotik auf die drei Merkmale zurück, die Jurij Lotman bereits zur Kennzeichnung literarischer Texte vorgeschlagen hatte: Explizität, Begrenztheit und Strukturiertheit.192 Methodologisch konnte mit dem semiotischen Zugriff die ambivalente Positionierung von gleichzeitiger Differenz und Abhängigkeit des theatralen Zeichensystems von anderen Zeichensystemen festgelegt werden. Als Spezifikum der Kunstform Theater wurde die den theatralen Prozess auszeichnende Transitorik herausgestellt, die sich aus der Synchronität von Produktion und Rezeption ergibt.193 Das Spezifikum der Theateraufführung wurde darüber hinaus auf einer weiteren Ebene durch die Feststellung bestimmt, die „Eigenart der theatralischen Zeichen, als Zeichen von Zeichen zu fungieren“, bestehe darin, dass sie als ein sekundäres kulturelles System auf primäre kulturelle Systeme wie Sprache, Mimik, Gestik, Bewegung, Kleidung, Maske, Design, Malerei, Musik etc. zu beziehen seien und damit ihre je spezifische Bedeutung erhielten.194 Dabei spielte die Differenz zum literarischen Text, verstanden als Transformation von literarischen Zeichen (Text) in theatrale (Aufführung), weiterhin eine entscheidende Rolle. Wie Erika Fischer-Lichte formulierte, ist es die Anerkennung dieses Prozesses als „intersemiotische Übersetzung […] eines Zeichensystems in ein vollkommen anderes Zeichensystem“, welche überhaupt gewährleisten sollte, die Aufführung „angemessen zu bestimmen und zu beschreiben“.195 Im Zentrum einer auf einen literarischen Text bezogenen Analyse stand dementsprechend auch der Begriff der Rollenfigur, bei dem die durch den Schauspieler A hervorgebrachten Zeichen auch jeweils als Denotate196 einer von ihm präsentierten Rollenfigur X verstanden werden konnten. 191 Ebd., S. 8. 192 Vgl. ebd, S. 11ff. 193 Erika Fischer-Lichte spricht hier von der „besonderen Seinsweise des Kunst-werks Theateraufführung“. Vgl. ebd., S. 15. 194 Eine Zusammenfassung der dreibändigen „Semiotik des Theaters“ ist: E. Fischer-Lichte: Die Zeichensprache des Theaters, S. 238. 195 E. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Die Aufführung als Text, S. 36. 196 Der Begriff Denotat wird hier verstanden als eine von den Zeichenbenutzern einer Kultur zugewiesene Bedeutung, „die einen für alle gemeinsamen und verbindlichen, relativ stabilen Bedeutungsanteil enthält“, demgegenüber das Konnotat darüber hinausgehende, mögliche, indivduell
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Theater als Ort der Utopie Der semiotische Analyseansatz setzte letztendlich eine hierarchische Ordnung unterschiedlicher Zeichensysteme voraus. Zugleich wurde damit aber auch die Richtlinie eines Analyseweges vorgegeben: Zuerst sollte der literarische Text, dann jener der Aufführung zu interpretieren sein. Dieser Vorstellung parallel lief die Annahme, dass dieser Transformationsprozess nur funktionieren könne, wenn der Rezipient in der Lage sei, die einzelnen Zeichen und Zeichenkombinationen den jeweiligen kulturellen und theaterspezifischen Codes auch zuordnen und sie daraufhin interpretieren zu können. Die Segmentierung der einzelnen Elemente der theatralen Aufführung, wie sprachliche, linguistische, akustische und paralinguistische Zeichen, darüber hinaus jene der Kinesis, also Mimik, Gestik und Proxemik, und schließlich die des Raumes, der Bühne, Dekoration, Requisite, des Lichts und ihre Interpretation, folgte wiederum – dem hermeneutischen Vorverständnis entsprechend – dem methodischen Prinzip der „semantischen Kohärenz“.197 Dies implizierte ein theoretisches Vorverständnis, nach dem all die theatralen Einzelzeichen auf ihren jeweils zu untersuchenden Ebenen nicht nur aufeinander beziehbar und auseinander entschlüsselbar sein sollten, sondern dies qua ihrer referentiellen Funktion, die sie als objektbezogen auszeichnete, auch konnten. Der analytische Zugriff beruht also auf der Überzeugung, dass sich theatrale Aufführungen, unabhängig von allen anderen möglichen Interpretationsansätzen, stets als Abbildung von Wirklichkeit begreifen lassen.198
verschiedene Bedeutungsattributionen subsumiere. Diesem Verständnis folgt dann entsprechend die Interpretation der „Tätigkeit des Schauspielers als Zeichen“. Vgl. E. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen, S. 9 u. S. 31ff. 197 Ebd., S. 64f. 198 Ebd., S. 19. Aufschlussreich – auch für Erika Fischer-Lichtes spätere historiographische Markierung der Postavantgarde – ist hier der Verweis auf das „Gelingen“ theatraler Kommunikation. Diese könne nur funktionieren, wenn, wie in Formen des nicht-illusionistischen Theaters, Zuschauer mit dem theatralen Code vertraut seien (wie etwa in der Peking-Oper oder im Nô-Theater), oder wenn dies, wie im illusionistischen Theater, aufgrund des Rückgriffs auf die gemeinsame Erfahrung gesellschaftlicher Wirklichkeit geschehe. Noch als ein Problem dieses Gelingens werden hier die Theaterformen der historischen Avantgardebewegungen begriffen, die entweder auf einen „elitären Zirkel von Kennern“ angewiesen seien, oder, wie im Theater der russischen Avantgarde, auf dem Massenpublikum vertraute Mittel. Ansonsten, so Erika Fischer-Lichtes Diktum im Sinne einer realistischen Korrespondenztheorie, „kann theatralische Kommunikation nicht stattfinden“. Vgl. ebd., S. 194.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter An der „Kann“-Bestimmung als „Soll“-Bestimmung deutet sich, retrospektiv betrachtet, bereits die heutige Problemlage der semiotischen Analyse an. Verbunden damit ist nämlich nicht nur das einigermaßen uneingeschränkte Zugeständnis an die Fähigkeit der Semiotik, alleinige Orientierungshilfe zum Verständnis theatraler Aufführungen zu sein. Verbunden damit ist auch der Glaube an eine Subjekt-Objekt-Dichotomie, die davon ausgeht, dass die Künste von unserem Bewusstsein unabhängige Ordnungen darstellen und dass Zeichen auf von diesen Zeichen unterschiedene und unterscheidbare Objekte verweisen. Abgesehen von der Tatsache, dass mit der Theatersemiotik kraft ihrer metasprachlichen Ausrichtung tatsächlich ein umfassendes Instrumentarium zur Analyse von Theateraufführungen bereitgestellt wurde, die sich einem mimetischen Darstellungsstil verpflichtet fühlen, verweisen die theoretischen Maßgaben darüber hinaus auf eine erkenntnistheoretische Problemstellung. Diese hat nicht nur mit der Frage zu tun, mit welchem Zeichenbegriff man arbeitet, sondern sie hat auch damit zu tun, welchem Verständnis von Semiotik man jeweils folgt. In Rechnung zu stellen ist demgemäß nicht nur, dass dieses Modell der Welterkenntnis selbst als ein historisch wandelbares zu begreifen ist,199 sondern auch, dass, angesichts einer ausdifferenzierten Ästhetik, sich der Begriff der Norm als problematisch erweist. So hat Winfried Nöth darauf aufmerksam gemacht, dass innerhalb der Semiotik als Erkenntnismodell selbst äußerst unterschiedliche und stellenweise auch divergierende Interpretationen zum Zeichenbegriff kursieren. Im Kapitel „Das Zeichen und die nichtsemiotische Welt“ verdeutlicht Nöth die Komplexität des heuristischen Modells Semiotik. Von grundlegender Bedeutung ist damit überhaupt das ontologische Problem der Abgrenzung zwischen den Phänomenen Zeichen und Nicht-Zeichen. Auch hier ist nämlich die allen weiterführenden Überlegungen zugrundeliegende Entscheidung, dass qua Interpretation „jedes Objekt, jedes Ereignis oder Verhalten“ ein „potentielles Zeichen“200 sein kann, ausschlaggebend. Nöth bemerkt hierzu treffend: „Da letztlich alles zum Zeichen werden kann, d.h. als etwas betrachtet werden kann, das auf etwas anderes verweist, gibt es keinen ontologischen Unterschied zwischen zeichenhaften und nichtzeichenhaften Objekten, sondern nur den Unterschied zwischen Objekten, die aktuell (oder auch im allgemeinen)
199 Angesichts der Historizität des Modells schrieb Hans-Peter Bayerdörfer bereits 1990: „Insofern müßte die Theorie der Theatersemiotik bzw. des Wandels der Bedeutungskonstitution auf dem Theater überhaupt ergänzt werden.“ H.-P. Bayerdörfer: Probleme der Theatergeschichtsschreibung, S. 49. 200 W. Nöth: Handbuch der Semiotik, S. 133.
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Theater als Ort der Utopie als Zeichen betrachtet werden, und solchen, die nicht als zeichenhaft rezipiert werden.“201 Die Spannweite an Lösungen, die für dieses Problem vorgeschlagen wurden, reicht vom naiven Widerspiegelungstheorem bis zur dekonstruktivistischen These von der Unhintergehbarkeit der Welt der Zeichen.202 Innerhalb der Semiotik des Theaters erweist sich vor allem die Rede von der theatralen Bedeutungsproduktion als „Zeichen von Zeichen“ als erkenntnistheoretische Aporie, die nicht nur ungeklärt lassen muss, worauf sich die primären Zeichen beziehen. Sie kann darüber hinaus auch nicht einsichtig machen, mit welchem Recht man im Rahmen eines jeden kulturellen Systems kategoriale Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen Arten primärer Zeichen vornehmen kann. Hierbei ist das gedankliche Prinzip der Aufklärung, dem die Theatersemiotik folgt – nämlich die Unterscheidung von Kultur und Natur –, noch weitgehend nachvollziehbar. Die Differenzierung von kulturellen Systemen mit bestimmter und ohne bestimmte Gebrauchsfunktion ist jedoch nicht mehr ohne weiteres plausibel.203 Anknüpfend an Nöths Erörterungen lässt sich sagen, dass die Wendung hin zu einer Theorie des Performativen, die sich, wie oben erwähnt, nicht mehr mit einer „Mimesis des Fiktiven“, sondern mit einer „Präsenz als Tun im Realen“ auseinandersetzt, demzufolge einen erkenntnistheoretischen Wandel markiert, der sich nicht in einer Gegenüberstellung von Präsenz versus Repräsentation erschöpft. Der Verweis auf die pluralen erkenntnistheoretischen Prämissen der Semiotik verrät also einmal mehr nicht nur die Historizität des Modells der semiotischen Methode, sondern darüber hinaus die da-
201 Ebd. 202 Vgl. ebd., S. 135. 203 Hier ist eine Fußnote ausschlaggebend, in der Erika Fischer-Lichte auf die zeichentheoretische Konsequenz der Unterscheidung von Kultur und Natur zu sprechen kommt. Der dort projektierte Kulturbegriff subsumiert „alles, was der Mensch geschaffen hat – gleichgültig, ob ‚geistige‘ oder ‚materielle‘ Werte“. Vgl. E. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen, S. 8 und Fußnote 6. Der Kommentar von Erika Fischer-Lichte legt zugleich aber die erkenntnistheoretische Aporie offen: „Wir müssen also prinzipiell zwischen solchen kulturellen Systemen, deren Zeichen eine bestimmte Gebrauchsfunktion denotieren, und kulturellen Systemen, deren Zeichen nicht eine Gebrauchsfunktion denotieren, unterscheiden. Während zu den Systemen der ersten Art u.a. Kleidung, Essen, Geräte, Werkzeuge, Waffen, Gebäude gehören, sind der zweiten Gruppe Systeme wie Sprache, Verkehrszeichen, mimische Zeichen, religiöse Bräuche, Malerei, Theater u.a.m. zuzurechnen.“ Ebd., S. 13f.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter rin zum Ausdruck kommenden Divergenzen, deren Einheitlichkeit innerhalb der theoretischen Modellbildung sich einer als notwendig erachteten, aber eben auch ideologisch konstruierten Nivellierung verdankt.204 Denn: Die alles bestimmende Maßgabe dieses Modells der theatersemiotischen Analyse zeigt vor allem auch die weitgehende Abhängigkeit von einem „realistischen“ Theaterparadigma in einer Zeit, in der längst „nichtrealistische“ theatrale Ausdrucksformen parallel dazu existierten, welche dann aber erst retrospektiv als solche auch auf Theorieebene anerkannt wurden. Die Negation des Semiotischen, die sich im Begriff „Desemiotisierung“ äußert, sollte schließlich nicht nur auf die nun szenisch bedeutsam werdende Inkohärenz von Sprache und Körper aufmerksam machen, sondern auch auf die Inkohärenz sämtlicher beteiligter Zeichensysteme untereinander. Von illusionistischer Darstellung könne nun keine Rede mehr sein.205 Somit zeigt sich, dass die Frage, welchem Analysezugriff man folgt, nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch ideologische Implikationen hat. Wenn zunehmend Aufführungen in den Fokus der Betrachtung geraten, die einer nicht-repräsentationalen Ästhetik verpflichtet sind, dann ist auch der semiotische Analysezugriff, der einem korrespondenztheoretischen Weltmodell verpflichtet ist, obsolet geworden. Für die Analyse nicht-repräsentationaler Aufführungen füllt(e) das Performativitätstheorem die Lücke, die entstanden war, als man sich der Inadäquatheit der Semiotik als Analysemodell gewahr wurde. Dabei verweist die Geschichte der Performativität ihrerseits auf einen Erkenntnisprozess, der in der (metaphysikkritischen) Anerkennung nicht-rationaler Ereignisse im Akt der Kommunikation seinen Ausdruck findet. Mit anderen Worten: Die Geschichte der Performativität wird selbst immer wieder mit der ethischen Dimension von Handlungen in Verbindung gebracht. Insofern verhält sich die Bedeutung des Modells der Performativität proportional zur Integration nicht-repräsentationaler Aufführungen in den theaterwissenschaftlichen Kontext.
204 Hans-Thies Lehmann verwies bereits 1989 kritisch auf die Festlegung bestimmter Codes und Regeln durch die Theatersemiotik, die der „verwirrende[n] Vielfalt des ästhetischen Signalements einer Aufführung“ nicht gerecht würde. Vgl. Hans-Thies Lehmann: „Die Inszenierung: Probleme ihrer Analyse“, in: Zeitschrift für Semiotik, Bd. 11, H. 1, 1989, S. 29-49, S. 44 u. 46. 205 Vgl. Erika Fischer-Lichte: „Die semiotische Differenz. Körper und Sprache auf dem Theater – Von der Avantgarde zur Postmoderne“, in: H. Schmid/ J. Striedter: Dramatische und theatralische Kommunikation, S. 123-140, S. 127f.
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V.5.2 DIE PERFORMATIVITÄT DIESSEITS UND JENSEITS DER WELT DER ZEICHEN Der in den 90er Jahren von der sprachwissenschaftlichen Theorie „performativer Sprechakte“ zu einem „umbrella term“206 ausgeweitete Begriff der Performativität hat auch eine große Anziehungskraft auf die Theaterwissenschaft ausgeübt. Dabei spricht nicht nur die morphologisch wie inhaltlich naheliegende Verwandtschaft des englischen Substantivs „Performance“, in der Bedeutung von „Aufführung“, für die Konzentration auf die theoretische Erörterung des Performativen. Auch die von zahlreichen Kultur- und Geisteswissenschaften rezipierten Resultate der pragmatisch ausgerichteten angloamerikanischen Sprachphilosophie, besonders John L. Austins207, haben berechtigterweise ihre Spuren hinterlassen. Austin hat mit seiner These, dass die Konzentration der Philosphie auf die Wahrheitsfähigkeit der Sprache von deren vielfältigen performativen Funktionen ablenke, das Augenmerk auf die philosophisch lange Zeit unterschätzte Handlungsdimension von Sprache gelenkt. Die von ihm getroffene Unterscheidung zwischen konstativen (beschreibenden) und performativen (handlungsanzeigenden) Äußerungen gibt der lebensweltlichen Erfahrung, dass Kommunikation nicht im reinen Informationstransfer aufgeht, recht und gehört heute zum Standardrepertoire der Sprachanalyse.208 Sie hat mittlerweile allerdings, nicht zuletzt durch Austin selbst, einige Modifikationen erfahren, die in diesem Kapitel zur Debatte stehen werden. Die Suche nach einer eindeutigen und trennscharfen Definition des Begriffs der Performativität erweist sich, wie in vielen anderen Begriffsfeldern auch, als problematisch. Der englische Wortstamm „perform“ weist nämlich auf mindestens fünf verschiedene Bedeutungsrichtungen. So bedeutet „to perform“ – worauf sich auch Austin selbst ausdrücklich bezieht – zunächst ganz allgemein „ausführen, vollziehen“.209 Das Substantiv „Performance“ bezeichnet den Vollzug bzw. die Ausführung auch im Sinne einer Darstellung, während „Performance“ im Bereich der Ökonomie das relative Maß für das Verhältnis von Ertrag und Risiko einer Kapitalanlage anzeigt. Innerhalb des kunstwissenschaftlichen Diskursfelds wird die über 206 Uwe Wirth: „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: Ders. (Hg.): Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 9-60, S. 10. 207 Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart: Reclam 1972. 208 Die Gegenüberstellung von konstativen (wahr/falsch) und performativen (Heiraten, Taufen, Vererben, Wetten, Deklarieren) Äußerungen beschreibt Austin in der ersten Vorlesung. Vgl. ebd., S. 23ff. 209 Vgl. ebd., S. 27f.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter eine gewöhnliche Form der Aufführung hinausgehende „Performance Art“ als Kunstform klassifiziert, die hauptsächlich einer nicht-repräsentationalen Ästhetik verpflichtet ist und seit den 50er Jahren datiert. Der Begriff „Performanz“ wiederum hat sich aus einer Weiterentwicklung von John L. Austins sprachwissenschaftlicher Theorie von den „performativen Sprechakten“ ergeben. Noam Chomsky, der die Performanz der Kompetenz gegenüberstellt, geht mit dieser Binäropposition davon aus, dass die einzelsprachliche Kompetenz als Teil der Kognitionspsychologie eine mentale Realität darstelle und damit der Performanz vorausgehe. Performanz wäre damit der Gebrauch des Kenntnissystems Sprache.210 Der Begriff der Performativität schließlich bezeichnet die Schnittstelle, an der sich sprachphilosophische, ethnologische, soziologische und theatertheoretische Inhaltsbestimmungen kreuzen, weil man es in allen Bereichen gleichermaßen mit Sprechhandlung, Handlung und Darstellung zu tun hat. Im kulturwissenschaftlichen Bereich meint der Begriff der Performativität auch „den konstitutiven Charakter sozialer Handlungen“ und, damit verbunden, das „Gelingen sozialer Prozesse, wie auch deren Veränderbarkeit, Fragilität, und Scheitern, das wiederum zu neuen sozialen Wirklichkeiten führen kann“.211 Ähnlich wie „Theatralität“ lässt sich demzufolge auch „Performativität“ als ein Strukturhybrid bezeichnen.212 Innerhalb der Theaterwissenschaft ist der Begriff der Performativität auf unterschiedliche Weise in Gebrauch: Er dient einerseits dazu, einen radikalen historischen Einschnitt innerhalb der Theaterpraxis wie -theorie von einer referentiellen hin zu einer performa210 Vgl. Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 53f. 211 Christoph Wulf/Michael Göhlich/Jörg Zirfas: „Sprache, Macht und Handeln – Aspekte des Performativen“, in: Dies. (Hg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim, München: Juventa 2001, S. 9-24, S. 12. Vier Wirkungsfelder des Performativen beschreiben Dieter Mersch und Jens Kertscher, die sich mit oben genannten durchaus überschneiden. Die Autoren differenzieren zwischen 1) sprechakttheoretischen, linguistischen Theorien, 2) anthropologischen, ethnologischen, ausgehend von den Studien Arnold van Genneps und Victor Turners, 3) poststrukturalistischen Überlegungen durch Jacques Derrida und Judith Butler und schließlich 4) ereignistheoretischen Überlegungen des Philosophen Lyotard. Vgl. J. Kertscher/D. Mersch: Performativität und Praxis, S. 7-15, S. 8f. 212 Als „Strukturhybrid“ bezeichnet Alfonso de Toro den Begriff „Theatralität“, nachdem es problematisch geworden sei, eine exakte Begriffsbestimmung zu entwickeln. Vgl. A. de Toro: Überlegungen zu einer transdisziplinären, transkulturellen und transtextuellen Theaterwissenschaft, S. 50.
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Theater als Ort der Utopie tiven Wende anzuzeigen. Als Ursprungsszene hierfür wird, wie in Kapitel I erwähnt, das 1952 am Black Mountain College aufgeführte „untitled event“ von John Cage angeführt. Der Performativitätsbegriff wird andererseits aber auch als ästhetische Kategorie eingesetzt. Er dient dann in erster Linie der Beschreibung von Aufführungsformen, die sich von einer mimetisch-abbildenden Ästhetik entfernt haben. In diesem Fall meint der Begriff, dass Handlungen der jeweiligen Darsteller nicht mehr auf ein außerhalb des Aufführungskontexts liegendes repräsentierbares Anderes verweisen, sondern diese selbst sind. D.h., dass eine performative Ästhetik, so wie sie in dieser Form verstanden wird, eine ethisch-praktische Dimension auszeichnet, indem dieses Handeln (mögliche) Konsequenzen, also eine „Wirkung“ nach sich zieht, die, so vermittelt es dieser spezifische Gebrauch des Performativitätsbegriffs, im Feld einer repräsentationalen Ästhetik ausbleibt. Kurz, das „‚untitled event‘ löste die Artefakte in Handlungsvollzüge auf“.213 Konsequenzen hat diese ästhetische Strategie auch auf der Ebene der Zeitgestaltung, die nicht dem Prinzip eines kausalen Handlungskontinuums folgt: „Die Zeit, in der sich die Aufführung vollzog, deckte sich vollständig mit der aufgeführten Zeit. Sie bedeutete weder eine bestimmte andere Tages- oder Jahreszeit noch die einer anderen historischen Epoche noch die Zeit, in der eine fiktive Figur eine Handlung vollbringt oder eine Reflexion vollzieht. Es war die Zeit, welche die Partitur mit den ‚time brackets‘ für den Vollzug beliebiger Handlungen sowie für Pausen vorgesehen hatte – eine wohl strukturierte, jedoch nicht notwendigerweise eine fiktive Zeit.“214
Erstaunlicherweise wird gerade anhand der Beschreibung der Zeitstruktur deutlich, dass das Theorem des Performativen auf erkenntnistheoretische Konsequenzen verweist, die sich allein über die Behauptung der Identität von Darstellungszeit und dargestellter Zeit nicht klären lassen. Trotz oder gerade wegen dieses exponierten Beispiels, das jegliche Fiktionalisierung zu unterlaufen scheint, stellt sich die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass ein im Zusammenhang sprachphilosophischer Fragestellungen entwickelter Begriff zu einer Schlüsselkategorie der Theaterwissenschaft werden
213 E. Fischer-Lichte: Auf dem Wege zu einer performativen Kultur, S. 20. In „Ästhetik des Performativen“ kommt Fischer-Lichte auf den ideologiekritischen Aspekt des Performativen zu sprechen. Sie notiert, dass gerade mit dieser Ästhetik „dichotome Begriffspaare wie Subjekt/Objekt oder Signifikant/Sigifikat […] ihre Trennschärfe verlieren, in Bewegung geraten und zu oszillieren beginnen“. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 33. 214 E. Fischer-Lichte: Auf dem Wege zu einer performativen Kultur, S. 15.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter konnte. Da es sich ja um zwei vollkommen unterschiedliche Kontexte – Sprache einerseits, theatrale Darstellung andererseits – handelt, ist auf den ersten Blick nicht einsichtig, wo genau die Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Handlungsaspektes liegen sollen, wo genau die Überschneidungen und, möglicherweise, dieselben Implikationen auszumachen sind. Einen aufschlussreichen Hinweis für eine Klärung derartiger methodologischer Inkohärenzen geben nicht zuletzt die Exempla, an denen die performative Wende festgemacht wird. Es sind nichtabbildende Aufführungen, Performances, die jede Form einer repräsentationalen Theaterkonvention zu unterlaufen scheinen. Anders ausgedrückt: Der Performativitätsbegriff gerät erst in dem Moment in das methodologische Blickfeld, in dem auch die nichtfiktionale Ästhetik ins Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit rückt. Die Skepsis, die Patrice Pavis angesichts der Anwendung des Performativitäts-Theorems zur Beschreibung fiktionaler Texte äußerte, ist ein Hinweis darauf, dass dieser Perspektivwechsel durchaus von methodologischen Inkohärenzen begleitet war und ist: „Die direkte Anwendung dieses Ansatzes auf die Literatur wirft […] Probleme auf, sobald man nach dem ‚Gelingen‘ des Sprechaktes im Inneren eines fiktionalen Diskurses fragt und zu überprüfen versucht, ob die Sprechhandlungen (die durch den Text, oder im Fall des Theaters, durch die Bühne geleistet wird) die vom Sender beabsichtigten illokutionären und perlokutionären Wirkungen hervorbringt. Eine solche Vorstellung birgt zum einen die Gefahr der Rückkehr zu einer normativen und intentionalen Sicht von Literatur […]. Außerdem impliziert sie die Auffassung, die Inszenierung eines dramatischen Texts könne nur dann ein gelungener Sprechakt sein, wenn die Spiel- und Rezeptionsanweisungen des Textes gewissenhaft befolgt werden, so dass das vom Autor (des Textes und der Didaskalien) nahegelegte Verständnis zustande kommt […].“215
Pavis’ Kritik wirft die Frage auf, ob es sinnvoll sei, innerhalb von Fiktionserzählungen und aufgrund des Verlaufs des Transformationsprozesses von Literatur in eine Theateraufführung vom Gelingen oder Misslingen von Sprechakten zu sprechen, also von der Bedingung, die die frühe Sprechakttheorie von Austin auszeichnete.216 Diese Kritik zeigt zudem, dass im Umfeld von nicht-repräsentationalen Aufführungen, wie der des „untitled event“ und anderer postdramatischer Performances, inzwischen ein ganz anderes Verständ-
215 Patrice Pavis: Semiotik der Theaterrezeption, Tübingen: Narr 1988, S. 11. 216 Es handelt sich um jenes Verständnis von Performativität, das auch Manfred Pfister in seiner Typologie des Dramas entwirft. Dort basiert der Begriff „sprechendes Handeln“ auf der Identität von Rede und Handlung. Der Vollzug eines Sprechaktes kann als Versprechen, Drohung oder Überredung interpretiert werden. Vgl. M. Pfister: Das Drama, S. 24 u. 169.
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Theater als Ort der Utopie nis von Performativität kursiert, als dies noch der Fall war, als man sich auf Fiktionserzählungen und -darstellungen konzentrierte. Zu finden sind die den gegenwärtigen Diskurs beherrschenden Überschneidungen von sprach- und theaterwissenschaftlichen Erörterungen dann, wenn man den Verlauf innerhalb der sprachphilosophischen Forschung betrachtet. Dabei zeigt sich, dass die Gemeinsamkeiten im Verständnis von Performativität vor allem in der Konzentration auf eine Repräsentationskritik zu finden sind, die in der Regel auch eine Metaphysikkritik ist. Tatsächlich wurde in der Sprechakttheorie von Austin selbst die Frage nach der Differenz von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten überhaupt ausgespart, wurden vielmehr fiktionale Texte kategorisch unter die Rubrik von „unernst oder nichtig“217 subsumiert und damit letztlich als sprechakttheoretisch irrelevante Sprechakte ausgeklammert. Wie Uwe Wirth hierzu treffend bemerkt, ist es diese theoretische Leerstelle, an der sich die „dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit dem Performanzbegriff“218 heute noch abarbeite. Und nicht nur das: Die Übernahme des Performativitätstheorems in die Theaterwissenschaft, so Wirth, verweise auf eine reduktionistische Modellbildung. Kritisch zu hinterfragen bliebe freilich, ob die Differenzierung zwischen der ‚performativen‘ und der ‚referentiellen‘ Funktion nicht hinter Austin zurückfällt, insofern sie seine Revision der Unterscheidung performativ/konstativ nicht berücksichtigt.219 Da sich das Konzept des Performativen, wie Uwe Wirth formuliert, „ebenso auf das ernsthafte Ausführen von Sprechakten, das inszenierende Aufführen von theatralen und rituellen Handlungen, das materiale Verkörpern von Botschaften im ‚Akt des Schreibens‘ oder
217 J. L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S. 41. Austin spricht hier gar vom parasitären Gebrauch der Sprache. Vgl. ebd., S. 42. 218 U. Wirth: Der Performanzbegriff, S. 18. An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Begriffe „Performanz“ und „Performativität“ mitunter nicht trennscharf verwendet werden. Während Wirth zwischen dem Substantiv „Performanz“ und dem Adjektiv „performativ“, nicht aber zwischen „Performanz“ und „Performativität“ systematisch unterscheidet, trennt Gerald Posselt die Begriffe „Performanz“ und „Performativität“: „Performanz“ bezeichne subjektbezogene, intentionale Handlungsvollzüge, während der Begriff „Performativität“, die Voraussetzung eines intentional handelnden Subjekts zurückweisend, das Äußerungssubjekt erst hervorbringe. Vgl. Posselt, Gerald: Performativität, in: http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=4 vom 10.11.2007. Vorliegende Studie benutzt, um Begriffsverwirrungen zu vermeiden, den in einschlägigen Diskursen der Theaterwissenschaft gebräuchlichen Begriff „Performativität“. 219 U. Wirth: Der Performanzbegriff, S. 39.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter auf die Konstitution von Imaginationen im ‚Akt des Lesens‘ beziehen“220 kann, bedarf der Begriff einer Konkretisierung. Es empfiehlt sich also, den Wandel des Begriffs des Performativen von Seiten der Sprachphilosophie genauer zu betrachten. Hier nämlich liegt, wie zu zeigen sein wird, der Schlüssel zu einem der jüngeren Historiographie analogen, komplexen Ereignisbegriff, der sich nicht in einer einseitigen Lesart des Ereignisses, der Präsenz oder gar einer Ereignismystik erschöpft. Sybille Krämer hat in ihrer bereits zitierten Studie „Sprache, Sprechakt, Kommunikation“ die Konsequenzen aus den umfangreichen Entwicklungen sprachphilosophischer Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts zusammengefasst. Im Vordergrund steht dabei nicht allein eine Exegese der Performativitätsstudien und ihrer Rezeption seit Austin, sondern eine Gegenüberstellung zweier epistemologischer Modelle, die auch heute noch koexistieren und die überhaupt erst den – in der Dichotomie (referentiell – performativ) weitgehend unterkomplex geschilderten – Sachverhalt als einen von Realitätskonstruktionen einsichtig machen. Diese zwei „Lager“ bezeichnet Krämer als „Befürworter oder Gegner des Zwei-Welten-Modells“: „Das Zwei-Welten-Modell meint eine stillschweigende Voraussetzung in der sprachtheoretischen Arbeit, die Gebrauch macht von der Unterscheidung zwischen einer ‚reinen‘ Sprache bzw. Kommunikation, verstanden als grammatisches oder pragmatisches Regelsystem, und dessen Realisierung bzw. Aktualisierung im jedesmaligen Sprechen und Kommunizieren“.221 Krämer zählt dazu Autoren wie Saussure, Chomsky, Searle und Habermas, die ein Hierarchieverhältnis zwischen einer universalen, regelgeleiteten Sprache und ihrer praktischen Anwendung voraussetzen und etablieren. Demgegenüber stehen Autoren wie Austin, aber auch Wittgenstein, Luhmann, Davidson, Lacan, Derrida und Butler, die davon ausgehen, dass es keine universale Sprache hinter dem Sprechen gebe. Derart „sub specie aeternitates betrachtet“ komme, so ihr Einwand, Sprache „gerade nicht zur Deckung […] mit unserem alltäglichen Sprechen und Kommunizieren. Was immer über die ‚reine‘ Sprache und Kommunikation zu sagen ist, ist so beschaffen, dass es sich im raum-zeitlich situierten Sprachgebrauch gar nicht zeigt, also kein empirisches Datum ist“.222 Sie lehnen damit auch aus erkenntnistheoretischer Sicht das Modell ab, bei dem sich, wie Krämer formuliert, die Sprache zum Sprechen wie die Vernunft zur Sprache verhält. Mit Saussure sieht Krämer den Beginn einer sprachtheoretischen Entwicklung gegeben, an dem
220 Ebd., S. 9. 221 S. Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 9. 222 Ebd., S. 11.
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Theater als Ort der Utopie sich die Geister der Kritik am Repräsentationsgedanken schließlich scheiden werden. Zwar weist bereits Saussure, wie Krämer ausführt, den Repräsentationsgedanken zurück, der davon ausgeht, dass Sprache auf eine außersprachliche Wirklichkeit verweise. Saussures revolutionärer und für die strukturalistische Texttheorie so weitreichender Gedanke liegt darin, dass er statt einer Beziehung von Zeichen zu Objekten eine von Zeichen zu Zeichen annimmt. Die Differenz wird zur bedeutungstragenden Einheit. Neben Noam Chomsky und John L. Searle223 verlagert auch Jürgen Habermas, der Theoretiker der kommunikativen Vernunft, die Vorstellung von Repräsentationalität in die Sprache selbst und behält sie somit bei. Habermas stellt dabei den exponiertesten Versuch einer angewandten Sprechakttheorie dar, da es ihm auf der Basis einer universalistischen Ethik immer um das Ziel einer Anwendbarkeit theoretischer Überlegungen auf die lebensweltliche Praxis im Sinne des emanzipatorischen Prinzips einer herrschaftsfreien Gesellschaft geht. Zwar lehnt Habermas eine apriorische Bestimmung der Vernunft (vermeintlich) ab und sieht diese als im jeweiligen Sprechakt immer wieder neu herzustellende an. Dennoch bleibt auch hier die Trennung zweier ontologischer Bereiche bestehen, indem dem jeweils zu realisierenden Sprechakt die ideale Sprechsituation gegenüberstellt wird.224 Die Handlungsdimension von Sprache spielt in Folge der Austin’schen Sprechakttheorie bei Searle und Habermas damit zwar ebenfalls eine Rolle, diese wird aber aufgrund einer idealistischen und universalistischen Bestimmung ahistorisch gedacht. Demgegenüber entwirft die dekonstruktivistische Sprachtheorie einen Handlungsbegriff, der diesen radikal zeitlich denkt und der somit die Möglichkeit eröffnet, in der Sprache festgeschriebene Denkmuster überhaupt erst auf ihren historischen und ideologischen Kontext hin zu überprüfen. Austin selbst hat darauf hingewiesen und mit der Erkenntnis, dass man mit Sprache nicht nur etwas sagen, sondern ebenso etwas tun kann, das Feld der „Unwägbarkeiten“ überhaupt erst eröffnet. Zunächst ging es Austin nur darum, von den performativen Sprechakten auszugehend, die Frage nach Wahrheit oder Falschheit von Aussagen durch die ihres Gelingens bzw. Misslingens zu ersetzen. Schließlich erkannte er, dass die Kriterien, an die das Gelingen einer Sprachhandlung geknüpft ist – wie Umstand, Konvention, Autorität, Redlichkeit, Ehrlichkeit, redebegleitende Gestik und Mimik – so zahlreich, vielfältig und uneindeutig sind, dass überhaupt nicht entschieden werden könne, wann von gelungenen und wann von misslungenen Sprechakten die Rede sein
223 Vgl. ebd., S. 55ff. u. S. 68. 224 Vgl. ebd., S. 96.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter soll.225 Die Ablösung der Dichotomie konstativ/performativ durch die differenziertere Begriffs-Trias von lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akten sollte diesem Umstand Rechnung tragen.226 Die Konventionen, in die die Sprechakte eingebettet sind, müßten allerdings, so Austin, geteilt und verstanden werden. Aufgrund der Vagheit des Kontexts und der Vieldeutigkeit der einzelnen Fälle könne es eben gerade nicht mehr darauf ankommen, in dichotomen Rastern zu denken, sondern diese „zugunsten von größeren Familien verwandter und einander überlappender Sprechakte“227 fallenzulassen. Austin gibt mit seinem mäandernden Stil selbst die Vorgabe, unter die eine Theorie vom Sprechhandeln zu stellen ist, vor: ein Gewahrwerden der unabschließbaren Reichweite von Sprachhandlungen, die selbst weder auf Sprache allein reduzierbar, noch ohne – einen naturgemäß changierenden – Kontext vorstellbar sind. Somit zeigt sich bereits anhand der Entwicklung des Performativitätsbegriffs bei Austin, dass die Kategorie des Performativen in aller Regel in metaphysikkritischer Absicht gebraucht wird. Sie wird zum Beleg der These angerufen, dass es keine Sprache hinter dem Sprechen gibt, dass Sprache kein System der Repräsentation darstellt, dass es immer einen nicht-rationalisierbaren Überschuss im Bereich sprachlicher Kommunikation gibt und schließlich, dass mit jeder sprachlichen Kommunikation, je nach Kontext, auch immer Handlungen verbunden sein können. Es ist diese metaphysikkritische Dimension, die den Performativitätsbegriff der Sprachphilosophie mit dem der Theaterwissenschaft verbindet. Zum einen steht, wo die Kategorie der Performativität zur Beschreibung theatraler, nicht-repräsentationaler Darstellungsweisen gebraucht wird, ebenfalls die Eindeutigkeit der Relation von Zeichen zu Bezeichnetem infrage. Zum anderen verweist die Handlungsdimension des Performativitätsbegriffs, wie er innerhalb der Theaterwissenschaft verstanden wird, auf dieselben Unwägbarkeiten, die auch die Sprachphilosophie beschäftigen: So wie eine – nicht kalkulierbare – Sprechhandlung im allgemeinen Kommunikationsumfeld, so soll auch im Theaterkontext eine bestimmte Handlung beim Rezipienten eine Wirkung erzielen, bei ihm etwas auslösen. Zugleich ist die Aussage einer derartigen Aufführungspraxis und die damit verbundene Rezeptionserfahrung nie festlegbar. Hierin liegt der Modus der äs225 Vgl. J. L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S. 49 u. 52. 226 Vgl. ebd, S. 110ff. Während die lokutionären Akte beschreiben, dass überhaupt etwas gesagt wird, geht es bei den perlokutionären Akten um die Wirkung, die die Aussagen hervorrufen. Die illokutionären Akte bezeichnen schließlich jene Gruppen von Handlungen, die sich äußern, „indem man etwas sagt“. Vgl. ebd., S. 11. 227 Ebd, S. 165.
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Theater als Ort der Utopie thetischen Erfahrung begründet, wie er für die Wirkungsweise der jüngeren Theaterästhetik des postdramatischen Theaters und der Performance Art veranschlagt wird. An dieser Stelle kreuzt sich das ideologiekritische Moment des Performativitätstheorems innerhalb des Theaterkontexts mit dem der dekonstruktivistischen Metaphysikkritik. Beispielhaft lässt sich wieder bei Jacques Derrida aufzeigen, bei dem jede Handlung, jedes Ereignis als Möglichkeit ausgewiesen wird, dem Kontext und den je damit verbundenen Normen eine andere Wendung bringen zu können und so festgefahrene Denk- und Darstellungsmuster immer wieder zu hinterfragen. „Gibt es einen strengen und wissenschaftlichen Begriff des Kontextes?“228 lautet Derridas rhetorische Frage und er beantwortet diese sogleich mit der ebenso strengen Verneinung eines herkömmlichen Kontext-Begriffs, das diesen als ein das jeweilige Ereignis statisch umgebendes Umfeld begreift. In dem vielzitierten Aufsatz „Signatur Ereignis Kontext“ kommt er zu dem Schluss, dass die Kategorien von Gelingen und Misslingen zur Beschreibung der Funktionsweise von Sprechakten nicht ausreichten. Deshalb führt er den Begriff „Iteration“ ein, der als ein Modus „infiniter Rezitierbarkeit und indefiniter Rekontextualisierbarkeit“229 zu verstehen sei. Derrida richtet sich gegen eine ahistorische Vorstellung von Sprache, die nur im Sprechen jeweils aktualisiert würde. Mit Iteration kann er demgegenüber ein Verständnis von Sprache profilieren, die qua Wiederholung ihrer Zeichen und über die immer wiederkehrende (Neu-)Einbindung eines Zeichens in einen anderen Kontext jegliches Verständnis von A-Historizität und Hintergehbarkeit verweigert. Derrida exemplifiziert seine These anhand des Gebrauchs eines Zitats sowohl in schriftlichen als auch in mündlichen Kontexten. Das Zitat unterlaufe jede Vorstellung einer absoluten Präsenz im Sinne einer „reinen Anwesenheit“230 und verweise auf diese permanenten Neukontextualisierungen: „Jedes linguistische oder nicht-linguistische, gesprochene oder geschriebene (im üblichen Sinne dieser Opposition) Zeichen kann als kleine oder große Einheit zitiert, in Anführungszeichen gesetzt werden; dadurch kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen, unendlich viele neue Kontexte auf eine absolut nicht saturierbare Weise erzeugen“.231 Mit dem Begriff der Iteration (lat. iter, von neuem) weist Derrida eine lineare Zeitverlaufsvorstellung im Sinne einer Teleologie zurück. Sowohl Alltagssprache als auch Fiktion sind bei ihm durch
228 Jacques Derrida: „Signatur Ereignis Kontext“, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, S. 291-362, S. 292. 229 U. Wirth: Der Performanzbegriff, S. 19. 230 J. Derrida: „Signatur, Ereignis, Kontext“, S. 301. 231 Ebd., S. 304.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter die „Bewegung einer iterativen Bewegung bestimmt“.232 D.h., das Ereignis ist eine Kategorie, die, indem sie den Kontext immer mitvollzieht, diesen auch immer neu zu bestimmen vermag, unabhängig davon, ob er innerhalb der Alltagssprache oder innerhalb von Fiktionserzählungen gebraucht wird.233 Auch im Kontext der Performativitäts-Debatte ist das Ereignis demgemäß als radikal verzeitlichte Kategorie zu verstehen, die Zeit und Raum korreliert (vgl. Kapitel V.4.4.). Nach Derridas Verständnis gibt es kein Ereignis, kein Jetzt, dem in einem festgelegten Kontext eine je festgelegte Bedeutung zugewiesen werden könnte. Wie a priori über das Wesen der Zeit keine Aussagen zu machen sind,234 könne auch über das Wesen des Ereignisses nicht gesprochen werden. Der Begriff der Zeit bezeichnet damit auch auf die Wirkung von Sprechakten bezogen die Schlüsselstelle einer Kritik an einem ursprungsgesättigten Kontext-, Ereignis- und Präsenzdenken: „Die traditionelle Ontologie lässt sich […] einzig und allein durch das ständige Wiederholen und Befragen ihrer Beziehung zur Zeitproblematik destruieren.“235 Die absolute Ambivalenz, die den Performativitätsbegriff innerhalb der Theaterwissenschaft auszeichnet, begriffen als eine zwischen Präsenz und Repräsentation changierende Kategorie, die jegliche binäre Zeichenrelation transzendiert, lässt sich somit als Analogon zu einer philosophischen Metaphysikkritik verstehen. Zudem hat die systematische Auseinandersetzung mit der Kategorie der Zeit in gegenwärtigen Theoriediskussionen (vgl. Kapitel V.2.4) zeigen können, dass von einer Differenz unterschiedlicher Zugangsweisen zum Begriff Zeit – und ferner zu den Begriffen Ereignis und Präsenz – auszugehen ist, d.h., dass je nach Perspektive auch von unterschiedlichen Zeitvorstellungen auszugehen ist und, dass allein schon deshalb mit einem Verständnis von „Ereignis“ und „Präsenz“ im Diskursfeld der ästhetischen Erfahrung – etwa als „ErscheinenLassen“, als „quod“, als „eine Art von Epiphanie“ etc. – nur ein Produktions- und Erfahrungsmodus unter zahllosen möglichen anderen Erfahrungsweisen angegeben ist. Die Beschreibung von theatralen Darstellungen als „Vollzug von Handlungen“ ist dabei als die sehr weite Begriffsbestimmung zur Beschreibung einer Ästhetik zu verstehen, die sich nicht nur von der Darstellung fiktiver Handlungen zunehmend entfernt hat, sondern, die sich darüber hinaus mit ontologischen Vorannahmen nicht hinreichend beschreiben lässt. Zu unterscheiden ist dabei jedoch nach wie vor zwischen der Organisation der Temporalstrukturen in Aufführungen und der phäno232 U. Wirth: Der Performanzbegriff, S. 20. 233 Derrida weist also die Austin‘sche Aussparung „unernster“ Sprechakte zurück. 234 Vgl. J. Derrida: Ousia und gramme, S. 73. 235 Ebd., S. 53.
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Theater als Ort der Utopie menologischen Zeitbetrachtung, zu der diese je spezifischen Organisationen von Temporalstrukturen herausfordern. Hier überlagert sich der Modus der Metaphysikkritik, wie ihn etwa Jacques Derrida versteht, und die Art der Anwendung einer derartigen Kritik im Theater- respektive Performance-Kontext. Das bedeutet aber zugleich, dass sich die phänomenologische Zeitbetrachtung und die Organisation temporaler Strukturen in Aufführungen nicht ineinander übersetzen lassen. Zur Interpretation von Temporalstrukturen in Theateraufführungen des postdramatischen Theaters soll im Folgenden deshalb ein Analyseinstrumentarium vorgestellt werden, in dem „Ereignis“ und „Präsenz“ (zeit-)kontextbezogene Termini darstellen.
V.6 Von der „Narration“ „Narr ation“ zur Narration: Theatrale Zeitgestaltung als ästhetische Strategie Vorliegende Studie geht von der Erkenntnis aus, dass zwischen einer phänomenologisch orientierten Zeitbetrachtung und einer Organisation von Temporalstrukturen in Aufführungen unterschieden werden muss. Ebenso geht sie davon aus, dass sich das Konzept einer ästhetischen Erfahrung, die eine utopische und/oder ideologiekritische vernunftranszendierende präsentische Augenblickserfahrung favorisiert, nicht auf die Analyseebene übertragen lässt, wenn sie die komplexen Bezüge, in die ein (vermeintliches) Ereignis eingebunden ist, berücksichtigen möchte. Einem multiperspektivischen Ansatz zufolge ist von einer Koexistenz verschiedener Zeitmodalitäten und damit verschiedener Ereignis-Vorstellungen auszugehen. Um nicht nur metaphorisch die Pluralität der Zeitbegriffe auf der Ebene der Zeitdarstellung zu wiederholen, muss also grundsätzlich zwischen der philosophisch-ästhetischen Frage nach der Funktion ästhetischer Erfahrung und den ästhetisch-stilistischen Ausdrucksformen unterschieden werden. Zudem wird man an der Erkenntnis nicht vorbeikommen, dass die Apotheose einer Vorstellung von ästhetischer Erfahrung, die den Präsenz- und Ereignisbegriff als zeittranszendierende Erfahrungen des ephemeren „nunc stans“ favorisiert, nur eine Möglichkeit unter anderen darstellt, den Begriff der ästhetischen Erfahrung einzugrenzen und zu bestimmen. Eine dramaturgische Analyse muss also, wie Annette Storr bereits notiert hat, die „Eigenheiten der bedeutungsstiftenden Struktur“, „eine Beschreibung der Darstellungsformen“236 als Ausdruck
236 Annette Storr: „‚Eins, zwei, drei! Im Sauseschritt‘ – Zur Einführung“, in: Theresia Birkenhauer/Dies. (Hg.): Zeitlichkeiten – Zur Realität der Künste.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter spezifischer Zeitlichkeit in Kunstwerken wie Literatur, Filmen und Theateraufführungen berücksichtigen. Da man sich zugleich, wie Hans Holländer zu Recht feststellt, nur metaphorisch dem Begriff Augenblick nähern könne, „gibt [es] also keine Möglichkeit, einen Augenblick darzustellen, der nicht die Zeitdarstellung voraussetzt. Der Bruch im Zeitgefüge setzt voraus, dass es mitrealisiert wird.“237 Vor dem Hintergrund der Suspendierung der Kategorie der Narration innerhalb einer nicht-repräsentationalen Ästhetik ist nun aber fraglich, ob, wie Annette Storr vorgibt, die Kategorien Erzählung und Handlung tatsächlich außer Acht gelassen werden können,238 oder ob nicht vielmehr, wie gezeigt werden soll, ganz andere Schwerpunkte gesetzt werden müssen, die beide Aspekte gerade nicht dispensieren. Wirft man einen Blick auf die theaterwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema, fällt auf, dass die Zeitbetrachtung nicht nur bei der Analyse von Inszenierungen im Allgemeinen, sondern überraschenderweise auch bei jener der Performance Art und des postdramatischen Theaters weitgehend eine Randerscheinung darstellt. Hierfür mag es historiographische Gründe geben: Mit dem „Laokoon“, in dem Lessing der Dichtung als Zeitkunst eindeutig den Vorzug vor der Malerei gab, war lange Zeit die marginale Rolle einer Analyse der Zeitdarstellung in der Malerei und darüber hinaus eine ideologisch vorstrukturierte Wahrnehmung der unterschiedlichen Künste besiegelt. Die Dichtung, so hatte Lessing argumentiert, sei der Malerei respektive der bildenden Kunst überlegen, weil sie als Zeitkunst das Gesetz von Schönheit und Wahrheit (Wahrhaftigkeit) nicht verletze.239 Dieser These mit Langzeitwirkung ist es offenbar zu verdanken, dass zwar die Kategorie der Wahrnehmung ins Zentrum des Interesses der Ästhetik rückte, aber Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft schließlich – wenn auch mit entgegengesetzten Vorzeichen – von demselben Schicksal heimgesucht wurden. Während die Analyse der Zeitstrukturierung in der Malerei aufgrund ihrer Wahrnehmung als statische und als Raumkunst lange ein Schattendasein führte,240 war dies innerhalb der Theaterwissen-
237 238
239 240
Theater, Film, Photographie, Malerei, Literatur, Berlin: Vorwerk 8 1998, S. 7-33, S. 13. H. Holländer: Augenblick und Zeitpunkt, S. 18. Storr schreibt, dass die Frage nach der je spezifischen Zeitlichkeit der Kunstformen zwar ins Zentrum der ästhetischen Erfahrung führe, Erzählung und Handlung aber außer acht lasse. Vgl. A. Storr: Eins, zwei, drei“, S. 13. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Ders.: Werke in drei Bänden, Bd. 3, S. 9-188. Gottfried Boehm hat noch 1987 auf die recht marginale Bedeutung der Zeiterörterung innerhalb der Kunstgeschichtsschreibung hingewiesen.
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Theater als Ort der Utopie schaft offenbar aufgrund der langen Fokussierung auf Dramentexte und gerade wegen ihrer spezifischen Zeitlichkeit, der Transitorik, der Fall (vgl. Kapitel V.1). Nach einer etwas einseitigen Fokussierung auf die Naturwissenschaften innerhalb der kunstgeschichtlichen Zeitbetrachtung,241 ist man dort inzwischen dazu übergegangen, zwischen einer Zeit des Ausdrucks und einer Zeit des Inhalts – bzw. zwischen einem intrinsischen und einem extrinsischen Zeitmoment – zu unterscheiden.242 Diese Neujustierung zielte darauf ab, dass auch in Bildern, als Bildkomplexe verstanden, Zeitdarstellung nicht als passives Nebeneinander zu verstehen sei: „Die hier ästhetisch erfahrbare Freiheit der Zuordnung von sinnlicher Gestalt und Bedeutendem ist“, so Brigitte Scheer, „zugleich die Freiheit der Nichtbestimmung der Zeitrichtung zugunsten des Ausschöpfens genuiner Zeitigung“.243 Zwar sind bei Theateraufführungen, anders als bei der bildenden Kunst, Lebenszeit und Aufführungszeit identisch. Doch auch hier ist dem Rezipienten die Einordnung der temporalen Bezüge, die die spezifische temporale Organisation hervorbringt, freigestellt. Je nach Erfahrungshorizont wird jeder Zuschauer ein anderes Vorwissen mitbringen, was wiederum einen ganz individuellen Zugriff auf die Semantik der temporalen Relationen nach sich zieht. Für den Ansatz der vorliegenden Studie bedeutet dies, dass der Kontext eine entscheidende Kategorie für eine Analyse von temporalen Ordnungsmustern darstellt. Aufschlussreiche Hinweise zu einem derartigen Ansatz finden sich in Manfred Pfisters bereits erwähnter Studie. Da gerade die komplexe, je aktualisierte Zeitstruktur eines Texts oder historischen Texttyps – und damit eben auch einer Inszenierung – durch die zeittheoretischen Implikationen und Explikationen des sozial- und geistesgeschichtlichen Kontexts bedingt
Dieser Umstand veranlasste den Autor dazu, auf der Ebene der Bildgestaltung zwischen einer Zeit der Darstellung und einer Zeit des Dargestellten zu unterscheiden. Der gestaltete Moment müsse, rezeptionsästhetisch betrachtet, immer in Verbindung zu einem offenen „Davor“ und „Danach“ gesehen werden. Vgl. Gottfried Boehm: „Bild und Zeit“, in: Hannelore Paflik (Hg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim: VGH 1987, S. 1-23, bes. S. 21. 241 Vgl. Michel Baudson (Hg.): Zeit – Die vierte Dimension in der Kunst, Weinheim: Acta Humaniora 1985. Kritik forderte eben jener Vergleich mit einem „recht kryptischen, physikalisch-mathematischen Theorem“ heraus, der ich hier folgen möchte. Vgl. G. Boehm: Bild und Zeit, S. 3. 242 Vgl. Umberto Eco: „Die Zeit in der Kunst“, in: M. Baudson: Zeit – Die vierte Dimension, S. 73-83.; vgl. Brigitte Scheer: „Zur Zeitgestaltung und Zeitwahrnehmung in der bildenden Kunst“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 46/2 (2002), S. 255-269. 243 B. Scheer: Zur Zeitgestaltung und Zeitwahrnehmung, S. 268.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter ist, sei es unerlässlich, auf genau jenen Kontext, den es im weitesten Sinne mitrealisiert, zu verweisen.244 Hieraus resultiert, dass auch die Art der zeitlichen Strukturierung einer nicht-repräsentationalen Aufführung nach ihrem historisch-ästhetischen Diskursfeld untersucht werden muss, nach den ästhetischen Konventionen, die eine ganz bestimmte Zeitdarstellung forcieren oder zurückweisen, ohne dabei bei den ideellen Voraussetzungen, die diese vorstrukturieren, stehenzubleiben. Denn Theater bleibt, wie Theo Girshausen treffend bemerkt, „auch als Ereignis genommen […] dem geschichtlichen Wandel unterzogen. Geschichtliche Erfahrung bestimmt nämlich die jeweilige Art seiner Ereignishaftigkeit (Herv. i. O.)“.245 Die Untersuchung der Zeitdarstellung sieht sich vor diesem Hintergrund nun allerdings tatsächlich mit einer besonders komplexen Problematik konfrontiert, die nicht nur mit stellenweise ideologisch gefärbten Funktionszuweisungen – ästhetische Erfahrung als utopisches „nunc stans“ verstanden – oder mit der problematischen Erforschung des Phänomens Zeit, wie in Kapitel V.2 dargestellt, zu tun hat. Aus methodologischer Sicht unzulänglich erweist sich zudem der Verweis auf Extrembeispiele aus der PerformanceGeschichte, in der die dargestellte Zeit mit der Zeit der Darstellung vermeintlich zur Deckung kommt. Phänomene wie das Happening mit dem Begriff der Zeitlosigkeit zu belegen, kommt hier eher einer Verlegenheitslösung gleich,246 deren Ursache ein methodologischer Reduktionismus ist und vermutlich damit zusammenhängt, dass der ontologische Status der Zeit selbst ungeklärt und es mithin fraglich ist, aus welcher Perspektive man das Phänomen Zeit überhaupt erörtert. Stellt man in Rechnung, dass die phänomenologisch orientierte Zeiterörterung unterschieden werden muss davon, wie Zeit sich innerhalb von Aufführungen darstellt, so zeigt sich, dass der Schlüssel zur Analyse von Zeitdarstellung und -strukturierung des postdramatischen Theaters und der Performance Art viel näher liegt, als 244 Vgl. M. Pfister: Das Drama, S. 374. 245 Theo Girshausen: „Ereignis Theater“, in: A. Storr/T. Birkenhauer: Zeitlichkeiten, S. 34-49, S. 34. 246 So schreibt Pfister: „Im Happening dagegen, das meist ebenfalls außerhalb eines institutionalisierten Theaterraums aufgeführt wird, wird wirklich jede fiktive raum-zeitliche Deixis gelöscht, da auf Fiktion zugunsten einer teils vorgeplanten, teils spontan durchgeführten Manipulation realer Objekte durch reale Personen verzichtet wird.“ Einzuwenden ist, dass die Rede von der „gelöschten Zeit“ die Frage nach der dramaturgischen Funktion umgeht. Sie verbleibt in einer normativen Ästhetik, in der die Fikionalität der Zeit die absolute Matrix bildet. Vgl. M. Pfister: Das Drama, S. 328.
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Theater als Ort der Utopie man zunächst annehmen könnte. Trotz der Zurückweisung der Kategorie der Narration innerhalb einer nicht-repräsentationalen Ästhetik ist es gerade die Narration, die den Rahmen bildet für die Erforschung der Zeitstrukturierung, und zwar genau deshalb, weil, wie Karen Parna bündig formuliert hat, „change and temporality […] one of the key criteria of the narrative“247 bilden. Diese ebenso schlichte wie bestechende Diagnose anzuerkennen bedeutet zunächst aber, sich noch einmal vor Augen zu führen, dass die Negation der Kategorie der Repräsentation und, komplementär hierzu, der Narration auf ganz bestimmte Ursachen zurückzuführen ist. Jene Kategorien gerieten bekanntlich vor allem deshalb in Verruf, weil durch den Einfluss der Kritischen Theorie einerseits und eines klassenkämpferischen Gestus postbrecht’scher oder auch postmarxistischer Provenienz andererseits (vgl. Kapitel II.3.2), didaktische Ziele im Sinne eines emanzipatorischen Prinzips im Vordergrund standen. Die an einem avantgardistischen Kunstbegriff orientierte Maßgabe lautete, dass nur das NichtIdentische jeder verdächtig zu nennenden Identifikation und Manipulation entgegenwirke (vgl. Kapitel II.4.4.3). Dies war und ist, wie bereits gezeigt werden konnte, auch eine ideologische Debatte, deren Gegenbegriff als Negativfolie meist genauso diffus wie vereinheitlichend ausfällt. Die Debatte blieb dabei nicht auf die Funktion jener ästhetischen Ausdrucksformen beschränkt. Sie hatte schließlich auch methodologische Konsequenzen. Die Folge: Zirkulären und repetitiven Zeitstrukturierungen, dem ästhetischen Modus der Selbstreferentialität verpflichtet, sei schließlich mit dem Begriff der Narration auch theoretisch nicht mehr beizukommen.248 Ganz so eindeutig fiel das Urteil zwar auch innerhalb der Theaterwissenschaft selbst nicht aus. Gabriele Brandstetter etwa diagnostizierte hier gegenüber einer – ohnehin schon lange beschworenen – Krise der Narration gar die Omnipräsenz des Geschichten-Erzählens im (Performance-)Theater der 90er Jahre, die sie an Beispielen wie Christoph Marthaler, Xavier Le Roy und der Performance-Gruppe She She Pop festmacht.249 Die Darbietung theatraler Geschichten gleiche hier aber, so Gabriele 247 Karen Parna: „Narrative Time and the fixed image“, in: Mireille Ribière/Jan Baetens (Hg.): Time, Narrative & The Fixed Image. Temps, Narration & Image Fixe, Amsterdam: Atlanta 2001, S. 29-34, S. 29. 248 So nutzt Gerda Poschmann etwa den Begriff der Narration, wie den der Figuration, ausschließlich für Dramen, die einer „referentiellen Illusion im repräsentationalen Theater“ geschuldet sind. Vgl. G. Poschmann: Der nicht-mehr dramatische Theatertext, S. 48ff u. 311. 249 Vgl. Gabriele Brandstetter: „Geschichte(n) Erzählen im Performance / Theater der neunziger Jahre“, in: Fischer-Lichte/Kolesch/Weiler: Transformationen, S. 27-42.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter Brandstetter, nicht mehr der einer Geschichte, verstanden als geschlossene Handlung, sondern einem punktuellen „story-telling“, das eben genau jenes Telos der totalisierenden Ordnung des „grand récit“ unterbreche. Zwar zielt diese Erkenntnis auf die Revision einer eindimensionalen Kritik an der Kategorie der Narration. Doch belegt auch hier die Disjunktion von Narration und deren Unterbrechung nach wie vor das Verharren in einem dichotomen Deutungsmuster, das (wiederholt) verschiedene Ästhetiken gegeneinander ausspielt und damit letzten Endes auf die einseitig affirmative Verlängerung der oben beschriebenen, avantgardistischen Implikationen hinausläuft. Angesichts der Hartnäckigkeit, mit der sich diese dichotomen Deutungsmuster behaupten, lohnt sich ein Blick auf die narratologische Forschung, auch wenn diese sich ihrerseits durchaus nicht durch einheitliche Ergebnisse auszeichnet. Dieser Blick könnte nämlich zeigen, dass die Zurückweisung narrativer Strukturierung innerhalb fiktionaler Texte und die Entdeckung eines Strukturwandels von Narration weitgehend parallel verliefen.250 Es entstand ein recht komplexes Forschungsgeflecht, das weit über die Diagnose vom punktuellen Story-Telling als Unterbrechung einer geschlossenen Handlung hinausgeht. Die komplementär zur Diagnose von der Krise der Repräsentation verlaufende Feststellung von der Krise der Narration führte zunächst nämlich zu einer umfassenden Relektüre des Paradigmas „Narration“, die sich ebenso auf die komplexen Relationen zwischen Autoren, Erzählern und einem diversifizierten Publikum bezogen, wie sie Forschungsergebnisse aus anderen Disziplinen, wie Filmwissenschaft, Philosophie, Kognitionswissenschaft und Linguistik mitaufnahm. Diese recht weitreichenden Untersuchungen zeigten, so David Herman, dass „the extraordinarly vital and innovative work now being done in narrative studies belies both the story of obsolence and the story of crisis. Indeed, given the startling transmutation of narrative poetics over the past decade and a half, it may be more germaine to speak of a narratological renaissance at this juncture. Put otherwise, narratology has moved from its classical, structuralist phase – a Saussurean phase relatively isolated from energizing developments in contemporary literary and language theory – to its postclassical phase. Post-
250 Vgl. David Herman: „Introduction: Narratologies“, in: Ders. (Hg.): Narratologies, Columbus: Ohio State University Press 1999, S. 1-30. Einen systematischen Überblick bietet: Ansgar Nünning/Vera Nünning: „Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie: Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen“, in: Dies. (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002, S. 1-33; vgl. Jan Christoph Meister (Hg.): Narratology beyond literary criti-cism: mediality, disciplinarity, Berlin: de Gruyter 2005.
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Theater als Ort der Utopie classical narratology […] contains classical narratology as one of its ,moments‘ but is marked by a profusion of new methodologies and research hypothesis.“251
Gerade weil aber auch die Narration, als kulturwissenschaftliche Strategie begriffen, inzwischen das Schicksal der Begriffe „Theatralität“ und „Performativität“ teilt, weit über ihr herkömmliches Feld – hier die literarische Praxis und ihre Theorie – hinauszugehen, und mittlerweile „lawsuits, visual images, philosophical discourse, television, argumentation, teaching, history writing“252 einschließt, drängt sich die Notwendigkeit methodologischer Konkretion umso mehr auf. Der Methodik der vorliegenden Studie gemäß soll deshalb auch hier die Vorgabe gelten, kein starres Analyseraster den Analysen vorzuschalten: „establishing categories is not continuous with analysis.“253 Vielmehr soll mit dem Konzept der Narration, verstanden als „cross medial phenomenon“254, ein heuristisches Instrumentarium bereitgestellt werden, mit dem die zu untersuchenden Phänomene, ihre Zeitstrukturen und ihre jeweiligen semantischen Gehalte, entschlüsselt werden können. Die Kombination von Positionen der neueren narratologischen Forschung mit jenen der Theaterwissenschaft erweist sich hier als aufschlussreiche Orientierungsmaßgabe, die über das Verständnis von Narration als Modus des Geschichten-Erzählens weit hinausgeht. Zwangsläufig wird man dabei mit der Problematik der Gattungsdifferenzierung konfrontiert. Um Gattungsgrenzen aufzuzeigen, war man lange Zeit darum bemüht, entscheidende Differenzkriterien zwischen dramatischen, szenischen und narrativen Texten zu benennen, ohne sich zu vergewissern, dass die ontologisch nicht zu bestimmende Kategorie der Gegenwart das Problem einer exakten Distinktion erst aufwirft. Als entscheidendes Distinktionskriterium zwischen dramatischen und narrativen Texten benennt etwa Manfred Pfister das Fehlen einer „mehr oder weniger stark konkretisierten Erzählerfigur“,255 die in narrativen Texten das beliebige Umstellen der Chronologie, Raffungen, und Dehnungen erlaube, während demgegenüber durch das Fehlen dieser vermittelnden und distanzierenden Instanz innerhalb einer szenisch geschlossenen 251 D. Herman: Narratologies, S. 2f. 252 Mieke Bal: „Close Reading Today: From Narratology to Cultural Analysis“, in: Walter Grünzweig/Andreas Solbach (Hg.): Grenzüberschreitungen: Narratologie im Kontext, Tübingen: Narr 1999, S. 19-40, S. 19. 253 Ebd., S. 20. 254 Jan Christoph Meister: „Introduction“, in: Ders.: Narratology beyond literary criticism, S. IX-XVI, S. XIII. 255 M. Pfister: Das Drama, S. 20.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter Einheit „allein das Raum-Zeitkontinuum der dargestellten Handlung den Textablauf [bestimmt].“256 Das Prinzip der Sukzession verbiete, so Pfister, Rückblenden, „wie sie in narrativen Texten und im Film häufig auftreten“ und schränke „die Möglichkeit, simultane Handlungs- und Geschehnisabläufe szenisch zu präsentieren, auf solche Abläufe ein, die an denselben Schauplatz gebunden sind. Die dramatische Geschichte ist damit stärker auf ein ‚einsinniges‘ Nacheinander festgelegt, als die narrative Präsentation, die eine Umstellung von ganzen Abschnitten und eine Auffächerung und Verzweigung der Geschichte in nebeneinanderherlaufende Handlungsphasen kennt“.257 Das Fehlen der Erzählerinstanz markiert in Pfisters Modell zunächst zwar die Differenz zu genuin narrativen Textsorten wie Roman und Erzählung. Zugleich deutet diese Diagnose aber auch auf eine Leerstelle, die aus der Fixierung des Narrationsbegriffs auf die Gattung des Romans oder der Erzählung resultiert. Eine Ursache hierfür ist, dass die Kategorie der Wahrnehmung während der Rezeption eines Theatertexts als zeitlos fixierbare Wahrnehmung von Gegenwart aufgefasst wird. Die Transitorik, als genuin nur dem theatralen Prozess zugeordnete Kategorie, wird hier paradoxerweise mit dem Signum des Komplexitätsmangels belegt. Die Synchronität von aufgeführter Zeit und Aufführungszeit ist demgegenüber aber als Resultat der Beobachtung einer Ebene der Zeitstrukturierung zu erachten, die letzten Endes unzureichend das komplexe Zeitgefüge von theatralen Aufführungen erörtert. Sie führt zudem die oben ausführlich diskutierte Problematik der (philosophischen) Zeitspekulation direkt vor Augen. Art und Weise der Zeitstrukturierung innerhalb des szenischen Ablaufs erlauben aber überhaupt erst, die je vollzogene Gegenwart als Punkt in der Reihe der Ereignisse zu relationieren und auf mehrere Ebenen der plurimedialen Aufführung zu beziehen. Die temporale Organisation gehört zu den Grundprinzipien sowohl der dramatischen Texte wie auch der szenischen Präsentation. Zuzustimmen ist hier Walter Grünzweig und Andreas Solbach, die aus narratologischer Sicht die scharfe Trennung von Diegesis (Roman, Epos etc.) und Mimesis (Drama, Film, Cartoon etc.) als Differenzkriterium für die jeweiligen Gattungen zurückweisen: „Mimesis und Diegesis sind Darstellungsformen […] die ungeeignet sind, Gattungen zu definieren“.258 Erkennt man an, dass die Organisation der Ereignisse die Basis aller Narration bildet, gelangt man sowohl über das Verständnis ei256 Ebd., S. 23. 257 Ebd., S. 273f. 258 Walter Grünzweig/Andreas Solbach: „Einführung. Narratologie und interdisziplinäre Forschung“, in: Dies.: Grenzüberschreitungen: Narratologie und interdisziplinäre Forschung, Tübingen: Narr 1999, S. 1-15, S. 6.
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Theater als Ort der Utopie ner referentiellen Funktion einzelner Zeichensysteme wie über den durch den Aspekt des Zeitflusses gezwungenermaßen vorgegebenen Wahrnehmungsmodus, der einer linearen Anordnung folgt, hinaus. Michael Riffaterre hat zu Recht darauf hingewiesen, dass nicht allein eine geschlossene, kohärente Handlung gemeint sein muss, wenn man von Narration spricht: „The principle mechanism of narrative is time and its impact on character and situations. This impact translates as a sequence of transformations of a initial given in order for the story to reach its assigned telos. […] and the telos, of course, is precisely the difference that distinguishes the narrative diegesis from a mere description. In short, the repeated chronotope is a hermeneutic index, even though it is in itself open or empty“.259 Eine erweiterte Definition von Narration müsste folglich das Verständnis von Narration als „conversational storytelling or the production of literary fiction“260 verabschieden: „Narrative“ ist dann nämlich grundsätzlich „the representation of an event or a series of events.“261 Über das textuelle und szenische Sukzessionsprinzip hinaus ist die Zeitstrukturierung dann als eine komplexe ästhetische Strategie zu erachten, die nicht allein dem linearen Formationsprinzip oder seiner Unterbrechung untergeordnet ist. Gegenüber einer herkömmlichen Trennung von Spielzeit und gespielter Zeit ist dabei zu berücksichtigen, dass die unterschiedlichen Zeitebenen und -strukturierungen schließlich eine Semantisierung der Zeit ergeben, die über die Aufführung hinausgehende konnotative Implikationen aufweist. Diese muss aber eben nicht gezwungenermaßen der Trennung der beiden Sphären – Spielzeit versus gespielte Zeit – geschuldet sein. Stattdessen ist der Fokus auf die vielschichtigen Relationen zu lenken, die sich durch ein komplexes Netzwerk unterschiedlicher Perspektivierungen ergeben.
V.7 Ereignis im Kontext: Instrumentarium zur Analyse temporaler Ordnungsmuster in Theateraufführungen Auf dem SPIELART-Festival in München, das der Präsentation postdramatischer Theaterformen und Performances verpflichtet ist, wa259 Michael Riffaterre: „Chronotopes in Diegesis“, in: Mihăilescu, Călin-Andrei (Hg.): Fiction updated: Theories of Fictionality, Narratology, and Poetics, Toronto: University of Toronto Press 1996, S. 244-256, S. 245 u. 250. 260 Marie-Laure Ryan: „On the Theoretical Foundations of Transmedial Narratology,“ in: J. C. Meister/T. Kindt/W. Schernus: Narratology beyond literary critisicm, S. 1-23, S. 5. 261 Ebd., S. 5.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter ren seit seiner Gründung im Jahr 1995 etliche Inszenierungen zu sehen, die allesamt einem repräsentations- und ideologiekritischen Modus verpflichtet sind, wie ihn Hans-Thies Lehmann in seiner Studie „Postdramatisches Theater“ als Grundkategorie einer derartigen Ästhetik herausgearbeitet hat. Die Auswahl der Veranstalter war und ist entsprechend darauf gerichtet, Produktionen zu zeigen, die eine Arbeitsweise abseits des traditionellen Texttheaters anstreben. Sie alle können unter einen Begriff von ästhetischer Erfahrung subsumiert werden, der den Fokus gelenkt wissen will auf das „Produzieren von Präsenz“, das wiederum eine ästhetische Augenblickserfahrung des „nunc stans“ ermöglicht. Die Studie geht demgegenüber davon aus, dass es, neben derart a priori idealistisch aufgeladenen Zugangsweisen zu nicht-repräsentationalen Aufführungspraktiken, auch noch andere Kriterien gibt, und zwar solche, die Ereignis und Präsenz als an jeweilige Kontexte gebundene Kategorien versteht. Sowohl die Aufführungen selbst als auch deren Binnenstruktur sind immer an einen Kontext gebunden, der von jedem Rezipienten auf je andere Weise mitvollzogen wird. Mit anderen Worten: Analog zur historiographischen Einordnung nicht-fiktionaler Ereignisse, ist auch bei der Analyse von Theateraufführungen und Performances zu berücksichtigen, dass die unterschiedlichen selektiven Anordnungen gebunden sind an „Erwartungen hegende und Ziele verfolgende Akteure“ (vgl. Kapitel V.3). Wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, bietet ein erweiterter Narrations-Begriff Anschlussmöglichkeiten für eine Analyse von Theateraufführungen, die einem kontextbezogenen Ereignis-Begriff verpflichtet ist. Er ermöglicht es, über die Dichotomie Spielzeit versus gespielte Zeit hinaus, die vielschichtigen Relationen einer temporalen Organisation auf mehrere Ebenen der plurimedialen Aufführung zu beziehen. Im Zentrum steht im folgenden Kapitel VI demgemäß die Analyse von vier exemplarischen Fallbeispielen, die auf dem SPIELARTFestival zu sehen waren und die allesamt unter die Rubrik „postdramatisch“ subsumiert werden können. Analysiert werden sollen Jérôme Bels „The Show must go on“, Forced Entertainments „First Night“, Alexeij Sagerers „Götterdämmerung“- Horizontale IV des „Nibelungen & Deutschland-Projekts“ und schließlich Station House Operas „Roadmetal, Sweetbread“. Auf der Ebene der Binnenstruktur soll ein Narrations-Begriff zur Anwendung kommen, der, wie in Kapitel V.6 erläutert, Veränderung und Temporalität als die Schlüsselkategorien von Narration begreift. Den Rahmen für ein derartiges Instrumentarium bilden die den jeweiligen Kontext mitrealisierenden narrativen Strukturen und die damit verbundenen funktionalen Aspekte. Nicht mehr ahistorische, statische Modellbildungen, sondern das Verständnis offener, dyna-
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Theater als Ort der Utopie mischer Prozesse, eine themenorientierte Interpretation, die sich gegebenenfalls auch der Dynamik des Rezeptionsprozesses widmet, und die Anerkennung historisch und kulturell variabler Merkmale der zu untersuchenden narrativen Strukturen bilden die Parameter für eine kontextbezogene Analyse der temporalen Ordnung der jeweiligen Aufführungen. Gérard Genettes Untersuchungen haben auf diesem Gebiet entscheidende Impulse geliefert, die auch für die vorliegende Untersuchung nutzbar gemacht werden können. In seiner Studie „Die Erzählung“ widmet er sich in erster Linie der zeitlichen Anordnung der Ereignisse im Textverlauf, die sich von den herkömmlichen Begriffsbildungen, wie impliziter Autor und impliziter Leser, distanziert. Einzelne Kategorien von Genettes heuristischem Merkmalskatalog zur Analyse der Zeitstrukturierung weisen aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrads entsprechende Anschlussmöglichkeiten für die Analyse theatraler Aufführungen auf.262 Die temporale Ebene versteht Genette als eine Ordnungsstruktur, die nach unterschiedlichen Kriterien aufgefächert ist. Dabei geht es nicht nur um Reichweite und Umfang des Texts – bzw. des szenischen Ablaufs –, sondern auch um Aspekte, die die narrative Logik veranschaulichen, welche „vom Zeitverlauf partiell unabhängig ist“.263 Mit anderen Worten: Zwischen einer reinen Abfolge der Ereignisse, also der Geschichte (histoire), und einer nicht mit der Geschichte identischen Erzählung (récit), die die Ereignisse in ein Verhältnis zueinander setzt, muss unterschieden werden. Der Begriff der Narration bezeichnet entsprechend die Erzählinstanz, den Akt des Erzählens, d.h., wer wie, wann und wo eine Abfolge von Ereignissen organisiert. Die Analyse der temporalen Struktur ist dabei nicht auf bloße Fragen nach der Ordnung beschränkt. Vielmehr gilt es, die Relationen, „in denen die Segmente zu einander stehen“, zu definieren.264 Genette schreibt: „Die temporale Ordnung einer Erzählung zu studieren, heißt die Anordnung der Ereignisse oder zeitlichen Segmente in der Geschichte zu vergleichen, sofern sie sich explizit an der Erzählung ablesen lassen oder durch den ein oder anderen indirekten Hinweis erschließen lässt.“265 Hierzu gehören beispielsweise Prolepsen (ein späteres Ereignis wird früher erzählt), Analepsen (ein früher stattgefundenes Ereignis wird später erzählt) und Ellipsen (Auslassen von Ereignissen). Zu berücksichtigen sind dabei auch die Wiederholungsbeziehungen derartiger Strukturmerkmale, die
262 263 264 265
Vgl. G. Genette: Die Erzählung. Ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 25. Ebd., S. 22.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter die Semantik der Geschichte bestimmen. Die temporale Ordnung veranschaulicht demgemäß nicht nur die Reihenfolge der Ereignisse. Dauer und Frequenz sowie Modus, Perspektive und Stimme bilden zentrale Parameter, die erlauben, abseits des chronologischen Ablaufs unterschiedliche Zeitebenen miteinander zu korrelieren. Die Dauer spielt vor allem bei der Asynchronie, der NichtIdentität von einer Zeit der Geschichte und einer Zeit der Erzählung, eine ganz entscheidende Rolle: „Man muß also darauf verzichten, die Variationen der Dauer auf der Basis einer unerreichbaren, weil nicht zu verifizierenden, Zeitspannengleichheit zwischen Erzählung und Geschichte zu messen. Aber der Isochronismus einer Erzählung muss nicht unbedingt relativ, d.h. durch einen Vergleich ihrer Dauer mit der der von ihr erzählten Geschichte definiert werden, er lässt sich auch, wie etwa der eines Pendels, gewissermaßen absolut und autonom definieren, und zwar als Konstanz der Geschwindigkeit. Unter Geschwindigkeit allgemein versteht man das Verhältnis zwischen einem Zeit- und einem Raummaß (soviel Meter je Sekunde, soviel Sekunden pro Meter).“266
Dabei geht es in erster Linie um die Erstellung eines „Tableaus dieser Geschwindigkeitsänderungen“, bei dem vor allem wichtige zeitliche und/oder räumliche Brüche als Abgrenzungsmerkmale fungieren. Die so entstehende Chronologie hat dementsprechend auch Pausen, Zeitverkürzungs- und -dehnungsmaßnahmen zu berücksichtigen, die etwa, wie bei der Ellipse, auf eine Betrachtung der „ausgesparten Zeit der Geschichte“267 hinauslaufen. Einen wesentlichen Aspekt der narrativen Zeitlichkeit stellen die Wiederholungsbeziehungen dar, welche Genette als „narrative Frequenz“268 bezeichnet. Von zentraler Bedeutung ist hier das Verständnis von Wiederholung als ein abstraktes Strukturmerkmal, das „aus jedem Einzelfall alles Individuelle eliminiert und nur das zurückbehält, was allen Fällen einer Klasse gemeinsam ist“.269 Bei den Bezeichnungen „identische Ereignisse“ oder „Wiederkehr desselben Ereignisses“ ist also anzuerkennen, wie Genette erörtert, dass es sich um „eine Reihe ähnlicher Ereignisse handelt, die allein unter dem Blickwinkel ihrer Ähnlichkeit betrachtet werden (Herv. i. O.)“.270 Das System der Wiederholungskapazitäten lässt sich demgemäß auf vier virtuelle Typen zurückführen, nämlich auf ein „wiederholtes oder nicht wie-
266 267 268 269 270
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
62. 76. 80. 81. 81.
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Theater als Ort der Utopie derholtes Ereignis“ sowie eine „wiederholte oder nicht wiederholte Aussage“.271 Entscheidend für die „Regulierung der narrativen Information“272 erweist sich, Genettes Typologie zufolge, der Modus. Im Zentrum stehen die Fragen, aus welchem Blickwinkel erzählt wird und welche formalen und inhaltlichen Schwerpunkte gesetzt werden. Maßgeblich für die narrative Logik ist die Art und Weise, in der die Diegesis, also das Verhältnis bestimmter ausgewählter Ereignisse, vermittelt ist. Dazu gehört, dass ein Geschehen meist nicht nur aus einem, sondern aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt wird. Genette verweist hier im weiteren Verlauf auf die Perspektive. Der Erzähler, respektive der Autor273 kann im Geschehnisablauf situiert sein, oder den Figuren einen Blickwinkel mitgeben, der für die „narrative Perspektive maßgeblich ist (Herv. i. O.)“.274 Mit Hilfe der Bestimmung der Perspektive soll eine, in früheren Interpretationen durchaus übliche, Vermischung von Autoren- und Figurenperspektive vermieden werden. Bei dem Begriff Fokalisierung geht es um das Verhältnis von Erzähler, bzw. narrative Instanz und Figur hinsichtlich der Frage, was ein Erzähler über seine Figur weiß. Der handlungslogische Begriff der Fokalisierung erlaubt es, interne und externe Bezugspunkte einer Figur zu erläutern.275 Die Begriffe „narrative Instanz“, „Perspektive“ und „Fokalisierung“ stellen für eine Analyse postdramatischer Theaterformen nun insofern eine Herausforderung dar, als zum einen über die für das postdramatische Theater typische stilistische Konvention der Selbstreferentialität gerade die Vermischung der Perspektiven zum Kanon der Darstellungsweisen gehört. Zum anderen ist, damit verbunden, davon auszugehen, dass sich Figur und narrative Instanz, bzw. Darsteller und narrative Instanz mitunter
271 Ebd. 272 Ebd., S. 115. 273 Genette spricht von „Autor“ im Kontext von nicht-fiktionalen Erzählungen, während der Begriff „Erzähler“ für fiktionale Erzählungen reserviert ist. Um Begriffsverwirrungen zu vermeiden, soll für die hier vorgestellten Fallbeispiele der Begriff „Autor“ zur Anwendung kommen. 274 Vgl. ebd., S. 132. 275 Vgl. ebd., S. 134ff. Mit „Nullfokalisierung“ bezeichnet Genette jene Situation, in der der Erzähler mehr mitteilt als jede der beteiligten Figuren weiß. Als „interne Fokalisierung“ wird bezeichnet, wenn der Autor mehr sagt, als die Figur weiß, auf die die Wahl der Figurenperspektive gefallen ist. „Externe Fokalisierung“ bezeichnet schließlich jenen Typus, bei dem der Rezipient über eine fokalisierte Figur im Unklaren gehalten wird, der Erzähler also weniger mitteilt, als die Figur weiß.
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Ereignis und Präsenz als theaterwissenschaftliche Parameter überlagern können.276 Anders als der literarische Text erlaubt die plurimediale Aufführung zudem eine Perspektivierung der Narration, die sich über die linguistische Information hinaus auch über die visuelle und akustische Ebene ergibt. Dies hat wiederum Konsequenzen auf jene Kategorie, die Genette mit „Stimme“ bezeichnet. Der Begriff „Stimme“ meint hier nicht, wie im sonstigen Umfeld theaterwissenschaftlicher Analysen, eine Interpretation der stimmlichen Qualitäten der Darsteller. Gemeint ist hiermit vielmehr die narrative Instanz, die veranschaulicht, in welcher Beziehung die Aussagen zur Produktionsinstanz stehen.277 Im Raum stehen dabei die Fragen: Wer spricht und um welche narrativen Ebenen handelt es sich? Dieses Verhältnis von Aussage und Aussageinstanz bezeichnet Genette, in Anknüpfung an linguistische Untersuchungen, als Aussagevorgang, der wiederum die Narration erzeugt.278 Mit dem Begriff der Stimme soll ein methodologischer Reduktionismus vermieden werden. Erörterbar gemacht werden sollen demgegenüber vor allem die vielfältigen relationalen Situationen und Funktionen der Narration. Die hier vorgestellte Auswahl der Kriterien – temporale Ordnung, Dauer, Frequenz, Modus, Perspektive, Fokalisierung und Stimme – erlaubt es, abseits dichotomer Ordnungskriterien und abseits essentialistischer Vorannahmen, die vielfältigen Bezüge einer temporalen Ordnung von Aufführungen zu erörtern. Vor allem die Hervorhebung des narrativen Modus und der Perspektiven der Figuren einerseits und der Autorrolle andererseits, vermögen es, auf die Konstruktionsbedingungen eines szenischen Ablaufs zu verweisen, in dessen Zentrum die Darstellung von Figuren steht, die sich dem Begriff eines intentionalen Handlungssubjekts entziehen. Analog hierzu haben Bettina Brandl-Risi, Wolf-Dieter Ernst und Meike Wagner den Begriff der „Figuration“ entwickelt.279 Der Begriff der „Figuration“ soll das Paradigma der Figur als intentional handeln-
276 Söke Dinkla hat auf das hierfür relevante Prinzip der „Betrachterinvolvierung“ und der „verteilten Autorschaft“ in non-linearen Erzählformen hingewiesen. Vgl. Söke Dinkla: „Virtuelle Narrationen. Von der Krise des Erzählens zur neuen Narration als mentales Möglichkeitsfeld“, in: http:// www.medienkunstnetz.de/themen/medienkunst_im_ueberblick/narration vom 13.08.2007. 277 Vgl. ebd., S. 151f. 278 Vgl. Ebd., S. 151f. Roland Barthes ersetzt den strukturalistischen Begriff des Codes durch den der Stimme, wodurch der Dynamik des Rezipierens Rechnung getragen werden soll. Vgl. Roland Barthes: S/Z, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 26. 279 Vgl. Bettina Brandl-Risi/Wolf-Dieter Ernst/Meike Wagner (Hg.): Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, München: epodium 2000.
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Theater als Ort der Utopie des Subjekt ersetzen und entsprechend als „Dynamisierung, Potential oder Transformation“ begriffen werden.280 Der Begriff der „Figuration“ im Feld der aufführungsanalytischen Praxis soll über die Binarität Schauspieler versus Rollenfigur hinaus den „fließenden Übergang von Betrachten, Partizipieren, Zur-Schau-Stellen und Spielen“281 beschreiben. Im Rahmen einer historisierenden Lektüre soll es ferner darum gehen, das Wechselspiel von Figuration, Temporalisation und Spatialisation als Orientierungsmaßgabe für die Merkmalsanalyse „figurativer Texte“282 geltend zu machen.283 Im Sinne der vorliegenden Studie, die davon ausgeht, dass Zeit eine Dimensionskategorie darstellt, bei der man zeitliche Ereignisse topologisch darstellen und benennen kann, heißt dies, dass erst die Sortierung, Gliederung und Ordnung es ermöglicht, die semantischen Effekte der temporalen Strukturierung hinsichtlich ihrer weiterführenden Konnotationen zu erläutern. Zwar ist die herkömmliche Vorstellung von einer fließenden Zeit als eindimensionale Bewegung aufzufassen, man kann naturgemäß hinter den faktischen Verlauf der Zeit nicht zurück. Aber die Richtung des Zeitpfeils wird im Verlauf der Aufführung überlagert von semantischen Relationen, die die Linearität vervielfältigt. Zur Disposition steht die Anerkennung jeglicher Aufführung als Ausdruck eines komplexen Ereignisgefüges. Bei der Analyse der folgenden Fallbeispiele steht deshalb im weitesten Sinne eine kontextbezogene Interpretation von Ereignissen zur Disposition.
280 B. Brandl-Risi/W.-D. Ernst/M. Wagner: „Prolog der Figuration. Vorüberlegungen zu einem Begriff“, in: Dies.: Figuration, S. 10-29, S. 17. 281 Ebd., S. 22. 282 Peter Marx/Ralf Rättig: „Überlegungen zu den Kategorien Figur und Handlung“, in: B. Brandl-Risi/W.-D. Ernst/M. Wagner: Figuration, S. 31-35, S. 35. 283 Hier greift auch Peter M. Boenischs Entwurf eines Katalogs zur Analyse von Körperzeichen. Dieses Analyseschema geht von einer Profilierung der Relationen der einzelnen Systeme aus und folgt einem Zeichenverständnis, das einen zweiwertigen Zeichenbegriff transzendieren soll. Vgl. Peter M. Boenisch: körPerformance 1.0. Theorie und Analyse von Körperund Bewegungsdarstellungen im zeitgenössischen Theater, München: epodium 2002, S. 110 u. 96.
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VI. ANALYSEN
VI.1 Jérôme Bel: „The Show must go on“ oder die szenische Erzählung einer Genealogie europäischer Aufführungstradition VI.1.1 JÉRÔME BEL: TANZEN OHNE TANZ „Alles ist Show! Dies ist der Schlüssel zum Verständnis unserer Zeit, die den Gesetzen der totalen Inszenierung gehorcht und nicht mehr denjenigen einer alle verbindenden Wahrheit, die von der Religion und/oder Philosophie (Ideologie) definiert worden sind. Show ist das verbindende Element, weltweit. Sie ist der Kitt der Informationsflut, der Vorherrschaft der Immaterialien und zwingt allem und jedem ihre Gesetze auf: Mehr zu scheinen als zu sein.“1
Diese medienkritische Diagnose aus dem Jahr 1988 aus dem der Performance Art gewidmeten Band des „Kunstforums“ liest sich auf den ersten Blick wie ein Kommentar zu Jérôme Bels Performances, die dieser seit 1994 recht erfolgreich im europäischen Raum präsentiert. Auch die Performances von Jérôme Bel kommen nicht ohne ihren je spezifischen Show-Effekt aus. Es geht zunächst, und das ist, trotz aller Trivialität, das allen theatralen Aufführungsprozessen gemeinsame Spezifikum, um die Gleichzeitigkeit von Zeigen und Wahrnehmen. Die als avantgardistisch bezeichnete Performance Art ist nun aber eine Präsentationsform, die nicht nur etablierte Erzähl- und Darstellungsweisen der historischen Avantgarde aufnimmt und modifiziert. Sie hat sich selbst immer auch als Antwort und Reflexion auf die Entstehung und Verbreitung audiovisueller, elektronischer (Massen-)Medien verstanden. Wie Gerhard Lischka angibt, ist die Performance Art nicht ohne die Entstehung elektronischer Massenmedien und ihrer Aufzeichnungsmöglichkeiten zu denken. Vor allem die multimediale Performance bedient sich dabei der Mittel der medialen Inszenierung und reflektiert zugleich, so der Anspruch, mehr oder weniger kritisch auf
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Gerhard Johann Lischka: „Performance und Performance Art. Ein Bild-ZitateEssay“, in: Kunstforum 1988, S. 64-193, S. 68.
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Theater als Ort der Utopie die Mechanismen (massen-)medialer Aufbereitung. Die weitgehend einhellig vorgebrachte kultur- und medienkritische Reaktion auf mediale Inszenierungsweisen instrumentierte lange Zeit die meisten künstlerischen Intentionen und ihre theoretische Aufarbeitung. D.h., dass nicht nur seit Nam June Paiks erster Einzelausstellung seiner Fernsehskulpturen im Jahr 1963 in Wuppertal das elektronische Medium verstärkt in den künstlerischen Produktionsprozess miteinbezogen wurde. Über die szenische Kombination elektronischer Medien mit bekannten Darstellungsformen der Performance Art hinaus, bei der der menschliche Körper im Mittelpunkt steht, wurden vermehrt medienspezifische Fragen sozusagen im Akt der Darstellung, also szenisch, vergegenwärtigt. Dabei ging und geht es nie nur um rein technische Fragen und die Möglichkeiten künstlerischer Produktion in Korrelation mit audiovisuellen Techniken. Auch die medial je spezifischen Narrationsweisen waren immer inhaltliches Kompositum der künstlerischen Praxis. Im Zuge dessen sind alte Animositäten zumindest auf wissenschaftstheoretischer Ebene weitgehend einer kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung über die Verwendung elektronischer Medien auf dem Theater gewichen. Abseits dichotomer Deutungsmuster hat in den USA vor allen Dingen Philip Auslander für einen erweiterten Begriff von „Liveness“ plädiert. Er begreift die elektronischen Informationstechnologien nicht länger als Gegner einer als authentisch interpretierten LiveKunst des Theaters, sondern als integrativen Bestandteil der mediatisierten Kultur und demzufolge Theater als ein auf unterschiedliche Mediatisierungen reflektierendes Medium unter anderen.2 Zuzustimmen ist demgemäß Christopher Balmes Forderung, die herkömmliche theaterwissenschaftliche ästhetische Betrachtungsweise durch eine medientheoretische und -geschichtliche, die auch die wechselseitigen Rückkoppelungseffekte von Wahrnehmen und Produzieren berücksichtige, zu ergänzen.3 Mit Jérôme Bel ist nun ein Tänzer und Choreograph zu internationaler Anerkennung gelangt, der, anders als explizit medienkritische Künstler, den Umgang mit den elektronischen und „theater2
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Vgl. Philip Auslander: Liveness: Performance in a mediatized culture, New York, London: Routledge 1999, S. 4ff. Demgemäß richtet sich Auslander auch gegen Peggy Phelans Definition von Performance: „Phelan posits performance as a nonreproductive and writing as a form of reproduction, allowing her to conclude that writing (language) cannot capture performance. […] Much as I admire Phelan‘s commitment to a rigorous conception of an ontology of liveness, I doubt very strongly that any cultural discourse can actually stand outside the ideologies of capital and representation.“ Ebd., S. 40. Vgl. Christopher Balme: „Theater zwischen den Medien“, in: Ders./M. Moninger: Crossing Media, S. 13-31.
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Analysen fremden“ Medien, ihren Erzählweisen und ihrem Beitrag zur Herstellung von Images, implizit und auf ironische Weise in seinen Performances reflektiert. Bel, Jahrgang 1964, hat am Centre Nationale de Danse Contemporaine d’Angers studiert und ist seit 1994 mit seinen Performances im deutschen Sprachraum präsent. Zuvor tanzte er bei verschiedenen Choreographen in Frankreich und Italien (Angelin Preljocaj, Joelle Bouvier/Régis Obadia, Daniel Larrieu und Caterina Sagna) und war Assistent von Philippe Découflé für die Eröffnungszeremonie der 16. Olympischen Winterspiele in Albertville. Seit Mitte der 90er Jahre ist Bel mit seinen Produktionen im deutschen Sprachraum präsent und auch auf dem SPIELART-Festival 2001 hat der Choreograph seine Performance „The show must go on“ in einem Umfeld Gleichgesinnter zeigen können. Der Umstand, dass „The show must go on“ auf dem SPIELARTFestival präsentiert wurde, lässt somit schon vor dem Besuch der Aufführung und einer späteren Analyse der Performance, die Vermutung aufkommen, dass die Performance sich der im herrschenden Diskurs üblichen Rhetorik über eine nicht-repräsentationale Ästhetik reibungslos einpassen lässt. Tatsächlich spricht nicht nur das Umfeld, die auf die Präsentation innovativer Theaterformen sich konzentrierenden Festivals, in dem Jérôme Bel seine Performances zeigt, für eine derartige Lesart. Auch die überwiegend positive Presseresonanz und das Vokabular, mit dem Bels Ästhetik innerhalb des Feuilletons belegt wurde und wird, lässt ein derartiges Vorurteil als nicht unberechtigt erscheinen. Als Verfechter der „neuen TanzAvantgarde“4 wird Bel tituliert, als Verteter einer „Art Hitparade für zeitgenössischen Tanz“5, als „Avantgardechoreograph“6, als „Lieblingsgegenstand der Theaterwissenschaft“7, als „großer Manipulator“8, als „eine Art Tanzguru“, „Provokateur aus Überzeugung“, „in-
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Irmela Kästner: „Seelensuche im schmelzenden Eispalast. Die Avantgarde tanzt: das Programm der Independance Days, die vom 8. bis zum 31. Januar auf Kampnagel stattfindet“, in: Die Welt vom 03.01.1998, S. 25. Katja Schneider: „Der Tanz als T-Shirt. Körper und Forscher: Beim Festival ,tanzraum 98‘ wird die Anatomie des Alltags erkundet“, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.11.1998, S. 15. Jochen Schmidt: „Schwulst falscher Gefühle“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.10.2000, S. 48. Matthias Dell: „Scrabble als moderne Tragödie: Jérôme Bels neues Stück ,The Show must go on 2‘ hatte in Paris Premiere“, in: Frankfurter Rundschau vom 27.10. 2004, S. 15. Arnd Wesemann: „Der große Manipulator; Wien: Jérôme Bel macht Theater mit John Cage‘ und Publikum“, in: Süddeutsche Zeitung vom 24.11.2004, S. 12.
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Theater als Ort der Utopie tellektueller Eulenspiegel“ und schließlich als „Ethnologe“.9 Jérôme Bel hat sich seit Ende der 90er Jahre fest in den Kontext der als avantgardistisch bezeichneten Tanzpraxis integriert. Er ist als nahezu institutionalisierter „Avantgardist“ aus dem Rahmen internationaler Festivals nicht mehr wegzudenken. Gegenüber der positiven Presseresonanz erscheinen deshalb die negativen Bescheide, die vor allen Dingen Jérôme Bels Präsentation „The show must go on“ in Hamburg zugewiesen wurden, vergleichsweise gering. Vor allen Dingen im Zuge der zum Skandal stilisierten Berufung des Intendanten des Deutschen Schauspielhauses, Tom Stromberg, der Jérôme Bels Produktion als Gastspiel und eine von drei Eröffnungspremieren 2000 nachts um 23 Uhr zeigte, geriet auch Bel selbst kurz ins Kreuzfeuer der Kritik. Als „fataler Fehlstart“ wurde Strombergs Spielzeiteröffnung mit Jérôme Bels Projekt bezeichnet, einer „dilettantisch wirkenden Tanzcollage“.10 Zwar wurde der Unterhaltungswert der künstlerischen Konzeption, dieser „bewußt amateurhafte[n] Revue“, eingehend gewürdigt, letzten Endes aber auch als „Tinnef“, ihrem Vorbild der „Schlagerparade“11 vermeintlich analog, bezeichnet. Die Kontroverse, die um die Hamburger Aufführung entbrannte und dort etliche Zuschauer zu wütenden Zwischenrufen und zum Verlassen des Zuschauerraums veranlasste,12 hat dem Künstler, retrospektiv betrachtet, offenbar mehr genutzt, als geschadet: „The show must go on“ entwickelte sich, so das Presseecho, vom „Überraschungssieg“13 zu einem der „raren Dauerbrenner der Stromberg-Intendanz in Hamburg.“14 Die offenbar schon früh zur Marke gewordene Ästhetik, die auch firmiert unter den Begriffen „Non-Dance“15, „Anti-Danse“16 und „An-
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Michaela Schlagenwerth: „Ein Eulenspiegel entdeckt das Herz“, in: TagesAnzeiger, 21.09.2006, S. 51. Joachim Kronsbein: „Jedes Spiel ist ein Endspiel“, in: Der Spiegel, H. 46, 13.11.2000, S. 300. Auch die „taz“ schrieb: „Statt das Ensemble und die neuen Hausregisseure vorzustellen, zeigte Stromberg Gastspiele künstlerischer Weggefährten aus seiner Zeit am TAT, wo er in den Achtzigern internationale Performances präsentierte“. Christiane Kühl: „Die Enkel mit den schweren Apparaten“, in: die tagesezeitung vom 13.03.2001, S. 13. J. Schmidt: „Schwulst falscher Gefühle“, S. 48. Vgl. Eva-Elisabeth Fischer: „Tanz als Gedankenmaschine. Zurück in die Zukunft: Das ,White Oak Dance Project‘ und Michail Baryschnikow mit ,Pastforward‘ in Berlin“, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.08.2001, S. 16. Franz Wille: „Ein Schiff wird kommen“, in: Theater heute 11 (2000), S. 1520, S. 20. M. Dell: Scrabble als moderne Tragödie, S. 15. M. Schlagenwerth: „Ein Eulenspiegel entdeckt das Herz“, S. 51. M. Dell: „Scrabble als moderne Tragödie“, S. 15.
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Analysen tichoreographie“17 und Bel zur superlativischen Charakteristik von „Europas berühmteste[m] Anti-Choreograph“18 verhalf, bedient also durchaus herkömmliche Parameter aus dem Vokabular avantgardistischer Rhetorik. Jérôme Bel selbst, der Jan Fabre und William Forsythe als seine Vorbilder nennt, bemerkt zu seiner künstlerischen Absicht, es gehe ihm mit seinen Produktionen nicht darum, dem Zuschauer eine „schöne“ Tanztheateraufführung zu präsentieren, sondern vielmehr darum, „dass die Zuschauer verstehen, was sie sehen“.19 Auch die Lektüre theoretischer Texte ist für seine Arbeit von zentraler Bedeutung: „Zwei Jahre lang habe ich nichts gemacht. Ich habe nur gelesen, Philosophie und Tanzgeschichte, die wir in Frankreich stark vernachlässigt haben. Als Tänzer lernte ich immer nur bis fünf zählen. Die meisten Choreographen, vor allem in den 80ern, hingen der Illusion nach, daß sie völlig ohne Väter sind und das Rad jedesmal neu erfinden müßten“.20 Als Bel gleichzeitig vom Berliner Hebbel-Theater, vom Tanzquartier Wien und vom Centre National de Danse in Paris eingeladen worden war, „The Last Performance“ zu präsentieren, entschied er sich statt einer Präsentation der Performance für einen Vortrag über die Performance: „Ich hatte das Gefühl“, so der Choreograph, „dass dieses schwierige Stück nicht wirklich verstanden worden war. Vielleicht war das Stück schlecht. Aber ich glaube, dass die Themen des Stückes dennoch relevant waren; darum wollte ich das Medium wechseln und das Instrument des Vortrags nutzen, um die Anliegen, von ‚The Last Performance‘ besser ausdrücken zu können. Ich rekontextualisierte das Stück in seiner theoretischen Ebene durch Texte von Roland Barthes und Peggy Phelan und meine damalige künstlerische Situation“.21 Das Thema der Autorschaft beschäftigte Bel bereits in seiner ersten Performance und sollte folglich ein wichtiger Bestandteil sämtlicher Performances werden. Roland Barthes’ Text „Der Tod des Autors“ (1968) wurde, wie der spätere Foucault-Text „Was ist ein Autor?“ (1969), zu einer wichtigen Inspirationsquelle poststrukturalistischer Textkritik, hinter deren Status auch die kritische Tanzpraxis allerspätestens seit Jérôme Bels Performances nicht mehr zurückkann. In besagtem Text stellt Barthes die Frage danach, wer denn der Autor einer Er17 C. Kühl: „Die Enkel mit den schweren Apparaten“, S. 13. 18 Wiebke Hüster: „Bringen Demokratien die besseren Ballette hervor? Die Rückkehr der Tempeltänzer: Eine Pariser Begegnung mit Jérôme Bel“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.01.2006, S. 48. 19 Zitiert nach: Ebd. 20 Zitiert nach: Gerald Siegmund: „Im Reich der Zeichen: Jérôme Bel“, in: Ballett International/Tanz Aktuell 4 (1998), S. 34-37, S. 36. 21 Jérôme Bel: „The Last Performance“, in: http://www.unfriendly-takeover.de/ f14_n.htm vom 7.10.2007.
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Theater als Ort der Utopie zählung, eines Textes eigentlich sei und formuliert die These, dass der Schreibende selbst ein Geschriebener sei. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass Autor und Text überhaupt nicht als zeitlich voneinander getrennte Kategorien denkbar seien.22 Bels Auseinandersetzung damit, was Tanz für ihn bedeute und welchen künstlerischen Kriterien man zu folgen habe, ist damit immer auch eine autobiographische Auseinandersetzung, die über den individuellen Bezug hinaus die Kontextfrage in actu ausbuchstabiert und damit die Frage der Autorschaft als integralen Bestandteil versteht. Bel bewegt sich damit selbst in einem Kontext einer Theaterästhetik, die einem hermeneutischen Vorurteil gemäß auch auf wissenschaftlicher Ebene ziemlich eindeutig einer „Theatersparte“ zuzuordnen ist, die die Attribute des postdramatischen Theaters erfolgreich für sich zu reklamieren vermag. Vorab schon könnte man einer methodologischen Entscheidung folgen, die die Performance eher unter die Rubrik einer performativen denn einer repräsentationalen Ästhetik zuzuordnen vermag. Einer Vorentscheidung, die den Fokus legt auf das Ereignishafte, den Moment des Sich-Ereignens, zumal es ja offenbar darum geht, kritisch auf die Produktions- und Sehgwohnheiten zu reflektieren und ein Theaterkonzept abseits einer repräsentationalen Ästhetik zu zeigen. Für die vorliegende methodische Prämisse aber, die davon ausgeht, dass das Ereignis immer auch auf den Kontext angewiesen und, dass, mithin unentscheidbar ist, wer welche Erwartungshaltung und Information mit in die Aufführung nimmt, bedeutet das Folgendes: Es geht nicht um eine philosophisch grundierte Vorentscheidung, jegliche theatrale Praxis, die sich gegen eine mimetische oder konventionalisierte Ästhetik richtet, als per se ereignishaft im Sinne eines quasimystischen „Erscheinen-Lassens“ zu verstehen. Es geht vielmehr darum, die kontextuellen Bezüge und zeitlichen Verweise, die die Aufführung mitaufruft, mitzuvollziehen. Denn die verschiedenen Ebenen der Narration, die sich durch die temporale Organisation ergeben, ermöglichen erst das Auf- und Abrufen unterschiedlicher Zeithorizonte und damit verbundener Semantisierungsprozesse.
22 Vgl. Roland Barthes: „Der Tod des Autors“, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 185-193, S. 189.
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Analysen
VI.1.2 „THE SHOW MUST GO ON“ ALS GESCHICHTSKRITISCHES RELAIS ODER DIE DOPPELSTRATEGIE VON NARRATIVER DARSTELLUNG UND DARSTELLENDER NARRATION Der Ort der 90-minütigen Münchner Aufführung von „The show must go on“23 ist die Muffathalle, in der üblicherweise Popkonzerte stattfinden. Gegenüber einer für Popkonzerte sonst üblichen Raumgestaltung (keine Bestuhlung) ist mit der Sitzordnung im Saal eine weitgehend konventionelle Theatersituation gegeben: Eine steil ansteigende Zuschauertribüne mit quer zur Bühne verlaufenden Stuhlreihen, der eine ebenerdige, leere, nur mit schwarzen Vorhängen abgehängte Bühne vorgelagert ist. Die Erwartungshaltung ist somit nur bedingt angelegt auf Überraschung und Ausnahme, denn der Rahmen ist mit dem SPIELART-Festival selbst und dem Theaterraum als solchem bereits als künstlerischer vorgegeben. Der Zuschauer kann also antizipieren, dass er es möglicherweise mit einem Experiment zu tun hat, das die auf Staatstheaterbühnen üblichen Sehgewohnheiten „herausfordert“, womit genau diese Herausforderung wiederum eine Einschränkung erfährt. Die äußerst reduktionistische Dramaturgie und auch Choreographie lässt indes zunächst einmal – überraschenderweise – tatsächlich die Form einer eigenen Kreation typischer Tanznotationen und einer eigens dafür entwickelten Bewegungssprache und/oder Musikkomposition hinter sich. Der Modus der tänzerischen Darstellung der Performer24 in bunter 90er-Jahre-Freizeit-kleidung (alle tragen legere T-Shirts, bequeme Hosen oder Röcke, Turnschuhe oder Freizeitsandalen) folgt weitgehend einem, über die Auswahl bekannter Pop- und Musicalsongs vorgegebenen, dramaturgischen Spannungsbogen. 20 Titel werden mit kleinen Pausen sukzessive aneinandergereiht eingespielt. Über die spezifische Selektion der ansonsten zusammenhanglosen Titel konstituiert sich eine narrative Abfolge, die durch die Gestaltung des Bewegungsablaufs zur Vermengung von zwei ineinandergeschobenen Grundcodes führt: Die semantischen Gehalte, die sich über die narrative Ebene ergeben, werden mit der Gestaltung der Körperaktionen zugleich bestä23 Produziert wurde das Gastspiel von: Théâtre de la Ville (Paris), Gasthuis (Amsterdam), Centre Choréographique National Montpellier LanguedocRoussillon, Arteleku Gipuzkoako Foru Aldundia (Donostia-San Sebastián), R.B. (Paris). 24 In Hamburg waren dies Ensemblemitglieder des Deutschen Schauspielhauses Hamburg, in München 18 Tänzer aus Bels Ensemble: Sonja Augart, Nicole Beutler, Olga de Soto, Herman Diephuis, Juan Dominguez, Dina de Dik, Marie-Louise Gilcher, Benoit Izard, Cuqui Jerez, Eva Meyer Keller, Henrique Neves, Carlos Pez, Esther Snelder, Frédéric Seguette, Amaia Urra, Peter Vandenbempt, Hester van Hasselt, Simon Verde.
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Theater als Ort der Utopie tigt und gebrochen. Je nach Perspektivierung werden damit mehrere Konnotationsebenen eröffnet. Durch den spezifischen Modus der temporalen Organisation erhält die Stimme, also die Erzählinstanz, die für das Verhältnis von Narration und Geschichte entscheidend ist, eine Bedeutung, die über das reine Arrangieren einzelner Popsongs weit hinausgeht. Die Zeitkategorien Tempo, Dauer und Rhythmus der szenischen Darstellung entsprechen dabei den sukzessive eingespielten Songs, die in voller Länge gespielt werden: „,Tonight‘ (aus: ,West-Side-Story‘, M: Leonard Bernstein, T: Stephen Sondheim, B: Arthur Laurents, UA: 19. 09.1957), ,Let the sunshine in‘ (aus: ,Hair‘, M: Galt MacDermot, T: Jérôme Ragni u. James Rado; UA: 17.10.1967), ,Come Together‘ (The Beatles, M/T: John Lennon, 1969), ,Let’s Dance‘ (David Bowie, 1983), ,I like to move it‘ (Erick Morillo, P: Reel 2 Real, 1994), ,Ballerina Girl‘ (Lionel Ritchie, 1986), ,Private Dancer‘ (Tina Turner, 1984), ,Macarena‘ (Los del Rio, 1996), ,Into my arms‘ (Nick Cave & the Bad Seeds, 1997), ,My Heart Will Go On‘ (aus: „Titanic“, I: Céline Dion, M/T: James Horner/Will Jennings, 1997), ,Yellow Submarine‘ (The Beatles, M/T: John Lennon/Paul McCartney, 1966), ,La vie en rose‘ (I: Edith Piaf, M: Louiguy, 1946), ,An der schönen blauen Donau‘ (Johann Strauß, 1867), ,Imagine‘ (John Lennon, 1971), ,The Sound of Silence‘ ( Paul Simon und Art Garfunkel, 1966), ,Every Breath you take‘ (The Police, M/T: The Police und Sting, 1983), ,I Want Your Sex‘ (George Michael, 1987), ,Killing Me Softly‘ (The Fugees, 1996, Remake von ,Killing me Softly with his Song‘ M/T: Norman Gimbel, Charles Fox, 1973), ,The Show must go on‘ (Queen, 1991)“
Die Songs werden weder mit einer Live-Band noch von einem unsichtbaren, sich hinter der Bühne befindenden Techniker eingespielt. Vielmehr werden sie von einem an einem kleinen, als Mischpult getarnten Tisch sitzenden Mann mittleren Alters in Freizeitkleidung via CD abgespielt. Der Mann sitzt, mit dem Rücken zum Publikum, direkt in der Mitte vor der ersten Zuschauerreihe. So kann es vorkommen, dass man nicht gleich bemerkt, ob der Mann tatsächlich auch Teil der Aufführung ist oder nicht. Das lange dunkel bleibende Saal- und Bühnenlicht sowie die um etliche Sekunden verzögerte Einspielung des ersten Songs „Tonight“, bei dem die Bühne dunkel bleibt und diese auch niemand betritt, wird gleich zu Beginn die Erwartungshaltung – nach dem Abdunkeln des Zuschauerraums folge eine schnell anschließende Erleuchtung der Bühne – auf die Probe gestellt. Während des ersten und auch zu Beginn des folgenden Songs, „Let the sunshine in“, bleibt die Bühne dunkel. Erst beim siebten Refrain von „Let the sunshine in“ wird der Bühnenraum langsam erleuchtet. Noch ist niemand auf der Bühne zu sehen und erst mit dem dritten Song, „Come Together“, schlendern die 23 Darsteller von beiden Seiten auf die Bühne, stellen sich vorne in aufrechter Haltung in einer Reihe frontal vors Publikum, um in dieser Haltung zu verharren. Erst nach dem ersten
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Analysen Refrain des folgenden Songs, David Bowies „Let’s Dance“, tanzt jeder seinen eigenen privaten Discotanzstil in derselben Position, in der jeder einzelne sich zuvor eingefunden hat. Mit dem nächsten Song schließlich, „I like to move it“, bewegt jeder einzelne, immer noch auf derselben Position am Platz stehend oder sitzend, eines seiner Körperteile, oder vollführt Gesten, analog zum monotonen Staccato-Rhythmus der Musik: Eine Frau, ansonsten bewegungslos stehend, lässt ihre Augen kreisen, eine andere Frau schleudert, am Boden sitzend, mit beiden Händen ihren rechten Knöchel umfassend einen ihrer Unterschenkel vor und zurück, ein Mann hebt und senkt seine Schultern, eine Frau rollt seitlich zum Publikum stehend ihren Rücken in eine gebückte und wieder zurück in eine gerade Rückenposition etc. Nach Beendigung dieser bis zum Liedende in unermüdlicher Wiederholung ausgeübten Minichoreographie, folgt die Einspielung des Songs „Ballerina Girl“, für die alle Männer die Bühne verlassen und die Frauen in Turnschuhen und Freizeitsandalen Übungen aus dem Repertoire klassischer Ballettetüden und -figuren vollziehen wie Pirouetten, Plies und Tendues. Die Präsentation dieser ersten sechs Songs ergibt dabei nicht nur eine syntaktische Organisation, die zeigt, dass die Songtitel buchstäblich als Regieanweisungen fungieren und somit als „sprechende Titel“ der Funktion von Didaskalien in Dramentexten entsprechen. Sie zeigt auch, dass gleich zu Beginn eine Situation exponiert wird, die sich im weiteren Verlauf als narrative Struktur eines nahezu konventionellen Handlungsbogens mit Anfang, Mitte und Schluß entfaltet, welcher allerdings gleichzeitig einer ironischen Brechung unterzogen wird. Schon der erste Titel erfüllt hier auf einer weiteren Ebene, der Ebene der zeitlichen Strukturierung, eine doppelte semantische Funktion: Er ruft bereits zu Beginn die Bedeutung zweier Erwartungshaltungen auf. „Tonight“ wird, analog der dramaturgischen Funktion im Musical „West Side Story“, zum Modus der Erwartungszeit, die die Erwartung sowohl der Figuren im Musical aufruft, die, wie im Songtext steht, nicht nur aus der Rückschau die Entstehung ihrer Liebe beschwören, sondern auch die endlose Dauer eben dieser Nacht, in der sich die Protagonisten Maria und Tony begegnet sind: „[…] Tonight/Tonight/It all began tonight/I saw you and the world went away […] Today all day/I had the feeling a miracle would happen/I know now I was right […] Oh, moon, grow bright/And make this endless day/Endless night /Tonight.“ Die zweite Ebene betrifft die Erwartung des konkreten Zeitverlaufs des Abends, d.h., den rein die Produktion „The show must go on“ betreffenden Rezeptionsvorgang. Diese bleibt zunächst, je nach Erwartungshaltung, ob sich etwas erfüllen solle oder nicht, wahlweise erfüllt oder unerfüllt. Nachdem das Licht mit dem Liedtext „Let the sunshine in“ langsam den Bühnenraum erleuchtet hat
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Theater als Ort der Utopie und erst im dritten Song die Tänzer zu „Come Together“ auf die Bühne gekommen sind, um erst zu „Let’s Dance“ im privaten Discostil zu tanzen und schließlich zu „I like to move it“ unterschiedliche Körperteile zu bewegen beginnen, zeigt sich, dass die Verwendung der Musiktitel als Regieanweisungen ein narratives Kontinuum herstellt, das über die kontrastierend eingesetzten Bewegungsabläufe zugleich semantisch bestätigt als auch unterlaufen wird. Hier markiert auf der Ebene der Verknüpfung der einzelnen Bewegungsabläufe die Abwesenheit einer in der Bühnentanzpraxis üblicherweise gesondert entworfenen Choreographie und das Präsentieren der Darsteller wie im Alltags- und Clubumfeld zum einen den Status einer konventionellen Story. Darin geht es inhaltlich um nichts anderes als darum zu zeigen, dass und wie Menschen sich zu einem Tanzabend treffen, sich auf Partnersuche begeben, einen Partner finden, sich gegebenenfalls wieder trennen, um statt einer Liebe Sex zu suchen und um schließlich, ganz am Ende, zu sterben. Die Auswahl und Präsentation der einzelnen Bewegungsabläufe hat aber noch eine weitere Funktion: Nicht die Konstrastierung von Musik und Bewegungsablauf ist es hier, sondern die Reduktion des Bewegungsablaufs, die zu einer semantischen Brechung eines konventionellen Handlungsbogens führt, wie er zahlreiche Theater- und Filmplots auszeichnet. Die einzelnen Performer bewegen sich synchron zur Musik und führen nicht mehr Bewegungen aus, als ihnen das musikalische Signal diktiert und der Kontext einer mehr oder weniger konventionalisierten Discotanzkultur erlaubt: „Come Together“ führt zum Zusammenkommen, „Let’s Dance“ zum Tanzen im Rhythmus der Musik, „I like to move it“ zur Bewegung eines Körperteils. Die jeweils monotone Repetition eines einzelnen Bewegungsablaufs verweist dabei zum einen tatsächlich ikonisch auf die Ausführung eines im Discothekenkontext ebenso monotonen Tanzstils. Zugleich aber wird eine choreographische Konvention bedient. Die durch die Endlosschleife des Bewegungsablaufs entstehende Übertreibung, analog zum literarischen Stilmittel der Hyperbel, ist durchaus als ein traditionelles Kompositum des Komödiantischen und des Slapstick identifizierbar. Auch hier funktioniert „die Anbindung von Komik an Körper und Bewegung über eine Orientierung an Bewegungsmuster, die „aus paratheatralen Traditionen stammen“, wie dem „Zirkus, dem Sport, oder dezidiert a-literarischen Formen des Theaters, wie dem Varieté, Sonderbereichen des Tanzoder Figurentheaters“,25 welche wiederum eben auch im Film weit-
25 Hans-Peter Bayerdörfer: „Diesseits der Sprachen. Bewegung und Komik als Regieprinzipien im Gegenwartstheater. Mit einem Ausblick auf Shakespeare-Komödien“, in: Ders./Stanca Scholz-Cionca (Hg.): Befremdendes Lachen,
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Analysen reichende Anwendung gefunden haben. Die Dramaturgie dezidierter Komödienhandlungen, weniger einen linearen Handlungsablauf zu bedienen, als punktuelle Komikszenerien und damit eine distanzierende Betrachtung zu ermöglichen, kommt hier grundsätzlich der Repräsentationskritik Jérôme Bels entgegen.26 Über die Vermischung zweier narrativer Ebenen führt Bel implizit die Mechanismen, die zur Entstehung von choreographischen Normen beitragen, vor und hebelt sie zugleich aus. Zieht man zu den beschriebenen Signifikationen eine weitere Perspektivierung hinzu, eröffnet sich, neben den bisher genannten – Plot und dessen ironische Brechung –, über die spezifische Strukturierung der Bewegungsfolgen und der akustischen Ebene die Möglichkeit, den Autorkommentar als eine kombinierte Reflexion über die Genealogie von Musik-, Tanz- und Theatergeschichte anzuerkennen. Die Verbindung von „high“ und „low“ erreicht bei Bel dabei eine weitere Zuspitzung. Sie bildet bekanntlich allerspätestens seit Leslie A. Fiedlers Plädoyer „Überquert die Grenzen, schließt die Graben!“ (1969) einen wichtigen Modus künstlerischer Ästhetik.27 Darüber hinaus hat es seit der Karriere von Marcel Duchamps ready-mades, von Andy Warhols Verwendung der „Brillo Box“ (1964) im Kunstkontext, über Jeff Koons’ Vergrößerungen von Produkten aus der Warenwelt wie „Tall White, Pink Bunny“ (1979) bishin zu den Techno-Pop-Texten von Rainald Goetz, innerhalb des Theater-, Kunstund Literaturbetriebs immer wieder Nachbarschaften von Kunst und Kommerz abseits verfallstheoretischer Beschwörungen gegeben. Auch Bel bewegt sich somit in einem etablierten Umfeld künstlerischer Praxis, das die unverfremdete Integration alltäglicher Objekte und Zeichenverwendungen in den Kunstkontext zu einer äs-
Komik auf der heutigen Bühne im japanisch-deutschen Vergleich, München: Iudicum 2005, S. 342-366, S. 345. 26 Gerald Siegmund hat den Begriff der „Abwesenheit“ für Jérôme Bels Ästhetik nutzbar gemacht. Abwesenheit begreift Siegmund als ideologiekritische (!) Kategorie, die das selbstreflexive Potential des Tanzes als Bühnen- und Tanzform ausmache: „Jérôme Bel setzt […] an der symbolischen Ordnung des Tanzes selbst an, die er mit Abwesenheiten durchzieht, um durch das Ausspielen eines gesellschaftlichen und individuellen Imaginären zu einer anderen Funktionsweise vorzustoßen.“ Vgl. Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006, S. 318 u. S. 361. 27 Als Klassenvorurteil erachtete Leslie A. Fiedler die Unterscheidung zwischen „hoch“ und „niedrig“ und sah das Heil der Kunst gerade in der Überbrückung dieser Grenze. Aufgabe von Künstlern und Kritikern sei es, diesen Unterschied zu zerschlagen. Vgl. Leslie A. Fiedler: „Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne“, in: W. Welsch: Wege aus der Moderne, S. 57-74, S. 68f.
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Theater als Ort der Utopie thetischen Strategie werden lässt. Indem Bel aber die im Kontext von Tanztheater und Performance Art üblicherweise ebenfalls als trivial geltenden Popsongs und ihre damit verbundene Club-und Discothekentanzkultur in einer narrativen Abfolge, nahezu unkommentiert und mit geringen expliziten intermedialen Verweisen versehen, in den Kontext einer avantgardistischen Szenerie integriert, wird die Möglichkeit zu einer uneingeschränkt mehrschichtigen Konnotation eröffnet. Bel verweist qua Musikrepertoire und Tanzstil auf die sonst im Tanztheater übliche Praxis, die mit tänzerischem und musikalischem Erfindungsreichtum und perfektionierter Körperbeherrschung und -belastung hantiert, welche wiederum als solche auch von einem daran interessierten Publikum im Tanzkunstkontext eingefordert wird. Bel changiert hier durchaus zwischen Subversion und Affirmation. Indem er die Musiktitel als Regieanweisungen und den Discothekentanzstil wörtlich nimmt, thematisiert er die Praxis künstlerischer Produktion und Rezeption und erweist zugleich der von der Höhenkammkunst vernachlässigten Popkultur seine Reverenz: Bel zeigt damit auf, dass jede Musik und jeder Tanzstil als Erinnerungs- und Zeitspeichermedium zu fungieren vermag. Die Popsongs sind nicht nur selbst Erinnerungs-„Trigger“, da über analoge und digitale Speichermöglichkeiten das wiederholte Abrufen ihrer selbst und damit verbundener, individueller Erinnerungsräume ermöglicht ist. Ihr Abspielen einerseits und die synchron hierzu ausgeführten Bewegungen andererseits in einem weitgehend „popfernen“ Umfeld verweisen zudem implizit darauf, welche Erinnerungsräume für welchen Kontext überhaupt bereitgestellt werden. Dabei wird der Verweis zu einem mit doppelter Konsequenz: Auch die Disco-Kultur seit den 50er Jahren folgte ihrerseits, und das zeigt trotz aller Unterschiede die ideelle Nachbarschaft von Avantgarde und Pop, einer subkulturellen Prämisse, Widerstand gegenüber der Offizialkultur zu leisten, auch wenn die Verweigerungshaltungen auf Seiten der Popkultur weit weniger politisch ausfielen und eine viel stärkere Affinität zum Massenkonsum herrschte.28 Bel führt somit einerseits die feinen, aber durchaus praktizierten Disktinktionen innerhalb des künstlerisch anspruchsvollen Tanztheaterbetriebs vor, in der erst derjenige reüssieren und integriert werden kann, der, einer avantgardistischen Prämisse gemäß, mit der Erfindung des innovativsten Tanz- respektive Darstellungsstils aufzuwarten vermag. Gleichzeitig verweist er auf popkulturelle
28 Vgl. Peter Kemper: „Jugend und Offizialkultur nach 1945“, in: Ders./Thomas Langhoff/Ulrich Sonnenschein (Hg.): „alles so schön bunt hier“. Die Geschichte einer Popkultur von den Fünfzigern bis heute, Stuttgart: Reclam 1999, S. 12-20.
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Analysen Praktiken, die ihrerseits mit Selbst–stilisierungen hantieren, die sie wiederum von einer als avantgardistisch bezeichneten Ästhetik und deren Herstellungsgesetzen trennt. So exemplifiziert Bel gerade anhand der Figur des DJs, dass er auch die Selbststilisierungen und Mythenbildungen der Popkultur einer Prüfung zu unterziehen vermag. Vor allen Dingen in der Techno-Kultur der 90er Jahre ist der DJ über das Sampeln und Mixen, also das technische Reproduzieren und Arrangieren von Tonmaterial mit Hilfe computerisierter Speichermöglichkeiten, vom Plattendreher zum Musiker avanciert. Die im deutschsprachigen Raum bekannteste Apologie dieses Berufsstandes hat Ulf Poschardt vorgelegt, der im DJ gar die Personalunion von Künstlerkritiker und reetabliertem Künstler erblickt.29 Nicht die „biederen Plattenaufleger“, sondern jene, die aus ihm „eine komplex strukturierte Künstlernatur“ machten, sind für Poschardt Figuren „des Aufbruchs, des Widerstands und der Rebellion“.30 Derartige Selbststilisierungen vermag Bel ebenfalls ironisch vorzuführen. Der DJ aus „The show must go on“ hantiert wiederholt „unkünstlerisch“ und unbeholfen. Langsam und umständlich nimmt er eine CD aus dem CD-Spieler, ehe er die folgende wieder einlegt. Er verkörpert also weder das Ethos des DJs, der mit seinen Schallplatten an zwei Plattentellern jongliert oder sich digitaler Technik bedient, um für reibungslose und markante musikalische Übergänge zu sorgen, noch das Ideal eines DJ, der selbstkombiniertes Tonmaterial vorführt. Der DJ bei Bel ist nicht der Regisseur des musikalischen Clubabends, sondern ein Dienstleister und Mitglied der Gruppe. Dabei lässt er nicht nur die Songs unangetastet so stehen wie sie sind. Über seine Aufgabe wird er, metaphorisch gesprochen, zum Durchlauferhitzer eines Konsumflusses. Pop hat, und das veranschaulicht Bel, als Zeitspeicher genauso Anteil am kulturellen Tanzgedächtnis wie die ethisch höherbewertete traditionelle – klassische und avantgardistische – Bühnentanzkultur. Gesteigert wird die ironische Brechung einer selbststilisierten Popkultur einerseits und einer Bühnentanzkunst andererseits, indem zum siebten Song „Private Dancer“ der DJ selbst auf die Bühne kommt, um im Lichtspot der sonst abgedunkelten und nun leeren Bühne alleine zu seiner selbst aufgelegten Nummer zu tanzen. Auch hier wird „Private Dancer“ wörtlich genommen. Der im Clubkontext sonst nicht tanzende DJ, tanzt allein, privat für sich selbst, vor einer vermeintlich geschlossenen „vierten Wand“.
29 Vgl. Ulf Poschardt: DJ-Culture. Diskjockeys und Popkultur, Hamburg: Rowohlt 2001, S. 25. 30 Ebd., S. 20.
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Theater als Ort der Utopie Der Auftritt des DJs bildet dabei nicht nur einen singulären Kulminationspunkt der Vorführung unterschiedlicher Tanzstile der Alltagskultur. Die narrative Binnenstruktur betreffend folgt nun nach dem Aufzeigen eines möglichen Discoabendbesuchs – verschiedene junge Leute treffen sich in einem Club zum Tanzen – ein narrativer Spannungsaufbau, bei dem es über das Aufzeigen alltäglicher Tanzstile um die Veranschaulichung stereotyper Verhaltensweisen postindustrieller Gesellschaften bei der Partnersuche und der Herstellung von gesellschaftlichen Image- und Identitätsbildungen geht. Bel bedient sich dabei zunächst erneut einer popkulturell erfolgreichen Tanznummer. Die Darsteller auf der Bühne führen auf der gesamten Bühne verteilt in Formation die Choreographie des Hits „Macarena“ aus dem Jahr 1996 aus, der 14 Wochen lang Nummer eins der US-Charts gewesen war. Die über den Bewegungsablauf semantisch sexuell aufgeladene Situation – das Ende des kurzen, immer wiederholbaren Bewegungsablaufs durch ein heftiges Vor- und Zurückstoßen der Hüfte – bildet gleichsam die Vorbereitung für die folgende Station, bei der die Performer einzeln ohne bestimmtes Ziel über die Bühne laufen und es in Folge des Refrains von „Into my arms“ wiederholt zu (gleichgeschlechtlichen) Paarbildungen kommt. Hat sich ein Paar gefunden, verharrt es den Refrain über stehend in der Umarmung so lange, bis nach Beendigung des Refrains sich die Partner gegenseitig wieder freigeben. Dramaturgischer Höhepunkt bildet anschließend – die „richtigen“ Paarkonstellationen haben sich endgültig gebildet – mit Song Nummer zehn, also genau in der Mitte der 20 Titel, schließlich die Einspielung des „Titanic“-Titelsongs „My Heart Will go on“ von Céline Dion. Sämtliche Paare imitieren hier im Stand über die Bühne verteilt und in verschiedene Himmelsrichtungen ausgerichtet die Filmszene, der der Song unterlegt ist. Leonardo DiCaprio in der Rolle des Jack Dawson und Kate Winslet in der Rolle der Rose DeWitt Bukater stehen in jener Filmsequenz am Bug des Schiffes der Titanic. Während Rose DeWitt Bukater etwas halsbrecherisch auf eine der oberen Stangen der Reeling mit dem Blick aufs offene Meer und waagerecht ausgebreiteten Armen steht, wird sie vom hinter ihr stehenden Jack Dawson gehalten. Im Film hat diese Szene die Funktion der Visualisierung einer momentanen Bestätigung der Freiheit der Liebe, eine Vereinigung über irdische Standesgrenzen hinweg – die reiche Rose DeWitt Bukater und der mittellose Jack Dawson verlieben sich ineinander – zu ermöglichen, bei gleichzeitiger Antizipation des Todes von Jack und damit des Endes der Liebesgeschichte. Dort ist die Position der Liebenden umgekehrt. Jack befindet sich nun außerhalb der Reeling des sinkenden Schiffes und wird von der sich auf Schiffsinnenseite befindenden Rose gehalten, so lange, bis die Titanic versinkt.
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Analysen Die Imitation der Körperposition des Filmpaares auf der Bühne wird zu einem mehrfachcodierten Kommentar über die Bedeutung und Entstehung von Bildern in Zeiten der modernen Reproduktionsindustrie, der besagt, dass, analog zur sprachphilosophischen Betrachtung eines Ludwig Wittgenstein, auch die Verwicklung in Bildkomplexe und Bildherstellungsverfahren unhintergehbar ist. Bel bedient sich hierbei des Verweises auf zwei Bildgebungsverfahren. Er verweist sowohl auf die Filmsequenz, in der das Liebespaar während des Songs an der Reeling stehend über das Meer segelt, als auch auf das Filmstill mit gleichem Sujet, das die PR-Kampagne des Films begleitete. Über den (implizit) visualisierten intermedialen Wechsel vom bewegten Bild (Film) über das Still (Photo) zur Präsentation auf der Bühne entsteht eine Verweisungskette, bei der die Strategie der Wiederholung eines imaginierten Bildes (zumindest bei jenen, die den Film und/oder das Still kennen), die Differenzmerkmale der einzelnen Medien aufzeigbar macht. Zugleich wird die „falsche“ Imitation des Originals erneut zu einem ironischen Kommentar auf die Imagebildungen eines bestimmten Genre-Kinos, das gezielt dramaturgische Gesetze zur Zuschauerlenkung einsetzt.31 Die bewusst schwankende und das Gleichgewicht austarierende Haltung, in der die einzelnen Paare stehen, bricht hier mit der auf Perfektion angelegten Equilibristik, sowohl die Haltung der Filmfiguren betreffend als auch den Grundmodus perfektionierter Körperbeherrschung im Tanztheater. Auf der diegetischen Ebene erfüllen die, nach dieser ironisiert dargestellten Imitation der Filmszene, eingespielten fünf Songs – einer fünfaktigen Dramenstruktur gemäß – die Funktion eines retardierenden Moments. In allen fünf folgenden Liedern gibt es wiederholt keinen Bühnenauftritt. Das retardierende Moment ist als Moment ohne jede Bühnenaktion somit auf die Spitze getrieben, womit sie auch hier zum Kommentar über die Funktion und Konvention dramaturgischer Erzählmuster wird. Vom polyphonen Darstellungsund Zeichenarsenal einer Theateraufführung ist die Verwendung von Körpern und Requisiten nun subtrahiert. Übrig geblieben ist die visuelle und akustische Ebene. Das Fehlen der Darsteller wird zur semantischen Leerstelle, die die gedankliche Verbindung einer narrativen Kette ermöglicht, die Paare befänden sich nun auf dem Rückzug, der Sexualakt wird – als mögliche Anspielung auf ein literarisches und darstellerisches Tabu – nicht gezeigt, sondern kann vorgestellt werden. 31 Vor allen Dingen Erkenntnisse aus der Bildwissenschaft, die eine Verlagerung der herkömmlichen kunsthistorischen Analyse des zweidimensionalen Tafelbildes hin zu einer von Bildern der Alltagswelt und ihrer gesellschaftlichen Bewertung nach sich zog, können hier geltend gemacht werden. Vgl. Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? München: Fink 1994.
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Theater als Ort der Utopie Während des Titels „Yellow Submarine“ beleuchtet lediglich ein gelber Spot die Bühnenmaschinerie an der Decke und sorgt somit für die Herstellung einer Raumsituation, die die Assoziation eines Maschinenraums eines Schiffes zulässt und, erneut ironisch gebrochen, spielerisch auf das Ende des Films (und damit der Realität), den Untergang der Titanic, zu verweisen vermag. Der Theaterraum wird zur Unterwasserwelt, welche die im Liedtext anklingende Utopie – “As we live a life of ease/Sky of blue and Sea of green/In our yellow submarine“ – mit einer utopischen Funktionszuweisung des Theaters kreuzt. Die aktionslose Situation wird zum Imaginationsangebot: verhandelt wird die Fragilität utopischer Konstruktionen im Kunstkontext. Auch der folgende Titel „La vie en rose“ ergibt über Korrelation einer rosa Einheitsbeleuchtung eine visuelle Metapher. Die Zuschauer vermögen nun einander durch die „rosarote Brille“ zu beobachten. Ein Verliebten oft unterstellter Wahrnehmungsmodus, der eher von Realitätsverlust als pragmatischer Realitätseinschätzung kündet, wie der Songtext selbst vermittelt – „[…] Quand il me prend dans ses bras/Il me parle tout bas/Je vois la vie en rose/Il me dit des mots d’amour/Des mots de tous les jours/ Et ça me fait quelque chose […]“. Auch mit der Einspielung des Donauwalzers wird die Darbietung einer konventionellen oder eigens entwickelten Tanzchoreographie unterlaufen. Erst mit der Einspielung von John Lennons „Imagine“ wird gleichsam eine Hilfestellung und Auflösung der dramaturgischen Situation im Anschluss erteilt: Zu überdenken sei, wer welche Bilder in sein visuelles Repertoire aufnehme und wie sie entstehen. Dasselbe Prinzip wird auf akustischer Ebene mit Song Nummer 15 durchgespielt: „Sound of Silence“, bei dem der DJ nach jedem Refrain die Musik bis zur Stille abund nach einigen Sekunden wieder aufdreht. Das retardierende Moment erfüllt hier die übliche dramaturgische Funktion einer Verzögerung des weiteren Handlungsablaufs. Gegenüber einer ausdifferenzierten Handlungsfolge mit mehreren Handlungsschauplätzen, erreicht es bei Bel gleichsam als Konzentrat die Wirkung einer Antizipation eines möglicherweise untragischen Lösungsansatzes. Der Song „Every Breath you take“, dessen Text um das Verlassenwerden eines Mannes von einer Frau kreist – “[…] Every move you make/Every vow you break/Every smile you fake/Every claim you stake/I’ll be watching you/Since you’ve gone I been lost without a trace/I dream at night I can only see your face […]“ – erfüllt das Reglement einer typisierten Liebesgeschichte: Das Glück der Liebenden war nur von kurzer Dauer. Die hier als stereotype Liebende gekennzeichneten Performer müssen mit dem Verlust des Partners zurechtkommen, ein Verlust, der mit der Suche nach einem neuen Partner kompensiert wird, wie der folgende Song anzeigt. Dieser markiert die Erweiterung des Perso-
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Analysen nenkreises für die Partnersuche. Mit George Michaels „I want your sex“ und der damit verbundenen Aufstellung der Darsteller in einer Reihe vor dem Publikum und seiner direkten Betrachtung, also der erneuten Wendung „ad spectatores“, wird eine eindeutige Botschaft erteilt. Auf der narrativen Ebene wird hier die Lösung antizipiert, die sich zunächst, weil sich die Aufforderung nach Sex ans Publikum nicht erfüllt, in individueller Vereinzelung Ausdruck verschafft: Sämtliche Tänzer kommen mit einem Walkman auf die Bühne und trällern den Refrain des Songs, den sie jeweils, für die Zuschauer unhörbar, mit Kopfhörern hören, mit. Das Resultat aber dieser Vereinzelung ist der Tod. Zu „Killing me Softly“ legen sich alle auf den Bühnenboden und stellen sich, wie in jedem anderen Bühnentod auch, tot. Erst zum letzten Lied „The show must go on“, noch vor dem Ende der Aufführung, stehen alle wieder auf und stellen sich zum Abschluss wieder in einer Reihe aufgereiht frontal, mit seitlich hängenden Armen, vor das Publikum. Der Rahmen ist als „Show“ nun offen angezeigt, der Kommentar auf die immer wiederkehrenden Quasi-Rituale der Show, des Theaters, der darstellenden Künste geliefert, ob einer konventionellen Dramaturgie folgend, diese ironisch brechend, oder als affirmative Erzählhaltung zurückweisend: „Empty spaces – what are we living for/Abandoned places – I guess we know the score/[…]/Another hero, another mindless crime/ Behind the curtain, in the pantomime/Hold the line, does anybody want to take it anymore/The show must go on […].“ Der Song stammt als Single aus dem letzten Queen-Album, die nach dem HIV-Tod von Freddie Mercury im November 1991 veröffentlicht wurde. Über eine Theatermetapher im Theater hinaus wird der Song gleichsam zur Metapher auf das Leben selbst.
VI.1.3 DER AUTORKOMMENTAR ALS ZEITDIAGNOSE Jérôme Bel kommentierte seinen choreographischen Ansatz einst mit zwei aussagekräftigen Aperçus. Auf die Frage, ob er ein „Hirnkünstler“ (artiste cérébrale) sei, antwortete Bel mit den Worten: „Oui, mais mon carburant, ce sont les affects et non les concepts.“32 Dieses Bekenntnis eines Theatermannes, der sein Schaffen allein auf die Bühnendarstellung und ihre Effekte konzentriert wissen will, erfährt sogleich mit dem zweiten Bonmot eine erläuternde Ergänzung: „L’histoire de l’art est un corpus, avec des solutions et des impasses, d’où je tire des lignes de fuite.“33 Die metaphernreiche Rede verkündet, wie Jérôme Bel die Kunstgeschichte im Allgemei-
32 Jérôme Bel: „Jérôme Bel. Interview samplée“, in: http://www.adc-geneve.ch /html/prograencours/jadc27/bel.html vom 25.03.2008. 33 Ebd.
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Theater als Ort der Utopie nen und die Art und Weise ihrer Darstellung und Aufbereitung im Besonderen wahrnimmt. Für Bel ist die Kunstgeschichte ein Körper, der Lösungen und Sackgassen beinhaltet, in den er selbst Fluchtlinien reißt. Bel liest die Geschichte analog zum Medium mit dem er arbeitet. Die Geschichtskritik („tire des lignes de fuite“) ist als Aufführungskritik nur über die Veranschaulichung körperlicher Darstellungsprozesse zu vermitteln. Mit jenem Aperçu liefert Bel nicht nur ein Bekenntnis über das Medium, in dem er seinen Impetus verwirklicht wissen will. Zugleich erweist Bel mit seinen Worten einer inzwischen fast schon zur Schule gewordenen Denkrichtung seine Reverenz. Es ist kein anderer als Gilles Deleuze, der mit seiner Geschichtsauffassung die Vorlage für Bels Kommentar lieferte: „Il ne faut pas chercher si une idée est juste ou vraie. Il faudrait chercher tout autre idée, ailleurs, dans un autre domaine, telle qu’entreWohlfahrt, Günter les deux quelque chose passe, qui n’est ni dans l’une ni dans l’autre. […]. Par example, j’essaie d’expliquer que les choses, les gens, sont composés de lignes très diverses, et qu’ils ne savent pas nécessairement sur quelle ligne d’eux-mêmes ils sont, ni où faire passer la ligne qu’ils sont en train de tracer: bref il y a toute une géographie dans les gens, avec des lignes dures, des lignes souples, des lignes de fuite, etc.“34
So wie Deleuze mit der Metapher von den Fluchtlinien und einer damit einhergehenden Kreuzung heterogener Denkräume und Gesetzmäßigkeiten vor allem eine Kritik an der Philosophiegeschichte anstrengt, deren Rolle er vor allen Dingen pejorativ als „rôle de répresseur“35 bezeichnet, so macht sich Bel diese Kritik zu eigen, um sie auf die historisch gewachsenen und konventionalisierten Stilformen des (Tanz-)theaters anzuwenden. Wie gezeigt werden konnte, hintertreibt Bel mit der spezifischen Selektion und Kombination von Musik und Bewegungsabfolgen jede Weise einer formvollendeten Choreographie. Er thematisiert die Selektionsmechanismen und Identitätsherstellungsprozesse, die zu einer nahezu normativen Vorstellung von künstlerischer Könnerschaft führen können. Auch wenn Bel einen allzu offenen ideologiekritischen Kommentar vermeidet, der über einen Impetus der Thematisierung von Tanzkonventionen hinausgehen könnte, nähert sich der Choreograph mit der Aufnahme des geschichtskritischen Ansatzes, wie Deleuze ihn projektiert, implizit einem Denken an, das ausschließlich einer ganz bestimmten Form von Kunst nach wie vor die Fähigkeit zur Utopie zugesteht. Der theoretische Kommentar zeigt an, dass die gegenseitige Affirmation – philosophischer Ansatz einerseits, künstlerischer andererseits – den Diskursraum „Utopie“, wie 34 Gilles Deleuze/Claire Parnet: Dialogues, Paris: Flammarion 1977, S. 16f. 35 Ebd., S. 19.
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Analysen er im Umfeld der Neoavantgarde verstanden wird, bestätigt. Ebenso wie das philosophische Denken bei Deleuze von den Konzepten avantgardistischer Künstler profitiert (sieheD Kapitel II.4.4. 5), so profitiert auch bei Bel die szenische Vergegenwärtigung vom philosophischen Ansatz, heterogene Diskurs- und Denkräume zu kreuzen. Die inzwischen schon herkömmlich zu nennende, an einer avantgardistischen Ästhetik ausgerichtete Historiographie hat nun jene Entwicklungen auf dem Gebiet der Tanztheaterpraxis theoretisch mit den Begriffsdefinitionen von poststrukturalistischen Philosophen belegt. So wendet beispielsweise Ramsay Burt die geschichtstheoretischen Äußerungen von Michel Foucault und Judith Butler affirmativ auf einen von ihm herauspräparierten genealogischen Ausschnitt aus der Tanztheatergeschichte von Yvonne Rainer über Teresa de Keersmaeker bishin zu Pina Bausch an.36 Praxis und Theorie bekleiden hier gleichsam die Funktion einer gegenseitigen Spiegelung.37 Auch Bels Ästhetik ließe sich mit den Theoremen genannter Philosophen beschreiben. Bel verweist ebenfalls qua wiederholt ausgeführter Negation einer aktionsgeladenen Choreographie auf die Bedingungen, die zur Herstellung von produktionsund rezeptionsästhetischen Konventionen führen. Bel führt also gleichsam performativ, qua Aktualisierung eines aus dem Discothekenumfeld bekannten Bewegungsrepertoires, die performativen Strategien zur Herstellung von historischen und ästhetischen Darstellungs- und Deutungsmustern vor und zeigt, dass mithin unentscheidbar ist, wer überhaupt zur Autorisierung von Konventionen berechtigt ist. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Diskussion, die der Pluralität der Ansätze und Narrationsweisen geschuldet ist, zeigt sich aber, dass jene Affirmation der ästhetischen Ausdrucksformen auf wissenschaftlicher Ebene nur einen Modus der Historisierung von Performances darstellt. Eine andere Lesart zeigt, dass Bel durchaus selbst die Konventionen einer traditionskritischen, nun selbst schon etablierten Tradition performativ bestätigt. Es ist nicht nur die Reverenz, die er einem im Performance-Kontext anerkannten Philosophen, Gilles Deleuze, erweist, die dafür spricht. Auch die Integration alltäglicher Objekte in den Kunstbetrieb, die 36 Vgl. Burt Ramsay: „Genealogy and Dance History. Foucault, Rainer, Bausch, and de Keersmaeker,“ in: A. Lepecki: Of the Presence of the Body, S. 29-44. 37 Foucaults Kritik habe gezeigt, so Ramsay, dass es keine prädiskursiven Vorstellungen eines Subjekts gebe, während Butler, Foucault weiterführend, erläutert habe, dass unsere Vorstellungen von Geschlecht auf einem Akt permanenter (performativer) Wiederholung basierten. Die „radical, experimental performance practices“ seien es, so Burt, die genau jene Codierungen und verborgenen Strategien sichtbar machten. Vgl. ebd., S. 31f u. S. 34.
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Theater als Ort der Utopie eine Thematisierung von Grenzen des Kunstkontexts mit sich brachte, kann selbst auf eine anhaltende Traditionslinie zurückblicken. Retrospektiv wurde Marcel Duchamps Einsendung des readymade „Fountain“ unter dem Pseudonym R. Mutt zur ersten Ausstellung der New Yorker Society of Independant Artists im Jahr 1917, zur epochemachenden Zäsur erklärt, an der sich gleichsam die Entgrenzungsbewegung der Kunst hin zum Alltäglichen zeitlich fixieren lässt. Das wohlgemerkt von der Ausstellung ferngehaltene Exponat wurde schließlich zum Lieblingsobjekt ontologischer Fragestellungen. So schrieb Arthur C. Danto in Replik auf Anmerkungen, die in jenem Urinal eben ein bloß ästhetisches Objekt anerkennen wollten: „Was aber ist dann der konzeptionelle Angelpunkt dieses noch immer umstrittenen Werkes? Ich glaube, er liegt in der von ihm gestellten Frage: Warum sollte dies – mit Bezug auf sich selbst – ein Kunstwerk sein, wenn etwas anderes, das ihm völlig gleich ist, nämlich das da – mit Bezug auf die Kategorie der unerlösten Urinale –, nur ein Beispiel industrieller Sanitärtechnik ist? […]. Duchamp fragte nicht nur: Was ist Kunst?, sondern vielmehr: Warum ist das eine ein Kunstwerk, wenn das andere, das ihm völlig gleich ist, keines ist? […] Im Falle von Duchamp hat die Frage, die er als Kunstwerk stellt, eine genuin philosophische Form; und man hätte sie zwar mit jedem beliebigen Gegenstand stellen können (was mittels kaum klassifizierbarer Gegenstände auch geschehen ist) – keineswegs dagegen zu jeder beliebigen Zeit, denn die Frage war historisch nur zu jenem Zeitpunkt möglich, in dem sie tatsächlich gestellt worden ist […].“38
Danto zufolge ist die Transformation des Objekts mehr als eine ohnehin nicht zu klärende ontologische Positionierung, eine die kunstgeschichtliche Chronologie betreffende Frage. Duchamp hat gleichsam als erstes mit einem Alltagsobjekt die Frage aufgeworfen, um welche Kriterien es denn bei der Beurteilung von Kunst überhaupt gehe. Wie in Kapitel IV.3 gezeigt, ergaben sich daraus widerstreitende Funktionszuweisungen an abstrakte Kunst, wie sie auf theoretischer Ebene etwa von Michael Fried und Clement Greenberg erörtert und über Werke von Künstlern wie Donald Judd, Frank Stella, Andy Warhol und anderen erprobt wurden. Bel hat mit einer ähnlichen Strategie nach den kunstkritischen Kunstaktionen der Dadaisten, 83 Jahre nach Marcel Duchamp und nach den Performance-Aktionen von Chris Burden, Marina Abramović und anderen Body-Art-Künstlern dasselbe Prinzip im Kontext der Performance Art wiederholt. Auch er begibt sich mit „The show must go on“ auf die Ebene selbstreferentieller Zeichen-
38 Arthur C. Danto: Die philosophische Entmündigung der Kunst, München: Fink 1993, S. 36f.
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Analysen verwendung im Kunstkontext. Der entscheidende Unterschied gegenüber der Objektkunst und den genannten Körper-Performances ist jedoch: Bel erprobt das Wechselverhältnis von Präsenz und Repräsentation und, damit verbunden, jenes von unterschiedlichen Vergegenwärtigungsmodi mit dem Einsatz von Tänzern innerhalb einer Temporalstruktur, die zugleich eine nahezu geschlossene Narration darstellt. Dies erlaubt wiederum die Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven: Die Performer werden, einem konventionellen Repräsentationsbegriff gemäß, wenn sie auf der Bühne im Discostil tanzen, zu ikonischen Zeichen von Discotänzern aus dem Alltag. Die jedem theatralen Zeichengebrauch gemäße Eigenschaft erlaubt jedoch auch, den Anteil der in actu vollzogenen Darstellung als auf eben jenen Akt der Darstellung reduzierte Darstellung zu erkennen. Ein Produktions- und Wahrnehmungsmodus, der wie in Kapitel I. erwähnt mit der – ontologisch nicht belegbaren – Bezeichnung von der Präsentation von Präsenz belegt wird. Die Tänzer können aber auch als Medium selbstreferentieller Zeichenketten aufgefasst werden, die vorführen, dass die etablierten Zeichencodes wieder nur auf andere Zeichencodes verweisen. Diverse Aspekte dramaturgischer Zeitgestaltung, denen Bel besondere Aufmerksamkeit schenkt, sind dabei ebenfalls durchaus konventioneller Art: So ist der Modus der Repetition, wie er sich in der Nummer „I like to move it“ in der durchgehenden Wiederholung eines kleinen Bewegungsablaufs artikuliert, eine im klassischen Komödientheater und Slapstick übliche Strategie der Übertreibung, die eben, neben dem Effekt der Unterhaltung, auch als Signal der Kritik verstanden werden kann. Das Unterlaufen einer aktionsgeladenen Handlung, herkömmlicherweise auch als dramaturgisches Prinzip der zeitlichen Dehnung bezeichnet, hat bei Bel eine gezielt eingesetzte dramaturgische Funktion. Es geht, neben dem Befriedigen und Unterlaufen von Erwartungshaltungen, auch um die Erläuterung von Prinzipien der (ökonomischen) Gestaltungsweisen von Zeit in theatralen Aufführungsprozessen. Ereignisse im Kontext der Inszenierung von „The Show must go on“ sind hier vor allen Dingen Ereignisse der Verweigerung von Gestaltung und Aktion, gefolgt von Ereignissen reduzierter Aktion, womit sie auch bei Bel, einer konventionellen Inszenierungsstrategie gemäß, zu kalkulierten Ereignissen werden. Die kontextuelle und zeitliche Einordnung von Jérôme Bels Ästhetik selbst in einen historischen Kontext erweist sich damit ebenfalls als eine Frage der Perspektive. Bel ist mit seinen Produktionen hauptsächlich in einem Festival-Umfeld erfolgreich präsent, das sich der Unterstützung und Präsentation innovativer Produktionen widmet. Nicht nur der institutionelle Kontext, sondern auch die Attribute, die eine avantgardistische Ästhetik für sich reklamiert,
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Theater als Ort der Utopie können auch für Bels Ästhetik geltend gemacht werden. Die Verweigerungshaltung gegenüber Narration und Repräsentation erhält bei Bel, etwa gegenüber den Aktionen der Performance- Künstler aus den 60er und 70er Jahren, eine spielerische Note. Der Ikonoklasmus, den Bel projektiert, wird kompensiert mit einer Ikonophilie. Im Umfeld der Postmoderne-Diskussion lässt sich Bels Ästhetik aufgrund des erhöhten Status der Selbstreflexion durchaus als weitere Spielart des Postmodern-Dance bezeichnen, da er sich nicht über einen charakteristischen Bewegungscode einordnen lässt, sondern, so Gabriele Brandstetters Kennzeichnung des Postmodern Dance, über ein Konzept des Choreographierens, verstanden als „Dominanz des Konzeptuellen“.39 Inwieweit Bels Ästhetik nun als tatsächlich avantgardistisch tituliert werden kann, oder ob er eher einer selbst nun etablierten Kunstrichtung unter anderen zuzurechnen ist, wird hier wohl dem Auge des Betrachters überantwortet werden müssen, der entscheiden muss, ob eine Historiographieund Institutionenkritik qua Aufführung suspendiert wird oder nicht.
VI.2 Forced Entertainment: „First Night“ – Zukunftsprognostik und Gedächtnisleistung als Theater gegen die Notwendigkeit der Zeit VI.2.1 FORCED ENTERTAINMENT: VOM ERFOLG DES SCHEITERNS Forced Entertainment ist eine Erfolgsgeschichte. Die englische Theatergruppe ist mit ihren über 60 Theateraufführungen, Installationen, CD-Roms, Video- und Filmarbeiten in den letzten Jahren zu Großbritanniens Theaterexportschlager Nummer eins avanciert und gilt mittlerweile als „eine der einflußreichsten Theatergruppen Europas“.40 Längst ist die Gruppe, so wie auch Jérôme Bel,41 aus der 39 Vgl. Gabriele Brandstetter: „Still/Motion. Zur Postmoderne im Tanztheater“, in: Claudia Jeschke/Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 122-136, S. 130. 40 Florian Malzacher/Judith Helmer: „Lauter rote Fäden. Vorwort/Plenty of Leads to Follow. Foreword“, in: Dies. (Hg.): ‚Not Even a Game Anymore‘. The Theatre of Forced Entertainment. Das Theater von Forced Entertainment, Berlin: Alexander 2004, S. 11-23, S. 12. 41 Bel ist ein wichtiger Bezugspunkt für Tim Etchells. Im Vorfeld der Gestaltung einer Porträtreihe von Forced Entertainment am Künstlerhaus Mousonturm im Jahr 2003 leiteten die beiden einen Workshop. Vgl. Gerald Siegmund: „Bittersüße Geständnisse. Tim Etchells und die Gruppe ,Forced Entertainment‘ in der Reihe ,Porträt‘ im Mousonturm“, in: Frankfurter All-
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Analysen internationalen Festivalwelt nicht mehr wegzudenken. Bei SPIELART waren sie und der Regisseur der Gruppe, Tim Etchells, seit 1997 mit den Produktionen „Speak Bitterness“, „Who can Sing a Song to Unfrighten me?“ (1999), „First Night“ (2001), „Instructions for Forgetting“ (2003), „Bloody Mess“ (2003), „That Night follows Day“ (2007) und „Spectacular“ (2009) regelmäßig präsent. Darüber hinaus waren sie im deutschsprachigen Raum im Podewil ebenso zu Gast wie am Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt, am Züricher Theater am Neumarkt, den Wiener Festwochen, bei Kampnagel Hamburg, am Theater im Pumpenhaus in Münster und beim Festival „Theaterformen“ in Hannover. Seit 2003 sind sie auch im deutschen Staatstheaterbetrieb angekommen: „The Voices“ und „Instructions for Forgetting“ wurden im Januar 2003 im Prater, der Nebenspielstätte der Berliner Volksbühne, gezeigt, mit „Bloody Mess“ feierte die Gruppe im Juni 2004 an der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz ihren 20. Geburtstag und am 13. Dezember 2006 folgte dann ebendort im Rahmen von Aufführungen zu Ehren von und unter Mitwirkung der Choregraphin Meg Stuart unter dem Motto „Intimate Strangers“ die Uraufführung von „The World in Pictures“. Die Resonanz bei Veranstaltern und Kritikern ist nahezu einhellig positiv: „When I first saw Forced Entertainment“, schreibt etwa Philip Bither vom Walker Art Center in Minneapolis, „it felt very much like what I had dreamed the theatre of our times could feel like, but hadn’t experienced elsewhere. […] I find it utterly of the moment, thus it feels essential in a way that a lot other theatre doesn’t.“ Es seien vor allen Dingen die „immediacy, the danger, the electricity, the barely controlled chaos and the humanity“42 von Forced Entertainment, die Bither ansprechen. Die „Financial Times“ aus England vermerkte, dass „the best group of stage actors in Britain“ Forced Entertainment sei.43 In der deutschen Presse wird Forced Entertainment eine „Schlüsselrolle“44 innerhalb der Ausbil-
gemeine Zeitung vom 27.11.2003, S. 54. Etchells selbst verweist auf die wichtigen Impulse durch Bel. Vgl. Tim Etchells: „Interview with vvoi“, in: http://new-art.blogspot.com/2006/07/interview-with-tim-etchellsfrom.html vom 25.03. 2008. 42 Zitiert nach: Lyn Gardner: „The crazy gang: The rest of the World thinks Forced Entertainment is one of Britain‘s greatest theatre companies. Why don‘t we?“, in: The Guardian vom 25.10. 2004, S. 16. 43 David Tushingham: „,We go in and see what happens‘: PERFORMING ARTS: At last: recognition at home for an internationally celebrated touring theatre group“, in: Financial Times (London; England) vom 18.03.2004, S. 13. 44 Marga Wolff: „Coole Illusionszerstäuber: Die Performance-Gruppe Forced Entertainment demontiert in ‚Bloody Mess‘ auf Kampnagel beiläufig und
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Theater als Ort der Utopie dung innovativer Theaterformen zuerkannt, gefeiert wird die Truppe als eine der weltweit „führenden Avantgarde-Ensembles“.45 Während man in Großbritannien noch dazu neigt, die Truppe dort, trotz anhaltender Unterstützung durch Arts Council England, British Council, Arts Council Lottery Funds, Esmé Fairbbairn und BBC als unterrepräsentiert anzusehen,46 werden in der deutschen Kritik bereits Stimmen laut, die sie zum Remedium einer vermeintlich maroden Theaterlandschaft erklären: „Was dem neuen deutschen Theater fehlt, das wird nirgendwo so deutlich wie beim Besuch einer gar nicht mehr neuen britischen Theatergruppe: Forced Entertainment.“47 An anderer Stelle heißt es: „Schwerelos und selbstverständlich bekommen sie hin, was Frank Castorfs Volksbühne seit Jahren immer verkrampfter versucht: spontan wirkendes, aus der unmittelbaren Situation mit den Zuschauern hervorwachsendes Theater.“48 Mit Verweisen auf die Besonderheit des britischen Humors werden sogar mentalitätsgeschichtliche Begründungen, die das kulturelle Spezifikum der Gruppe heraustellen sollen, herangezogen: „Wären Forced Entertainment keine Briten und also entsprechend sophisticated, sondern tiefsinnige, depressive Deutsche, würde dieser Befund wahrscheinlich in Kulturpessimismus münden, so aber wird er trocken und mit einerm spöttischen Lächeln vorgeführt.“49 Gegründet wurde die Gruppe im Jahr 1984 in Sheffield von den ehemaligen Studenten des Drama Department der Universität Exeter Tim Etchells und Richard Lowdon als Autoren und Regisseure sowie Deborah Chadburn als Managerin, zu der dann auch Susie Williams, Robin Arthur, Huw Chadbourn, Cathy Naden, Claire
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scharfäugig die Unterhaltungsmaschinerie“, in: die tageszeitung vom 30.05.2005, S. 22. Eva-Maria Magel: „Die Arbeit am Sinn der Welt: Tim Etchells über das Theater von Forced Entertainment“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.09.2002, S. 58. Vgl. L. Gardner: „The crazy gang“, S. 16. Silvia Staude: „Denn sie wissen, was sie tun. Forced Entertainment erklären im Mousonturm mit Witz und Ernst ,The World in Pictures‘“, in: Frankfurter Rundschau vom 30.01.2007, S. 17. Peter Michalzik: „Vor dem Aufschlag. Die britische Theatergruppe ‚Forced Entertainment‘ erzählt in ihrem neuen Stück ‚The World in Pictures‘ die Geschichte der Menschheit“, in: Frankfurter Rundschau vom 27.5.2006, S. 18. Peter Laudenbach: „Ugga! Ugga! Forced Entertainment mit neuem Stück in der Berliner Volksbühne“, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.05.2007, S. 15. Auch die FAZ notiert: „Mit dem sehr britischen Hang zur schrillen Übertreibung und viel Humor nehmen die sechs Darsteller die Errungenschaften des Menschen so gar nicht wichtig.“ Eva-Maria Magel: „Morgen schon ist alles vorbei“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.01.2007.
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Analysen Marshall und Terry O’Connor stießen. Forced Entertainment wollte zunächst ein Theater kreieren, „that […] was understandable by anybody brought up in a house with the television on“.50 Tatsächlich kreisten die ersten Arbeiten um filmische Themen und Erzählweisen, in dem man versuchte, Mittel des filmischen Erzählens wie etwa den Einsatz von „voice-overs“ zu übernehmen. Schritt für Schritt erweiterte sich der Präsentationsradius der Gruppe, ehe ihnen mit „Let the Water Run its Course“(1986) der Durchbruch gelang. Es folgte die erste Tour durch Großbritannien, erste Einladungen aus dem Ausland schlossen sich an. Zunehmend richtete sich der Fokus weg von den Mitteln filmischen Erzählens auf die Bedingungen von Darstellung auf der Bühne, die vor allen Dingen in den improvisationsreichen Probenprozessen erkundet wurden. Die schon in frühen Theaterarbeiten erkennbare selbstreferentielle Theatersituation der Gleichzeitigkeit von Agieren und Zusehen auf der Bühne wurde schließlich zu einem elementaren Bestandteil der Arbeiten nach „Let the Water Run its Course“. Improvisation, Zufall und der Bezug zur je gegebenen Gegenwart sind entscheidende Kriterien der Probenarbeit, die allen Darstellern Raum gibt, ihre eigenen Ideen zu integrieren.51 Langanhaltende Aufführungen, sogenannte „durational performances“ gehörten dabei bisher ebenso zur ästhetischen Konzeption, wie „site-specific“-Performances, in der, wie bei „Nights in this City“ (1995), eine Bustour durch Sheffield die Dramaturgie der Installation bestimmte. Überhaupt bildet die Entscheidung für den Verbleib in Sheffield eine der grundlegenden Stützen des künstlerischen Arbeitens. Den Industriestandort Sheffield ereilte in den 80ern aufgrund des Niedergangs der Stahlindustrie eine Welle der Massenarbeitslosigkeit, von der sich die Stadt lange nicht erholte. Wie Tim Etchells selbst formulierte, mochte es am Thatcher-kritischen Umfeld liegen, dass „a creative community flourished in the city – music, performance, filmmaking“.52 In Großbritanniens Theaterlandschaft sind Arbeitsweise und Präsentation von Forced Entertain50 Tim Etchells: „On Performance and Technology“, in: Ders.: Certain Fragments. Contemporary Performance and Forced Entertainment, London: Routledge 1999, S. 94-97, S. 95. 51 Zu Entstehungsgeschichte und Arbeitsweise siehe: Tim Etchells: „Say It Now“, in: T. Broszat/S. Gareis: Global Player/Local Hero, S. 120-126, S. 120f. Und: Patricia Benecke: „The Making of – From the Beginnings to Hidden J/The Making of...Von den Anfängen bis zu Hidden J“, in: F. Malzacher/J. Helmer: Not Even a Game Anymor, S. 27-47. Und: Judith Helmer: „Always under Investigation. From Speak Bitterness to Bloody Mess/Immer unter Beobachtung von Speak Bitterness bis Bloody Mess“, in: F. Malzacher/J. Helmer: Not Even a Game Anymore, S. 51-73. 52 Zitiert nach: P. Benecke: „The Making of“, S. 30.
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Theater als Ort der Utopie ment damit durchaus auch als Reaktion auf die rigorosen Kürzungen der staatlichen Subventionen durch die Thatcher-Regierung anzusehen.53 Es dürfte also sinnvoll sein, bei einer Analyse nicht nur die gruppendynamischen Prozesse und den spezfischen Umgang mit dem ästhetischen Formenvokabular, sondern auch den politischen Anspruch von Forced Entertainment zu berücksichtigen. In Interviews haben Mitglieder der Gruppe wiederholt auf diese drei unterschiedlichen Aspekte hingewiesen, die bis heute auch die Kontinuität ihrer Arbeitsweise ausmachen. So bemerkte Robin Arthur, dass es bei ihrer Arbeit nicht um die Vermittlung politischer Inhalte gehe, sondern um die Art und Weise der Zusammensetzung scheinbar inkohärenter Sachverhalte und Ausdrucksweisen, die dann eben auch einen politischen Effekt erzielten: „The fundamental part of what we do that makes it political or socially involved is to do with the form“, so Robin Arthur. Und Claire Marshall ergänzt: „For all of us it is a political act to commit so much time and so much handson work to make these shows“.54 Tim Etchells verweist, obwohl er als Sprachrohr, Regisseur und Textschreiber der Gruppe fungiert, auf die technische Weiterentwicklung, das Wissen und die Kenntnisse, die sie allein durch den Zusammenhalt der Gruppe über die Jahre erreicht hätten. Trotz zuweilen konfliktreicher Auseinandersetzungen und eines damit einhergehenden mühsamen Arbeitsprozesses läge es auch an der Gruppe, die das Vertrauen für neue Experimente bestärke.55 Forced Entertainment sucht, obwohl inzwischen arriviert, nach wie vor die Herausforderung, was wiederum darin zum Ausdruck kommmt, dass sie keineswegs in Erwägung zögen, wie Tim Etchells verkündet, am National Theatre in London aufzutreten. „Causing troubles at a certain level“56 ist das, was Etchells nach wie vor interessiert. Die Auseinandersetzung mit den fragilen Gesetzen theatraler Illusionsherstellung, die sämtliche Dramaturgien von Forced Entertainment entscheidend prägt, wurde schließlich zu einer Erforschung des Scheiterns als solchem. Die Gründung des „Institute of Failure“ von Tim Etchells und Matthew Goulish von der PerformanceGruppe „Goat Island“ gibt es als Internet-Plattform und in Form von Live-Präsentationen. Es hat sich zur Aufgabe gesetzt zu erkunden, was Scheitern bedeutet, wie und warum es dazu kommt und was 53 Vgl. Theodore Shank: „The Mulitplicity of British Theatre“, in: Ders. (Hg.): Contemporary British Theatre, Basingstoke, London: Macmillan 1994, S. 317, S. 13. 54 Michelle McGuire: „Forced on Politics and Pleasure. Interview with Robin Arthur and Claire Marshall“, in: Variant 2/5 (1998), S. 11. 55 Vgl. T. Etchells: „Interview mit vvoi“. 56 Ebd.
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Analysen das Scheitern in psychischen, kulturellen und sozialen Bereichen ausmacht.57 Obwohl Risiko „ein zentraler Begriff“58 für Forced Entertainment und der Fokus darauf gerichtet ist, aufzudecken, was von der „Illusionsmaschinerie“ zugedeckt wird, könnte man meinen, die Gruppe arbeite inzwischen selbst genau gegen dieses Risiko an. Ein umfangreicher und marketingtechnisch perfekt gestalteter Internetauftritt mit Möglichkeiten des Internet-Shopping verweist hier nicht nur auf die Anpassung an eine globale Marktstrategie, sondern auch auf die Tendenz, dem Moment, aus dem sämtliche Arbeit von Forced Entertainment entspringt,59 Dauer zu verleihen und somit jeglichem möglichen Verfallsdatum zu entkommen.
VI.2.2 DIE SCHÖPFUNG VIRTUELLER EREIGNISWELTEN: THEATER DER SPRACHE(N) An der Produktion „First Night“, die 2001 auch bei SPIELART zu sehen war, lassen sich Arbeitsweise, Ästhetik und Programmatik der Gruppe exemplarisch aufzeigen. Die zweistündige Theateraufführung mit den Darstellern Robin Arthur, Jeremy Killick, Richard Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden, Terry O’Connor, John Rowley und K Michael Weaver stellt durch die Bühnenraumgestaltung einen konventionellen Rahmen her.60 Der leere Bühnenraum ohne Requisiten ist bis zum Schnürboden mit einem dunkelroten Samtvorhang an den Seiten und am hinteren Bühnenrand abgehängt. Gegenüber der ebenerdigen Bühne stellen die querverlaufenden Sitzreihen die Zuschauertribüne, welche von der Bühne nicht durch einen Vorhang getrennt ist. „First Night“ ist die englische Bezeichnung für Premiere oder Erstaufführung. Damit wird bereits im Titel suggeriert, dass es hier um einen selbstreferentiellen Verweis auf die Art und Weise des Theatermachens gehen könnte – auf dem Spiel(plan) steht der erste Abend einer Aufführung. In der Tat kreist die Produktion um das Verhältnis von Zuschauern und Akteuren. Der spezifische Modus zeigt: Auf sämtlichen Ebenen der theatralen Darstellung – Text, 57 http://www.institute-of-failure.com vom 25.09.2009. 58 F. Malzacher/J. Helmer: „Lauter rote Fäden“, S. 19. 59 So bemerkte Robin Arthur: „I think we‘ve always tried to make work that is contemporary and arises out of the moment.“, in: M. McGuire: „Forced on Politics and Pleasure“, S. 11. 60 Ebenso wie „The show must go on“ wurde „First Night“ – eine Koproduktion von Rotterdamse Schouwburg, SPIELART und Festival Theaterformen – in der Münchner Muffathalle gezeigt (Regie: Tim Etchells, Text: Tim Etchells und die Gruppe, Design: Richard Lowdon, Lichtdesign: Nigel Edwards, Soundtrack: Found Sources, Produktion: Andy Clarke)
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Theater als Ort der Utopie Sprache, Bewegung – werden vermeintliche oder tatsächliche gegenseitige Erwartungshaltungen, oft ironisch gebrochen, durchgespielt. Der ästhetischen Strategie gemäß wird der Text auch bei „First Night“ als ein Medium unter anderen verstanden: „And remember“, so Etchells zum Textproduktionsverfahren, „this process demands a different kind of ownership from all involved. There cannot be an attitude to performance which defers to the writer or director as above all responsible.“61 Der Text fungiert dabei als „a set of games“, bei dem unterschiedliche Formationen des Sprechens die Themen instrumentieren und zugleich kommentieren.62 Der Text selbst wird hier verstanden als eingeordnet in das komplexe, intertextuelle Netz von theaterkonstituierenden Relationen, das sowohl einen geschlossenen Textbegriff – “Think texts, not text. Layers of text. Collisions of text.“63 – als auch ein dichotomes Verhältnis von Text und seiner Artikulation – “Understand the difference between written text (which is language as writing) and speech (which is language in an altogether more slippery and shifting manifestation). One is not better than the other, but know and deploy the fact that they have a different weight“64 – vermeiden will. „First Night“ ist gegliedert in acht Sequenzen und einen Prolog, deren Titel lauten: Fortune Telling, The Welcome Line, John Joke, The Apology, Illusion Line: Terry’s Text, Fortune Telling Reprise, Best/Shit Line, Rob-in-a-bag (Escapology).65 Die syntagmatische Verknüpfung der einzelnen Sequenzen ergibt das Gestaltungsprinzip der Nummernfolge, wie es traditionell im Vaudeville-Theater, der englischen Music-Hall, im Varieté und in Revuen praktiziert wurde und zum Teil heute noch wird.66 Allerdings zeigt sich über die kontinuierliche Aussparung eines in dieser Darbietungsform üblicherweise präsentierten spektakulären Unterhaltungsangebots – wie es nach wie vor etwa am Berliner Friedrichstadtpalast, am Pariser Lido
61 62 63 64 65
T. Etchells: Say it Now, S. 122. Ebd. Ebd., S. 123. Ebd. Vgl. Forced Entertainment: First Night, Sheffield: Forced Entertainment Workstation 2001. 66 Nach dem Ersten Weltkrieg stieg in Europa und Nordamerika die Zahl der Revueproduktionen sprunghaft an. Aus historischer Sicht „illustriert“ diese Entwicklung der Revue hin zu einer „standardisierten Form des bürgerlichen Unterhaltungstheaters […] Auswirkungen der Internationalisierung von Kapitalprozessen auf das Geschäftstheater der zwanziger Jahre.“ Vgl. Christa Hasche: „,Superrevuen‘. Tendenzen der Schaurevue der zwanziger Jahre in Berlin“, in: Dies./Christopher Balme/Wolfgang Mühl-Benninghaus (Hg.): Horizonte der Emanzipation. Texte zu Theater und Theatralität, Berlin: Vistas 1999, S. 103-118, S. 104ff.
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Analysen oder am Moulin Rouge gezeigt wird –, dass es Forced Entertainment nicht um derartig konservierte Wiederauflagen einer traditionellen Theaterform geht. Sie verstehen selbst die Produktion als eine Art „disastrous Vaudeville“.67 Die Selektionsstrategie verweist von Beginn an darauf, dass es vielmehr darum geht, diese Theaterform zu nutzen, um gleichzeitig auch (kritisch) auf die scheinbar allgemeingültigen Gesetze des Verhältnisses von Darstellern und Zuschauern zu verweisen. Eine Nummernfolge erzählt keine prozessuale Geschichte, ihre Kontinuität folgt keiner linearen Chronologie. Sie ergibt sich vielmehr über die wiederholte Unterbrechung der einzelnen Sequenzen sowie über die Wiederholung von charakteristischen Strukturmerkmalen der visuellen und akustischen Präsentation thematischer Schwerpunkte. Auf der Ebene der Temporalstrukturen von „First Night“ zeigt sich, dass sich vor allen Dingen über die Repetition und die Auslassung (Ellipsen) eingeführter narrativer Elemente von bestimmten Formationen des Sprechens einerseits und bestimmten körperlichen Aktionsmustern andererseits eine Zeitsemantik ergibt, die vor allen Dingen darauf abhebt, virtuelle Ereigniswelten zu imaginieren. Die Darstellungsweise ist weniger darauf ausgerichtet, ein vielgestaltiges Schauangebot faktisch auf der Bühne zu präsentieren. Die Bühne bleibt leer, Requisiten und Musik kommen nur vereinzelt zum Einsatz, die Kostüme bleiben während der ganzen Aufführung über dieselben (drei Männer in Kombination mit schwarzer Hose und weißem Jackett, zwei Männer in braunen Anzügen im 70er-Jahre-Stil und die drei Frauen auf High Heels in PaillettenMini-Trägerkleidern in den jeweiligen Farben lila, grün und gold). Neben der sparsamen Verwendung von Ausstattung, Requisiten und Kostümen sind auch Ortswechsel der Akteure vergleichsweise selten. Vor dem Hintergrund dieser statischen Grundkonzeption heben sich die kurzen, slapstickhaften Einlagen umso kontrastreicher ab, die den Ablauf immer wieder unvermittelt unterbrechen. Einen Großteil der Aufführung verharren die Darsteller in zwei Grundpositionen: Sie stehen entweder in einer Reihe nebeneinander direkt an der Rampe, den Blick auf das Publikum gerichtet. Oder sie stehen isoliert voneinander einzeln im Raum verteilt, Oberkörper und Blick ebenfalls auf das Publikum gerichtet. Text und körperliche Bewegung kommen bei „First Night“ allerdings mit der gleichen Funktionalisierung zum Einsatz. Der Fokus ist buchstäblich ganz auf den Zuschauer gerichtet, der durch sparsam eingesetzte Schaueffekte daran gehindert werden soll, via Illusionsherstellung aus dem im Verlauf des Abends sich entfaltenden Reflexions- und Imaginationsangebot der Darsteller möglicherweise auszusteigen.
67 http://www.forcedentertainment.com vom 25.01.2008.
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Theater als Ort der Utopie Von Beginn an kreisen sämtliche Textsequenzen um das Verhältnis von Zuschauer und Darsteller auf dem Theater. Gleich im Prolog, in dem ein Darsteller (Robin Arthur) gezwungen werden muss, das Publikum willkommen zu heißen – er lässt sich nur widerstrebend von einem anderen Darsteller (Richard Lowdon) aus dem hinteren Bühnenvorhang hervorholen und kann nur im Schwitzkasten (durch Richard Lowdon) in der Reihe mit den übrigen sieben Darstellern gehalten werden –, wird über das Repertoire der Körperaktionen auf die Befindlichkeiten des „Theatergeschäfts“ hingewiesen: Es muss gespielt werden, auch wenn der Darsteller sich nicht in der Lage dazu fühlt oder er überhaupt keine Lust darauf hat. Der in der folgenden Sequenz als Conférencier ausgewiesene Darsteller – er hat die Aufgabe, das Publikum zu begrüßen und die Show anzumoderieren – hat nicht nur Mühe, sich körperlich den herrschenden Gepflogenheiten der Darstellungskonvention anzupassen. Er leistet der theatralen Konvention, die über die Mimik und Gestik der anderen Darsteller aufgerufen und zugleich ironisch gebrochen wird – sämtliche Darsteller stehen in übertrieben artiger Haltung vorm Publikum und lächeln ein übertriebenes, statisches Dauerlächeln – nicht Folge. Im Gegenteil, sein körperlicher Einsatz vermittelt einen eindeutigen Fluchtimpuls. Er will sich dem Schwitzkasten permanent entziehen. Auch verbal wird die Mühsal bekundet. Der Darsteller wimmert, jammert und bittet, entgegen aller Darstellungsgepflogenheiten auf der Bühne, auf die Toilette gehen zu dürfen. Die mehrsprachig ausgerufenen Willkommensgrüße wie „Bonsoir, mesdames et messieurs et bienvenues. Guten Abend meine Damen und Herren und herzlich willkommen. […] Benvenuti, Signori und Signore. […].“ gehen unter in heftigem Stöhnen und übertrieben lautem Schreien: „Oooh. I need to go. There’s going to be a nasty little accident. Ooh. Ooh. […]. I need to go to the toilet.“ Mit den Mitteln des Slapstick wird die Kohärenz von Artikulation und ihrer Bedeutung (die Kohärenz von Kommunikationsweise und Informationsvergabe) durchkreuzt: Der Drang, auf die Toilette zu gehen, wird durch das zügige Trinken von einem Glas Wasser bestärkt. Allerdings trinkt nicht der Conférencier (Robin Arthur) das Wasser, sondern ein anderer Darsteller (Richard Lowdon). Aktion und Effekt sind durch die Verteilung auf zwei Darsteller getrennt. Die Kausalkette der Repräsentation ist verschoben, die Ereignisfolge ist dem Prinzip der Inkohärenz untergeordnet, was wiederum zur Herstellung einer anderen Kohärenz führt. Zum einen wird damit der Effekt des Komischen befördert und schon in der ersten Sequenz als ein wichtiges Kompositum der dramaturgischen Strategie ausgewiesen. Zum anderen wird auf die allgemeinen Gesetze der Kausalverknüpfung – Ausführen einer Handlung und ihr kohärenter Effekt – hingewiesen, wie sie überlicherweise in repräsentatio-
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Analysen nalen Aufführungskonventionen gelten. Auf diese Weise wird, ähnlich wie das Roland Barthes 1970 im Aufsatz „Belebt/Unbelebt“ am Beispiel des japanischen Puppentheaters, des Bunraku, gezeigt hat, eine bestimmte Form traditioneller Aufführungspraxis, szenisch im wahrsten Sinne des Wortes, „vorgeführt“. Was Barthes für den Bunraku ausführt, gilt im Wesentlichen auch für Forced Entertainment. Auch ihr fragmentierender Anti-Illusionismus weist die „Antinomien von Belebtem und Unbelebtem zurück und mit ihr die Vorstellung, die sich hinter aller Belebung oder Beseelung verbirgt, nämlich ganz einfach die Seele“.68 Auch in „First Night“ soll jeglichem essentialistischem Wesensbegriff und jeglichem Vertrauen in herkömmliche Kontinuitätsbildungen eine Absage erteilt werden. Geht es in der ersten Sequenz um die Durchkreuzung sprachlicher Repräsentation mittels körperlicher Aktion (Trinken von Wasser eines Darstellers, die Mitteilung auf die Toilette zu gehen durch einen anderen) und verbaler Artikulation, steht in der folgenden Sequenz, „Fortune Telling“, der Wahrheitsgehalt von Aussagen – und damit die logische Kohärenz von Inhalt und Form – zur Disposition. Mit verbundenen Augen stehen die Darsteller über den Bühnenraum verteilt mit der Ausrichtung aufs Publikum. Die gesamte Sequenz über werden von den Darstellern mögliche Zuschauertypen entworfen, deren Biographien, Anschauungen und Erlebnisse imaginiert. Als verstörende Steigerung spekulieren die Darsteller darüber, wie ihre Zuschauer womöglich ums Leben kommen könnten. Sämtliche, hier beispielhaft ausgewählten, Aussagen sind „ad spectatores“ gerichtet: „Claire: Ladies and Gentlemen, I'm getting something. I'm picking something up. There is a very great sense of loss in the house tonight. Someone in the house has lost something … a key … or a dog, a dog? Terry: Yes. I too feel a great sense of loss in the house tonight but loss of a more personal nature. I fear that someone here has recently lost a mother, or a father, or a brother? A distant relative? John: Oh yes. I'm getting a photograph. Kept in a wallet. Close to someone's heart. Somebody over there, I think, yes. It's a photograph of a sticky faced girl wearing a green bikini. […] Robin: Oh. Oh. I'm getting something very strong. Oh yes, yes, yes. I'm getting life. New life in the audience, new life somewhere, somewhere over here, somewhere over here on my left, that's your right ladies and gentlemen, a young woman, a young woman, ah a young woman wearing BROWN. Yes, yes my dear you're pregnant, you don't know it yet but you're pregnant […].“69
68 Roland Barthes: „Belebt/Unbelebt“, in: Ders.: Das Reich der Zeichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 80-83, S. 83. 69 Forced Entertainment: First Night, S. 8f.
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Theater als Ort der Utopie Durch die verbundenen Augen und die wiederholt verwendeten Phrasen „I sense“, „I’m getting“, „I feel“ wird die in Zauberrevuen übliche Technik der Wahrsagerei zitiert, bei der in der Regel einem einzelnen, meist aber personalisierten Zuschauer die Zukunft oder ein gegenwärtiges, dem Adressaten jedoch unbekanntes Ereignis vorausgesagt bzw. geweissagt wird. Zwei sich überlagernde Konnotationen ergeben sich aus dem spezifischen Modus, in dem sprachliche und körperliche (Aussage-)komplexe arrangiert sind. Durch die Kombination von Requisite (Augenbinde), Artikulation (mehrfaches Wiederholen einzelner Wörter, übertriebenes Stottern, unbeholfene Aussprache) und Bewegung (wiederholt tastendes Greifen in die Luft als ikonischer Verweis auf typisierte Bewegungsfolgen von Nichtsehenden), wird ein ironisches Spiel mit einem Genre getrieben, das sich ansonsten dem Publikum mit betonter Ernsthaftigkeit präsentieren muss. Da der Wahrheitsgehalt in diesem Fall allerdings nicht überprüfbar ist, eröffnet sich noch ein weiterer Assoziationsraum. Denn die Schauspieler sprechen schließlich nicht über sich. Es handelt sich um eine rein externe Fokalisierung: Alles, was die Darsteller über sich preisgeben, sind lediglich ihre je individuelle Körperlichkeit und die Art, in der sie ihre Aussagen jeweils artikulieren. Sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch erfolgt damit ein Richtungswechsel. Die Zuschauer bekommen (nahezu) kein Informationsangebot zu einem wie weit auch immer durch die Darsteller vorgeführten fiktionalisierten Plot zu situativen, fiktionalisierten Handlungselementen, zur Beschaffenheit einer Figur oder zur Zeitebene einer fiktionalisierten Geschichte. Stattdessen wird verhandelt, was im Theater sonst praktisch nie verhandelt wird: die Individualität der Zuschauer, die damit zugleich selbst zu virtuellen Aktanten virtueller Ereigniswelten werden, was wiederum die Gelegenheit bietet, implizit auf die theatralen Bedingungen des Vorführens und des Zusehens zu verweisen. Diese überzogen albern banale Tirade gibt sich zwanglos als ironische Brechung der theatralen Grundsituation von Peter Handkes berühmter „Publikumsbeschimpfung“ aus dem Jahr 1966 zu erkennen. Der historische Theaterkontext ist damit implizit in der gegenwärtigen Präsentation enthalten. Darüber hinaus kehrt das Spiel mit den vermeintlich wahrsagerischen Fähigkeiten der Akteure die Richtung der Imagination um und zwingt jetzt die Schauspieler, sich eine Bühnensituation zu entwerfen. Die Referenz auf die situative Gegebenheit, sprich auf die Situation der Gegenwart, in der der Zuschauer sich gerade befindet, erfährt am Ende der Sequenz nämlich eine Steigerung. Die häufige Verwendung des Stilmittels der Prolepse – ein späteres Ereignis für früher erzählt – bestätigt somit auf der Ebene der theatralen Präsentation über die formale Dimension hinaus den Status eines
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Analysen Grundmotivs: Die virtuelle Gegenwartsdiagnose wird schließlich zur Zukunftsprognostik. Die Sequenz, in der ein Darsteller (Robin Arthur) einer (virtuellen) jungen Frau eine Schwangerschaft prophezeit, ist gefolgt von Unheilsverkündigungen, die schließlich im Aufzählen möglicher Todesvarianten den Höhepunkt der Sequenz bilden. Ohne Augenbinde, mit einem direkt ins Publikum gerichteten Blick, werden durch eine nun „sehende“ Darstellerin (Cathy Naden) etliche – spektakuläre und unspektakuläre – Todesarten sukzessive aufgezählt (u.a. „heart attack, kidney fail, car crush, brain damage, […] old age, drowning, drugs, slip risks, broken hip, broken neck, broken heart, a virus: ebola“ (etc.) -, wobei die Darstellerin mit dem rechten ausgestreckten Zeigefinger jeweils auf verschiedene Zuschauer im Publikum deutet und somit über das Anzeigen eine Konkretion vornimmt: der Zuschauer, auf den gedeutet wird, kann sich wirklich angesprochen fühlen. Die Imagination des „finalen Ereignisses“ Tod führt damit sowohl die Unrepräsentierbarkeit des Todes wie auch seine Zwangsläufigkeit vor Augen, bei der, so der verbale Gestus der iterativen Variation, nur die jeweiligen Umstände individuell sind. Die Unheilsverkündigungen werden wiederum in der vorvorletzten Sequenz einer Korrektur unterzogen. In der Sequenz „Fortune Telling Reprise“ werden inhaltliche Motive und Darstellungsweisen der Sequenz „Fortune Telling“ aufgegriffen und in modifizierter Form wiedergegeben. Ein einzelner Darsteller (Jerry Killick) hält diesmal einen Monolog über das Schicksal einzelner Zuschauer in staccatoartigem, kurzatmigem Sprechrhythmus. Analog zur Eröffnungssequenz, bei der die Darsteller das Verhalten eines anderen Darstellers (Robin Arthur) mit krampfhaftem Lächeln quittieren, wird auch hier der Aspekt der Peinlichkeit ins Spiel gebracht. Die übrigen Darsteller fungieren selbst als Zuschauer auf der Bühne, indem sie Inhalt und Form der Rede des Darstellers (Jerry Killick) mit entschuldigendem Mienenspiel begleiten und so als Stellvertreter für die Zuschauer in Erscheinung treten. Dabei ergibt sich über den weiteren Aufführungsablauf, dass Zukunftsprognostik einerseits und Gedächtnisleistung andererseits zentrale inhaltliche Komposita von „First Night“ sind. In der Sequenz „Illusion Line: Terry’s Text“ schwört eine Darstellerin (Terry O’Connor), die Zuschauer auf die Bewusstwerdung des Moments ein, in dem sie sie auffordert: „Ladies and Gentlemen. While you're with us tonight, we'd like to ask you to try to forget about the outside world completely. Try not to think about anything outside of this room. Anything at all.“ Der Zuschauer wird angehalten, seine Konzentration ganz auf den Akt der nun sich im Zeitverlauf entfaltenden Erörterung zu bündeln:
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Theater als Ort der Utopie „Try to forget about cars, and meetings, cigarettes, and road accidents. Try to forget about births and deaths and funerals. And bereavements. Try not to think about dustbins, and litter on the street. Try not to think about agonies and bitterness and smiles. And sadness. […] Try not to think about clumsiness and ineptitude. Forget about the wind rushing through trees and fire engines rushing to an accident. […] Try not to think about sleeping, dreaming, and bad dreams that haunt you for the rest of the day. Try not to think about car crashes, holes in the road, dust, ash and smoke. And fire. Fire and sand and ash and fear, try not to think about shopping and lottery tickets. And broken dreams and broken bones and broken homes and broken marriages. […] Whilst you're with us here tonight we'd like you to forget about everything. Whilst you're with us here tonight we'd like you to forget about everything outside this room.“70
Dabei verweist die Häufigkeit und die Dichte, also die hohe Frequenz der Phrasen „try not to think“ und „try to forget“ auf den temporalen Modus einer insistierenden Repetition. Mit diesem Modus wird auf der Ebene der Zeiterfahrung gezeigt, dass Gegenwart nie selbstgenügsam unmittelbar, d.h., ohne Bezug auf Vergangenheit und Zukunft erfahrbar ist. Zum einen wird hier eine dramaturgische Strategie bedient, die darauf zielt, dass sich der Zuschauer durch die Aufzählung der jeweiligen Kontexte und Ereigniswelten gerade ihrer bewusst wird. Die jeweiligen Kontexte, als menschliche Existenzund Bewusstseinsräume verstanden, werden gleichsam qua sprachlicher Artikulation als reine Imaginationsräume aufgerufen. Zum anderen wird damit aber auch auf die Faktizität eben dieser Welten hingewiesen, die parallel zum Wahrnehmungsprozess außerhalb des Theaterraumes existieren. Die repetetive Aufzählung und die Rede im Imperativ wird zum Appell, sich des existentiellen Status in der Welt bewusst zu sein. Zugleich wird der eingangs vorgetragene Aufruf an das Vergessen zum Appell an das Erinnern. Dass die Zuschauer notwendigerweise nur einzelne Aspekte dieser Existenzräume teilen und die Erinnerungswelten entsprechend divergieren, soll nicht bedeuten – und hier liegt die appellative Funktion der Rede -, dass sie nicht alle in dieselbe Grundform von Zukunftsantizipation und Erinnerbarkeit eingespannt sind und sich dessen bewusst sein sollen.71 Obwohl hier auch auf die Generierung und Ver70 Ebd., S. 16-19. 71 An dieser Stelle sei auf die Erkenntnisse der neueren Gedächtnisforschung hingewiesen, die Ergebnisse aus der psychologischen Gedächtnisforschung mit jenen der Kulturwissenschaften kombiniert hat. So hat die psychologische Gedächtnisforschung herausgefunden, dass Erinnerbarkeit dann zunimmt, „wenn zum Zeitpunkt des Erinnerns mit den Informationen verbundene Erinnerungs- bzw. Abrufhinweise vorliegen, wenn die zu behaltenden Informationen für die erinnernde Person Bedeutung, Kohärenz und Plausibilität aufweisen, wenn sie gut in bestehende kognitive Schemata passen,
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Analysen arbeitung von Emotionen hingewiesen wird, muss doch vor Augen geführt werden, dass, wie es in der kognitiven Emotionsforschung heißt, die Wahrnehmung von Emotionen „nicht notwendig mit einer Induktion bzw. Auslösung von Emotionen einher geh[t], d.h. Induktion und Perzeption“72 voneinander geschieden werden müssen. Gerade an einer Sequenz wie dieser zeigt sich, dass der utopisch idealistische Begriff der „ästhetischen Erfahrung“ als Analyseinstrument unzureichend ist. Er ist an eine Auffassung von Gegenwärtigkeit gebunden, die das Spiel im Akt der sprachlichen Artikulation als unterkomplex erweist. Stehen in den genannten Sequenzen (Aspekte) virtueller Zuschauerbiographien sowie der ethisch grundierte Aufruf an die Zuschauer, schreckliche und/oder angenehme Ereignisse der uns umgebenden Welt gerade nicht zu vergessen, zur Disposition, wird in den Sequenzen „The Welcome Line“, „The Apology“ und „Best/ Shit Line“ verstärkt auf die medialen Bedingungen und ideellen Voraussetzungen von Theaterproduktion und -rezeption verwiesen. Ebenso wie in den anderen Sequenzen gibt es auch hier weder einen fiktionalisierten Plot, noch fiktionalisierte Figuren. Konventionalisierte Vorstellungen von Theateraufführungen und die Antizipation eines möglichen Verlaufs des nun sich entfaltenden Theaterabends sind Thema in der „Welcome Line“, bei der alle acht Darsteller erneut nebeneinander an der Rampe stehend mit dem Blick ins Publikum ihre Sätze vortragen: „Richard: I must say it's lovely to see you all looking so healthy, and great to see so many faces out there, some of them familiar and some of them not. John: Strangers now, but not for long. Robin: Yes, indeed. And on a personal note I'd just like to say a big thank you to everybody here who has made us feel so very welcome. Jeremy: Yes. It's a crazy business, show business, we travel around a lot but when, you know, when we step up here on the stage and under the lights then that's when we feel really and truly at home. […]. John: No actors are going to blacking up to be kings in a long long story. Not in this theatre. Not tonight. Maybe in another theatre. Not here.“73 wenn sie häufig reaktiviert werden oder wenn sie einen Bezug zum Selbstkonzept bzw. zur Identität des Erinnernden haben.“ Gerald Echterhoff/ Martin Saar: „Einleitung: Das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Maurice Halbwachs und die Folgen“, in: Dies. (Hg.): Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz: UVK 2002, S. 13-35, S. 25. 72 Georg Northoff: „Wo sind Affekte und Kognitionen im Gehirn? – Funktionelle Bildgebung in der Psychiatrie“, in: Jürgen-H. Mauthe (Hg.): Affekt und Kognition, Sternenfels: Verlag Wissenschaft und Praxis 2001, S. 63-71, S. 64. 73 Forced Entertainment: First Night, S. 11f.
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Theater als Ort der Utopie Die Erwartungshaltungen von Zuschauern und die damit verbundenen Vorstellungen von einem gelungenen Theaterabend werden, ähnlich wie bei Jérôme Bel, über die selbstreferentiellen Verweise auf gängige Gesetze des Theatermachens szenisch erörtert. Durch die wiederholten sprachlichen Antizipationen auf das, was auf der Bühne im Folgenden nun möglicherweise stattfinden und nicht stattfinden wird, werden die jeweiligen Erwartungshaltungen von Zuschauern zugleich einer Ursachenüberprüfung unterzogen. Sie basieren, so die Konnotation der „Welcome Line“, auf konventionalisierten Vorstellungen darüber, wie ein gelungener Theaterabend auszusehen habe. Gerade anhand der Sequenzen, die das Theatermachen auf einer Metaebene reflektieren, zeigt sich, dass das Stören der Erwartungshaltung qua Sprechakt seinerseits auf eine andere Form konventionalisierter Erwartungshaltung verweist. Die dramaturgische Strategie, auf einen fiktionalen Plot und seine perfektionierte Darstellung bewusst zu verzichten, ist selbst ein gängiges Kompositum postdramatischer Theaterästhetik. Weitere Ausdifferenzierungen erfährt der Verweis auf die konventionalisierten Gesetze des Theatermachens in den Sequenzen „The Apology“ und „Best/Shit Line“. In „The Apology“ entschuldigt sich eine Darstellerin (Claire Marshall) – die, als Zitat, als Verweis auf einen anderen Zeitraum, von den männlichen Darstellern wie einst Marilyn Monroe im Musikfilm „Blondinen bevorzugt“ (1953) während des Songs „Diamonds Are A Girl’s Best Friend“ (oder wie Madonna in dem Video zu „Material Girl“, die ihrerseits Monroe zitierte) von hinten auf die Bühne getragen wird – beim Publikum für eben genau jenes Ausbleiben einer perfektionierten Darstellung in der vorherigen Sequenz „John Joke“, in der ein Darsteller (John Rowley) mehrere Witze ohne Pointen erzählt: „Ladies and Gentlemen we would like to at this point to say sorry, despite all preparation accidents happen, mistakes are made and the finger of blame is pointed. Ladies and gentlemen, at this point we wish to make a complete and unabashed apology because the scene that you just witnessed, the scene you just witnessed was … too long. It was rambling, the performance was weak, there was no discernable punch line, it was improvisation of the lowest order. Ladies and gentlemen you always destroy the thing you love the most, you reach out for a rose and before you know it your hands are covered in blood.“ 74
Während dieser Sequenz wird die Darstellerin in übertrieben ausgeführter Gestik und Proxemik wiederholt (insgesamt fünfmal) von den Männern trotz eines ebenfalls übertrieben ausgeführten körperlichen Widerstands hinter den hinteren Bühnenvorhang gezerrt, aus dem sie, auf allen Vieren, immer wieder hervorkriecht. 74 Ebd., S. 15.
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Analysen Claire Marshall wird hier zum Stellvertreter mit einer doppelten Stellvertreterfunktion, was bedeutet, dass verschiedene Fokalisierungen zum Tragen kommen: Zum einen artikuliert sie stellvertretend für ihren Berufsstand („We would like […] to say sorry“) ihre Entschuldigung für das „schlechte“ Repräsentationsangebot. Diese Entschuldigung wird von den anderen Darstellern nicht gebilligt. Sie soll zum Schweigen gebracht werden, eine derartige Verbeugung vor dem Publikum entspricht nicht dem Zusammengehörigkeitsgefühl und -ethos, wie es Schauspieler-Kollegen untereinander zu praktizieren haben. Hier wird ein Assoziationsraum eröffnet, der darum kreist, dass sich ein Schauspieler in der Regel den Ergebnissen der Arbeit unterzuordnen und zu spielen hat, auch wenn er selbst mit dem Ergebnis einer Arbeit nicht einverstanden ist. Zum anderen steht diese Sequenz für einen Appell, den Claire Marshall als Individuum an einen virtuellen Zuschauer richtet, der möglicherweise seine Beschwerde über einen misslungenen Abend während des Verlaufs der Aufführung vortragen könnte. Der performative Sprechakt, die Entschuldigung, die hier tatsächlich auf den Kontext unausgesprochener Darstellungsgebote bezogen ist und damit auch eine „ernstzunehmende“ Sprechhandlung meint, wird hier über die spezifische Sprechweise (sehr lautes Schreien und Brüllen) und den körperlichen Einsatz (ständiges Umsichschlagen, immer wieder hinter dem Bühnenvorhang Hervorkriechen), ebenfalls ironisch gebrochen. Die Entschuldigung wirkt damit zwar qua Sprechakt ernstgemeint, die Aufrichtigkeit wird durch die übertriebene Gestik und Proxemik zugleich aber hintertrieben. Das Motiv der Zuschauerbeschimpfung und der Entschuldigung wird in den letzten beiden Sequenzen noch einmal wiederholt. In der „Best/Shit“-Line werden Phrasen des Showgeschäfts, die das Publikum lobend erwähnen, aufgegriffen, um im Verlauf schließlich in einer repetitiven Beschimpfung – “You are shit“, „We’re not doing anymore“ – zu münden. Erst das Schlussbild knüpft an das Anfangsbild an und schließt mit einem Appell an das Vergessen des gesamten Abends, also das Auslöschen der gemeinsam erlebten Zeit. Gleich einem Dénouement, der Lösung der konflikthaften Situation in traditionellen Komödientexten, schließt der Abend mit einer verbalen Apotheose der Normalität – “I’d like you to forget about all of this. Forget about everything that you’ve heard. Everything you’ve seen. […]“ – und erneuert damit qua Negation das Prinzip der Appellfunktion, sich sämtlicher historisch gewachsener Kontinuitäten, also befestigter Zeitverlaufsvorstellungen, bewusst zu sein.
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Theater als Ort der Utopie
VI.2.3 PRÄSENZ GEGEN DAS HIER UND JETZT: THEATER DER (SCHRIFT-)KÖRPER Der sparsame Einsatz körperlicher Aktionen ist Mittel zum Zweck. Zum einen werden über die verbale Herstellung virtueller Ereigniswelten die Zuschauer zu virtuellen Aktanten gemacht. Zum anderen zeigt sich, dass die sprachliche Artikulation eine Art Kompensationsfunktion einnimmt. Die Reduktion der theatralen Mittel von Körperaktion – Bewegung und Gestik – wird kompensiert über das sprachliche Angebot, das dazu führt, dass die Verhandlung über das Theatermachen auf einer Metaebene dem Darbietungsschema eines Vortrags nahekommt. Die Gesetze des Theatermachens und die Statusbestimmung konventionalisierter Theatersprachen werden implizit verhandelt. Gleichwohl erfüllt, wie schon angesprochen, der Einsatz paralinguistischer, gestischer, mimischer und proxemischer Mittel eine Komplementärfunktion zur sprachlichen Artikulation. Nur über den komplementären Einsatz der körperlichen Aktion zur sprachlichen Artikulation wird die Botschaft auch als theatrale Botschaft deutlich. Sie kreist darum, dass das Theater der Repräsentation eine Konvention darstellt, die ein Großteil der Zuschauer in der Regel als Norm versteht. Forced Entertainment zeigt die Bedingtheit dieser Vorstellung auf. Die Gruppe erreicht das unter anderem dadurch, dass sie körperlichen und sprachlichen Ausdruck immer wieder bewusst auseinanderlaufen lässt. Die Sprache als Vermittlungsinstanz wird so an ihre Grenzen geführt. Neben körperlichen Aktionen, die in dieser Weise komplementär zu sprachlichen Aussagen eingesetzt werden, um selbstreferentiell auf die Theatersituation zu verweisen, gibt es Teilsequenzen, die sich allein durch körperliche Aktion auszeichnen. Hierzu gehören vor allen Dingen ein Ballontanz und ein Schildertanz. Nach der Sequenz „Welcome Line“ wird ein geläufiges Prinzip von Nummernrevuen aufgerufen. Eine Darstellerin (Claire Marshall) steigt, am gesamten Rumpf von verschiedenfarbigen Luftballons umgeben, auf einen Stuhl. Langsam lässt sie zu einer Latin-DanceNummer mit Hilfe einer brennenden Zigarette, die sie auf dem Stuhl stehend raucht, einen Ballon nach dem anderen zerplatzen, bis sie am Ende ohne Ballons auf dem Stuhl steht. Die Erwartungshaltung, dass es sich hier um einen tatsächlichen Striptease und damit um einen konventionalisierten Spannungsaufbau handeln könnte, wird, der Dramaturgie der Verweigerung gemäß, unterlaufen. Die Darstellerin führt weder einen Tanz vor, noch zieht sie sich aus. Nach und nach zeigt sich, dass sie unter den Ballons jenes Kleid trägt, das sie zuvor auch schon anhatte. Die immergleiche, repetitive Bewegungsabfolge ist beschränkt auf das Ziehen an der Zigarette und das sukzessive Platzenlassen der Ballons. Der Verzicht auf eine
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Analysen Choreographie spielt dabei auch hier auf die Gesetze der Erwartungshaltung im Theaterkontext an. Über die Referenz auf den Nachtclub-Kontext wird zudem auf die theatrale Konvention von Unterhaltungsgenres verwiesen, wie sie eben der Striptease für ein in der Regel männliches Publikum bedeutet. Weder eine ausgefeilte Choreographie, noch ein aufreizendes, sexuell konnotiertes Bewegungsmuster wird aufgerufen. Die Performativität markiert hier als Wiederholung die Negation einer Wiederholung von Darstellungskonventionen wie sie üblicherweise im Kontext von Stripteasevorführungen ausgeführt wird. Das Ereignis ist somit ein Ereignis der Negation, vor allen Dingen der Negation von typisierten weiblichen Darbietungsmustern. Wie im gesprochenen Text die Autorschaft derart zum Thema gemacht wird, dass der Ursprung derselben camoufliert wird und verdeckt bleibt, ob etwa die im Schrifttext ausgewiesenen Didaskalien wie „John Joke“ und „Terry’s Text“ auch auf die Urheberschaft der Darsteller Terry O’Connor und John Rowley zurückzuführen sind, so verweist umgekehrt das rein durch Körperaktion ausgewiesene Aktionsmuster der Darstellerin Claire Marshall auf die Herkunft von Körperbildern im Unterhaltungsgenre „Revue“ oder „Strip“, die ihrerseits auf immer wiederholten Darstellungsmustern basieren und eben deshalb gerade nicht auf eine individuelle Autorschaft von Claire Marshall verweisen. Claire Marshall steht hier aber auch als Platzhalter für eine Repräsentationskonvention mit ambivalenter Bedeutung. Sie verweist sowohl auf die nichtindividualisierte Autorschaft von Konventionen als auch auf die Kraft der ereignishaften Unterbrechung dieser Konvention mittels der Verweigerung eingeübter Darstellungsmuster als Claire Marshall. Man könnte sagen, dass hier szenisch vorgeführt wird, wogegen Bernhard Waldenfels sich mit seiner Theorie des „leiblichen Selbst“ gerichtet hat.75 Waldenfels wendet sich mit seinen Überlegungen gegen eine substantialistische Vorstellung von einer Entität des Körpers. Vielmehr müsse anerkannt werden, dass soziale, kulturelle, historische sowie medizinische, physiologische und neurophysiologische Aspekte Fremd- und Selbstwahrnehmung des Köpers mitbeeinflussen. Sprachphilosophische Überlegungen und phänomenologische Vorstellungen, die von einem zeitlosen „Spüren“ des Körpers ausgingen, griffen vor dem Hintergrund der korrespondierenden Schemata zu kurz. Die Korrelation von Fremd- und Selbstwahrnehmung findet sich, Waldenfels zufolge, in unseren Köperbildern, dem Ausdruck des je individuellen Körpers wieder, sie sind auch als Effekte eines erlernten Prozesses, als Resultate kontinuier-
75 Vgl. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, bes. S. 108ff.
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Theater als Ort der Utopie licher Einübung, anzuerkennen. Jedes statische „Hier“ hat dabei immer schon einen Bewegungsbezug, wie Waldenfels notiert: „Wird das allgemeine Schema ,Hier‘ – ‚Dort‘ konkretisiert, so gibt es eine Form, bei der die Zeit unmittelbar hineinkommt, nämlich die gerichtete Bewegung. Die gerichtete Bewegung verläuft zwischen einem Von-her und einem Wo-hin, einem Ort, wo ich soeben war, und einem anderen Ort, wo ich sogleich sein werde.“76 Waldenfels bezeichnet demgemäß das zeitliche „Jetzt“ als Markierungspunkt einer „privilegierte(n) Zeitstelle“.77 Gegenwart kann nicht ohne Bezug auf Vergangenes und Zukünftiges verstanden werden: „Wie bei der Räumlichkeit immer das Hier den Ausgangspunkt bildet, so sehen wir nun entsprechend das Jetzt aus der Reihe der Zeitpunkte heraustreten. Wir können von einer orientierten Zeit sprechen, insofern als die Gegenwart, in der ich jeweils lebe, ein Privileg genießt, weil Vergangenes und Zukünftiges auf sie zurückverweisen. […] Vergangensein und Zukünftigsein sind keine absoluten Bestimmungen, die einem Ereignis als solchem zugeschrieben werden, sondern etwas ist vergangen in Bezug auf den Ort, von dem aus es erfahren wird, d.h. in Bezug auf eine bestimmte Gegenwart.“78
Da die Zeit unendlich verlaufe, hänge der Abschluss einer Zeitreihe prinzipiell davon ab, wo „man den Schnitt macht“. Eine teleologische Bestimmung unterlaufe daher die Vieldeutigkeiten.79 Gegen eine bestimmte Vorstellung von Teleologie – geschlossener, linearer Handlungsgang, Kohärenz von Aussage und Artikulation/Darstellung – richtet sich Forced Entertainment mit seinen Theaterarbeiten, die sich damit eben auch nicht auf eine philologische Analyse reduzieren lassen. Als „texts not text“ will Forced Entertainment die Stellung von Texten innerhalb des Produktionsund Aufführungsprozesses begriffen wissen, als ein theaterkonstituierendes Medium unter anderen. Virulent wird dieses Textverständnis vor allem auch in einem Schildertanz, der erfolgt, nachdem Claire Marshall nach ihrer Entschuldigungsarie endlich erfolgreich hinter die Bühne verfrachtet worden ist. Die Darsteller tanzen nun mit den für Nummernrevuen typischen Schildern, auf deren Vorderund Rückseite je ein Buchstabe verzeichnet ist, zu einer „LatinDance“-Nummer. Auch hier sind herkömmliche Darstellungsmuster – etwa eine aufwendige Tanzchoreographie – äußerst sparsam eingesetzt. Die Darsteller bewegen sich kreuz und quer mit schnellen Laufschritten über die gesamte Bühne, den Oberkörper immer aufs Publikum ausgerichtet, davor die Schilder in kreisender Bewegung 76 77 78 79
Ebd., S. 123. Ebd., S. 124. Ebd. Vgl. ebd., S. 126.
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Analysen synchron zum Takt der Musik haltend. Unterschiedliche Buchstabenformationen werden im Verlauf der Nummer arrangiert. So tanzen zwei Darsteller Richtung Rampe wahlweise mit der Buchstabenkombination „NO“, „ON“ oder „YY“ oder jeweils ein Darsteller allein nur mit dem eigenen Schild ausgestattet. Schließlich formieren sich die Darsteller am Ende der Sequenz zur Buchstabenkombination „MYSTERY!“, die durch das Umdrehen der Schilder in „ILLUSION“ umgewandelt wird. Mit einfachen Mitteln wird hier auf die Repräsentationsfunktion der Schrift im theatralen Kontext im Besonderen sowie im kulturellen Kontext im Allgemeinen hingewiesen. Die Autorschaft verbirgt sich auf dem Theater naturgemäß hinter der gesprochenen Lautsprache. Im Textproduktionsverfahren einer Gruppe wie Forced Entertainment wird eine individuelle Autorschaft erst recht camoufliert: Wer welchen Text zu verantworten hat, ist nicht eindeutig zu identifizieren. Die Bedeutung von Schrift, Text und Buchstabenfolge hat Forced Entertainment schon in „Who can Sing a Song to Unfrighten me?“ mit dem langsamen und sukzessiven Aufzeichnen sämtlicher Buchstaben des griechischen Alphabets auf einer Schultafel die Funktion der Schriftsprache zum Thema gemacht. Bei „First Night“ durchbricht der Tanz das zweidimensionale, sukzessive Organisationsmuster der linearen Schriftsprache. Über den Tanz mit den Buchstaben wird buchstäblich die Konventionalität der Schriftsprache vorgeführt. Denn mit demselben Repertoire an Schriftzeichen können, wie sich im Verlauf des Tanzes zeigt, auch sinnkonstituierende Einheiten hergestellt werden, die sich dem Organisationsschema der linearen Schriftsprache nicht fügen. Die zeitliche Abfolge der linearen Prozessualität der Schrift wird durch die topograpisch querverlaufende (dreidimensionale) Anordnung unterschiedlicher Buchstabenfolgen, die keinen herkömmlichen Sinn ergeben, bzw. die Hervorhebung eines einzelnen Buchstabens, die darauf hinweisen soll, dass ein Buchstabe immer auf Nachbarschaft und Kontext angewiesen ist, unterlaufen. Die Transitorik der Sprache, die in der Philosophie, wie etwa Derrida in seiner Logophonozentrismuskritik beklagte, traditionell die Sprache als Ort genuiner Präsenzerfahrung gegenüber der Schrift privilegierte, wird mit der Schrift, so die traditionelle Lesart, gerade festgehalten. Derrida wählte darum, wie bereits in Kapitel V.4.4 erörtert, einen alternativen Schriftbegriff als Präsenzbegriff, der in der Schrift die Spur des Anderen, der „différance“, zum Vorschein bringe. In Folge dieser Logozentrismuskritik wurde die Linearität der Schrift nur allzu oft kulturkritisch mit einem hierarchisierenden und auto-
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Theater als Ort der Utopie kratischen Denkmuster in Verbindung gebracht.80 Demgegenüber hat Sybille Krämer die Schriftbildlichkeit als eine vergessene Dimension der Schrift erörtert. Schrift versteht Krämer als eine „Ideographie“, die keine Entsprechung zur Lautsprache aufweise und die eben nicht interpretiert werden dürfe als kognitive Entität oder Modalität, die ikonisch auf Sprache verweise. Im geschriebenen Text komme nicht das Lautgeschehen zur Darstellung, sondern „konzeptuelle Sachverhalte, wie grammatische Kategorisierungen, aber auch Relationen zwischen Gedanken und Argumentationsstrukturen“.81 Mit dem Buchstabentanz wird nicht nur der Eigenwert der Schrift vorgeführt, sondern die Unterbrechung der Transitorik qua Schriftkombinationsverfahren potenziert. Die zweidimensionale Schrift wird im Tanz der Darsteller zum dreidimensionalen Schriftbild. Genauso wenig wie Autorschaft, so der Assoziationsspielraum, auf den „First Night“ verweist, auf den einen ursprünglichen Autor zurückzuführen ist, und genauso wenig wie eine theatrale Norm auf einen außer ihr liegenden Ursprung rückführbar ist, genauso wenig gibt es eine Hintergehbarkeit des Leibes und der Schrift. Bei Forced Entertainment werden alle Darstellungsmittel – Körper, Schrift und Sprache – vorgeführt als immer schon mit Mehrfachcodierungen belegte Medien, die die Grenzen absoluter Gegenwartserfahrung einerseits und reiner Kontinuitätsbildung andererseits aufzeigen. Man könnte sagen, dass Forced Entertainment vorführen will, wie und dass Schrift, Sprache und Körper gleichsam die unterschiedlichen Mehrfachcodierungen inkorporieren, die sich im Lauf der Theatergeschichte ergeben haben. In actu wird hier vorgeführt, dass das Ereignis als Ereignis in einem zeitlichen Kontext zu begreifen ist, und zwar insofern es auf die Herstellung von Normen im theatralen Akt verweist. Dass, analog zu Jérôme Bels ästhetischem Impetus, Forced Entertainment selbst Teil eines historischen „Normierungsprozesses“ ist, liegt auch in der bewussten Grenzziehung zu einem Theater der Repräsentation, das als Gegenwelt zu fungieren hat. Nicht zuletzt ist es Tim Etchells Bekenntnis in einer von SPIELART herausgegebenen Publikation – “I think, Brecht might have liked it“82 –, die eine Selbstverortung in der Theatertradition der Avantgarde offenbart. Der pädagogische Impetus der britischen Truppe ist nicht zu übersehen.
80 Sybille Krämer: „Über eine (fast) vergessene Dimension der Sprache“, in: Dies./Horst Bredekamp (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, München: Fink 2003 S. 157-176, S. 160. 81 Ebd., S. 160. 82 T. Etchells: „Say it Now“, S. 123.
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Analysen
VI.3 Alexeij Sagerer Sagerer:: „Götterdämmerung“ – Horizontale IV des „Nibelungen & Deutschland Projekts“ Projekt s“ – Mythos und Zeitkritik VI.3.1 THEATER UNGLEICH: ALEXEIJ SAGERER UND DAS MÜNCHNER THEATER PROT Alexeij Sagerer ist eine Münchner „Institution“. Seit der Gründung des freien Theaters „proT“ im Jahr 1969 hat er in München sämtliche seiner Theaterproduktionen zur Aufführung gebracht. Beim Theaterfestival SPIELART war er zweimal vertreten: 1995 mit der Produktion „Nibelungen & Deutschland-Projekt IV: Götterdämmerung“ und 1997 mit „... und morgen die ganze Welt“. Sagerers Theatergründung fällt zwar, anders als etwa bei den jüngeren Theatermachern Jérôme Bel und Forced Entertainment, in die Zeit der Ereignisse und Entwicklungen um 1968.83 D.h. seine Theaterarbeit muss zunächst in unmittelbarer Nachbarschaft der 68er-Bewegung verortet werden. Dennoch beschäftigen auch ihn nicht so sehr politische Inhalte als vielmehr Formfindungsprozesse, die sich implizit durchaus politisch interpretieren lassen. Ebenso wie die anderen hier vorgestellten Künstler verfolgt auch Sagerer in unermüdlicher Auseinandersetzung mit Darstellungsformen jenseits eines textzentrierten Theaters, eine Ästhetik, die alternativen Präsentationsformen verpflichtet ist. Alexeij Sagerer, mit eigentlichem Vornamen Rudolf Friedrich, Jahrgang 1944, stammt aus Plattling in Niederbayern. Nach diversen Auslandsaufenthalten kam er im Alter von 17 Jahren nach München und gründete dort, nach einem Kurzaufenthalt auf der Schauspielschule Zerboni und Tätigkeiten als freier Schauspieler und Regisseur, im November 1969 das „proT“.84 Der Umstand, dass seit 1974 das Kürzel proT („prott“ gesprochen) weitgehend synonym mit dem Begriff „Prozessionstheater“ verwendet wird, unterstreicht die in jenen Jahren entstehende ästhetische Programmatik, die,
83 Zur Theatersituation in München im Jahr 1968 siehe: Michael Gissenwehrer: „Der Bruch der Gewohnheit. Ein Viet Nam Diskurs und andere theatrale Widrigkeiten des Jahres 1968“, in: Hans-Michael Körner/Jürgen Schläder (Hg.): Münchner Theatergeschichtliches Symposium 2000. Studien zur Münchner Theatergeschichte, Bd. 1, München: Utz 2000, S. 319-332. 84 Zum Werdegang Sagerers siehe: Silvia Stammen: „,Eigentlich geht es immer um Leben und Tod, aber das muss ja nicht traurig sein‘. 50 Jahre Alexeij Sagerer und 25 Jahre proT – Münchens schrägstes Off-Theater hat Geburtstag“, in: Theater heute (1995), S. 22-27. Und: http://www.prot.de vom 25.02.2008.
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Theater als Ort der Utopie nach wie vor, einen offenen, prozessualen, auf Unabschließbarkeit angelegten Produktionsansatz anstrebt. Um seine Vorstellung von Theater adäquat umsetzen zu können, fungiert Sagerer bis heute als Autor, Regisseur, Schauspieler und Produzent in Personalunion. Von Beginn an wurde ein kollektiver, überschaubarer Produktionsprozess angestrebt. Die auf Arbeitsteilung ausgerichtete Organisationsform des Staatstheaterbetriebs lehnte Sagerer von Anfang an rundheraus ab. Ein festgeschriebenes „Mitbestimmungs-Statut“, wie es kurze Zeit später die Berliner Schaubühne aufstellen sollte, zog er allerdings nicht in Erwägung. Alexeij Sagerer blieb und bleibt Cheforganisator und künstlerischer Leiter der Gruppe. Gleichgesinnte, die auf Sagerer trafen und mit der auf den Prozess angelegten Arbeitsweise einverstanden waren, formierten sich bald schon zu einer losen Gruppe. Ein sogenanntes festes Ensemble im strengen Wortsinn gibt es bis heute nicht. In den ersten Jahren kristallisierte sich allerdings eine Kern-Truppe heraus, mit den Darstellern Cornelie Müller, Agathe Taffertshofer, Billie Zöckler, Michael von Hündeberg, Anton Kenntemich, Erhard Sonnengruber und Franz Lenninger.85 Die Finanzierung der Produktionen und Theaterräume wurde zunächst privat erwirtschaftet. Im Laufe der 70er Jahre genehmigte der Stadtrat dann immer höhere Subventionssummen für Privattheater,86 wovon schließlich auch das proT profitierte. Sagerer plädierte schon damals unermüdlich für die Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit der freien Szene.87 Dessen ungeachtet avancierte Sagerer in den 90ern schließlich zu einem der höchstsubventionierten freien Theaterregisseure Münchens. Das bedeutete allerdings nicht, dass sich das proT nicht einer plötzlichen und vollkommen unvorhergesehenen Mittelkürzung konfrontiert sehen konnte.88 Dennoch hielt Sagerer an seiner Vision vom „unmittelba-
85 Vgl. S. Stammen: Eigentlich geht es immer um Leben und Tod, S. 26. 86 Vgl. Wilfried Passow: Zur Situation der Privattheater in München, München: o. V. 1984, S. 3-7; vgl. Johannes Kiebranz: Münchner Privattheater in Selbstdarstellungen, Manifesten und Bildern, München: Nüchtern 1976, S. 175. 87 In einer Sammlung unveröffentlichter Texte notiert Sagerer: „Der Wert dieser freien Theaterszene liegt in der Eigenverantwortung der einzelnen Theater. Diese Verantwortung muss auf alle Fälle gewahrt bleiben. Dazu ist es vor allem notwendig, dass die Theater unabhängig vom Subventionsgeber bleiben. […] Trotzdem: Erwarten sie nichts von einem Theater, das behauptet, es würde mit mehr finanzieller Unterstützung mehr künstlerisches Risiko eingehen. Dieses Theater hat bereits eindeutig seine Dominante gesetzt und das ist die Rentabilität (finanzielle) des Theaterbetriebs.“ Alexeij Sagerer: Prozessionstheater (Texte), München 1979, o.S. unveröffentlicht. 88 Vgl. S. Stammen: „Eigentlich geht es immer um Leben und Tod“, S. 27.
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Analysen ren Theater“ fest. Entsprechend lautet einer seiner zahllosen Aphorismen zum Theater, das sich fast naturgemäß immer auch den drohenden Einschränkungen entgegenstellen muss(te): „In gewisser Weise kann man unmittelbares Theater und domestiziertes Theater mit der Wildsau und dem Hausschwein vergleichen. Wo das eine sein Sausein austrägt, trägt das andere Schnitzel.“89 Es versteht sich von selbst, dass sich die oben beschriebene, nicht staatstheatermäßig „domestizierte“ Organisationsform direkt auf die ästhetische Realisierung und die künstlerische Programmatik auswirkt, letztlich nur komplementär zu dieser zu denken ist. Es handelt sich um einen Arbeitsansatz, der sich von dem anderer Münchner Bühnen unterscheidet, die in den 70er Jahren doch in erster Linie Texte aus dem Kanon inszenierten.90 Bereits in diesen Jahren zeichnete sich die ästhetische Strategie ab, die für Sagerer bis heute bestimmend ist. In der Anfangszeit ging es ihm zunächst um eine kritische Auseinandersetzung mit konventionalisierten Formen sowohl des Dramas als auch der theatralen Darstellung. 1976 notierte er: „Die Form unseres Theaters ist ursprünglich, unmittelbar, strukturell, authentisch. […] Wir lehnen nicht nur den ‚künstlerischen, ‚konservativen‘ Schematismus des literarischen, konventionellen, offiziellen und prächtig subventionierten Theaters ab, sondern auch den scheinbar progressiven Schematismus des revolutionär gemeinten politischen und pädagogischen Theaters ab. […] Sie [die Arbeit, MD] bedeutet ein dauerndes Begreifen und Verändern im Sinne von Weiterarbeiten.“91
Diese kritische Auseinandersetzung erfolgte in erster Linie über das Spiel und weniger über inhaltlich eindeutig dechiffrierbare Botschaften. Mehr und mehr löste sich Sagerer von einem auf Repräsentation ausgerichteten Darstellungsstil. In dezidierter Verweigerung einer „Höhenkammkunst“ schrieb er schließlich die Texte für das proT nur noch selbst.92 Genre-Bruch und absurde Sprachspiele sind schließlich wesentliche Bestandteile von Sagerers Texten. Ideologiekritik artikuliert sich als Sprachkritik, wie es sich bereits in den frühen Manifesten, die Sagerer seit 1974 verfasste, zeigt. Die Verkündung der künstlerischen Programmatik in der Form eines Manifests sowie die zeitliche Nähe zu den Protest-Bewegungen um
89 Zitiert nach: Ebd., S. 27. 90 Beispiele dafür wären: das „Moderne Theater“ unter der Leitung von Uta Emmer oder das „Theater 44“ unter der Leitung von Horst Reichel. 91 Alexeij Sagerer: „Aus dem Subventionsantrag an das Kulturreferat der Stadt München am 12.12.1976“, in: A. Sagerer: Prozessionstheater, o.S. 92 Zu seinen ersten Inszenierungen gehören Ionescos „Die Nashörner“ und Büchners „Dantons Tod“.
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Theater als Ort der Utopie 1968, deren Auswirkungen sich gerade in der freien Theaterszene als nachhaltig erwiesen haben, werfen unweigerlich die Frage nach dem Ort des Politischen im Theater von Sagerer auf. Doch anders als der Impetus, dem das erste Manifest des italienischen Futurismus von Filippo Tommaso Marinetti aus dem Jahr 1909 verpflichtet war, nämlich eine umfassende ästhetische und gesellschaftlichpolitische Umwälzung zu erreichen, und anders als die politische Intention der Münchner Gruppe SPUR der Situationistischen Internationale aus dem Jahr 1961,93 beschränkte sich schon das „proTway-manifest“ auf die Formulierung eines ästhetischen Programms.94 Sagerers Impetus liegt auf der Kritik an erstarrten Denkmustern, an erstarrten theatralen und sprachlichen Formen und Konventionen. Analog zur Sprachverwendung der „Wiener Gruppe“, die im Österreich der Nachkriegszeit unter Verwendung des Dialekts an dadaistische Schreib- und Artikulationstechniken anknüpfte, versteht Sagerer sowohl in seinen theoretischen Schriften als auch in seinen Aufführungen die Integration des Dialekts nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern auch als informationszersetzendes Moment. Aus der Retrospektive betrachtet zeigt der Überblick über die zahlreichen Produktionen des Künstlers95, dass die Prozesshaftigkeit als Arbeitsprinzip zunehmend an Bedeutung gewann. Bis zur Mitte der 70er Jahre erprobte Sagerer in jeweils abgeschlossenen Produktionen (etwa „Gschaegn is Gschaegn“, 1969; „Watt'n (ein Kartenspiel) oda ois brenn ma nida“, 1974) die Funktion sowie den distanzierenden und handlungsunterbrechenden Effekt einer nicht mehr an das Sprechersubjekt gebundenen Figurenrede. Der dort in übertriebener Form zum Einsatz kommende Dialekt trieb den sozial- und kommunikationskritischen Ansatz des kritischen Volksstücks à la Wolfgang Bauer, Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder auf die Spitze und parodierte ihn zugleich. Mit dem „Tieger von Äschnapur“, des ersten Großprojekts von 1977 bis 1982, ging es Sagerer darum, bewusst neue „theatrale
93 Auch die Agit-Gruppen der 60er Jahre, das Theater „Rote Rübe“ und das KEKK (Kabarett&Engagierte KleinKunst) waren dezidiert politisch ausgerichtet. Vgl. Stefan Hemler: „Protest-Inszenierungen. Die 68er-Bewegung und das Theater in München“, in: J. Schläder/H.-M. Körner: Münchner Theatergeschichtliches Symposium 2000, S. 276-318. 94 Einzelne Programmpunkte lauten: „1. Jedes Theater ist Prozessionstheater. 2. Alles, was sich bewegt bewegt sich = Prozessionstheater. 3. Alles, was sich nicht bewegt ist kein Prozessionstheater – also nichts. 4. Alles, was kein Prozessionstheater ist, ist nichts und von nichts kommt nichts, es sei denn es käme als Prozessionstheater. 5. Ohne Prozessionstheater kein Nichts oder nichts. Wir verzichten auf Nichts. 6. Nur Prozessionstheater kann Nichts überwinden […].“ Vgl. http://www.prot.de 95 Vgl. ebd.
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Analysen Räume“ zu suchen und herzustellen. Die autobiographische Selbstreflexion und Selbstverortung des Künstlers wird als vorherrschendes Thema erkennbar. Die Präsentation der einzelnen Produktionen des „Tiegers“ sind zudem erstmals einer Dramaturgie der Zeitstrukturierung verpflichtet, die die Transitorik der Live-Theateraufführung mit dem zeitlichen Kontinuum einer Langzeitperformance kombiniert.96 1992 entstand das bis Ende 1998 dauernde „Nibelungen & Deutschland Projekt“, das wiederum unmittelbar in den „größten Film aller Zeiten“ überging. „Operation Raumschiff“ ist der im Jahr 2000 gewonnene „integrale Titel“ für die Produktion, die am 18./19. Oktober 1997 mit der 28-stündigen, auf dem SPIELART-Festival gezeigten Theaterexpedition „...und morgen die ganze Welt“ begonnen hat. „Operation Raumschiff“ verfolgt unterschiedliche Programme und soll bis zum Jahr 2011 fortgesetzt werden.97 Im Jahr 2000 verfaßte Sagerer noch einmal eine Programmschrift, die in ihrem Manifest-Charakter an die frühen Texte anknüpfte, allerdings ohne dabei auf die Form dadaistischer Sprachspiele zurückzugreifen. In dem Pamphlet „Innen und Außen“ vermittelt Sagerer seine künstlerische Intention, die er explizit in Abgrenzung zum institutionalisierten Staats- und Stadttheaterbetrieb verstanden wissen will.98 Diese Abgrenzungsstrategie ist Arbeitswie Lebensstrategie gleichermaßen. Sagerer konnte und kann sein ästhetisches Konzept ausschließlich durch die programmatische Absage an jegliche Form von Institutionalisierung realisieren. Dass 96 Die Produktionen des „Tiegers von Äschnapur“ sind: "Der Tieger von Äschnapur Null oder Sylvester auf dem Lande"(1977), "Der Tieger von Äschnapur Eins oder Ich bin die letzte Prinzessin aus Niederbayern" (1977), "Der Tieger von Äschnapur Drei oder Ich bin imbrünstig mein Alexeij Sagerer" (1979), "Der Tieger von Äschnapur Zwei oder Ich bin das einzige Opfer eines Massenmordes" (1982). 97 Vgl. http://www.prot.de 98 „Zur Produktion des Innen“, schreibt er, „zählen alle kommerziellen theatralen Unternehmungen, normalerweise auch Laientheater und Freizeittheater, sowie die subventionierten Theaterinstitutionen wie Stadt- und Staatstheater. […] Das Innen produziert erfolgreiches Theater, und es liefert Produktionszahlen, Aufführungszahlen und Platzausnutzung. Das Innen produziert affirmatives Theater, ,Staatstheater‘. Dabei zielt die Produktion des Innen auf Fortschritt.“ Demgegenüber sei „die Produktion des Aussen […] ein permanentes Werden. Der Vorgang dieses Werdens ist gleichzeitig öffentlich und autistisch und kennt nicht den Fortschritt und die Produktivität des Innen. Dieses Theaterwerden ist eine andere Art von ,Produktivität‘ als die des Innen. Es ist auch ein anderer Vorgang als der Vorgang des Inszenierens. […] Das Außen weiß, dass nichts schon mal dagewesen ist, dass es keine identischen Wiederholungen gibt“. Sagerer, Alexij: „Innen und Außen“, in: http://www.prot.de vom 15.11.2007.
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Theater als Ort der Utopie diese ebenfalls eine Form von Institutionalisierung darstellt, die selbst wiederum im Kontext des oben erörterten AvantgardeVerständnisses zu verorten ist (vgl. Kapitel IV.), liegt, zumindest auf der begrifflicher Ebene, in der binären Logik von Inklusion und Exklusion begründet. Ebenso wie die anderen Avantgarde-Konzepte, die sich gegen herkömmliche Institutionalisierungen und ästhetische Formensprachen richteten, verortet eben auch Sagerer sein Theater in der eindeutigen Abgrenzung zu einem mehr oder weniger vermeintlich oder offensichtlich institutionalisierten Theater. De facto sind die Grenzen angesichts der sich wandelnden Subventionskultur und Publikumsstruktur allerdings durchaus fließend. Seitens der Kritik ist Sagerer, ähnlich wie die ebenfalls hier vorgestellten Theaterschaffenden, schon früh als „Theateravantgardist“ etikettiert worden, was ihm 1997 den Theaterpreis der Landeshauptstadt München einbrachte.99 1969 als „Mixed-Media-Experimentator“100 ausgewiesen, wird er in den folgenden Jahren bezeichnet als „Phantast und Abenteurer“101, als „kämpferische[r] Theatererneuerer“102, als „einziger Überlebender des Münchner TheaterUntergrunds.“103 Mit der Produktion „Reine Pornographie“ im Jahr 2006 hat Sagerer erneut das Münchner Kulturreferat gegen sich aufgebracht. Kurzerhand warf eine sechsköpfige Fachjury Sagerer aus der Förderung. Die Presse hat diesen Akt als „Zensur“ bezeichnet und der Stadt München vorgeworfen, sich selbst zum „Gespött der Theaterwelt“104 zu machen. Damit wird deutlich, dass auch dieser Akt der „Subventionspolitik“ inzwischen eine Kontinuität in Sagerers Theaterarbeit bildet. Sagerer selbst setzt gegen die Kontinuität des institutionalisierten Sprechtheaters eine andere Kontinuität, nämlich die des avantgardistischen Theaters, wenngleich er sich selbst gegen diese Etikettierung mit Sicherheit zur Wehr setzen würde.
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Vgl. Ralph Hammerthaler: „Die ganze Welt ist eine Experimentierbühne. Visionär, Performer, Avantgardist. Alexeij Sagerer erhält den Theaterpreis der Stadt München“, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.09.1997, S. 16. Ponkie: „Sagerer-Film im Europa-Palast. Prinzip des Krimi“, in: Abendzeitung vom 4.12.1969, S. 9. Helmut Schödel: „Der Aufstand gegen die Angestelltenkultur“, in: Die Zeit vom 7.09.1979, S. 39. Wolfgang Höbel: „Sagerers konsequenter Wahnwitz. Das proT in München wiederholt sein ,Konzert auf der Tiegerfarm‘„, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.02.1986, S. 42. Helmut Schödel: „Der wilde Mann des Münchner Theaters und seine einunddreißig Maiandachten“, in: Der Standard vom 20.05.1990, S. 10. Ralph Hammerthaler: „Sex Göttin Zensur“, in: Theater der Zeit 9 (2007), S. 79.
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VI.3.2 HISTORISCHER KONTEXT ALS THEATRALE GEGENWARTSANALYSE – SUCHBEWEGUNGEN EINES PRODUKTIONSUND REZEPTIONSÄSTHETISCHEN ANSATZES Der Zeitraum, den das „Nibelungen & Deutschland Projekt“ umfasst, sprengt jeglichen Begriff einer Zeitspannengleichheit von Theaterproduktion und -rezeption. Fast sieben Jahre Produktionsdauer sind im wahrsten Sinne des Wortes als Prozessionstheater zu bezeichnen, als ein Theater, das die Raum- und Zeitgrenzen einer „konventionellen“ Staatstheaterproduktion weit überschreitet. Erst aus der Retrospektive zeigt sich, was während der Produktionsdauer nur als „Langzeitantizipation“ der nacheinanderfolgenden Einzelproduktionen geschürt wurde: Nur unter idealtypischen Voraussetzungen, also nur bei dem Besuch aller Produktionen, würde sich als theatrales Rezeptionsereignis die Verschränkung von Antizipation und Erinnerung in ihrer gewünschten Komplexität auch entfalten. Der Besuch einer einzelnen Produktion konfrontierte den Zuschauer somit buchstäblich mit einem „Momentum“ der Aufführung. Dabei ist es nicht so, dass die Reihenfolge der Produktionen beliebig wäre. Sagerer folgt mit dieser Produktion erstmals einer ausgeklügelten Zahlendramaturgie, die die Themen, um die das „Nibelungen & Deutschland-Projekt“ kreist, strukturiert. Nicht einer vorgegebenen fünf- oder dreiaktigen Dramenstruktur ist die Produktion verpflichtet, sondern vor allem einer Einteilung über die Zahlen vier und sieben. Eine markante Strukturierung der temporalen Ordnung ist damit mehr als bei den bisherigen Produktionen Sagerers bewusst ausgestellte und damit zentrale dramaturgische Strategie. Diese ist allerdings nicht ein rein selbstreferentieller formaler Modus, sondern eng an die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Nibelungen-Stoff und dessen Rezeption gebunden. „Disparatheit und strenges Raster ergeben ein Ordnungsmuster, das sich im weitesten Sinne als inhaltliche und formale Auseinandersetzung mit dem „Nibelungenlied“ und mit Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ bezeichnen lässt. In „pragmatischen Kommentaren“ erläutert Sagerer die sich an den Zahlen sieben und vier orientierende Projektstruktur der 12 Einzelproduktionen.105 Die horizontalen Linien sind, Sagerers dramaturgischer Strategie gemäß, bestimmt durch die Themenräume und das Material, während die vertikalen Linien hingegen durch die formale Gestaltung gegliedert sind.“106
105 http://www.prot.de/ROT/THEMEN_ROT/NIBELUNGEN/PROJEKTSTRUKTUR/ index_struktur.htm vom 23.2.2008. 106 Sagerer, Alexeij: Das Nibelungen & Deutschland-Projekt. Pragmatische Kommentare zu den vier Horizontalen und den drei Vertikalen, in: Ebd.
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Theater als Ort der Utopie Vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse in Deutschland, der Wiedervereinigung von 1989, stellt Sagerer den Untergang im zweiten Teil des „Nibelungenliedes“ und Richard Wagners letzten Teil seiner Tetralogie, die „Götterdämmerung“, in einen neuen Kontext. Mitreflektiert wird damit nicht nur die Bedeutung der archaischen, politischen und mythenbildenden Motive für die Gegenwart, sondern auch die Rezeption des Nibelungen-Stoffes, der ein zentraler Bedeutungsträger deutscher Literatur- und Musiktheatergeschichte ist. Gemäß Sagerers Impetus, neue formale Strukturprinzipien aufzuspüren, die anders als die Prinzipien einer konventionellen Dramenstruktur einer geschlossenen Handlungslogik folgen, werden die Themen weitgehend als diskursives Material verstanden. Wie Sagerer in seiner Konzeption notiert, geht es über die Auseinandersetzung mit dem Nibelungen-Stoff hinaus auch um das Ende des Dritten Reiches, das wiedervereinigte Deutschland, die Grenzen der Industrie in der Natur und das Ende des Jahrtausends.107 Über enge Themengrenzen hinaus grundiert damit der literatur- und politikhistorische Kontext die szenische Auseinandersetzung mit einem zentralen Aspekt deutscher Geschichte, die, so der programmatische Impetus, sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch an keinem historischen Schnittpunkt eine eindeutige Lesart erlaubt. Ein Blick auf das „Nibelungenlied“ und ferner auf Wagners „Götterdämmerung“ zeigt, dass auch schon anhand der Prätexte, die Sagerer ausgewählt hat, nicht von einer „geschlossenen“ Werkkomposition auszugehen ist. Das um 1200 schriftlich fixierte „Nibelungenlied“, dessen Autor unbekannt ist, hat im Lauf seiner nicht rekonstruierbaren, mündlichen Überlieferung selbst zahlreiche Transformationen und Ergänzungen aus unterschiedlichen Sagenkreisen erfahren.108 Die Brüche, Widersprüche und Inkohärenzen dieses zweigeteilten Epos über die Vermählungen Siegfrieds und Kriemhilds sowie Gunthers und Brünhilds, über den Frauenstreit, über Siegfrieds Tod und Kriemhilds Rache an den Burgunden an Etzels Hof, sind selbst seit Langem Gegenstand literaturwissenschaftlicher 107 Vgl. ebd. 108 Es gibt 35 unterschiedliche, zum Teil unvollständige Handschriften des „Nibelungenliedes“ aus dem 13. bis 16. Jahrhundert. Die drei wichtigsten, aus dem 13. Jahrhundert stammenden Redaktionen sind mit A, B und C bezeichnet worden, wobei man von der Redaktion B lange annahm, dass sie dem Original am nächsten stehe. Die Handschriftenkritik hat dieses Bild inzwischen relativiert und spricht von einer Beteiligung mehrerer Sänger, die an der Gestaltung des Textes mitwirkten. Text und Kommentar siehe: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, n. d. Text von Bartsch, Karl u. Boor de, Helmut, übers.u. komm. v. Grosse, Siegfried, Stuttgart 1997.
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Analysen Analyse, deren Erkenntnisse aufschlussreich für eine Interpretation von Sagerers eigener Konzeption sind.109 Überwogen in der früheren Nibelungen-Forschung vereindeutigende Sinninterpretationen und die Suche nach kausalen Handlungsmotivationen der einzelnen Figuren sowie psychologisierende Deutungen, favorisiert man in der Zwischenzeit eine multiperspektivisch orientierte Interpretation.110 Gegenüber der Suche nach psychologischen Erzählmustern ist man dazu übergegangen, „Motivationsstrukturen aus zeittypischen Konzeptualisierungen abzuleiten […] (in erster Linie Statusdemonstration und Ehre, Sippenbindung und Vasallität).“111 Weder sei von einer eindeutigen Kritik am höfischen Leben auszugehen noch von eindeutig religiösen, gar christlichen Motiven. Zum einen deshalb, weil Adel und höfisches Leben im „Nibelungenlied“ auch affirmativ geschildert werden. Zum anderen, weil Gott und Religion eindeutig eine Randposition einnehmen. Im Zentrum der Interpretation stehen vielmehr, so die jüngeren Forschungsperspektiven, „Leitmotive und thematische Korrespondenzen sowie ein dichtes Netz von Vorausdeutungen auf künftiges Unheil.“112 Themenkomplexe wie Ehrverletzung und Gewalt sind eingebettet in das widerspruchsreiche Spannungsgeflecht von höfischen (Minne) versus archaisch-heroischen Elementen. Die jüngere Gender-Forschung hat zudem zeigen können, dass Gewalteskalationen auf Seiten der Männer durchaus zum heroischen Inventar gehören, während Gewalt durch Frauen (etwa bei Brünhild, die Gunther während seiner Brautwerbung demütigt und ihn in der Brautnacht aufhängt und Kriemhild, die ihr Kind opfert, die Burgunden in den Untergang treibt und Hagen schließlich tötet) den Frauen selbst angelastet wird. Weibliche Gewalt ist, wie Elisabeth Lienert notiert hat, „grundsätzlich verdächtig“ und Kritik an Gewalt offenbar nur möglich, „wenn sie auf Frauen projiziert wird.“113 Insgesamt betrachtet ist die in der Zwischenzeit nicht als Mangel, sondern aus dem historischen Kontext heraus zu erklärende Dramaturgie des Widerspruchs und der Sprünge das Resultat einer spezifischen Medialität, die das „Nibelungenlied“
109 Als derartige Brüche gelten u.a. die gegenseitige Kenntnis Siegfrieds und Brünhilds, als Siegfried zum ersten Mal nach Island reist, um Brünhild für Gunther zu gewinnen, Siegfrieds Reise zu den Nibelungen vor der Rückreise von Island nach Worms, der nicht aufgeklärte Verbleib der Söhne der beiden Paare Siegfried-Kriemhild, Gunther-Brünhild. 110 Vgl. Elisabeth Lienert: „Perspektiven der Deutung des Nibelungenliedes“, in: Joachim Heinzle/Klaus Klein/Ute Obhof (Hg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, Wiesbaden: Reichert 2003, S. 91-112. 111 Ebd., S. 92. 112 Ebd., S. 95. 113 Ebd., S. 107.
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Theater als Ort der Utopie schließlich für eine Bühnenbearbeitung, wie Sagerer sie wählt, so anziehend macht. Das Ansprechen der wahrnehmenden Sinne spielt beim „Nibelungenlied“ eine entscheidende Rolle. Dazu gehören zum einen die ausführlichen Schilderungen der Schaueffekte der höfischen Welt mit ihrem Zeremoniell und ihrer Kleiderordnung. Zum anderen ist hierzu die Art der Textstrukturierung mit Strophen und Aventiuren – die alte Bezeichnung für Kapitel – selbst zu zählen, die offenbar auf den Vortrag angelegt ist. Sie ist bezeichnet worden als „performative Poetik“, die ihre Ursache in der „inszenierte[n] Mündlichkeit“114 hat. Weniger eine individuelle Textrezeption steht im Vordergrund als eine öffentliche, wie sie eben auch Theateraufführungen zueigen ist. Vor allem aber anhand der Zeit- und Raumstruktur machen sich die Sprünge und Inkohärenzen bemerkbar. Die Figuren des „Nibelungenliedes“ altern, obwohl sich die Erzählung über mehrere Jahrzehnte erstreckt, nicht. Insgesamt sind die Zeitangaben unbestimmt. Im Verlauf reduziert sich die Spanne der erzählten Zeit, während zugleich Textmenge und Erzählzeit zunehmen. Der Zeitraum der Erzählung erstreckt sich bis zur Ankunft der Burgunden an Etzels Hof über 37 Jahre. Konkreter als die Zeitangaben sind die Ortsangaben, die vor allem im zweiten Teil, der Reiseroute von Passau nach Wien, benannt werden.115 Richard Wagner nun hat für seine Bearbeitung des NibelungenStoffes vor allen Dingen auf die nordischen Götter- und Heldenlieder der „Edda“ sowie der „Völsunga-Saga“ zurückgegriffen. Lediglich einzelne Motive aus dem „Nibelungenlied“ finden sich im Vorspiel und in den ersten beiden Teilen der Tetralogie des „Rings“ wieder. Auf das „Nibelungenlied“ selbst hat Wagner dann vor allem für das „Handlungsschema“ der „Götterdämmerung“ zurückgegriffen.116 Anders als im „Nibelungenlied“ und in den altnordischen Dichtungen ging es Wagner jedoch um die „Errichtung seines eigenen Systems“,117 die ganz auf die Herstellung einer „welterneuernden Utopie“118 abgestellt war. Hierzu schien ihm das „Nibelungenlied“, das Wagner für jünger erachtete, selbst nicht die gewünschte Form der Ursprünglichkeit zu liefern, an die er heranreichen wollte. Wagner 114 Ebd., S. 94. 115 Im ersten Teil sind auch die Ortsangaben teilweise noch recht diffus: Während Xanten zunächst als Burg am Niederrhein ausgewiesen wird, wird der Ort später als Siegfrieds Wohnsitz in Norwegen bezeichnet. Außerdem fließt zwischen den Vogesen und Worms fälschlicherweise der Rhein. Hierzu siehe: S. Grosse: Das Nibelungenlied, S. 976ff. 116 Vgl. P. Wapnewski: Weißt Du wie das wird...?, S. 37ff. 117 Ebd., S. 52. 118 Ebd., S. 46.
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Analysen benutzte, so Volker Mertens, die mittelalterlichen Texte „als Steinbruch zur Gewinnung nicht von Motiven, sondern von Material mit mythischer Potenz, von Mythemen, mit dem er seinen eigenen Mythos bauen konnte“.119 Hierzu gehörte eben auch, den Gang der Geschichte nicht als von Menschen gemachten Zeitverlauf anzuerkennen, sondern die Nibelungensage als „Unterbau der Weltgeschichte“120 anzusehen. Richard Wagners Konzeption des „Rings“, die, wie in Kapitel III.4.3 erörtert, eng an seine Festspielidee geknüpft ist – 1876 kam es zur ersten Gesamtaufführung des „Rings“ in Bayreuth –, ist zwar ganz auf die Durchdringung des Ur-Mythos abgestellt. Zugleich aber ist Wagners Bearbeitung im Zeichen des Spannungsverhältnisses von modernem Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittsglauben zu sehen. Die Projektion in die Vergangenheit, in ein idealisiertes Mittelalter, mithin in eine idealisierte Antike, ist mit einer zeitgeschichtlichen Kapitalismus- und Gesellschaftskritik verbunden. Volker Mertens notierte hierzu: „Mit dem Träger einer solchen idealistischen Herrschaft, Friedrich, verschwand jedoch die ideelle Bedeutung des Hortes und machte einem zum Besitz verdinglichten Verständnis Platz, in dem das Recht nicht mehr aus dem Mythos, sondern aus dem Besitz der Macht selbst abgeleitet wurde. Nur die Nibelungenlieder bewahren die Erinnerung an eine ideale Einheit von mythisch legitimierter Macht und Menschlichkeit.“121 Die Beschwörung eines alt-neuen Ideals sollte indes kollektiv beglaubigt werden. Dafür steht die Festspielkonzeption Richard Wagners. Wagner selbst ist dabei durchaus in einem Umkreis zu verorten, in dem der Nibelungen-Stoff als neuer Nationalmythos die Herausbildung einer nationalen Identität, die der deutschen Staatenwelt im 19. Jahrhundert im Gegensatz zu anderen Nationen noch fehlte, fördern sollte. Das „Nibelungenlied“ besetzte hier nicht ohne Widerspruch relativ spät jene Stelle, die in anderen Ländern schon viel früher ausgefüllt war – wie unter anderen das Beispiel der „Illias“ und der „Odysee“ für die Griechen, die spanische Reconquista mit dem „Poema de mio Cid“, der Freiheitskampf der Schotten mit John Barbours „Bruce“-Epos und auch die Totenklagen und Heldenlieder der Serben anlässlich der Niederlage auf dem Amselfeld, zeigen.122 Das Problem des „Nibelungeliedes“ war es insgesamt,
119 Volker Mertens: „Das Nibelungenlied, Richard Wagner und kein Ende“, in: J. Heinzle/K. Klein/U. Obhof: Die Nibelungen, S. 459-496, S. 461. Zu den textlichen Modifikationen: Vgl. ebd., S. 465ff. 120 Ebd., S. 463. 121 Ebd., S. 463. 122 Vgl. Klaus von See: „Das Nibelungenlied – ein Nationalepos?“, in: J. Heinzle/K. Klein/U. Obhof: Das Nibelungenlied, S. 309-343, S. 311f.
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Theater als Ort der Utopie dass sich aus ihm keine „politischen Funken schlagen“123 ließen, so dass man schließlich vor allem auch die geopolitische Bedeutung beschwor. Auf lange Sicht eignete es sich, wie Klaus von See erörtert hat, wohl deshalb zum Nationalepos, weil das Lied seinen Stoff aus einheimischen Quellen bezog und weil man in der Treue, in der Frauenverehrung und der Gattenliebe spezifisch deutsche Tugenden zu erblicken glaubte, jenseits aller historischer Wandelbarkeit.124 Die Nationalsozialisten wussten sowohl das „Nibelungenlied“ als auch Richard Wagners Werk in diesem Sinne für sich zu vereinnahmen. Richard Wagner hatte mit seinen antisemitischen Ausfällen selbst den Boden für diese Vereinnahmung bereitet, seine Nachkommen Hitlers Wagner-Verehrung und dessen großzügige Spenden bereitwillig angenommen. Auf das „Nibelungenlied“ wiederum hatte sich paradoxerweise Hermann Göring in seiner Rede vom 30. 1. 1943 anlässlich der Katastrophe in Stalingrad berufen. Die Rede war ein Appell an die Deutschen, volle Einsatzbereitschaft zu zeigen, sie bildete gleichsam einen Kulminationspunkt im Sinne einer „Radikalisierung des Heroischen.“125 Die katastrophalen Ereignisse sollten mythisch überhöht werden. Wenngleich sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Begeisterung für den „Nibelungen“-Stoff erheblich reduzierte, ist nicht von der Hand zu weisen, dass vor allen Dingen die Verehrung Richard Wagners und seiner Kompositionen, erkennbar an dem gesellschaftlich hohen Stellenwert der Bayreuther Festspiele und der dortigen Präsenz von Bundeskanzler(in) und Ministerpräsidenten, fortlebt. Als Event mit „religioidem Anspruch“126 behauptet es nach wie vor sein Recht, zumindest aus der Perspektive der Event-Forschung, eine Gegenwirklichkeit zu schaffen, die jegliche (Theater-)Alltagserfahrung zu transzendieren vermag. Mit dem Ungewisswerden der nationalen Symbolträchtigkeit des Mythos vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, der Globalisierungsprozesse und dem Zusammenbruch des Kommunismus sowjetischer Ausprägung ist in den 90er Jahren eben auch der Geltungsanspruch nationaler Identitäten ins Wanken geraten. Zudem haben sich nach 1989 geopolitische Entwicklungen ergeben, deren Effekte Sagerer mit seiner Produktion thematisch wie formalästhetisch verhandeln will. Dem Spannungsverhältnis – Tragweite politischer Symbole zur nationalen Identitätsfindung einerseits und die Möglichkeit einer zeitgemä123 Ebd., S. 330. 124 Vgl. ebd., S. 337. 125 Peter Krüger: „Etzels Halle und Stalingrad. Die Rede Görings vom 30. 1. 1943“, in: J. Heinzle/K. Klein/U. Obhof: Das Nibelungenlied, S. 375403, S. 383. 126 W. Gebhardt: Fest, Feiern und Events, S. 21.
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Analysen ßen ästhetischen Auseinandersetzung andererseits – ist Alexeij Sagerers „Nibelungen-Projekt“ geschuldet. Er setzt damit die historische Kontiunuität der Neukontextualisierung des NibelungenStoffes fort.
ODER DREI
VI.3.3 TRILOGIE DES WIEDERSPIELENS ARTEN PRÄSENTISCHER VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG
Die Produktion „Götterdämmerung“, 2. Teil der „Horizontale IV“ des „Nibelungen & Deutschland Projekts“ hat eine Vorgeschichte, deren Struktur hier kurz skizziert werden soll. In der „Horizontale III“, der vorausgehenden Produktionsebene der Trilogie der „Götterdämmerung“, bildeten die Ermordung Siegfrieds aus dem „Nibelungenlied“ und Wagners „Siegfried“ das Material für die einzelnen Produktionen. Gegenüber den anderen „Horizontalen“ war die „Horizontale III“ durch die Besonderheit gekennzeichnet, mittels des übergeordneten Titels „Das Fest zum Mord“ verbunden zu sein. Bei der Produktion „Siegfrieds Tod“ arbeiteten sieben Performerinnen, bei „Meute Rudel Mond und Null“ kam bei jeder Aufführung eine wechselnde Performerin hinzu, die einen Teil der Produktion neu bestimmte. Während „Siegfrieds Tod“ nur einmal zur Aufführung gelangte, wurden „Meute Rudel Mond und Null“ und „Recken bis zum Verrecken“ alternierend gezeigt, wobei die Teilnahme einer jeweils ausgesuchten Performerin die Singularität der jeweiligen Aufführung verbürgen sollte.127 Unterlegt sind sämtliche Aufführungen mit Videofilmen, die auch thematisch die jeweilige „Horizontale“ instrumentieren. Während in der ersten Produktion sieben gemalte Filme als Videoinstallation am sogenannten Viervideoturm gezeigt wurden, kam es während der Produktionen der „Horizontale II“ zur Aufführung des von Sagerer aufgenommenen Filmmaterials der sieben deutsche Ströme Rhein, Ems, Weser, Elbe, Trave, Oder und Donau. In der „Horizontale III“ wurden schließlich Filme präsentiert, die Sagerer in den sieben deutschen Städten Dresden, Berlin, München, Hamburg, Stuttgart, Frankfurt und Düsseldorf aufgenommen hatte. Sämtliche Filme wurden mit Handkamera aufgenommen und sind gekennzeichnet durch einen dokumentarischen Stil mit ungewöhnlicher Kadrierung sowie durch eine geringe Schnittfrequenz. Stellenweise sind die Filme nachbearbeitet, etwa dann, wenn Sagerer sich selbst als statische Figur oder kleine Rahmen aus anderen Filmsequenzen
127 Vgl. Sagerer, Alexij: Götterdämmerung. Kommentar, München 1996, unveröffentlicht. Die Performerinnen dort waren: Silvia Ziranek, Hanna, Frenzel, Siglinde Kallnbach, Regina Frank, Jana Haimsohn, Nina Hoffmann, Natalia Pschenitschnikowa.
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Theater als Ort der Utopie in den jeweils laufenden Film hineinmontiert. Vor allem über die Videofilme wird der konzeptionelle Aspekt der „Geopolitik“ ins Spiel gebracht. Die Theateraufführungen finden zwar in München statt, die an den Münchner Aufführungsschauplätzen gezeigten Videoarbeiten ergeben aber eine räumliche und zeitliche Erweiterung und Kontrastierung zu der im „Hier und Jetzt“ präsentierten Theateraufführung. Sagerer selbst nennt diese Filme „Synchronisatoren“, da sie, neben der „Götterdämmerung“ und neben dem „Nibelungenlied“, thematisch und formal den Grundmodus der Materialstrukturierung bestimmen sollen. Synchronisiert sind die Abende über Filme, die an Schauplätzen gedreht wurden, die sich von Deutschland aus gesehen in sieben Himmelsrichtungen befinden: Tunis, Normandie, Kreta, Narvik, Sankt Petersburg, Wolgograd, Krim. Die Filme dokumentieren demnach Sagerers Reise zu jenen Stätten, zu denen die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges vorgedrungen ist.
„Nomaden und Helden“ Der erste Teil der Trilogie, die Lecture-Performance „Nomaden und Helden“, wurde am 13.10.1995 im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels aufgeführt. Sowohl die dramaturgische Gesamtstruktur als auch die Raumkonzeption orientieren sich an den Zahlen vier und sieben. Die Bühne hat Sagerer entsprechend in sieben verschiedene horizontale Schichten unterteilt: Dazu zählt 1. der Abstand eines roten Podests (B: 14 m, T: 2 m, H: 1 m) zur hinteren Raumwand, 2. das rote Podest selbst, 3. ein freier, begehbarer Raum vor dem Podest, 4. ein Graben, der durch das Entfernen der Bodenplatten entstanden ist und in dem sich eine aus Steinquadern bestehende Installation mit der Anmutung einer dicken Mauer von Nikolaus Gerhart befindet, 5. wieder ein freier Raum, 6. die querverlaufenden Zuschauertribünen und 7. der Abstand von den Zuschauertribünen zur Raumwand. Entsprechend sind die vier Vertikalen in den unterschiedlichen Höhen zu finden: 1. Der „Graben“, in dem die Steininstallation steht, 2. der Boden des MarstallTheaters, 3. das rote Podest, auf dem die Vortragenden sitzen und schließlich 4. der Videoturm, mit 16 übereinander gestapelten Monitoren, direkt gegenüber des Zuschauereingangs.128 Auf ihnen laufen synchron die sieben Videofilme, die von Sagerer auf seinen Reisen aufgenommen wurden. Unmittelbar vor dem Videoturm stehen auf dem roten Podest nebeneinander aufgereiht links vom Videoturm vier und rechts davon drei Tische mit Stühlen. An ihnen sitzen, dem Publikum gegenüber, sieben Wissenschaftler – von Sagerer als die „sieben Denker“ bezeichnet – aus verschiedenen Dis-
128 Vgl. Sagerer 1996, S. 7f.
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Analysen ziplinen. Sie hat Sagerer eingeladen, einen Vortrag zu einem Thema ihrer Wahl aus ihrem jeweiligen Wissenschaftsgebiet zu halten und, gegebenenfalls, auf den Assoziationsraum, den der Nibelungen-Stoff bietet, Bezug zu nehmen. Jeder dieser Vorträge, deren Reihenfolge ausgelost ist, ist auf 21 Minuten angelegt und wird, auch wenn noch nicht zu Ende, via Lichtsignal und Videostopp, unterbrochen. Im Anschluss an einen jeden Vortrag haben die übrigen sechs Wissenschaftler je eine Minute Zeit, den jeweils gehörten Vortrag zu kommentieren, ehe mit einem einminütigen Schlusskommentar der Vortragende selbst die Sequenz abschliesst und nach einer Pause von 28 (vier mal sieben) Sekunden der nächste Vortragende beginnt.129 Während der Gesamtdauer der Vorträge ist die Performerin Nina Hoffmann damit beschäftigt, die mit Wachs bedeckte Oberfläche der aus Steinblöcken zusammengesetzten Mauer mit sieben Bügeleisen zu bearbeiten, wodurch das Wachs wiederholt zum Schmelzen gebracht wird. Diesen Vorgang übt sie immer in der Höhe jener Position aus, auf der sich der gerade Sprechende befindet. Die Performerin arbeitet kontinuierlich in ihrem eigenen Bewegungsrhythmus und ist weder an Licht, Video- noch anderweitige visuelle oder akustische Signale gebunden. Mit der Präsentation einer Vortragsreihe, die sich wie eine Art Symposium zum gestellten Thema ausmacht, hat sich Sagerer am weitesten von einer „theatralen Konvention“, die etwa mit dem Verkörpern und Darbieten einer fiktionalisierten Thematik verbunden sein könnte, entfernt. Die Wissenschaftler sprechen als die Personen, als die sie eingeladen worden sind, sie halten Vorträge in den Gebieten, in denen sie ausgebildet und die ihre Forschungsbereiche sind. Auch die Präsentation der Vorträge entspricht genau jenem konventionalisierten Schema, das üblicherweise bei Vortragsreihen oder Podiumsdiskussionen vorherrscht: Die Wissenschaftler sitzen an Pulten, die mit einer Leselampe und einem Namensschild versehen sind. Sämtliche Vortragende lesen – mehr oder weniger frei – vom Manuskript ab. Keiner verlässt das konventionalisierte Schema, das in derartigen Konstellationen geboten ist. Die Frage nach der Theatralität einer solchen Präsentation ist demnach zunächst allenfalls als Frage nach den konventionalisierten und eingeübten 129 Die Vortragenden sind: Regina Becker-Schmidt, Professorin für Psychologie an der Universität Hannover, Klaus Berger, Professor für Theologie an der Universität Heidelberg, Bonny Duala M‘Bedy, Professor für Xenologie am Kaiserwerther Institut für Xenologie in Düsseldorf, Edmund Lengfelder, Professor für Strahlenbiologie an der medizinischen Fakultät der LMU-München, Dietmar Saupe, Professor für Informatik an der Universität Freiburg, Herbert Scheingraber, Professor für Astrophysik am Max-PlanckInstitut Garching und Wolfgang Welsch, Professor für Philosophie an der Universität Magdeburg.
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Theater als Ort der Utopie Verhaltensmustern, die eben auch durchaus inszenatorische Momente enthalten, anzusehen. Ein im Theater „erlaubter“ Verstoß gegen eine solche Konvention würde beispielsweise bedeuten, dass die Vortragenden die Rede verweigern, singend vortragen, ein schlechtes Benehmen an den Tag legen, das Publikum beschimpfen, kurz, im weitesten Sinne ihre Vorträge „inszenieren“. Da all dies ausbleibt, werden die Inhalte der Vorträge formal in der Weise vermittelt, wie sie auch im wissenschaftlichen Kontext geboten ist. Thematisch nehmen alle Vorträge mehr oder weniger stark auf den Konnotationsraum „Nibelungen“-Stoff Bezug: Dietmar Saupes Vortrag widmet sich den Grenzen der Berechenbarkeit und damit den Grenzen der menschlichen Erkenntnis im Bereich der praktischen Mathematik. Aus feministischer und kollektivpsychologischer Perspektive erörtert Regina Becker-Schmidt Ursachen und Wirkungen der Geschlechterdifferenz. Den Gefahren des technischen Fortschritts widmet sich Edmund Lengfelder. Gegenstand von Bonny Duala M’Bedys Vortrag ist die Xenologie, die Fremdheitsforschung. Der Vortrag Klaus Bergers erörtert „Gott und das Böse“. Wolfgang Welsch hält, ausgehend von Nietzsche, ein Plädoyer für „nomadisches Denken“. Der Astrophysikers Herbert Scheingraber schließlich referiert Forschungsergebnisse zur Entstehung von Sternen und dunkler Materie. Da Sagerer den Vortragenden weitgehend freie Hand lässt und sie nicht als Regisseur „inszeniert“, zeigt sich, dass Wissenschaft hier die Funktion einer zeitdiagnostischen Analyse einnimmt, die zudem, weil in einer Theatersituation präsentiert, dem Modus „zweiter Beobachtung“ ausgesetzt ist. Die Art der Inszenierung rückt damit in die Nähe der Konzeptkunst, wobei es in erster Linie darum geht, Ideen und Assoziationen im Produktions- und Rezeptionsprozess mitzuvollziehen und weniger darum, diese auf der visuellakustischen Ebene auszubuchstabieren. Durch die Rahmung im Kontext des „Nibelungenprojekts“ zeigt sich in besonderem Maße, dass auch Wissenschaft den Effekten der Historisierung ausgesetzt ist. Fortschrittsskeptizismus und Fortschrittseuphorie zeichnet dabei die Wissenschaft selbst aus: „Der“ Wissenschaftler fungiert hier als Mahner (Strahlenbiologe), als Fortschrittskritiker (Philosoph), als euphorischer Entdecker (Astrophysiker), als Verteidiger einer Ambivalenz des Fremden (Xenologe), als Kritikerin einer männerzentrierten Kultur (Psychologin) sowie als Befürworter der Transzendenz (Theologe). Die Wissenschaftler führen vor, dass die Konnotation des Nibelungen-Stoffes und seiner modernen Rezeption in derart universellen Themen liegt, die hier als die diskontinuierliche und zugleich immerwiederkehrende Bewegung von Erneuerung und Zerstörung aufscheint. Dabei ist es der konzeptionell begründeten Offenheit geschuldet, dass Sagerer überhaupt die Vorträge von Wis-
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Analysen senschaftlern in den theatralen Kontext zu integrieren vermag. Über eine derartige Transformation soll eine Reflexionsstufe erreicht werden, die sich von der Kritik am System der Wissenschaft (Wissenschaftskritik und Wissenschaftsgeschichte) unterscheidet. Dies hat auch Konsequenzen auf der Ebene der Zeitsemantik. Denn Sagerer läßt die Vortragenden nicht alleine sprechen. Vielmehr stellt er ihnen eine Performerin gegenüber. Sagerers eigener Haltung zufolge „sympathisieren die Denker mit dem Endgültigen und die Performerin mit dem Nomadischen.“130 Diese dichotome Grundhaltung ermöglicht es Sagerer – ähnlich wie bei der projektierten Binarität von „Innen“ und „Außen“ – nicht nur, die Effekte der Kreuzung der beiden Kontexte – Wissenschaft und Theater – szenisch vorzuführen. Eine weitere Perspektivierung wird ermöglicht. Denn während die Performerin ihrem eigenen Zeitmaß folgen und kontinuierlich den immergleichen Bewegungsablauf des „Bügelns“ ausführen kann, werden die Wissenschaftler in ihren Vorträgen durch die strenge Zeitschaltung reglementiert und stellenweise sogar unterbrochen. Mehrmals, d.h., immer dann, wenn die Wissenschaftler mit ihren Vorträgen nicht innerhalb des Zeitmaßes bleiben, sprechen sie im Dunkeln und ohne Mikrofon weiter, ohne dass sie im Publikum noch deutlich zu verstehen wären. Das führt schließlich immer wieder zu nicht vorhersehbaren Selbst-Unterbrechungen der Vortragenden, also zu singulären Ereignissen im Geschehnisablauf. Sie haben keine Gelegenheit, den Gedanken ihres Vortrags oder des Minutenkommentars zu Ende zu führen. Der Zufall wird so von Sagerer in das Konzept des (vermeintlich) „Endgültigen“, das die Wissenschaften auszeichnen soll, transferiert. Dabei handelt es sich allerdings um einen kalkulierten Zufall. Denn der jeweils Vortragende weiß zwar, dass er unterbrochen werden wird. Aber wenn er selbst nicht das Zeitmaß einhält, muss sein Gedankengang für den Rezipienten offenbleiben. Vor allem über die Minutenkommentare wird die Kombination von Reglement und Zufall auf die Spitze getrieben. Das hat wiederum zur Folge, dass, anders als in anderen Vortragsrunden, der Fokus verstärkt auf die habituellen Regeln innerhalb eines Vortragskontexts gerichtet ist. Dies ermöglicht wiederum, dass der zuhörende Teilnehmer selbst auf derartige Regeln zu reflektieren vermag: Verweigert sich ein Wissenschaftler dem Sprechgebot, das der Minutenkommentar aufstellt, wird dies stärker als Verweigerung wahrgenommen, als wenn er im Kontext eines gewöhnlichen Symposiums sich einfach nicht beteiligt. Die Dichotomie „endgültig“ versus „nomadisch“, die metaphorisch die Effekte der Temporalorganisation wiedergibt, wird schließ-
130 Sagerer 1996, S. 12.
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Theater als Ort der Utopie lich auch szenisch virulent. Sie kommt als Darstellungsweise in der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Zeitkonzeptionen – zirkuläre, offene Zeit versus reglementiertes, limitiertes Zeitmaß – zum Ausdruck. Die Kontrastierung von Nina Hoffmanns kontinuierlicher Performance mit der Zeitunterbrechung der Vorträge erhält hier nahezu eine symbolische Bedeutung: Die Seite der Kunst ist es, die buchstäblich kontinuierlich für das Einebnen der Grenzen sorgt, während die Wissenschaft durch die Kunst erst dazu aufgefordert wird – durch Sagerers Zeitregie – mit den Effekten des Zufalls zu operieren. Man könnte soweit gehen zu sagen, dass hier eine Form der Wissenschaftskritik szenisch erprobt wird, wie sie beispielsweise Lyotard und Deleuze innerhalb der Philosophie formuliert haben (vgl. Kapitel II.4.4.4 und II.4.4.5). Die dramaturgische Strategie der Zeitunterbrechung hat, indem sie den Zufall in den Akt der Vorführung einführt, zunächst zwar eine rein formale Konsequenz. Die Vorträge driften, zumindest für einen kurzen Zeitraum von Sekunden, in eine unvorhersehbare Richtung. Sie hat aber auch eine inhaltliche Konsequenz. Dem Reglement steht die offene Zeitkomposition gegenüber. Die Mauer, auf der das Wachs gebügelt wird, steht hier wiederum symbolisch nicht nur für die „Mauer“ der deutsch-deutschen Grenze, sondern für jede Mauer und damit für das Statische schlechthin. Diese Mauer vermag, so ein Interpretations-Angebot, die Kunst zu überbrücken. Hier zeigt sich, analog zu Wagners ästhetischer Utopie, auch bei Sagerer jene moderne Konzeption von ästhetischer Erfahrung, die darin gründet, dass (ausschließlich) ästhetische Erfahrung jegliche Grenzen zu transzendieren und aufzuheben vermag. Dass mit Nina Hoffmann eine weibliche Performerin ihre eigene Performance in die Konzeption von Alexeij Sagerer integriert, erlaubt darüber hinaus eine weitere Perspektivierung als jene, die mit der ausschließlichen Korrelation von Kunst und Wissenschaft verbunden ist. Eine feministische Perspektive gerät über die repetitive Ausübung des Bügelns in den Blick. Nina Hoffmann führt in übertriebener Weise eine typisierte weibliche Alltagshandlung aus und verweist qua Wiederholung und aufgrund des beschränkten Bewegungsmusters auf die Herstellung stereotyper Frauenbilder. Über die Konfrontation der jeweiligen Kontexte – Kunst versus Wissenschaft – hinaus wird damit auch eine geschlechterspezifische Interpretation von gesellschaftlichen und kulturellen Rollenbildern eröffnet: Während den Männern nach wie vor der öffentliche Bereich des Denkens vorbehalten ist – es ist nur eine Wissenschaftlerin zugegen –, bleiben Frauen auf die immergleiche Tätigkeit im privaten Bereich reduziert. Hieraus ergibt sich ein „double bind“, der das Resultat einer Verbindung zweier narrativer Ebenen ist. Der „weiblichen“ Kunst ist es vorbehalten, das „männliche“ Prinzip des Denkens zu
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Analysen durchbrechen, zugleich aber bleibt die Sphäre des Weiblichen nach wie vor auf den nicht-öffentlichen Bereich des Privaten beschränkt. Das Kontinuum des Nibelungen-Stoffes und seiner Rezeption ist nur zum Teil gebrochen. Dadurch ergibt sich sogar ein „triple bind“, denn die Performerin selbst ist Teil des Konzepts von Alexeij Sagerer und nicht umgekehrt. Die Dichotomie, die einst Wagner aufstellte – die Musik als das gebärende, weibliche Element und die Dichtkunst als das erzeugende, männliche Prinzip –, ist, zumindest latent, in dem hier vorgestellten Kontext noch immer virulent.
„Siebenmalvier“ Das Kontrastieren gegensätzlicher Topoi gehört auch zum formalen Inventar des zweiten Teils der Trilogie „Siebenmalvier“, aufgeführt am 14. Oktober 1995 im selben Bühnenbild des Marstall-Theaters. Im Vordergrund steht diesmal ein Konzert mit einer Gruppe ausgewählter (Free-Jazz-)Musiker. „Siebenmalvier“, ist, wie der Titel bereits suggeriert, ebenfalls durch einen strengen Zeitrhythmus strukturiert. Dieser zweite Abend ist in zwei Teile gegliedert, wobei der erste Teil durch ein jeweils sieben-mal-vier-minütiges Video ohne Schwarzbild und der zweite Teil jeweils durch ein sieben-malsieben-minütiges Video – mit einer jeweiligen Trennung von 17 bis 28 Sekunden – aufgeteilt ist. Auch hier verfolgt Sagerer seine ausgeklügelte Zahlendramaturgie, die nun ihre Effekte auf die Improvisation der eingeladenen sieben Musiker zeitigt. Im ersten Teil setzen, nach jeweils vier Minuten, alle Musiker nacheinander ein, ehe sie in den letzten vier Minuten alle zusammen spielen: Andrew Unruh (Schlagwerk), Rüdiger Carl (Akkordeon), Joe Sachse (Gitarre), Martin Schütz (Cello), Dietmar Diesner (Saxophon), Paul Lovens (Schlagzeug) und Tenko (Stimme). Im zweiten Teil spielen die Musiker in umgekehrter Reihenfolge innerhalb von sieben Minuten, wobei die Musik in der Schwarzbildphase – kenntlich gemacht durch Videoschnitt und Lichtsignal – unterbrochen wird und Stille herrscht. Die Performerin Nina Hoffmann ist auch hier wieder präsent. Anders als am Vorabend, an dem sie die Oberfläche der Steininstallation mit Bügeleisen bearbeitete, ist sie nun damit beschäftigt, ihren Körper nach dem Beginn des ersten Videos des zweiten Abschnitts mit flüssigem Wachs mittels eines Tapezierpinsels zu bestreichen. Durch das Erhärten des Wachses wird ihre eigentliche Statur immer mehr verdeckt, bis am Ende weder Gesicht noch Körperkonturen erkennbar sind. Weniger eindeutig inhaltliche und dechiffrierbare Semantiken als am Vorabend stehen nun zur Disposition. Da Musik nicht über eine direkte semantische Valenz wie Sprache oder Bildmaterial verfügt, rückt hier der Aspekt des Konzeptionellen noch mehr ins Zent-
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Theater als Ort der Utopie rum. Der Free-Jazz lebt von der Improvisation und kann seinerseits auf eine Geschichte der Ideologiekritik innerhalb der Musikgeschichte zurückblicken. Entstanden in den USA Ende der 40er Jahre, als erstmals freie Improvisationen auf Platte eingespielt wurden, wurde der Free-Jazz im Umfeld der Fluxus- und HappeningBewegung in den 60er Jahren auch in Europa populär.131 Dem Jazz eignete dabei immer auch eine soziale Komponente. Die Entwicklungen von Jazz und der zeitgleich entstehenden Neuen Musik verliefen dabei keineswegs immer harmonisch. Der Serialismus war eine Weiterentwicklung der Zwölftonmusik Arnold Schönbergs und hatte mit seinen streng durchkomponierten Ordnungsmustern mit Improvisation so gut wie nichts gemein. Im Idealfall repräsentierte die Neue Musik eine „nicht auf repressive[r], verwertungslogische[r] Vermittlung basierende Arbeitsweise“.132 Obwohl die sogenannte New Yorker Schule um John Cage und Morton Feldmann mit dem Prinzip der Aleatorik arbeitete, wiesen die genannten Komponisten die Methode der Musik-Improvisation, wie sie im Jazz praktiziert wurde, entschieden zurück. Doch mit dem Free-Jazz, einer Version des Jazz, die die herkömmlichen Blues- und Songschemata und damit die harmonisch-melodisch festgelegten Strukturen verabschiedete, trat der Jazz in eine neue Phase der Improvisation ein. Statt des gebundenen 4/4-Taktes löste sich das Klangmaterial auf in ein „multidirektionales Pulsieren“.133 Damit erreichte der FreeJazz einen eigenen Zugang zum Geräusch und konnte, aufgrund des ausdrücklich als Gruppenprozess gedachten Spielens, das Musizieren als „sozialen Akt“ begreifen.134 Die Emanzipation der Instrumente von ihren zugeordneten Rollen sowie der Aspekt der Kommunikation sind zentrale Kriterien der Improvisationen des Free-Jazz, die auch bei „Siebenmalvier“ zum Tragen kommen. Durch die Zahlendramaturgie ergibt die Kombination von Reglement und freier Improvisation, anders als bei gewöhnlichen Konzerten, musikalische Ordnungsmuster, die sich als Effekte des vorgegebenen Zeitmaßes bezeichnen lassen. Nach und nach, wie im klassischen Kanon, bei dem die Stimmen zeitlich versetzt zum Einsatz kommen, müssen sich die Musiker in beiden Teilen von „Siebenmalvier“ aufeinander einstellen. Im Gegensatz zum melodisch geprägten Kanon aber entstehen unvorhersehbar kurze melodische Klangfolgen im Zusammenspiel, die ebenso unvorhersehbar von Phasen individuellen Improvisierens abgelöst werden. So werden unterschiedliche Klangfolgen unabhängig voneinander pa131 Vgl. Felix Klopotek: How they do it. Free Jazz, Improvisation und Niemandsmusik, Mainz: Ventil 2002, S. 1ff. 132 Ebd., S. 61. 133 Ebd., S. 63. 134 Vgl. ebd.
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Analysen rallel bishin zum extrem lauten, dissonanten „Klanginferno“ aufgebaut. Das Auseinanderdividieren einzelner Tonfolgen im Akt des Hörens ist hier unmöglich gemacht. Auch hier bildet die Voraussetzung des unmittelbaren Gegenstands „im Vollzug der Tätigkeit“, wie Felix Klopotek das Spezifikum des Free-Jazz beschreibt, „das Material, d.h. das Instrument und seine je spezifischen Eigenschaften, der Musiker und seine persönlichen, sozialen Prägungen und die vielfältigen, daraus sich ergebenden Beziehungen: Musiker/Musiker, Musiker/Instrument, Instrument/Instrument“.135 Die (konzeptionelle) Analogie von Free-Jazz und Performance verdankt sich dabei auch dem hohen Maß von Invarianz und Selbstreferentialität. Die Kategorie des Ereignisses, begriffen als kleinste Zeiteinheit, die semantisch nicht auf eine außer dem theatralen bzw. musikalischen Prozess liegende Ebene verweist, ist bei beiden Kunstformen zentrales Kompositions- wie Strukturprinzip. Tatsächlich wurde die Analogie der „Bewusstsein transzendierenden“ Tätigkeit des Free-Jazz und der Malerei des Abstrakten Expressionismus bereits beschrieben. In beiden Kunstformen gehe es, so Thomas Mießgang, nicht um ein streng rationales, a priori festgelegtes Handeln, sondern um eine „emotionale Selbstausstülpung jenseits rationaler Kontrollinstanzen“ und eben um den „Schaffensakt der Augenblickssituation“.136 Bei „Siebenmalvier“ geht es allerdings nicht ausschließlich um einen Bewusstsein transzendierende Tätigkeit. Sagerer will, über die Integration von Free-Jazz-Musik in den Kontext von Wagners „Götterdämmerung“ eine weitere ideologiekritische Funktion ausagieren. Die Stimme, als Autorkommentar verstanden, soll „high“- und „low“- Culture kontrastieren. Damit wird nicht nur (implizit) auf die musikhistorische Entwicklung verwiesen, sondern auch auf die soziale Funktion, die Musik im Kunstkontext einnimmt. Beide Musi-
135 Ebd., S. 15. 136 Thomas Mießgang: „Kann ein Bild improvisiert werden? Über Free Jazz, automatische Saxophone, Jack the Dripper, Materialaktionen und letzte Lockerungen“, in: Wolfram Knauer (Hg.): Improvisieren … Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 8, Hofheim: Wolke 2004, S. 101-111, S. 106. Was nicht heißen sollte, dass der Free Jazz überhaupt keine Ordnungsmuster aufweist. Wolfram Knauer hat Grundregeln des Free-Jazz zusammengefasst: dazu zählt er die Strukturierung von Großphasen durch den Atem, die Erzeugung emotionaler Spannung durch Lautstärke, Dynamik und eine Steigerung rhythmischer Elemente, bedeutungstragende Verweise auf die Jazzgeschichte, auf andere Musiker oder die eigene Entwicklung sowie Dialoge zwischen den Musikern, bezeichnet als „calland-response-patterns“. Vgl. Wolfram Knauer: „Jazz – Sprache – Texte – Lyrik“, in: Ders. (Hg.): Jazz und Sprache – Sprache und Jazz, Darmstadt: Jazz-Institut Darmstadt 1997, S. 3-4, S. 3.
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Theater als Ort der Utopie ken fungieren jeweils auch als Distinktionsmerkmale einzelner gesellschaftlicher Gruppen. Wagners „Ring“ ist immer noch einer „Höhenkammkunst“ zuzuordnen, mit der wiederum auch repräsentative Zwecke verbunden werden. Der Free-Jazz ist seinerseits ein Distinktionsmerkmal, das durchaus im Widerspruch zur „Höhenkammkunst“ stehen kann. Die Strategie der Ideologiekritik erfolgt damit nicht allein über das Free-Jazz-Konzert „Siebenmalvier“, sondern über den Modus der Narration, d.h. über die Integration des Free-Jazz in den ideellen Kontext der „Götterdämmerung“ und damit über die Kontrastierung beider Musik-Welten. Faktisch erhält in „Siebenmalvier“ die „freie“ Musik eine Reglementierung durch das vorgegebene Zeitmaß. Eine programmatische Kontrastierung von Gegensätzen wie im ersten Teil erfolgt allerdings nicht über die Musik, sondern aufgrund der Kontrastierung von akustischer und visueller Ebene. Die „freie“, fließende Musik wird konterkariert durch das Starrwerden, das Statische der Wachsskulptur Nina Hoffmanns, die somit ihrerseits auf die Performance des Vorabends zurückverweist. Die feministische Perspektive erhält somit eine neue Komponente, die nicht nur eine Kritik an erstarrten Rollenmustern – wie im ersten Teil – sondern an Körperbildern der Frau impliziert. Die Aktion wird zur visuellen Metapher, die, aus feministischer Perspektive, für die „Ortlosigkeit“ der Frau im gesellschaftlichen Diskurs steht. Die Veränderbarkeit des Aggregatszustands von Wachs unter Wärmeeinwirkung verweist hier allerdings auch auf die Möglichkeit, Identitäten zu wechseln: sie ist eben nicht a priori festgelegt, sondern auch Resultat äußerer, kultureller wie historischer, Einwirkungen. Obwohl sich die Performance gegen die Darstellungskonventionen im Theater der Repräsentation richtet, gehören derartige Darbietungen inzwischen selbst zum konventionalisierten Inventar des Performance-Theaters. Wie die Performance-Studien, die sich unter anderem auf die poststrukturalistischen Schriften von Deleuze und Lyotard berufen, herausgearbeitet haben, sollen Performances, die mit dem Shifting von Körperbildern arbeiten, zeigen, dass es keine festlegbaren und festgelegten Körperbilder gibt bzw. – dem moralischen Impetus gemäß – geben soll. Masochistische Performances als Teil der feministisch orientierten Performance, folgten dabei nicht nur, wie Katrien Jacobs gezeigt hat, dem ästhetischen Impetus von „anti-art“, „[which] breaks up the teleological plans and tasks to perform“.137 Über die masochistische Performance, als die auch jene von Nina Hoffmann angesehen werden kann, notiert Jacobs: „The body constantly interrupts the subject’s goal oriented sexuality, rewriting it as an open-ended and
137 Katrien Jacobs: „Masochism in Maria Beatty‘s Pornography,“ in: L. v. d. Dries: Body Check, S. 13-33, S. 28.
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Analysen performative category. […] the ‚other‘ as object of desire deranges the physical order, harmony and industry of the subject. The body gets thoroughly confused as it is approached through diverse organs, zones, surfaces which are jealous of one another and want to get aroused […] not simply by pleasure but also through force and the energy of pain.“138 Auch in Sagerers Konzeption zeigt sich damit der Modus poststrukturalistisch orientierter Ideologiekritik, wie er in sämtlichen gegenwärtigen Performance-Konzepten virulent ist. Das ideologiekritische „fluide“ Spiel mit Anti-Körpern, von dem Katrien Jacobs spricht, steht nicht zuletzt deshalb im Zentrum des letzten Abends der Trilogie.
„Endgültig“ „Endgültig“, aufgeführt am 15. Oktober 1995 im Marstall-Theater, ist die Produktion, die am ehesten als Performance im „klassischen“ Sinne zu bezeichnen ist. Die Bühne ist diesmal ein wenig verändert. Links und rechts vom Videoturm sind nun zwei L-förmige Podeste aufgestellt, deren Längsseiten wie Laufstege in Richtung Zuschauertribüne ausgerichtet und deren Querseiten jeweils rechts und links parallel zum hinteren Bühnenrand errichtet sind. „Endgültig“ korreliert das Ende des Plots des „Nibelungenliedes“ mit dem von Wagners „Götterdämmerung“. Hierfür fungieren drei Schauspieler (Matthias Hirth, Lara Körte, Lukas Miko) als Stellvertreter unterschiedlicher Motivlinien. Strukturiert ist „Endgültig“ durch die Videos, die Sagerer auf seinen Reisen zu den sieben deutschen Himmelsrichtungen Tunis, Normandie, Kreta, Narvik, Sankt Petersburg, Wolgograd und Krim, aufgenommen hat. Sieben mal sieben Minuten dauern die einzelnen Sequenzen mit einer dazwischenliegenden Pause von jeweils 20 Sekunden. Anders als bei „Nomaden und Helden“ und bei „Siebenmalvier“ handelt es sich um sieben in sich geschlossen inszenierte Sequenzen. Zur Musik des Trauermarsches aus Wagners „Götterdämmerung“, ein Orchesterzwischenspiel, das nach der Ermordung Siegfrieds durch Hagen den Untergang anzeigt, nehmen auf dem linken und rechten Podest die Musiker (Dietmar Deisner am Saxophon, Matthias Hirth als Stimmakrobat) ihren Platz ein, während sich zwischen den Podesten die beiden Schauspieler Lukas Miko und Lara Körte positionieren. Lara Körte im Brautkleid ist als Kriemhild ausgewiesen, während Lukas Miko in Armeemantel und Fliegermütze aus dem Zweiten Weltkrieg mit Krückstock als (kriegsversehrter) Hagen ausgewiesen wird. Lediglich in den ersten beiden Sequenzen „Tunis“ und „Normandie“ und der vorletzten Sequenz „Wolgograd“
138 Ebd., S. 29.
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Theater als Ort der Utopie erfolgt eine explizite Zitation des Endes des „Nibelungenliedes“ und von Wagners „Götterdämmerung“. Die kurze Dauer der Sequenzen erlaubt nur eine sehr pointierte Auswahl der einzelnen Prätexte und Musiken, die auf der Ebene des Bewegungsablaufs der Darsteller durch deren äußerst geringen Aktionsradius ergänzt ist. Die Haltung der Akteure ist weitgehend statisch, es finden fast keine Positionsveränderungen statt. Die ersten Worte Lukas Mikos verweisen auf Hagens Rolle aus dem „Nibelungenlied“ – “Jetzt Kriemhild, weiß niemand mehr um den Hort als Gott und ich und Gott ist nicht verschwiegener als ich.“ Kriemhild nimmt daraufhin das Schwert entgegen, das ihr Matthias Hirth als Etzel in bayerischer Lederhose vom Podest herunter überreicht und erhebt es gegen Hagen/Lukas Miko. Doch erst in der zweiten Sequenz wiederholt sie viermal symbolisch die Bewegung des Erschlagens von Hagen mit dem Schwert. Hagen/Lukas Miko versucht den angedeuteten Schlag mit seinem Krückstock wiederholt abzuwehren, ehe er sich auf den Boden legt, gefolgt vom wiederholten SichWiederaufrichten, so lange, bis er schließlich ganz liegen bleibt. Begleitet sind die beiden Sequenzen zum einen von der Improvisation des Saxophonisten Dietmar Deisner und zum anderen von den „Hoiho“-Rufen Matthias Hirths. Während Deisner dem Instrument keine melodischen Klangfolgen, sondern laute, staccato-artige und aggressiv wirkende Geräusche entlockt, die anmuten wie ein Luftballon, aus dem Luft entweicht, wiederholt Hirth mehrmals die „Hoiho“-Rufe, die in der „Götterdämmerung“ Hagen und den „Mannen“ zugeordnet sind. Bereits in diesen ersten beiden Sequenzen wird deutlich, dass es über die Korrelation der verschiedenen Motivlinien um das Angebot verschiedener Perspektivierungen sowohl auf der Ebene der Figuren wie der gesamten Narration gehen soll. Matthias Hirth, ausgewiesen als Etzel, der im Original ohne willentliche Absicht Kriemhild zum Mord an Hagen verhilft, ihren Racheplan zu verwirklichen (symbolisiert durch die Schwertübergabe), verkörpert zum einen den Themenkomplex des „Nibelungenliedes“. Hirths „Hoiho“-Rufe verweisen aber ebenso auf die Figur des Hagen aus Wagners „Götterdämmerung“. Die als Kriemhild ausgewiesene Lara Körte, die Hagen ermordet, wird über die Musikeinspielung des Trauermarsches zur rächenden Brünnhilde aus der „Götterdämmerung“ (wobei in der „Götterdämmerung“ Hagen in den Rhein gezogen und nicht von Brünnhilde ermordet wird). Lukas Miko als Hagen in der Uniform eines Kriegsversehrten aus dem Zweiten Weltkrieg nimmt wiederum eine Stellvertreterfunktion anderer (historischer) Reichweite ein. Er steht als pars pro toto für sämtliche Soldaten und Krieger aus dem Zweiten Weltkrieg, deren Ziel Eroberung und Landnahme gewesen war. Die beiden „Nibelungen“- Bearbeitungen sind über die visuel-
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Analysen len Signale – Kostüm und Bewegungsablauf – ineinandermontiert und verweisen durch die hohe Frequenz des immergleichen Bewegungsablaufs und des Gesangs (viermaliger Schwertschlag, wiederholte „Hoiho“-Rufe) auf das historische Kontinuum von Eroberung und Leid sowie auf die damit verbundene Heldenerzählung in den Nibelungen-Stoffen. Mit der Verschränkung der beiden narrativen Ebenen tritt auch der Autorkommentar, die Erzählinstanz als Stimme, ins Zentrum der Wahrnehmung. Mit dieser Inszenierung ermöglicht Sagerer nämlich nicht nur, auf die Ursprungslosigkeit und die immerwiederkehrende Neuschreibung des Mythos hinzuweisen. Zugleich wird durch die Kombination der unterschiedlichen narrativen Ebenen verdeutlicht, dass sich die Nationalsozialisten ihrerseits zur Legitimation ihrer Taten auf den historischen Mythos berufen haben. Die Legitimierung der eigenen Zeit basiert auf der Kontinuität der Mythenbildungsprozesse, zu denen eben, neben dem „Nibelungenlied“ auch Richard Wagners „Ring“ zu zählen ist. In der vorletzten Sequenz, in der Matthias Hirth den gesamten Schlussmonolog Brünnhildes aus der „Götterdämmerung“ mit immer lauter werdender Stimme ins Mikrofon spricht, ist der konkrete Bezug zur Realität noch auf einer weiteren Ebene re-zitiert. Hier allerdings geht es nicht allein um die Neukontextualisierung im Sinne der oben erwähnten Ideologiekritik. Denn Sagerer reintegriert zusätzlich die Verse Brünnhildes – „Verging wie ein Hauch / der Götter Geschlecht, / laß’ ohne Walter / die Welt ich zurück: / meines heiligsten Wissens Hort / weis’ ich der Welt nun zu. – / Nicht Gut, nicht Gold, / noch göttliche Pracht; / nicht Haus, nicht Hof, / noch herrischer Prunk; / nicht trüber Verträge / trügender Bund, / nicht heuchelnder Sitte / hartes Gesetz: / selig in Lust und Leid / lässt – die Liebe nur sein“139 –, die Wagner einst aus der zweiten Schlussfassung gestrichen hatte. Die Wiederaufnahme der getilgten Stelle verweist wiederum auf den komplexen Entstehungsprozess des „Rings“, und vor allen Dingen auch auf die wechselnden philosophischen Bezüge, von denen der Entstehungsprozess des Werkes einst geprägt war. Jene Zeilen schrieb Wagner unter dem Einfluss der Philosophie Ludwig Feuerbachs. Dessen geschichtsphilosophisches Telos gründete in der Vorstellung, dass die Liebe die allversöhnende Kraft darstelle. Später, im Jahr 1856, strich Wagner, nun beeinflußt von der Philosophie Arthur Schopenhauers, diese Stelle zugunsten einer eher resignativen Weltsicht, in der Liebe angesehen wird als zerstörerische Macht. Aus dieser blinden Tragik führe, im Sinne Schopenhauers, allein die Selbstverneinung. Wagner komponierte weder die von Feuerbach noch die von Schopenhauer geprägte
139 Richard Wagner: Götterdämmerung, in: Ders.: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 6, Leipzig: s.n. 1872, S. 254f.
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Theater als Ort der Utopie Textversion, sondern, wie Carl Dahlhaus notierte, am Ende eine Fassung, die zwar beide Weltsichten vereinte, tendenziell aber eher geschichtsphilosophisch-utopisch als existenzphilosophisch-resignativ ausgerichtet war.140 Sagerers Zitation dieser im Geiste Feuerbachs entstandenen Strophen stellt also auch den Aspekt der Erlösungsfunktion der Liebe in einen neuen Kontext, wodurch auf der szenischen Ebene die Frage nach der Funktion von Liebe neu gestellt wird. Matthias Hirths immer lauter und schriller werdender Vortrag wird mit dem simultan ablaufenden Kleidertausch der nun als Liebespaar ausgewiesenen Darsteller Lukas Miko (Siegfried) und Lara Körte (Brünnhilde) kontrastiert. Die Erlösungsfunktion von Liebe ist über Hirths schrillen Gesang jedoch gestört. Zugleich vermittelt der Kleidertausch, dass nicht unbedingt der Mann den Opfertod sterben muss, um das mythische Bild des Helden zu prägen, und dass nicht unbedingt die Frau es sein muss, die das Opfer bringt, um als Wissende aus dem tragischen Geschehen hervorzugehen. Über den Kleidertausch wird auf die historische Entwicklung von Rollenbildern verwiesen. Wagners männerzentrierte Weltsicht, die weder in der einen, noch in der anderen Fassung revidiert wurde, hält der historisch-ästhetischen Überprüfung nicht mehr stand. In den genannten drei Sequenzen geht es mit der reduktionistischen Darstellung des kleinsten gemeinsamen Nenners der beiden Nibelungen-Bearbeitungen vor allem um die Neukontextualisierungen des Nibelungen-Stoffes im Sinne einer ideologiekritischen Auseinandersetzung. In den Sequenzen Kreta und Narvik werden zusätzliche Perspektivierungen geschaffen, die selbstreferentiell (konventionalisierte) Modi von Darstellung und Narration aufgreifen. In der Sequenz Kreta wird mit dem Darstellungsschema des Vortrags – die drei Schauspieler sprechen stehend „ad spectatores“, ins Mikrofon – vor allem auf die Gesetze medialer Repräsentationsweisen rekurriert. Lara Körte und Lukas Miko sprechen, während sie aus Untersicht gefilmt werden und die Aufnahme auf die hintere Bühnenwand projiziert wird, einen von Sagerer verfassten Text über die Herstellung von Liebesfilmen. „Körte: Ja, wir wollen anbieten. Miko: Ein Angebot machen. Körte: Den Versöhnungsgedanken mithereinnehmen. Miko: Einen deutschen Film. Körte: Ja, schon einen deutschen Film, aber ... Miko: Einen neuen deutschen Film, der eben nicht zugeknöpft ist, sondern offen, weltoffen.
140 Vgl. Carl Dahlhaus: „Über den Schluß der ,Götterdämmerung‘, in: Ders.: Richard Wagner. Werk und Wirkung, Regensburg: Bosse 1971, S. 97-125.
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Analysen Körte: Einen schmutzigen, den kleinen deutschen schmutzigen Film. Miko: Und die deutsche Kömdie. […] Miko: Den harmlosen Film. Den kleinen deutschen Unterhaltungsfilm. […] Beide: Die Frau nicht mehr als Rächerin, sondern als die Frau, die ihre Initiative nutzt, um den Mantel aufzuknöpfen und den schwarzen Mann zu umarmen.“
Die Kameraperspektive, aus der die beiden gefilmt sind, ergibt eine ikonische Anspielung auf die Konvention der Heldendarstellung im Nationalsozialismus, die in der Darstellungskonvention des Liebesfilms der 50er Jahre wiederkehrt. Der Text bildet hier einen Kontrapunkt zum Bild und ist als Kommentar ein Mittel nicht nur der Ideologie- sondern auch der Medienkritik. Die Darstellungskonventionen im Unterhaltungsfilm sind, so die Matrix, auf die sich die Kritik bezieht, an den dramaturgischen Gesetzen einer linear ablaufenden Handlung orientiert, die, besonders im Unterhaltungsfilm der 50er Jahre, auch eine restaurative Funktion innehatte. In der folgenden Sequenz wird der Verweis auf die Vergangenheit, wie er über das Filmstill von Körte/Miko aufgerufen ist, um einen Metakommentar über die gegenwärtige Situation der Filmherstellung allerdings noch erweitert. Matthias Hirth spricht hier als Stellvertreter eines Regisseurs einen Kommentar, der damit eine autobiographische Notiz des Regisseurs Sagerer zu camouflieren vermag: „Hirth: Ich will einen Film über Verführung machen. Das heißt, eigentlich will ich einen verführerischen Film machen, aber wer kann sich das schon trauen, hier, also einen Propagandafilm machen. Ein Propagandafilm ist möglich. Ein Propagandafilm für den Unterhaltungsfilm, natürlich für den deutschen Unterhaltungsfilm. Ja, Unterhaltung darf sein, hier in Deutschland, wahrscheinlich auch anderswo, aber vor allen Dingen hier in Deutschland und nicht nur als Propagandafilm für Unterhaltung, sondern einfach als Unterhaltung. […] Zwar hat auch niemand Unterhaltung auf dem Theater verboten, aber die Unterhaltung darf jetzt auch auf dem Theater stattfinden. […] Und so haben wir uns entschlossen doch einen Verführungsfilm zu machen, also wahrscheinlich eine neue Filmgattung, da wir nicht wissen, ob es den Verführungsfilm bereits gibt und ob ein Unterschied zwischen einem Verführungsfilm und einem Propagandafilm überhaupt existiert. […] Wir wissen daher auch nicht, ob Einblendungen von Konzentrationslagern, von Kriegsgebäuden, von zerbombten Städten oder Massengräbern in einem Verführungsfilm überhaupt möglich ist.“
Über das visuelle Zitat von Darstellungskonventionen des restaurativen Heimatfilms der 50er Jahre – erkennbar etwa anhand der Filmplakate von „Grün ist die Heide“ (D, 1951), „Und ewig singen die Wälder“ (A, 1959), „An heiligen Wassern“ (CH, 1960) – und über die gesprochenen Kommentare, die um die Frage nach der Möglichkeit der Darstellung von Liebe in Liebesfilmen kreisen, soll implizit auf die Gesetze heute noch gültiger Erzähl- und Darstellungskonventionen im Unterhaltungsfilm verwiesen werden. Zusätzlich wird 391
Theater als Ort der Utopie über die textuelle Kombination von Liebesfilm- und Propagandafilm suggeriert, dass sich die Modi der Darstellung und Narration seit dem Nationalsozialismus nicht gravierend geändert haben. Virulent wird also keineswegs allein eine historisch orientierte Textkritik, sondern eine gegenwartsbezogene Kritik an ideologischen Darstellungskonventionen. Die Ideologiekritik ist allgemeinerer Art und reflektiert auf die Gesetze „affirmativer“ Repräsentation. Sagerer will szenisch die provokante These vorführen, dass sich die Motive des Geschichten-Erzählens seit dem „Nibelungenlied“ mit den Themenkreisen Liebe, Rache, Eroberung und Gewalt nicht gravierend gewandelt haben, und dass sich ideologische und affirmative Darstellungskonventionen bis heute halten konnten. Repräsentation wird verstanden als Affirmation. Sagerer unterlegt den Wandel der historischen Wirklichkeit der Neukontextualisierung des Nibelungen-Stoffes und setzt entsprechend auch die politischen Ereignisse der Gegenwart ins Zentrum seiner Bearbeitung. Die Dimension des Fiktiven („Nibelungenlied“) und des Faktischen (Eroberungsfeldzug der Nationalsozialisten) wird in der Sequenz Narvik um den zeitgeschichtlichen Bezug der deutsch-deutschen Wiedervereinigung erweitert. Der Weg vom Westen in den Osten, wie im „Nibelungenlied“ von Worms über das Donauland nach Wien beschritten und wie ihn auch die Nationalsozialisten auf ihrem Eroberungsfeldzug getätigt haben, findet, so der programmatische Gestus der Performance, einen Widerhall in der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland im Jahr 1990. Sagerers ästhetischer Strategie gemäß ist einem Nationalbewusstsein aufgrund der deutschen Historie grundsätzlich mit Skepsis zu begegnen. Entscheidend hierfür ist die dramaturgische Funktion der akustischen Ebene. Neben der Kontrastierung von Deisners Saxophon-Improvisation mit dem Trauermarsch aus Wagners „Götterdämmerung“ werden auch hier in viermaliger Wiederholung sukzessive ein Reportagebericht mit Auszügen aus der Rede des damaligen Bundespräsidenten Friedrich von Weizsäcker anläßlich der Feierlichkeiten zur deutschen Wiedervereinigung, das Singen der deutschen Nationalhymne, Geräusche von Feuerwerkskörpern und Kirchengeläut eingeblendet: „Berlin, die Nacht vom 2. auf den 3. Oktober. Deutschland ist wieder Eins. ‚Wir wollen in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen.‘ Der Bundespräsident faßte in einem Satz die Verpflichtung der Deutschen zusammen. Bei den Menschen löste dieser Tag der Deutschen Einheit keinen nationalistischen Jubel aus, sondern eher nachdenkliche Freuden. […] In wenigen Augenblicken tritt die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik Deutschland bei. Damit erreichen wir Deutschen die Einheit in Freiheit. Es ist ist eine Stunde großer Freude, es ist das Ende mancher Illusionen und es ist ein Abschied ohne Tränen.“
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Analysen Simultan hierzu fungieren Lara Körte und Lukas Miko als Liebespaar, das nicht zueinanderfinden kann. Beide stehen getrennt auf dem jeweils linken und rechten Podest, winken sich zu und laufen nach den Worten „es ist ein Abschied ohne Tränen“ aneinander vorbei, ehe sie jeweils den Platz des anderen wieder einnehmen, ohne sich allerdings wirklich begegnet zu sein. Ebenso wie die Möglichkeit einer allesvereinenden Liebe wird die Möglichkeit einer alles vereinenden nationalen Identität in Zweifel gezogen. Die Schlusssequenz unter dem Titel „Krim“ übernimmt schließlich die Funktion einer Mahnung für die Gegenwart. Es gibt keine Elemente einer szenisch ausgestalteten Spielhandlung mehr. Zum Trauermarsch aus Wagners „Götterdämmerung“ und zur kontrastiv eingesetzten Saxophon-Improvisation Deisners stellen sich im Verlauf der sieben Minuten sukzessive immer mehr Statisten „ad spectatores“ auf die Bühne, während Lukas Miko und Lara Körte in den getauschten Kleidern einen langsamen Walzer tanzen. Der intertextuelle Verweis auf den Untergang im „Nibelungenlied“ und die „Götterdämmerung“ wird damit insgesamt zur Warnung und Kritik eines allzu mythisch überhöhten Nationalbewusstseins, das, wie der Reportagetext selbst verkündet, am Tag der deutsch-deutschen Wiedervereinigung ohnehin gespalten aufgenommen wurde. Eine kohärent erzählte Geschichte, im Sinne einer linear ablaufenden Handlung, leistet, Sagerers Impetus gemäß, einer Neubefragung dieses bedeutungsschwangeren und in der Vergangenheit belasteten Stoffes, nicht Genüge. Die reglementierte Zeitstrukturierung, die einem anderen Ordnungsmuster als eine sukzessive Handlungsfolge verpflichtet ist, soll dabei zeigen, dass unterschiedliche formale Strukturprinzipien durchaus auch unterschiedliche Kohärenzen herzustellen vermögen. D.h., der ideologiekritische Impetus soll auch auf der Gestaltung der formalen Ebene vermittelt werden. Die Kreuzung unterschiedlicher, dichotomer Ebenen – wie etwa „Innen“ versus „Außen“, „Endgültig“ versus „Nomadisch“, „Kunst“ versus „Wissenschaft“ – bildet dabei die Basis all dessen, woraus sich die umfassende Kritik erst formulieren lässt. Der Gedanke des Gesamtkunstwerks, wie ihn einst Richard Wagner projektierte, soll in einem neuen Licht erscheinen. Die Idee des Gesamtkunstwerks ist nicht einer allumfassenden Synthese der einzelnen Künste geschuldet, die die Funktion übernehmen sollen, jeweils füreinander einzustehen. Vielmehr soll mittels des Einsatzes unterschiedlicher Medien und Künste eine multiperspektivische Narration erreicht werden, deren Kohärenz sich gerade über die Auflösung des konventionell mimetischen Repertoires ergibt. Sagerers Repräsentationskritik geht hier konform mit einer Repräsentationskritik, wie sie auf theoretischer Ebene die Philosophen des Poststrukturalismus entworfen haben. Die alternative Zeitdra-
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Theater als Ort der Utopie maturgie mit den Zahlenrhythmen vier und sieben, Ausdruck der Negation von psychologisch motivierten Erzählmustern, offenbart dabei die Idee eines Gesamtkunstwerks im Zeitalter einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Erfahrungsgesättigt und das Pathos eines Richard Wagners kritisch reflektierend ist es als nicht weniger utopisch zu verstehen als der offen dargebotene ideologiekritische Impetus, der mit der Apologie der Präsenzästhetik verbunden wird. Er gehört inzwischen zum festen ästhetikoteleologischen Inventar postdramatischer Theaterästhetik, die trotz anderslautender Beteuerungen selbst das Telos einer hierarchisch übergeordneten Ästhetik – nämlich gegenüber der Ästhetik der Repräsentation – fortschreibt.
VI.4 Station House Opera: „Roadmetal, Sweatbread“ – Von der Ungleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen oder die Liebe als (Nicht(Nicht - )Wunscherfüllungsmaschine VI.4.1 STATION HOUSE OPERA: THEATER MIT HINDERNISSEN Station House Opera ist eine englische Gruppe, die eine ähnliche Startphase wie Forced Entertainment durchlebte, jedoch bereits vier Jahre früher, 1980, ins Leben gerufen wurde. Inzwischen kann Station House Opera auf über 30 Produktionen zurückblicken.141 Julian Maynard Smith, heute noch Kopf der Gruppe und letztes Mitglied aus jener Zeit, schloss sich bereits im Jahr 1975 als Student der Middlesex Polytechnic der Performance-Gruppe um Anthony Howell „The Theatre of Mistakes“, an. 1980 separierten sich Maynard Smith und Miranda Payne mit fünf weiteren Mitgliedern und eröffneten ein neues Theater in einem „station house“ an der Westküste von Cumbria.142 Station House Opera begann schon in den ersten Arbeiten damit, sich nicht an vorgegebenen Texten zu orientieren, sondern, wie auch bei den bereits beschriebenen Performance-Gruppen, neue Darstellungsformen über Improvisation zu entwickeln. Bereits in „Drunken Madness“ (1981) war erkennbar, dass es den Performern um eine dramaturgische Konzeption ging, die nicht auf das sukzessive Voranschreiten eines linearen Handlungsgangs ausgerichtet war. Die Gruppe folgte vielmehr der selbstaufgestellten Devise des
141 Vgl.: http://www.stationhouseopera.com am 25.09.2009. 142 Vgl. Sarah Kent: „An Act in Several Parts. The Work of Station House Opera“, in: Nicky Childs/Jeni Walwin (Hg.): A Split Second of Paradise. Live Art, Installation and Performance, London, New York: Rivers Oram Press 1998, S. 117-135, S. 117f.
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Analysen „flow“. Maynard Smith vertritt eine Ästhetik, in der die Gegebenheiten der Umgebung in den Produktionsprozess direkt miteinbezogen werden sollen. Das bedeutet, dass die Korrelation von Ideen mit den je gegebenen Gegenständen den szenischen Akt einer permanenten Veränderung unterziehen. Maynard Smith notiert: „Everybody has a different idea of what the structure is […]. Naming the structures was useful as a way developing the narrative: but this is not a big story, there’s no coherent thread. Fragments are set up and abandoned or transformed; someone sits at a writing desk which then becomes a prison. One situation metamorphoses into another.“143 Wie auch Forced Entertainment und Jérôme Bel geht es Station House Opera um das Miteinbeziehen von Ereignissen und Begebenheiten des Alltags, um die Erkundung von Gegenständen und ihrer Funktionsweisen, die im Alltag meist unberücksichtigt bleiben. So werden bei „Drunken Madness“ die Funktionsweisen der Schwerkraft ausgelotet. Dafür wurden vier Tisch-und-Stuhl-Arrangements an Seilen übereinandergehängt, so dass deren Gleichgewicht schon in dem Moment außer Kontrolle geriet, in dem sich nur einer der an den jeweiligen Tischen sitzenden Performer bewegte. Auch die Integration von Architektur und städtebaulicher Umgebung ist bei einigen Produktionen Station House Operas von zentraler Bedeutung. Maynard Smith hat selbst Architektur studiert. Demgemäß versteht er Gebäude als Gegebenheiten, denen sich der Performer zu stellen hat. Es können also nicht, wie in einem geschlossenen Theaterbau, Bühnenbilder geschaffen werden, die man den eigenen Bedürfnissen anpasst. Dramatisches Potential zieht Station House Opera aus der umgekehrten Verbindung. Die Frage lautet: Was geschieht, wenn ein Performer sich mit den „sitespecific“-Gegebenheiten eines Gegenstandes bzw. eines Gebäudes oder einer Umgebung auseinandersetzen muss? In der Produktion „Dresdenn nn rrrrrr“ (1996) etwa, einer Produktion, die als Ausarbeitung von „The Bastille Dances“ aus dem Jahr 1989 gilt, ist der Platz vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche Darstellungsort der Performance. Die Kirche, ehemals größte protestantische Kathedrale Europas, im Zweiten Weltkrieg von den Alliierten zerstört und zum Zeitpunkt der Performance noch nicht wiederaufgebaut – ist selbst derart geschichtsträchtig, dass sie den Zuschauer dazu einladen soll, die metaphorische Dimension der Performance mitzuvollziehen. Maynard Smith notierte hierzu: „In Germany building a wall takes on political significance […] but the piece does not have a single meaning.“144 Bereits in „The Bastille Dances“, einer Performance, die sich mit der Französischen Revolution von 1789 auseinander-
143 Zitiert nach: Ebd., S. 120. 144 Zitiert nach: Ebd., S. 123.
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Theater als Ort der Utopie setzte, ging es nicht um politische Botschaften allein. Die Performer agierten in einem Raum, bestehend aus 8000 insgesamt 40 Tonnen schweren Betonklötzen. Diese fungierten als raumkonstituierende Bausteine, etwa für den Bau einer Mauer, ebenso, wie als bewegliche Hindernisse und Möbelstücke für die Performer. Wie das Porträt der Gruppe von Sarah Kent veranschaulicht, sieht Maynard Smith eine der zentralen Arbeitsweisen seines Theaters darin, Momente des Dramatischen und Aspekte der Narration über die Begegnung von Dingwelt und Performer sowie von Performer und Performer herzustellen. Die Improvisationsarbeiten sollen dazu führen, dass immer wieder neue Lösungen, andere Wege der Darstellung gefunden werden müssen als jene, die man durch einen vorgegebenen Stücktext zu bewältigen hat. In „Cuckoo“ (1987) etwa werden gewohnte Umgangsweisen mit Gebrauchsgegenständen wie Stuhl, Tisch und Teppich umgangen. Die Performer finden sich am Ende der Aufführung entweder festgenagelt an einzelnen Möbelstücken oder an der Decke hängend wieder. Wie die anderen Gruppen hat sich auch Station House Opera die Zuwendung öffentlicher Gelder durch konsequent und eigenwillig gestaltete Projekte erarbeitet. 1987 erhielt Station House Opera für die Produktion „Cuckoo“ erstmals Unterstützung durch das Arts Council of Great Britain, so dass für zukünftige Arbeiten finanzielle Sicherheit gewährleistet war. Inzwischen ist Station House Opera Mitglied des Netzwerks Artsadmin, das 1979 ins Leben gerufen wurde, um gemeinsame Interessen einzelner Künstler zu vertreten. Artsadmin versteht sich als „management service“ und unterstützt Künstler wie Bobby Baker, Rose English, Keith Khan und Gary Stevens.145 Nicht zu übersehen ist somit auch bei Station House Opera der ästhetische Impetus, der sich gegen ein Theater der Repräsentation richtet. „Not acting“ lautet das Verdikt, mit dem Sarah Kent die Arbeitsweise der Gruppe beschreibt.146 Dabei stößt man auch hier auf allzu bekannte, fast schon stereotyp anmutende Formulierungen, mit denen sich Station House Opera in das Kontinuum einer als avantgardistisch bezeichneten Theaterpraxis auf Theorieebene einordnen lässt: „In traditional theatre, interactions are predetermined and governed by narrative; here the absence of a coherent storyline or any character development allows genuine feelings to evolve. The surfacing of actual tensions in real time, rather than their exploration in fictional space and time, is one of the most important and most problematic aspects of performance art. The cathartic excesses
145 Vgl. Judith Knight: „Artsadmin“, in: N. Childs/J. Walwin: A split second of Paradise, S. 9. 146 Vgl. S. Kent: An Act in Several Parts, S. 121.
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Analysen of theatre are replaced by the subtler realities of human motivation and interaction.“147 Dass die Korrelation unterschiedlicher Medien gerade dazu führt, nicht nur „Repräsentation“ zu verweigern, sondern vielmehr traditionelle Funktionsweisen von Narration und sukzessiver Handlungsfolge und damit von Repräsentation szenisch vorzuführen, indem die Kausalität von Ereignisketten auf unterschiedliche Medien verlagert wird, zeigt exemplarisch eine der meistgespielten Performances Station House Operas.
VI.4.2 DRAMATURGIE DER ZEITVERSETZUNG ALS SPIEGEL ZEITVERSETZTER ERWARTUNGSHALTUNGEN IN LIEBESBEZIEHUNGEN „Roadmetal, Sweetbread“ ist eine kleine Produktion, die während des SPIELART-Festivals 1999 in München in der Discothek Scholastika aufgeführt wurde, weltweit auf Tour ging und bis heute fester Bestandteil des Repertoires der Gruppe ist. „Roadmetal, Sweetbread“ hat nur zwei Darsteller – Autor Julian Maynard Smith und Susanna Harth, die auch als Co-Autorin fungiert. Gespielt wird in einem kleinen Bühnenbild, das mit wenig Requisiten bestückt ist. Von der Kritik wurde das Stück gefeiert.148 Doch der Umstand, dass die Produktion komplett ohne Dialoge auskommt, wurde durchaus auch als problematisch erachtet, wie David Batchelors Kommentar in der Kunstzeitschrift „Frieze“ dokumentiert: „[T]he most immediate problem with ‚Roadmetal, Sweetbread‘ is that it is unbelievably difficult to describe.“149
147 Ebd. 148 Mary Brennan notierte: „There are so many ways to describe this piece by Station House Opera – it‘s comedy with an unsettling edge to it, it‘s fantasy which gets too real; it‘s conjuring where our powers of discrimination disappear and we start believing what we cannot be seeing […] One thing‘s certain: it is outstanding.“ Mary Brennan: „Performance Roadmetal, Sweet-bread, Tramway@Parish Hall, Glasgow“, in: The Herald (Glasgow) vom 8.05.1999, S. 23; Joyce Mcmillan schrieb: „What‘s striking about Roadmetal Sweetbread […] is […] its brilliant exploration of the borderland between fantasy and reality.“ Joyce Mcmillan: „Roadmetal, Sweetbread Tramway@The Parish Hall, George Street Glasgow“, in: The Scotsman vom 10.05.1999, S. 23; Christopher Schmidt notierte anlässlich der Münchner Aufführung: „Ein Strindberg hätte bestimmt seine helle Schadenfreude gehabt an dieser von schwarzem Humor grundierten Zimmerschlacht“. Christopher Schmidt: „Doppelter Strindberger. EheClinch. ‚Roadmetal, Sweet-bread‘ bei Münchens Spielart“, in: Münchner Merkur vom 19.11.1999, S. 43. 149 David Batchelor: „Station House Opera“, in: http://www.frieze.com/issue/ review/station_house_ opera1 vom 23.07.2008.
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Theater als Ort der Utopie Tatsächlich ergeben sich narrativer Gehalt und die damit verbundenen semantischen Aspekte ausschließlich über die komplexen Bewegungsabläufe, das gestische und mimische Repertoire der Darsteller und über die Koppelung an einen zeitgleich ablaufenden Videofilm, der auf eine auf der Bühne stehenden Wand proijziert wird. Bühnenbild und Film sind somit nicht nur Setting oder mehr oder weniger abstrakte Milieudarstellung, sondern integrale dramaturgische Bestandteile, deren Diegese sich hauptsächlich über den visuell rezipierbaren Bewegungsablauf entfaltet. Die kleine Bühne ist in vier Spielebenen unterteilt, wobei die unterste Ebene dem Boden des Bühnenraumes entspricht, auf dem ein ca. vier Meter breites und ein Meter hohes Holzpodest steht, das über zwei an der Vorderseite angebrachte Treppenabsätze zugänglich ist. Auf diesem Podest steht wiederum ein weiteres, nach hinten versetztes Holzpodest, so dass auch hier eine Spielfläche gegeben ist. Auf dieser, der höchsten Bühnenebene steht links von der Mitte eine zwei mal zwei Meter große Wand, auf die der besagte Film projiziert wird. Auf der mittleren Ebene steht, rechts von der Mitte, ein kleiner quadratischer Tisch mit zwei Stühlen. Auf der linken und rechten Seite des unteren Podests besteht zudem die Möglichkeit, in den hinteren, für den Zuschauer nicht einsehbaren, Bühnenraum, ebenfalls via Treppenabsatz, zu gelangen. Von diesen hinteren Treppenabsätzen ist jeweils lediglich ein kleines Geländer sichtbar. Die oberste Ebene schließlich ist eine um den Bühnenraum umlaufende Galerie, die nur am Ende bespielt wird und deshalb während der übrigen Aufführungszeit nicht ins Blickfeld der Zuschauer gerät. Die Zuschauer selbst befinden sich gegenüber dem Bühnenraum auf einer kleinen, schräg ansteigenden Tribüne. Zu Beginn der Vorstellung sind Mann und Frau lediglich in Alltagskleidung mit ihren Oberkörpern auf dem Videostandbild zu sehen. Sie stehen bewegungslos nebeneinander mit geradem, aufs Publikum gerichteten Blick. Nach einem Bildschnitt sieht man auf dem Filmbild den Mann durch dunkle Gänge gehen und hört – die Tonschiene läuft synchron – auch seine Schritte, so lange, bis der Mann aus dem Filmbild verschwindet und nur noch die Schritte auf zwei unterschiedlichen akustischen Ebenen zu hören sind: auf der filmischen sowie auf der „realen“ theatralen Ebene. Schließlich sieht man den Mann aus dem Zuschauerraum kommen und ihn zeitsynchron auf der Filmleinwand denselben Raum mit demselben Bewegungsablauf und -tempo über den rechten Treppenabsatz die zweite Bühnenebene betreten. Die Kameraposition selbst ist statisch und verfolgt nur via Schwenk den Weg des Mannes, der es sich, stehend am Tisch lehnend, gemütlich macht. Zunächst entsteht der Eindruck, es handele sich um eine Livekoppelung, in der Form, dass das Videobild in Echtzeit den Geschehnisablauf des realen Vorgangs
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Analysen wiedergibt. Damit handelt es sich auf den ersten Blick um ein und denselben Ereignisblauf, bei der die Bühnenaktion gefilmt und synchron auf die Leinwand projiziert wird. Das Resultat ist eine Verdoppelung der visuellen Ebene, die zunächst dazu führt, dass der Zuschauer dieselbe Situation sowohl als präsentische Realsituation wie als gefilmte und damit als mittelbare Live-Situation wahrzunehmen vermag. Solange die Handlungsabläufe in beiden Medien zeitgleich ablaufen, so lange kann der Zuschauer davon ausgehen, dass seinem Fokus keine Variationen in dem ein oder anderen Medium entgehen – abgesehen davon, dass der Zuschauer grundsätzlich damit konfrontiert ist, die räumliche Differenz zwischen Realgeschehen und Leinwandgeschehen immer überbrücken zu müssen. Er kann zwischen beiden für ihn parallel zu sehenden Ebenen – Theater, Film – im Rezeptionsvorgang hin- und herspringen und wird feststellen, dass es keine Asynchronität gibt. Die Geschehnisabläufe in beiden Medien sind simultan und damit identisch. Der Unterschied ist auf die jeweilige Medialität und Perspektive (Kameraperspekive, Zuschauerperspektive) beschränkt und führt sozusagen als Kondensat die Differenz der beiden Medien als solche vor. Doch in den weiteren Sequenzen schon stellen sich formale Inkohärenzen ein. Sechsmal hintereinander läuft die Frau von hinten aus der linken Bühnenseite kommend über die Bühne, springt vom oberen auf das untere Podest und verlässt, immer noch im Laufschritt, den Bühnenraum auf der rechten Seite. Bevor die Frau allerdings wieder auf der Bühne auftritt, ist derselbe Vorgang noch einmal als Film zu sehen. Erst in der siebten Wiederholung stellt sich heraus, dass zwischen Realereignis und Filmereignis eine Differenz besteht. Der Mann stellt der Frau in der siebten Filmwiederholung ein Bein, über das sie stolpert. Simultan stellt er auf der Bühne ebenfalls sein Bein heraus. Doch im realen Bühnengeschehen bleibt diese Aktion folgenlos, da es niemanden gibt, der über sein Bein stolpern könnte. Die Frau hat zuvor schon die Bühne verlassen. Als Zuschauer hat man zunächst den Eindruck, dass hier mit Hilfe filmtechnischer Mittel, der Montage, eine Dramaturgie des Zeitsprungs ins Spiel gebracht wird, wie sie üblicherweise im Kontext von Closed-Circuit-Videoinstallationen verwendet wird. In den Closed-Circuit-Installationen, wie sie seit Ende der 60er Jahre im Kunstkontext anzutreffen sind (Les Levine, Nam June Paik, Wolf Vostell, Peter Weibel, Bill Viola, Vito Acconci bishin zu STELARC und Koichiro Eto etc.), bediente man sich der technischen Möglichkeiten, die das Video als Aufnahmegerät bereitstellte, und gelangte so zur Herstellung der Synchronität von Aktion und Abbild. In vielen dieser Anordnungen konnte sich der Betrachter synchron als Handelnder und Beobachtender beobachten. Das Zeitmoment des Präsentischen, das, trotz räumlicher Trennung, damit ins Spiel ge-
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Theater als Ort der Utopie bracht wurde, erhielt eine neue Dimension. Die je gegenwärtige Situation konnte nun zwar gleichzeitig, aber medial getrennt wahrgenommen werden.150 Doch bei „Roadmetal, Sweetbread“ verhält es sich anders. Nach einer Weile stellt man fest, dass es sich nicht um eine Closed-Circuit-Situation handeln kann. So fällt schließlich auf, dass die Hose, die die Frau trägt, einen anderen Farbton hat als jene im Film und dass die Bewegungsabläufe nicht immer astrein synchron ablaufen. Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem Video um einen vorproduzierten Film handelt und dass durch die Unterstützung eines akustischen Signals – einem sich achtmal im Fünf-Sekunden-Takt wiederholenden Knackton, gefolgt vom Geräusch eines Wassertropfens, der in einen Blecheimer fällt – die Darsteller via akustisch wahrnehmbarer Zeitschaltuhr „dirigiert“ werden. Somit kann die Bühnenchoreographie auf den Film abgestimmt ablaufen. Dem zeitlichen Aspekt der „Augenblicklichkeit“,151 wie er Closed-CircuitInstallationen, Slavko Kacunko zufolge, auszeichnet, eignet hier demzufolge eine andere Qualität. In „herkömmlichen“ Closedcircuit-Installationen ist auf Rezeptions- und Analyseebene vor allen Dingen von Interesse, wie und was zwischen Input- und OutputSituation geschieht. Bei „Roadmetal, Sweetbread“ ist, was den Produktionsablauf betrifft, „lediglich“ die Output-Situation relevant, also das, was auf der Filmleinwand gezeigt wird und wie dieser Ablauf an die gegenwärtige theatrale Situation des Bühnengeschehens gekoppelt ist. Der Rezipient bleibt – im Idealfall – „mental aktiver“ Beobachter und ist nicht als aktiv Teilnehmender in die Aktionen integriert. Die hier geschilderte, sich möglicherweise einstellende Irritation geht auf den Kontextbezug zurück, den ein Zuschauer, ist er damit vertraut, mitzuvollziehen vermag. D.h., die Referenz auf die Kunstform der Closed-Circuit-Installation ist ein durchaus aufschlussreicher Nebeneffekt, der selbst wiederum auf eine viel zent-
150 In seinem umfassenden Überblick zur Geschichte der Closed-CircuitVideo-installation gelangt Slavko Kacunko zur folgenden Definition: „Mit ,Closed-Circuit‘ ist eine Live-Übertragung audiovisueller Signale beschrieben, wie sie erstmals mit den Medien Radio und Fernsehen ermöglicht wurde: Die direkte ,Closed-Circuit‘ – Verbindung zwischen einem Aufnahme- und einem Wiedergabegerät (Mikrofon/Lautsprecher oder Videokamera/Monitor) entsteht durch die auditive oder visuelle Rückkoppelung, die ihrerseits die Grundlage für die Verstärkung des Signals bildet. Auf diese Weise werden Live-Übertragung und -Manipulation von audiovisuellen Signalen selbst zwischen verschiedenen Orten und Zeiten möglich.“ Slavko Kacunko: Closed-circuit-Videoinstallationen. Ein Leitfaden zur Geschichte und Theorie der Medienkunst mit Bausteinen eines Künstlerlexikons, Berlin: Logos 2004, S. 95. 151 Ebd., S. 17.
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Analysen ralere ästhetische Strategie von „Roadmetal, Sweetbread“ verweist. Es geht um nichts anderes als um die Veranschaulichung der formalen Strategie der Selbstreferenz, begriffen als Referenz auf die Weisen von Narration in Kunstkontexten, wie sie auch schon die Produktionen von Jérôme Bel, Forced Entertainment und Alexeij Sagerer – auf je verschiedene Weise – auszeichnete. Der narrative Modus ist maßgeblich bestimmt durch das Stilmittel der „mise en abyme“, des bewussten Spiels mit Selbstbezüglichkeit, das die ganze Aufführung über beherrschend ist. Verwendet wird aber nicht eine partielle „mise en abyme“, in der Weise, dass im Geschehnisablauf ein Einzelsegment zur Rahmenhandlung in Beziehung gesetzt würde. Es handelt sich auch nicht um ein rein metatheatrales Spiel-im-Spiel-Element. Die „mise en abyme“ bei „Roadmetal, Sweetbread“ ist, wie sich im weiteren Aktionsverlauf zeigt, endlos und total. Zudem handelt es sich um eine intermediale Form der „mise en abyme“, in der kein Medium dem anderen hierarchisch übergeordnet ist. Im folgenden Geschehnisablauf wird durch die Dramaturgie der Zeitversetzung deutlich, dass diese formalästhetische Strategie nicht allein ästhetischer Selbstzweck ist. Sie weist vielmehr eine inhaltliche Konsequenz auf, die durchaus das Potential besitzt, eine Spiegelfunktion für das Beziehungsverhalten von Mann und Frau in postindustriellen Gesellschaften zu übernehmen. Die Strukturierung der Ereignisse führt zunächst – wie schon bei Jérôme Bels „The show must go on“ – mit Hilfe eines mimetischen Darstellungsstils den typisierten Ablauf einer Liebesgeschichte vor: das von Hindernissen gekennzeichnete Kennenlernen eines Paares, das (gemütliche) Einrichten eines adäquaten Umfelds, die erotische Annäherung, den Geschlechtsakt, die anschließende Entspannungsphase, das Fremdgehen mit einem anderen Partner, die erneuten Annäherungsversuche, den Eklat und schließlich wahlweise die Loslösung vom Partner bzw. die Bindung an ihn, ehe, so eine über das Schlussbild vermittelte Antizipation, wieder alles von vorne beginnt. Durch die Art und Weise, in der diese Sequenzen strukturiert sind, nämlich über die hohe Frequenz des Prinzips der Zeitversetzung, die Bühnenereignis und Filmereignis sukzessive oder simultan miteinander korreliert, werden unterschiedliche narrative Ebenen bedient. Zum einen wird auf die Modi typisierter Handlungsabläufe von Liebesbeziehungen verwiesen. Zum anderen wird durch Unterbrechung des reibungslosen kausalen Handlungsverlaufs und dessen Verlagerung auf zwei unterschiedliche mediale Ebenen – Theater, Film –, auf die Modi von Narration in medialen Kontexten wie Theater, Film und Fernsehen verwiesen. Diese Perspektivierung ergibt sich vor allem über die Aussparung von Signalen (Ellipsen), die die Figuren als individualisierte Personen zeigen
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Theater als Ort der Utopie würden. Das Aktionsmuster der beiden Figuren steht stellvertretend für die typisierten Verhaltensweisen in Paarbeziehungen postindustrieller Gesellschaften. Der weitere Geschehnisablauf macht dies deutlich: Nachdem die Frau noch einmal in der realen Bühnensituation über das Bein des Mannes gestolpert ist, erfolgt ihre Reaktion nun nicht in der Bühnensituation, sondern im Filmbild. Dort straft sie den Mann mit ihrem Blick, der, als Reaktion auf das im Subtext mitgeführte allbekannte Sprichwort „Wenn Blicke töten könnten“, film- und bühnensynchron vom Blick getroffen hinter dem Tisch vom Stuhl fällt und deshalb nicht mehr zu sehen ist. Nachdem er sich wieder, film- und bühnensynchron, aufgerichtet hat, nimmt er die Verfolgung der Frau auf. Erneut kommt das Prinzip der Zeitversetzung ins Spiel. Die Frau rennt wieder über die Bühne, um diese auf der rechten Seite zu verlassen. Gefolgt ist diese Bühnenaktion von der Wiederholung derselben Szene im Film. Der Mann wiederum verfolgt die Frau, die eben noch im Filmbild zu sehen war und deren Schritte nur noch akustisch wahrzunehmen sind, in der „realen“ Bühnensituation. Er irrt, sich wie ein Suchender im Kreis drehend, umher und kann sie, nicht nur weil sie von der Bühne verschwunden, sondern weil sie auch im anderen Medium nicht mehr präsent ist, weder greifen noch sehen. Das „gelungene“ Zusammentreffen der beiden erfolgt erst, als die Frau neben dem Kopf des Mannes hinter dem rechten Treppengeländer, film- und bühnensynchron, mit ihrem Kopf auftaucht. Die folgende Sequenz zeigt an, dass nun das Paar sein Leben als Paar beginnen kann. Dies ist gekennzeichnet dadurch, dass die Frau im Radio einen passenden Musiksender sucht, während sie zugleich feststellt, dass die Deckenlampe nicht funktioniert. Das Wechselverhältnis von Synchronität und Asynchronität, und damit das von semantischer Kohärenz und Inkohärenz, zeigt sich nun insofern, als die Frau zunächst synchron in der Bühnensituation und im Filmbild einen der Stühle auf die obere Bühnenebene stellt, auf diesen steigt, eine oberhalb der Filmleinwand sich befindende Neonröhre entfernt und sich vom Mann eine andere im Austausch reichen lässt, die sie, ebenfalls mediensynchron, in die Halterung einsetzt. Doch während die Neonröhre in der realen Bühnensituation aus der Halterung fällt und am Boden zerbricht, bleibt sie im Filmbild leuchtend in der Fassung stecken. Ein nach dieser Sequenz folgender Bildschnitt zeigt nun zeitversetzt, d.h. über eine filmische Ellipse, ebenfalls einen Scherbenhaufen auf dem Podest-boden. Diese Scherben fegt der Mann bühnen- und filmsynchron wieder zusammen. Die Zeitdramaturgie hat, wie nach diesen ersten Sequenzen deutlich wird, die Funktion, lineare Kausalketten zu unterbrechen
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Analysen und gerade damit auf das Funktionieren jener Kausalbezüge – eben den typisierten Ablauf von Liebesbeziehungen – hinzuweisen. Durch die Verbindung dieser beiden narrativen Ebenen, nämlich die Veranschaulichung von permanenten Rückkoppelungseffekten durch (nicht) erfüllte wechselseitige Erwartungen in realen Liebesbeziehungen einerseits und die damit verbundene Veranschaulichung der Rückkoppelungseffekte von Realität und medialer Vermittlung andererseits, ergibt sich eine gesellschaftskritische Perspektivierung. Durch diesen spezifischen Modus werden geschlechterspezifische Rollenmuster aufgegriffen, die zum Klischee erstarrte Verhaltensweisen von Frauen und Männern aufzeigen sollen. Denn in dieser zweiten Sequenz wird erstmals nicht nur deutlich, dass es um das Vorführen unterschiedlicher Erwartungshaltungen innerhalb von Liebesbeziehungen geht. Es wird auch auf Klischees verwiesen, die ihrerseits auf der Wiederholung bestimmter Verhaltensmuster beruhen: etwa das Klischee von „der“ Frau, die von „dem“ Mann umworben und verfolgt werden muss, sowie jene Klischees vom Technikunverständnis der Frau und vom Problemlösungswillen des Mannes. Zuspitzungen von derart semantisch aufgeladenen Situationen, die für die verschiedenen Verhaltenscodices entscheidend sind, spielen sich im Folgenden nun aber in erster Linie im Film ab. Hier entfalten sich erotische Annäherung und gegenseitige Verwünschung. Demgegenüber sind die Handlungen auf der Bühne eher aktionsarm. Die beiden Darsteller befinden sich selbst in Beobachterpositionen, ohne dabei lediglich Zuschauer zu sein. Die narrative Instanz ermöglicht es, dass der Zuschauer immer schon mehr weiß, als die je fokalisierte Figur. Die Fokalisierungwechsel zielen in diesen Sequenzen darauf ab, vorzuführen, dass und wie jeder wechselseitig den jeweils anderen bei dem, was er gerade gegen oder für ihn tut, wahrnimmt. Über die narrative Instanz wird somit vermittelt, dass das Beobachten als zentrale ästhetische Strategie fungiert. In der Sequenz nach dem Zusammenkehren des Scherbenhaufens setzt sich der Mann – mediensynchron – mit einem Buch an den nun an die linke Seite gestellten Tisch, um darin zu lesen. Die Frau wiederum reißt dem Mann, nun allein im Film, das Buch aus der Hand, wirft es weg und steckt den Mann in eine Kiste, die sie daraufhin in hohem Bogen wegkickt, während er in der Bühnensituation via Mienenspiel eine irritierte bis empörte Reaktion zeigt. Die Situation ist so inszeniert, dass er den Angriff auf seine Person, die im Film stattfindet, in der Realsituation kommentiert. Zugute kommt hier die dem Medium eigene Möglichkeit der filmischen Gestaltung, die es erlaubt, mittels Kamera-Kadrierung und -schwenk nur einen bestimmten Bildausschnitt zu zeigen. So erfolgt das Verschwinden des Mannes zwar mit Hilfe eines Bühnentricks – er fällt hinter dem
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Theater als Ort der Utopie Tisch, an dem die Frau mit der Kiste steht, in eine Bodenluke –, doch via Schwenk kann er anschließend wieder als allein am Tisch lesend gezeigt werden, so dass es aussieht, als sei er wie durch ein „Wunder“ wieder aufgetaucht. Die Koppelung der technischen Möglichkeiten beider Medien, nämlich Bühnentrick und Filmtechnik, ermöglicht somit über die reine Zeitversetzung hinaus, Aktion und Fiktion der Figuren zu korrelieren. Über die Integration und das Vorführen des Modus zweiter Beobachtung rückt die mögliche Fiktionalität jeglicher Aktion als Effekt der Diegese ins Zentrum jeglicher Beobachtersituation. Die gesamte Filmsequenz, in der der Mann gedemütigt wurde, erscheint so als Projektion des Mannes, der die Demütigungssituation nur „imaginiert“. Die Reaktion auf diesen aggressiven Angriff seitens der Frau erfolgt nun allerdings erneut im realen Bühnengeschehen. Der Mann stößt einen langanhaltenden lauten, gequälten Schrei aus, der im Film abbricht, ehe er im realen Bühnengeschehen zu Ende und in ein Gähnen übergeht, wodurch die Situation slapstickhaft aufgelöst wird. Das darauffolgende, nun erneut allein im Film stattfindende Sich-Hinlegen – auf der Bühne sitzt der Mann immer noch am Tisch – wird damit zum Zeichen der Erschöpfung und eröffnet wiederum die folgende Sequenz, die nun das ebenfalls wechselseitig synchron-asynchrone Anbahnungsverhalten für den Geschlechtsakt bis hin zu dessen mimetischer Darstellung anzeigt. Ebenso wie die Kennenlern-Sequenz und die Einrichtungs-Sequenz führt nun gerade auch die Sequenz, in der es um die erotische Annäherung des Paares geht, vor, welche wechselseitigen Erwartungshaltungen und Projektionen innerhalb von Liebesbeziehungen das erhoffte Equilibrium zu stören vermögen. Nachdem sich die Frau auf der Bühne und im Film während des realen Schreis des Mannes eine kimonoartige, silberfarbene Seidenkombination aus Nachthemd und Morgenmantel angezogen und sich, allein im Film, zum Mann gelegt hat, erfolgt erneut ein Kameraschwenk, der die Frau im Bild zunächst allein liegend und dann als Abwesende zeigt. Diese Abwesenheit quittiert der Mann im Film mit einer Suche nach ihr und, als er nur ihre zurückgelassenen Kleidungsstücke findet, erneut mit einem lauten Schrei, der damit zum doppelcodierten Schrei wird: Der Reflex auf die Demütigung seiner Person und die Reaktion auf den Verlust, den er durch ihr Verschwinden erfahren muss, kommen hier gleichermaßen zum Ausdruck. Allerdings wird der Verlust in der folgenden Sequenz über eine von ihr hervorgebrachte Geste des Trostes, die zugleich zum Zeichen für das von ihr nun eröffnete Liebesspiel wird, kompensiert. Real und im Film tritt die Frau nun auf die Bühne und beginnt offensiv mit dem Mann zu flirten. Doch während das Liebesspiel im Film aufrichtige, zärtliche und schließlich leidenschaft-
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Analysen liche Züge annimmt, weist sie ihn in der realen Bühnensituation wiederholt zurück. Schließlich bewegt sie sich so, als wäre der andere Partner lediglich Teil ihrer Imagination – ihre liebkosenden Bewegungen verlaufen filmsynchron, aber ohne Partner. Der Mann hingegen sieht ihr am Bühnenrand mit dem Rücken zum Publikum stehend zu und ist in der realen Bühnensituation damit nicht am Geschehen beteiligt. Die Leerstelle im Realgeschehen wird im Filmgeschehen ausgefüllt, und zwar so, wie es die „glückliche Fügung“ oder auch die Darstellungskonvention von Liebesfilmen, „normativ“ betrachtet, einfordert. Als eine Art Repoussoir-Figur wird der Mann mit dem Rücken zum Publikum zum Beobachter seiner eigenen Geschichte. Er ist der Beteiligte der Situation, aber zugleich auch ihr Zuschauer, ohne damit schon ein gewöhnlicher Zuschauer wie die anderen zu sein. Aufgrund seiner Positionierung im Bühnenraum ist er immer noch ins Geschehen integriert. Der Effekt ist nicht nur der einer Distanzierung. Darüber hinaus wird auf inhaltlicher Ebene veranschaulicht, dass ihm seine Handlungsfähigkeit abhanden gekommen ist. Ein Modus, der anzeigt, dass sich aufgrund der übersteigerten gegenseitigen Erwartungshaltungen eine Art Paralyse einstellt. Der Mann wird gezeigt, als wäre er, metaphorisch ausgedrückt, in einem Zeitloch gefangen. Nach der geglückt-missglückten Liebesspiel-Sequenz kommt es, als Steigerungsmoment der missglückten Erfahrung, die sich in der realen Bühnensituation ereignete, schließlich zu einer Auseinandersetzung, die sich zunächst noch nicht in körperlichen Angriffsaktionen entlädt, aber in einem Machtkampf über die „richtige“ Musikauswahl. Wechselweise schalten die beiden „ihre“ Musik ein, ehe sie vom anderen wieder ausgeschaltet und durch das alte Musikstück ersetzt wird. Während sie einen Soulsong einschaltet, kontert er mit lauter Marschmusik. Retrospektiv wird diese Sequenz als Steigerungsmoment erkennbar, denn erst in einer der folgenden Sequenzen kommt es zum faktischen, aggressiven Körperkontakt. Die Situation zwischen beiden eskaliert, als im Filmbild der Rumpf eines nackten Mannes auftaucht, der mit dem Rücken zum Kameraobjektiv steht. Der Bildausschnitt ist so gewählt, dass das Gesicht des Mannes nie zu sehen ist. So ergibt sich die Möglichkeit, denselben Darsteller (Maynard Smith) sowohl als Partner wie als fremden Geliebten zu zeigen. Dieser führt die Frau wie einen Hund an einer Leine, die sie zuvor selbst um ihren Hals gelegt hat. Wie schon zuvor wird diese Zweierkonstellation allein im Video, nicht aber auf der Bühne ausagiert. Erneut bewegt sich die Frau auf der Bühne filmsynchron ohne den Mann. Die aus Liebesspiel und Betrug des Liebenden bestehende Sequenz nimmt gleichsam eine Schlüsselposition im szenischen Ablauf ein, über die sich, durch variable Perspektivierungen, je unter-
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Theater als Ort der Utopie schiedliche Konnotationen ergeben. Zum einen ergibt sich dadurch die Referenz auf ein theatrales Ereignis aus der PerformanceGeschichte, nämlich auf die Performance „Aus der Mappe der Hundigkeit“ (1969), einer Aktion, bei der Valie Export Peter Weibel wie einen Hund an der Leine durch die Straßen Wiens führte. Damals sollte diese feministisch ausgerichtete Performance auf das Geschlechterverhältnis als Herrschaftsspiel aufmerksam machen. Die Frau hat sich hier aus der Rolle der Unterdrückten befreit. Dies aber eben nur so weit, als sie nun selbst das Spiel der Unterdrückung fortsetzt. Station House Opera dreht nun das in der damaligen Performance vorgeführte Machtverhältnis um. Es ist nun die Frau, die sich selbst die Leine anlegt und von dem Mann willentlich an dieser herumgeführt wird. Die Ernsthaftigkeit der Situation von 1969 ist einem Verweis auf eine frivole Spielart in Paarbeziehungen gewichen. Zugleich verweist diese Sequenz aber auch auf eine Erzählkonvention in Liebesgeschichten, wie sie klassischerweise ein Genre des populären Kinos, das Melodrama, auszeichnet. Eine beliebte Version bereits des frühen melodramatischen Kinos war die Dreierkonstellation von Held, Heldin und „Schurke“, bei der es hauptsächlich darum ging, die Frau aus den Fängen eines solchen Schurken zu befreien. Die Melodramen reichten seit ihrer Entstehung von Ideologiekritik an herrschenden Verhältnissen bis zur Affirmation gesellschaftlicher Gegebenheiten. Das Motiv der Sehnsucht und die Möglichkeit, aus familiären und/oder gesellschaftlichen Zwängen auszubrechen waren schon je typische Topoi des Liebesfilms.152 Das Melodramatische ergibt sich dabei, wie Georg Seeßlen schreibt, „aus dem Widerspruch zwischen der Wahrheit des Körpers (und seiner Begierden) und der Falschheit der Verführung“.153 Bis heute ist das Melodrama aufgrund seiner Rührseligkeit als „low-culture“ in Verruf, gehört es doch zu den besonders affektgeladenen Erzählweisen im Repertoire filmischer Genres. In der Zwischenzeit wird allerdings auch der Aspekt der Empfindsamkeit und Sentimentalität im populären Kino als kulturelle Praxis anerkannt. Der emotionale Genuss sei, so Hermann Kappelhoff, nicht als mindere Rezeptionsform eines höheren ästhetischen Gefühls anzuerkennen. Vielmehr bestehe der „sentimentale Genuß eben darin […] das dargestellte Phantasma des melodramatischen Films als eine emotionale Bewegung zu verwirklichen, die er in den affektiven, perzeptiven und kognitiven Prozessen der filmischen Rezeption
152 Vgl. Georg Seeßlen: Kino der Gefühle. Geschichte und Mythologie des Film-Melodrams, Hamburg: Rowohlt 1980. 153 Ebd., S. 74.
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Analysen durchläuft“.154 Gerade deshalb lassen sich melodramatische Filme, „als offene Muster einer Subjektivierung des Zuschauers verstehen, die weder auf das Konzept des identifizierenden Blicks, festgelegt sind, noch den starren Mustern pathologischer Phantasiebildungen folgen“.155 Die Dramaturgie der Zeitversetzung von „Roadmetal, Sweetbread“ geht allerdings noch weiter, als es die Genre-Konvention und die neuere Filmtheorie für das klassische Melodrama vorsieht. Indem dort der fortlaufende kausale Handlungszusammenhang wiederholt unterbrochen wird, wird qua temporaler Anordnung auf jene temporalen Organisationsformen verwiesen, die im klassischen Melodrama für die Herstellung eines emotionalen Bewegungsflusses und eines affektgeladenes Bildes sorgen. Die Herstellung eines emotionalen Bewegungsflusses wird gleichsam negiert. Die Dramaturgie folgt damit einem Brecht’schen Impetus, der die Verweigerung jeglicher Form von „Nach-Empfindung“ anzeigen soll. Die Dramaturgie der Zeitversetzung ist damit die einzig adäquate Möglichkeit, diese Ungleichzeitigkeit wechselseitiger Erwartungshaltungen zum Ausdruck zu bringen. Je nach Perspektive wird diese Sequenz mitsamt dem Zitat von „Aus der Mappe der Hundigkeit“ neben der inhaltlichen Aussage zu einem formalästhetischen oder/und zu einem metatheoretischen Kommentar. Der Kunstkontext wird, wie schon mit der Referenz auf das ästhetische Prinzip der Closed-CircuitInstallation, auch hier zu einer Matrix, die das Bewußtsein über historisch gewachsene Darstellungs- und Erzählkonventionen szenisch vorführt. Zugleich zeigt die Neukontextualisierung des Zitats, dass sich seither auch Geschlechterrollen modifiziert haben. Die Lust am Dominiertwerden wird nun als eine selbstgewählte vorgeführt, die Entscheidung darüber, wer wen nun dominiere, ist dabei nicht mehr eindeutig festzustellen. Die Frequenz der Darstellung bestimmter Zweierkonstellationen der beschriebenen Sequenzen vor allem in Filmbildern – etwa das tatsächliche Verschwindenlassen des Partners (mit Hilfe einer Koppelung von Bühnen- und Filmtrick), das tatsächlich stattfindende erotische Spiel, die tatsächliche Wahl eines anderen Mannes – demgegenüber auf der Bühne diese eindeutigen Aktionen unterbleiben, deutet darauf hin, dass in diesen Sequenzen das Filmbild die Funktion einer Visualisierung der gedanklichen Projektionen der „realen“ Bühnenfiguren übernimmt. Die vor allem im Mienenspiel erkennbaren Affekte auf diese Ereignisse wie Enttäuschung, Wut, Irritation erfolgen nämlich in erster Linie in der realen Bühnensituation. Das
154 Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin: Vorwerk 8 2004, S. 19. 155 Ebd., S. 27.
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Theater als Ort der Utopie bedeutet nicht nur, dass die zeitliche Kausalität unterbrochen ist, weil sie auf zwei unterschiedliche Medien verteilt ist. Das bedeutet auch, dass ein ästhetisches Prinzip, Gedanken und Vorstellungen von den jeweils handelnden Figuren zu visualisieren, während sie simultan hierzu in Aktion sind, modifiziert ist. Es ist das Prinzip des Comic, das seit seiner Erfindung vermochte, im selben Bildausschnitt die Aktion der Figuren und ihre Gedanken sowohl in verschriftlichter als auch in bildlicher Form simultan zu übermitteln und so die – gegebenenfalls im Kontrast zur realen Aktion stehenden – Hoffnungen, Verwünschungen, Lügen etc. darzustellen. Zwar ist diese Tendenz, wie die hohe Frequenz dieser Anordnung in diesen Sequenzen zeigt, vorherrschend. Doch vermitteln die vielschichtigen Rückkoppelungseffekte in den Anfangssequenzen und in den darauffolgenden, dass die Festlegung auf eine derartig eindeutige Interpretation – das Filmbild als Darstellung der Projektion der Figuren – ebenfalls negiert werden soll. Tatsächlich gibt es Sequenzen, in denen sich die Bühnenaktionen durchaus durch ebenso „faktische“ Verhaltensweisen auszeichnen wie die genannten Filmaktionen. Etwa in der Sequenz nach dem „Musikkampf“, als ein retardierendes Moment der Versöhnung geschaffen wird und die beiden sich gegenseitig füttern, so lange, bis eine Verweigerung des einen eine erneute Schleife der aggressiven Reaktion nach sich zieht, die, um im Schema der Zeitversetzung zu bleiben, ebenfalls synchron/asynchron durchgespielt wird. Die sich von langer Hand anbahnende Aggression entlädt sich im Anschluss daran erstmals in einem Akt gegenseitiger Gewaltanwendung, die wechselseitig von Mann zu Frau und von Medium zu Medium ausagiert wird. Während er im Film die Frau die zweite Ebene brutal hinunterstößt, wirft er zeitsynchron in der realen Bühnensituation einen Stuhl vom Podest. Im Anschluß daran stößt die Frau den Mann in der Bühnensituation tatsächlich auf die untere Ebene, während sie im Film den Tisch hinabwirft. Anschließend zerrt sie den Mann auf der Bühne auf den unten stehenden Stuhl, während sie zeitsynchron ihn und den Stuhl auf die unterste Ebene wirft. Die Eskalation ist somit in beiden Medien virulent und damit endgültig: Für die Liebenden gibt es keine Hoffnung mehr. Nachdem in einer der letzten Sequenzen ihr (vermeintlicher) Betrug an ihm durch seinen (vermeintlichen) Betrug an ihr kompensiert wurde, ist eine eindeutige Auflösung aufgrund der permanenten Rückkoppelungseffekte unmöglich gemacht. Das Schlussbild verweist auf die totale Ambivalenz. Es zeigt beide auf der Bühne im größtmöglichen Abstand voneinander, während sie im Filmbild ganz nah nebeneinander stehen. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte für ein eindeutiges Ende der Liebesgeschichte und damit auch nicht für eine Antizipation ihres weiteren Verlaufs. Die Dramaturgie der Zeit-
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Analysen versetzung verweist damit nicht nur auf die Instabilität der Liebe. Sie mündet darüber hinaus am Ende in die Apologie der Zweideutigkeit, die in der Simultaneität zweier Tableaus zum Ausdruck kommt. Niklas Luhmann ist der Autor, der auf die Liebe als Kommunikationsform hingewiesen hat, so wie es in „Roadmetal, Sweetbread“ nahezu exemplarisch vorgeführt wird. Ihm zufolge ist das „Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird“.156 „Roadmetal, Sweetbread“ macht einsichtig, dass die Liebenden nicht mehr auf außerhalb der Liebe liegende Leitdifferenzen zurückgreifen können. Luhmann schreibt: „[Liebe] ist Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen; sie verleiht damit dem, was der andere erlebt oder erleben könnte, in den Dingen und Ereignissen selbst eine besondere Überzeugungskraft. Und erst in zweiter Linie motiviert sie zum Handeln, das nicht um seiner konkreten Effekte willen, sondern wegen seiner symbolisch-expressiven, Liebe ausdrückenden Bedeutung gewählt wird oder nahegelegt wird als Vollzug der Besonderheit jener Welt, in der man sich mit dem Geliebten (und mit niemandem sonst) einig weiß: der Welt des gemeinsamen Geschmacks und des gemeinsamen Abweichens, der besprochenen Themen, der bewerteten Ereignisse. Was zum Handeln aufruft ist nicht ein erstrebter Nutzen, sondern die Nichtselbstverständlichkeit eines Weltentwurfs, der ganz auf die Individualität einer Person abgestimmt ist und nur so existiert. Soweit es überhaupt um ‚Geben‘ geht, besagt Liebe deshalb: dem anderen zu ermöglichen, etwas zu geben dadurch, dass er so ist wie er ist.“157
Das bedeutet, auch die Liebe kann nur im Akt der Liebe wieder hergestellt werden und sich nicht auf transzendentale Begründungen berufen.
156 Niklas Luhmann: Liebe als Passion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 23. 157 Ebd., S. 30.
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VII. EPILOG: FÜR EIN(E) THEATER(THEORIE) DER ANTINOMIEN
Die zentralen Strukturmerkmale, mit denen gegenwärtige demokratische Gesellschaften in der Regel beschrieben werden, sind Pluralität und Differenzierung. Hohe Mobilität und vielfältige Sinnangebote haben dazu geführt, dass traditionelle Wertvorstellungen ständig zur Disposition gestellt werden. Auch innerhalb der Theaterlandschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Wandel vollzogen, bei dem die Gewissheit darüber, was als Spezifikum des Gegenwartstheaters zu gelten habe, fraglich geworden ist. Die vielfältigen Einzelinteressen, Vorlieben und Zugangsweisen zur Kunstform Theater verweisen auf ein ausdifferenziertes Theatersystem. Neben dem Repertoirespielbetrieb der feststehenden Häuser, eingespannt in kommunale und länderspezifische Förderstrukturen, gibt es zahlreiche Angebote aus privatwirtschaftlicher Hand. Festivals haben im Rahmen dieser Entwicklungen einen immensen Zuwachs erfahren, der unter anderem auch als Resultat neuer Förderstrukturen anzuerkennen ist. So ermöglichen privatwirtschaftliche und staatliche Allianzen die Bereitstellung eines Angebots, die von staatlichen Förderern allein, aufgrund finanzieller Engpässe, nicht geleistet werden kann. Die gegenseitige Kosten-Nutzen-Rechnung liegt auf Seiten der staatlichen Förderer im Ausfüllen der Finanzlücke, während sich die privatwirtschaftlichen Förderer einen Imagegewinn für ihre jeweiligen Konzerne versprechen. Auf eine rein utilitaristische ZweckMittel-Relation lassen sich diese Veränderungen allerdings nicht reduzieren. Denn umgekehrt sind die vielfältigen Sinnangebote innerhalb der Theaterlandschaft auch Ausdruck der differenzierten Zugangsweisen einzelner Interessensgruppen zur Kunstform Theater. Diese Gruppen sind ihrerseits derart heterogen strukturiert, dass die Vorstellung von einer einheitlichen Gemeinschaftserfahrung im Fest diesem gesellschaftlichen Entwicklungsstand unangemessen ist. Parallel zu diesen Entgrenzungsbewegungen ist auf Theorieebene die Gewissheit darüber, was das Wesen von Theater und Kunst eigentlich ausmache, nicht länger gegeben. Der Begriff „ästhetische
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Theater als Ort der Utopie Erfahrung“ ist Ausdruck dafür, dass essentialistische Bestimmungen unzureichend sind, die Erfahrungsweisen von Theater und Kunst zu beschreiben. Nachdem Theater und Kunst nicht mehr die ausgezeichneten Orte sind, an dem das Wahre, das Schöne und das Gute zusammenfallen und ästhetische Erfahrung mit dem Anspruch auftritt, auch für ehedem kunstferne Bereiche wie Design, Mode und Sport reklamiert werden zu können, ist vor allem die Unentschiedenheit über die Erfahrungsweisen von Theater und Kunst zur Gewissheit geworden. In den letzten Jahren hat sich innerhalb der theaterwissenschaftlichen Theoriebildung allerdings eine Bewegung abgezeichnet, die diesen Status der Instabilität zu kompensieren versucht. Gerade innerhalb des Diskursfelds zum postdramatischen Theater und zur Performance Art wird die Unübersichtlichkeit und das Merkmal des Diffusen kanalisiert und eine bestimmte, nicht-repräsentationale Ästhetik als genuin risikobereit, ideologiekritisch, utopiefähig und innovativ beschrieben. Nur sie sei in der Lage, den Zuschauer gegebenenfalls zu transformieren und ihn einer Veränderung zu unterziehen. Die damit verbundene fortschrittszentrierte Rhetorik beruft sich vorwiegend aber auf die historischen Avantgardebewegungen, die ihrerseits gegen einen institutionalisierten Kunstbetrieb und gegen eine Abbild-Ästhetik opponierten. Mit anderen Worten: Die Formen des postdramatischen Theaters und der Performance Art werden nicht nur innerhalb der Praxis, sondern auch auf der Ebene der Theorie und, damit verbunden, der Historiographie, linear und kausal auf eine inzwischen über hundert Jahre alte Tradition bezogen. Wie die Studie zeigen konnte, berufen sich jene Überzeugungen auf traditionell teleologische Denkmuster sowie auf Deutungsschemata von Inklusion und Exklusion, die auch innerhalb der philosophischen Ästhetik der 60er bis 80er Jahre einen hohen Stellenwert genossen. Theodor W. Adorno, Jean-François Lyotard und Gilles Deleuze zählen zu den philosophischen Gewährsmännern, die gemeinhin die Matrix bilden, um eine derart idealistische Ästhetik theoretisch zu legitimieren und abzusichern. Auf epistemologischer Ebene ist hier allerdings von einem performativen Widerspruch auszugehen. Denn während im Gefolge der Diskurskritik unter anderen von Michel Foucault, Jacques Derrida und Pierre Bourdieu jegliche Form von Fortschrittszentriertheit, jegliche Form geschichtsphilosophischen Denkens, jegliche Form von einseitigen Kontinuitätsvorstellungen und schließlich jegliche Bildung von Ursprungsmythen einer Kritik unterzogen wurde, gilt das für die Ästhetik des postdramatischen Theaters und der Performance Art offenbar nicht. Zugleich verweist das oben beschriebene Verständnis von ästhetischer Erfahrung, das seinen Ausdruck in einer Apologie des Ereignisses und der Präsenz findet, nicht nur auf ein Moment
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Epilog der Ideologiekritik, das nur einer ganz bestimmten Ästhetik zugestanden wird und das damit den Fortschrittstopos an eine ganz bestimmte avancierte Ästhetik zu binden vermag. Es verweist auch auf eine Strukturhomologie zur mystischen Erfahrung. Folgt man religionswissenschaftlichen Analysen, so korreliert die Utopie des Jetzt erstaunlich genau mit dem Begriff der mystischen Erfahrung. Schließlich zielt „die Realisierung der Utopie“ nicht auf „die Überbrückung von räumlicher und zeitlicher Distanz“, sondern auf „die Erfahrung eines anderen Bewusstseinszustands, der immer und überall potentiell ist.“1 In der Vernunftkritik sieht der Theologe Jörg Herrmann eine Ursache für die Verwandlung von mystischer in ästhetische Erfahrung. Dabei verweist vor allem das Bilderverbot als einer der „theologischen Kerngedanken der Mystik“ auf eine Tendenz, die sich bei etlichen Künstlern des 20. Jahrhunderts ausmachen lässt. Weitere Parallelen finden sich darüber hinaus im Topos der Askese, der vollkommenen Selbstentäußerung, der Kontemplation, der Zweckfreiheit und der Zeitkategorie der Gegenwart, die im Bereich der mystischen Erfahrung auf eine Verschmelzung mit Gott, auf eine „unio mystica“, hinführen soll.2 Es liegt der Verdacht nahe, dass bei den in der Studie diskutierten Konzepten der ästhetischen Erfahrung eine transzendente Erfahrung ohne Gott angesonnen werden soll. Dies mag als Postulat, als ein Moment einer idealistischen Ästhetik hilfreich sein, eine gegenrepräsentationale, nicht-mimetische Theaterkunst theoretisch abzusichern. Die Frage ist allerdings, ob auf der Ebene der Theoriebildung und ferner der Geschichtsschreibung, die Bindung an ein derart teleologisches Denken noch länger sinnvoll ist. Zugleich ist davon auszugehen, dass sich aufgrund des Abschieds von Geschichtsphilosophie und binären Denkmustern auch eine sich als avantgardistisch verstehende Theaterkunst nicht mehr länger unter moralisch-normative Universaltheoreme genuiner Ideologiekritik und genuiner Innovation einpassen lässt. Angesichts einer ausdifferenzierten Gesellschaft hat bereits Niklas Luhmann mit seiner Systemtheorie Zweifel an einem unilinearen Fortschrittsdenken und an einer ethischen Überbeanspruchung des Kunstsystems geäußert. Kein gesellschaftliches System, ob Religion, Wirtschaft oder Kunst, könne mehr hierarchisch einander überbewertet werden. Diese Kritik gilt auch für die vorliegende Studie, die gegenüber einer Universalbestimmung von ästhetischer Erfahrung einen Begriff von ästhetischer Erfahrung favorisiert, der einem Wettstreit der Diskursarten und damit der Annahme einer grundsätzlichen Unentscheidbarkeit über deren Funktionsweisen ver-
1 2
M. Brück: „Wo endet Zeit?, S. 219. Vgl. J. Herrmann; Wir sind Bildhauern gleich.
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Theater als Ort der Utopie pflichtet ist. Denn wer bereit ist, den Wertpluralismus einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ernst zu nehmen, kann den theoretischen und historiographischen Diskurs über das Theater keinem normativen a priori mehr unterstellen und das auch dann nicht, wenn er damit die besten emanzipatorischen Absichten verbinden mag. Das wiederum bedeutet, dass auch innerhalb der Theoriediskussion von einer absoluten Pluralität unterschiedlicher Zeitbegriffe auszugehen ist, dass die Kategorien von Ereignis und Präsenz immer in einem zeitlichen Kontext zu verorten sind und dass die Apologie des „nunc stans“ im Bereich der ästhetischen Erfahrung ein Modus unter anderen ist, Theater wie Kunst zu erfahren und schließlich auf einer weiteren Ebene zu analysieren. Anhand der Analysen konnte dabei nicht nur gezeigt werden, dass die sich selbst mehr oder weniger offen als avantgardistisch bezeichnenden Gruppen und Künstler wie Jérôme Bel, Forced Entertainment, Alexeij Sagerer und Station House Opera, in einem Umfeld zu verorten sind, das durchaus seinerseits einer Konvention verpflichtet ist, nämlich der Konvention einer nicht-repräsentationalen Ästhetik. Zugleich konnte gezeigt werden, dass die repräsenationskritischen Intentionen, der die einzelnen Produktionen verpflichtet sind, temporalen Ordnungsstrukturen und damit einer narrativen Logik folgen, die ihrerseits komplexer ist, als es die Rede von der Unterbrechung einer teleologischen Handlung innerhalb postdramatischer Produktionen unterstellt. Trotz des unaufhaltsamen Zeitflusses, dem Theateraufführung in besonderer Weise unterliegen und die gleichsam ihre Identität mit der Lebenszeit verbürgen, ist auf der Ebene der Zeitstrukturierung von einem komplexen System semantischer Relationen auszugehen, die sich jedem Zuschauer auf je verschiedene Weise erschließen. Gegenüber den a priori ideologiekritischen und auch quasimystischen Konzepten, wie sie derzeit einen Großteil der theater- wie kunstwissenschaftlichen Diskussion zum postdramatischen Theater und zur Performance Art beherrschen, plädiert die Studie für einen dissensorientierten und grundsätzlich ergebnisoffenen Kunstbegriff. Für die theoretische wie historiographische Wahrnehmung des Theaters bedeutet dies, dass man dem Widerstreit über die Funktionsweisen von Theater und Kunst offen begegnen sollte. Es handelt sich um ein Prinzip des Aushaltens gesellschaftlicher und philosophischer Antinomien. Das bedeutet allerdings auch, dass eine unilineare Fortschrittsgeschichte nicht mehr weiter geschrieben werden kann und dass anzuerkennen ist, dass je nach Perspektive und Vorliebe auch die Entscheidung darüber variiert, was als genuin fortschrittlich gilt und was nicht.
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Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen Juni 2010, ca. 236 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2
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Stephanie Metzger Theater und Fiktion Spielräume des Fiktiven in Inszenierungen der Gegenwart
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Jennifer Elfert Theaterfestivals Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells 2009, 406 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1314-8
Hajo Kurzenberger Der kollektive Prozess des Theaters Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität 2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1208-0
Kuan-wu Lin Westlicher Geist im östlichen Körper? »Medea« im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans. Zur Universalisierung der griechischen Antike Juni 2010, ca. 316 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1350-6
Christine Regus Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts Ästhetik – Politik – Postkolonialismus 2008, 296 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1055-0
Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens 2009, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-706-6
Christina Schmidt Tragödie als Bühnenform Einar Schleefs Chor-Theater Oktober 2010, ca. 334 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1413-8
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Natascha Siouzouli Wie Absenz zur Präsenz entsteht Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy 2008, 214 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-891-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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