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Neue Orte der Utopie: Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen [1. Aufl.] 9783839416136

Vielfach wurde bereits das Ende des utopischen Zeitalters ausgerufen. Dessen ungeachtet bilden sich seit Mitte der 1990e

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German Pages 320 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Der Begriff Utopie
1.3 Forschungsstand
2 Gelebte Utopien
2.1 Wie will ich leben? Das Konzept der Selbstsorge
2.1.1 Autarkie
2.1.2 Das Experiment Walden
2.1.3 Das antike Konzept der Selbstsorge
2.2 Wie wollen wir leben? Die Künstlergruppe als Lebenskunstwerk
2.2.1 Erweiterung des Konzepts der Selbstsorge
2.2.2 Aufbau eines utopischen Raumes
2.2.3 Historische Einordnung der zeitgenössischen Projekte
2.3 Wie will jeder von uns leben? Die Einbeziehung des Betrachters
2.3.1 Kontakt zwischen utopischem Raum und Ausgangsgesellschaft
2.3.2 Funktion des utopischen Raumes
2.4 Schlussbetrachtung
2.4.1 Strategien der Entgrenzung
2.4.2 Der doppelte Charakter der Arbeiten von AVL und N55
2.4.3 Ist es möglich, Utopien zu leben?
3 Sammeln und Archivieren als Ausgangspunkt für Utopien
3.1 Zeitgenössische Positionen
3.1.1 ipfo. Institut für Paradiesforschung
3.1.2 Anke Haarmann
3.1.3 Die Projekte und ihre Vorbilder
3.1.4 Zusammenfassung
3.2 Das Spiel als schöpferisches Prinzip – ein Vergleich der zeitgenössischen Projekte mit Kunstkammern und frühneuzeitlichen Utopien
3.2.1 Das Archiv und seine Nutzer
3.2.2 Räumlich geschlossene Systeme
3.2.3 Einheit von Sammlung und Forschung
3.2.4 Orte spielerischen Austausches
3.2.5 Zusammenfassung
4 Schlussbetrachtung
4.1 Der postmaterielle Utopiediskurs
4.2 Bildende Kunst als Medium der Utopie
4.2.1 Utopien in Literatur und bildender Kunst
4.2.2 Die gemeinschaftliche Produktionsform als utopische Methode
5 Biographien
5.1 Atelier Van Lieshout
5.2 Anke Haarmann [AHA]
5.3 ipfo. Institut für Paradiesforschung
5.4 N55
Literaturverzeichnis
7 Dank
8 Bildnachweis
8.1 Copyright
8.2 Fotonachweis
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Neue Orte der Utopie: Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen [1. Aufl.]
 9783839416136

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Julia Bulk Neue Orte der Utopie

Image | Band 12

Julia Bulk (Dr. phil.) hat Kunstgeschichte und Germanistik in Köln und London studiert. Seit 2014 leitet sie die Wilhelm Wagenfeld Stiftung in Bremen.

Julia Bulk

Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen

Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommene Dissertation.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: N55: N55 Spaceframe (1999), Kopenhagen 2001 Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-1613-2 PDF-ISBN 978-3-8394-1613-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1

Einleitung | 7

1.1 1.2 1.3

Fragestellung | 7 Der Begriff Utopie | 10 Forschungsstand | 13

2

Gelebte Utopien | 17

2.1

Wie will ich leben? Das Konzept der Selbstsorge | 18 2.1.1 Autarkie | 18 2.1.2 Das Experiment Walden | 23 2.1.3 Das antike Konzept der Selbstsorge | 25

2.2

Wie wollen wir leben? Die Künstlergruppe als Lebenskunstwerk | 28 2.2.1 Erweiterung des Konzepts der Selbstsorge | 28 2.2.2 Aufbau eines utopischen Raumes | 33 2.2.3 Historische Einordnung der zeitgenössischen Projekte | 106

2.3

Wie will jeder von uns leben? Die Einbeziehung des Betrachters | 129 2.3.1 Kontakt zwischen utopischem Raum und Ausgangsgesellschaft | 129 2.3.2 Funktion des utopischen Raumes | 144

2.4

Schlussbetrachtung | 150 2.4.1 Strategien der Entgrenzung | 152 2.4.2 Der doppelte Charakter der Arbeiten von AVL und N55 | 155 2.4.3 Ist es möglich, Utopien zu leben? | 165

3

Sammeln und Archivieren als Ausgangspunkt für Utopien | 169

3.1

Zeitgenössische Positionen | 170 3.1.1 ipfo. Institut für Paradiesforschung | 170 3.1.2 Anke Haarmann | 179 3.1.3 Die Projekte und ihre Vorbilder | 186 3.1.4 Zusammenfassung | 210

3.2

Das Spiel als schöpferisches Prinzip – ein Vergleich der zeitgenössischen Projekte mit Kunstkammern und frühneuzeitlichen Utopien | 212 3.2.1 Das Archiv und seine Nutzer | 213 3.2.2 Räumlich geschlossene Systeme | 216 3.2.3 Einheit von Sammlung und Forschung | 225 3.2.4 Orte spielerischen Austausches | 229 3.2.5 Zusammenfassung | 241

4

Schlussbetrachtung | 245

4.1 4.2

Der postmaterielle Utopiediskurs | 246 Bildende Kunst als Medium der Utopie | 257 4.2.1 Utopien in Literatur und bildender Kunst | 258 4.2.2 Die gemeinschaftliche Produktionsform als utopische Methode | 264

5

Biographien | 277

5.1 5.2 5.3 5.4

Atelier Van Lieshout | 277 Anke Haarmann [AHA] | 277 ipfo. Institut für Paradiesforschung | 278 N55 | 279

6

Literaturverzeichnis | 281

7

Dank | 313

8

Bildnachweis | 315

8.1 8.2

Copyright | 315 Fotonachweis | 315

1 Einleitung

1.1

F RAGESTELLUNG

Ich wünschte, dass „andere die neue Welt sehen können, wie ich sie gesehen habe,“1 dass auch sie die Möglichkeit hätten, durch „leuchtende Stätten des Wahren und Guten“2 zu gehen und deren „ergreifende, vollkommene Schönheit [und] Harmonie“3 zu erleben. Doch wie könnte man dem Bewohner der alten Welt die neue Welt öffnen? Müssen wir warten, bis eine fremde Stimme Rettung von außen verheißt und uns die „beste Staatsverfassung“4 enthüllt? „Lieber Leser auf fernen Planeten, wir werden zu Ihnen kommen, damit ihr Leben ebenso göttlich-vernünftig und exakt wie das unsere werde.“5 Oder sollen wir eine „Schule für ein höheres Leben“6 besuchen, um dann gemeinsam an der „Kathedrale der Zukunft“ 7 zu bauen? Doch wer entwickelt den Lehrplan und zeichnet die Blaupausen? Wir könnten auch ohne einen rational planenden Geist „dem reinen Trieb der Natur“ 8

1

Morris, William: Kunde von Nirgendwo, S. 226.

2

Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 21.

3

Samjatin, Jewgenij: Wir, S. 80.

4

Morus, Thomas: Utopia, S. 13.

5

Samjatin, Jewgenij: Wir, S. 68.

6

Hofman-Oedenkoven, Ida: Monte Verità, Lorch 1906 (zitiert nach: von

7

Gropius, Walter: Ansprache an die Studierenden, S. 46.

8

Diderot, Denis: Nachtrag zu Bougainvilles Reise, S. 17.

Graevenitz: Hütten und Tempel, S. 86).

8 | N EUE O RTE DER UTOPIE

folgen. Vielleicht reicht es aber schon, „die Nachbarn aufzuwecken“ 9 und „mit ein paar Gewohnheiten zu brechen, zu erreichen, dass die Leute Fragen stellen.“10 Das könnte der Anfang einer neuen Welt sein, deren Gestalt noch nicht bestimmt ist, so wie auch „des Menschen Möglichkeiten […] noch nicht vermessen“11 sind. Doch will man sich als „autonomiestolze[s] Individuum“ selbst zu seinem eigenen „verfügbaren Material“ machen und sich damit hoffnungslos „überfordern“?12 Also doch lieber alles so lassen, wie es ist, und sich im Zustand der „kulturelle[n] Kristallisation“ 13 einrichten. Doch wird nicht immer etwas fehlen? „Wie sollte ich nicht gründlich nach dem streben, was ich mein ganzes Leben hindurch entbehren musste?“14 Was also sollen wir tun? Zwischen dem ältesten und dem jüngsten Zitat der einleitenden Collage über die Möglichkeiten und Probleme utopischen Denkens liegen knapp 500 Jahre, doch auf die abschließende Frage wurde noch immer keine eindeutige Antwort gefunden. Mit Blick auf den Zusammenbruch kommunistischer Systeme wurde in den 1990er Jahren gar das „Ende des utopischen Zeitalters“15 ausgerufen. Also suchen wir nicht mehr nach der Antwort auf die Frage, wie wir in Zukunft unser Leben gestalten wollen? In dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass es an der Schwelle des 20. zum 21. Jahrhunderts besonders Künstlergruppen sind, die den neuzeitlichen utopischen Diskurs weiterführen. Dabei greifen sie unterschiedliche Ansätze ihrer Vorgänger auf, aber entwickeln auch neue Strategien, um Alternativen zum Bestehenden aufzuzeigen. Im Folgenden sollen zwei Formen des utopischen Denkens und Handelns in der zeitgenössischen Kunst thematisiert werden. Im zweiten Kapitel werden die Projekte der Künstlergruppen Atelier Van Lieshout und N55 vorgestellt. Sie schaffen einen von der Umwelt ab-

9

Thoreau, Henry David: Walden, S. 94.

10

Le Guin, Ursula: Planet der Habenichtse, S. 349.

11

Thoreau, Henry David: Walden, S. 15.

12

Kersting, Wolfgang; Langbehn, Claus: Vorwort, S. 8.

13

Gehlen, Arnold: Über kulturelle Kristallisation, S. 298.

14

Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 22.

15

Der vollständige Titel lautet: Fest, Joachim: Der zerstörte Traum: Vom Ende des utopischen Zeitalters.

E INLEITUNG | 9

gegrenzten Raum, in dem sie möglichst unabhängig zusammen leben und arbeiten können. Welche Kritik üben sie an der Gesellschaft und wie sehen die alternativen Lösungen aus, die beide Gruppen im Gegenzug entwerfen? Diese Fragen sollen immer auch vor dem Hintergrund historischer Utopieentwürfe behandelt werden. Geklärt werden soll, in welchem Verhältnis diese gelebte Utopie zu der umgebenden Gesellschaft steht und inwieweit die Künstlergruppen ihr eine über den eigenen Lebenszusammenhang hinausgehende Funktion zuweisen. Am Beispiel der Künstlergruppe Institut für Paradiesforschung und den durch die Künstlerin Anke Haarmann initiierten Projekten wird im dritten Kapitel dargelegt, dass die Tätigkeiten des Sammelns und Archivierens als utopische Strategie bezeichnet werden können. Welche Arbeitsweisen und Strukturen werden entwickelt, um ein Archiv aufzubauen, in dem Vorstellungen eines anderen Lebens gesammelt werden können? Welche Hoffnungen verbinden sich mit einem solchen Projekt? Auch in diesem Kapitel soll untersucht werden, an welche künstlerischen Strömungen und historischen Vorbilder die zeitgenössischen Gruppen mit ihren Arbeiten anknüpfen. Im vierten Kapitel werden die Gemeinsamkeiten der behandelten Künstlergruppen herausgearbeitet und die von ihnen geschaffenen Objekte und Projekte als Teil des postmateriellen Utopiediskurses charakterisiert. Geklärt werden soll auch, in welchen zentralen Punkten die zeitgenössischen Gruppen diesen Diskurs weiter entwickeln. Welche Rolle spielt dabei die gemeinschaftliche Produktionsform, die bei Atelier Van Lieshout, N55, Anke Haarmann und dem Institut für Paradiesforschung in ganz unterschiedlicher Ausformung zum Tragen kommt? In welchem grundsätzlichen Verhältnis stehen die beschriebenen Arbeiten zur Gattung der literarischen Utopie? Abschließend soll geklärt werden, inwiefern die zeitgenössischen Künstlergruppen mit ihrer überindividuellen Arbeitsweise dem bisherigen utopischen Diskurs ein neues Kapitel anfügen. Dass sich utopisches Denken mit vielfältigen Themen auseinandersetzt, zeigt sich auch in dem interdisziplinären Ansatz, der in dieser Arbeit verfolgt wird. In den Kapiteln 2 und 3 werden formanalytische Methoden genutzt, um das Besondere der verschiedenen zeitgenössischen Arbeiten herauszuarbeiten und diese mit historischen Entwürfen vergleichen zu können. Darüber hinaus wird versucht, die verschiedenen Entwürfe in den geistesgeschichtlichen Kontext einzuordnen. Auch werden einzelne inhaltliche Motive, die sich über Jahrhunderte vor allem in der literarischen Utopie

10 | N EUE O RTE DER UTOPIE

entwickelt haben, mit den Projekten und Objekten der Künstlergruppen in Verbindung gebracht. In diesem Zusammenhang wird unter anderem die politische und wirtschaftliche Struktur der alternativen Welt behandelt, die sich als kritische Antwort auf die umgebende Gesellschaft versteht. Daher werden die Entwürfe auch – wie bei kunstsoziologischen Studien – als Reflexion gesellschaftlicher Praxis verstanden. Für die Klärung der Frage, welche Funktionen die Gruppen den von ihnen geschaffenen Projekten zuweisen, wird der rezeptionsästhetische Ansatz aufgegriffen. Um die Arbeitsweise der hier besprochenen Künstlergruppen miteinander vergleichen zu können, sollen im Schlusskapitel schließlich Elemente der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie angewendet werden.

1.2

D ER B EGRIFF U TOPIE

Der Begriff Utopie geht auf Thomas Morus’ Roman: „Ein wahrhaft goldenes und ebenso heilsames wie ergötzliches Büchlein über den besten Zustand des Staates und über die neue Insel Utopia“ aus dem Jahr 1516 zurück.16 Der Name setzt sich aus den griechischen Silben ou (nicht) und topos (Ort) zusammen und verweist damit auf die Irrealität der von Morus geschilderten Insel. Ab dem 16. Jahrhundert erfuhr das Wort Utopia eine Bedeutungserweiterung.17 Zum einen wurde es bald für ähnliche literarische Entwürfe verwendet, so dass es im 18. Jahrhundert zu einer Gattungsbezeichnung wurde. Zum anderen entwickelte es sich zu einer geographischen Metapher, die alle fiktiven Räume und Zeiten bezeichnen konnte, 18 auch wenn diese zum Teil schon lange vor Morus entstanden waren, wie zum Beispiel der Mythos vom Goldenen Zeitalter oder Erzählungen vom Schlaraffenland. Nach und nach löste sich der Begriff weiter von Thomas Morus und seinem Werk und wurde zu einem abstrakten Allgemeinbegriff. So konnte er in Krisenzeiten Teil politischer Rhetorik werden, die den je-

16

Morus, Thomas: Utopia, S. 7-110.

17

Vgl. die Darst. in: Dierse, U.: Utopie, Sp. 510.

18

Die erste lexikalische Nennung in: Cotgrave, Randle: A Dictionarie of The French and English Tongves, London 1611 bezieht sich schon nicht mehr auf Thomas Morus, sondern definiert: „Vtopie: An imaginerie place, or countrey,“ Sp. VVA.

E INLEITUNG | 11

weiligen Gegner und seine Lösungsvorschläge diffamierte. Dieser „pejorative Kampfbegriff“19 erfuhr im 19. Jahrhundert eine ideologische Aufladung und diente als Gesinnungsbegriff, mit dem man vor allem die Lehren des Sozialismus und des Kommunismus belegte. 20 Eine Aufwertung lässt sich erstmals in der theoretischen Reflexion des Begriffs Utopie Ende des 19. Jahrhunderts feststellen. Man erkannte, dass utopische Entwürfe auch die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit vermitteln und darüber hinaus Ausdruck allgemeiner Ideen und Bestrebungen sein können.21 Damit wurde Utopie zu einem „geschichtsphilosophischen Zielbegriff,“22 der sich jedoch auf breiterer Ebene erst nach dem Ersten Weltkrieg durchsetzte, obwohl die negative Konnotation des Begriffes in der politisch-sozialen Sprache und der Alltagssprache bis heute noch aktuell ist. In den Geisteswissenschaften hingegen wurde die positive Deutung weitergeführt, denn man sah im Utopischen nun eine „Dimension menschlichen Denkens.“23 Da der Begriff Utopie im Laufe der Geschichte also auf verschiedene Inhalte bezogen wurde und darüber hinaus Untersuchungsgegenstand verschiedener Disziplinen ist, kommt es zu einer „Vielzahl unterschiedlicher, miteinander konkurrierender Utopiedefinitionen,“24 wie es der Literaturwissenschaftler Wilhelm Voßkamp feststellt. Auch Richard Saage betont für seinen Forschungsbereich: „Wer heute über politische Utopien redet, muß wissen, dass es keinen Konsens darüber gibt, was man unter diesem Begriff zu verstehen hat.“25 Im Wesentlichen lassen sich zwei Konzeptionen unterscheiden: Der klassische Utopiebegriff geht von dem von Morus geschaffenen „gattungsgeschichtlichen Prototyp[]“26 aus und definiert Utopien als „Fiktionen innerweltlicher Gesellschaften, die sich zu einem Wunsch- oder Furchtbild verdichten.“ Darunter lassen sich sowohl archistische als auch anarchistische Entwürfe fassen, solange keine subjektive Perspektive ein-

19

Hölscher, Lucian: Utopie, S. 738.

20

Hölscher, Lucian: Utopie, S. 765.

21

Vgl. die Darst. in: Hölscher, Lucian: Utopie, S. 783.

22

Ebd.

23

Hölscher, Lucian: Utopie, S. 786.

24

Voßkamp, Wilhelm: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Utopieforschung, S. 3.

25

Saage, Richard: Wie zukunftsfähig ist der klassische Utopiebegriff?, S. 617.

26

Voßkamp, Wilhelm: Thomas Morus’ Utopie, S. 183.

12 | N EUE O RTE DER UTOPIE

genommen wird, sondern „überindividuelle Interaktionszusammenhänge“ 27 thematisiert werden. Der intentionale Utopiebegriff verankert das Phänomen im Individuum und fasst es sehr viel weiter: „Alle Elemente des menschlichen Bewusstseins, in denen sich dessen Verlangen einer besseren Welt“28 zeigt, können demnach als Utopie bezeichnet werden. Die dieser Arbeit zugrunde liegende Konzeption geht zunächst vom klassischen Utopiebegriff aus. Der Politikwissenschaftler Richard Saage bezeichnet Utopien als „Resonanzphänomene auf soziale Krisen“29 und spricht damit das erste Utopiekriterium an, das im Rahmen dieser Arbeit gelten soll: Sie ist keine Träumerei ohne Bezug zu der Gesellschaft, der sie entstammt, sondern äußert vielfältige Kritik an ihr. Doch ein utopischer Entwurf bleibt – so das zweite Merkmal – nicht auf der Stufe der Kritik stehen, sondern entwickelt Lösungsvorschläge, die so miteinander vernetzt sind, dass sie sich „qua Negation[] zur jeweils bestehenden Realität“ 30 zu einer Gegenwelt verdichten.31 Wichtig ist, dass nicht nur partielle Verbesserungsvorschläge für einzelne Lebensbereiche gemacht werden, sondern eine möglichst umfassende Alternative entwickelt wird. Daher werden im Rahmen dieser Arbeit „die Fülle der menschlichen Phantasie, […] Antizipationen, Wunschbilder [und] Hoffnungsinhalte“32 nicht als Utopien bezeichnet, wenn sie die ersten beiden Kriterien nicht erfüllen. Die entwickelten Gegenwelten sind darüber hinaus „hypothetisch-möglich,“33 das heißt ihre Inhalte sind theoretisch denkbar und können rational nachvollzogen werden. Das dritte Kriterium grenzt den „fiktionalen Charakter“ der Utopie „gegen philosophische Traktate oder Parteiprogramme strukturell“ 34 ab. Die Literaturwissenschaft erkennt „spezifische narrative und bildhafte Ver-

27

Saage, Richard: Utopische Profile, S. 7.

28

Hölscher, Lucian: Utopie, S. 787.

29

Saage, Richard: Utopieforschung, S. 9.

30

Voßkamp, Wilhelm: Utopieforschung, Bd. 1, S. 4.

31

Eine andere Form der Utopie entwickelt keine alternativen Lösungsvorschläge, sondern extrapoliert die negativen Entwicklungslinien der Gesellschaft. Diese Form von Utopie wird oft als Dystopie bezeichnet.

32

Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, S. 14.

33

Mähl, Hans Joachim: Der poetische Staat, S. 273.

34

Gnüg, Hiltrud: Utopie, S. 11.

E INLEITUNG | 13

fahren,“35 die dabei angewendet werden. Allgemeiner drückt es HansJoachim Mähl aus, wenn er feststellt, dass ein utopischer Entwurf versuche, das von ihm entwickelte „Gegenbild zu versinnlichen.“36 Hier verlässt die vorliegende Arbeit den enger gefassten klassischen Utopiebegriff, der sich im Wesentlichen auf Texte bezieht. Um die Verfahren zu beschreiben, die die zeitgenössischen Künstlergruppen bei der Vermittlung der Gegenwelt anwenden, wird dagegen versucht, auch einzelne Elemente des intentionlen Utopiebegriffs für die Untersuchung fruchtbar zu machen.

1.3

F ORSCHUNGSSTAND

Utopien sind Thema sehr unterschiedlicher Disziplinen, und so lässt sich die „Fülle der wissenschaftlichen Literatur […] kaum mehr überblicken.“37 Ein Schwerpunkt der Forschung liegt in den Literaturwissenschaften. Wilhelm Voßkamp hat sich über Jahre mit der literarischen Utopie befasst, und vor allem seine Studien zur Selbstkritik dieser Gattung werden hier herangezogen.38 Nach wie vor lesenswert sind die Ergebnisse einer interdisziplinären Forschungsgruppe, die Voßkamp 1982 in drei Bänden herausgegeben hat.39 Wertvoll für diese Arbeit waren auch Erkenntnisse aus der politikwissenschaftlichen Forschung. Richard Saage untersucht weniger die Vermittlungsform utopischen Denkens, sondern vor allem die soziopolitische Struktur utopischer Entwürfe von der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert. Sein Anliegen, die Utopie als positives Stimulans zu charakterisieren, wurde im Rahmen dieser Arbeit aufgegriffen. Während Saages Berichtszeitraum bis in die 1980er Jahre reicht, beschäftigt sich Saskia Poldervaart mit der Frage, in welchen Praktiken sich utopisches Denken gerade in der heutigen Gesellschaft manifestiert und welche neuen Fragen dabei verhandelt werden.40 Utopisches Denken ist auch Thema der Philosophie. Zwar wird in dieser Arbeit der ausufernde und teleologisch begründete Utopiebegriff

35

Vosskamp, Wilhelm: Einleitung, in: Utopieforschung, Bd. 1, S. 3.

36

Mähl, Hans Joachim: Der poetische Staat, S. 274.

37

Braungart, Wolfgang: Die Kunst der Utopie, S. 9.

38

Besonders: Voßkamp, Wilhelm: Selbstkritik und Selbstreflexion, S. 233-243.

39

Voßkamp, Wilhelm (Hrsg.): Utopieforschung.

40

Poldervaart, Saskia: Utopian Aspekts of Social Movements.

14 | N EUE O RTE DER UTOPIE

Ernst Blochs nicht geteilt, doch seine intentionale Ausrichtung, die bei ihm die konkrete Handlung neben die Erkenntnis setzt, gibt wichtige Impulse für die zeitgenössische Beschäftigung mit dem Thema Utopie. Für das zweite Kapitel werden Schriften zum Thema der Lebenskunst von Michel Foucault und Wilhelm Schmid herangezogen. 41 Zu diesem Thema liefert auch der Band 142 des Kunstforums international Anregungen, weil er dem Konzept der Lebenskunst in seinen zeitgenössischen Ausformungen nachgeht. Die Kunstgeschichte hat sich bisher weniger mit Utopien beschäftigt. 42 Vereinzelt gibt es Studien zu bestimmten Epochen, besonders zu frühneuzeitlichen Utopieentwürfen, zu Architekturprojekten zur Zeit der Französischen Revolution und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei allerdings oft ein sehr weiter Utopiebegriff vorherrscht. Die interdisziplinär angelegte Untersuchung Wolfgang Braungarts über „Die Utopie als Kunstkammer“ 43 und ihr Zusammenhang mit frühneuzeitlichen Utopien hat für das dritte Kapitel dieser Arbeit wertvolle Hinweise geliefert, ebenso wie die Überlegungen Horst Bredekamps zur „Kunstkammer als Ort spielerischen Austausches.“ Hubertus Gaßner ist in verschiedenen Texten der „Konstruktion der Utopie“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachgegangen. Es ist vor allem das Thema der Architektur in utopischen Entwürfen, die von kunsthistorischer Seite Beachtung gefunden hat. Während Ruth Eaton die allgemeine Entwicklung idealer Stadtentwürfe im Auge hat, beschäftigt sich Franziska Bollerey ausführlich mit der „Architekturkonzeption der utopischen Sozialisten,“ und Robert P. Emlen fragt nach der Rolle der Architektur in Shaker-Gemeinden in den USA.44 Wichtig für diese Arbeit ist auch Literatur zu Themen, die sich nicht direkt auf Utopien beziehen, aber gleichwohl als Anknüpfungspunkte für die zeitgenössischen Künstlergruppen dienen. Hierzu zählen die verschiedenen

41

Foucault, Michel: Technologien des Selbst und Schmid, Wilhelm: Philosophie

42

Bedauernd stellt beispielsweise Wilhelm Voßkamp fest, dass in den interdis-

der Lebenskunst. ziplinär ausgerichteten Bänden zur Utopieforschung die Kunstgeschichte kaum eine Rolle spielt (vgl. die Darst. in: Voßkamp, Wilhelm: Einleitung, in: ders. [Hrsg.]: Utopieforschung, S. 8). 43

Braungart, Wolfgang: Die Kunst der Utopie.

44

Emlen, Robert P.: Shaker Villages, S. 3-29.

E INLEITUNG | 15

Zweige der Lebensreformbewegung, die im Konzept der Gartenstadt oder kleinerer alternativer Siedlungen ihre konkreten Ausformungen erfahren haben. Hier gibt das von Diethart Kerbs und Jürgen Reulecke herausgegebene „Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933“ einen umfassenden Überblick. Als einflussreich erwies sich die Siedlung auf dem Monte Verità bei Ascona, die erstmals durch eine 1978 von Harald Szeemann kuratierte Ausstellung bekannt wurde45 und deren Entwicklung Andreas Schwab 2002 kritisch hinterfragte. Für die vorliegende Arbeit wurden auch Studien einbezogen, die sich mit dem Phänomen der Künstlergruppe beschäftigen. Grundsätzliche Überlegungen über „Gruppen und Netzwerke in der Bildenden Kunst“ stellt Hans Peter Thurn in dem insgesamt lesenswerten Band 116 des Kunstforum International an. 46 Nina Zimmer geht in ihrer fundierten Dissertation auf die „Gemeinschaftsarbeit in der Kunst um 1960“ ein, während sich die Ausstellung „Kollektive Kreativität“ 47 auf die Gegenwart bezieht. Auch Darstellungen zu beispielhaften Formen der Gruppenarbeit werden zum Vergleich immer wieder herangezogen, seien es Publikationen, die sich mit der Gruppierung der Nazarener zu Beginn des 19. Jahrhunderts48 auseinandersetzen oder Berichte über Gruppen und Kommunen seit den 1960er Jahren.49 Bei der Beschäftigung mit den hier besprochenen zeitgenössischen Künstlergruppen waren vor allem die Interviews hilfreich, die im Rahmen dieser Arbeit entstanden sind. Gesprochen werden konnte mit Christina Dilger, Anke Haarmann, Rikke Luther, Joep van Lieshout und Ion Sørvin. Auch die zum Teil sehr ausführlichen Homepages der einzelnen Gruppen haben Aufschluss über Zielsetzungen und einzelne Projekte gegeben. 50 Im Gegensatz zu N55, dem Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann

45

Szeemann, Harald (Hrsg.): Monte Verità. Berg der Wahrheit.

46

Thurn, Hans Peter: Die Sozialität des Solitären, S. 100-129.

47

Block, René; Nollert, Angelika (Hrsg.): Kollektive Kreativität.

48

Besonders: Jauslin, Manfred: Die gescheiterte Kulturrevolution, der Ausstellungkatalog: Gallwitz, Klaus (Hrsg.): Die Nazarener in Rom und die Darstellung von Thomas Wimmer: I Nazareni – die klösterliche Utopie, S. 78-94.

49

Fleck, Robert: Die Mühl-Kommune, Kommune 2: Versuch der Revolutionie-

50

www.n55.dk (die auf der Homepage gegebenen Informationen hat N55 zusätz-

rung und Enzensberger, Ulrich: Die Jahre der Kommune I. lich auch als Buch herausgegeben: N55: N55 Book).

16 | N EUE O RTE DER UTOPIE

sind zu Atelier Van Lieshout zahlreiche Beiträge in Zeitschriften und Katalogen erschienen.51 Einen guten Überblick über das Schaffen gibt das vom Atelier 2007 herausgegebene Buch „Atelier van Lieshout.“ Hervorzuheben ist außerdem der Ausstellungskatalog, der vom Kölnischen Kunstverein und dem Museum Boijmans Van Beuningen Rotterdam herausgegeben wurde, ebenso die Kataloge, die anlässlich der Ausstellungen „The Good, The Bad & The Ugly“52 und „Atelier van Lieshout“ im Museo d’Arte Contemporanea in Rom53 entstanden sind. Über die Anfangsphase des Projektes AVL-Ville gibt besonders das Interview, das Jennifer Allen 2000 mit Joep van Lieshout führte, einen guten Einblick.54 Aufschlussreich waren schließlich auch die eigenen Mitschriften oder Tonaufzeichnungen der Vorträge, die Joep van Lieshout im Rahmen von Symposien oder Ausstellungseröffnungen gehalten hat.

51

An der Technischen Universität Braunschweig hat Manitsche Messdaghi 2001 eine Examensarbeit zu Anke Haarmann verfasst. Sie beschäftigt sich allerdings mit Themen, die im Rahmen dieser Arbeit keine vorherrschende Rolle spielen. N55 ist in einigen Büchern und Katalogen zu Gruppenausstellungen vertreten, die aber keine detaillierten Informationen zu einzelnen Positionen bieten (beispielsweise: Ruth Slavid: Micro. Very small Buildings, S. 150-153; Gassen, Richard W. (Hrsg.): Utopien heute?, S. 78-81. In diesem Katalog gibt es auch vier Seiten zum Institut für Paradiesforschung (Gassen, Richard W. (Hrsg.): Utopien heute?, S. 104-107).

52

Atelier Van Lieshout (Hrsg.): the good, the bad + the ugly.

53

MACRO (Hrsg.): Atelier van Lieshout.

54

Allen, Jennifer: Up the Organisation, S. 104-111.

2 Gelebte Utopien

Für die Literaturwissenschaft ist der fiktionale Charakter wesentliches Merkmal der Utopie. Sozialwissenschaftliche Forscher haben dagegen immer wieder auch Bewegungen untersucht, bei denen utopisches Denken einen real-praktischen Geltungsanspruch entwickelte.1 Unter den Begriffen „gelebte Utopie“ oder „utopisches Experiment“ 2 versteht Richard Saage eine Variante der Utopie, „die sich gleichsam experimentell ihrer Authentizität in den Nischen der Gesellschaft [versichert], indem sie […] Alternativen zum Bestehenden erprobt.“3 Auch die Herausgeber eines Buches, das verschiedene „alternative Lebensentwürfe“ vorstellt, tun dies unter dem Titel „Gelebte Utopien.“4 Für Helmut Jenkis muss jeder Versuch einer solchen Umsetzung wegen der mangelnden Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen scheitern, und er folgert: „Wann immer [Utopien] realisiert wurden oder verwirklicht werden sollen,“ ist das Ergebnis „inhuman und barbarisch.“5 Ebenso sieht Joachim Fest in Utopien, die „nicht mehr Kritik und Parodie sein woll[en], sondern Handlungsmodell und Prospekt von Morgen“6 vor allem die Gefahr von totalitären Potentialen. Besonders nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ wird immer wieder

1

Vgl. die Darst. in: Hölscher, Lucian: Utopie, S. 734.

2

Saage, Richard: Utopische Profile, Bd. III, S. 4.

3

Vgl. z. B. Saage, Richard: Vorwort, S. X.

4

Meißner, Joachim; Meyer-Kahrweg, Dorothee; Sarkowicz, Hans (Hrsg.): Ge-

5

Vgl. die Darst. in: Jenkis, Helmut: Sozialutopien, VII.

6

Fest, Joachim: Der zerstörte Traum, S. 94.

lebte Utopien.

18 | N EUE O RTE DER UTOPIE

die Frage gestellt, ob „damit nicht zugleich auch die Fundamente der klassischen Sozialutopie selbst zerstört“7 wurden. In diesem Kapitel werden mit Atelier Van Lieshout und N55 zwei Künstlergruppen vorgestellt, die trotz dieser Einwände den Versuch unternehmen, praktische Alternativen zur bestehenden Gesellschaftsordnung zu erarbeiten. Welche Entwicklungen dabei kritisiert werden und wie die Lösungsvorschläge für die unterschiedlichen Bereiche des Lebens aussehen, soll im Folgenden untersucht werden. Auf welche Weise wird der Gegenentwurf vermittelt, und wie wird er in der umgebenden Welt verortet? An welche kunstgeschichtlichen Vorbilder knüpfen die Gruppen mit einem solchen Ansatz an, und in welchem Zusammenhang stehen die Projekte zu historischen und zeitgenössischen Utopieentwürfen?

2.1

W IE WILL ICH LEBEN ? D AS K ONZEPT DER S ELBSTSORGE

2.1.1 Autarkie Atelier Van Lieshout und N55 haben eine Reihe von Arbeiten geschaffen, die auf der einen Seite künstlerische Werke sind, die aber auch als funktionale Objekte verwendbar sind wie architektonische Entwürfe, Möbel und Systeme zur Nahrungsmittelherstellung. Sie haben Theorien entwickelt und mit verschiedenen Spezialisten zusammengearbeitet. Um in ihr Werk und in die Thematik dieses Kapitels einzuführen, soll jeweils eine Arbeit von AVL und N55 vorgestellt und miteinander verglichen werden. 1997 baut das Atelier Van Lieshout den Autocrat, einen Autoanhänger, den es ähnlich wie einen Wohnwagen mit Bett, Tisch und Küche ausrüstet [Abbildung 1]. Anders als bei herkömmlichen Wohnmobilen soll beim Autocrat nicht möglichst viel Luxus auf wenig Raum untergebracht werden, denn der gesamte Aufbau verhehlt nicht, dass er in bester Do-it-yourselfManier selbst gezimmert ist. „The car was designed and manufactured with

7

Saage, Richard: Utopieforschung. Eine Bilanz, S. 109. Im Gegensatz zu Jenkis und Fest traut Saage dem utopischen Denken aber durchaus Lernfähigkeit zu und weist ihm für die Zukunft eine wichtige Rolle zu.

G ELEBTE UTOPIEN | 19

Abbildung 1: Atelier Van Lieshout: Autocrat, 1997

the utmost autocracy in mind.“ 8 erklärt Joep van Lieshout und er führt weiter aus: „Wir haben versucht alles, aber auch wirklich alles selbst zu machen. Ich habe nur das Holz für das Gestell gekauft, alles andere – von den Scharnieren für die Türen bis zum Ofen oder zum Wasserhahn ist selbst gemacht. Ich wollte so selbstständig wie möglich sein.“9 Ein Aquarell aus dem Jahr 1997 zeigt, wie der Autocrat gebraucht werden soll:10 Genauso unabhängig wie die Gruppe beim Bau des Anhängers vorgegangen ist, so autark soll auch der Bewohner des Autocrat sein Leben gestalten. Dieser hat sich mit ein paar Tieren auf einem Stück Land niedergelassen und bebaut einen kleinen Acker. Statt auf einen Gas- oder Elektroanschluss angewiesen zu sein, kann er seinen auf einfachste Funktionen reduzierten Ofen mit Holz befeuern und in den zahlreichen Regalen und Schränken umfangreiche Vorratshaltung betreiben. Ein aufklappbarer Arbeitsplatz an der Au-

8

Begleittext zum Autocrat in: Atelier Van Lieshout (Hrsg.): Atelier van

9

Van Lieshout, Joep in: Gespräch mit der Autorin während der Pressekonfe-

Lieshout, S. 107. renz. 10

Autocrat, Aquarell auf Papier, 1997.

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ßenseite des Anhängers kann zum Zerlegen von geschlachteten Tieren verwendet werden. Der Autocrat gehört zur Gruppe der Mobile Homes, mit denen sich Atelier Van Lieshout vor allem in den ersten Jahren seines Bestehens beschäftigt hat.11 Wie es der Name dieser Werkgruppe schon vermuten lässt, ist Mobilität hier ein wichtiges Thema und so kann der eben besprochene Anhänger leicht bewegt werden. Auch die Bezeichnung Autocrat (griechisch: autos [selbst] und kratein [herrschen]) drückt das Anliegen des Ateliers aus: Mit diesem Gefährt hat der Benutzer die Möglichkeit, ein selbst beherrschtes, also unabhängiges Leben zu führen – „far away from civilized society.“12 Auch N55 hat sich Gedanken über ein unabhängiges Leben gemacht, geht aber mit dem Snail Shell System [Abbildung 2] noch einen Schritt weiter als AVL mit dem Autocrat. N55 entwirft eine Art zylindrischen Container aus Polyethylen, der mit seinem Durchmesser von 1,53 m gerade genug Raum für eine Person bietet, um darin zu liegen oder zu kauern.13 Wegen seiner Form und seines geringen Gewichtes ist der Container gut zu bewegen. Man kann ihn vor sich her rollen oder ihn wie ein Hamsterrad von innen bewegen. Durch ein an der Außenseite angebrachtes Paddel ist es möglich, das Snail Shell System als Boot auf dem Wasser zu benutzen. Eine der flachen Seiten ist mit zwei Öffnungen versehen, von denen die größere als Eingang dient und die kleinere für eine zusätzliche Luftzufuhr sorgt. Der Container kann mit verschiedenen Vorrichtungen ausgestattet werden. Eine abnehmbare Gummibeschichtung sorgt für einen guten Griff während des Transportes, eine Equipment box, die mit Gummiseilen in Inneren festgemacht ist, enthält eine Fackel, einen Wassercontainer und Kochutensilien. Mit Hilfe einer Plastiktüte kann die Aufbewahrungsbox darüber hinaus auch als Toilette benutzt werden. Das Innere des Containers ist auf der einen Seite mit Polyurethanschaum ausgekleidet, der zugleich als Matratze und Isolierung dient. Zusätzlich wird empfohlen, den Tank von außen

11

1995 entstanden z. B. La Bais-ô-Drôme, Mobile Home for Kröller-Müller und das Modular House Mobile. Der schon erwähnte Autocrat wurde 1997 gebaut und ein Jahr später kam das A3 Mobiel und das vom Walker Art Center in Minneapolis in Auftrag gegebene The Good, The Bad and the Ugly hinzu.

12

Begleittext zum Autocrat, in: Atelier van Lieshout, Rotterdam 2007, S. 107.

13

Vgl. N55: Manual for Snail Shell System.

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Abbildung 2: N55: Snail Shell System, 2002

mit Schnee oder Blättern zu schützen.14 Mit einer Sonderausrüstung lässt sich eigene Energie herstellen, doch der Benutzer hat auch die Möglichkeit, sich an bestehende Infrastrukturen wie zum Beispiel Telefonkabel oder elektrische Leitungen anzukoppeln. Wie der Autocrat befriedigt das Snail Shell System damit, wenn auch auf sehr spartanische Art und Weise, die Grundbedürfnisse des Menschen: Es schützt vor Witterungseinflüssen wie Wind und Regen, bietet Platz zum Schlafen und eine Grundausrüstung zur Nahrungsmittelzubereitung. N55 hat das Snail Shell System in verschiedenen Umgebungen fotografiert: auf dem Wasser, in der Natur, im urbanen Raum neben parkenden Autos oder auf einem öffentlichen Platz. 15 Offensichtlich wurde das System entworfen, um einen Benutzer zu begleiten, der sein Leben nicht an einem Ort verbringen, sondern flexibel auf verschiedene Anforderungen reagieren will, ohne sich dabei von vorgegebenen Strukturen abhängig machen zu müssen. Wie beim Autocrat gibt auch beim Snail Shell System der Name einen Hinweis auf ein zentrales Thema von N55: Es

14

Ebd.

15

Vgl. die Fotos in: N55: Manual for Snail Shell System.

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ist ein System für einen Menschen, der sich nicht an Haus oder Mietwohnung binden möchte, sondern frei agieren will. Wie eine Schnecke ihr Haus auf dem Rücken bei sich trägt, so hat auch der Nutzer des Snail Shell Systems immer alles zum Leben Notwendige bei sich. Die eben beschriebenen Arbeiten von N55 und Atelier Van Lieshout erscheinen wie eine exemplarische Auseinandersetzung mit dem Thema Autarkie. Besonders N55 untersucht dabei in einer fast schon wissenschaftlich anmutenden Herangehensweise die Minimalforderungen für das unabhängige (Über-)Leben eines einzelnen Menschen.16 Doch aus welchem Grund sollte ein Mensch die von den Künstlergruppen entworfenen flexiblen Wohneinheiten nutzen und dabei auf Komfort verzichten? Wieso sollte er sich wünschen, möglichst unabhängig von der ihn umgebenden Gesellschaft zu leben? Ion Sørvin erklärt zum Snail Shell System: „It is an object that questions the way we usually live. […] It is a suggestion to find ways of living in this society that would be more flexible and more humble in some way. I am interested in finding out, how we can make a living and do with less.“17 Hier deutet sich an, dass neue Antworten auf die Probleme unserer Zeit dem Menschen viel abverlangen könnten. Der Bewohner des Au-

16

Eine ähnliche Fragestellung liegt der Arbeit der amerikanischen Künstlerin Andrea Zittel zugrunde. Das von ihr gegründete „Institute of Investigative Living“ will beitragen, „to better understand human nature and the social construction of needs“ (www.zittel.org, Mai 2009). Seit 1992 entwirft sie beispielsweise die A–Z Living Units, die es erlauben, die im Laufe des Lebens nötigen menschlichen Aktivitäten auf minimalem Raum auszuführen. Rainald Schumacher vergleicht diese Units mit einem großen Reisekoffer, der einem auch in der Ferne ein Heim bietet (vgl. die Darst. in: Schumacher, Rainald: Wie gelange ich ins Innere eines trojanischen Pferdes?, S. 21). Dabei hinterfragt Zittel, was in unserem Leben nur auf Gewohnheit oder Freude am Überfluss zurückzuführen sei und was absolut notwendige Bedürfnisse sind. Auch geht bei Andrea Zittel mit dieser Erforschung des alltäglichen Lebens eine Neubewertung der Aufgabe des Künstlers einher. Sie zeigt in ihrer Arbeit, „that artists should serve the community, in the manner that designer and architects now can. She looks back to those moments in the twentieth century when the avanguard adopted this as a worthwhile goal“ (Zelevansky, Lynn: Sense and Sensibility, S. 29).

17

Sørvin, Ion in: Gespräch mit der Autorin.

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tocrat oder des Snail Shell Systems bricht mit traditionellen Vorstellungen des Lebens in der modernen Zivilisation und definiert das, was man zum Leben braucht, auf einer minimalen Ebene. 2.1.2 Das Experiment Walden 1845 beschäftigte sich David Henry Thoreau mit ähnlichen Fragen. Er war in Massachusetts aufgewachsen, hatte in Harvard studiert, einige Zeit als Lehrer gearbeitet und stand in regem Kontakt zu den Transzendentalisten um R. W. Emerson. Mit ihnen teilte er die Kritik an der seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Neuengland entstehenden Industriegesellschaft. Die Menschen würden nun „die besten Jahre [ihres] Lebens auf den Gelderwerb“ 18 verwenden und auch die Landwirte sähen ihre „Bäume kein Obst, sondern Dollars tragen,“19 meint Thoreau. In der zivilisierten Welt seien die Menschen inzwischen „weit von jeder Einfachheit und Unabhängigkeit entfernt,“20 ließen ihre Kleidung industriell fertigen,21 könnten sich „wahrhaft menschliche Beziehungen zu [ihren] Mitmenschen […] nicht leisten“ und würden nur noch nach dem „Marktwert [ihrer] Arbeit“ 22 beurteilt. In vielerlei Hinsicht entwirft Thoreau mit dieser Kritik – gut 100 Jahre vor Herbert Marcuse – das Bild einer eindimensionalen Gesellschaft. An einem solchen Leben möchte Thoreau nicht mehr teilnehmen. Stattdessen will er sich „einen Weg bahnen durch den Schlamm der Anschauungen, Vorurteile und Traditionen […] durch all die Ablagerungen, die den Erdball überziehen“ 23 und herausfinden, „was die notwendigsten Lebensbedürfnisse eigentlich sind, und welche Methoden es gibt, sie zu befriedigen.“24 Aber man könne sich – so Thoreau – „auf keine Art des Denkens oder Handelns, wie alt sie auch sei, […] verlassen, ohne sie vorher erprobt zu haben,“25 und daher

18

Thoreau, Henry David: Walden, S. 61.

19

Thoreau, Henry David: Walden, S. 215.

20

Thoreau, Henry David: Walden, S. 71.

21

Vgl. die Darst. in: Thoreau, Henry David: Walden, S. 32.

22

Thoreau, Henry David: Walden, S. 10.

23

Thoreau, Henry David: Walden, S. 108.

24

Thoreau, Henry David: Walden, S. 16.

25

Theorau, Henry David: Walden, S. 13.

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startet er 1845 sein „eigene[s] Experiment“: 26 Er geht in die Wälder vor seiner Heimatstadt Concord und baut sich aus Abfallmaterial eine einfache Hütte, um die nächsten zwei Jahre dort allein zu leben. In seinem auf Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit beruhenden Buch „Walden. Ein Leben mit der Natur“ erklärt er seinen Schritt, mit der Zivilisation zu brechen: „Ich bin in den Wald gezogen, weil mir daran lag, bewusst zu leben, es nur mit den wesentlichen Tatsachen des Daseins zu tun zu haben.“ 27 Das Buch lässt sich auch als eine Art Versuchsprotokoll28 lesen, denn Thoreau schildert hier eindringlich seine Erfahrungen eines möglichst selbstversorgerischen Lebens im Einklang mit der Natur. Thoreaus Rückzug aus der als krankhaft empfundenen Zivilisation gewinnt angesichts der heutigen Wirtschaftskrisen besonders an Aktualität. 29 Aber auch früher schon nahmen nachfolgende Generationen „Walden“ als Vorbild. 1900 fand sich auf dem Monte Verità, einem Berg in der Nähe von Ascona, eine kleine Gruppe von Menschen zusammen, um unabhängig von der Zivilisation eine naturgemäße Lebensweise zu verwirklichen. Auch hier entstand zunächst eine Art Hüttenkolonie. „Zum sozial-ideologischen Stammbaum der Hütten zählen frühe amerikanische Siedlerhäuschen, [deren Form] schon im 19. Jahrhundert […] ritualisiert und ästhetisiert [wurde]. Die Shaker und in viel stärkerem Maße Henry David Thoreaus Rückzug in eine einsame Hütte haben diesen Kult entfacht. Thoreaus Buch ‚Walden or Life in the Woods‘ von 1845 löste eine wahre Thoreau-Manie aus. […] weil die Siedlerhütte wohl als Symbol der neuen Welt galt, erhielt das Buch eine so starke Wirkung.“ 30 Die Monteveritaner knüpften ebenfalls

26

Thoreau, Henry David: Walden, S. 47.

27

Thoreau, Henry David: Walden, S. 100.

28

Der Begriff „Versuchsprotokoll“ ist hier nicht im naturwissenschaftlichen Sinn zu verstehen. Natürlich bedient sich Thoreau als Autor vieler Kunstgriffe, um sein Anliegen zu verdeutlichen. So lässt er zum Beispiel seinen zweijährigen Aufenthalt im Wald auf ein Jahr schrumpfen, um die jahreszeitliche Abfolge besser darstellen zu können, oder streut einige Besucher ein, die so typisch agieren, dass sie wohl kaum genau so durch den Wald spaziert sind.

29

Thorau schrieb sein Buch ebenfalls vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise, die Amerika zwischen 1837 und 1843 prägte. Vgl. die Darst. in: Ebbinghaus, Uwe: Feng Shui, S. Z3.

30

Von Graevenitz, Antje: Hütten und Tempel, S. 85.

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an dem Versuch an, möglichst alles, was zum Leben notwendig ist, selbst herzustellen. Besonders radikal versuchten die Brüder Gräser, ihr Leben auf dem Monte Verità autark zu gestalten. Im Gegensatz zu anderen Bewohnern des Berges lehnten sie jegliche technische Erneuerung ab.31 Karl Gräser baute eigene Möbel, schnitzte sich Löffel und nähte seine Sandalen selbst.32 Sein jüngerer Bruder Gusto Gräser war in seinem Bemühen um eine unabhängige Lebensweise noch radikaler. Wie Thoreau ging es ihm vor allem um eine individuelle Reform, und so wohnte er zeitweilig sogar wie ein Eremit in einer Felsenhöhle, die ihm die Gemeinde von Losone im Tessin überließ. 33 2.1.3 Das antike Konzept der Selbstsorge Wie die Bewohner des Autocrat und des Snail Shell Systems kehrten Menschen also schon früher bewusst der Zivilisation den Rücken, um in einer autarken Lebensweise neue Formen des Lebens zu entwickeln. Auf die Kritik an der umgebenden Gesellschaft folgten weniger theoretische Überlegungen, sondern man setzte sich auf praktische Art mit Alternativen auseinander. Schon in der Antike war die „Idee einer lebenspraktischen Bedeutung der Philosophie“34 weit verbreitet und „ethische Fragen [wurden] personalisiert betrachtet.“35 Das Leben ist also nicht vorgegeben, sondern kann verändert werden. Mit dieser Auffassung knüpfen Atelier Van Lieshout, N55 und Thoreau an das vor allem in der antiken Philosophie verbreitete Konzept der Selbstsorge an. Wilhelm Schmid unterscheidet hier verschiedene Aspekte, von denen sich viele auf die eben beschriebenen Beispiele anwenden lassen. Für die Selbstsorge ist nach Schmid zunächst ein „selbstreflexiver Aspekt“36 grundlegend. Thoreau schreibt in diesem Sinne: „Richte den Blick nach innen, und du findest / Tausend Gebiete, die noch unergründet / In

31

Vgl. die Darst. in: von Graevenitz, Antje: Hütten und Tempel, S. 89.

32

Ebd.

33

Vgl. die Darst. in: Müller, Hermann: Hermann Hesse – Gusto Gräser, S. 31

34

Horn, Christoph: Antike Lebenskunst, S. 12.

35

Horn, Christoph: Antike Lebenskunst, S. 15.

36

Schmid, Wilhelm: Selbstsorge, Sp. 592.

und S. 222.

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deines Geistes Tiefe liegen. Bereise sie / Und sei Gelehrter deiner inneren Kosmographie.“37 Um eine alternative Art des Wohnens entwerfen zu können, müssen die Erfordernisse des Lebens ebenfalls sehr aufmerksam beobachtet werden – besonders wenn alle Funktionen auf so kleinem Raum untergebracht werden sollen, wie es im Snail Shell System der Fall ist. Die Mitglieder der zeitgenössischen Künstlergruppen thematisieren also weniger ihr individuelles Leben, als vielmehr verallgemeinerbare Aspekte. 38 Mit dem Begriff „selbstproduktiver Aspekt“ beschreibt Schmid das für die Selbstsorge wichtige Verständnis des Lebens als „Werk,“ das nicht einfach gegeben sei, sondern das „in Kraft gesetzt“ 39 werden müsse. Bei Thoreau findet sich dieser Gedanke eindringlich in dem Kapitel „höhere Gesetze“: „Jeder Mensch ist der Erbauer eines Tempels – seines Lebens – für den Gott, zu dem er betet in seiner innigsten Art. Er kann sich dem nicht entziehen, in dem er stattdessen Marmor behaut. Wir sind alle Bildhauer und Maler, und unser Material ist unser eigenes Fleisch und Blut.“ 40 Dieser Aspekt ist ein zentraler Punkt für die in diesem Kapitel untersuchten Arbeiten. Es wurde bereits angesprochen, dass die mobilen Wohneinheiten Autocrat und Snail Shell System auch als Alternative zum „gewöhnlichen“ Leben in der heutigen Gesellschaft gebaut wurden. Atelier Van Lieshout und N55 stellen sich die Frage, ob es nicht auch andere Möglichkeiten gibt, das Leben zu gestalten. Auch der „asketische Aspekt,“41 der nach Schmid die Umsetzung in die Praxis fordert, findet sich in den hier untersuchten Arbeiten: Beide Wohnmodule sollen benutzt werden und Thoreau hat bei seinem zweijährigen Experiment ebenfalls viel Wert auf Praxis gelegt. Der „mutative Aspekt“ schließlich deutet nach Schmid darauf hin, dass ein Mensch, der für sein eigenes Leben sorgt, sich ändern will und zwar „im Sinne einer Ver-

37 38

Thoreau, Henry David: Walden, S. 346. Zum Vergleich kann auf Richard Buckminster Fuller verwiesen werden: Der interdisziplinär arbeitende Architekt und Ingenieur führte extensiv Buch über Details zu seinem privaten und beruflichen Leben. Bei seinem Tod 1983 hinterließ er gut 100 laufende Meter Notizbücher (vgl. die Darst. in: Peters, Stefan: Richard Buckminster Fuller, S. 102).

39

Schmid, Wilhelm: Selbstsorge, Sp. 530.

40

Thoreau, Henry David: Walden, S. 241.

41

Schmid, Wilhelm: Selbstsorge, Sp. 530.

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besserung auf dem Weg zur Vortrefflichkeit.“42 Thoreau geht es in seinem Walden-Experiment darum, „sein Leben durch bewusstes Bemühen auf eine höhere Stufe zu bringen.“43 Er will seine Zeit sinnvoll nutzen und am „Leben arbeiten, um dieses zu verbessern.“44 Ebenso sahen die Bewohner auf dem Monte Verità in ihrer Siedlung eine „Schule für höheres Leben.“45 Ion Sørvin von N55 erklärt: „I am basicly interested in making changes. We work with our every day life situation and the objects we are working with would have significance for our every day life. So our living situation becomes part of our project. The intention is to try to unite all the different aspects of being in one sort of praxis. […] So my effort is on a daily basis to improve life.“46 Aus diesem Zitat spricht auch die Überzeugung, dass ein Künstler Verantwortung gegenüber der Gesellschaft trägt. 47 Diesem Bemühen, am Leben zu arbeiten, um es zu verbessern, begegnet auch Michel Foucault im Zuge seiner Suche nach den Ursprüngen des modernen Selbstkonzeptes. In der griechisch-römischen Philosophie des 1. und 2. Jahrhunderts findet er „Technologien des Selbst,“48 mit deren Anwendung der Mensch versuchen könne, sich selbst so zu verändern, „dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommen-

42

Ebd.

43

Thoreau, Henry David: Walden, S. 100.

44

Thoreau, Henry David: Walden, S. 102.

45

Hofman-Oedenkoven, Ida: Monte Verità, Wahrheit ohne Dichtung, Lorch

46

Sørvin, Ion in: Gespräch mit der Autorin.

47

N55 erklärt in einer E-Mail-Korrespondez mit Lars Bang Larsen: „We […]

1906, zitiert nach: von Graevenitz, Antje: Hütten und Tempel, S. 86.

know that there is a logical relation between ethics and aesthetics.“ (Larsen, Lars Bang: N55 exchanging). Der Gedanke liegt zwar der Arbeit von N55 zugrunde, wird aber nicht so empathisch geäußert wie es beispielsweise Richard Buckminster Fuller tut. Nach einer Art Erweckungserlebnis begann er mit einer „persönliche[n] Selbstdisziplinierung,“ denn er meinte, er trüge eine „Verantwortung“ gegenüber dem Universum. Um das „Elend zu beseitigen,“ wollte er sein „Können disziplinieren, um die technischen und wissenschaftlichen Fähigkeit zu entwickeln und so die pyhsikalischen Innovationen und Logistik zu erfinden“ (Fuller, Richard Buckminster: Konkrete Utopie, S. 370). 48

Foucault, Michel: Technologien des Selbst, S. 24-62.

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heit oder der Unsterblichkeit erlangt.“49 Foucault sieht in den von der antiken Philosophie entwickelten Selbsttechniken eine Möglichkeit, dem modernen Denken mit all seinen normativen Beschränkungen etwas entgegenzusetzen.50 Thoreau ging es in seinem Walden-Experiment um den Prozess einer individuellen Selbstreform. Dies ist nach seinem Verständnis nur unabhängig von der Gesellschaft möglich. Hier knüpft Thoreau an die spätere Entwicklung des antiken Selbstsorgekonzeptes an. In der „hellenistischen Periode und der Kaiserzeit […] [ist] die Sorge um sich selbst zu einem universellen Prinzip geworden“51 und die autonome Verantwortung des Einzelnen rückt immer mehr in den Vordergrund. Mit dem zu Beginn vorgestellten Werken Autocrat und Snail Shell System bearbeiten auch Atelier Van Lieshout und N55 Themen, die schon für das antike Konzept der Selbstsorge wichtig waren. Die mobilen Wohneinheiten wurden für Menschen entworfen, die unabhängig von der Gesellschaft ein alternatives Leben praktisch umsetzen wollen, ohne sich von vorgegebenen Strukturen abhängig machen zu müssen. Die Bewohner dieser zeitgenössischen Entwürfe begreifen ihr Leben damit als ein zu gestaltendes Werk. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwiefern die zeitgenössischen Künstlergruppen ganz eigene Technologien des Selbst entwickeln, um herrschende Zustände zu kritisieren und vielleicht sogar zu verändern.

2.2

W IE WOLLEN WIR LEBEN ? D IE K ÜNSTLERGRUPPE ALS L EBENSKUNSTWERK

2.2.1 Erweiterung des Konzepts der Selbstsorge Vor allem in den früheren antiken Schriften wurde das Konzept der Selbstsorge in einem weiteren Sinn aufgefasst. Platon und Sokrates weisen immer

49

Foucault, Michel: Technologien des Selbst, S. 26.

50

Foucault äußert sich in einem Interview zustimmend auf die Frage: „Sollte man diesen Begriff der Sorge um sich im klassischen Sinne gegen dieses moderne Denken aktualisieren?“ (Foucault, Michel: Die Ethik der Sorge um sich, S. 894).

51

Foucault, Michel: Technologien des Selbst, S. 41.

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wieder darauf hin, dass die Sorge um sich selbst nicht alleiniger Zweck sein kann, sondern immer auch „Sorge um den Bestand der Polis“ 52 bedeutet. Das wird auch deutlich in Foucaults Analyse von Platons Dialog „Alkibiades I,“ dem ersten Text, in dem Foucault eine Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstsorge erkennt. Hier wird ausgeführt, dass ein junger Mensch, der danach strebt, wichtige Ämter in der Politik zu übernehmen, sich zunächst einmal um sich selbst sorgen muss. Das ist die Voraussetzung dafür, dass er Regeln erkennen kann, „welche die Grundlage für gerechtes Tun und politisches Handeln bilden“53 und damit eben der Gemeinschaft zugutekommen. Zwar tritt in den späteren antiken Schriften die Entwicklung des Einzelnen in den Vordergrund, aber dennoch ist „das Problem der Beziehung zu anderen während der gesamten Entwicklung der Sorge um sich gegenwärtig.“54 Diesem politischen Aspekt der Selbstsorge stand Thoreau ablehnend gegenüber. Das zeigt seine Reaktion auf ein Projekt, das einige seiner Freunde Anfang der 1840er Jahre unternahmen. Da sie Thoreaus Kritik an der sie umgebenden Gesellschaft teilten, strebten auch sie nach Unabhängigkeit und gründeten eine autarke Landkommune, um dort gemeinsam ein einfaches Leben ohne Entfremdung zu realisieren. Sie luden auch Thoreau ein, sich an diesem kommunitären Projekt zu beteiligen, aber dieser konnte sich mit der kollektivistischen Organisationsform des Unternehmens nicht anfreunden. Eine Reform konnte für ihn nur vom Individuum ausgehen und nicht von einer Gemeinschaft von Menschen erarbeitet werden.55 Hier trennen sich nun die Wege von Thoreau und den zeitgenössischen Künstlergruppen. Ein Foto aus dem „Manual for Snail Shell System“ ist eine erste Andeutung, in welche Richtung die Künstlergruppen nun gehen werden, während Thoreau allein im Wald zurückbleibt: Drei der weißen Polyethylen-Container wurden hier zusammengeschoben, um eine Art „temporary communit[y]“56 zu bilden. Diese Ansammlung von einzelnen

52

Schmid, Wilhelm: Selbstsorge, Sp. 528.

53

Foucault, Michel: Technologien des Selbst, S. 35.

54

Foucault, Michel: Die Ethik der Sorge um sich, S. 883.

55

Vgl. die Darst. in: Klumpjan, Hans-Dieter; Klumpjan, Helmut: Henry D. Tho-

56

Sørvin, Ion in: Gespräch mit der Autorin. Sørvin äußerte sich auch zu den

reau, S. 76-78. Vorbildern einer solchen „temporary Community“: „If you go deeper into the

30 | N EUE O RTE DER UTOPIE

Tanks lässt sich als ersten Schritt auf dem Weg zur Bildung eines Gemeinwesens lesen. Als Künstlergruppe, die zusammen arbeitet und sich mit dem Thema des idealen Zusammenlebens auseinandersetzt, liegt es nun nahe, selbst eine Art Gemeinwesen zu gründen und nicht nur das Leben eines einzelnen Menschen als Werk zu verstehen, sondern vor allem das Zusammenleben mit mehreren Menschen zum Bestandteil des künstlerischen Schaffens zu machen. Tatsächlich überlegte N55 in den frühen 1990er Jahren, eine „open community“57 in einem ländlich abgelegenen Gebiet in der Nähe von Kopenhagen aufzubauen. Auch bei Atelier Van Lieshout gab es schon 1998 Pläne zur Gründung eines solchen Gemeinwesens. Ein Aquarell von AVL [Abbildung 3] zeigt einen ersten Gesamtplan einer selbstversorgerischen Gemeinschaft in ländlicher Umgebung.58 Mehrere kleine Häuser bilden mit etwas größeren Wirtschaftsgebäuden eine Art Dorf, das sich zwischen einem See, Feldern und Baumgruppen ausbreitet. Obwohl außerhalb des durch einen Zaun abgegrenzten Areals keine Häuser zu sehen sind und also eine unmittelbare „Bedrohung“ nicht zu befürchten ist, sieht der Plan umfassende Schutzmechanismen vor. Ein Panzer wartet innerhalb des abgeschlossenen Areals auf seinen Einsatz, und von den Wachtürmen aus lässt sich die Umgebung genau beobachten und gegebenenfalls auch schießen. Was N55 mit der Gründung einer Gemeinschaft abseits der Stadt schon angedacht hatte, manifestiert sich in dieser Zeichnung noch deutlicher: Will eine Künstlergruppe nicht nur zusammen arbeiten, sondern auch als Gruppe

project you will see that it was created because we were interested in the traditional life of the Inuits and in the way they form temporary communites in the Arctics“ (ebd.). 57

Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch.

58

Der vom Atelier 2007 herausgegebene Katalog „Atelier van Lieshout“ stellt die Zeichnung in den Zusammenhang zu einem Vorschlag für ein nicht verwirklichtes Stadtplanungsprojekt für die niederländische Stadt Almere. Doch man kann sie auch als Einzelwerk sehen, wie es 1998 in dem Ausst.-Kat. „The Good, The Bad and The Ugly“ geschieht, in dem die Zeichnung als Ohne Titel (Gesamtplan), 1998 aufgeführt ist. Das inzwischen nicht mehr in der Form existierende Search-O-Rama, eine Datenbank mit Suchfunktion auf der AVLHomepage, stellte die Zeichnung 2002 ebenfalls als unabhängigen Masterplan für AVL-Ville vor.

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zusammen leben, muss sie ihren Lebensraum offensichtlich von der sie umgebenden Gesellschaft abgrenzen und schützen. Abbildung 3: Atelier Van Lieshout: Settlement afer 10 Years (Designs for the Free State of AVL-Ville), 1998

Frühe Beispiele für einen solchen Willen, sich als Gemeinschaft von der Umgebung abzugrenzen, sind die sich seit dem 6. Jahrhundert in Europa ausbreitenden Klöster, denn die „Grundlage des monastischen Lebens ist die Abschließung von der Welt.“59 Laut der benediktinischen Klosterregel 60 ist es die Aufgabe eines jeden Mönches, „sich dem Treiben der Welt [zu] entziehen,“61 und muss einer der Brüder doch ausnahmsweise einmal den mit Mauern deutlich von der Welt abgetrennten Bereich des Klosters verlassen, dann soll er nicht „einem anderen alles […] erzählen, was er außer-

59

Dubois, J.: Klausur, Sp. 1196.

60

Benedikt von Nursia fasste seine einflussreiche Mönchsregel um 530-560 ab. „Im 6.-11. Jh. herrschte weithin der vom hl. Benedikt und seiner Regel […] geprägte Typ des Klosters vor“ (Parisse, M.: Kloster, Sp. 1218 ). Die Regula Benedicti soll hier als Beispiel für die Ordnung eines Klosters dienen.

61

Benedikt von Nursia: Benedicti regula, Kap. 4, 20 (der deutsche Text folgt der Übersetzung in: Puzicha, Michaela: Kommentar).

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halb des Klosters gesehen und gehört hat, denn das richtet großen Schaden an.“62 Um sich aber erfolgreich von der diesseitigen Welt abschließen zu können, muss das Kloster alles zum Leben Notwendige selbstständig erarbeiten. Die für Atelier Van Lieshout und N55 so wichtige Autarkie ist daher auch wesentliches Merkmal einer klösterlichen Anlage. In der „Benedicti regula“ heißt es dazu in den Kapiteln 66,6 und 7: „Das Kloster soll, wenn möglich, so angelegt werden, dass sich alles Notwendige, nämlich Wasser, Mühle und Garten, innerhalb des Klosters befindet und die verschiedenen Arten des Handwerks dort ausgeübt werden können. So brauchen die Mönche nicht draußen herumlaufen, denn das ist für sie überhaupt nicht gut.“63 Diesen selbstversorgerischen Ansatz hat Wolfgang Braunfels im Sinn, wenn er von einer „Kloster-Arche-Noah“64 spricht. Innerhalb dieser Arche Noah folgt das Leben einer strengen Ordnung, die sich deutlich von dem Leben in der Ausgangsgesellschaft unterscheidet. Im Gegensatz zu den zahlreichen klösterlichen Anlagen, die meist an abgelegenen Orten gegründet werden, haben Atelier Van Lieshout und N55 den ursprünglichen Plan einer ländlichen Kleinsiedlung nicht in die Tat umgesetzt. Das hatte zum einen praktische Gründe, denn ein passendes Grundstück konnte entweder nicht gefunden werden oder aber es fehlten die finanziellen Mittel, es zu erwerben. Zum anderen befürchtete N55 „the risk of being isolated and marginalized. So finally we decided to keep on fighting in the city.“65 Innerhalb der Stadt schaffen die Künstlergruppen nun einen eigenen Raum, um andere Formen des Zusammenlebens zu erproben. Auf diese Weise stellen sie die gleichen Fragen, die 1845 Thoreau zu einer neuen Lebensweise angeregt hatten. Statt aber allein im Individuum den Ausgangspunkt für Reformen zu sehen, wollen die zeitgenössischen Gruppen vor allem an dem Zusammenleben mehrerer Menschen in einer Gemeinschaft arbeiten. Auch die Siedler des Monte Verità sahen in ihrer Lebensweise eine „Schule für höheres Leben, eine Stätte für die Entwicklung und Sammlung

62

Benedicti regula, Kap. 67, 5.

63

Benedicti regula, Kap. 66,6 und 7.

64

Braunfels, Wolfgang: Abendländische Klosterbaukunst, S. 60.

65

N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch.

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erweiterter Erkenntnisse und erweiterten Bewusstseins“66 und hatten also wie Thoreau eine individuelle Selbstreform zum Ziel. „Das Ich im bescheidenen, selbstgewählten Raum wurde eine heilige Angelegenheit […] für die Kolonisten auf dem Monte Verità. Das Ich-Erlebnis zusammen mit Anderen, die es auch erstrebten, war das gemeinschaftliche Ziel,“67 schreibt Antje von Graevenitz. Insofern kann man in dem Siedlungsprojekt bei Ascona eine Zwischenstufe zwischen Thoreau sehen, der nur die Entwicklung des Ich im Auge hat und den zeitgenössischen Künstlergruppen, die – das wird im Folgenden deutlich – vor allem an der Frage des Zusammenlebens mehrerer Menschen interessiert sind. 2.2.2 Aufbau eines utopischen Raumes Wie schon angedeutet, wollen Atelier Van Lieshout und N55 also die Möglichkeiten eines gemeinschaftlichen Lebens praktisch erproben. Dazu schaffen sie einen Raum, der sich zwar deutlich von der umgebenden Gesellschaft abgrenzt, zugleich aber Teil dieser Welt ist. Hier erarbeiten sie alternative Lösungen zu von ihnen kritisierten Entwicklungen in der Ausgangsgesellschaft. Welche Vorschläge zur Organisation des Lebens die zeitgenössischen Künstlergruppen in den Bereichen politische Ordnung, Wirtschaft, Lebensweise sowie Natur und Technik entwickeln, soll in den folgenden Kapiteln untersucht werden. 2.2.2.1 Politische Ordnung Atelier Van Lieshout hat in den Anfangsjahren seines Bestehens Mobile Homes – ähnlich dem oben vorgestellten Autocrat [Abbildung 1] – aber auch einzelne Objekte des alltäglichen Gebrauchs, wie zum Beispiel Möbel oder Waschbecken geschaffen. Es entstanden Anbauten für öffentliche Gebäude oder Badezimmereinrichtungen für private Auftraggeber. Anfang 2001 schließlich greift das Atelier die schon früher formulierte Idee einer Siedlung wieder auf und ruft auf einem Grundstück am Hafen von Rotterdam den „Freistaat“ AVL-Ville aus. Am 28. April 2001 wurde er für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Rückblick kommentiert Joep van

66

Hofmann, Ida: Monte Verità, zitiert nach: von Graevenitz, Antje: Hütten und Tempel, S. 86.

67

Von Graevenitz, Antje: Hütten und Tempel, S. 86.

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Lieshout diesen Schritt so: „At a certain moment we had made all these objects and we thought: maybe we should make a real free state. We had all things necessary to do so. […] So we started in 2001.“68 Wie sich einzelne Elemente des Snail Shell Systems von N55 zu einer Gemeinschaft zusammenfinden können, so schieben nun auch die Mitglieder von Atelier Van Lieshout ihre Mobile Homes, die während der vergangenen Jahre entstanden waren, zu einem Gemeinwesen zusammen [Abbildung 4]. Abbildung 4: Atelier Van Lieshout: Blick auf das AVL-Ville-Gelände am Hafen von Rotterdam, 2001

Das Atelier nennt sein Gemeinwesen nicht einfach nur AVL-Ville oder bezeichnet es als Kommune, Experiment oder Siedlung, sondern wählt den Begriff „Freistaat,“ um das Gebiet am Hafen von Rotterdam zu charakterisieren. Diese Bezeichnung wird meist dann verwendet, wenn die Eigenständigkeit eines demokratischen Gemeinwesens betont werden soll. So beschrieb zum Beispiel der Staatsrechtler Jacob Moser 1754 die Schweiz als „Freystaat,“ um sie damit von der Monarchie des Deutschen Reiches abzusetzen, denn „die Eidgenossen wurden inmitten eines monarchischen Euro-

68

Van Lieshout, Joep: New ways of exploiting people, Vortrag.

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pas als Modell einer besseren Welt angesehen.“69 Auch Georg Büchner verbindet 1834 in der Flugschrift „Der Hessische Landbote“ die Bezeichnung Freistaat mit einer besseren, weil demokratischen Regierungsform: „Deutschland, das jetzt die Fürsten schinden, wird als ein Freistaat mit einer vom Volk gewählten Obrigkeit wieder auferstehen,“ prophezeit er.70 Der Begriff Freistaat wird auch für Gebiete verwendet, die zwar in ein größeres Staatsgebilde integriert sind, aber ihre Eigenständigkeit besonders thematisieren wollen. Der Süden Irlands wurde in der Verfassung von 1922 als „Freistaat“ bezeichnet: Er hatte damit eine eigene Regierung, verblieb aber im britischen Empire. In der bis heute gültigen bayrischen Landesverfassung von 1946 wird Bayern, trotz seiner Eingliederung in das föderale System der Bundesrepublik als „Freistaat“ bezeichnet. Die Idee, ein eigenständiges Gemeinwesen inmitten eines Staates zu bilden, wurde auch von verschiedenen alternativen Gruppen in Kopenhagen aufgegriffen. Ein zuvor vom Militär genutztes Gelände im Stadtteil Christianshavn wird seit 1969 von unterschiedlichen Gruppierungen besetzt und bewohnt. Daraus entstand in den frühen 1970er Jahren der sich selbst verwaltende Freistaat Christiania, „eine eigene Insel inmitten des bürgerlichen Ozeans.“71 37 Jahre lang schlugen alle Versuche seitens des Staates fehl, das 34 Hektar große Gebiet mit seinen umfunktionierten Militärgebäuden, selbstgebauten Häusern und Bauwagen aufzulösen. Im Mai 2009 allerdings verloren die knapp 1000 Bewohner einen Prozess gegen den dänischen Staat um das Besitzrecht für das Wohngebiet.72 Wie der Gebrauch der Bezeichnung Freistaat also zeigt, wollte AVLVille sich als eigene Einheit innerhalb des niederländischen Staates abgrenzen. Rein rechtlich unterlag der vom Atelier gegründete „Freistaat“ natürlich nach wie vor der Jurisdiktion der Niederlande, aber die Bewohner des

69

Dornheim, Andreas: Geschichte des Begriffes ‚Freistaat‘.

70

Büchner, Georg: Der Hessische Landbote, Flugblatt von 1834, S. 45.

71

Ertel, Manfred: Friede den Hütten, S. 126. Die Christianitter selbst nennen ihr Gemeinwesen „Freetown“ (Christianites: Christiania Guide).

72

Inzwischen haben die Bewohner einem Angebot der dänischen Regierung zugestimmt, die Grundstücke und Gebäude dem Staat abzukaufen und die behördlichen Bauauflagen zu erfüllen (Vgl. die Darst. in: Christianianites: The situation on Christiania, in: http://www.christiania.org/ info/christiania-2013/, Juli 2013).

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neuen Staates „are not interested in respecting [the] dutch laws.“73 Holger Liebs beschreibt in einem Zeitungsartikel von April 2001, also zu Anfang der Entwicklung von AVL-Ville, die Situation so: „Die Kommune [wird] von den Behörden zwar argwöhnisch beäugt, aber geduldet.“ 74 Dazu trug sicher auch bei, dass Joep van Lieshout vor Gründung des Gemeinwesens eine Art Erlaubnis vom Bürgermeister von Rotterdam einholte, allerdings nicht für einen „Freistaat,“ der außerhalb des Rechtsgebietes der Niederlande agieren will (was wohl keine Aussicht auf Genehmigung gehabt hätte), sondern für ein „Freilichtmuseum.“75 Im Gegensatz zur umgebenden Gesellschaft sollte es in AVL-Ville keine erkennbare politische Ordnung oder bis ins Detail ausgearbeiteten Gesetze geben. Grundlage für Entscheidungen sollte vor allem der gesunde Menschenverstand sein: „If you have a smaller community you can govern and decide things by using common sense: Clean your tools, don’t kill each other. Those are the basics,“76 fasst Joep van Lieshout die politische Situation in AVL-Ville zusammen. Daher benötige die Gruppe auch keine gewählten Vertreter, wie Bürgermeister und Finanzminister oder eine wie auch immer geartete Verwaltung.77 Die politische Ordnung stützt sich vor allem auf die Überschaubarkeit der Verhältnisse. Das Atelier Van Lieshout umfasste 2001/2002 zwischen 30 und 40 Personen. Nur die Mitarbeiter des Ateliers sollten in AVL-Ville wohnen und durften sich erst nach einer Art Probezeit ein „Haus“ auf einem Stück Land innerhalb des Geländes bauen. Dieser Verzicht auf komplexe politische Strukturen ist die Antwort des Ateliers auf ihren Hauptkritikpunkt am Staat. „My problem with government has to do with it’s scale – you get all kinds of rules and limitations because of the larger territory and the growing population.“78 Diese Kritik richtet sich zwar nicht gegen den Wohlfahrtstaat, der seinen Bewohnern eine medizinische Grundversorgung und freie Bildung garantiert, wohl aber gegen die damit verbundene Bürokratie und die als einengend empfundene

73

Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 106.

74

Liebs, Holger: Der wilde Haufen, S. 14.

75

Van Lieshout, Joep: Vortrag im Kunstverein Köln.

76

Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 106.

77

„There won’t be a mayor. There won’t be a government, or a democracy.“ (van Lieshout, Joep: ebd.).

78

Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 110.

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Bevormundung des einzelnen Bürgers.79 Auch der zu Beginn vorgestellte Henry David Thoreau bringt ähnliche Argumente gegen den Staat vor: „Der Staat […] ist nichts anderes als eine schwerfällige, überdimensionale, durch eigene Fallen zu Fall gebrachte, von Luxusgütern und kopflosen Ausgaben zugrunde gerichtete Einrichtung.“80 Eine ähnliche Kritik lässt sich in den Schriften der Situationistischen Internationalen finden. Die S. I. war eine über ganz Europa verbreitete Gruppe von Künstlern, bei der auch Theoretiker eine wichtige Rolle spielten. Zentrale Gestalt war der Franzose Guy Debord, der in einem Vortrag von 1961 feststellt, „que l’ensemble de cette culture dominante est notoirement mangée aux mites.“81 Die holländische Sektion der Gruppe nannte die Gesellschaft „démodée“ und „arriérée.“82 In ihr ist nur ein „vie quotidienne, mystifiée par tous les moyens et controlée policièrement“83 möglich. In der Schrift „Critique de l’urbanisme“ von 1961 heißt es weiter: „On peu déjà constater que là où le capitalisme bureaucratique et planificateur a déja construit son décor, le conditionnement est […] perfectionné [et] la marge de choix des individus [est] réduite.“ 84 AVL teilt diese Einschätzung des modernen Staates. Im Gegenzug dazu baut das Atelier ein überschaubares Gemeinwesen auf: „The idea was, that there would be no rules and no legislation. Basically you could do everything you wanted to do. I thought if there are no rules and legislation, especially the nasty ones, there is much more possibilities to create new things and start experiments and create happy situations.“85 Selbst wenn der „Freistaat“ Erfolg haben sollte, so überlegt Joep van Lieshout zu Beginn des Projektes, wäre es nicht das Ziel von AVL-Ville, „to have a state that gets bigger and bigger, but to make islands all over the place: AVL West

79

„I am not against public services. I don’t mind paying taxes to the Dutch government because the money is redistributed to the homeless and unemployed, and everyone gets free medical care and an education. In a way it’s an ideal society. What I don’t like is the bureaucracy.“ (van Lieshout, Joep: ebd.).

80

Thoreau, Henry David: Walden, S. 102.

81

Debord, Guy: Perspectives de Modifications, S. 21.

82

Alberts, A.; Armando; Constant u. a.: Première Proclamation de la Section

83

Debord, Guy: Perspectives de Modifications, S. 22.

84

Situationistische Internationale: Critique de l’urbanisme, S. 9.

85

Van Lieshout, Joep: New ways of exploiting people, Vortrag.

Hollandaise, S. 30.

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Coast, AVL East Coast, AVL Asia.“86 Dezentralisierung ist also das Stichwort für die angestrebte Entwicklung. Ohne ein Minimum an Regeln scheint aber auch eine Struktur wie AVLVille nicht auskommen zu können. In einem Interview von 2001 kündigt Joep van Lieshout an: „AVL-Ville will have it’s own constitution, which promotes individual freedom, honesty and equality.“ Im Unterschied zu den Gesetzen der Ausgangsgesellschaft, die komplexe Sachverhalte behandeln und oft Ausnahmeregelungen für Sonderfälle vorsehen, „keeps [AVL] legislation to an absolute minimum“ und braucht daher nur 12 Regeln, die dann allerdings auch „absolute and without exceptions“87 gelten sollen [Abbildung 5]. Ein Gemeinwesen, das sein Zusammenleben ausschließlich auf diese Konstitution stützen will, kann allerdings in schwierige Situationen kommen. Regel 2 beispielsweise drückt das Recht auf freie Meinungsäußerung aus.88 Regel 3 garantiert jedem Teilnehmer von AVL-Ville, dass er nicht wegen seiner Rasse, Hautfarbe, Nationalität, wegen seines Geschlechtes oder seiner Überzeugungen (seien sie nun politisch, künstlerisch oder philosophisch) diskriminiert werden darf. Ein hypothetisches Beispiel soll die Problematik dieser wenigen Regeln zeigen: Was würde passieren, wenn der charismatische Teilnehmer A seine Meinung äußerte, dass alle Menschen eines bestimmten Landes dumm seien und er daher nicht mit dem aus diesem Land kommenden Teilnehmer B zusammenarbeiten und leben will? Vielleicht ist Person A ein überzeugender Redner und bringt mit seinem nationalen Vorurteil die Mehrheit der Mitglieder auf seine Seite. Regel 11 besagt, dass „it is compulsory to solve any conflict within AVL-Ville,“ ohne dabei genauere Vorgaben zu machen. Die Mehrheit der Mitglieder könnte sich also darauf einigen, Teilnehmer B aus AVL-Ville auszuschließen.89 Dieser könnte zwar auf Regel 3 verweisen, nach der er nicht wegen seiner Nationalität diskriminiert werden darf. Die Konstitution legt allerdings nicht fest, in welchem Verhältnis Regel 2 und 3 zueinander stehen. Sie klärt

86

Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 110.

87

Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 105.

88

Vgl. die Constitution AVL-Ville [Abbildung 5]: „2) Everyone has the right of freedom of expression, which is to say revealing and receiving thoughts or feelings other than artistic.“

89

Nach Paragraph 12 B steht dem „general committee“ diese Möglichkeit zu, wenn bei bestimmten Problemen keine Einigung erzielt werden kann.

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nicht, in welchen Fällen die Meinungsfreiheit „ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze“ 90 finden muss, um ein höherwertiges Gut zu schützen, wie es beispielsweise das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland tut. Teilnehmer B hätte darüber hinaus auch keine Möglichkeit, sein Recht einzuklagen, denn ein unabhängiges Gericht existiert in AVL-Ville nicht. Was aber hätte Teilnehmer B von seinen in der Konstitution verbrieften „Grundrechten,“ wenn er sie nicht einklagen kann? In diesem Fall würde es sich auch auswirken, dass in dem „Freistaat“ das Prinzip der Gewaltenteilung offensichtlich nicht vorgesehen ist. Die Meinung der Gruppe um Teilnehmer A würde hier sofort umgesetzt und die Recht sprechende Mehrheit wäre damit zugleich auch die vollziehende Instanz. Abbildung 5: Atelier Van Lieshout: AVL Constitution, 2001

Constitution AVL-Ville Introduction In a constantly developing society, the artist plays an important stimulating role. Development implies breaking away from existing structures. To reach optimal artistic expression, it is crucial for the artist to be able to deploy himself or herself without being subject to the restrictions of civil morality. The objective of AVL-Ville is to create an environment where this is possible. To reach this goal, the rights formulated below are to be seen as absolute, without any exceptions. Living at AVL-Ville can be experienced as a hard and confrontational artistic life. However, this is the ultimate consequence of an honest and uncompromising existence. Text of the Constitution 1)

Everyone has the right to freedom of artistic expression and design.

2)

Everyone has the right to freedom of expression, which is to say revealing and receiving thoughts or feelings other than artistic.

3)

Every participant of AVL-Ville is equal and is entitled to be

90

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 5, Absatz 2.

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treated without discrimination on account of race, colour, sex, language, belief, political, artistic and philosophical ideas, nationality, possessions, or any other ground. 4)

Everyone is entitled to gather with others and to demonstrate.

5)

Everyone has the right to freedom of religious expression, including idolatry, polygamy and forming a sect.

6)

Everyone is entitled to have an education, including an artistic education.

7)

Everyone has the right to immunity in privacy and artistic lifestyle, as well as communication in any way with third parties.

8)

Everyone is allowed to wander freely within the AVL-Ville area.

9)

Everyone is entitled to create independently his or her own housing within the AVL-Ville territory.

10)

Everyone has the right to have immunity over body and spirit, which also includes being able to dispose of one’s body and spirit according to one’s own wishes, with or without help of artificial means.

11)

All AVL-Ville participants are obliged to treat any other member with absolute honesty and respect; it is compulsory to solve any conflict within AVL-Ville.

12)

A) All AVL-Ville participants accept that management will be decided by the general committee, which is composed of an as of yet unspecified supervising board, to be formed by members of the general committee along with others. B) The general committee is qualified to expel participants, if no amicable settlement can be agreed upon in conflicts.

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Die Frage, wie man mit Mitgliedern der Gemeinschaft umgehen soll, die sich nicht in die Gemeinschaft einfügen wollen oder können, ist für gelebte Utopien von zentraler Bedeutung. Auch für die Siedler auf dem Monte Verità war der Ausschluss von unpassenden Teilnehmern der letzte Ausweg. 1900 kaufte der Industriellensohn Henri Oedenkoven gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Ida Hofman 1900 den nun „Monte Verità“ genannten Hügel im Westen von Ascona. Zusammen mit den Brüdern Karl und Gustav (Gusto) Gräser wollten sie fernab der städtischen Zentren ein alternatives Leben verwirklichen. Doch von Anfang an gab es Uneinigkeit über die grundsätzliche Ausrichtung. Hofman und Oedenkoven wollten eine Naturheilanstalt aufbauen, wohingegen die Brüder Gräser eine urkommunistische Kolonie realisieren wollten. Oedenkoven äußert sich schon bald kritisch gegenüber den „Naturmenschen,“ die eine rückwärtsgewandte Lebensweise ohne jegliche Form von Technik, Geldverkehr und Elektrizität verwirklichen wollten: „Unsere Sache zieht leider viele dieser Naturmenschen an – sie alle kommen nach Ascona –, und so haben wir manchen genommen. Aber ich werde mir jetzt ein großes Sieb zulegen, und kein Unpassender soll mir jetzt in meine Sache hineinkommen.“ 91 Der 1900 mit aus Deutschland zum Monte Verità gezogene Gusto Gräser, der sich laut Ida Hofmann nicht genug an dem gemeinsam organisierten Aufbau beteiligte, „musste schließlich buchstäblich hinausgeschmissen werden.“92 Karl Gräser schied ebenfalls schon 1901 zusammen mit Jenny Hofmann aus dem Siedlungsprojekt der Gründungsgruppe aus.93 Auch aus der Lukasbruderschaft94 wurden Künstler ausgeschlossen, die sich nicht den Grundsätzen der Gruppe gemäß verhielten. Peter von Cornelius berichtet: „Auf unserem Weg hierher [nach Rom] fanden wir Einen in Lodi names Hottinger, der auch zu ihnen gehörte, der aber ausgeartet und abgefallen war.“ 95 Welches Vergehens genau sich Johann Konrad Hottinger schuldig gemacht hat, ist unbekannt, sein Name wurde jedenfalls 1813 aus der Mitgliederliste auf dem Diplom der Bruderschaft gestrichen. Die Zeitschrift „Situationistische

91

Oedenkoven, Henri in: Gespräch mit Adolf Grohmann, S. 99.

92

Landmann, Robert: Ascona – Monte Verità, S. 39.

93

Vgl. die Darst. in: Frecot, Janos: Landkrone über Europa, S. 59.

94

Zur Gruppe der Nazarener vgl. die Darst. ab S. 88 sowie ab S. 129.

95

Cornelius, Peter von, zitiert nach: Jauslin, Manfred: Die gescheiterte Kulturrevolution, S. 78.

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Internationale“ enthält viele Klagen über Mitglieder, die sich nicht den Grundsätzen der Gruppe entsprechend verhielten, und es werden zahlreiche Begründungen geliefert, warum bestimmte Individuen ausgeschlossen wurden. „Für die S. I. und den von ihr beabsichtigten Kampf ist der Ausschluss eine mögliche und notwendige Waffe,“ heißt es in der „Situationistischen Internationalen“ von 1960 und erklärend wird hinzugesetzt: „Der ‚Terrorismus‘ des Ausschlusses in der S. I. kann mit derselben Praxis in politischen Bewegungen durch Bürokraten, die Macht ausüben, überhaupt nicht verglichen werden.“ Bei einer weniger rigorosen Anwendung dieses Prinzips könnte es „durch die vielfältigen Zu- und Abgänge rasch eine Art Osmose zwischen dieser Plattform und dem herrschenden kulturellen Milieu bewirkt werden.“96 Auch Robert Fleck spricht in seinem Buch über die „Mühl-Kommune,“ eine Lebensgemeinschaft, die von Otto Mühl Anfang der 1970er Jahre in Wien gegründet wurde, von „informelle[n] Auswahlverfahren.“ Der „psychische Erwartungsdruck in der Gruppe“ hätte dafür gesorgt, dass nur besonders „energiegeladene“97 und intelligente Menschen dauerhaft in der Gemeinschaft hätten Fuß fassen können. Mühl selbst schreibt 1975 über die Aufnahme von (psychisch) Kranken in die Gemeinschaft: „ich bin daraufgekommen, dass der kranke mensch für eine gewaltlose gesellschaft, wie es die kommune darstellt, höchst gefährlich ist […] sie benutzten die gruppe als nest und als versorgungsanstalt.“ 98 Schlösse man solche Individuen nicht aus der Gemeinschaft aus, dann würde sich eine „emotionelle[] Pest“ in der Gruppe ausbreiten.99 Ein solcher Ausschluss von Menschen, die von der Mehrheit als störend, faul oder wenig linientreu beurteilt werden, ist für größere Staaten nicht möglich. Nur Mitglieder, die sich nicht gesetzeskonform verhalten,

96

Situationistische Internationale: Situationistische Internationale no. 5.

97

Fleck, Robert: Die Mühl-Kommune, S. 93.

98

Mühl, Otto in den AA-Nachrichten 4/5 75, zitiert nach: Fleck, Robert: Mühl-

99

Mühl, Otto in den AA-Nachrichten, zitiert nach Fleck, Robert: Mühl-

Kommune, S. 95. Kommune, S. 97. Mühl nennt auch ein erstaunliches Auswahlverfahren, um Träger der „emotionellen Pest“ sofort zu entlarven: „wir nehmen z. b. nur dann einen mann in die gruppe auf, wenn unsere frauen auf ihn geil sind. dadurch sind wir vor der pest geschützt. es hat sich gezeigt, der pestkranke hat keine sexuelle ausstrahlung“ (ebd).

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können beispielsweise zu einem Gefängnisaufenthalt verurteilt werden, aber bei den meisten Vergehen handelt es sich bei dieser Maßnahme nur um einen zeitweiligen Ausschluss aus der Gemeinschaft. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Detail aus der Geschichte von New Harmony, einer Kolonie, die Robert Owen ab 1825 in Indiana (USA) aufbaute. Dort verzichtete man in der Gründungsphase des Experimentes auf eine Auswahl von neuen Mitgliedern. Die Überlegung dabei war, dass, wenn man schwierigen Aufnahmewilligen die Teilnahme verweigerte, man damit die eigene Unfähigkeit zugäbe, solche Kandidaten innerhalb der Kolonie zu wertvollen Mitgliedern der Gemeinschaft zu formen. Diese Vorgehensweise trug dann erheblich zum Scheitern des Siedlungsprojektes bei, weil zahlreiche Siedler keinerlei Ausbildung hatten und sich daher am Aufbau nicht beteiligen konnten.100 Es lässt sich in AVL-Ville noch eine weitere Problematik beobachten. Regel 3 der Konstitution beginnt mit dem Satz „Every participant of AVLVille is equal.“ Doch wird diese in der Konstitution verfasste Gleichheit aller Mitglieder auch umgesetzt? „I am the artistic director, Jeroen Thomas is the general director of business and finance. Together with the AVL members, we’ll make the decisions,“101 fasst Van Lieshout in einem Interview den politischen Meinungsbildungsprozess zusammen. Die Ämter „artistic director“ und „general director of business and finance“ werden in der Konstitution nicht erwähnt. Es gibt keine Informationen darüber, wie und von wem diese Direktoren bestimmt werden und in welchem Verhältnis sie zu dem ebenfalls nicht näher bestimmten „general committee“ (vgl. Regel 12) stehen. Zum zweiten sagt van Lieshout nicht, dass die das Gemeinwesen angehenden Entscheidungen von allen in der Gemeinschaft gemeinsam getroffen werden, sondern – besonders betont durch die Endstellung im Satz – dass „we,“ also er und Thomas, als Direktoren entscheiden, während der Rest der Gruppe eher wie nebenbei erwähnt wird. Offensichtlich haben die Mitglieder von AVL-Ville in bestimmten Bereichen Teile ihrer Macht an bestimmte Personen abgegeben. Dieses ist in einer repräsentativen Demokratie ein normaler Vorgang, aber die einzelnen Instanzen mit ihren Aufga-

100 Vgl. die Darst. in: Saage, Richard: Utopische Profile, Bd. III, S. 351. Auf das Projekt New Harmony wird ausführlicher in dem Kapitel „Siedlungsexperimente im 19. Jahrhundert“ (ab S. 114) eingegangen. 101 Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 106.

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ben und Rechten sind dann auch genau festgelegt. In regelmäßigen Abständen finden außerdem freie, allgemeine und geheime Wahlen statt. In AVLVille scheint dagegen das Procedere, das sich mit der zeitweiligen Übertragung der Herrschaft an andere verbindet, nicht klar geregelt zu sein. Die starke Stellung von Joep van Lieshout kommt auch in der Bezeichnung der Gruppe Atelier Van Lieshout zum Ausdruck, die in abgekürzter Form als Name des Gemeinwesens dient (AVL-Ville). Auch für den Kontakt mit der Ausgangsgesellschaft durch Interviews oder Vorträge war der Gründer des Ateliers schon zu Zeiten von AVL-Ville meist allein verantwortlich. Zwar spricht Joep van Lieshout in den Jahren 2001/2002 in Interviews häufig von „wir,“ wenn er sich auf Vorgänge in AVL-Ville bezieht, in späteren Jahren allerdings berichtet er hauptsächlich aus seiner eigenen Perspektive von dem Projekt AVL-Ville und das Personalpronomen ich ersetzt die frühere kollektive Ausdrucksweise.102 Dass Joep van Lieshout auch schon zu Zeiten von AVL-Ville bisweilen außerhalb eines Gruppenzusammenhanges gedacht hat, zeigen Arbeiten, die als Künstlerselbstporträts verstanden werden können. Neben dem Aquarell Selfportrait [Abbildung 20] gibt es noch weitere Arbeiten, in denen Joep van Lieshout seine Arbeitsbedingungen als Künstler reflektiert. Zu dem Aquarell Artist Dream aus dem Jahr 2000 schreibt er: „Nowadays, an artist is not only an artist but also a manager, a salesman, a PR person and more. The multiple roles and multitasking involved in AVL-Ville gave rise to the romantic drawing Artist Dream.“103 Im Gegensatz zu einem Künstler, der wegen dieser vielfältigen und langwierigen Aufgaben kaum noch zum Entwerfen kommt, zeichnet Van Lieshout seine Vision eines Ge-

102 Siehe auch das Interview, das die Autorin 2009 mit Joep van Lieshout führte: Frage: „Bei dem Projekt AVL-Ville, dem Freistaat, den AVL 2001 ausgerufen hat, war der Gruppenzusammenhang besonders wichtig. Wie sieht es jetzt damit aus? Gibt es bei den neuen Arbeiten noch eine konzeptionelle Notwendigkeit für eine kollektive Arbeitsweise?“ Antwort Joep van Lieshout: „Nein, heute habe ich die Gruppe vor allem, um meine Ideen ausführen zu können. […] Manchmal überlege ich mir, ob ich ab sofort auf meinen eigenen Namen umstellen soll, aber inzwischen ist der Name Atelier Van Lieshout ziemlich bekannt“ (van Lieshout, Joep in: Interview mit der Autorin, in: Ausst.-Kat. Aachen). 103 Atelier Van Lieshout: Artist Dream, Aquarell auf Papier, 2000.

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niekünstlers: Er sitzt auf einer Bett-Spielwiese, auf der sich außerdem noch drei unbekleidete Damen tummeln. Man kann annehmen, dass sie sich von den Vorbereitungen für das gemeinsame Essen erholen. Der Künstler muss sich nicht mit anderen Menschen absprechen und Detailfragen mit Experten klären, sondern überträgt seine Idee auf ein Zeichenbrett, von dem aus sie sofort von Gehilfen in die Realität umgesetzt werden.104 Eine Kritik am Arbeitsalltag eines Künstlers drücken auch die drei Figuren aus, die die Installation Bonnefantopia bewohnen, die 2003 für das Bonnefanten Museum in Maastricht entstand. Eine Figur hängt kraftlos über einer Stange eines Fitnessgerätes, eine andere liegt auf dem Boden und die dritte hat sich über ein Waschbecken gebeugt, um sich zu übergeben. Die offensichtlich leidenden Figuren zeigen auf einer allgemeinen Ebene, „what happens when men become slaves of machines or systems.“105 Obwohl die Figuren keine individuellen Züge tragen, werden sie von Van Lieshout auch auf die eigene Situation bezogen: „Die Figuren heißen ‚die Michelangelos‘. Man kann hier von einer Mischung aus Installation und Selbstbildnis sprechen, denn der Künstler Michelangelo, der bin natürlich ich selbst.“106 Es ginge aber in eine falsche Richtung, wollte man über Sinn oder Unsinn eines Projektes wie AVL-Ville allein nach verfassungsrechtlichen Grundsätzen urteilen, wie es zuvor an einem fiktiven Beispiel kurz durchgespielt wurde. Es war nicht das Ziel des Projektes am Hafen von Rotterdam, sämtliche Probleme eines gemeinschaftlichen Lebens für alle Zeiten zu lösen und so als kopierbares Vorbild für die Umgestaltung dieser Welt zu dienen. Auch lässt sich aus dem Versuch, das Leben einer Gruppe von Menschen mit 12 Regeln zu ordnen, nicht unbedingt Naivität ableiten. Van Lieshout macht sich keine Illusionen, wenn er über die weitere Entwicklung des Gemeinwesens nachdenkt: „Hätte AVL-Ville länger bestanden, dann hätte es sich wahrscheinlich immer mehr dem umgebenden Staat angeglichen. Es wäre wahrscheinlich gewachsen und es hätte daher immer mehr Regeln gebraucht, um weiterhin zu funktionieren.“107

104 Vergl. die Darst. ebd. 105 Atelier Van Lieshout: Bonnefantopia, S. 186. 106 Van Lieshout, Joep in einem Gespräch mit der Autorin während der Pressekonferenz. 107 Van Lieshout, Joep in: Gespräch mit der Autorin nach einem Vortrag 2004.

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Über die Motivation, trotz der beschriebenen Probleme einen „Freistaat“ zu gründen, geben zwei Vorbilder Aufschluss, auf die van Lieshout verweist: „I like Morris’ Socialism […] but I also like Machiavelli.“ Das „but“ in der Mitte des Satzes deutet schon an, dass diese Vorbilder nur schwer in Übereinstimmung zu bringen sind. Dennoch finden sich einzelne Elemente beider Denker in AVL-Ville wieder. In dem Katalog „Atelier van Lieshout. Ein Handbuch“ sind mehrere Auszüge aus Machiavellis „Il principe“ abgedruckt,108 einem Werk aus dem 16. Jahrhundert, in dem der Autor eine Art Anleitung zum erfolgreichen politischen Handeln gibt. Machiavelli geht dabei „vom Primat des Machterwerbs und der Machterhaltung aus,“109 wohingegen eine moralische Grundlage des Handelns kaum eine Rolle spielt, wie er auch die Menschen allgemein als „moralisch verworfen“110 beurteilt. Machiavelli verlangt von einem guten Herrscher „den Willen und die Entschlossenheit zur Tat,“111 und es ist besonders dieser pragmatische Ansatz, der sich auf das Atelier Van Lieshout übertragen lässt. Die Unabhängigkeit von den staatlichen Regelungen ermöglicht ein schnelleres Handeln oder wie Joep van Lieshout es ausdrückt: „That’s why we get so much done. We don’t secure things; we simply do them.“112 William Morris war ab 1883 einer der Führer der englischen Sozialistenbewegung und bemühte sich um eine Erneuerung des Kunsthandwerks. Seine politischen und ästhetischen Ideale verbinden sich in dem Roman „Kunde von Nirgendwo,“113 in dem er eine Gartenlandschaft schildert, in der alle Menschen in Übereinstimmung mit Natur und Kultur leben können. Vor allem die – bei Morris allerdings rückwärtsgewandte – Absage an den zentralen Staat zugunsten von überschaubaren Dorfgemeinschaften lässt sich mit dem Bemühen um Autarkie bei Atelier Van Lieshout vergleichen. Das Leben und Arbeiten in der kleinen Einheit AVL-Ville mit seinen höchstens 40 Bewohnern schafft ein von Bestimmungen und Gesetzen befreites

108 Kölnischer Kunstverein: Atelier van Liehout. Ein Handbuch, S. 60, S. 21 und S. 136. 109 Schneider, Thomas: Machiavelli, S. 550. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 106. 113 Morris, William: Kunde von Nirgendwo.

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„Land für Kreativität.“114 Schon in der Schäferdichtung des 17. und 18. Jahrhunderts ermöglichte „die Emigration aufs Land […] den Rückzug in einen herrschaft-, in einen staatsfreien Raum.“115 Abbildung 6: Atelier Van Lieshout: Pioneer Set, 1999

Besonders deutlich werden beide Aspekte – der von Morris vorgeschlagene Rückzug in die Natur als staatsfreien Raum und die bei Machiavelli formulierte „Entschlossenheit zur Tat“ – in der Biological mixed city farm116 von AVL, einem Bauernhof, bei dem alle Bestandteile beweglich sind [Abbildung 6]. Ob nun Obstbaum oder Hühnerstall, die Elemente des Bauernhofs können bei einem Umzug innerhalb eines Tages in einen Schiffscontainer117 geladen und verschifft werden. Joep van Lieshout bezeichnet die

114 Van Lieshout, Joep: Vortrag im Kunstverein Köln, 2004. 115 Garber, Klaus: Arkadien und Gesellschaft, S. 67. 116 Atelier Van Lieshout: AVL-Ville. 117 Schiffscontainer werden von vielen Architekten seit einigen Jahren als konstengünstiges und variables Basismodul für kleinere Häuser verwendet. Das Büro Wes Jones Partners nutzt den shipping container beispielsweise 1995 als Ausgangsmaterial für die Technological Cabins. Das 1993 gegründete New Yorker Studio LOT-EK (Ada Toller und Guiseppe Lignano) hat 1999 die

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Farm auch als The Pioneer Set118 und verweist damit auf die flexible Struktur des Bauernhofes, der eben ein Set verschiedener Komponenten ist. Darüber hinaus macht dieser Name den Wunsch nach Autarkie deutlich und schließt an den oben beschriebenen ersten Plan zu einer selbstversorgerischen Kommune auf dem Land an [Abbildung 3]. Das Pioneer Set ist wohl für eine Gemeinschaft von Pionieren gemacht, die das raue Siedlungsland erst urbar machen muss, weil die Gesetze der Zivilisation hier noch nicht gelten. Es ist kein Zufall, dass der Name an die Siedlungsbewegung amerikanischer Pioniere im 19. Jahrhundert erinnert, die heute verbunden ist mit dem „Mythos der frontier, wie er in unzähligen Wildwestfilmen dargestellt wird.“119 Aber das Set kann auch von einer Gemeinschaft von Pionieren benutzt werden, in deren Siedlungsland die Gesetze der Zivilisation nicht mehr gelten, wie es Joep van Lieshout für AVL-Ville offensichtlich anstrebt, wenn er feststellt: „We’re subject to Dutch laws, but we’re not interested in respecting them.“120 Eine Auseinandersetzung mit den Idealen des amerikanischen Westens, wie beispielsweise dem Drang nach Freiheit und Individualität oder dem Recht auf Selbstverteidigung mit Waffen, ist auch in anderen Werken von AVL zu erkennen. 121 Ob nun vor oder nach der Zivilisation, ob im Wildwestfilm oder am Hafen von Rotterdam, die unabhängigen Gemeinschaften verteidigen ihre abgegrenzten Räume sehr schlagkräftig. Deshalb hat der „Freistaat“ auch eine eigene Waffenwerkstatt, die verschiedene Revolver, Survival-Messer und Schlagringe herstellt [Abbildung 7: Pistolet Poignée]. In einer Ausstellung, die AVL 2005 für den Skulpturengarten des Kröller-Müller Museums in Otterlo zusammengestellt hat, gab es in einem Waldstück sogar ein als „Terrorist Hang-Out“ bezeichnetes Gebiet.122

ebenfalls aus einem shipping container bestehende Mobile Dwelling Unit (MDU) entworfen. 118 Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 106 und www.ateliervanlieshout. com. 119 Killick, J. R.: Die industrielle Revolution, S. 153. 120 Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 106. 121 Vgl. z. B. eine Entwurfszeichnung für AVL-Ville aus dem Jahr 1998. Hier findet sich ein mit „Grondleggers Blockhut“ bezeichnetes Gebäude. 122 „Atelier van Lieshout: Happy Forest,“ Ausstellung Kröller-Müller Museum Otterlo 2005.

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Abbildung 7: Atelier Van Lieshout: Pistolet Poignée Americaine, 1995

Das Experiment AVL-Ville dauerte neun Monate und wurde in dieser Zeit von vielen Journalisten und Interessierten besucht.123 Dieser Erfolg machte die inzwischen von anderen Mehrheiten regierte Stadt Rotterdam auf das Projekt aufmerksam und der „Freistaat“ wurde schließlich wegen zahlreicher „Mängel“124 von einer Gruppe von Polizisten, Zollbeamten und Mitgliedern der Feuerwehr aufgelöst. Bei vielen Objekten erkannte man eine Missachtung von Bauvorschriften, bei dem von den Mitgliedern des Ateliers betriebenen Restaurant lag neben einer fehlenden Baugenehmigung keine Schanklizenz vor und es wurde daher nach drei Monaten geschlossen. 125 Eine mit Holz betriebene Heizung musste abgerissen werden, weil sie ohne eine Abgaskläranlage gebaut worden war und die Tierhaltung im Rahmen des Pioneer Set war illegal, weil die Tiere nicht auf Betonboden lebten und daher die Gefahr der Versickerung des Kots bestand. 126 Schließlich wurden auch die im Rahmen von AVL-Ville in der eigenen Waffen- und Bomben-

123 Joep van Lieshout schätzt, dass 12 000 Menschen AVL-Ville besucht haben. (van Lieshout, Joep: Vortrag im Kunstverein Köln). 124 Van Lieshout, Joep: Vortrag im Kunstverein Köln. 125 Van Lieshout, Joep: Die Stadt der Sklaven. Vortrag. 126 Vgl. die Darst. in: van Lieshout, Joep: Häuser sind wie Hüllen, S. 183.

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werkstatt hergestellten Gewehre von der Polizei konfisziert, weil der (aus Sicherheitsgründen) fehlende Schlagbolzen sehr leicht ersetzt werden könnte und die Waffen damit funktionstüchtig wären. Der auf dem Gelände von AVL-Ville stehende Mercedes, der vom Atelier 1998 mit einem Geschütz auf der Laderampe ausgestattet worden war, entging seiner Zerstörung nur dadurch, dass das Museum Boijmans Van Beuningen das Objekt als Kunstwerk ankaufte. Man könnte sagen, dass das Gemeinwesen schließlich von dem eingeholt wurde, was es mit seinem Bestehen kritisiert hatte. Die Gruppe N55 hat – wie auch Atelier Van Lieshout – die anfangs angedachte selbstversorgerische Siedlung auf dem Land nicht verwirklicht. Stattdessen wohnten und arbeiteten die Gruppenmitglieder seit 1996 gemeinsam in einem Geschäftsapartment im Zentrum von Kopenhagen. Diese Wohnsituation war aber auf Dauer unbefriedigend und engte die verschiedenen Aktivitäten der Gruppe zu sehr ein, daher zogen sie 2000 in das N55 Spaceframe, ein selbst entworfenes Wohnmodul am Hafen von Kopenhagen um [Abbildung 8]. N55 grenzen sich damit nicht so demonstrativ von der Ausgangsgesellschaft ab, wie es Atelier Van Lieshout mit der Ausrufung eines „Freistaates“ tat. Aber auch für die skandinavische Künstlergruppe ist es wichtig, ihren Lebensraum von der sie umgebenden Gesellschaft zu trennen. Ihre neue Wohn- und Arbeitssituation beschreiben sie so: „[We] live on the water and we made Floating Platform as artificial self made land. […] Holmen (the harbour area in Copenhagen where Floating Platform is situated) has been like a little village or kind of collective.“ 127 N55 sieht das Wohnmodul also nicht einfach nur als ein „Haus,“ das hier zufällig auf dem Wasser schwimmt, aber eigentlich genauso gut in einer Straße neben anderen traditionellen Häusern stehen könnte, sondern die Gruppe bezeichnet das Spaceframe auf dem schwimmenden Untergrund als Teil eines Dorfes oder Kollektivs und weist ihm damit die Eigenschaften eines abgegrenzten Gemeinwesens zu. Doch schon aufgrund der Gruppengröße (N55 besteht zu dieser Zeit aus vier Mitgliedern) legt N55 weniger Wert auf eine vollständige Abschließung von der Umwelt als AVL.

127 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch.

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Abbildung 8: N55: N55 Spaceframe (1999) auf der Floating Platform, Kopenhagen 2001

Sowohl für den schwimmenden Untergrund als auch für das Spaceframe selbst greift N55 die Idee des Raumfachwerks auf, wie sie Richard Buckminster Fuller seit den späten 1940er Jahren für seine geodätischen Kuppeln verwendet hat [Abbildung 9].128 Zwar formte die Gruppe für das Spaceframe keine Halbkugel, sondern baute einen Tetraeder mit gekappten Spitzen, aber auf die Vorteile dieser Bauweise wirkt sich das nicht aus: Fuller sah den Tetraeder bzw. die Kombination aus Tetraeder und Oktaeder als „fundamentalste Struktur überhaupt“ an.129 Das Raumfachwerk besteht aus dreidimensionalen Modulen, die beliebig erweiterbar sind, denn „Tetraeder sind geometrisch gesehen einzigartig, weil man an jeder ihrer vier Oberflächen etwas hinzufügen kann, während ihre Größe symmetrisch wächst.“130 Aus dieser geometrischen Anordnung gebaute Strukturen lassen sich in kurzer Zeit und ohne den Einsatz von schwerem Gerät auf- und abbauen. 128 Vgl. die Darst. in: Chruxin Christian; Krause, Joachim: Geodätische Kuppeln, S. 45/46. 129 Fuller, Richard Buckminster: Konkrete Utopie, S.104. 130 Fuller, Richard Buckminster: Konkrete Utopie, S. 390.

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Jedes Grundmodul ist zudem in Einzelteile zerlegbar, die der Benutzer Platz sparend zwischenlagern kann, bis sie wieder Verwendung finden.131 Bei dieser Bauweise ist das Material auf ein Minimum reduziert, so dass sich das leichte Spaceframe auch als Ganzes bewegen lässt, zumal die Raumzelle nicht mit einem Fundament in der Erde verankert werden muss. Viele der von Fuller gebauten Strukturen wurden mit Hubschraubern an ihren Bestimmungsort transportiert und er rechnete damit, dass bis 1975 geodätische Kuppeln durch die Luft geflogen werden könnten, die so groß wären, dass sie ganze Städte überdecken könnten.132 Da die einzelnen KompoAbbildung 9: Richard Buckminster Fuller zeigt ein Modell für einen Geodesic Dome, ohne Jahr

131 Bevor N55 einen Platz fand, an dem das N55 Spaceframe aufgestellt werden konnte, lagerten die zum Bau nötigen Teile unter einem Sofa in ihrer konventionellen Wohnung (vgl. die Darst. in: Bloom, Brett: N55, S. 148). 132 Vgl. die Darst. in: Fuller, Richard Buckminster: Konkrete Utopie, S. 392/393.

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nenten aus wenigen, immer gleichen Grundbausteinen aus Stahl und Plexiglas bestehen, sind keine Sonderanfertigungen nötig. N55 greifen mit vielen Entwürfen den Systemgedanken auf, der im Design spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Anwendung gefunden hat. Die einzelnen Module sind so gestaltet, dass alle an einem verbindenen Element andocken und auf diese Weise eine theoretisch unendliche Anzahl von Beziehungen eingehen können.133 Das N55 Spaceframe wurde also als preiswerte Alternative zur Mietwohnung konzipiert.134 Das anfangs mit dem Snail Shell System thematisierte Prinzip der Autarkie wird in dieser Wohneinheit wieder aufgegriffen. Doch während in den weißen Containern nur jeweils eine Person Platz finden konnte, leben in dem Spaceframe nun die vier Mitglieder von N55 zusammen. Im Gegensatz zu N55 arbeitete Buckminster Fuller mit einem anderen Maßstab: Nach „planungswissenschaftlichen“ Kriterien sei eine „tetraedische Stadt zur Behausung von einer Million Menschen sowohl in technischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht möglich.“135 Bei N55 gibt es zwar Entwürfe, die mehrere Wohneinheiten zu Kommunen zusammensschließen, wie beispielsweise die Arbeit Micro Dwellings [Abbildung 10], aber Ausgangspunkt der Überlegungen ist immer eine kleine, überschaubare Gemeinschaft und keine Population von Tausenden von Menschen. Sowohl bei Micro Dwellings als auch beim N55 Spaceframe ist es das Ziel, selbstständig über die eigene Wohnsituation entscheiden zu können, ohne von vorgefertigten Mietwohnungen, Immobilienmaklern oder Bauunternehmern abhängig zu sein. Lebt man in diesen Wohnmodulen, können also – so N55 – die „concentrations of power within the building industry“ 136 zerschlagen werden. Schon 1854 hat Henry David Thoreau auf Zwänge hingewiesen, in die ein Mensch in „unserer modernen Zivilisation“137 geraten kann, wenn er in der Stadt wohnen will. Der Fortschritt hat zahlreiche – nach Thoreau äußerst überflüssige – Verbesserungen und damit auch Bedürfnisse entwickelt, die jedes Haus für einen Normalverdiener uner-

133 Das Büromöbelsystem „USM Haller“ (Fritz Haller, 1963) beruht beispielweise auf ganz ähnlichen Prinzipien. 134 Für die Details der Konstruktion vgl.: N55: Manual for N55 Spaceframe. 135 Fuller, Richard Buckminster: Konkrete Utopie, S. 389. 136 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 137 Thoreau, Henry David: Walden, S. 36.

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schwinglich machen. „Manch einer rackert sich zu Tode, um die Miete für eine größere und komfortablere Kiste aufzubringen, der in der kleineren sicher nicht vor Kälte gestorben wäre.“ 138 Als Folge macht Thoreau eine flächendeckende Überschuldung der Bevölkerung aus, und so trägt das zivilisierte Wohnen dazu bei, „die Menschen ihr Leben lang arm zu halten.“139 Abbildung 10: N55: Micro Dwellings, ohne Jahr

Ähnliche Beobachtungen stellten auch die Mitglieder der Situationistischen Internationalen an. 1961 beklagen Attila Kotanyi und Raoul Vaneigem: „Le capitalisme moderne, qui organise la réduction de toute la vie sociale en spectacle, est incapable de donner un autre spectacle que celui de notre propre aliénation.“140 Besonders in der Beobachtung von Machtstrukturen in der Gesellschaft knüpfen N55 an die Situationisten an. Kotanyi und Vaneigem schreiben weiter: „Das Spektakel wird in den Wohnungen und

138 Thoreau, Henry David: Walden, S. 35. 139 Thoreau, Henry David: Walden, S. 36. 140 Kotanyi, Attila; Vaneigem, Raoul: Programme élémentaire, S. 16.

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im Standortwechsel sichtbar […]. Denn in Wirklichkeit bewohnt man nicht ein Stadtviertel, sondern die Macht. Man wohnt irgendwo in der Hierarchie.“141 Die Mitglieder der Berliner Kommune 2142 üben eine ähnliche Kritik und beklagen 1969, dass das „kapitalistische Profitprinzip beim Wohnungsbau […] humanere Wohnverhältnisse“ 143 nicht zulasse. Machtkonzentrationen bestimmen nicht nur den Bereich der Bauindustrie, sondern sind laut N55 ein allgemeines Charakteristikum unserer Gesellschaft. Mit Besorgnis sieht die Gruppe eine immer stärker werdende „neoliberalistic, or let’s call it what it is: Neo-fascistic movement, starting in the eighties in the Western part of the world.“144 Diese Tendenz, so N55, sei gekennzeichnet durch „concentrations of power dominating our conscious mind and being decisive to our situations.“145 In einem Text von 1961 beschreiben Kotanyi und Vaneigem diese einschränkende Wirkung der gesellschaftlichen Ordnung so: „Le développement du milieu urbain est l’éducation capitaliste de l’espace. Il represénte le choix d’une certaine matérialisation du possible, à l’exclusion d’autres.“146 Mit der kritisierten Entwicklung sei, so führen N55 weiter aus, eine immer geringer werdende Bedeutung des einzelnen Menschen, ein Abbau von sozialen Errungenschaften und ein immer dominierender Konkurrenzkampf unter den Menschen verbunden. Auch dieses Problem haben schon die Situationisten in der sie umgebenden Gesellschaft gesehen: „Les artistes – avec toute la culture visible – en sont venus à etre entièrement séparés de la société, comme ils sont séparés entre eux par la concurrence.“ 147 Machtkonzentrationen entstehen laut N55 immer dann, wenn sich Gruppen von Menschen bilden, die für andere Entscheidungen treffen wollen, wie es in jeder Art der Vertretung oder Parteienbildung geschieht. Daher lehnt die Gruppe die representative Demokratie als Regierungsform ab, denn „the notion that it is possible to elect a small number of persons to protect the rights of a vast

141 Ebd. 142 Zur Kommune 2 siehe auch die Darst. in Fußnote 219. 143 Kommune 2: Versuch der Revolutionierung, S. 10. 144 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 145 N55: Intro. 146 Kotanyi, Attila; Vaneigem, Raoul: Programme élémentaire, S. 16. 147 Situationistische Internationale: Manifeste, S. 37.

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number of people, is absurd.“148 Zeitweise müsse man aber mit demokratischen Staaten zusammenarbeiten, weil ein vollständiger Wandel in absehbarer Zeit nicht realistisch sei und „representative democracy is better than corporate fascicm.“149 Um diesen kritisierten Entwicklungen in der westlichen Welt entgegenzutreten, „it is clear that persons […] must seek to organize the smallest concentrations of power possible.“150 Die Gruppe lenkt daher das Augenmerk auf die Funktionsweise kleiner Strukturen. Wie Atelier Van Lieshout versucht auch N55, ein dezentrales und möglichst von der Umwelt unabhängiges Gemeinwesen zu schaffen, allerdings legt N55 einen kleineren Maßstab an als AVL. Eine Wohneinheit wie das Spaceframe ist von den Zwängen der in der Ausgangsgesellschaft überall beobachteten Machtkonzentrationen befreit, und so können die Bewohner erfahren, dass viele Dinge in einer kleinen Gemeinschaft nicht durch Geldverkehr und ausgeklügelte Gesetzestexte geregelt werden, sondern durch den „basic will to work together in symbiosis instead of competing.“ N55 nennt dieses Phänomen auch „small-group-behaviour and ethics.“151 Dieser grundsätzliche Wille, eng zusammenzuarbeiten, zeigt sich auch im Auftreten der Gruppe. Im Gegensatz zu Atelier Van Lieshout treten die Mitglieder von N55 weniger als Einzelpersonen in Erscheinung, sondern agieren fast immer als Gruppe. Sogar in den Gesprächen, die N55 auf der Homepage veröffentlicht haben, melden sich nicht die einzelnen Künstler zu Wort, sondern die Mitglieder antworten kollektiv unter dem Namen N55. Ebenso erfährt man zwar, wann die Gruppe gegründet wurde, aber in den ersten Jahren des Bestehens fanden sich Informationen zum Lebenslauf der einzelnen Mitglieder nur sehr versteckt. Zu Anfang wollte N55 sogar ohne einen Gruppennamen agieren: „Actually we didn’t want to have a name. It is all about trying to do significant work without becoming directly exposed. That is why we wanted to stay outside the context of names and branding.“152

148 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 149 Ebd. 150 N55: Intro. 151 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 152 Sørvin, Ion: Gespräch mit der Autorin. Erst die Teilnahme an einer Gruppenausstellung im Jahr 1996 zwang die Künstlergruppe, sich einen Namen zu ge-

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Sowohl Atelier Van Lieshout als auch N55 verzichten also auf komplexe politische Strukturen und stellen der staatlichen Kontrolle ein Leben in überschaubaren Lebensgemeinschaften entgegen. Die von N55 als „smallgroup-behaviour and ethics“153 bezeichnete Alternative ist zwar theoretisch aufwändiger begründet154 und wird auch strikter umgesetzt, letztlich kann man sie aber gut mit dem vergleichen, was in AVL-Ville mit „common sense“155 bezeichnet wird. Die Künstler stellen nun in einem zweiten Schritt Systeme zur Verfügung, mit denen auch andere Menschen erfahren können, wie das Leben in kleinen Gruppen organisiert werden kann. „I think we all have a choice. The choice between a completely centralized world with one dictator or a world in which we understand how to treat each other on a very basic level. The more knowledge you get, the more we will go in that direction,“156 bekräftigt Ion Sørvin. Mit dem Projekt Kommune können Menschen, die in „traditionellen“ Situationen wohnen, eine kleine Kommune oder Gemeinde aufbauen, ohne gleich das gesamte bisherige Leben über Bord werfen zu müssen. „Kommune enables persons to work with their local environment and improve various living conditions in collaborations with other persons. It aims to take on the responsibility, when necessary, of for example in urban planning, housing, public furniture, public utilities, playgrounds, childcare, healthcare, schools, libraries, roads, waste etc.“ 157 Eine solche Kommune soll den Machtkonzentrationen auf der Ebene der Lokalpolitik entgegentreten und verhindern, dass die für ein Wohngebiet wichtigen Entscheidungen von Menschen getroffen werden, die gar nicht in diesem Gebiet wohnen, wie Städteplaner oder Politiker übergeordneter Ebenen. Das Projekt Kommune besteht aus verschiedenen Komponenten, die leicht nachgebaut und variabel eingesetzt werden können. BasisElement ist ein zylinderförmiger PE-Container, der zu einer Straßenlampe, einer Litfasssäule oder einem Kommune-Infostand werden kann. Diese Elemente werden im öffentlichen Raum eingesetzt, um die ebenfalls in der

ben, weil das Museum eine namenlose Künstlergruppe nicht in die Öffentlichkeitsarbeit integrieren konnte. 153 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 154 Vgl. die Darstellung in Kap. 2.3.1.1. (ab S. 134). 155 Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 106. 156 Sørvin, Ion: Gespräch mit der Autorin. 157 N55: Manual for Kommune.

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Gegend wohnenden Menschen von den Aktivitäten der Kommune zu unterrichten. Die Zylinder können auch dazu verwendet werden, ein KommuneCafé einzurichten, ohne auf Stromanschlüsse und Wasserleitungen angewiesen zu sein. Die Container werden dann zu einem Gasofen, einem Kräutergarten, Waschbecken oder Regal umgebaut. N55 schlägt auch die Einrichtung von Kommune-Räumen vor, die von allen Bewohnern einer Gegend genutzt werden sollen. Zahlreiche Fotos in dem „Manual for Kommune“ zeigen verschiedene Situationen von schon existierenden Gemeinden. Die Wirkungsweise eines solchen Projektes wird inzwischen auch von staatlicher Seite prinzipiell erkannt. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beispielsweise teilt 2006 mit, dass es das „Bundesprogramm lokales Kapital für soziale Zwecke“ fördern will, um „im Sinne des ‚Förderns und Forderns‘ Teilnehmerinnen und Teilnehmer“ zu befähigen „Verantwortung für den eigenen Stadtteil zu übernehmen, so dass ein ‚sozialer Nutzen‘ für das Gebiet entsteht.“158 Für N55 ist es allerdings entscheidend, dass ein solches Engagement gerade nicht im Rahmen staatlich geförderter Programme stattfindet, sondern dass die Initiative außerhalb jeglicher Machtkonzentrationen von einzelnen Bürgergruppen selbst ausgeht. Im Gegensatz zu dem Gemeinwesen, wie es das Atelier Van Lieshout mit AVL-Ville aufbaut oder wie es N55 selbst zu Anfang noch geplant hatte, geht es der Gruppe hier um eine andere Art der Abgrenzung von der Ausgangsgesellschaft. Die Bewohner von AVL-Ville leben gemeinsam in einem klar umrissenen „Freistaat“ am Hafen von Rotterdam. Dort haben sie eine eigene Währung, stellen ihre Nahrung her und wohnen in selbstgebauten Häusern. Das Projekt Kommune dagegen wird von Menschen betrieben, die nicht dauerhaft zusammenleben, aber für bestimmte Projekte oder Fragen besser kommunizieren wollen. Kommune greift damit partiell in die Ausgangsgesellschaft ein und ist ein gutes Beispiel für das Ziel der Gruppe, „to rebuild the city from within.“159 N55 ist sich darüber im Klaren, dass jeder soziale Wandel nur über einen längeren Zeitraum zu verwirklichen ist. 160 Kommune will daher nicht mit einem Schlag die gesamte politische Struk-

158 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bundesprogramm Lokales Kapital für soziale Zwecke. 159 N55: Manual for N55. 160 Vgl. die Darst. in: N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch.

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tur eines Landes ändern oder Menschen dazu bringen, ihr bisheriges Leben aufzugeben, um in einem neuen Freistaat zu leben. Ziel ist es, Menschen dazu zu ermuntern, auf der lokalen Ebene alltägliche Entscheidungen selbst zu treffen und sie nicht durch Machtkonzentrationen bestimmen zu lassen. Damit aber eine gut funktionierende Kommune nicht selbst zu einer Machtkonzentration werden kann, ist es „recommended that a KOMMUNE is divided into smaller parts if it becomes too powerful.“161 In diesem Zusammenhang kann auch auf das im Internet operierende System Work, eine Art Arbeitstauschbörse verwiesen werden, mit der N55 Arbeitssuchende und Aufgaben verschiedenster Art ohne die Vermittlung durch staatliche Organe oder den Austausch von Geld zusammenbringen will.162 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das N55-Projekt Shop, bei dem ein Initiator Räume oder mobile Vorrichtungen zur Verfügung stellt, an denen man verschiedene Dinge abgeben, mitnehmen, tauschen oder ausleihen kann. Eine Liste der Shops ist über das Internet einsehbar. Vor allem die letzten beiden Systeme greifen die Idee der Genossenschaft der frühen Sozialisten auf, die „als Form solidarischer Eigenhilfe [ebenfalls] nicht gewinnorientiert“163 ist. Der englische Unternehmer und Sozialist Robert Owen setzte sich Mitte des 19. Jahrhunderts für die Errichtung von Arbeitstauschbörsen ein, um den Unternehmer- und Händlerprofit auszuschalten.164 Insgesamt lässt sich bei N55 ein Trend beobachten, den Menahem Rosner für zeitgenössiche „utopian communities“ festgestellt hat. Die Gruppenmitglieder bilden nach wie vor eine „multifunctional communit[y]“ und beschäftigen sich mit der Gesamtheit des Lebens, aber die von N55 geplanten Projekte sind „more segmented and uni-functional structures, centering on particular spheres of life, relevant to specific issues.“165 Auf diese Weise kann der Betrachter zunächst einzelne alternative Vorschläge in sein Leben integrieren. Eines der Vorbilder für die politische Ordnung bei Atelier Van Lieshout und N55 ist die anarchistische Linie der Utopien zur Zeit der Aufklärung.

161 N55: Manual for Kommune. 162 Vgl. die Beschreibung in: N55: Manual for Work. 163 Sellien, Reinhold; Sellien, Helmut: Genossenschaften, Sp. 2045. 164 Vgl. die Darst. in: Bambach, Ralf: Robert Owen, S. 387. 165 Rosner, Menahem: Structure and value change, S. 54.

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Richard Saage charakterisiert sie als „das große Korrektiv der klassischen Utopietradition.“166 In diesen herrschaftsfreien Utopien wird der ideale Staat nicht mehr (wie in den Staatsutopien) durch möglichst sinnvoll eingerichtete Institutionen geordnet, sondern die Idee des Gemeinwesens „naturalisiert.“167 Autoren wie François Fénelon, Gabriel de Foigny oder Denis Diderot kritisieren mit ihren literarischen Entwürfen das absolutistische Herrschaftssystem, das Prinzip des Privateigentums und auch den Einfluss, den Adel und Kirche in der Gesellschaft des frühen 18. Jahrhunderts ausüben. Sie sind davon überzeugt, dass in einer solchen Welt jedes natürliche soziale Verhalten des Menschen verkümmern muss und sich die Gesellschaft spaltet. Würde man aber jegliche Bevormundung durch politische oder religiöse Institutionen abschaffen, dann könnte sich das „Gesetz der Natur“ im Menschen wieder durchsetzen und sich eine harmonischsolidarische Gesellschaft entwickeln. Es entstünde eine Art Anarchie, die aber nicht in Chaos mündet, sondern durch die natürliche Übereinstimmung von Natur und Vernunft bei allen Einwohnern geprägt ist. Auf die Natur beruft sich auch Ion Sørvin von N55, wenn er seinen künstlerischen Ansatz beschreibt: „What I am trying to do is to understand how language works and the basic way how I have to think when I want to think in a rational way. That is very different to having an ideology, it’s trying to understand nature.“168 Ein Beispiel für eine solche Gesellschaft findet sich in dem 1699 erschienen Roman „Die Abenteuer des Telemach“ von Fénelon. Das Buch ist keine geschlossene utopische Erzählung im eigentlichen Sinn, vielmehr beschreibt Fénelon im Rahmen einer verzweigten Abenteuerhandlung ganz unterschiedliche Gemeinwesen. In unserem Zusammenhang ist besonders das an arkadische Vorstellungen anknüpfende Land „Bätika“ im 7. Buch von Interesse. Seine Bewohner leben in einer Art unschuldigem Naturzustand, ohne Institutionen, Geldverkehr oder Besitz. Sie sind in patriarchalen Familienverbänden organisiert und folgen einer nomadischen Lebensweise. Die Bätikaner unterscheiden zwischen den „wahren Bedürfnissen des Menschen“169 und den „falschen Bedürfnissen,“ die die Zivilisation prägen. Hier

166 Saage, Richard: Utopieforschung. Eine Bilanz, S. 162. 167 Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, S. 95. 168 Sørvin, Ion: Gespräch mit der Autorin. 169 Fénelon: Die Erlebnisse des Telemach, S. 145.

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lauern „trügerische Vergnügungen,“170 es herrscht eine Sucht nach der „Beherrschung anderer Menschen“171 und nach verweichlichendem „Überfluß.“172 Wer in einer solchen Gesellschaft leben muss, ist „gequält von Eifersucht, von blassem Neid, Ehrgeiz, Furcht [und] Habsucht.“173 Die Menschen in Bätika dagegen „sind frei [und] alle sind gleich.“174 Sie leben auf eine einfache Weise und „schätzen nur das, was in der That den menschlichen Bedürfnissen“ entspricht.175 Diese Weisheit lernten sie „nur durch das Studium der einfachen Natur.“176 Die Bewohner verbringen ihr Leben also „zugleich weise und glückselig,“177 weil sie es „den Gesetzen der Natur gemäß“ geordnet haben. Denis Diderot beschreibt in seinem „Nachtrag zu Bougainvilles Reise“ (1755) eine ähnliche Gesellschaft von „Bon Sauvages“ auf der Insel Tahiti. Auch diese Bewohner „folgen dem reinen Trieb der Natur,“178 der sie in ihrer Lebensführung leitet. Diderot lässt einen alten Mann aus dem tahitianischen Volk dem europäischen Reisenden erklären: „Willst Du immer und überall wissen, was gut und was böse ist, so halte dich an die Natur der Dinge und der Handlungen, an deine Beziehungen zu Wesen deinesgleichen, an den Einfluss deines Verhaltens auf deinen besonderen Nutzen und

170 Fénelon: Die Erlebnisse des Telemach S. 147. 171 Ebd. 172 Fénelon: Die Erlebnisse des Telemach, S. 146. 173 Ebd. 174 Fénelon: Die Erlebnisse des Telemach, S. 147. (Die Beobachtung, dass alle Bewohner Bätikas frei und gleich sind, steht für Fénelon nicht im Gegensatz zur beschriebenen patriarchalen Ordnung: „An der Spitze einer jeden Familie steht ein Oberhaupt, welches der wahrhafte König derselben ist. Der Hausvater hat das Recht, ein jedes seiner Kinder oder Enkel wegen böser Handlungen zu bestrafen“ [S. 146]. Auch die Rollenverteilung unterscheidet deutlich zwischen Mann und Frau: „Während der Mann die Geschäfte außerhalb des Hauses besorgt, waltet die Frau im Innern desselben; sie erleichtert die Arbeiten des Mannes, nur um ihm zu gefallen, scheint sie geboren zu sein“ [S. 149].) 175 Fénelon: Die Erlebnisse des Telemach, S. 144. 176 Fénelon: Die Erlebnisse des Telemach, S. 146. 177 Fénelon: Die Erlebnisse des Telemach, S. 151. 178 Diderot, Denis: Nachtrag zu Bougainvilles Reise, S. 17.

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auf das allgemeine Wohl.“179 Die europäische Zivilisation dagegen hat diese Lehren vergessen. Sie wird gebildet von einer „Masse von verkümmerten Wesen, bei denen die Natur nicht mehr ihre Rechte geltend machen kann.“180 Der Greis äußert sich weiter: Eure „staatlichen, bürgerlichen und religiösen Einrichtungen [sind so geschaffen], dass die Menschheit von Jahrhundert zu Jahrhundert immer wieder in jenes Joch gezwängt wird, das euch aufzuerlegen, eine Hand voll Schurken beschlossen hat. Misstrauen sie demjenigen, der Ordnung schaffen will. Ordnung schaffen heißt immer, sich zum Herrn des anderen zu machen, indem man ihm Schranken setzt.“181 Von jeglicher Ordnung befreit, können die Tahitianer ein naturverbundenes Leben in Gütergemeinschaft und dezentralen Familienverbänden führen. Diese Idee einer Gesellschaft, die sich aus kleinen Einheiten von Menschen zusammensetzt, die sich selbst regieren, wurde in den eben geschilderten Utopien im Zusammenhang einer idyllischen Natur ausgemalt. Sie spielte auch in der politischen Diskussion der Jahrhundertwende eine wichtige Rolle.182 Die idealen Gesellschaften, die Charles Fourier, Robert Owen oder auch William Morris entwarfen, kommen ohne als zentrale Organe agierende staatliche Institutionen aus. Owen plädierte für die Einrichtung von Assoziationen, die aus 500 bis 2000 Personen bestehen können und sich weitgehend selbst ernähren und verwalten sollen. Mehrere dieser Produktivgenossenschaften würden dann in jeweils höhere Einheiten zusammengefasst.183 William Morris beschreibt in „Kunde von Nirgendwo“ eine beschauliche Gartenlandschaft, in der eine „Gesellschaft von freien Menschen“184 in kleinen Dörfern lebt, wo sie ohne übergeordnete Strukturen das gemeinsame Land bearbeitet und ihr (vorindustrielles) Handwerk betreibt. Denn weil das Prinzip des Gemeineigentums herrscht, hat sich „das bürger-

179 Diderot, Denis: Nachtrag zu Bougainvilles Reise, S. 32/33. 180 Diderot, Denis: Nachtrag zu Bougainvilles Reise, S. 34. 181 Diderot, Denis: Nachtrag zu Bougainvilles Reise, S. 57. 182 Es gab im 19. Jahrhundert aber auch eine Weiterführung des utopischen Diskurses, der auf die Ordnung der Gesellschaft durch Institutionen setzte. Vgl. zum Beispiel Cabet, Étienne: Reise nach Ikarien. 183 Vgl. die Darst. in: Saage, Richard: Robert Owens Utopie, S. 70-82. 184 Morris, William: Kunde von Nirgendwo, S. 124.

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liche Gesetzbuch […] selbst abgeschafft.“185 In Neu-England ist jedem „die Arbeit […] ein Vergnügen.“186 In eine ähnliche Richtung geht auch der Schriftsteller und Anarchist Gustav Landauer. Nach ihm sei es in der menschlichen Natur verankert, dass sich freie Individuen zusammenschließen: „Es gibt kein Individuum, in dem nicht, wach oder schlummernd, der Trieb zum Ganzen, zum Bunde, zur Gemeinde, zur Gerechtigkeit ruht.“ 187 Dieses die Menschen verbindende Element zu stärken, ist ein Unternehmen, das Landauer nicht in eine ferne Zukunft verlegen will. Er drängt zum Handeln auf der Ebene der konkreten Lebenspraxis. Sein Ziel ist der „Austritt aus dem Staat, aus allen Zwangsgemeinschaften; radikaler Bruch mit den Überlieferungen des Privateigentums, der Besitzehe, der Familienautorität, des Fachmenschentums, der nationalen Absonderung und Überhebung.“188 Er stellt sich eine durch „Bünde der Freiwilligkeit“ 189 strukturierte Gesellschaft vor – überschaubare genossenschaftliche Siedlungszusammenschlüsse, die ohne staatliche Kontrolle jenseits des kapitalistischen Marktes miteinander agieren. Die Entwicklung der Gruppe N55 zeigt aber auch, welch hoher Anspruch mit dem Ziel verbunden ist, eine Gesellschaft zu formen, in der die Menschen ohne übergreifende Ordnungsstrukturen über alle Aspekte ihres Lebens selbst bestimmen und sich daher immer wieder mit allen Gruppenmitgliedern absprechen müssen. Das gemeinsame Leben und Arbeiten war für N55 seit Mitte der 1990er Jahre zentraler Dreh- und Angelpunkt der künstlerischen Arbeit. Ion Sørvin beschreibt die Zeit im Rückblick so: „In the beginning we had lots of ideas of how to work in another way. […] We had a very good collaboration and we lived together. It was a kind of working collective. Art was a part of our every day life situation […] and our living situation became part of our project.“190 Die Arbeitsweise von N55 lässt sich als gemeinschaftliche Produktionsform im engeren Sinn bezeich-

185 Morris, William: Kunde von Nirgendwo, S. 117. 186 Morris, William: Kunde von Nirgendwo, S. 128. 187 Landauer, Gustav: Aufruf zum Sozialismus, S. 140. 188 Landauer, Gustav: Ein paar Worte über Anarchismus, S. 251. 189 Landauer, Gustav im vierten Artikel der ersten Fassung der „Zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes“ (1908), zitiert nach: Landauer, Gustav. Aufruf zum Sozialismus, S. 187. 190 Sørvin, Ion: Gespräch mit der Autorin.

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nen:191 Jedes Gruppenmitglied hat zu jeder Zeit Einfluss auf die Konzeption und den weiteren Verlauf der Projekte. Mit dieser Arbeitsweise wird die Künstlergruppe selbst zu einem Beispiel, wie eine bessere Welt organisiert werden könnte. In gewisser Weise wäre also die Gruppenstruktur hier die Vorwegnahme des utopischen Ideals einer Gesellschaft, die auf solidarischen Prinzipien aufgebaut ist und bei der alle ohne einen institutionellen Rahmen zusammenarbeiten, um gemeinsam die Verantwortung für ihr Leben zu tragen. Nach circa sechs Jahren bestimmten aber bei N55 mehr und mehr persönliche Differenzen die Zusammenarbeit und führten schließlich dazu, dass 2003 Rikke Luther und Cecilia Wendt N55 verließen, um mit anderen Künstlern die Formation Learning Group zu gründen. Bei einer solchen Form der Zusammenarbeit lassen sich private Zerwürfnisse kaum von künstlerischen Meinungsverschiedenheiten trennen. Betrachtet man die Projekte, die Luther und Wendt seit 2004 im Rahmen von Learning Group erarbeiteten, wird eine Verschiebung im künstlerischen Ansatz deutlich, die wohl auch ein Grund war, warum in den letzten zwei bis drei Jahren die für alle Gruppenmitglieder zehrenden Diskussionen zunahmen. Der Ansatzpunkt von Learning Group ist „doing work in relation to a context, seeing how the work is absorbed and modified by the context, an considering how this interpretation could be radically modified when the context changes.“192 Zwar gab es auch bei N55 verschiedene Aktionen im öffentlichen Raum, aber hier wurden jeweils Objekte präsentiert, die zuvor innerhalb der Gruppe entwickelt worden waren und dann in verschiedenen Städten gezeigt wurden, ohne aber auf die Besonderheiten des jeweiligen Ausstellungsortes einzugehen.193 Die privaten und wahrscheinlich auch künstlerischen Probleme führten dazu, dass die Zusammenarbeit in den letzten Mo-

191 Vgl. die Darst. in: Zimmer, Nina: Spur und andere Künstlergruppen, S. 98. 192 Castro, Julio (damals Mitglied von Learning Group) in: Smith, Stephanie: Beyond Green, S. 64/65. 193 Rikke Luther schilderte in einem Gespräch mit der Autorin, wie sehr sich die allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber den späten 1990er Jahren geändert hätten und dass Learning Group darauf reagiert habe. Den eher generellen Ansatz von N55 habe die Gruppe nun zugunsten eines noch deutlicher politisch und vor allem praktisch ausgerichteten Ansatzes aufgegeben (Luther, Rikke in: Gespräch mit der Autorin).

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naten weniger gut funktionierte und die Entwicklung neuer Projekte schwierig wurde. Eine gemeinschaftliche Arbeitsweise im engeren Sinn erfordert viel Zeit und Geduld, denn alle Details müssen immer mit allen Mitgliedern abgesprochen werden. Das mussten auch die fünf reformwilligen Menschen erfahren, die 1900 das Gelände des Monte Verità kauften, um dort ein alternatives Leben zu verwirklichen. In den ersten Monaten sollte das zuvor unbesiedelte Land bearbeitet, Wege angelegt und die ersten Hütten erbaut werden. Verschiedene Besucher sollten hierbei helfen, aber die 30 bis 40 Menschen, die aus den verschiedensten Beweggründen für kürzere Zeit den Monte Verità besuchten, scheinen nicht sehr tatkräftig gewesen zu sein. „Ida Hofmann beklagte sich, dass vielen langen Diskussionen oft wenig Arbeitsertrag gegenüberstand.“194 So mussten schließlich für den Bau von drei Lufthütten 1902 doch bezahlte Arbeiter eingestellt werden, obwohl man eigentlich gegen dieses Arbeitsmodell war. 195 Bei einer gleichberechtigen Zusammenarbeit werden keine Strukturen und Verfahrensweisen institutionalisiert, die bestimmte Abläufe unabhängig von persönlichen Beziehungen regeln könnten. Im Rückblick kommentiert Ion Sørvin die Situation von N55: „I think it’s very simple, because if you are two people it is very easy to decide what to do. If you are more than that the system will automaticly be like a group of monkeys. You have to have a boss who is taking care of decisions and then other people will take on the tasks they are good at. It is a very natural working that way. It doesn’t make sense that somebody, for sort of democratic reasons, has to do things they are very bad at. […] For a long period N55 was looking more collective than it was. […] The collective was very much discussions. A lot of suggestions were turned down because the others didn’t want to do it and so forth. I was getting very tired of that. […] Now I prefer to have a very transparent hierarchy. Then you don’t have to discuss things that are not important. […] My relation to the whole mission of collectivity is on hold at the moment.“196 Trotz dieser persönlichen Erfahrungen bezüglich der

194 Schwab: Monte Verità, S. 92. 195 Vgl. die Darst. in: Schwab: Monte Verità, S. 120. 196 Sørvin, Ion: Gespräch mit der Autorin. In einer späteren Unterhaltung über den Freistaat Christiania wurde deutlich, dass Sørvin die politischen Verfahrensweisen mit Sympathie beobachtet. Hier müssen alle Bewohner einem Vorschlag zustimmen, bevor er umgesetzt werden kann. Die Mehrheit allein ist

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Arbeit in einer Gruppe plädiert Sørvin nach wie vor für eine Gesellschaftsform, in der es keine repräsentativen Elemente gibt und jeder Bürger an allen Entscheidungen beteiligt wird.197 In seinem Buch „Leben ohne Utopie?“ stimmt Johano Strasser AVL und N55 grundsätzlich zu: „Nur wo Demokratie in kleinen und mittleren Einheiten anschaulich erlebt und aktiv praktiziert wird, kann sie auch im Großen gedeihen.“198 Doch er verweist zugleich auf die Schwierigkeiten einer Gesellschaft, die ausschließlich auf die Struktur kleiner Lebensgemeinschaften vertraut: In ihnen könnte ein „Übermaß sozialer Kontrolle“ entstehen und auf Dauer sogar „Privilegien und Formen personaler Herrschaft konserviert werden.“199 Es bleibt also zu überlegen, inwieweit solche dezentralen Gemeinschaften nicht doch in größere Einheiten eingebettet werden müssen. Ein Zusammenspiel übergeordneter Regierungsstellen und Selbstbestimmungsmöglichkeiten kleinerer Gemeinden schlägt auch die Ökonomin und Politologin Elinor Ostrom vor. Bisher gingen die meisten Wirtschaftstheorien davon aus, dass es einer Gemeinschaft von Menschen nicht möglich sei, eine knappe Ressource gemeinsam zu nutzen, ohne dass der Staat oder Marktmechanismen lenkend eingreifen. In ihrem Buch „Governing the Commons“ untersucht sie „small-scale CPR situations to study […] the processes of self-organisation and self governance“200 und kommt zu dem Schluss, dass Menschen eine

nicht beschlussfähig. Zugleich weist er aber auch darauf hin, dass die Bewohner von Christiania daher sehr viel Zeit mit Diskussionen verbringen würden – ein Zustand, mit dem er persönlich auf Dauer nicht leben könne. 197 „For example I believe in democracy, but I don’t believe in representative democracy and I don’t believe in the political system we have in the western world“ (Sørvin, Ion in: Gespräch mit der Autorin). 198 Strasser, Johano: Leben ohne Utopie?, S. 100. 199 Strasser, Johano: Leben ohne Utopie?, S. 103. 200 Ostrom, Elinor: Governing the Commons, S. 29. Mit der Abkürzung CPR bezeichnet Ostrom eine „common-pool resource,“ wie beispielsweise gemeinschaftlich genutzte Weideflächen, Fischgründe oder Computersysteme. (Vgl. die Darst. in Ostrom, Elinor: Governing the Commons, S. 30). Obwohl sie von „small-scale“-Gemeinschaften spricht, versteht Ostrom größere Gruppen darunter als N55. Ihre historischen Fallstudien beziehen sich auf Gemeinschaften von 50-15.000 Personen (Vgl. die Darst. in: Ostrom, Elinor: Governing the Commons, S. 26).

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„diversity of solutions“ entwickeln können, „that go beyond states and markets.“201 Innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen können Gruppen „organize themselves voluntarily to retain the residuals of their own efforts.“202 2.2.2.2 Wirtschaft Wie bereits im Abschnitt über die politische Ordnung deutlich wurde, wollen Atelier Van Lieshout und N55 ihr Zusammenleben möglichst unabhängig von der sie umgebenden Gesellschaft gestalten. Dieses Anliegen versuchen beide Gruppen, natürlich auch in wirtschaftlichen Belangen, in jeweils unterschiedlichem Ausmaß zu verwirklichen. Das aber ist kein einfacher Vorgang, wie N55 betont: Versucht der Mensch, auch nur seine grundlegendsten Bedürfnisse, wie zum Beispiel Behausung, Nahrung oder Kleidung, unabhängig von der Umwelt zu befriedigen, muss er sich immer wieder mit verschiedenen Machtkonzentrationen auseinandersetzen.203 Auch wenn Unabhängigkeit ein zentrales Thema im Schaffen von AVL ist, versucht der „Freistaat“ nicht, vollkommen autark zu arbeiten. Oft kommt es gerade auf dem ökonomischen Gebiet zur gewollten Vernetzung mit der Ausgangsgesellschaft, aber es gibt auch Beispiele unerwünschten Eingreifens von außen. Als solches könnte man das Verbot bezeichnen, ohne eine entsprechende Lizenz Alkohol herzustellen und im „Freistaat“ zu verbreiten. Ausweg aus dieser Situation bot ein weiterer Schritt der Abgrenzung gegenüber der Umwelt: Atelier Van Lieshout entwarf eine eigene Währung, die wie die Gruppe selbst den Namen AVL trägt. So konnte kein Beamter des niederländischen Staates behaupten, dass am Hafen von Rotterdam Alkohol ohne die dafür notwendige Lizenz verkauft wurde, denn natürlich wechselte kein Euro den Besitzer, sondern man verwendete AVLGeldscheine, die außerhalb des AVL-Ville-„Währungsgebietes“ keinerlei Wert besaßen. Die neue Währung richtete sich nicht nach dem Goldpreis, sondern bezog sich auf den Preis eines Bieres.204 Die Gestaltung der AVLGeldscheine ist nahe genug am Original der Ausgangsgesellschaft, um sofort als Zahlungsmittel erkannt zu werden: Wie auf dem Papiergeld der Eu-

201 Ostrom, Elinor: Governing the Commons, S. 2. 202 Ostrom, Elinor: Governing the Commons, S. 25. 203 Vgl. N55 in: Teilmann, Stina: E-Mail-Korrespondenz. 204 Van Lieshout, Joep: New ways of exploiting people, Vortrag.

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ropäischen Union sind auf den AVL-Scheinen verschiedene Motive durch eine einheitliche graphische Gestaltung zusammengefasst. Sie sollen die Errungenschaften und Werte vertreten, denen sich das jeweilige Gemeinwesen verpflichtet sieht. Bei den europäischen Geldscheinen sollen Brücken und Fenster „the spirit of openness and co-operation in Europe“ symbolisieren und die ebenfalls im Design enthaltenen zwölf Sterne repräsentieren „the dynamism and harmony of contemporary Europe.“205 Im Gegensatz dazu treten bei Atelier Van Lieshout nun andere Motive in den Vordergrund. Den 1-AVL-Schein schmücken Abbildungen von Waffen und Bomben, der 5-AVL-Schein ist den Themen Alkohol und Energie gewidmet, und auf dem 25-AVL-Schein sind Vorrichtungen zu sehen, die AVL für die Befriedigung sexueller Bedürfnisse gebaut hat. Auf dem 100-AVLSchein schließlich sind Geräte abgebildet, die das Atelier im Bereich Nahrungsmittelproduktion entwickelt hat [Abbildung 11].206 Mit diesen Motiven zeigt das Atelier, dass mit der AVL-Währung in einem Staat bezahlt wird, der sich hinsichtlich seiner Ideale von der Ausgangsgesellschaft unterscheidet. Trotz dieser demonstrativen Abgrenzung waren es aber wohl weniger grundsätzliche Überlegungen zum wirtschaftlichen System der Ausgangsgesellschaft, die AVL zu dem Schritt veranlassten, eine eigene Währung zu entwickeln. Das Atelier thematisiert damit kein alternatives Wirtschaftssystem, die eigene Währung ist vielmehr eine Reaktion auf ein konkretes Problem. In einem Interview erklärt Joep van Lieshout dazu: „Having our own currency allows us to get around some laws, for example a liquor license.“207 Das ist ein weiteres Beispiel für den pragmatischen Problemlösungsansatz des Ateliers. Trotz des Kampfes um wirtschaftliche Unabhängigkeit im Inneren gibt es zahlreiche Hinweise auf eine von vornherein geplante Vernetzung des „Freistaates“ mit dem umgebenden Wirtschaftssystem. Ursprünglich sollte sich AVL-Ville auch durch die Gewinne eines selbst betriebenen Restaurants auf dem Gelände finanzieren. Gäste und Besucher von außerhalb sollten hier speisen.208 Für den reibungslosen Transport der Besucher von der Innenstadt zu dem am Hafen von Rotter-

205 Europäische Zentralbank (Hrsg.): The euro banknotes and coins. A new Currency for Europe, Frankfurt a. M. 2000. 206 Vgl. dazu auch Abbildung 6. 207 Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 108. 208 Vgl. die Darst. in: Atelier van Lieshout, Rotterdam 2007, S. 126.

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dam gelegenen AVL-Ville gab es sogar eine eigene public transport company, deren Flotte aus einem Pferdewagen und einem von einem Traktor gezogenen Anhänger bestand.209 Abbildung 11: Atelier Van Lieshout: AVL-Ville Money (One Hundred AVL), 2001

Viele der Objekte auf dem Gelände des „Freistaates“ wurden auch in Galerien gezeigt und waren damit Teil des Kunstmarktes der Ausgangsgesellschaft. Im Pressetext der Galerie Fons Welters heißt es, dass die in der Ausstellung zu sehenden Objekte wie eine Sägemaschine, Geräte zum Destillie-

209 Vgl. die Darst. in: Atelier van Lieshout, Rotterdam 2007, S. 127.

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ren und verschiedene Waffen, „will later become part of AVL-Ville [which] is planned as a self sufficient village […] in the near future.“210 Ähnliche Objekte waren Ende 2000 in der Galerie „The Agency“ in London zu sehen.211 In der Tilton/Anna Kustera Gallery in New York standen bis zum 19. Mai 2001 (also nach der offiziellen Eröffnung des „Freistaates“ am 28. April 2001) von AVL gefertigte Möbel und Toilettenhäuser zum Verkauf.212 Auftragsarbeiten für Käufer „von außen“ wurden auch in der Zeit von AVL-Ville ausgeführt, um die finanziellen Möglichkeiten zu haben, „to invest in other projects that we think are important but may not be profitable.“213 Kurz vor der Eröffnung von AVL-Ville verwendete das Atelier ungefähr die Hälfte der Zeit auf Kommissionen von Privatkunden oder Institutionen, und in der anderen Hälfte wurden „experimental sculptures“ geschaffen.214 Ganz anders geht dagegen N55 vor. Die Gruppe sucht zunächst nach der Ursache für die Verstrickung des Einzelnen in von ihr beobachteten Machtkonzentrationen. Grundlegendes Problem sei das überall in der Gesellschaft anerkannte Prinzip des Privatbesitzes. Was auch immer hergestellt werden soll – der gesetzlich geschützte Besitz an Land oder Wissen sei die unabdingbare Voraussetzung dazu. Nahrung könne nur auf einem eigenen Stück Land angebaut werden, die Kultivierung bestimmter Pflanzen sei den Firmen vorbehalten, die die diesbezüglichen Rechte erworben hätten und die Herstellung der meisten Medikamente sei über bestimmte Zeiträume hinweg verboten, weil dessen Formeln patentiert seien. Dass das Prinzip des Privatbesitzes sich hat durchsetzen können, hängt laut N55 mit zwei Ent-

210 Kopsa, Maxine: Pressetext zur Ausstellung Patty Chang und AVL, 15. Januar bis 26. Februar 2000, Galerie Fons Welters, Amsterdam. 211 „Atelier van Lieshout. Recent Works,“ The Agency London, 31. Oktober bis 16. Dezember 2000. 212 Ausstellung in der Tilton/Anna Kustera Gallery, New York 13. April bis 19. Mai 2001. Zu sehen waren unter anderem die Blue Compost Toilet, der Communal Dining Tablemit 16 Stühlen und das Multi-Women Bed sowie zwei M80 Mortars (vgl. die Darst. in: Robinson, Walter: Weekend Update). 213 Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 106. 214 Vgl. die Darst. in: Milgrom, Vanessa: Target: AVL, in: Metropolis, Mai 2000, S. 68.

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wicklungslinien zusammen: Zum einen sei es „the concept of growth [that] is dominating everything. We have let the economists and their terrifying Victorian misinterpretations of Darwin rule.“215 Zum anderen, so N55, unterstelle die in der heutigen Gesellschaft vorherrschende Ideologie jedem Menschen, dass seinem Handeln immer nur ein Profitstreben zugrunde liegen könne. Andere Motivationen würden so in den Hintergrund gedrängt, obwohl es sie nach Meinung von N55 sehr wohl gebe. 216 Die Gruppe vertritt hier eine These, die Peter Kropotkin, Vordenker des kommunistischen Anarchismus, schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts versucht hat, wissenschaftlich zu untermauern. In dem Buch „Gegenseitige Hilfe in der Thierund Menschenwelt“217 argumentiert er, dass entgegen sozialdarwinistischer Auffassungen das Prinzip der gegenseitigen Hilfe entscheidender Faktor der Evolution gewesen sei. Dieser Gedanke wurde von vielen Befürwortern der Gartenstadtbewegung aufgegriffen. 1911 heißt es in dem Bericht der Deutschen Gartenstadtgesellschaft: „In solchen Gartenstädten führt die gemeinsame Arbeit an großen wirtschaftlichen und kulturellen Zielen die Menschen zu besserem gegenseitigen Kennen und Verstehen, sie weckt das uns verloren gegangene Gefühl dafür, dass nicht der gegenseitige Kampf, sondern die gegenseitige Hilfe für die Höherentwicklung der Menschheit ausschlaggebend ist. Erst wenn dieses Gefühl in weiten Bevölkerungskreisen lebendig geworden ist, werden die zahllosen Kräfte, die sich heute noch im gegenseitigen Kampfe aufreiben müssen, für aufbauende Arbeit frei werden.“218 In den 1960er Jahren kritisierte man in Kreisen der außerparlamentarischen Opposition das „kapitalistische Prinzip von Konkurrenz, Ausbeutung und Vereinzelung“ und stellt es dem „sozialistischen Prinzip von Solidarität und kollektiver Lebensform“ entgegen. 219 In seinem „Aufruf

215 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 216 Vgl. die Darst. in: N55 in einer E-Mail-Korrespondenz mit Stina Teilmann. 217 Kropotkin, Peter: Gegenseitige Hilfe in der Thier- und Menschenwelt, Leipzig 1908 (Original: Mutual Aid: A factor of evolution, London 1902). 218 Kampffmeyer, Hans: Die deutsche Gartenstadtbewegung, S. 3. 219 Kommune 2: Versuch der Revolutionierung. In diesem Buch berichten die Mitglieder der Berliner Kommune 2 (u. a. Christel Bookhagen, Eike Hemmer, Jan Raspe, Eberhard Schultz und Marion Stergar) detailliert über ihre Erfahrungen während der kurzen Zeit ihres Zusammenlebens von August 1967 bis Juni 1968. Die Kommunarden kamen aus dem Umfeld des SDS (Sozialisti-

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zur Alternative“ von 1978 betont Joseph Beuys, dass eine alternative Gesellschaft möglich sei. Denn eines der „Grundbedürfnisse“ des Menschen sei nicht sein Egoismus – im Gegenteil: „Er will Solidarität schenken und Solidarität in Anspruch nehmen.“220 In der heutigen Gesellschaft aber würde – so Beuys – dieses Bedürfnis „durch Konkurrenz- und Erfolgsaggression verdeckt.“221 Für N55 ist die eigene Arbeit ein Beispiel dafür, dass Menschen Objekte herstellen und Projekte entwickeln, ohne dass Geld und Konkurrenzkampf dabei die vorherrschenden Motive wären. Wie Kropotkin sehen sie also in einer „umfassenden Bestätigung [des Prinzips der gegenseitigen Hilfe] auch in unserer Zeit […] die beste Bürgschaft für eine noch stolzere Entwicklung des Menschengeschlechts.“222 Die Gruppe N55 kritisiert in ihren Arbeiten besonders den Privatbesitz an Land. Sie ist davon überzeugt, dass jeder das gleiche Recht habe, „to stay on the surface of the earth,“223 und sehen im Landbesitz daher nur eine „habitual conception,“224 die bis heute durch das Wirken von Machtkonzentrationen und Gewalt aufrechterhalten würde. Auf zwei verschiedene Arten thematisiert die Künstlergruppe ihre Forderung nach dem Gemein-

scher Deutscher Studentenbund) und wollten zunächst „die Isolation, die jeder aus seiner Privatexistenz mitbringt“ (Kommune 2: Versuch der Revolutionierung, S. 44) kollektiv aufheben, bevor es zu politischen Aktionen kommen sollte. Doch, so schreibt Peter Brügge 1970 im Magazin Spiegel: „Aus dem unentwirrbaren Geflecht abgespulter Seelenfäden strebten sie später vergebens nach revolutionärer Produktivität“ (Brügge, Peter: Kein neues Jerusalem, S. 162). Die gewünschte Solidarität zwischen den Menschen war offensichtlich auch im Kommune-Alltag nicht so leicht durchzusetzen. Über das gemeinsame Abendessen berichtet Eberhard Schultz: „Plötzlich stand dann das Essen auf dem riesigen Tisch, und jeder ergatterte sich einen Platz; möglichst an einem Ende, weil die anderen einen dann bedienen mußten, und weg von den Kindern, weil man denen helfen mußte“ (Kommune 2: Versuch der Revolutionierung, S. 54). 220 Beuys, Joseph: Aufruf zur Alternative. 221 Beuys, Joseph: Manifest, S. 114. 222 Kropotkin: Gegenseitige Hilfe, S. 274. 223 N55 in: About ownership to land. 224 Ebd.

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Abbildung 12: N55: Public Things, Installationsansicht Fort Asperen, Niederlande, 2001

besitz an Land. Zum einen entwickelt sie Systeme, um öffentlichen Raum in Städten zu besetzen und besser nutzbar zu machen. Die Arbeit Public Things [Abbildung 12] zum Beispiel besteht aus einem modularen Rahmenwerk aus Stahl, das schon für das Spaceframe Verwendung gefunden hat [Abbildung 8] und in das verschiedene Zubehörteile eingehängt werden können. Ein Bettelement mit einer ausrollbaren, mit Kunststoff beschichteten Schaumstoffmatratze, ein Tank, der als Dusche benutzt werden kann, ein Küchen-Element mit einem Alkoholbrenner und beleuchtete Polyethylentanks – Public Things können immer wieder variiert und auf öffentlichen Plätzen und Straßen, in Parks und Gebäuden aufgestellt werden, um von den Bewohnern der Stadt benutzt und erweitert zu werden.

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Abbildung 13: Michael Rakowitz: paraSITE (Bill S’s paraSITE shelter, 1998)

Besonders seit Mitte der 1990er Jahre wird das Verhältnis von öffentlichem und privatem Raum in der Kunst kritisch hinterfragt. Als Beispiel soll hier kurz auf zwei Projekte des amerikanischen Künstlers Michael Rakowitz eingegangen werden. Unter dem Titel paraSITE entwickelt er seit 1998 in enger Zusammenarbeit mit Obdachlosen in Boston, Cambridge und New York Strukturen aus billigen Materialien wie Plastiktüten und Klebeband. Diese können im zusammengefalteten Zustand wie ein kleiner Koffer getragen werden. Schließt man sie aber an die Abluftschächte von größeren Gebäuden an, blasen sich die doppelwandigen Plastikstrukturen selbstständig auf und bieten einer Person Platz, um darin zu schlafen [Abbildung 13]. Die Projektreihe (P)LOT spielt mit den englischen Bezeichnungen fürGrundstück (plot) und Parkplatz ([parking-]lot). Seit 2004 entwickelt Rakowitz verschiedene Formen eines leicht zu transportierenden Rahmenwerkes, das herkömmliche Hüllen, die normalerweise Autos vor Umwelteinflüssen schützen sollen, Stand verleiht. Auf diese Weise entsteht ein Zelt, das aussieht wie ein verhülltes Auto und das auch auf den sonst von Autos benutzten Plätzen im öffentlichen Raum steht. Es kann „for different

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Abbildung 14: N55: Walking House, Installationsansicht Kopenhagen 2008

kinds of activities such as temporary gardens or outdoor dining“ genutzt werden oder dient (wie schon die paraSITES) „as living units.“225 Wie N55 versucht Rakowitz, den öffentlichen Raum auf eine ungewohnte Art nutzbar zu machen. Eine weitere Arbeit von N55, die sich mit Fragen des Zugangs zu Grund und Boden auseinandersetzt, ist Walking House von 2008

225 Rakowitz, Michael: „(P)LOT: Proposition I.“ Obwohl die Projekte zur alternativen Raumnutzung in Großstädten sehr wohl funktionieren, ist es nicht das eigentliche Ziel von Rakowitz (im Unterschied zu N55), praktikable Lösungen anzubieten. Seine aufblasbaren Zelte und die die Form von Autos nachahmenden Strukturen sollen keine Probleme lösen, sondern vor allem auf deren Existenz hinweisen: „Its point of depature is to present a symbolic strategy of survival for homeless existence within the city, amplifying the problematic relationship between those who have homes and those who do not have homes“ (Rakowitz, Michael: parasite, in: www.michaelrakowitz.com, August 2008). „It should make people uncomfortable. Or it should at least have them leaving with some questions.“ (Rakowitz, Michael in einem Interview mit Stephanie Schmith, in: Beyond Green, S. 124).

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[Abbildung 14]. Es ist eine Weiterentwicklung des Snail Shell Systems [Abbildung 2], denn auch mit dieser größeren Wohnkapsel soll „a peaceful nomadic life“226 verwirklicht werden. Das Modul ist ausgerüstet mit Solaranlage, Windrädern, Regenauffangstation und einem Ofen. Bei Bedarf kann ein Gewächshausmodul angeschlossen werden. Das Haus ist mit sechs Stahlbeinen ausgestattet, die sich manuell steuern lassen oder sich nach GPS (einem Satellitennavigationssystem) ausrichten. Der Bewohner kann mit seinem Wohnmodul also jederzeit den Ort wechseln und da die einzelnen Beine unabhängig voneinander funktionieren, kann auch unwegsameres Gelände bewältigt werden. Er ist also nicht auf einen dauerhaften Landbesitz angewiesen und „thereby challenges ownership of land and suggests that all land should be accessible for all persons.“227 Zum anderen schafft N55 aber auch zusätzlichen Raum, der noch nicht in das System des Landbesitzes eingebunden ist. Die Platforms sind solche Strategien zur Raumgewinnung. Für diese Konstruktionen nutzt N55 das modulare Raumfachwerk als Grundgerüst. Die Suspended Platform [Abbildung 15] besteht aus drei Basisteilen: dem Herz-Element, in das verschiedene Böden und Hygiene- oder Küchenelemente integriert werden können, den hängemattenähnlichen Schlafmodulen und dem Wasservorratsmodul, das Regenwasser sammelt, welches mit Hilfe von Solarenergie auch erhitzt werden kann. Die Suspended Platform wird in Bäume gehängt oder nutzt den Raum zwischen Gebäuden als Auflager und ist so in der Natur wie in der Stadt einsetzbar.228 Die Floating Platform schafft neuen Raum, nicht in der Luft, sondern bildet eine Art künstliche Insel auf dem Wasser. N55 nutzte das durch die Floating Platform neu geschaffene Land beispielsweise, um das zu Beginn des Kapitels vorgestellte Spaceframe aufzubauen [Abbildung 8]. Wegen der „strict zoning laws“ in Kopenhagen sei es unmöglich, experimentelle Gebäude229 in der Stadt zu errichten, wie Brett Bloom konstatiert. Die Gruppe nutzte eine Lücke in den Bauvorschriften für das Hafengebiet und konnte das Wohnmodul schließlich „auf dem Was-

226 N55: Manual for Walking House. 227 Ebd. 228 Vgl. die Darst. in: N55: Manual for Suspended Platform. 229 Vgl. Die Darst. In: Bloom, Brett: N55, S. 148.

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Abbildung 15: N55: Suspended Platform, Installationsansicht Zeewolde, Niederlande 2001

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ser“ errichten.230 Diese Plattform besteht ebenfalls aus einem Raumfachwerk aus Stahl, in das als Schwimmkörper zahlreiche Polyethylentanks eingelassen sind. Durch Konstruktion und Grundriss kann die „Plattform“ auch hohe Windstärken aushalten und beträchtliches Gewicht tragen. 231 Wie wichtig für N55 der allgemeine Zugang zu Land ist, zeigt auch der Komposter, den die Gruppe entwickelt hat. Die Soil Factory eignet sich durch die besondere Bauart für den Gebrauch im Innenraum und unterscheidet sich dadurch von den herkömmlichen Methoden zur Verarbeitung von organischem Abfallmaterial.232 Es ist aber vor allem der Name der Vorrichtung, der das Anliegen der Künstlergruppe zusätzlich verdeutlicht. Sie nennt das System nicht einfach „compost maker,“ sondern betont mit dem Namen Soil Factory das Ergebnis des Kompostiervorgangs. Der Name lässt sich also auch auf die anderen erwähnten Werke beziehen. Sie alle sind „Fabriken“ zur Herstellung von Erde, bzw. Schaffung von neuem Land, das nicht eingebunden ist in das System von privatem Landbesitz, sondern von allen Menschen genutzt werden kann. Die von N55 entworfenen Strukturen wie Public Things, Suspended Platform und Walking House erinnern formal an Projekte, die die Megastrukturalisten in den 1960er Jahren entwarfen: Sie dachten an eine unendlich erweiterbare modulare Trägerstruktur, in die kleinere Elemente einhängt werden sollten. Während das Rahmengitter als stabile „Hardware“ verstanden wurde, sollten die Bewohner einer so gestalteten Stadt über die Ausformung der sekundären „Software“-Einheiten kreativ mitbestimmen

230 Dieser findige Umgang mit Bauvorschriften ist auch typisch für die Herangehensweise von Atelier Van Lieshout. Das wegen fehlender Schanklizenz von den Behörden geschlossene Restaurant wurde zeitweilig auf einem Floß auf dem Wasser neu eröffnet, weil für Schiffe andere gesetzliche Regelungen galten. Erlauben die Bauvorschriften kein zusätzliches Gebäude auf einem Besitz, dann entwirft das Atelier ein Haus auf Rollen. Die Konstruktion ist dann offiziell ein Wohnwagen und muss den Bauvorschriften nicht genügen. 231 Vgl. die Darst. in N55: Manual for Floating Platform. 232 Vgl. die Beschreibung in: N55: Manual for Soil Factory.

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Abbildung 16: Ronald James Herron (Archigram): Cities Moving (Walking City), 1964

können und sie je nach Bedarf verändern.233 In der Verwendung eines erweiterbaren Raumfachwerks als Trägerstruktur mit flexiblen Elementen gleichen die Arbeiten von N55 den früheren Entwürfen. Die Raumstadt, die Eckhard Schulze-Fielitz 1959 entwarf, besteht beispielsweise aus einer rasterartigen „Universalstruktur, die verschiedene Figurationen, Füllungen und Räume zulässt.“234 In der immer wieder veränderbaren Struktur Public Things von N55 können ebenfalls je nach Bedarf verschiedene Elemente wie Polyethylentanks, Matratzen oder Küchenelemente eingehängt werden. Für die Planer der Megastrukturen waren Flexibilität und Mobilität grundlegende Forderungen, die im Rahmen der neuen Stadt realisiert werden sollten. N55s Entwurf des Walking House [Abbildung 14] von 2008 erinnert an die Visionen des Londoner Architektenkollektivs Archigram. Seit Mitte der 1960er Jahren entwarfen sie Walking Cities: riesige Vehikel, die eine ganze Stadt mit Tausenden von Bewohnern in sich aufnehmen und trotz ihrer Größe wie roboterhafte Insekten über die Eroberfläche wandern 233 Vgl. die Darst. in: Van der Ley, Sabrina; Richter, Markus: Megastructure Reloaded, S. 14-15. 234 Schulze-Fielitz, Eckhard in einem Gespräch mit Stephan Strauß, S. 42.

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sollten [Abbildung 16]. Korridore sollten die einzelnen Stadtkörper zeitweise miteinander verbinden. Atelier Van Lieshout greift mit einigen seiner Mobile Homes ebenfalls diese Ideen der 1960er Jahre auf. Das Mobile Home for Kröller-Müller [Abbildung 17] von 1995 nutzt das Zusammenspiel von einer selbstständigen Trägerstruktur mit einhängbaren variablen Elementen. Mit dem ihm eigenen Sinn für Machtstrukturen greift van Lieshout Überlegungen des amerikanischen Architekten Louis Kahn auf, der in seinen Entwürfen eine „Hierarchie der Räume“ entwickelte. Er unterschied zwischen untergeordneten „servant spaces“ und den Haupträumen („served spaces“).235 Van Lieshout nennt seine Basis Mastereinheit und entwickelt dazu verschiedene Slave-Units. In dem Handbuch heißt es dazu: „Die Master und Slave-Einheiten sind in Größe und Form nicht begrenzt, sie bieten architektonische Möglichkeiten, mit denen der Nutzer sein eigenes Haus kreieren, erweitern oder verändern kann,“236 je nach dem, welche Funktionen die Wohneinheit erfüllen soll. Bei dem eben genannten Beispiel wurden eine Badezimmer-Unit, ein Schlafelement und eine Büroeinheit angeschlossen.237 Zu ähnlichen Ergebnissen kam der japanische Architekt Kisho Kurokawa mit seinem Entwurf für ein Kapsel-Haus für die Expo 1970 in Osaka. Es bestand aus zusammensteckbaren Elementen, die in die größere Deckenkonstruktion eines Themenpavillons eingehängt werden konnten.

235 Gast, Klaus-Peter: Louis I. Kahn, S. 11. Erstmals hatte Kahn für das Wohnhaus Weiss House in der Nähe von Philadelphia (1947-1950) diese Einheiten unterschieden. Bekannter ist das Projekt Richards Medical Research Building, Philadelphia (1957-1964), vgl. die Darst. auf den Seiten 22/23 und 48-55. 236 Van Lieshout, Joep: Die Master und Slave-Einheit-I, in: Kölnischer Kunstverein: Atelier van Lieshout. Ein Handbuch, S. 140. 237 Das 1993 gegründete Architekturbüro LOT-EK (Ada Toller und Giuseppe Lignano) hat für die Mobile Dwelling Unit (MDU) einen Schiffscontainer so aufgeschnitten, dass verschiedene Module eingefügt werden können, die ebenfalls bestimmten Funktionen dienen (beispielsweise ein Küchen-Modul, ein Schreibtisch-Modul und ein Sofa-Modul). Wird der Container transportiert, können sie in das Innere der Einheit geschoben werden, so dass der Container seine standardisierten Maße nicht überschreitet.

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Abbildung 17: Atelier Van Lieshout: Mobile Home for Kröller-Müller, 1995

Die zeitgenössischen Gruppen greifen das Plug-in-Prinzip der Megastrukturalisten auf und Flexibilität und Mobilität sind auch bei ihnen entscheidende Kriterien der Entwürfe. Trotzdem aber unterscheidet sich ihre Herangehensweise grundlegend von den architektonischen Visionen der 1960er Jahre. Die zeitgenössischen Entwürfe planen in einem sehr viel kleineren Maßstab. N55 beschäftigt sich nicht mit stadtplanerischen Fragen, sondern geht immer vom Individuum oder einer kleinen Gruppe von Menschen aus. Ihre Wohnmodule sind nicht dafür konstruiert, in einer neu geschaffenen Universalstruktur ihren Platz zu finden, sondern sie sollen sich an bestehende Elemente wie Bäume und Häuser anhängen oder in Seen und Häfen schwimmen. Man kann sich durchaus vorstellen, dass einige Nutzer dieser Module sich wie Parasiten ungeplant in den Nischen der Gesellschaft einrichten könnten238. Zwar entwickelt die skandinavische Gruppe „a new de-

238 In dem „Manual for Snail Shell System“ heißt es beispielsweise: „The unit can be hooked up onto existing infrastructure like telecommunication lines and

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sign that uses some of the technological advantages of modern society,“239 aber daraus spricht weniger eine fortschrittsgläubige Begeisterung für Technik als vielmehr eine Einsicht in Notwendigkeiten. Die Forderung nach Flexibilität gibt es bei N55 ebenfalls, aber die Werke, die eine nomadische Lebensweise thematisieren, verweisen immer auch auf die Tatsache, dass nicht alle Menschen Zugang zu Grund und Boden haben. Die Flexibilität in den Entwürfen von N55 ist also eine kritische Auseinandersetzung mit sozio-ökonomischen Fragen. Ein unendliches Wachstum der städtischen Struktur, von dem viele der megastrukturalistischen Architekten träumten, wäre für N55 wohl eher ein Alptraum als eine tragfähige Zukunftsvision. Die Projekte Land und Rooms stellen eine andere Möglichkeit dar, mit der Raum dem Prinzip des Privatbesitzes entzogen werden kann. N55 stellt dabei über das Internet ein System zur Verfügung, das es Menschen ermöglicht, anderen ein Stück Land oder einen Raum in einem Gebäude zugänglich zu machen. Der Besitzer nennt die geographische Position des Ortes, den er nicht mehr allein besitzen will, und die Künstlergruppe veröffentlicht diese Informationen dann über ihre Homepage im Internet. In der Rosenallee 9 in Hamburg konnte 2004 beispielsweise ein Raum als „communication platform“ genutzt werden. Das kleine Zimmer enthielt Telefon, Internet, Wörterbücher und ein Radio. 2002 wurde ein Raum von der Kunsthalle St. Gallen für „any purpose related to the local community“ zur Verfügung gestellt.240 Zwar bleibt das Land oder der Raum rechtlich Eigentum des Besitzers, und er kann auch die Funktion eines Raumes bestimmen, aber abgesehen davon muss jeder Teilnehmer jedem Menschen garantieren, dass er sein Stück Land oder seinen Raum gebrauchen darf. 241 Ziel ist es, dass viele Menschen sich an Land und Rooms beteiligen und so ein über die Welt verteiltes, dichtes Netzwerk von Orten für den allgemeinen Gebrauch entsteht. Letztlich geht es darum, dass „ownership will be used to claim that ownership is invalid.“242

electricity cables (for example, by connecting it to street lamps)“ (N55: Manual for Snail Shell System). 239 N55: Manual for Walkinghouse. 240 N55: Manual for Rooms und N55: Manual for Land. 241 Vgl. die Beschreibung in: ebd. 242 N55 in: Larsen, Lars Bang: N55 exchanging.

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Neben dem von N55 postulierten Gemeinbesitz an Land ist der Künstlergruppe auch ein frei verfügbares Wissen wichtig, um die von ihr beobachteten Machtkonzentrationen aufzulösen. „Copyright to knowledge is a cultural disease, which has a lot do with the economic force we are subjected to,“243 ist N55 überzeugt. Im Gegensatz dazu gibt es für jedes einzelne Werk von N55 ein „Manual,“ eine Art Gebrauchsanleitung, in dem die technischen Daten und Materialien genau aufgeführt sind und andere grundlegende Informationen gegeben werden. Diese „Manuals“ können über das Internet abgerufen werden,244 sind aber auch als Heftchen ein Bestandteil aller Arbeiten von N55, die in einem Museum oder im öffentlichen Raum ausgestellt sind. Sie liegen in einem als „Info-Modul“ bezeichneten Behälter und dienen nicht nur zur allgemeinen Information, sondern sollen den Betrachter auch zum Handeln anregen, denn wie N55 betont: „We have issued the manuals as a way to make it possible for other persons to make similar systems.“245 Diese Form der Beteiligung ist das eigentliche Ziel der Gruppe. Daher weigert sie sich auch, einzelne Objekte an private Kunden zu verkaufen, da sie damit an dem von ihr kritisierten Wirtschaftssystem teilnehmen würde. Zwar gibt es Kunstinstitutionen, die Objekte von N55 besitzen, doch die Gruppe legt darüber genau Rechenschaft ab: Sie betont, dass sie diese Ausnahme machen, um ihre Arbeiten mehr Menschen zeigen zu können. Das Geld, das sie dabei von den Institutionen erhalten, deckt nur die Materialkosten und die für das Objekt nötige Arbeitszeit ab. Auch neue Konstruktionen, für die ein Copyright hätte beantragt werden können, hat N55 auf diese Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, 246 und so können sie von jedem Menschen nachgebaut werden. N55 ist der Überzeugung, dass „no persons have more right to use […] knowledge about facts than other persons“247 und lehnen daher die Vergabe von Patenten ab.

243 N55 in: E-Mail-Korrespondenz mit Stina Teilmann. 244 www.n55.dk. 245 N55 in: Martin, Craig: Interview. 246 Z. B. für einen Stuhl (Dynamic Chair), vgl. die Beschreibung in N55: Manual for Dynamic Chair. 247 N55: About ownership to knowledge.

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Während das Prinzip des Landbesitzes für Atelier Van Lieshout kein so zentrales Thema ist wie für N55, gehen sie bezüglich der Verfügbarkeit von Wissen manchmal ähnliche Wege wie die skandinavische Gruppe. Ein anlässlich einer Ausstellung von AVL im Kölnischen Kunstverein und dem Museum Boijmans Van Beuningen 1997 herausgegebener Katalog trägt den Untertitel „Ein Handbuch,“248 und tatsächlich sind dem dokumentarischen Teil des Kataloges mehrere praktische Anleitungen angegliedert. Hier kann der Leser unter anderem die Grundlagen des Holzskelettbaus erfahren und wird auch in die Polyurethan-Sandwich-Konstruktion oder in das Arbeiten mit glasfaserverstärktem Polyester eingewiesen.249 Auf diese Weise könnte der Betrachter die in der Ausstellung vorgestellten Möbel und Mobile Homes gemäß des auch für das Atelier geltenden Mottos „Do it yourself“ zu Hause nachbauen oder weiterentwickeln. Trotz dieser Anleitungen nimmt das Atelier – anders als N55 – aber auch Aufträge von Institutionen oder privaten Kunden entgegen. Daher sind „die Produkte von Atelier Van Lieshout […] urheberrechtlich geschützt, Verstöße gegen das Urheberrecht des Niederländischen Gesetzbuches strafbar. Für den eingeschränkten privaten Gebrauch dürfen diese Anweisungen verwendet werden, um selbst Produkte im Stile von Atelier Van Lieshout herzustellen. Die kommerzielle, professionelle oder industrielle Produktion ist jedoch strengstens verboten,“250 wie der Katalog fettgedruckt informiert. Ein solcher Hinweis fehlt bei den „Manuals“ von N55. Neben dem Gemeinbesitz an Land und einem für alle zugänglichem Wissen hat N55 auch Projekte für gemeinsam genutzte Produktionsmittel entwickelt. Factory „is a system that can be used for sharing means of production with other persons“251 und funktioniert im Grundsatz ebenso wie Land oder Rooms. Interessanterweise nimmt N55 dieses Projekt nicht einfach in das schon bestehende System Rooms auf, sondern macht es mit einem eigenen Manual zu einem gesonderten Projekt. Das zeigt, dass das Thema Produktionsmittel für N55 besonders wichtig ist. Obwohl N55 den Kommunismus wie jede andere geschlossene Theorie als Ideologie ableh-

248 Kölnischer Kunstverein Köln: Atelier van Lieshout. Ein Handbuch. 249 Kölnischer Kunstverein Köln: Atelier van Lieshout. Ein Handbuch, S. 239250. 250 Kölnischer Kunstverein Köln: Atelier van Lieshout. Ein Handbuch, S. 242. 251 N55: Manual for Factory.

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nen, bemühen sich die Projekte Public Things, Rooms, Land, Shop oder Factory darum, Grundbesitz und Produktionsmittel zu vergesellschaften. Das ist nach dem Marxismus die grundlegende Bedingung für einen sozialistischen Staat.252 Bei N55 aber sollen die sich in Privatbesitz befindlichen Produktionsmittel ohne Enteignung oder bürokratische Verstaatlichung in eine Art gesellschaftliches Eigentum übergehen. Veränderungen sollen nicht durch das Eingreifen des Staates oder anderer Machtkonzentrationen im Namen einer großen Bevölkerungsgruppe bestimmt werden, sondern die Initiative soll von einzelnen Menschen ausgehen. Die Bewohner selbst sollen diesen Vergesellschaftungsprozess in ihrer lokalen Umgebung in Gang setzen.253 Auch für viele Bewegungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts und in den 1960er Jahren war die „socialisation des biens viteaux,“254 wie es in dem 1960 in der „Situationstischen Inernationalen Revue“ veröffentlichten Manifest heißt, ein wichtiges Ziel. Die Kommune 2 forderte für eine bessere Gesellschaft „die Aufhebung des monokapitalistischen Eigentums an Produktionsmitteln überhaupt.“255 Eine weitere negative Entwicklung innerhalb der großen Staaten ist nach Meinung von N55 eine zunehmende Spezialisierung. Große Firmen stellen mehr und mehr hoch spezialisierte Mitarbeiter ein und reduzieren, so N55, den Menschen immer mehr darauf, nur eine Aufgabe zu erledigen, ohne das Gesamtergebnis im Auge haben zu können. 256 Schon Thoreau hatte 1854 die Folgen einer vermehrten Arbeitsteilung kritisiert: „Es ist nicht nur der Schneider, den der Mensch braucht, es ist auch der Pfarrer, der Kaufmann, der Bauer. Wo nimmt diese Arbeitsteilung ein Ende? Und worauf läuft sie schließlich hinaus? Kein Zweifel, auch ein anderer kann für

252 Die klassenlose Gesellschaft ist eine Gesellschaft „von Individuen, die vereint sind auf der Grundlage der gemeinsamen Aneignung und Kontrolle der Produktionsmittel.“ Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 77. 253 „In order to change things decisively, persons must understand things themselves, not trough the force of ideologies“ (N55 in: Bloom, Brett: E-MailGespräch). 254 Manifeste, in: Internationale situationniste, Numéro 4, 1960, S. 36. 255 Kommune 2: Versuch der Revolutionierung, S. 10 (zu Kommune 2 vgl. auch die Darst. in Fußnote 219). 256 Vgl. die Darst. in: N55: E-Mail-Korrespondenz mit Stina Teilmann.

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mich denken. Darum aber ist es noch lange nicht wünschenswert, dass dies bis zur Aufgabe meiner eigenen Denkfähigkeit geschehe.“257 Diesen Druck zur Spezialisierung sieht N55 auch bei Menschen, die gegen die Ausgangsgesellschaft kämpfen wollen. Es sei nicht verwunderlich, dass „many political activists concentrate on single cases like welfare of prisoners or recycling – because the superior force is so massive.“258 Die Künstlergruppe versucht dagegen, auf einer grundsätzlichen Ebene zu arbeiten. Sie tauscht sich mit vielen Spezialisten aus und versucht auf diese Weise, Wissen aus verschiedenen Fachbereichen zu bündeln und jedem Menschen zugänglich zu machen. Die Konstruktion des Raumfachwerks, die für das N55 Spaceframe und viele andere Objekte verwendet wurde, erarbeitete N55 beispielsweise zusammen mit dem Architekten Erling Sørvin,259 und bei anderen Projekten halfen Frank Petersen260 und Peter Brix261 bei den technischen Einzelheiten. Andreas Remmer sorgte für die musikalischen Versionen bei verschiedenen Projekten.262 AVL entwickelt kein alternatives Modell wirtschaftlichen Handelns, sondern vernetzt den „Freistaat“ auch auf dieser Ebene mit der Umgebung. Kollidiert aber der Gestaltungswille der AVL-Ville-Bewohner mit Vorschriften der Ausgangsgesellschaft, bemüht sich das Atelier in diesen Bereichen um Selbstständigkeit. N55 ist Unabhängigkeit von Machtkonzentrationen besonders auf wirtschaftlichem Gebiet ein zentrales Anliegen. Mit Gemeinbesitz an Land und Produktionsmitteln greift die Gruppe ein Thema auf, dass sich wie ein roter Faden durch den Utopiediskurs zieht. Schon in der antiken Vorstellung des Goldenen Zeitalters hat der „Topos der ‚freigebigen Natur‘ […] sein Korrelat im Fehlen des Privateigentums,“263 und dieses Thema wird von der darauf aufbauenden Schäferdichtung bis in das 18. Jahrhundert hinein übernommen. François Hemsterhuis beschreibt 1782 das Leben im Goldenen Zeitalter mit den Worten „Da jeder Mensch sich für

257 Thoreau, Henry David: Walden, S. 53. 258 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 259 Vgl. die Darst. in: www.n55.dk/Mhus.html, Mai 2002. 260 Vgl. die Darst. in: www.n55.dk/clai.html, Mai 2002. 261 Vgl. die Darst. in: www.n55.dk/ymanual.html, Mai 2002. 262 Vgl. die Darst. in: ebd. 263 Saage, Richard: Utopieforschung. Eine Bilanz, S. 45.

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den Glücklichsten auf Erden hielt; so war aller Ehrgeiz, und alle Eigenthums- oder Eroberungssucht unmöglich.“264 Auch in den frühneuzeitlichen Institutionenutopien findet sich das Prinzip des Privateigentums nur selten. Sowohl in Morus’ „Utopia“ als auch im „Sonnenstaat“ oder in „Christianopolis“ ist „alles […] Gemeinbesitz,“ denn aus dem Eigentumsbegriff der Ausgangsgesellschaft „entsteht die Selbstsucht,“265 wie es Campanella ausdrückt. Die sozialistische Bewegung im 19. Jahrhundert versuchte ebenfalls, eine Gesellschaft ohne privaten Besitz zu verwirklichen. Robert Owen entwickelt in seinem „Report to the County of Lanark“ autonome Siedlungen, die nach dem Prinzip des „common property“ funktionieren sollten.266 Ebenso ging William Morris davon aus, dass „Harmonie der gesellschaftlichen Verhältnisse nur dann zu ermöglichen ist, wenn die Verfügung über Privateigentum entfällt.“267 Im Umkreis der Gartenstadtbewegung wurde um 1900 ähnlich argumentiert: Privatbesitz an Grund und Boden wird als „gesellschaftliches Unrecht“ gesehen, denn es sollte keiner besitzen, „was alle zum Leben und mindestens zu Wohnen haben müssen.“268 Karl Gräser, einer der Gründer der Siedlungen auf dem Monte Verità, verschenkte sein Erbe269 und versuchte dann, seine Existenz auf dem Berg im bargeldlosen Tauschhandel zu sichern.270 Eine bessere Gesellschaft durch eine neue Ökonomie versprachen sich auch die Kommunen, die im Umfeld der außerparlamentarischen Opposition Ende der 1960er Jahre gegründet wurden. „Grundlage des Experiments war die Abschaffung des Privateigentums in unserer Gruppe,“271 erklärt Ulrich Enzensberger zur allgemeinen Auffas-

264 Hemsterhuis, François: Alexis oder von dem Goldenen Zeitalter, S. 62. 265 Campanella, Tommaso: Sonnenstaat, S. 123. 266 Vgl. die Darst. in: Bambach: Robert Owen, S. 388. 267 Saage, Richard: Politische Utopien, S. 173. 268 Simons, Gustav: Die Deutsche Gartenstadt, Anm. 13, S. 62. 269 Er behielt von dem Erbe nur so viel zurück, um sich auf dem Monte Verità ein Grundstück kaufen zu können (vgl. die Darstellung in Frecot, Janos: Landkrone über Europa, S. 56). 270 Vgl. die Darst. in: Frecot, Janos: Landkrone über Europa, S. 59. 271 Enzensberger, Ulrich: Die Jahre der Kommune I, S. 97. Enzensberger schreibt zur Aufhebung des Privateigentums etwas später: „Die Aufhebung des Privateigentums fiel uns – freilich auch mangels Masse – gar nicht schwer“ (Enzensberger, Ulrich: Die Jahre der Kommune I, S. 109).

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sung der Berliner Kommune I. Die etwas später gegründete Kommune 2 war für die „Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden“272 und in der Mühl-Kommune wird 1973 das Gemeineigentum eingeführt.273 Außerdem stellt N55 der Idee des Wirtschaftswachstums als Ziel staatlichen Handelns eine Ethik des Konsumverzichts entgegen. Alle Objekte für den alltäglichen Gebrauch erfüllen die grundlegenden Bedürfnisse auf eine eher unluxuriöse Weise. Hier knüpft die Gruppe an die klassischen Utopien an, in denen Ausschweifungen und Luxus ebenfalls keinen Raum im gesellschaftlichen Leben eingeräumt werden. 2.2.2.3 Lebensweise Beide Künstlergruppen verwirklichen in ihren Gegenwelten Lebensgemeinschaften, die sich von den als starr empfundenen Modellen der Ausgangsgesellschaft unterscheiden: „Our most frequent living formations; the single person (young/old); the couple; and the family all have their architecture. There is a lot of implicit ideological control in our society regarding this,“274 beobachtet N55. Besonders deutlich wird das Bemühen, sich auch im privaten Bereich des Zusammenlebens vom dominierenden Einfluss der Gesellschaft zu befreien, in den Entwürfen für Betten. N55 hat dreieckige Bed Modules aus mit Polyethylenschaum beschichteten Aluminiumplatten entworfen die je nach Bedarf zusammengelegt werden können und am Tag als Stapel wenig Platz einnehmen. Das Bett wurde für eine beliebige Anzahl von Personen entworfen, so dass auf soziale Konstellationen keine

272 Kommune 2: Versuch der Revolutionierung, S. 10. 273 Fleck, Robert: Mühl-Kommune, S. 68. In der Mühl-Kommune zeigten sich aber auch die Probleme eines sich auf alle Bereiche beziehenden Gemeineigentums: Es gab nun „Kisten für Männer- und Frauenunterhosen, für Socken und Oberwäsche, wobei sich jeder frei bediente. Allerdings hatte man Mühe, eine Unterhose in passender Größe und zwei gleiche Socken zu finden“ (Fleck, Robert: Mühl-Kommune, S. 69). Nachdem man 1977 sogar versucht hatte, das Gemeineigentum auf alle mit der Mühl-Kommune vernetzten Kommunen auszudehnen, wurde es schon ein Jahr später wieder abgeschafft. Die kommuneeigenen Betriebe warfen mit diesem System nicht genügend Gewinne ab (Fleck, Robert: Mühl-Kommune, S. 137). 274 N55 in: Martin, Craig: Interview.

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Rücksicht genommen werden muss.275 Auch Atelier Van Lieshout löst sich mit seinem Modular Multi-Women Bed von 1998 von den traditionellen Modellen des Zusammenlebens. Formal erinnert das aus schmucklosem Holz gebaute Bett zwar an herkömmliche Modelle, aber es bietet eben mehreren Menschen Platz. „A bed with only two sleeping spots decides for you and respects the law of monogamy, which is dictated by the state. With room up to 16, our bed respects the law of desire,“276 führt Joep van Lieshout aus und verweist damit wie N55 auf den Einfluss, den der Staat seiner Ansicht nach in der Ausgangsgesellschaft bis in die private Sphäre hinein ausübt. Schon in der Kommune, die Otto Mühl Anfang der 1970er Jahre in Wien gegründet hat, dachte man über andere Formen des Zusammenlebens nach und Ende 1972 wurde ein Hochbett für 40 Personen Abbildung 18: Atelier Van Lieshout: Bedroom, 1999

275 Vgl. die Darst. in: N55: Manual for Bed Modules. 276 Van Lieshout in: Allen, Jennifer, S. 108.

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eingeweiht.277 Die Zeichnung Bedroom [Abbildung 18] ist ein Beispiel dafür, wie sich AVL ein Leben ohne staatliche Bevormundung vorstellt und führt auch ein anderes zentrales Thema bei der Umgestaltung der traditionellen Gemeinschaftsmodelle ein. Die zeitgenössischen Entwürfe reagieren nicht nur flexibel auf verschiedene Personenkonstellationen, sondern sie betonen auch die Idee eines gemeinschaftlichen Lebens. Das vielfältig nutzbare Gemeinschaftsbett fungiert hier als Rahmen für Menschen, die trotz ihrer unterschiedlichen Beschäftigungen eine Einheit bilden. Auf einer Zeichnung aus der Serie Designs for the Free State of AVL-Ville wird das Ideal eines gemeinschaftlichen Lebens ebenfalls deutlich: Die Bewohner schlafen zusammen in dem Dormitorium, verbringen ihre Freizeit zusammen im Gemeenschapsruimte, sie kochen gemeinsam in der grote Keuken und arbeiten in der Atelier-Halle. In dem schließlich verwirklichten AVLVille wird viel Wert auf gemeinsame Mahlzeiten gelegt, zumindest wird ein Foto der AVL-Mitgleider beim „communal lunch“ mehrfach veröffentlicht278 [Abbildung 19]. Die Gruppe N55 realisiert zwar keine bäuerliche Großküche, aber ein Küchenelement, an dem bis zu sieben Personen gleichzeitig kochen können. Das „Manual for Public Things“ betont ebenfalls den gemeinschaftlichen Aspekt: „This kitchen provides persons with the possibility of getting together in the ways they want and make use of the advantages of cooking and eating together.“279 Dies lässt sich als erneute Einlösung des weiter oben beschriebenen Solidaritätsprinzips sehen. Auch Henry David Thoreau hat in seiner Vorstellung eines idealen „Hauses, gebaut in einem gesegneten Zeitalter, von vielen Menschen bewohnt,“280 immer wieder den gemeinschaftlichen Aspekt betont. Dieses Haus sollte keine einzelnen hierarchisch gegliederten Räume haben, sondern alle Tätigkeiten sollten von den Bewohnern im Inneren „übersichtlich und offen“281 verrichtet werden können. So müsste dann zum Beispiel „das Kochen [nicht mehr] so versteckt betrieben“ werden, und jeder Besucher

277 Vgl. die Darst. in: Fleck, Robert: Mühl-Kommune, S. 42. 278 Beispielsweise in: Milgrom, Melissa: Target: AVL, S. 117 und in: Atelier van Lieshout, Rotterdam 2007, S. 122. 279 N55: Manual for Kitchen. 280 Thoreau, Henry David: Walden, S. 263. 281 Thoreau, Henry David: Walden, S. 264.

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würde sofort jedem Bewohner begegnen und nicht „in eine besondere Zelle gesperrt,“282 also in ein Gästezimmer geführt. Abbildung 19: Atelier Van Lieshout: „communal lunch“ auf dem Gelände von AVL-Ville, 2001

282 Ebd.

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Waren sich N55 und AVL einig in dem Bemühen, flexible Modelle des Zusammenlebens zu erarbeiten, so unterscheiden sie sich in ihrer Einschätzung der Bedürfnisse des Menschen. In fast allen Arbeiten von AVL spielt der Körper und die mit ihm verbundenen Notwendigkeiten, aber auch Begierden und Wünsche eine wichtige Rolle. „The outhouses and beds are directly related to life – eating, sleeping, shitting,“283 sagt Joep van Lieshout und diese Tätigkeiten wirken bei ihm wie eine Definition des menschlichen Lebens. Im Zusammenhang mit der von AVL entwickelten Komposttoilette erklärt er außerdem, dass es bei der Entwicklung ein zentraler Punkt gewesen sei, dass „everything that has to do with excrement will be very visual.“284 Dieses Interesse an der Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse zeigt sich auch bei den zahlreichen Werken, die sich mit mit dem Thema Sexualität auseinandersetzen. Das Bais-ô-Drôme aus dem Jahr 1995 ist ein Wohnwagen, der Vorrichtungen für die „different stages of lovemaking“ 285 bietet, und im Inneren ein Sofa mit weichen Kissen und leicht erreichbarem Alkoholvorrat, einen mit Schaffell bespannten Tisch und natürlich auch ein Bett beherbergt. Vor allem die männliche Sichtweise auf Sexualität wird in zahlreichen phallischen Skulpturen, wie zum Beispiel in dem aus Polyester hergestellten überdimensionierten Biopimmel, thematisiert. Auf einem Foto demonstriert Joep van Lieshout, wie man sich diese große, aber dennoch sehr leichte Skulptur „wie eine Verlängerung der Männlichkeit vorhalten“286 kann. Bart Lootsma denkt bei dem großformatigen, glatten und daher doch eher unsinnlichen Phallus an ein Werkzeug und verweist in diesem Zusammenhang auf Joep van Lieshouts Interesse am Motorsport: Die enge Verbindung, die ein Fahrer mit seinem Fahrzeug eingehen muss, um an die Grenzen der Geschwindigkeit zu gelangen, „paßt zur Erforschung der Grenzen der libidinösen Erweiterung des Körpers.“287 Die Betonung des

283 Van Lieshout, Joep in: Milgrom: Target: AVL, S. 69. 284 Ebd. 285 Van Ulzen, Patricia: Atelier van Lieshout, S. 52. Van Ulzen weist außerdem auch auf die Ähnlichkeit der äußeren Erscheinung des La Bais-ô-Drôme mit einem Phallus hin und vergleicht dies mit dem Grundriss des Freudenhauses, den Claude-Nicolas Ledoux in seinem idealen Stadtentwurf (Ville de Chaux) vorgeschlagen hat (ebd). 286 Lootsma, Bart: Triebe 2: Eros, S. 204. 287 Lootsma, Bart: Triebe 1: Thanatos, S. 148.

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Körperlichen und die Beschäftigung mit den verschiedenen Formen der Sexualität zeigen, dass „hinter der diskreten Aufgeklärtheit und der Rationalität der Modernität implizit ein düsteres Reich verborgen liegt, das die eigentlichen Triebfedern unserer Existenz enthält.“288 N55 entwirft ebenfalls Vorrichtungen für Tätigkeiten, die van Lieshout mit „eating, sleeping, shitting“ beschreibt: Sie stellen neben verschiedenen Systemen zur Gemüseaufzucht289 ein Küchenmodul her, entwickeln im Rahmen des Hygiene-Systems eine Toilette, und ihre Bed Modules eignen sich zum Schlafen. Aber abgesehen von diesen alltäglichen Bedürfnissen des menschlichen Körpers setzt sich N55 wenig mit anderen den Menschen bestimmenden Triebfedern auseinander. In dem 400 Seiten umfassenden „N55 Book,“290 das neben Projektbeschreibungen auch theoretische Texte und Diskussionen enthält, spielen Themen wie Sexualität, Lust, Verlangen oder Luxus keine Rolle. Allerdings lässt sich in diesem Zusammenhang eine Entwicklung feststellen: In den Jahren kurz nach Gründung der Gruppe wirkt die in den Manuals genutzte Sprache und die thematische Auseinandersetzung betont rational und nüchtern. Seit Anfang des neuen Jahrtausends entwickelt sich ein neuer Stil. Die Gruppe verlässt sich nun nicht mehr ausschließlich auf beschreibenden Text und technische Detailzeichnungen. Vermehrt vermitteln Situations-Fotos und lockere Freihandzeichnungen, in welch unterschiedlichen Kontexten die Arbeiten von N55 genutzt werden können. Ein gutes Beispiel ist das 2003 von N55 entwickelte Barmobile.291 Diese Vorrichtung kann mit einem Auto oder einem Fahrradanhänger transportiert werden, um an jedem beliebigen Ort kurzfristig eine Art Bar eröffnen zu können. Ein solches Vehikel würde sicher auch von den Bewohnern von AVL-Ville gerne genutzt werden, doch im Gegensatz zu AVL bleibt bei N55 die theoretische Auseinandersetzung mit Entwicklungen der Gesellschaft die Grundalge des künstlerischen Handelns. Die Betonung des Gemeinschaftsgedankens, den man sowohl bei Atelier Van Lieshout als auch bei N55 erkennen kann, ist fest in der utopischen Tradition verwurzelt. Die Mitglieder der Gemeinwesen, wie sie in den So-

288 Lootsma, Bart: Bataille, S. 17. 289 Zum Beispiel Hydroponic Unit oder Small Fish Farm. 290 N55 (Hrsg.): N55 Book. 291 Vgl. N55: Manual for Barmobile.

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zialutopien des 16. Jahrhunderts geschildert werden, kochen in Gemeinschaftsküchen, speisen in großen Sälen, und auch die Arbeit führen sie in der Gemeinschaft aus.292 Als die 1809 in Wien von sechs jungen Akademiestudenten gegründete Lukasbruderschaft 1810 in das aufgelassene Kloster San Isidoro in der Nähe Roms zog, spielte der Gemeinschaftsgedanke ebenfalls eine wichtige Rolle. Thomas Wimmer bezeichnet die Nazarener als „die erste quasi prototypische Künstlergemeinschaft, die den Hauptakzent ihrer Aktivitäten auf die Gruppenproduktion legten.“293 Ihr Zusammenleben als Künstler verstanden sie zumindest in den ersten italienischen Jahren als Wiederbelebung des monastischen Gemeinschaftsideals. 294 Trotz einer hierarchischen Ordnung betonte bereits Benedikt von Nursia in seiner Klosterregel die Gleichheit295 der Brüder, die einander in Liebe zugetan sein sollen.296 Die Mönche schlafen, beten, speisen und arbeiten im Rah-

292 In Morus’ Utopia heißt es dazu beispielsweise: „Denn wenn es auch keinem verboten ist, zu Hause zu speisen, so tut es doch niemand gern, da es nicht für anständig gilt und zudem töricht wäre, sich die Mühe der Zubereitung eines schlechten Essens zu machen, während ein gutes und reichliches in der so nahen Halle bereitsteht“ (Morus: Utopia, S. 61). Die gemeinschaftliche Arbeit in den Institutionenutopien kann aber auch überwachende Funktion haben. So stellt der Erzähler an anderer Stelle fest: „Ihr seht schon: es gibt dort keinerlei Möglichkeit zum Müßiggang und keinerlei Vorwand, sich vor der Arbeit zu drücken [...]. Vor aller Augen vielmehr muß man seine gewohnte Arbeit verrichten oder seine Freizeit anständig verbringen“ (Morus, Thomas: Utopia, S. 63). 293 Wimmer, Thomas: I Nazareni – die klösterliche Utopie, S. 79. 294 Pforr, Franz in einem Brief an Johann David Passavant vom 15. Dezember 1810: „Ich möchte den, der sich der Kunst weihen will, fragen, wie man einen, der Mönch werden will fragt: kannst Du das Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ablegen und halten, so tritt ein“ (Lehr, Fritz Herbert: Die Blütezeit romantischer Bildkunst, S. 275). 295 Benedicti regula: Kap. 2, 20: „Denn ob Sklave oder Freier, in Christus sind wir alle ein, und unter dem einen Herrn tragen wir die Last des gleichen Dienstes. Denn bei Gott gibt es kein Ansehen der Person.“ 296 Benedicti regula: Kap. 72, 8: „Die Bruderliebe sollen sie einander selbstlos erweisen.“

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men einer „kompromisslosen vita communis“297 gemeinsam. Zwar schliefen die Nazarener getrennt in den einzelnen Mönchszellen, aber man speiste gemeinsam im Refektorium. Hier traf man sich auch jeden Samstagabend, um gemeinsam zu zeichnen oder zu diskutieren.298 In dem Versuch, der Ausbildung künstlerischer Einzelpersönlichkeiten die Idee der Gruppenzugehörigkeit entgegenzusetzen, hatten die sechs jungen Kunststudenten auch ein gemeinsames Zeichen verabredet, das zusätzlich zur individuellen Signatur die Werke der Gruppenmitglieder auszeichnen sollte. 299 Auch wenn man von einer Gruppenarbeit im engeren Sinn hier nicht sprechen kann, haben die Nazarener ihr Gemeinschaftsideal in ihren Werken thematisiert. Klaus Lankheit hat die „Freundschaftsbilder“ der Gruppe untersucht und beschreibt Werke, die das „Bild der Gemeinschaft schlechthin“300 entwerfen. Vor allem für den privaten Gebrauch entstehen nun auch Werke, an denen mehrere Künstler beteiligt sind. Hier lässt sich der Versuch erkennen, die eigene Handschrift dem befreundeten Künstler anzugleichen. Bei einem Doppelbildnis von 1812 haben sich Johann Friedrich Overbeck und Peter Cornelius „zum Zeichen ihrer geist-künstlerischen Bruderschaft“301 jeweils gegenseitig gezeichnet und sich dabei um eine einheitliche Wirkung bemüht. Schon die „gestaffelte Reihung“ erzeugt die „Wirkung innerer Einheit,“302 aber auch zeichnerisch muss es im Verlauf der Arbeit Absprachen gegeben haben. Zwar hat jeder Künstler seinen eigenen Bereich bearbeitet, aber da der zweite Künstler auf den Beitrag des ersten reagieren musste, kommen die Nazarener einer partiellen gemeinschaftlichen Produktion hier zumindest nahe. Dass die Künstler der Lukasbruderschaft besonders anfangs eine gemeinsame Handschrift entwickelten, zeigt auch die Tatsache, dass die Zuordnung einiger Werke heute strittig

297 De Vogüé, Adalbert: Mönch, Mönchtum, Sp. 743. 298 Vgl. die Darst. in: Schindler, Herbert: Nazarener, S. 212. 299 Später kam es dann zu einer „Radikalisierungs des Gemeinschaftsgedankens“ und die Vergabe des Diploms und des gemeinsamen Emblems gingen mit einer „Ritualisierung der Mitgliedschaft“ einher (Jauslin, Manfred: Die gescheiterte Kulturrevolution, S. 77). 300 Lankheit, Klaus: Das Freundschaftsbild der Romantik, S. 130. 301 Metken, Günter: Doppelbildnis Overbeck-Cornelius, S. 78. Die Bleistiftzeichnung befindet sich in Münchner Privatbesitz. 302 Lankheit, Klaus: Das Freundschaftsbild der Romantik, S. 123.

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ist.303 Grundsätzlich spielt aber die Idee, dass mehrere Künstler gleichzeitig an ein und demselben Werk arbeiten, bei den Nazarenern noch keine Rolle. Michael Krapf schreibt zwar, dass Overbeck und Franz Pforr „aufeinander bezogen arbeiteten“304 und bisweilen ähnliche Themen in ihren Werken aufgriffen, aber als Ergebnis dieser Zusammenarbeit entstanden doch zwei einzelne Werke von verschiedenen Künstlern. In den späteren gemeinsam ausgeführten größeren Auftragsarbeiten, wie zum Beispiel den Fresken in der Casa Bartholdy (1815-1817), sind die kompartimenthaft aufgeteilten Beiträge der am Projekt beteiligten Künstler gut zu unterscheiden. Dennoch lässt sich im Leben und Arbeiten der Nazarener ein früher Versuch sehen, die Grenzen des individuellen Arbeitens aufzubrechen. Die Sozialreformer im 19. Jahrhundert sahen in ihren Plänen ebenfalls umfassende Gemeinschaftseinrichtungen vor. Charles Fourier fordert die Einrichtung von Großwohneinheiten mit kollektivistischer Lebensweise, 305 und der architektonische Entwurf für Robert Owens Siedlungsprojekt New Harmony in den USA sieht gemeinsame Esssäle und Kommunikationsmöglichkeiten im öffentlichen Raum vor.306 Auch in den Kommunen, die Ende der 1960er Jahre als Alternative zur kritisierten Gesellschaft ins Leben gerufen wurden, waren Gemeinschaftsräume der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Bisweilen war der Wille, der Vereinzelung des Individuums entgegenzuwirken, so groß, dass das Kommuneleben als „anstrengend“ 307 erlebt wurde, vor allem weil es kaum private Rückzugsmöglichkeiten gab. Ähnliches berichtet auch Antje Krüger, die zeitweise in der Kommune I gelebt hat: Die Kommune hatte „etwas sehr Windiges. Es gab keine Privatsphäre, und der ganze Alltag war durchorganisiert.“308 Die oben erwähnten „eigentlichen Triebfedern“ des Menschen, die für Atelier Van Lieshout so wichtig sind, spielen auch bei Fourier eine entscheidende Rolle. Er ist der Überzeugung, dass die menschliche Natur mit ihren Trieben und Leidenschaften respektiert werden sollte, da sie von Gott

303 Vgl. z. B. die Darst. in: Wyss, Beat: Die ersten Modernen, S. 157. 304 Krapf, Michael: Zu den Voraussetzungen der Entstehung des Lukasbundes, S. 31. 305 Vgl. die Darst. in Bollerey, Franziska: Architekturkonzeption, S. 102. 306 Vgl. die Darst. in Bollerey, Franziska: Architekturkonzeption, S. 65 und 70/71. 307 Kommune 2: Versuch der Revolutionierung, S. 56. 308 Krüger, Antje in einem Gespräch mit Corinna Raupach, S. 48.

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geschaffen wurde.309 Sein Entwurf einer neuen gesellschaftlichen Ordnung baut daher auf der Entfaltung dieser Leidenschaften auf und will die Ehe und Kleinfamilie zugunsten größerer Einheiten auflösen. 2.2.2.4 Natur und Technik Zwei Fotos im Ausstellungskatalog „Atelier van Lieshout. Ein Handbuch“ geben einen Eindruck von den Einsatzmöglichkeiten des Autocrat [Abbildung 1], des bereits vorgestellten Wohnanhängers, den AVL für einen Bewohner entworfen hat, der nahezu selbstversorgerisch und autark leben möchte. Eines der Bilder zeigt den Anhänger an einem See, seine helle Farbe korrespondiert mit dem am Ufer wachsenden Riedgras, und hohe Bäume stehen wie ein Schutzwall hinter dem Autocrat. Das andere Bild verstärkt den Eindruck des friedlichen Lebens in der Natur, denn ein warmes Sonnenlicht durchflutet das Innere des mit Holz eingerichteten Anhängers, und die Fenster und Türen geben den Blick auf die umgebende Natur frei. Ein Aquarell aus dem Jahr 1998 [Abbildung 3] zeigt, wie die verschiedenen Gebäude einer selbstversorgerischen Gemeinschaft angeordnet sind, und wieder bildet eine idyllische Umgebung den Hintergrund für den Entwurf. Am Ufer eines Sees wechseln Baumgruppen mit Feldern ab, kleine Häuser mit rotem Satteldach erwecken den Eindruck eines größeren Bauernhofes. Das Aquarell erinnert an die anarchistischen Utopien des 18. Jahrhunderts, in denen die Natur als Fluchtraum vor einer als künstlich und starr empfundenen Zivilisation geschildert wird, die durch lärmende Großstädte und Industrie gekennzeichnet ist. Kritisiert AVL also die Vorherrschaft von Technik und Industrie in der Ursprungsgesellschaft und plädiert stattdessen für eine Rückkehr zu vorindustriellen Lebensformen? Der zweite Blick auf die Fotos und das Aquarell spricht gegen diese These: Er enthüllt Details, die den Eingriff des zivilisierten Menschen und die Anwesenheit von Technik erkennen lassen. Der Autocrat steht neben einer künstlichen Uferbefestigung auf einem sorgfältig kurz geschnittenen Rasen und zudem zeugt der Papierkorb von konsumierenden Besuchern eines Parks. Die Anhängerkupplung des Autocrat verweist auf ein Fahrzeug, das den Anhänger an diesen See gebracht haben muss. Die selbstversorgerische Gemeinschaft auf dem Aquarell kommt offensichtlich nicht ohne Sägeanlage, Hochofen und eine Art Fertigungshalle mit Flachdach

309 Vgl. die Darst. in: Sotelo, Ignacio: Die französischen Utopisten, S. 379.

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aus, und auch die mit Waffen ausgestatteten Wachtürme und der Panzer lassen sich mit der idyllischen Umgebung kaum vereinbaren. Im Werk von Atelier Van Lieshout spielen beide Pole – Natur und Technik – eine wichtige Rolle und gehen dabei oft eine eigentümliche Verbindung ein. Das zeigt auch die Materialwahl. Zwar wird, wie zum Beispiel bei der oben erwähnten Inneneinrichtung des Autocrat oder bei den Regalen, die in den späten 1980er Jahren entstanden sind, der natürliche Baustoff Holz verwendet, aber viele Möbel sind von einer Polyesterschicht überzogen. Bei anderen Mobile Homes wird der Holzskelettbau in Verbindung mit dem Polyurethansandwichbau eingesetzt.310 Auch die Farbgebung der Arbeiten ist sehr unterschiedlich. Der oben beschriebene Autocrat ist zurückhaltend in Beige oder Olivgrün gehalten, aber es gibt auch Wohnmodule, die durch ihre rosa, orange oder gelbe Farbe auffallen und so die Künstlichkeit der Materialien betonen.311 Die biological mixed city farm312 [Vgl. das Pioneer Set, Abbildung 6] zeigt nochmals, wie eng in AVL-Ville Natur und Technik miteinander verknüpft sind, denn schon der Name vereint die beiden Pole Stadt und Bauernhof. Die Farm zeichnet sich einerseits durch natürliche Anbaumethoden und Tierhaltung in kleinem Maßstab aus, befindet sich andererseits aber am Hafen von Rotterdam, also in einem von der Zivilisation geprägten Raum. Dieses Zusammenspiel von Natur und Technik lässt sich auch bei einem Thema erkennen, das sich wie ein roter Faden durch das Werk von Atelier Van Lieshout zieht: die Funktionsweise von Systemen. Schon die in dem Aquarell festgehaltene erste Idee zu einer selbstversorgerischen Gemeinschaft [Abbildung 3] bedeutet die Wiedergabe eines Systems, eigentlich sogar mehrerer Systeme: Gezeigt wird ein von der Umwelt abgegrenztes Areal, in dem alle Elemente vorhanden sind, um unabhängig zu leben. Mit einer etwas naiv anmutenden Genauigkeit wird dem Betrachter zum Beispiel erklärt, wie Hochofen und die Fabrikationshalle zusammenwirken oder wie aus einem Baum einzelne Bretter geschnitten werden. Im Gegensatz dazu verzichtet N55 darauf, anfängliche Pläne zu einem Gemeinwesen

310 Vgl. z. B. das Mobile Home for Kröller-Müller. 311 Das Modular House Mobile z. B. ist orange, die Schlafeinheit an dem Mobile Home for Kröller-Müller ist gelb, das Küchenelement des Modul-Bausystems rosa. 312 Vgl. die Darst. auf den S. 47-48.

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ähnlich explizit festzuhalten. In einem Interview mit der Autorin betont Joep van Lieshout, dass ihm bei dem Projekt AVL-Ville besonders die Infrastruktur interessiert hat: „Wie macht man Energie? Was passiert mit dem Abwasser? Wie können wir Kläranlagen bauen?“313 – diese Fragen sollten in dem „Freistaat“ praktisch gelöst werden. Ein Ergebnis sind zum Beispiel die Septic Tanks von 2001, eine Anlage aus Pumpen und verschiedenen Tanks, die das Brauchwasser der AVL-Ville-Bewohner mechanisch und biologisch aufbereiten konnte. Das Interesse an Systemen wird auch an einzelnen Objekten deutlich. Bei der im Jahr 2000 entstandenen Komposttoilette war es nicht das Ziel, Exkremente möglichst billig und einfach zu entsorgen, denn der Aufbau ist aufwändig: Die gesamte Anlage erstreckt sich über zwei Etagen. In der oberen Abteilung ist der Toilettensitz so angebracht, dass die Exkremente in eine breite Röhre fallen. Sie ist in der unteren Etage mit einer Art Fenster ausgestattet, so dass jeder Vorbeikommende die Umwandlung des organischen Abfalls in Kompost beobachten kann. Das Hauptaugenmerk liegt bei diesem Entwurf also darauf, dass „the whole process will remain visible.“314 Auf diese Weise thematisiert AVL einen Kreislauf: Aus Exkrementen wird Kompost, der wird in den landwirtschaftlichen Anlagen von AVL-Ville zur Nahrungsmittelproduktion verwendet und dies ist wiederum die Voraussetzung für die Herstellung neuen Kompostes. Solche Systeme verfolgt Joep van Lieshout auch im menschlichen Körper. Im Jahr 2000 zeichnete er sich selbst auf einem vom Atelier entworfenen Shaker chair sitzend [Abbildung 20]. Der unbekleidete Körper ist in Taillenhöhe durchgeschnitten und auseinandergeklappt, so dass der Betrachter von seinem erhöhten Standpunkt aus Einsicht gewinnt in das Innere des Künstlerkörpers. Der Gegensatz von glatter, unverletzter Haut und den beiden dunkleren Schnittflächen irritiert zunächst. Den Betrachter beschleicht der Eindruck, etwas zu sehen, was ihm eigentlich verhüllt bleiben sollte. Aber bei eingehender Betrachtung bekommen die Organe etwas angenehm Greifbares. Die Körperhälften wirken wie prall gefüllte Einkaufstüten: Im unteren Teil scheinen Magen, Leber und Milz bereit zur Entnahme zu sein, der Blick in den Oberkörper enthüllt, wie das Herz und die beiden Lungenflügel angeordnet sind. Ab 2002 entstehen überlebensgroße Modelle von menschlichen Organen aus glasfaserverstärktem Kunststoff.

313 Van Lieshout, Joep in: Gespräch mit der Autorin 2005. 314 Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer: Up the Organization, S. 110.

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Doch van Lieshout formt keine isolierten Organe, sondern legt Wert auf ihren funktionalen Zusammenhang. Die Skulptur des Magens ist beispielsweise mit der Speiseröhre verbunden und endet in einer überdimensionalen Zunge, die Darstellung der männlichen Geschlechtsorgane beeinhaltet auch die Samenleiter und Bläschendrüse [Abbildung 21]. Die fröhlich-bunten Organe laden mit ihrer glänzenden Oberfläche dazu ein, sie zu berühren und so ihre funktionalen Verbindungen nachzuvollziehen. Van Lieshout verbindet mit diesen Skulpturen sehr grundsätzliche Fragen: „Oft wissen auch die Wissenschaftler nicht, auf welche Weise Organe funktionieren und warum sie genau so aussehen. Das interessiert mich, auch bezüglich der Gestaltung. Wo kommt der Mensch her? Gibt es da einen Überdesigner oder etwas Ähnliches?“315 Atelier Van Lieshout untersucht das Zusammenspiel von Elementen und ist fasziniert von funktionierenden Kreisläufen, die so konstruiert werden, dass sie für den Betrachter nachvollziehbar werden. Natur und Technik lassen sich dabei nicht trennen. Das verdeutlicht ein Vergleich von drei Zeichnungen: Das Aquarell Exploded View Organs von 2003 zeigt einen liegenden Menschen. Sein Körper ist an mehreren Stellen aufgeklappt und aufgeschnitten. Die Organe sind in unterschiedlichen Maßstäben neben ihm liegend dargestellt, gestrichelte Linien zeigen die räumlichen und systemischen Zusammenhänge an. Ganz ähnlich geht AVL bei der Darstellung einer Biogasanlage vor (Bio Pig, Aquarell 2001). Auch die Arbeit Farm House, exploded view von 1998 passt in diese Art der systemischen Überblicksdarstellungen. Vor einem unortbaren weißen Hintergrund zeichnet sich die Silhouette eines Hauses ab. Wie zuvor der menschliche Körper ist nun das Gebäude aufgeschnitten, und einzelne Teile sind in vergrößertem Maßstab neben ihm verteilt. Ob der menschliche Körper, eine Biogasanlage oder ein großes Farmhaus – immer werden systemischer Zusammenhänge dargestellt und erforscht.

315 Van Lieshout, Joep: Vortrag während der Pressekonferenz.

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Abbildung 20: Atelier Van Lieshout: Self-Portrait, 2000

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Bei N55 scheint auf den ersten Blick die Technik der dominierende Faktor zu sein. AVL hat mit der biological mixed city Farm/The Pioneer Set ein System entworfen, das zwar bei Bedarf in Schiffscontainer verladen werden kann, das aber trotz aller Flexibilität auf traditionelle Anbaumethoden setzt [Abbildung 6]. Mit den Hydroponic Units geht N55 ungewohntere Wege: Da die Künstlergruppe den Wachstumsprozess der Pflanzen in einen Innenraum verlegt und dabei ohne Erde arbeitet, erinnert ihr System eher an ein hochtechnisiertes Labor als an einen Bauernhof. Die Anlagen benutzen die Hydrokulturtechnik, bei der die Pflanzen in mit Nährstoffen angereichertem Wasser gedeihen. Bei der Modular Hydroponic Unit wachsen die Pflanzen aus den Löchern einer PVC-Röhre, bei der größeren Home Hydroponic Unit finden sie in kastenförmigen Behältern Platz [Abbildung 22]. Um den Befall mit verschiedenen krankheitserregenden Mikroorganismen zu vermeiden, braucht jede Unit einen Bakterienfilter und eine Pumpe, die für einen ständigen Wasseraustausch sorgt. Die Wachstumsparameter wie Luftzirkulation, Temperatur, Licht oder die in der Nährlösung enthaltenden Stoffe wie Stickstoff, Phosphor und Kaliumnitrat müssen genau kontrolliert werden, um die Bedingungen der Natur nachzuahmen und sogar zu überAbbildung 21: Atelier Van Lieshout: Penis XL, 2003 (Installationsansicht Kröller-Müller Museum 2005)

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Abbildung 22: N55: Home Hydroponic Unit, 1997

treffen. Nur so ist eine ganzjährige Produktion von Gemüse mit einem erhöhten Vitamingehalt möglich. Auf diese Weise können besonders gut Tomaten, Gurken, Gewürzpflanzen oder Salat gezogen werden.316 Eine weitere Vorrichtung von N55 (Clean Air Machine, 1997) ermöglicht es, die verschmutzte Luft einer Großstadt von Staub, Bakterien und giftigen Substanzen zu befreien. Die Maschine kann auch genutzt werden, um die Luft mit Feuchtigkeit anzureichern oder zu erwärmen. 317 Francis Bacon lässt den Vater des Hauses Salomon, einen Vertreter der zentralen Forschungseinrichtung in dem 1624 erschienen „Neu-Atlantis,“ von ähnlichen Projekten berichten: „Auch bringen wir es in diesen Obstund Baumgärten durch künstliche Mittel zuwege, dass Früchte und Blüten früher oder auch später kommen, als es ihre Zeit ist, ebenso dass sie in rascherer Aufeinanderfolge ausschlagen, sprossen und Früchte tragen, als sie es ihrer Natur nach zu tun pflegen. […] Wir haben ferner Räume, die wir ‚Gemächer der Gesundheit‘ nennen, wo wir die Luft nach Belieben durchsetzen und erwärmen, je nachdem wir es […] für die Erhaltung der Ge-

316 Vgl. die Darst. in: N55: Manual for Home Hydroponic Unit. 317 Vgl. die Darst. in: N55: Manual for Clean Air Machine.

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sundheit förderlich oder geeignet halten.“ 318 Zwar ist der Wille, die Natur zu beherrschen, bei Bacon besonders ausgeprägt, aber auch für die anderen Utopieentwürfe des 16. und 17. Jahrhunderts ist die Natur eine funktionale Größe und tritt ausschließlich als nutzbares Ackerland in Erscheinung, bei dem „keine Spanne Land unbebaut“ bleibt.319 Trotz dieser Parallelen spricht sich N55 aber nicht für eine Fortführung des Versuches aus, die Natur zu beherrschen und den technologischen Sektor der Ausgangsgesellschaft zu stärken. Daher spielen auch Überlegungen zu einer Verbesserung des Menschen durch Anwendung von Nano- oder Biowissenschaften hier keine Rolle. Der Unterschied zwischen den Entwürfen von N55 und der archistischen Utopietradition liegt in der Tatsache, dass bei den historischen Utopien wissenschaftlicher Fortschrittsoptimismus und Konsumdenken das Verhältnis zur Natur bestimmen, während N55 mit seiner „Manipulation“ der Natur gerade auf die Folgen eines solchen Denkens aufmerksam macht. Der verantwortungsvolle Umgang mit den natürlichen Ressourcen ist ein wichtiges Thema bei N55.320 Die Gruppe hat einen Komposter (Soil Factory, 1998)321 entwickelt, der die organischen Abfälle eines Haushaltes in Erde verwandelt. Wasser kann aber auch mit dem Hygiene-System gespart werden [Abbildung 23].322 Es besteht aus drei Komponenten, einem Polyethylentank, der als Sitzbadewanne oder Dusche benutzt werden kann, einer Trockentoilette und einer Versorgungseinheit. Das Wohnmodul N55 Spaceframe [Abbildung 8] kommt ohne zusätzliche Ener-

318 Bacon, Francis: Neu-Atlantis, S. 207. 319 Campanella, Tommaso: Sonnenstaat, S. 144. 320 Auch AVL entwickelt Gebrauchsgegenstände, die auf erneuerbare Energien setzen: Das Atelier entwarf beispielsweise die Compost Toilet oder den Biodigestor, eine Maschine, die Exkremente in Biogas umwandelt. Aber dieser Aspekt stand bei der Entwicklung der Vorrichtungen wohl nicht im Vordergrund (vgl. die Darst. in: van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 108/110). 321 Vgl. die Darstellung auf S. 78. 322 N55 erklärt zu den einzelnen Elementen: Das Badewannen-/Duschelement „does not demand as much water as an ordinary bathtub, since much of the volume is filled by the bathing person’s body,“ das Toiletten-Element spart Wasser, denn: „it uses no water for waste transportation“ (N55: Manual for Hygiene System).

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gie für die Heizung aus,323 und bei den Platforms sorgt Solarenergie für heißes Wasser. Ein anderer Entwurf beschäftigt sich mit einer Alternative zu Autos, die nur für kurze Strecken innerhalb der Innenstadt eingesetzt werden und so die Umwelt belasten.324 Truck „is a lightweight, lowcost, manpowered vehicle, that enables persons to move loads up to about 300 kg at slow speeds.“325 Im Gegensatz zu einem normalen Fahrrad kann der Benutzer sehr viel mehr Lasten bewegen und ist auch vor Wind und Regen geschützt. Abbildung 23: N55: Hygiene System, 1997

Die hier besprochenen zeitgenössischen Künstlergruppen verstehen die Natur weder als idyllisch-weltabgewandten Fluchtraum noch versuchen sie

323 Im Manual for N55 Spaceframe heißt es: „If the walls are properly insulated, there should be no need to heat the room except under extreme conditions. Lighting, sun radiation, cooking and normal activities will provide sufficient heating“ (N55: Manual for N55 Spaceframe). 324 N55: Manual for Small Truck. 325 Ebd.

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den natürlichen Raum mittels der Technik vollkommen zu beherrschen. Ein einfaches „zurück zur Natur“ ist wegen der steigenden Bevölkerungszahlen und technischen Entwicklungen nicht mehr möglich. In ihren Gegenwelten werden technische Innovationen daher genutzt, um die natürlichen Ressourcen zu schonen. Ideen einer Veränderung des Menschen durch BioEnhancement und Cyborgisierung oder die Umgestaltung ganzer Lebensräume durch Terraforming spielen bei AVL und N55 aber keine Rolle. Diesen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert viel besprochenen Zukunftsvisionen326 setzen sie eine erneuerte Strategie des „Do it yourself“ entgegen. Besonders N55 versucht auch bei der Beschäftigung mit erneuerbaren Energien, größere Machtkonzentrationen zu bekämpfen. Damit kritisieren die Künstlergruppen das ihrer Meinung nach in der Ausgangsgesellschaft bestehende unausgewogene Verhältnis zwischen Natur und Technik. Sie weisen darauf hin, dass eine totale Ablehnung der Technik auf Dauer ebenso wenig Erfolg haben kann, wie die Vergrößerung dieses Sektors auf Kosten der Natur.327 2.2.3 Historische Einordnung der zeitgenössischen Projekte 2.2.3.1 Bisherige Ergebnisse Die zeitgenössischen Künstlergruppen gehen vom antiken Konzept der Selbstsorge aus, indem sie das Leben als ein zu gestaltendes Werk begreifen. Dabei setzen sie weniger beim Individuum an, sondern sind vor allem an der politischen Dimension interessiert. Sie wollen auf praktische Weise „Technologien des Selbst“328 entwickeln, um als Gemeinschaft von Menschen ihr Zusammenleben „auf eine höhere Stufe“329 zu bringen. In den

326 Vgl. beispielsweise die Beschäftigung mit „Bio- und Nanotechnologien,“ mit „Computer- und Netzwerktechniken [und] Robotik“ in dem 2004 erschienen Sammelband „Renaissance der Utopie“ (Maresch, Rudolf; Rötzer, Florian [Hrsg.]: Renaissance der Utopie, S. 19). 327 N55 äußert sich beispielsweise in einem E-Mail-Gespräch mit Brett Bloom: „we are too many people on this planet to live without industrial production of food etc“ (N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch). 328 Foucault, Michel: Technologien des Selbst, S. 2. 329 Thoreau, Henry David: Walden, S. 100.

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Strukturen der umgebenden Gesellschaft sehen die Künstlergruppen keine Möglichkeiten, ein solches Projekt zu verwirklichen, denn die von N55 in allen Bereichen des Lebens beobachteten Machtkonzentrationen bestimmen ihrer Auffassung nach die Gedanken des Einzelnen und beschränken den Handlungsspielraum eines jeden Menschen. Solche Machtkonzentrationen sind laut N55 auch wesentliches Merkmal von repräsentativen Demokratien und Teil der herrschenden ökonomischen Prinzipien, wie zum Beispiel dem Privatbesitz an Land oder Produktionsmitteln. Atelier Van Lieshout kritisiert vor allem die mit einem großen Nationalstaat einhergehende komplizierte Gesetzgebung und die ihrer Meinung nach jegliche Kreativität einengende Bürokratie, die bis in das Privatleben eines jeden Bürgers eingreift. Daher versuchen die Gruppen, einen Bereich zu schaffen, der von den Prinzipien der umgebenden Gesellschaft nicht bestimmt wird und in dem sie Alternativen erarbeiten können. Atelier Van Lieshout grenzt sich mit der Ausrufung des „Freistaates“ AVL-Ville demonstrativ von der Umwelt ab, während N55 eher punktuelle, kleinere Räume im Gefüge der Ausgangsgesellschaft schafft. Beide Künstlergruppen aber setzen auf diese Weise den kritisierten komplexen Strukturen dezentrale Einheiten entgegen, in denen „small-group-behaviour and ethics“330 und der „common sense“331 das Zusammenleben regeln sollen. Anstelle der als starr empfundenen Lebensentwürfe der Ausgangsgesellschaft setzen sie auf flexible Modelle des Zusammenlebens und versuchen, Solidarität und Zusammenarbeit in der Gegenwelt zu verwurzeln. Im vorhergehenden Kapitel wurde bereits verschiedentlich angesprochen, an welche utopischen Entwürfe AVL und N55 inhaltlich anknüpfen. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, in welchen Traditionen die zeitgenössischen Gruppen in ihrem Versuch stehen, auf die Kritik an der Ausgangsgesellschaft mit praktisch umsetzbaren Alternativen zu antworten. 2.2.3.2 Religiös motivierte Gemeinschaftsbildungen In der Geschichte der Utopie gab es immer wieder Versuche, die Vorstellungen eines besseren Lebens in die Realität zu überführen. Sehr oft spielten dabei religiöse Überzeugungen eine Rolle. Ein frühes Beispiel ist die Täufer-Bewegung des Mittelalters, in der Hans-Jürgen Goertz durchaus den

330 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 331 Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 106.

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„Geist der Utopie“ sieht.332 Wie in dem Kapitel über den Begriff der Utopie dargestellt wurde, ist die Analyse der bestehenden Verhältnisse das erste Merkmal für Utopien. In diesem Fall wurde vor allem ein an Macht, Geld und Luxus interessierter Klerus kritisiert. Im Gegensatz dazu wollte man das „Gemeinschaftsmodell der Urgemeinde,“333 wie es in der Apostelgeschichte beschrieben wird, wiederherstellen. Die Alternative betraf nicht nur den religiösen Bereich, sondern war oft mit dem Versuch einer „Veränderung der hierarchisch strukturierten Ständegesellschaft insgesamt“ 334 verbunden. Kasper König berichtet, dass Joep van Lieshout bei einem Besuch in Münster anlässlich seiner Teilnahme an der Ausstellung „Skulptur.Projekte“ 1997 besonders an der Geschichte der Stadt während der Täuferherrschaft 1534/35 interessiert war. 335 In dieser Zeit entwickelte sich Münster von einer Bischofsstadt mit Ratsverfassung zu einer theokratischen Monarchie. Viele Bewohner der Stadt sahen sich als „gelebte Umsetzung der chiliastischen Deutung der Apokalypse (20,1-6) des Johannes“336 und wollten das „neue Jerusalem“ errichten.337 In einer realtiv kurzen Zeit hat hier also ein großer Teil der Gesellschaft seine Wirtschafts- und Rechtsordnung, seine Wertevorstellungen und Lebensweisen geändert. Aufschlussreich ist ein Vergleich zwischen dem Täuferreich zu Münster und AVLVille auch hinsichtlich der Frage, wie sich ein Gemeinwesen innerhalb einer anders denkenden Umgebung legitimieren kann. Die Täufer hielten sich trotz ihrer radikalen religiösen Vorstellungen „an die hergebrachte Herr-

332 Goertz, Hans-Jürgen: Geist der Utopie im Täufertum, S. 28. (Mit dem Titel „Geist der Utopie“ nimmt Goertz Bezug auf das 1918 in München und Leipzig erschiene Werk von Ernst Bloch, in dem dieser den Begriff der „konkreten Utopie“ entwickelte. Bloch hatte in der Schrift „Thomas Münzer als Theologe der Revolution“ [München 1921] und später im dritten Band von „Das Prinzip Hoffnung“ ebenfalls seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass Religion Ausdruck utopischen Denkens sei.) 333 Goertz: Geist der Utopie im Täufertum, S. 42. 334 Goertz: Geist der Utopie im Täufertum, S. 43. 335 König, Kasper in einem Gespräch mit Joep van Lieshout. 336 Fischer, Carsten, Die Täufer in Münster (1534/35). 337 Anfang des Jahres 1534 ließ Jan Bockelson aus Leiden in Münster das „neue Jerusalem“ ausrufen, nachdem er die Ratsverfassung beseitigt hatte (vgl. die Darst. in: ebd.).

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schaftssymbolik,“ wie sie beispielsweise in Amtsketten, Wappen oder einer „nach sozialer Bedeutung gestaffelte[n] Hofordnung“338 sichtbar wurde. Auch nutzen sie früh die propagandistischen Möglichkeiten des Buchdruckes. Das geschriebene Recht sollte deutlich machen, dass es hier nicht um einen kurzfristigen Umsturz ging, sondern ein neues starkes Reich wuchs. Auch in AVL-Ville lassen sich einige der traditionellen Symbole, mit denen Staaten ihre Identität nach außen tragen, wiederfinden. So gibt es eine Flagge, eine eigene AVL-Währung und eine Konstitution. Offenbar legten die Bewohner von AVL-Ville aller Opposition und Andersartigkeit zum Trotz Wert auf wiedererkennbare Elemente. Die neue Gesellschaftsstruktur in Münster entstand natürlich auch durch die besondere Notsituation einer belagerten Stadt, worauf die neuen Machthaber immer wieder reagieren mussten. Doch sind neben diesen militärischen Überlegungen theologische Überzeugungen die andere „Triebfeder,“339 die das Handeln der Täufer bestimmte. Die Einführung des Gemeineigentums reagierte nicht nur auf die Knappheit der Güter, sondern folgte vor allem dem Idealbild der Urchristengemeinde. Die Ernennung der „12 Ältesten“ griff das Bild der zwölf Stämme Israels auf und genügte so der Wahrnehmung Münsters als Neuem Jerusalem.340 Trotz des Interesses Joep van Lieshouts an der Realisierung einer anderen Gesellschaftsordnung im 16. Jahrhundert gibt es allerdings einen wesentlichen Unterschied zu AVL-Ville. In der Täufer-Bewegung waren religiöse Vorstellungen der Impuls, ein anderes Leben zu realisieren. Die sich auf rein menschliche Vernunft berufende Neuorganisation des Gemeinwesens – das grundlegende Merkmal für Utopien – steht hier nicht an erster Stelle. 341

338 Ebd. 339 Ebd. 340 Natürlich diente diese Maßnahme auch der Machtsicherung des Täufers Jan van Leiden, der durch die Ernennung der 12 Ältesten die alten, gewählten Ratsmitglieder entmachtete. Vgl. die Darst. in ebd. 341 Zu der Abgrenzung von Utopien und religiösen Vorstellungen vgl. auch die Darst. ab S. 176. Richard Saage verdeutlicht: „Zwar sehen die utopischen Entwürfe seit der Frühen Neuzeit häufig religiöse Systeme vor. Doch dem konstruktiven Geist des Machens verpflichtet, sind sie für das Funktionieren der fiktiven Gemeinwesen eher peripher“ (Saage, Richard: Utopisches Denken im historischen Prozess, S. 68).

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Aus dem gleichen Grund sind die religiös motivierten Siedlungsbewegungen, die sich seit dem späten 17. Jahrhundert in den USA niederlassen, keine utopischen Gemeinwesen im engeren Sinne. Zwar werden die Gemeinschaften der Shaker, Hutterer oder Amish oft unter dem Oberbegriff „Utopien“ behandelt,342 aber es gibt einen grundlegenden Unterschied zu nicht-religiösen Siedlungsbewegungen. Es fällt auf, dass viele der nach religiösen Grundätzen lebenden Gruppen ökonomisch sehr erfolgreich agierten und über Jahre, zum Teil sogar über Jahrhunderte überleben konnten. 1847 übersiedelte beispielsweise eine 450 Personen umfassende Gruppe von Europa in die USA. Sie beriefen sich auf die Lehren des Laienpredigers Jakob Hutterer und gründeten landwirtschaftliche Höfe, auf denen sie relativ abgeschirmt von der Umwelt in Gütergemeinschaft lebten. Durch hohe Produktivität und hohe Geburtenraten ist aus den ursprünglich 450 Einwanderern heute eine Gemeinschaft von 34 000 Menschen geworden, die auf kleinen Höfen in den USA und in Kanada leben.343 1774 kamen 9 Menschen aus dem Umfeld der religiösen Gruppe der „shaking Quakers“ aus England nach Amerika. Um 1830 gab es in den USA 5000 Shaker344 und die Gemeinden galten wegen der Qualität ihrer handwerklichen Erzeugnisse und der hohen landwirtschaftlichen Erträge als gute Geschäftspartner. Im Gegensatz zu nicht-religiösen alternativen Gemeinwesen zeigen sich diese Gemeinschaftsgründungen also als überaus erfolgreich und langlebig. Der Grund ist wohl in der Disziplin, dem Fleiß und vor allem dem Zusammengehörigkeitsgefühl zu suchen, die sich vor dem Hintergrund eines einigenden religiösen Ideals entwickeln konnten. In diesen Gruppen ist das Individuum bereit, viele seiner Bedürfnisse dauerhaft zugunsten der Gemeinschaft zurückzustellen.345 Mitglieder utopischer Gemeinwesen ohne

342 Vgl. beispielsweise: Schwarz, Egon: Utopische Kommunen, S. 412-414 und Heeb, Inken: Amish, Hutterer und Shaker, S. 45-66. 343 Vgl. die Darst. in: Heeb, Inken: Amish, Hutterer und Shaker, S. 59. 344 Vgl. die Darst. in: Schwarz, Egon: Utopische Kommunen, S. 414. Heute ist die Shaker-Gemeinde vom Aussterben bedroht. 345 Ein Grund mag auch gewesen sein, dass unter den Gründern religiöser Gemeinschaften viele Bauern und Handwerker waren, die schon vor der Auswanderung Erfahrungen in ihrem Bereich haben sammeln können. Die Teilnehmer der historischen utopischen Experimente dagegen waren oft Intellektuelle, die an körperliche Arbeit nicht gewöhnt waren.

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eine einigende religiöse Idee müssen sich dagegen immer wieder neu in Diskussionen auf ein gemeinsames Ziel verständigen, Methoden entwickeln und auf die sich verändernde Ausgangsgesellschaft reagieren. Allerdings gibt es auch viele Berührungspunkte zwischen religiösen Gemeinschaften und „gelebten Utopien,“ wie sie in diesem Kapitel vorgestellt wurden. Vor allem die Shaker-Bewegung hatte Einfluss auf die Gründung von AVL-Ville. Joep van Lieshout betonte das 2006 in einem Vortrag: „1996/97 I was very interested in the Shakers. These people decided to build up a settlement where they could live self-sufficiently. The interesting idea about the shakers is that they were the first communist society in the world […]. Men and women were equal, they had a very good educational system. They also swapped jobs: one month you were a shoemaker and in the other a farmer and so on. […] The other thing that was specific to the shakers was that they said that working was the same as worshipping. If you work very well it is like showing your gratitude to god. That’s why they developed many good things like furniture and very efficient machines […]. The shakers were rather pragmatic and very rational. So I was really interested in the Shaker-movement […] in a way that’s why I decided to make art.”346 Die Parallelen zu dem vier Jahre später realisierten AVL-VilleProjekt sind offensichtlich. Zwar müssen sich die AVL-Mitglieder nicht an das für die Shaker geltende Gebot der Keuschheit halten, aber wie in diesem Kapitel bereits geschildert wurde, ist bei Atelier Van Lieshout der Wille, möglichst unabhängig von der Umgebung zu leben, deutlich ausgeprägt. Wie bei den Shakern spielen Erfindungsgeist auf vielen Gebieten und Freude an handwerklicher Tätigkeit eine wichtige Rolle. „An overarching legacy of the Shakers […] is their consummate skill as problem solvers,“ stellt Stephen Miller fest,347 und das passt sehr gut zu dem Begriff des „Solvism,“ mit dem AVL seine grundsätzliche Herangehensweise charakterisiert.348 Vergleichbar ist ebenfalls das Bemühen, den gesamten von der Gemeinschaft genutzten Raum zweckmäßig, effizient und zugleich „schön“ zu gestalten. Diese Haltung zeigt sich auch in Zeichnungen, die das Atelier und viele Shaker-Gruppen von ihrem Gemeinwesen angefertigt haben. Mit

346 Van Lieshout, Joep: New ways of exploiting people, Vortrag. 347 Miller, M. Stephen: Shaker Commerce with the World, S. 63. 348 „Solvism“ ist eine Wortneuschöpfung von AVL und wird aus den Worten „Pragmatism“ und „to solve“ gebildet (vgl. die Darst. auf S. 143 und 144).

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der Gesamtansicht des von AVL projektierten Gemeinwesens [Abbildung 3] lässt sich gut der 1848 gezeichnete Plan der Shaker-Gemeinde in Alfred, Maine vergleichen.349 Obwohl Atelier Van Lieshout die Möglichkeit gehabt hätte, das Projekt mit Hilfe eines Computerprogramms darzustellen, greift Joep van Lieshout hier auf die traditionellen Mittel der Zeichnung zurück. Sowohl in der Wahl der Perspektive als auch in der Mischung aus Detail und summarischer Übersicht sind sich die beiden Pläne ähnlich. Die Lage der Felder ist jeweils nur mit schwarzen Linien angedeutet und trotz aller liebevollen Sorgfalt ist die perspektivische Gestaltung der Gebäude nicht immer korrekt. Diese Ähnlichkeit in der Darstellung erstaunt umso mehr, als sich das spätere AVL-Ville in seiner vielgestaltigen und flexiblen Struktur von einer Shaker-Siedlung unterscheidet. Ein Journalist, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Shaker-Gemeinde besuchte, beschreibt seine Eindrücke so: „Order and Neatness there held high court with a majesty I had never before seen. The very dust in the road seemed pure.“ 350 Der Staub auf dem AVL-Ville-Gelände am Hafen von Rotterdam hat sicher keinen Besucher an Reinheit und Sauberkeit denken lassen. Dennoch zeigt sich das Interesse an der Shaker-Bewegung auch in einzelnen Arbeiten von AVL. 1999 entstand ein Shakertisch mit dazugehörenden Stühlen, die das Atelier bis heute in limitierten und unlimitierten Auflagen produziert. 2008 waren sie in der Ausstellung „Shaker Design. Out of this World“ im Shelburne Museum in Vermont zu sehen.351 Die Shaker-Möbel tauchen immer wieder auch in Zeichnungen auf, wie beispielsweise in dem Self-Portrait (auch als Cross-section of a man sitting on a Shaker chair bezeichnet) aus dem Jahr 2000 [Abbildung 20]. In einem weiteren zentralen Punkt lassen sich religiöse Gemeinschaften mit den Projekten der zeitgenössischen Gruppen vergleichen. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Klöster. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass es für die meisten klösterlichen Gemeinschaften wichtig ist, sich von der Umwelt abzugrenzen. Nur ohne den schädlichen Einfluss der Welt lässt sich eine Lebensweise verwirklichen, die, wie es Benedikt von Nursia sagt, „den Menschen zur Höhe der Vollkommenheit führen

349 Joshua H. Russel (zugeschrieben): Die Shaker-Gemeinde in Alfred Maine, um 1848, Museum of Fine Arts, Schenkung Dr. J. J. G. McCue, Boston. 350 Lossing, Benson John: The Shakers, S. 3. 351 Vgl. den Katalog: Burks, Jean M. (Hrsg.): Shaker Design. Out of this World.

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kann.“352 In dem abgeschlossenen Bereich mit seinen eigenen Regeln können die Brüder am Leben arbeiten, um es zu verbessern. In dem vierten Kapitel der „Regula Benedicti,“ das mit „Die Werkzeuge der geistlichen Kunst“ überschrieben ist, wird ausführlich aufgezählt, wodurch sich ein gottgefälliges Leben auszeichnet und welche Taten und Gedanken dagegen für einen guten Menschen verboten sind. Zum Schluss dieser Auflistung wird das Kloster vorgestellt als „Werkstatt […], in der wir das alles sorgfältig verwirklichen sollen.“353 Benedikt hat diesen Begriff der „Werkstatt“ aus der älteren Magisterregel übernommen und betont damit, dass der einzelne Mönch bei seinem Weg zu Gott nicht allein ist, sondern ihn gemeinsam mit seinen Mitbrüdern geht.354 Die Mönche schaffen also einen von der Umwelt abgetrennten Bereich, in dem sie das Zusammenleben als „Werk“ auffassen. Die klösterlichen Regeln sind „Werkzeuge,“ mit denen die Mönche am Leben – laut Benedikt eine „geistlichen Kunst“ – arbeiten, um eine andere, bessere Ordnung zu verwirklichen. Diese Auffassung des Lebens als ein Material, mit dem man arbeiten kann, lässt sich gut mit der Herangehensweise der zeitgenössischen Künstlergruppen vergleichen. In ihrem von der Gesellschaft abgegrenzten Raum verwirklichen sie eine Art „Lebenskunstwerk.“ Wilhelm Schmid definiert die Philosophie der Lebenskunst als ein „Innehalten und Nachdenken über die Grundlagen und möglichen Formen eines bewusst geführten Lebens, und dieses ‚bewusst geführte Leben‘, das ist Lebenskunst.“355 Exemplarisch wurde diese Haltung in Kapitel 2.1.1 mit Hilfe des antiken Konzepts der Selbstsorge am Beispiel der eingangs vorgestellten mobilen Wohneinheiten von N55 und AVL verdeutlicht. Doch auch bei den geschilderten alternativen Vorschlägen für das Leben einer Gemeinschaft lässt sich ein „kompromissloser Experimentalismus des Lebens“ beobachten, der darauf besteht, „dass Dinge auch anders sein können als selbstverständlich angenommen.“356 Diese Einstellung ist für Paolo Bianchi wesentliches Merkmal eines Lebenskunstwerkes.

352 Benedicti regula, Kap. 73, 2. 353 Benedicti regula, Kap. 4, 78. 354 Vgl. die Darst. in: Puzicha, Michaela: Kommentar, S. 124. 355 Schmid, Wilhelm: Die Wiederentdeckung der Lebenskunst, S. 221. 356 Bianchi, Paolo: Das LKW, S. 57.

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2.2.3.3 Siedlungsexperimente im 19. Jahrhundert Wenn es um die Frage geht, inwieweit eine Realisierung von Utopien sinnvoll ist, wird oft auf die utopischen Experimente verwiesen, die Robert Owen, Charles Fourier und Étienne Cabet in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA unternahmen. Poldervaart erkennt in diesen Projekten ein ganz neues Element in der utopischen Tradition weil hier zum ersten Mal Theorie und Praxis zusammenfallen.“357 Auch Richard Saage sieht als „epochenspezifisches Merkmal des utopischen Diskurses im 19. Jahrhundert […], dass seine fiktiven Entwürfe zur konkreten Verwirklichung drängten.“358 Als Vergleich zu den hier besprochenen Projekten bieten sich diese Experimente also besonders an. In vorliegender Arbeit wurden die sozialistischen Utopisten bereits mehrfach angesprochen. Stellvertretend soll hier näher auf das New-Harmony-Projekt von Robert Owen eingegangen werden. Joep van Lieshout besuchte das heute noch existierende Dorf mit den historischen Gebäuden in Indiana (USA), die von diesem Experiment zeugen. Was ihn besonders an dem Siedlungsprojekt interessierte, war die Frage, warum es auf Dauer (wie AVL-Ville auch) keinen Erfolg hatte.359 Robert Owen hatte als Leiter einer Spinnerei in der Nähe von Glasgow Anfang des 19. Jahrhunderts große Erfolge mit der Umsetzung weitreichender sozialer Reformen.360 Nachdem es ihm nicht gelungen war, seine gewonnenen Erfahrungen auf der Ebene der parlamentarischen Gesetzgebung zu realisieren, entschloss er sich, seine Theorien über eine „New Moral World“361 mit der Gründung einer Kolonie in den USA praktisch umzusetzen. 1825 erwarb er ein Gelände in Indiana, das eine zuvor hier lebende religiöse Gemeinschaft bereits mit Wohnhäusern und Produktionsstätten ausgestattet hatte.362 Mit 800 Teilnehmern zog Owen in die New Harmony genannte Kolonie, um auf gut vorbereitetem Grund ein kommunistisches

357 Vgl. die Darst. in: Poldervaart, Saskia: The concepts of utopianism, S. 13. 358 Saage, Richard: Utopische Profile, Bd. III, S. 345. 359 Van Lieshout, Joep in: Gespräch mit Harald Kunde. 360 Vgl. die Darst. in: Saage, Richard: Utopische Profile, Bd. III, S. 38. 361 Owen, Robert: New Moral World, Frontispiz. Dieses Buch verfasste Owen allerdings nach dem gescheiterten New-Harmony-Experiment. Viele der dort gemachten Erfahrungen haben Eingang in diese Schrift gefunden (vgl. die Darst. in: Saage, Richard: Utopische Profile. Bd. III, S. 355). 362 Vgl. die Darst. in: Bollerey, Franziska: Architekturkonzeption, S. 62.

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Gemeinwesen zu verwirklichen, in dem alle Menschen die gleichen Rechte und Pflichten haben sollten. Diese Eigenschaft Owens, erkannten Problemen „ganz pragmatisch zu Leibe“ zu rücken und damit „unversehens die Perspektive auf eine andere Gesellschaft zu eröffnen,“363 lässt sich gut mit den zeitgenössischen Gruppen vergleichen. Viele Kritikpunkte, die Owen formuliert hatte, werden auch von den zeitgenössischen Gruppen geteilt: „Private property has been so sadly injurious to the human race,“364 davon ist Owen wie die Mitglieder der Gruppe N55 überzeugt. „Private property also deteriorates the character of its possessor in various ways; it is calculated to produce in him pride, vanity, injustice, and oppression, with a total disregard of the natural and inalienable rights of his fellow men. It […] prevents the mind from expanding to perceive extended views beneficial for the human race,“365 führt Owen weiter aus. Nicht nur das Privateigentum, sondern die industrielle Entwicklung allgemein führe zu einer Betonung des individualistischen Prinzips und damit zu einem Kampf unter den Menschen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sowohl AVL als auch N55 beklagen, dass die Organisation der Gesellschaft eine solidarische Haltung unter den Menschen erschwere. In diesem Punkt knüpfen sie an die frühen Sozialisten an. Allerdings sind die zeitgenössischen Gruppen, im Gegensatz zur optimistischen Haltung vieler Denker des 19. Jahrhunderts, nicht der Ansicht, dass durch die Anwendung moderner Erkenntnisse ein vollkommen „neuer Mensch“ geschaffen werden kann. Owen wollte sich beim Aufbau einer idealen Welt auf wissenschaftliche Grundsätze stützen. Dabei rechnete er auf Menschen, die die Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft studieren und daraus praktische Grundsätze ableiten. Dann könnte alles „under the control of those who influence and direct the operations of society“ 366 ablaufen. Der zweite Schritt auf dem Weg zum besseren Menschen ist Aufklärung und ein neues Erziehungssystem, denn nach Owens Ansicht wird der Charakter eines Menschen ausschließlich durch äußere Umstände geformt. 367

363 Bambach, Ralf: Robert Owen, S. 386. 364 Owen, Robert: New moral World, Part VI, Chapter IV, S. 41. 365 Ebd. 366 Owen Robert: New moral World, Part II, Chapter II, S. 7. 367 „it [is] by law of human nature to receive habits from the external circumstances around it, that vicious and inferior habits shall proceed from vicious

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Schließlich geht er davon aus, dass die von ihm geplanten dezentralisierten Produktivgenossenschaften, hohe Erträge erwirtschaften würden, wenn sie nur mit den neuesten Maschinen ausgestattet würden. 368 Uneinigkeit bezüglich der Verteilung sei durch den Überfluss von vorneherein ausgeschlossen und ein Geldsystem daher unnötig. Würden diese Vorschläge umgesetzt, so ist Owen überzeugt, „man will come forth into a new existence, a new creature, with a new heart, a new mind, a new spirit.“369 Diese „neuen Menschen“ würden dann die Welt in ein reales Paradies umwandeln.370 Dieser Glaube an die rationale Planbarkeit eines Gemeinwesens zeigt sich auch an dem detaillierten Idealentwurf von New Harmony, den der englische Architekt Thomas Stedman Whitwell im Auftrag Owens entwarf [Abbildung 24]. 2000 Siedler sollten auf einem achsensymetrisch angelegten Wohnquadrat untergebracht werden. Entlang der vier Seiten reihten sich flexibel nutzbare Wohngebäude aneinander, in den Eckgebäuden und besonders betonten Mittelelementen war Platz für öffentliche Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Speisesäle vorgesehen. Im Inneren des Quadrats erlaubte ein geometrisches Wegesystem den schnellen Zugang zu allen Bereichen der Anlage. Owen wollte die neuesten technischen Erfindungen in New Harmony umsetzen: Speiselifte sollten die Küchen mit den Esssälen verbinden, und es war ein Zentralheizungs- und Ventilationssystem in allen Räumen geplant. Unterirdische Lagerräume sollten mit Transportbändern und Schienen verbunden werden und auch eine mechanische Abfallbeseitigung einbinden.371 Franziska Bollerey sieht in den auffälligen Türmen des Whitwell’schen Entwurfs „Identifikations-Symbol[e],“372 die der Überzeugung Ausdruck verleihen, dass die „fortschrittsgläubige[] Soziallehre Owens“373 Erfolg haben werde.

and inferior circumstances […] and good and superior habits from good and superior circumstances“ (Owen, Robert: New moral World, Part I, Chapter VII, Section X, S. 38). 368 Vgl. die Darst. in: Owen, Robert: New moral World, Part II, Chapter II, S. 19. 369 Owen, Robert: New moral World, Part VII, Chapter I, S. 13. 370 Vgl. die Darst. in: Owen, Robert: New moral World, Part VI, Chapter, V, S. 78. 371 Vgl. die Darst. in: Bollerey, Fransiska: Architekturkonzeption, S. 66. 372 Bollerey, Franziska: Architekturkonzeption, S. 66. 373 Bollerey, Franziska: Architekturkonzeption, S. 70.

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Abbildung 24: Thomas Stedman Whitwell: Plan für Hew Harmony, Indiana, 1830

Von dieser Idee einer „a priori Planbarkeit“ des Gemeinwesens haben sich die zeitgenössischen Gruppen verabschiedet. Besonders deutlich zeigt sich das in der formalen Gestaltung von AVL-Ville. Im Gegensatz zu der geometrischen Anlage in New Harmony ist bei dem Gebiet am Hafen von Rotterdam kein übergreifender Bebauungsplan zu erkennen und auch die einzelnen Wohnelemente sollen keinem einheitlichen Erscheinungsbild ent sprechen.374 N55 verzichtet ganz darauf, ein sorgsam abgegrenztes Gemeinwesen zu schaffen, sondern stellt eher einzelne Objekte in den Raum der Ausgangsgesellschaft.375 Mit der Idee einer „new creation of the human character“376 gehen AVL und N55 unterschiedlich um. Das Atelier rechnet nicht damit, dass sich der Mensch grundsätzlich ändern kann. Die alternative Ordnung in AVL-Ville soll dafür sorgen, dass sich die Bewohner jenseits einer einengenden Bürokratie frei entfalten können. Joep van Lieshout baut

374 Vgl. zu diesem Thema die Darst. ab S. 134. 375 Vgl. die Darst. in Kapitel 2.3.2. 376 Owen, Robert: New moral World, Part VI, Chapter V, S. 78.

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zwar auf die Ausbildung eines „gesunden Menschenverstandes,“377 aber mit der Hoffnung auf eine umfassende moralische Erhöhung des Menschen ist diese gelebte Utopie nicht verbunden. N55 dagegen hat den alten Wunsch nach einem besseren Menschen nicht ganz aufgegeben. Es wurde bereits die Hoffnung der skandinavischen Gruppe beschrieben, dass Menschen in bestimmten Situationen „small group-behaviour and ethics“378 erfahren könnten und dadurch zu einem solidarischen Teil einer kleinen Gemeinschaft würden, ohne dass sie Gesetze zu diesem Verhalten zwingen müssten. Überspitzt formuliert wäre ein Mitglied einer solchen Gemeinschaft „besser“ als der Durchschnittsbürger. Doch im Unterschied zu den frühen Sozialisten will N55 keinen „neuen Menschen“ kreieren, sondern Situationen schaffen, in denen die Teilnehmer etwas wiederentdecken, von dem sie meinen, dass es grundsätzlich in jedem Menschen angelegt sei. Dieser Vorgang ist für N55 auch sehr viel weniger planbar, als Owen meinte. Die Bewohner von New Harmony hatten an der Ausformulierung des Gemeinwesens keinen Anteil, denn Owen sah sie als „Ausführende, nicht als schöpferisch Gestaltende.“379 So schwebten ihm auch, keine basisdemokratischen Strukturen für eine ideale Welt vor. Ein Rat von Ältesten sollte in letzter Instanz über die Geschicke des Gemeinwesens entscheiden. Allerdings ging er davon aus, dass es kaum zu Meinungsverschiedenheiten kommen würde, da alle Bewohner durch das gute Erziehungssystem zu rationalem Denken fähig seien und sich daher der weisen Entscheidung der Ältesten anschließen würden. N55 dagegen fordert jeden einzelnen Betrachter auf, zum Gestalter des eigenen Lebens zu werden. 2.2.3.4 Lebensreformbewegung In ihrer Auffassung des Lebens als ein zu bearbeitendes Werk knüpfen die zeitgenössischen Künstlergruppen auch an Strömungen an, die schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt Menschen dazu veranlassten, den Zwängen der modernen Zivilisation zu entfliehen. Die Industrialisierung veränderte zu dieser Zeit die Lebens- und Produktionsbedingungen und viele Menschen fühlten sich von den damit einhergehenden negativen Begleiterscheinungen bedroht: Landflucht und Bevölkerungsexplosion führten in

377 Vgl. die Darst. in Kap. 2.2.2.1. (ab S. 33). 378 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 379 Bambach, Ralf: Robert Owen, S. 388.

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den neu entstehenden Großstädten zu mangelhaften Wohnverhältnissen, die neuen Arbeitsweisen verstärkten eine Spezialisierung und weite Bevölkerungskreise litten trotz wirtschaftlichen Aufschwungs unter sozialen Missständen. Die lebensreformerische Bewegung war vielfältig und umfasste so verschiedene Bereiche wie Ernährungsreform (Vegetarismus), Naturheilkunde, Bodenreform, Reformkleidung, neue pädagogische Konzepte oder Freikörperkultur. Neben den eher auf die individuelle Selbstreform zielenden Strömungen sind in unserem Zusammenhang vor allem Bewegungen von Interesse, die die Gemeinschaft reformieren wollten. Besonders die Siedlungs- und Landkommunebewegung lässt sich in vielerlei Hinsicht mit den zeitgenössischen Projekten vergleichen. Aus der Unzufriedenheit mit den herrschenden Umständen entwickelte sich ein „totaler Erneuerungsanspruch an die technologische Gesellschaft.“380 Es fanden sich Menschen zusammen, um fernab der großen Städte „Versuchsfeld[er] für alternative Lebensformen“ 381 aufzubauen. Seit 1848 breitete sich in Deutschland allmählich die Siedlungs- und Kommuneidee aus.382 Die schon mehrfach erwähnte Siedlung auf dem Monte Verità gehört in diesen Zusammenhang ebenso wie die in Kapitel 2.2.2.2 (ab S. 67) bereits kurz angesprochene Gartenstadtbewegung. Wie bei Atelier Van Lieshout und N55 war die Autarkie des neuen Gemeinwesens ein zentrales Anliegen. Daher waren die Reformen auf viele Lebensbereiche ausgerichtet. Man lehnte das Privateigentum an Grund und Boden ab und arbeitete stattdessen auf genossenschaftlicher Basis. Bei vielen Projekten gab es auch Versuche, Handelsgüter und Produktionsmittel kollektiv zu verwalten. 383 Das „kapitalistische Profitstreben“384 wollte man durch Gütergemeinschaft und das Prinzip der gegenseitigen Hilfe ersetzen. Die politisch selbstständigen Einheiten sollten insgesamt zu einer dezentralen Organisation führen. William Morris, auf den sich Joep van Lieshout mit der Gründung von AVL-Ville unter anderem beruft,385 beschrieb in seinem 1890 erschienen Roman

380 Frecot, Janos: Die Lebensreformbewegung, S. 151. 381 Frecot, Janos: Landkrone über Europa, S. 55. 382 Vgl. die Darst. in: Feuchter-Schawelka, Anne: Siedlungs- und Landkommunebewegungen, S. 227. 383 Vgl. die Darst. in: Hofer, Sigrid: Die Deutsche Gartenstadtbewegung, S. 96. 384 Krabbe, Wolfgang R.: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, S. 36. 385 Vgl. die Darst. in Kapitel 2.2.2.1. (ab S. 33).

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„Kunde von Nirgendwo,“ dass die Umsetzung solcher Grundsätze eine „Gesellschaft von freien Menschen“386 hervorbringen würde. Nach der Abschaffung des Privateigentums „hatten auch alle die Gesetze und all’ die vom Gesetz statuierten Verbrechen […] ihr Ende erreicht.“387 Wichtiger Teil der Lebensreform war die praktische Umsetzung der Ideen und in dieser Hinsicht gleichen sie den Projekten von N55 und AVL. Der 1902 gegründete Dürerbund beispielsweise veröffentlichte nicht nur theoretische Beiträge, sondern vor allem „praktische Anleitungen zur Lebenskunst, die […] alle Fragen der Alltagskultur anschnitten.“388 Allerdings gibt es auch Unterschiede zu den zeitgenössischen Projekten. Die Gartenstadtplaner wollten im Gegensatz zu den entstehenden Großstädten kleinere durchgrünte Gemeinwesen schaffen, in denen die Bewohner mehr Mitspracherecht haben sollten.389 Doch Ebenezer Howard, der mit seinem Buch „Garden Cities of Tomorrow“ von 1902390 die Gartenstadtidee bekannt gemacht hatte, ging in seinen Idealplänen immerhin von 32 000 Bewohnern aus.391 Eine Gemeinde solcher Größe ist natürlich mit einer vorausschauenden Planung und verwaltenden Struktur verbunden. Besonders N55 sähe in einer „planmäßig gestalteten Siedlung“392 dieses Maßstabes die Gefahr von Machtkonzentrationen. Atelier Van Lieshout hätte sich mit dem gewünschten einheitlichen Erscheinungsbild einer Gartenstadt sicher wenig anfreunden können. Hans Kampffmeyer schreibt 1911 von der Notwendigkeit, einen „technisch und künstlerisch mustergültigen Bebauungsplan“ und vor allem eine „scharfe Bauordnung“ 393 einzuführen. In demselben Buch von 1911 wird in einem Sonderbericht über die Gartenstadt Hellerau betont, wie erfreulich es sei, dass in Gartenstädten „Architekten zielbewusst auf ein-

386 Morris, William: Kunde von Nirgendwo, S. 124. 387 Morris, William: Kunde von Nirgendwo, S. 117. 388 Frecot, Janos: Die Lebensreformbewegung, S. 148. 389 Vgl. die Darst. in: Hartmann, Kristina: Gartenstadtbewegung, S. 295. 390 Dies ist der Titel der zweiten Auflage (London 1902). In der ersten Auflage hieß die Schrift Howards noch: Tomorrow: A Peaceful Path to Real Reform, London 1898 (in Deutschland erschien das Buch erstmals 1907 in Jena). 391 Vgl. die Darst. in: Hartmann, Kristina: Gartenstadtbewegung, S. 290. 392 Kampffmeyer, Hans: Die deutsche Gartenstadtbewegung, S. 3. 393 Kampffmeyer, Hans: Die deutsche Gartenstadtbewegung, S. 2.

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heitliche Straßenbilder und Platzwirkungen hingearbeitet“ 394 haben. Die Abbildungen in der Publikation zeigen auch, dass mit der Gartenstadtidee, wie mit vielen lebensreformerischen Bewegungen, oft ein nostalgischer, bisweilen sogar ein stark rückwärtsgewandter Blick verbunden war. 395 Auch von dem „Natürlichkeitstaumel“ und der „Gesundheitsschwärmerei“396 dieser Strömung heben sich Atelier Van Lieshout und N55 ab. 2.2.3.5 1960er/1970er Jahre Den Erneuerungsanspruch, den die Lebensreformbewegung vertrat, wurde ab Mitte der 1960er Jahre in betont antibürgerlichen Kreisen auf eine neue und radikale Weise erneut erhoben. Wie Atelier Van Lieshout und N55 wollte man nun vermehrt andere Formen des Zusammenlebens erproben, ohne auf den Aufbau neuer städtischer Strukturen zu warten. In „freiwillige[n] Zusammenschlüsse[n] von Menschen auf der Grundlage gemeinsamer Überzeugungen“397 sahen viele eine Möglichkeit, gesellschaftliche Alternativen zu verwirklichen. Ende der 1960er Jahre wurden Kommunen genannte Lebensgemeinschaften gegründet, und wie bei der etwa 10 Jahre später einsetzenden Bewegung der landwirtschaftlichen Kooperativen oder der seit den 1970er Jahren aktiven Hausbesetzerszene ging es dort um „die Idee, über eigene befreite Räume zu verfügen,“398 um diese nach selbst gesetzten Kriterien zu gestalten. In Kapitel 2.2.2 wurde deutlich, dass AVL und N55 ebenfalls versuchen, von der Gesellschaft unabhängige Räume zu schaffen. Auch wurde bereits an verschiedenen Stellen erwähnt, dass einige der von den zeitgenössischen Gruppen vorgebrachten Kritikpunkte und entwickelten Alternativen bereits in der Kommunebewegung eine Rolle spielten. Innerhalb des vielfältigen Spektrums von kommuneartigen Zusammenschlüssen in den 1960er/1970er Jahren lässt sich das Projekt AVL-Ville vor

394 Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft (Hrsg.): Die deutsche Gartenstadtbewegung, S. 24. 395 Janos Frecot spricht von einer „Ambivalenz von regressiven und utopischrevolutionären Zügen“ (Frecot, Janos: Die Lebensreformbewegung, S. 139). 396 Frecot, Janos: Die Lebensreformbewegung, S. 143. 397 Voß, Elisabeth: Was ist eine Kommune?, S. 17. 398 Kurzbein, Uwe: Schrittweise. Geschichte der Kommunebewegung aus persönlicher Sicht, S. 58.

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allem mit größeren Kommunen vergleichen, die möglichst selbstversorgerisch leben wollten. Der Gedanke einer größtmöglichen Autonomie von der Umgebung war beispielsweise ein wichtiges Anliegen der von Otto Mühl initiierten Kommune. 1970 scharte der damals 45-Jährige zehn junge Kommunarden in einer Wohnung in Wien um sich, 399 doch schon im Sommer 1973 richtet die stark angewachsene Gruppe ihr Hauptaugenmerk darauf, den Fridrichshof, ein verfallenes Landgut im Burgenland, zu renovieren. 1971 hatte Mühl dargelegt, dass neue Lebensgemeinschaften auf Dauer nur auf dem Land, also abseits von allen schädlichen Einflüssen überleben könnten.400 Im Verlauf der folgenden Jahre wurden Brunnen gegraben, eine biologische Kläranlage und eine kleine Landwirtschaft aufgebaut und später auch eine eigene Schule für die in der Kommune geborenen Kinder eingerichtet. Die Mühl-Kommune hatte über 20 Jahre Bestand und zeitweise lebten auf dem Friedrichshof über 200 Erwachsene. 401 Trotz des sehr viel kleineren Maßstabes von AVL-Ville sind sich beide Gemeinwesen in ihrem Ringen um Autarkie ähnlich. Interessant ist ein Vergleich der beiden Gemeinschaften auch hinsichtlich der starken Stellung ihrer jeweiligen Gründer, die sich schon im Namen der Gruppen zeigt. Allerdings ist ein solcher Vergleich nur bis zu einem gewissen Punkt möglich. AVL-Ville mit seinen höchstens 30 Mitgliedern hatte nur ein knappes Jahr Bestand, wohingegen die Mühl-Kommune mit bis zu 200 Personen über 20 Jahre Zeit hatte, hierarchische Strukturen auszubilden. Außerdem wurde AVL-Ville von Anfang an als Kunstwerk wahrgenommen und stand im Fokus der Öffentlichkeit. Auch wenn vor allem in der Schlussphase von AVL-Ville sicher viele Schwierigkeiten im Zusammenleben auftraten, war das Projekt doch immer auch mit einer gewissen spielerischen Distanz seitens der Teilnehmer verbunden. Die Mitglieder von AVL erhielten darüber hinaus für die im Rahmen des Projekts AVL-Ville geleistete Arbeit Bezahlung und konnten die Gruppe jederzeit verlassen. Die Mühl-Kommune lebte stattdes-

399 Vgl. die Darst. in: Fleck, Robert: Mühl-Kommune, S. 9/10. 400 Vgl. Mühl, Otto in: „Zock-Manifest“ 1970, zitiert nach: Fleck, Robert: MühlKommune, S. 39. 401 Vgl. die Darst. in: Fleck, Robert: Mühl-Kommune, S. 181. Zusätzlich zu diesen Kommunen gab es noch mit dem Friedrichshof vernetzte Kommunen in verschiedenen Städten wie beispielsweise in Hamburg, Paris, Nürnberg, Bremen, Berlin und Oslo.

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sen phasenweise sehr abgeschieden und die Kommunarden kamen „kaum je mit der Umwelt in Berührung. […] Die Außenwelt gilt als bedrohlich und von ansteckenden Seuchen durchsetzt.“402 Für die Kommunen, die sich in dieser Zeit in den Städten bildeten, ging es weniger um Selbstversorgung im klassischen Sinn. Sie blieben im städtischen Umfeld und wollten zuerst am Individuum ansetzen, dessen Psyche sie durch die Konsumgesellschaft zerstört sahen. Erst danach könne man sich an den Aufbau einer gesellschaftlichen Alternative machen. Dieter Kunzelmann war 1967 Mitbegründer der in den Medien am meisten diskutierten neuen Lebensgemeinschaft, der Berliner Kommune I. Ein Jahr zuvor hatte er die „Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen“ veröffentlicht und damit einer in der außerparlamentarischen Opposition schon länger währenden Debatte Ausdruck verliehen. „Die Kommune ist nur dann fähig, systemsprengende Praxis nach außen zu initiieren, wenn innerhalb der Kommune effektiv die Individuen sich verändert haben und diese können sich nur verändern, wenn sie jene machen [sic],“ heißt es in dem Blatt. Kunzelmann führt weiter aus, was eine Kommune für ihn bedeutet. Es ist die „experimentelle Vorwegnahme dessen, was Menschsein in emanzipierter Gesellschaft beinhalten könnte.“403 Sowohl die Projekte von Atelier Van Lieshout als auch von N55 lassen sich mit dem Begriff der „systemsprengenden Praxis“ gut beschreiben. Es ist besonders die Herangehensweise der skandinavischen Gruppe, die sich in der Kunzelmann’schen Beschreibung wiederfindet. Auch bei ihnen gibt es dieses „dialektische Pendeln“ zwischen den zwei Polen: die Weiterentwicklung des einzelnen Menschen in seinem direkten Gruppenumfeld auf der einen Seite und die politische Aktion nach außen auf der anderen Seite. Dazu setzt N55 zunächst am Individuum an.404 Der Wille zum Handeln war beiden Formen des alternativen Lebens in den 1960er/1970er Jahren gemeinsam: „Nur wer es wagt Kritik an den bestehenden Verhältnissen in eine radikale Praxis umzusetzen, wird etwas verändern können.“405 Ulrich Enzensberger schreibt über die Gründungs-

402 Stoeckl, Peter: Kommune und Ritual, S. 16. 403 Kunzelmann, Dieter: Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen, S. 100. 404 Vgl. die Darst. in Kapitel 2.3.2. 405 Kommune 2: Versuch der Revolutionierung, S. 71.

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phase der Kommune I: „Das Wörtchen Praxis war das Schlüsselwort. […] Wir wollten etwas tun.“406 Das Hauptaugenmerk lag, anders als bei der Kommune 2, nicht auf der Arbeit innerhalb der Gruppe, sondern auf Aktionen nach außen. Nach dem Vorbild der niederländischen Provos, einer anarchistischen Protestbewegung, beschloss man, eine Art Guerillataktik anzuwenden:407 Ziel war es, eine Gruppe von Einzelnen zu bilden, die ständig in Bewegung und so für den „Feind“ nicht zu identifizieren war. Prägend für die zahlreichen „Aktionen“ und „Happenings,“408 die die Kommune 1 ausführte, war unter anderen Dieter Kunzelmann. Er war Mitglied der Münchner Gruppe Spur, der Situationistischen Internationalen und Mitbegründer der Münchner Subversiven Aktion, bevor er in die Kommune 1 zog. Er kannt daher die Taktik durch ständige Angriffe auf das alltägliche Leben409 die Menschen aus ihrem Trott zu reißen 410 und hatte Erfahrungen mit revolutionären Verfahrensweisen gesammelt, die zu einem „nouvel usage de la vie“411 führen sollten. In diesen Zusammenhang passt auch Otto Mühl. Er war in den 1960er Jahren die „zentrale Persönlichkeit im ‚Wiener Aktionismus‘“412 und die von ihm gegründete Kommune war laut Robert Fleck „ein Versuch, aus den formalen Prinzipien des Happenings eine neue Gesellschaftsordnung zu entwickeln.“413 Auch in der Mühl-Kommune arbeitete man daran, Kunst und Leben zu entgrenzen. 1975 äußert sich Mühl über die neue Rolle der Kunst: „in der kommunegesellschaft gibt es keine kunst und auch keinen künstler. kunst wird dort heissen: die kunst ein haus zu bauen, mit anderen zu arbeiten, zu leben, zu kommunizieren, die kunst sich in der wirklichkeit ununterbrochen selbst darzustellen. […] es stellt sich heraus, dass jeder

406 Enzensberger, Ulrich: Die Jahre der Kommune I , S. 85. 407 Vgl. die Darst. in: Enzensberger, Ulrich: Die Jahre der Kommune I, S. 94. 408 Die Mitglieder der Kommune 1 benutzen beide Begriffe, vgl. beispielsweise die Darst. in: Enzensberger, Ulrich: Die Jahre der Kommune I, S. 93, 99, 110, 113, 139. 409 Kotanyi, Attila; Vaneigem, Raoul sprechen von einer„invasion de toute la vie quotidienne“, in: Programme élémentaire, S. 17. 410 Manifeste, in: Internationale situationniste, Nr. 4, S. 38. 411 Critique de l’urbanisme, in: Internationale Situationniste, Numéro 6, S. 7. 412 Jappe, Elisabeth: Performance, Ritual, Prozeß, S. 193. 413 Fleck, Robert: Mühl-Kommune, S. 97.

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mensch zum künstler berufen ist, die gesamte erde mit allem was darauf ist ruft zur gestaltung auf.“414 Mit der Auffassung des Lebens als ein Material, das man bearbeiten kann, sind die hier beschriebenen Bewegungen der 1960er/1970er Jahre ein wichtiger Vorläufer der zeitgenössischen Künstlergruppen. Gerade die Formulierung Mühls, „dass jeder mensch zum künstler berufen ist,“ zeigt, dass sich die Kommunen trotz ihrer betonten Opposition zu größeren kulturellen Strömungen auf den von Joseph Beuys erweiterten Kunstbegriff beziehen. „Der Mensch, so wie er gegenwärtig ist, ist fähig, die Neuorganisation der Gesellschaft zu betreiben, wenn man ihn intensiv anstößt,“415 ist auch Beuys überzeugt. Viele der Kritikpunkte, die Beuys vorgebracht hat, sind ebenso bei Atelier Van Lieshout und N55 zu finden. Gemeinsam ist ihnen vor allem die Überzeugung, dass das Leben ein zu bearbeitendes Werk ist. Beuys’ Arbeit liegt folgende Frage zugrunde: „Wie kann jedermann, d. h. jeder lebende Mensch auf der Erde, ein Gestalter, ein Plastiker, ein Former am sozialen Organismus werden?“416 Die kritisierten gesellschaftlichen Verhältnisse bezeichnet Beuys als kristalline Strukturen und er beschreibt diesen Zustand allgemein als „Kälteplastik.“ Nur die kreative Teilhabe der Menschen kann diese erstarrte Welt in eine „Wärmeplastik“417 überführen. Um diesen Vorgang näher zu beleuchten, soll hier kurz auf die Arbeit Honigpumpe am Arbeitsplatz eingegangen werden, denn Beuys verstand sie „als bildhafte[s] Vorbild[] für eine soziale Aufgabe des Menschen.“418 Die Installation zeigte der Künstler erstmals 1977 während der documenta 6 im Museum Fridericianum in Kassel. Im Erdgeschoss des Gebäudes befand sich eine mit einem Elektromotor betriebene Pumpe, die 150 Kilogramm Honig durch ein Schlauchsystem in die verschiedenen Räume des Museums transportierte. Neben der Pumpe waren noch zwei weitere (in 100 Kilogramm Margarine liegende) Motoren zu sehen, die durch eine Kupferwel-

414 Mühl, Otto: Die Rolle des Künstlers in der KFG / Die Rolle des Künstlers in der Kommunegesellschaft, Typoscript, Mai 1975, zitiert nach: Fleck, Robert: Mühl-Kommune, S. 100. 415 Beuys, Joseph in: Interview mit Rainer Rappmann, S. 12. 416 Beuys, Joseph in: Interview mit Rainer Rappmann, S. 20. 417 Beuys, Joseph in: Interview mit Rainer Rappmann, S. 21. 418 Von Graevenitz, Antje: Ritual, in: Szeeman, Harald: Beuysnobiscum, S. 307.

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le miteinander verbunden waren. Bestandteil der Installation war auch der nahe an der Honigpumpe liegende Tagungsraum der „Freien Internationalen Universität für Kreativität und interdisziplinäre Forschung (FIU).“ Beuys hatte das Konzept für diese Institution erstmals 1972 vorgestellt. Sie sollte von der Gesellschaft kontrolliert und finanziert werden und neben das bisherige Schulsystem treten.419 Ziel war es, den Menschen jenseits von Konkurrenz und Leistungsdruck die Möglichkeit zum „großen Dialog, zur interfraktionellen, interdisziplinären und internationalen Kommunikation zwischen den alternativen Lösungsmodellen“420 zu geben. Während der documenta 6 organisierte die FIU zahlreiche Diskussionen und Vorträge zu verschiedenen Themen.421 Der Tagungsraum war wichtiger Teil der Installation und seine Zugehörigkeit wurde auch dadurch verdeutlicht, dass mehrere Meter der honigleitenden Schläuche an einer Wand des Raumes eine viellagige Spirale bildeten. „Dieses System stellt uns als die Schöpferzukunft dieser Welt dar,“ fasst Beuys die Arbeit Honigpumpe zusammen. Es ist „ein Abbild der menschlichen Kreativitätsebenen.“422 Die Pumpe mit ihrem Kreislaufsystem setzt er in Analogie zum menschlichen Organismus: Nach dem dreigliedrigen Menschen, mit dem sich Beuys seit den 1960er Jahren auseinandersetzte, lässt sich die Honigpumpe in drei Bereiche aufteilen: Den Kopfbereich bildet ein U-förmig ausgearbeiteter Schlauchteil am höchsten Punkt des Systems, direkt unter Lichtkuppel des Fridericianums. Hier ist „das Denken, die Form und das Bewusstsein“423 angesiedelt. Das sich durch das Gebäude windende Schlauchsystem sieht Beuys als „Zirkulationssystem,“424 also als eine Art Blutkreislauf, in dem „Austausch stattfindet.“425 In diesem Mittelteil konnte man als Betrachter die Bewegung des Honigs, auch sein zeitweiliges „rhythmisch[es]“426 Pulsieren verfolgen. Der Ma-

419 Vgl. die Darst. in: Szeemann, Harald: FIU, S. 156-161. 420 Beuys, Joseph: Aufruf zur Alternative. 421 Unter anderem wurde auch das Thema „Stadt-Kommune-Gemeinschaftsbildung“ diskutiert (Szeemann, Harald: FIU, S. 158). 422 Beuys, Joseph: Erläuterungen zur Honigpumpe, S. 37. 423 Loers, Veit; Witzmann, Pia: Honigpumpe am Arbeitsplatz, S. 161. 424 Beuys, Joseph: Erläuterungen zur Honigpumpe, S. 39. 425 Ebd. 426 Beuys, Joseph: Erläuterungen zur Honigpumpe, S. 37.

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schinenraum schließlich gleicht den „Füßen“ des menschlichen Körpers. Hier befindet sich der „energetische Willensbereich,“427 verdeutlicht durch die sich im Fett drehenden Motoren. In dieser Honigpumpe sieht Beuys also das „Bild des Menschen,“ aber gleichzeitig ist die Arbeit auch „ein Bild des sozialen Ganzen.“428 Der in den Schläuchen fließende Honig ist das „Ergebnis eines Arbeitskollektives […] in der Tierwelt.“429 Die kollektive Lebensform der Honigbiene, in der jedes Mitglied seine soziale Tätigkeit in den Dienst der Gemeinschaft stellt, ist in diesem Zusammenhang wichtig. Die beim menschlichen Organismus beobachtete Dreigliederung erkennt Beuys auch im gesellschaftlichen System, wobei er sich auf die Lehren Rudolf Steiners und die Schriften des Anthroposophen und Naturwissenschaftlers Wilhelm Schmundt bezieht. In einer Zeichnung von 1984430 hat Beuys diese Analogie festgehalten: Im Kopfbereich findet die „geistige Reflexion“431 statt, hier dringen auch neue Ideen in die Gesellschaft ein und werden verarbeitet. Mit dem mittleren Zirkulationssystem korrespondiert die Ebene des Rechts und im unteren Bereich ist die Wirtschaft verortet. Am rechten Bildrand schiebt sich der Begriff „Arbeit“ in das System. Er ist von einer Linie umgeben, deren zackige Kontur in alle Bereiche des dreigegliederten Ganzen reicht. Zu einer Wärmeplastik kann das verfestigte gesellschaftliche System nur werden, wenn alle Menschen mit ihrem schöpferischen Potential am Organismus arbeiten. Fast meint man, in den kleinen Punkten am rechten Bildrand die einzelnen Arbeiter zu erkennen, wie sie sich bereitmachen, um die drei Bereiche der Gesellschaft zu bereichern. Beispiel einer solchen Wärmeentwicklung ist der Tagungsraum der FIU, die im Rahmen der documenta selbst „als Honigpumpe“ auftritt. Um also die Honigpumpe zum Laufen zu bringen, um die kristallinen Gesellschafts-

427 Loers, Veit; Witzmann, Pia: Honigpumpe am Arbeitsplatz, S. 161. 428 Beuys, Joesph: Erläuterungen zur Honigpumpe, S. 37. 429 Beuys, Joseph, zitiert nach Loers, Veit; Witzmann, Pia: Honigpumpe am Arbeitsplatz, S. 163. 430 Beuys schuf die Zeichnung „Honigpumpe“ im Rahmen einer Aktion am 2. November 1984. Sie wurde 1985 als Siebdruck gemeinsam mit 15 Fotos der Aktion, einem Tonband mit Erläuterungen sowie einem Textheft in einer Kasette veröffentlicht. (Vgl. die Darst. in: Leutgeb, Doris: Honigpumpe). 431 Loers, Veit; Witzmann, Pia: Honigpumpe am Arbeitsplatz, S. 164.

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strukturen zu verflüssigen, muss jeder Einzelne sich als „Gestalter, ein Plastiker, ein Former am sozialen Organismus“ 432 begreifen. Trotz dieser grundätzlichen Gemeinsamkeiten gibt es auch Unterschiede zwischen Beuys’ Werken und den Arbeiten der zeitgenössischen Künstlergruppen: Die von Beuys geschaffenen oder benutzten Objekte sind nicht für den praktischen Gebrauch im Alltagsleben gedacht, selbst wenn es sich um eine Axt,433 ein Telefon434 oder eine Waschschüssel435 handelt. Beuys „lädt Objekte durch Kombination […], Kontextualisierung […] und Kompostition […] mit Bedeutung auf“436 und stellt so einen metaphorischen Bezug zwischen Objekt und Bedeutung her. Die Honigpumpe in Kassel wurde nicht hergestellt, um Honig von einem Ort zu einem anderen zu transportieren, sondern ist ein „visuell und sinnlich wahrnehmbares Zeichen.“437 Die von den zeitgenössischen Künstlergruppen entworfenen Objekte sollen dagegen ausdrücklich für alltägliche Verrichtungen genutzt werden. Ein Küchenelement ist hier zunächst einmal kein Zeichen, sondern eine Vorrichtung zum Kochen.438 Beuys arbeitete außerdem mit Institutionen zusammen und war an der Gründung größerer Zusammenschlüsse beteiligt, wie beispielsweise bei der Deutschen Studentenpartei, der FIU oder der Partei der Grünen. Die zeitgenössischen Künstlergruppen, besonders N55, gehen von kleinen Einheiten aus, denn in der Zusammenarbeit mit Institutionen sehen sie die Gefahr der Machtkonzentration. Auch von dem Künstlerbild, das Beuys als Heiler oder Schamane ausweist, haben sich die Mitglieder von N55 verabschiedet. Trotzdem aber kann man die Arbeiten von Atelier Van Lieshout und N55 als Versuch sehen, die von Beuys benannte „Kälteplastik“ in eine „Wärmeplastik“ zu überführen. Die zeitgenössischen Gruppen wollen ebenfalls die Betrachter aktivieren, sich bewusst an der Gestaltung

432 Beuys, Joseph in: Interview mit Rainer Rappmann, S. 20. 433 Im Rahmen der Arbeit Das Kapital Raum, 1970-77. 434 Im Rahmen der Arbeit Erdtelephon von 1968. 435 Im Rahmen der Arbeit Celtic + ~~ Zivilschutzräume von 1971. 436 Voigt, Kirsten Claudia: Wie wird man Revolutionär?, S. 344. 437 Loers, Veit; Witzmann, Pia: Honigpumpe am Arbeitsplatz, S. 157. 438 In einem zweiten Schritt werden diese Objekte auch bei den zeitgenössischen Künstlergruppen zu Zeugen einer von der realen Welt abgegrenzten Ebene. Aber der alltägliche Umgang mit den Objekten ist dennoch ein wesentlicher Schritt zum Verständnis der Arbeiten. Vgl. die Darst. in Kap. 2.4.2.

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des Lebens zu beteiligen, und weisen der Kunst damit einen gesellschaftsverändernden Anspruch zu. Damit knüpfen sie deutlich an den erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys an.

2.3

W IE WILL JEDER VON UNS LEBEN ? D IE E INBEZIEHUNG DES B ETRACHTERS

Praktisches Erarbeiten von alternativen Lösungen ist für die Künstlergruppen kein Selbstzweck. Die Mitglieder tragen nicht nur für die eigene Gruppe Sorge, sondern in der Gruppenstruktur selbst und in den von ihnen initiierten Projekten ist immer schon eine Beteiligung des Betrachters angelegt. Im Folgenden soll dargestellt werden, welche verschiedenen Formen des Kontaktes zwischen Ausgangsgesellschaft und utopischem Raum die Künstlergruppen entwickeln. 2.3.1 Kontakt zwischen utopischem Raum und Ausgangsgesellschaft Trotz der in Kapitel 2.3 beschriebenen Abgrenzung des utopischen Raumes, bemühen sich Atelier Van Lieshout und N55, ihre Gegenwelt in der Ausgangsgesellschaft zu verorten. Dazu gestalten die Gruppen die Grenze zwischen ihrem utopischem Raum und dem umgebenden Raum bewusst durchlässig und suchen den Kontakt zur Ausgangsgesellschaft. Die Mitglieder von AVL-Ville sind in ihrem Umgang mit der Ausgangsgesellschaft sehr flexibel und fast scheint es so, als wäre der Kontakt mit der Umgebung ein Spiel, das die Grenzen und Machtverteilungen zwischen dem so genannten „Freistaat“ und dem umgebenden Staat ausloten soll. So scheut sich die Künstlergruppe nicht, von Zeit zu Zeit einen offenen Konflikt mit den Vertretern des Staates auszufechten. Immer wieder wird die Arbeit des Ateliers gestoppt, weil keine Baugenehmigung für bestimmte Projekte vorliegt. Aus diesem Grund wurden zum Beispiel schon 1997 die Bauarbeiten an einem Anbau an das Centraal Museum in Utrecht unterbrochen.439 Auch durch die Produktion von Waffen gerät AVL immer wieder mit den Behörden in Konflikt. 1995 konfiszierten kanadische Zollbeamte

439 Vgl. die Darst. in: Allen, Jennifer: Up the Organisation, S. 105.

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eine vom Atelier selbst gefertigte Pistolet Poignée440 [Abbildung 7], und selbst wenn die Waffen – in die Gruppe der Kunstwerke eingeordnet – nicht eingezogen werden, können sie dennoch als Gefährdung eingestuft werden. Stolz verkündet man auf dem rückseitigen Buchdeckel des Katalogs zu der von AVL veranstalteten Ausstellung „the good, the bad + the ugly,“ dass der Bürgermeister von Rabastens diese Schau hatte schließen lassen, weil er sie „als Provokation des französischen Volkes und als Katalysator für Jugendkriminalität ansah.“441 Diese Reaktion seitens der Ausgangsgesellschaft wertet das Atelier also 1995 offensichtlich als Erfolg. Manchmal umgeht das Atelier aber auch die Bestimmungen, um einen offenen Konflikt zu vermeiden. Zu diesen Ausweichmanövern gehört beispielsweise die weiter oben schon beschriebene Entwicklung einer eigenen Währung in AVL-Ville, um die gesetzliche Regelungen für eine Alkohollizenz zu umgehen, oder das Entwerfen von mobilen Wohneinheiten, auf die die detaillierten Baubestimmungen der Behörden nicht angewendet werden müssen. Schließlich blickt AVL aber auch auf eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Institutionen der Ausgangsgesellschaft zurück. Der niederländische Staat unterstützte einige Projekte des Ateliers finanziell,442 und auch das Land, auf dem der „Freistaat“ errichtet wurde, stellte die Stadt (zunächst) zur Verfügung. Im Gegenzug hat sich AVL an den offiziellen Programmen im Rahmen der Feiern zu „Rotterdam als Kulturhauptstadt“ im Jahr 2001 beteiligt.443 Bei einigen Projekten kooperiert das Atelier mit den Behörden und holt sich im Vorhinein die benötigten Baugenehmigungen. Schließlich nimmt AVL auch an Ausstellungen in der ganzen Welt teil und arbeitet dann auf sehr fruchtbare Weise mit Museen und Kunstvereinen zusammen. Auf diese Verbindungen gehen auch die meisten öffentlichen Aufträge zurück, die AVL immer wieder erhält. Neben den temporären Ausstellungen stellen diese Arbeiten einen dauerhaften Austausch zwischen dem utopischen Raum und der Ausgangsgesellschaft dar.

440 Ebd. 441 Atelier Van Lieshout u. a. (Hrsg.): the good, the bad + the ugly. 442 In einem Gespräch äußert sich Joep van Lieshout: „Besides we’d never blow up any public buildings because the government gives us money.“ (van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 110). 443 Vgl. die Darst. in: Allen, Jennifer: Up the Organisation, S. 110.

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Kommunikation mit der umgebenden Welt ist auch für N55 wichtig. „[We] create significance in certain situations and that could be used for communication with other people,“444 erklärt Ion Sørvin. Im Gegensatz zu dem eher spielerischen Kräftemessen von AVL legt N55 genaue Rechenschaft über ihren Umgang mit der Ausgangsgesellschaft ab. Grundsätzlich sieht die Gruppe in Kunsthistorikern, Journalisten, Institutionen, Sammlern, Galerien und allen staatlichen Vertretern an Kunst interessierte Machtkonzentrationen, deren Einfluss kritisch hinterfragt werden muss. 445 Dennoch haben alle Mitglieder ihre Ausbildung an einer staatlichen Kunsthochschule erhalten und arbeiten im Rahmen von Ausstellungen natürlich auch mit diesen „Machtkonzentrationen“ zusammen. Dieses Verfahren nennen sie „to work on the edge of institutions,“446 und es soll ihrer Arbeit einen größeren Wirkungskreis erschließen. Sie erklären: „To work with [art institutions] is of course a problem. But if we manage to create meaningful situations even in the frame of an institution, we are minimizing the influence of institutions. But the basis of our life must be outside and self-made.“447 Sie unterscheiden also zwischen dem Lebensmittelpunkt, der innerhalb der unabhängigen Gegenwelt liegt, und der Vermittlung dieses utopischen Raumes, bei dem man sich der Strukturen der Ausgangsgesellschaft bedienen muss, um wirken zu können. Hier zeigt sich ein Unterschied zu vielen Protestgruppen, die zwar ähnliche Ziele verfolgen wie N55 und AVL, aber dabei außerhalb des Systems der sie umgebenden Welt operieren, ja noch nicht einmal Kontakt mit sozialen Organisationen pflegen wollen, die ihrerseits vom Staat unterstützt werden. Saskia Poldervaart untersuchte solche Gruppen in den Niederlanden und stellte fest, dass die Szene der „Do-itYourself-politics“448 äußerst aktiv ist, aber kaum jemand von ihrer Existenz weiß, weil sie mit ihrem alternativen Lebenskonzept im Untergrund bleibt und keine Anhänger gewinnen möchte.449 Atelier Van Lieshout und N55 haben sich im Gegensatz dazu entschieden, ihre alternativen Lösungsansät-

444 Sørvin, Ion: Gespräch mit der Autorin. 445 Vgl. N55: Intro. 446 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 447 Ebd. 448 Poldervaart, Saskia: Utopian Aspects of Social Movements, S. 144. 449 Vgl. die Darst. in: Poldervaart, Saskia: Utopian Aspects of Social Movements, S. 152.

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ze der Ausgangsgesellschaft zu vermitteln und aus diesem Grund auch mit staatlichen Institutionen zu kooperieren. Abbildung 25: N55: Snail Shell System, Installationsansicht St. Gallen 2002

Aber die Zusammenarbeit mit Institutionen ist nur eine Möglichkeit der Kommunikation, die die beiden Gruppen gefunden haben. Manchmal sprechen sie den Betrachter ohne die Vermittlungsstation eines Museums direkt an. In der Zeit seines neunmonatigen Bestehens haben nach Aussagen Joep van Lieshouts circa 12 000 Menschen den „Freistaat“ am Hafen von Rotterdam besucht.450 Darunter waren auch zahlreiche Journalisten, die in Kunstzeitschriften und Tageszeitungen über den „Freistaat“ berichteten. Jeder Interessierte kann sich auch unabhängig von der Presse über die niederländische Künstlergruppe informieren, denn sie pflegen eine ausführliche Website im Internet.451 Auch N55 versucht, den Betrachter möglichst direkt zu erreichen. Das Snail Shell System hat N55 zu verschiedenen Anlässen im öffentlichen Raum vorgestellt, wie beispielsweise 2002 anläßlich einer Ausstellung in der Kunsthalle St. Gallen [Abbildung 25]. Auch das von N55 entworfene Spaceframe am Hafen von Kopenhagen wird, wie AVL450 Van Lieshout: Vortrag im Kunstverein Köln, 2004. 451 www.ateliervanlieshout.com.

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Ville, von vielen Menschen besucht. 2003 hat die Künstlergruppe zusätzlich 24 Tonnen Sand neben dem Wohnmodul aufgeschüttet, um eine Art Strand zu schaffen und so den vorher etwas sterilen Ort zu einem „local meeting point“452 auszubauen, wie es in den „N55 News“ auf der Homepage von N55 heißt. Hier gibt es auch Fotos, die belegen, wie dieser Ort von der Bevölkerung angenommen wird. Offensichtlich ist es N55 wichtig, zu zeigen, dass ihr utopischer Raum in der Ausgangsgesellschaft verankert ist. Neben den „News,“ die von Zeit zu Zeit über neue Projekte der Gruppe unterrichten, enthält die Seite unter der Rubrik „Manuals“ eine Beschreibung aller Projekte der Gruppe. Sehr ausführlich wird das jeweilige Projekt mit Texten, Fotos, technischen Detailzeichnungen und einer Liste von Materialien vorgestellt und in verschiedenen Gebrauchssituationen gezeigt. Im Gegensatz zur Seite von Atelier Van Lieshout, auf der eher das Bild vorherrscht, finden sich auf www.n55.dk aber vor allem theoretische Überlegungen, die N55 allen ihren Werken zugrunde legt. Außerdem informiert eine umfangreiche E-Mail-Korrespondenz der Gruppe mit unterschiedlichen Gesprächspartnern über zahlreiche Themen. 2004 ist der Großteil der auf der Homepage befindlichen Informationen zusätzlich auch als Buch herausgegeben worden, so dass man sich auch ohne Zugang zu einem mit Internetanschluss ausgestatteten Computer über die Projekte von N55 informieren kann. Getreu dem Ziel der Gruppe, dass Wissen jedem Menschen frei zugänglich sein soll, ist eine digitale Version des „N55 Book“ kostenlos im Internet verfügbar. Die Nazarener versuchten in Rom ebenfalls, ihre Kunst aus dem privaten oder höfischen Raum in der Öffentlichkeit zu verankern. Johann David Passavant, ein früher Weggefährte der Nazarener, legt dar, dass die „Kunst aus dem Volke gewachsen und für das Volk bestimmt“ sei. 453 Ähnlich äußert sich Julius Schnorr von Carolsfeld in einem Brief an seinen Vater. Die Kunst, die ihm vorschwebt, ist eine „Königin und Göttin im Volk, aber als eine Göttin wie Ceres, die das Volk belehrte und beglückte. Sie zeigt ihm

452 N55: News, Oktober 2003. 453 Ziemke, Hans-Joachim über Johann David Passavant und sein 1820 erschienes Buch „Ansichten über die bildenden Künste und Darstellung des Ganges derselben in der Toscana“ in: Die Anfänge in Wien und in Rom, in: Gallwitz, Klaus (Hrsg.): Die Nazarener, S. 54. Zur Gruppe der Nazarener vgl. auch die Darst. auf auf den S. 93-96.

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seine Geschichte, die Thaten seiner Väter und entflammt es zu edlem Streben, führt die heiligen Geschichten vor seine Augen und malt ihm in ergreifenden Bildern die heilige Botschaft.“454 Die Kartons, die im Rahmen der Arbeiten an den Fresken in der Casa Barholdy entstanden, behandelten die beteiligten Künstler auch weniger als vorbereitende Zeichnungen, sondern als eigenständige Werke, die sie nach Deutschland schickten, um so einem größeren Publikum „die Erneuerungsbestrebungen des Bundes“ 455 bekannt zu machen. Manfred Jauslin erkennt in den Arbeiten der Nazarener allgemein eine „Funktionalisierung für kunstexterne Zwecke.“456 2.3.1.1 Grundlagen der zeitgenössischen Entwürfe Atelier Van Lieshout und N55 nutzen also vielfältige Formen des Kontaktes zwischen dem utopischen Raum und der umgebenden Welt. Das zeigt, dass die Gruppen ihre alternativen Lösungen für kritisierte Entwicklungen in der Gesellschaft nicht ausschließlich für sich erarbeiten wollen, sondern dass sie ihre Gegenwelt bewusst in der Ausgangsgesellschaft verorten. Der utopische Raum besteht nicht losgelöst von seiner Umwelt, sondern ist wechselseitig auf sie bezogen. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie genau die Künstlergruppen in den von ihnen initiierten Projekten eine Beteiligung des Betrachters anlegen. Dazu soll zunächst auf die Gestaltung des utopischen Raumes eingegangen werden, denn aus dieser Formgebung lassen sich Grundsätze ableiten, auf denen die einzelnen Entwürfe des utopischen Raumes beruhen. Weiter oben wurde das Thema der Gestaltung des utopischen Raumes bereits in verschiedenen Zusammenhängen gestreift. Dabei ging es um die Frage, wie der Raum innerhalb der Gegenwelt im Einzelnen organisiert und genutzt wurde und welche Kritik an der Ausgangsgesellschaft durch diese Neuordnung des Raumes geübt wurde. In diesem Kapitel sollen nicht mehr die einzelnen Entwürfe untersucht werden, sondern die Gestaltung der Gegenwelt als Ganzes betrachtet werden. Diese neue Fragestellung verdeutlicht ein Beispiel aus dem Kapitel „Lebensweise“ (ab S. 88): Hier wurde beschrieben, dass die von den Künstlergruppen entworfenen Betten von einer variablen Anzahl von Menschen benutzt werden können und dass diese Flexibilität eine Kritik an den starren

454 Schnorr von Carolsfeld, Julius: Brief an seinen Vater, S. 407. 455 Büttner, Frank: Die römischen Freskenzyklen der Nazarener, S. 284. 456 Jauslin, Manfred: Die gescheiterte Kulturrevolution, S. 68.

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Gemeinschaftsmodellen der Ausgangsgesellschaft bedeutet. Trotz gleicher Kritik und ähnlicher Gegenvorschläge sehen die Entwürfe aber sehr unterschiedlich aus. N55 entwirft dreieckige Bettmodule aus Aluminium und Polyethylenschaum wohingegen AVL für jede Situation einen anderen Vorschlag macht: Neben dem offenen Bedroom [Abbildung 18] gibt es runde, in reinem weiß gehaltene Schlafhöhlen oder geschlossene rechteckige Elemente.457 Im Folgenden geht es also um die Frage, wie sich dieser Gegensatz in der Gestaltung erklären lässt, obwohl die grundsätzlichen Ideale innerhalb der Gegenwelt bei beiden Gruppen ähnlich sind. N55 entwickelt für die verschiedenen Bedürfnisse des alltäglichen Lebens eine Lösung, die dann in allen Situationen von allen Menschen gebraucht werden kann. Die dreieckigen Bettmodule können im N55 Spaceframe ebenso ausgelegt werden wie in einer Etagenwohnung oder in einem Zelt. Auch das Hygiene-System [Abbildung 23] ist an jedem beliebigen Ort einsetzbar. Darüber hinaus sind viele Objekte aus den gleichen Grundelementen zusammengesetzt. Das Dreieck kehrt außer in den Bettmodulen als Grundform eines Tisches, in den Küchenelementen und in dreidimensionaler Form als Raumfachwerk für die Platforms, das Spaceframe, die Public Things und eine Stuhlkonstruktion wieder. Die meisten Gegenstände bestehen auch aus den gleichen Materialien. Rostfreier Stahl, Plexiglas, schwarzer Polyethylenschaum und weiße Kunststofftanks bilden das Grundgerüst der meisten Objekte. Durch die Verwendung immer gleicher Grundelemente und den Einsatz „industrieller“ Materialien wirken die Arbeiten von N55 oft kühl, keimfrei und überaus funktional. Die Hydroponic Units [Abbildung 22] könnten auch Versuchsanordnungen aus einem chemischen Labor sein, und das Spaceframe [Abbildung 8] mit seiner glatten glänzenden Oberfläche „looks like a NASA invention that’s just dropped from the moon onto the Copenhagen harbour front.“458 Jedes Objekt strahlt eine Atmosphäre wissenschaftlicher Perfektion und Rationalität aus und scheint einer futuristischen industriellen Produktion zu entstammen. Die räumliche Gestaltung von N55 beruht also auf Lösungen, die universal einsetzbar sind und in ihren wiederkehrenden Grundelementen und Materialien keine Spuren individuellen Arbeitens zeigen. Um diesen Um-

457 Schlafkugel des Mobile Home for Kröller-Müller (1995) und SchlafzimmerSlave-Unit von 1992. 458 Larsen, Lars Bang: On the N55 Spaceframe, S. 65.

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gang mit dem utopischen Raum besser einordnen zu können, muss auf die Theorien des dänischen Philosophen und Physikers Peter Zinkernagel eingegangen werden, mit dem N55 vier Jahr lang eng zusammenarbeitete. 459 Seine Theorien verstehen N55 als Grundlage ihrer Werke. Zinkernagel sucht nach einer epistemologischen Basis, von der aus ein rationaler Gebrauch von Sprache möglich ist. Ausgangspunkt sind dabei erkenntnistheoretische Überlegungen, die Nils Bohr im Zusammenhang mit dem Problem der Beschreibung in der Physik angestellt hatte. Wie schon Ludwig Wittgenstein wendet sich Zinkernagel dem Gebrauch der Alltagssprache zu, denn in ihren linguistischen Regeln erkennt er eine Logik, die er „conditions for description“460 nennt. Er beschbreibt sie als ein Satz von notwendigen, aber nicht vollständig umfassenden Regeln, die jenseits der (aristotelischen) formalen Logik bestehen. Mit ihrer Hilfe will Zinkernagel eines der grundlegenden Probleme lösen, das in der Philosophie seit Jahrhunderten bearbeitet wird: „Wie können wir mit Sicherheit annehmen, dass es eine Welt gibt, die unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung existiert?“461 Zinkernagel führt aus, dass schon die Fragestellung in eine falsche Richtung führe: „Philosophy, by concentrating effort on issues of language, overlooked that there is a necessary relation between person and body, and that by questioning the material reality overlook the fact that persons have bodies that exist in the same reality, more precicely in concrete situations. And that every postulate is necessarily about reality.“ 462 Diese elementaren, notwendigen Beziehungen zwischen verschiedenen Faktoren bezeichnet der dänische Philosoph als „fundamentales Naturgesetz,“463 weil sie zwar nicht begründet, aber auch nicht verneint werden können. Zinkernagel erkennt

459 N55 lernte die Theorien Zinkernagels zunächst über ein Buch kennen, das sich dem Dialog zwischen Nils Bohr und Albert Einstein widmete. Zinkernagels Definition der Logik wurde in diesem Zusammenhang erwähnt. Die darauffolgende Zusammenarbeit zwischen N55 und Zinkernagel führte zu zahlreichen Ergebnissen wie beispielsweise dem Text „Art and Reality“ (vgl. Sørvin, Ion: Gespräch mit der Autorin). 460 Zinkernagel, Peter: Conditions for Description. Vgl. auch die Darst. in: Zinkernagel, Peter: 2000 Years fo fallacies. 461 N55 in: Zinkernagel, Peter: 2000 Years of fallacies (eigene Übersetzung). 462 Zinkernagel, Peter: 2000 Years fo fallacies. 463 Ebd.

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Beziehungen zwischen Sprache und Realität, zwischen Personen und ihrem Körper, zwischen Personen und Situationen und zwischen Personen und ihren Rechten. Würde man die Beziehungen zwischen diesen Faktoren verneinen, dann wäre ein rationaler Gebrauch der Sprache nicht möglich und man könnte auch sein Handeln nicht auf eine wirklich objektive Basis stellen, so Zinkernagel. Er betont, dass die logische Beziehung zwischen Faktoren keine Definitionen sind. Sie könne beispielsweise nicht sagen, was genau eine Person oder ein Körper ist; sie könne auch nicht festlegen, welche Rechte genau ein Mensch hat. Durch die Beachtung der logischen Beziehungen wisse man nur, dass eine Person einen Körper und bestimmte Rechte hat. Es gibt also laut Zinkernagel ein Wissen, das nicht von subjektiven Meinungen abhängt, sondern das von jedem Menschen auf einer sehr elementaren Ebene der Wahrnehmung als richtig erkannt werden kann und immer Gültigkeit besitzt. Dieses „conditions for description“ sichtbar zu machen, ist das Ziel von N55: „When you start discovering what you can learn from language, a whole new world opens up in the sense that you can understand things in very, very different way. […] Whenever I stumble over something that I cannot deny in a meaningful way – that is really interesting, because it means that it is right,“464 erklärt Ion Sørvin. Einer solchen Erkenntnis verdankt sich auch eine der wichtigsten Regeln, die N55 in dem „Intro,“ dem einleitenden Text auf ihrer Homepage, aufstellt: „It is clear that persons should be consciously aware of the rights of persons and therefore must seek to organize the smallest concentrations of power possible.“ 465 Der erste Teil des Satzes beschreibt die von Zinkernagel festgestellte elementare Beziehung zwischen Personen und Rechten einer Person. Davon ausgehend können dann Grundsätze abgeleitet werden, die N55 als „fundamental ethical norm[s]“466 bezeichnet, wie es der zweite Teil des Satzes tut. Die Beziehungen zwischen verschiedenen Faktoren sind also nicht nur im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Debatte wichtig, sondern sie sind auch auf einer ethischen Ebene entscheidend. „Logical relations,“ so N55, sollten die Grundlage einer jeden politischen Entscheidung sein:467 „We are

464 Sørvin, Ion in: Gespräch mit der Autorin. 465 Ebd. 466 N55: Intro. 467 N55 in: Manual for N55.

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trying to create situations, with a concrete and fundamental significance to daily life, which at the same time have aesthetic and ethical consequences.“468 Auf einer grundsätzlichen Ebene knüpft die Gruppe an moderne Bewegungen an und setzt sich damit von Theorien ab, die von einem vielfältigen Nebeneinander subjektiver Meinungen und Werte ausgehen. Auf einer zweiten Ebene aber will N55 plurale Entwürfe ermöglichen. In den „logical relations“ sieht N55 zwar ein objektives Wissen, die Ausformulierung der daraus folgenden praktisch-moralischen Normen sollen aber von jedem Einzelnen entwickelt werden. „What I am trying to do is to understand how language works and the basic way how I have to think when I want to think in a rational way. That is very different from reinforcing any kind of ideology, its trying to understand nature,“469 betont Ion Sørvin. Würde man den Menschen vorschreiben, wie sie genau leben sollten, dann würde man den Bereich des objektiven Wissens verlassen und stattdessen Ideologien entwickeln: „That’s not for me to decide how people should live. I am suggesting that this is the way it should be, if you want to do things in a way that makes sense. But I am not telling anybody to do something differently.“ 470 Alle Arbeiten von N55 beruhen also auf immer gültigen Grundsätzen und sollen die der Sprache impliziten Regeln sichtbar machen. So wie die Grundsätze auf objektiven und von jedem Menschen als richtig erkennbaren logischen Beziehungen beruhen, können auch die Objekte von N55 von jeden Menschen zu jeder Zeit in jeder Situation benutzt werden. Individuelle Bearbeitungsspuren würden dagegen auf eine bestimmte Person verweisen, die ein Objekt zu einer bestimmten Zeit und zu einem bestimmten Zweck hergestellt hat. Das ist ein Grund für die kühle wissenschaftliche Wirkung der Arbeiten. N55 nutzt geometrische Entwurfsprinzipien auch aus ökonomischen Gründen. Der Entwurf und der Bau von runden Oberflächen sind teurer als die Herstellung zweier Dimensionen, die dann zu drei Dimensionen zusammengesetzt werden. Es ist ebenfalls günstiger, Elemente gleicher Bauart herzustellen, die modulartig verbunden werden können. Außerdem bietet eine solche Konstruktionsmethode auch die Möglichkeit zur Kommunikation: „People notice things with visible and simple con-

468 N55: Intro. 469 Sørvin, Ion in: Gespräch mit der Autorin. 470 Ebd.

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structions and they can see that it is a very basic way of solving a problem.“471 Der wichtigste Grund aber für die Gestaltungsweise der N55Objekte ist der Versuch, „to understand nature.“472 Viele historische Utopieentwürfe gehen ebenfalls von „grundsätzlichen Wahrheiten“ aus, die sich in der Gestaltung des utopischen Raumes nach geometrischen Prinzipien widerspiegeln. Die räumliche Organisation der literarischen Utopien der frühen Neuzeit ist eng mit dem gesellschaftlichen Ideal von Gleichheit, Gemeinschaft und Sicherheit verbunden. Die Städte der Gemeinwesen zeichnen sich durch einen geometrischen Grundriss aus, ob er nun als Quadrat ausgebildet ist473 oder der Kreisform folgt.474 In Morus’ „Utopia“ ist nicht nur die Binnenstruktur der einzelnen Städte gleich, auch alle Häuser sind nach einer Art Generalplan errichtet. Der Raum wird damit zu einer „Veranschaulichung abstrakter Werte und Einrichtungen,“475 die eine universale Gültigkeit besitzen. Daher hat sich in diesen Utopien die Bebauung der Städte auch nicht organisch entwickelt, sondern war von Anfang an als richtige und vollkommene Raumorganisation vorgegeben. Die meisten utopischen Romane zur Zeit der Aufklärung sehen in der Rückkehr zu den „Gesetzen der Natur“ die Grundlage eines idealen Gemeinwesens. Weil sie davon ausgehen, dass alle Bewohner dieser natürlichen Ordnung zustimmen, prägt auch hier geometrische Gleichförmigkeit den Städtebau, die Architektur und die Lebensweise. 476 Die Hermaphroditen in Gabriel de Foignys „La terre Australe“ von 1676 bei-

471 Ebd. 472 Ebd. 473 Zum Beispiel die Stadt Amaurotum auf der Insel Utopia (vgl. die Darst. in: Morus, Thomas: Utopia, S. 51) oder Christianopolis in Johann Valentin Andreaes Utopie. 474 Eine Radialform beschreibt beispielsweise Campanella im Sonnenstaat (vgl. Campanella, Tommaso: Sonnenstaat, S. 117/118), und auch Kaspar Stiblins Idealstadt ist auf der Grundform des Kreises errichtet. 475 Rahmsdorf, Sabine: Stadt und Architektur, S. 289. 476 Es gibt unter den Utopien der Aufklärung allerdings auch eine anarchistische Linie, die sich zwar ebenfalls auf die alle Menschen verbindende Natur beruft, aber im Gegenzug alternative Welten entwickelt, bei denen es zu einer „Naturalisierung der Lebens- und Wohnformen“ kommt (Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, S. 100).

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spielsweise leben nicht nur in 15 000 Ortschaften, die einander völlig gleichen, sondern sie haben sogar die Landschaft nach diesem Ideal gestaltet und sämtliche das Ebenmaß störenden Berge eingeebnet. In ÈtienneGabriel Morellys 1755 erschienenen „Gesetzbuch der Natur“ leben alle Bewohner nach einem streng reglementierten Tagesablauf und die Gleichheit der Bürger spiegelt sich in der geometrischen Anlage der gesamten Stadt und der einzelnen Gebäude wider.477 In den Architekturentwürfen, die zur Zeit der französischen Revolution entstanden, bleibt „das ordnende und gesellschaftskonstituierende ‚Prinzip Geometrie‘“478 von Bedeutung. Die Natur als Grundlage der Freiheit eines jeden Menschen wird die maßgebende Größe der Ethik, und so suchte man auch in der Architektur nach „natürlichen,“ „reinen“ und „objektiven“479 Gestaltungsprinzipien. Auf der einen Seite sollen die Formen der Gebäude aus der Natur – auch der menschlichen Natur – abgeleitet werden, auf der anderen Seite soll aber diese Architektur wiederum „aktiv […] auf die bürgerliche Gesellschaft“480 wirken und dabei nicht nur eine gebildete Schicht ansprechen, sondern alle Menschen einbeziehen. „Eine an geometrischen Formen orientierte Stadt- und Besiedlungsplanung“ entspricht auch in vielen Utopien des 19. Jahrhunderts „der Phänomenologie des idealen Gemeinwesens.“481 So ist die Hauptstadt in Étienne Cabets „Ikarien“ nach streng geometrischen Mustern konstruiert und sogar einzelne Straßen oder Häuser folgen diesem Prinzip sehr gewissenhaft.482 Auch in vielen Projekten der klassischen Avantgarde suchte man nach Formen überindividueller Gültigkeit. In den Schriften der Gruppe De Stijl beispielsweise, so hat Roland Günter festgestellt, taucht immer wieder die Forderung nach dem „Elementaren“ als „Überwindung des Individuellen“483 auf. Dies zeigt sich

477 Vgl. die Darst. in: Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, S. 101. 478 Nerdinger, Winfried; Philipp, Klaus Jan: Revolutionsarchitektur, S. 22. 479 Nerdinger, Winfried; Philipp, Klaus Jan: Revolutionsarchitektur, S. 25. 480 Nerdinger, Winfried; Philipp, Klaus Jan: Revolutionsarchitektur, S. 30. 481 Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, S. 167. 482 Vgl. die Darst. in: Cabet, Étienne: Die Reise nach Ikarien. Es gibt im 19. Jahrhundert natürlich auch Utopien, in denen geometrische Prinzipien in der Stadtplanung und Architektur keine Rolle spielen. Vgl. z. B. Edward Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 oder Morris, William: Kunde von Nirgendwo. 483 Günter, Roland: Die holländische De Stijl-Gruppe, S. 164.

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nicht nur in den philosophischen Konzepten der Gruppe, sondern auch in der Gestaltung der Umwelt, wie sie beispielsweise der Architekt J. J. P. Oud plante. Sein Entwurf für eine Häuserreihe am Meer von 1917 schlägt eine „uniforme Blockgestaltung“ mit Wohnungsgrundrissen nach einem „gleichförmigen Standard“484 vor. Oskar Schlemmer, Lehrender am Bauhaus, benutzt den Begriff des Elementaren ebenfalls, obgleich es ihm weniger um Überwindung des Individuellen als vielmehr um einen Ausgleich zwischen dem Individuellen und dem Elementaren geht. Die Formen von Schlemmers menschlichen Figuren sind aus der Natur abgeleitet und lassen zugleich eine „auf Allgemeinheit zielende Typenbildung“485 erkennen, die er selbst als „das Elementare im Figürlichen“486 charakterisiert. Vor allem unter Hannes Meyer gab es am Bauhaus Versuche, Kataloge von menschlichen Bedürfnissen zu entwickeln, die dann in verallgemeinerter Form die Grundlage des Entwurfsprozesses bilden sollten. Meyer erklärt dazu: „unter ‚ARCHITEKTUR‘ verstehe ich die kollektivistische oder unter ausschluß des persönlichen erfolgende deckung aller lebensbedürfnisse.“ 487 Auch seine Neuordnung der inneren Strukturen des Bauhauses war getragen von der Idee einer Zusammenarbeit in Kollektiven. Auf sehr pragmatische Art zeigt sich dieses Denken in überindividuellen Zusammenhängen bei den Standardisierungsprozessen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nehmen. Vom DIN A4-Blatt bis zum Transportcontainer bestimmt die Idee der Rationalisierung und Normierung bis heute unsere Welt. Auch sie beruht auf dem Gedanken, dass es Maßstäbe gibt, die allgemeingültig vorgeschrieben werden können da sie für alle Menschen gelten. Viele Vertreter des russischen Konstruktivismus schließlich gingen davon aus, dass eine Neuordnung der Welt „in Übereinstimmungen mit den Strukturgesetzen der Natur“488 verlaufen müsse und suchten daher nach Bildstrukturen, die diesen grundsätzlichen Aufbau widerspiegeln sollten. Das Ergebnis der Suche nach „Zeichen einer neuen Welt“489 sind geometrische Grundformen wie zum Beispiel die gedrehte Spirale oder Ableitungen wie die Hyperbel

484 Stamm, Günther: J. J. P. Oud. Bauten und Projekte, S. 37. 485 Kirchmann, Kay: Oskar Schlemmer, S. 285. 486 Schlemmer, Oskar: Gestaltungsprinzipien, S. 79. 487 Meyer, Hannes: Curriculum Vitae, S. 14. 488 Gaßner, Hubertus: Utopisches im russischen Konstruktivismus, S. 55. 489 Lissitzky, El: Der Suprematismus des Schöpferischen, S. 20.

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oder die Unendlichkeitsschlaufe. 490 Oft suchten die Künstler dabei die Nähe zu wissenschaftlichen Forschungen, weil sie die Formulierung objektiver Gesetzmäßigkeiten besonders interessierte. Rodschenko schreibt dazu 1921: „Die Konstruktion ist die Weltanschauung unserer Epoche. Die Kunst ist – wie jede Wissenschaft – ein Zweig der Mathematik.“491 Die Gestaltung von AVL-Ville geht dagegen nicht von „geometrischen Prinzipien“ aus, sondern entwirft für jede Situation und jeden Auftraggeber neue Pläne. Zwar stimmt AVL in der Forderung nach Flexibilität mit N55 überein, aber diese Prämisse wird nun in verschiedene Entwürfe übertragen, anstatt einen Entwurf auf jeden Einzelfall anzuwenden. Das Modular Multi-Woman Bed von 1998 benutzt die klassischen Formen eines einfachen Bettes oder Etagenbettes und wird nur in der Größe verändert. Die Schlafkugel des Mobile Home for Kröller-Müller [Abbildung 26] dagegen löst sich von der konventionellen rechteckigen Grundform und wirkt wie eine heimelig-kuschelige Höhle, während die Schlafzimmer-Slave-Unit von 1992 einen eckigen Grundriss hat. Auf der Zeichnung Bedroom [Abbildung 18] wurde das Bett zu einem kombinierten Wohn-, Schlaf- und Essraum erweitert und ermöglicht so neben einer variablen Gemeinschaftsgröße auch eine flexible Nutzung des Schlafraumes. Jeder dieser Entwürfe hat seine eigene Form und auch die Materialien und die Farben sind sehr unterschiedlich. Das Modular Multi-Woman Bed ist aus unbehandeltem Holz hergestellt, die Schlafkugel besteht aus glasfaserverstärktem Polyurethanschaum und die Slave-Unit wird von Wellblech ummantelt. In einigen Mobile Homes finden auch Schlangenleder, Fell, Gold oder verschiedene hochflorige Stoffe Verwendung. Alle Objekte des Ateliers funktionieren ebenso einwandfrei wie die Arbeiten von N55, aber sie erinnern dennoch nicht an maschinelle Produktion. Selbst dort, wo mit künstlichen Materialien gearbeitet wird, bleibt der Eindruck des organisch Gewachsenen. Die Schlafkugel beispielsweise hat von außen eine gelbe, unregelmäßig blasigeStruktur [Abbildung 17], und das Innere der Slave-Unit des Cast Mobil erinnert trotz der künstlichen Materialien und der kühlen Farbgebung in ihrer runden Form eher an handwerklich hergestellte Taucherglocken vom vom Anfang des 20. Jahrhunderts als an sterile Laborräume. Verstärkt wird

490 Vgl. die Darst. in: Gaßner, Hubertus: Utopisches im russischen Konstruktivismus, S. 57. 491 Zitiert nach: Gaßner, Hubertus: Alexander Rodschenko, S. 63.

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Abbildung 26: Atelier Van Lieshout: Mobile Home for Kröller-Müller, 1995 (Innenansicht mit Blick in das Bettelement)

dieser Eindruck durch die Wirkung der Oberflächen. Zwar ist Polyester ein künstliches Material, aber die zur Verstärkung eingesetzte Glasfaser sorgt für eine feine und unregelmäßige Struktur, so dass eine andere Gesamtwirkung ensteht als bei der Fassade des N55 Spaceframe [Abbildung 8]. Auch wenn sich Joep van Lieshout mit seinen frühen Skulpturen aus standardisierten Industrieprodukten wie Bierkästen oder Gehwegplatten und seinen Möbelkollektionen mit den Prinzipien serieller und unlimitierter Fertigung auseinandergesetzt hat, wirken die Mobile Homes wie die Ergebnisse eines versierten Heimwerkers, der moderne Techniken und Materialien ebenso anwendet wie die traditionelle Holzkonstruktion. Die durch Form, Farbgebung und Material vielfältig wirkende Raumgestaltung von Atelier Van Lieshout ist Ausdruck einer Grundeinstellung, die Joep van Lieshout in einer Wortneuschöpfung als „Solvism“ bezeichnet. Er führt weiter aus: „Pragmatism would be the correct term, but it’s more about finding solutions and solving problems.“ 492 Ist die Schlafkugel für ein Mobile Home die richtige Lösung, kann das Gemeinschaftsbett mit einer variablen Raumnutzung für ein größeres Haus die bessere Variante sein. Ist 492 Van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 108.

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Holz für das ModularMulti-Woman Bed das einfachste und billigste Material, kann für ein anderes Projekt der leichte Polyurethanschaum passender sein. Für AVL sind die Wünsche und Bedürfnisse einzelner Menschen und die Anforderungen verschiedener Situationen die Grundlage der Entwürfe. Dabei versuchen sie, jedes Problem einzeln zu lösen und kümmern sich nicht um den Gesamteindruck ihrer Objekte,493 die von außen oft wie ein inhomogenes Flickwerk wirken. 2.3.2 Funktion des utopischen Raumes Die aus geometrischen Grundelementen zusammengesetzten Entwürfe von N55 thematisieren mit ihrer universal kühlen Ausstrahlung für alle Menschen verbindliche Grundsätze, die dann vom Individuum zu ethischen Normen weiter entwickelt werden können. Die skandinavische Gruppe fragt nach dem richtigen Handeln zunächst auf einer grundsätzlichen Ebene, während das Atelier Van Lieshout das Problem des Handelns eher praktisch angeht und getreu ihrer mit der Wortneuschöpfung „Solvism“ bezeichneten Methode immer vom Einzelfall ausgeht. Ebenso unterschiedlich wie diese Herangehensweisen sind auch die Funktionen, die beide zeitgenössischen Gruppen ihrem utopischen Raum zuweisen. Die Gruppe N55 arbeitet mit „things from everyday life, that anybody can relate to,“494 und versucht damit, bestimmte Situationen zu schaffen. Ob man das Spaceframe am Hafen von Kopenhagen besucht, die vielfältigen Elemente der Public Things benutzt oder ein Snail Shell System durch die Straßen rollt – Ziel ist es, sich durch den Umgang mit den Werken von den „habitual conceptions“ der Ausgangsgesellschaft zu lösen und die von dem Philosophen Zinkernagel beschriebenen „logical relations“ zu erleben.495 Wie wichtig in dieser ersten Phase die praktische Erfahrung ist, betonen N55 in einem Gespräch mit Brett Bloom: „The significance of log-

493 Zum Tampa Skull, einem Studienschädel (eine kleine Kammer, die eine Küche, ein Badezimmerelement und ein Bett enthält), sagt Joep van Lieshout beispielsweise: „We reduced the space to a minimum without caring how it looks. It looks nice, but we didn’t design it“ (van Lieshout, Joep in: Milgrom, Melissa: Target, S. 72). 494 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 495 Vgl. die Darst. der Theorie Zinkernagels ab S. 136.

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ical relations is of course not something one can mediate, it‘s something one has to experience.“496 Diese Bedeutung der Tätigkeit erinnert an den amerikanischen Philosophen John Dewey, der in seinem Buch „Art as Experience“ die Relevanz der alltäglichen Erfahrung für die Kunst darlegt. Dewey unterscheidet nicht grundsätzlich zwischen alltäglichen Erfahrungen und Erfahrungen, die ein Kunstwerk ermöglicht. Für ihn ist es vor allem eine Frage der Qualität dieser Erfahrungen. Wärmt sich ein Mensch an seinem konventionellen Herd eine Dosensuppe auf, dann ist das eine Handlung, die Dewey als „unvollständig“497 und „zusammenhanglos“498 bezeichnen würde. Sie wurde ohne wirkliches Interesse und unbewusst vollzogen. Bereitet dieser Mensch sich aber an dem Küchenmodul von N55 mit anderen Menschen gemeinsam ein Essen zu, dann kann er eine „ganzheitliche Erfahrung“499 machen, weil er diese praktische Tätigkeit nun bewusst vollzieht. Er kann „durch die aufeinanderfolgenden Taten hindurch ein Gefühl wachsender Bedeutung“500 erleben. Sein praktisches Handeln erhält auf diese Weise einen „ästhetischen Charakter.“501 Kunst hat also eine „einmalige Eigenschaft“: Sie vermag es, „Aussagen, die im Material anderer Erfahrungen verstreut und in abgeschwächter Form enthalten sind, zu erhellen und zu konzentrieren.“502 Auch für N55 sind praktische Erfahrungen Ausganspunkt für eine weitere Entwicklung, denn sie ermöglichen es dem Betrachter, ethische Normen zu entwickeln. Auf dieser Stufe des Prozesses übernehmen die Werke von N55 eine zweite Funktion, denn man kann sie auch verstehen als „an examination of and the science about possibilities to exist with as small concentrations of power as possible and organize ourselves in a way that we respect each others rights.“503 N55 gestaltet den utopischen Raum also nicht im Detail, so dass er als ausgearbeitetes Vorbild zur Gründung einer Gegenwelt dienen könnte, sondern versteht ihn als eine Möglichkeit, die Ausformung einer solchen Gegenwelt selbst zu

496 Ebd. 497 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 47. 498 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 52. 499 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 53. 500 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 51. 501 Ebd. 502 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 100. 503 N55: Intro.

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entwickeln. In Kapitel 2 wurde geschildert, dass die Gruppe zwar Vorrichtungen für alle Bereiche des Lebens entwirft – Betten ebenso wie Küchen, ein ganzes Wohnmodul ebenso wie eine Gemüseaufzuchtstation – aber sie sucht keinen Ort, an dem sie alle Dinge zusammenfügen würde. Dabei mögen natürlich auch finanzielle Gründe ein Rolle spielen,504 aber anders als bei Atelier Van Lieshout gibt es von N55 keine Pläne oder Skizzen, die eine solche Gegenwelt vorstellbar machen, keine Modelle, die den zukünftigen Aufbau eines alternativen Dorfes zeigen könnten. Für die Gruppe wäre jede Festlegung in dieser Richtung eine Form von Ideologie, die „per definition don’t respect the rights of persons.“505 Jede Ideologie ist, so N55, auf subjektive Meinungen gegründet und kann daher zur Manipulation der Massen benutzt werden und jede Handlung rechtfertigen.506 Im Gegensatz dazu sollen sich die Menschen auf das objektive Wissen, auf die von Peter Zinkernagel beschriebene Relationslogik,507 stützen: „In order to change things decisively, persons must understand things themselves, not trough the force of ideologies.“ Welche praktischen Auswirkungen diese Erkenntnisse haben, können die „logical relations“ aber nicht klären. „[They] don’t tell how to live, just what you ought to respect while doing it,“ betont die Gruppe. Diese zweifache Funktion der von N55 hergestellten Situationen wird deutlich, wenn sie als Versuchsanordnungen betrachtet werden. Essler definiert den Begriff „Experiment“ aus naturwissenschaftlicher Sicht als Realisierung von „Situationen, wie sie unter normalen Umständen nicht oder nicht genau in der Weise oder zumindest nicht so häufig entstanden wären.“508 Dabei kann unterschieden werden zwischen Experimenten zur Gewinnung von Forschungshypothesen und solchen zur Bestätigung von Aussagen, die aus Theorien abgeleitet wurden. In der ersten Phase des von N55

504 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Plan der Gründung eines Gemeinwesens auf dem Land scheiterte, weil N55 für den Kauf eines geeigneten Grundstückes kein Geld aufbringen konnte, dass aber ein vielleicht noch stärkerer Grund zur Aufgabe dieses Projektes der Wille war, im urbanen Raum zu arbeiten. 505 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. 506 Ebd. 507 Vgl. die Darst. ab S. 136. 508 Essler, W. K.: Wissenschaftstheorie III, München 1973, S. 140.

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initiierten Prozesses soll der Betrachter die „logical relations“ erfahren, die die Mitglieder der Künstlergruppe bereits erkannt haben und die sie in die ästhetische Gestaltung ihrer Werke haben einfließen lassen. Man könnte also von einem Experiment zur Bestätigung einer Theorie sprechen. Das Ergebnis des Experimentes – das objektive Wissen – war N55 schon im Voraus bekannt und bestätigt sich nun in der Erfahrung eines jeden Betrachters. In der zweiten Phase soll das Ergebnis des ersten Experimentes das Handeln beeinflussen. Wieder bietet N55 die von der Gruppe geschaffenen Situationen als Versuchsanordnung an, aber diesmal ist das Ergebnis unbekannt. Die ethischen Normen können in ihrer praktischen Umsetzung zu ganz unterschiedlichen Ausformungen führen, und deshalb verkauft N55 die eigenen Arbeiten auch nicht, sondern bietet mit den Werken und „Manuals“ die Möglichkeit an, eigene Lösungen zu entwickeln. Aus diesem Grund planen die Mitglieder auch keine Erweiterung ihrer eigenen Gruppe, sondern hoffen auf ein „network of other small power concentrations.“509 Atelier Van Lieshout hat nach mehreren in Zeichnungen festgehaltenen Entwürfen mit AVL-Ville schließlich eine bis in das Detail ausformulierte Gegenwelt geschaffen. Es gibt eine Art Bauernhof, Wohnhäuser, Fertigungshallen, ein Restaurant und eine Alkoholdestillerie sowie verschiedene Mobile Homes. Trotz des demonstrativen Strebens nach Unabhängigkeit, das sich zum Beispiel in der Ausrufung des „Freistaates,“ in der eigenen Währung oder dem Klinikcontainer zeigt, ist AVL sehr viel mehr mit der sie umgebenden Gesellschaft vernetzt als N55. Vor allem auf wirtschaftlicher Ebene agiert das Atelier erfolgreich mit der Ursprungswelt. Außerdem ist das Bemühen um Autarkie oft mit einem eher sachbezogenen Ansatz verbunden. Die Mobile Homes sind auf der einen Seite Ausdruck von Unabhängigkeit, auf der anderen Seite aber auch eine Möglichkeit, sich den detaillierten Baubestimmungen des Staates zu entziehen, die eben auf fahrbare Behausungen nicht angewendet werden können.510 Ebenso ist die eigene Währung in AVL-Ville zwar ein Zeichen der Loslösung vom niederländischen Staat, aber sie dient eben auch dazu, die gesetzlichen Regelun-

509 N55 in: Martin, Craig: Interview. 510 „We made a lot of mobile homes and containers because, at the time, there where no building codes for these temporary structures, so it was a way to work around the law,“ van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 108.

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gen für Lizenzen zur Alkoholproduktion zu umgehen. 511 Es wurde bereits deutlich gemacht, dass der Entwurf für die Gegenwelt auch in der formalen Gestaltung keinen Anspruch auf eine allgemeine Gültigkeit erhebt. Jede Lösung beruht auf den Wünschen einzelner Menschen und den Anforderungen der jeweiligen Situation und kann daher nicht ohne weiteres auf andere Verhältnisse übertragen werden. Es scheint den Mitgliedern von Atelier Van Lieshout also weniger um den Aufbau einer für alle verbindlichen Gegenwelt zu gehen, als vielmehr darum, sich einen persönlichen Freiraum zu erkämpfen, in dem sie nach ihren Vorstellungen leben und arbeiten können. Die Homepage von AVL-Ville nennt diesen Freiraum einen „autonomous space where everything is possible within a country that is overregulated to an increasing degree.“512 Trotz der unterschiedlichen Funktion, die die beiden Künstlergruppen ihrem utopischen Raum zumessen, lässt sich auch AVL-Ville als eine Art Versuchsanordnung sehen. Das Hauptaugenmerk liegt aber nicht auf der theoretischen Grundlage für das richtige Handeln und der Analyse der Umwelt, sondern auf der praktischen Tätigkeit, dem Experimentieren selbst. Weiter oben in diesem Kapitel wurde auf die Bedeutung der alltäglichen Handlung in der Theorie John Deweys verwiesen. Für ihn ist diese Form der Tätigkeit mit einer „experimentellen Haltung“ 513 verbunden, die bisher vor allem als wissenschaftliche Methode gesehen wurde, die man aber nicht „auf die Wissenschaftler im Labor […] beschränken“ 514 sollte. Nur wenn der Künstler auch „vertraute Dinge als Material nimmt,“515 wenn er die „Umwelt“516 des Menschen genau untersucht, wenn er „in bereits bekannten Szenen und Objekten neue Erfahrungsbereiche [eröffnet] und neue Perspektiven und Eigenschaften“517 erschließt, dann kann er ästhetische Erfahrungen ermöglichen und „Zukunftsperpektiven“518 eröffnen. Diese expe-

511 „Having our own currency allows us to get around some laws, for example a liquor license,“ van Lieshout, Joep in: Allen, Jennifer, S. 108. 512 Atelier Van Lieshout: AVL-Ville. 513 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 392. 514 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 167. 515 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 392. 516 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 391. 517 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 167. 518 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, S. 392.

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rimentierende Tätigkeit von AVL lässt sich nach Schmidt als ein „experimentelles Produzentenhandeln“519 bezeichnet. Damit setzen die Mitglieder von AVL genau da an, wo N55 die Verantwortung in die Hände der Betrachter legt, um ein „experimentelles Rezeptionshandeln“520 in Gang zu setzen. Dem Atelier geht es aber nicht darum, einen genauen Konstruktionsplan einer alternativen Gemeinschaft zu zeichnen, eine Art Blaupause, nach der weitere identische Bauteile entstehen könnten; die Gruppe will auch keine „Schritt-für-Schritt-Anleitung“ zur Entwicklung eigener Systeme geben. AVL-Ville ist ein Beleg dafür, dass es überhaupt möglich ist, in unserer Gesellschaft einen Ort zu finden, von dem aus ein eigenverantwortliches Handeln denkbar ist. Insofern richtet sich die Gegenwelt von Atelier Van Lieshout, obwohl sie zunächst einmal ein rein persönlicher Freiraum ist, auch an die Ausgangsgesellschaft: Sie zeigt, dass im Hier und Jetzt ein anderes Leben möglich ist. Zusammenfassend könnte man also sagen, dass N55 einen mehrstufigen Prozess in Gang setzen will. Zum einen sollen die Werke die für alle Menschen verbindlichen logischen Beziehungen bewusst machen, zum anderen wird aber auch versucht, einen Rahmen zu bieten, in dem der Betrachter auf ganz praktische Art und Weise daraus resultierende ethische Normen entwickeln kann. Atelier Van Lieshout schafft dagegen mit AVL-Ville einen schon ausgearbeiteten utopischen Raum. Das Atelier macht aber deutlich, dass es ihn als persönlichen Freiraum und nicht als detailliertes Vorbild für den allgemeinen Gebrauch versteht. Damit betont die Gruppe die grundsätzliche Möglichkeit, auch in der gegenwärtigen Gesellschaft alternative Lebensweisen zu entwickeln. N55 und Atelier Van Lieshout loten die beiden Pole aus, zwischen denen viele alternative Kommunebewegungen pendeln. Auf der einen Seite die postmoderne Gemeinschaft „without shared ideology and common sense of identity,“ die auf temporäres „networking“521 einzelner Individuen setzt und in einem ständigen Wandel begriffen ist. Auf der anderen Seite auf längerfristige Zusammenarbeit ausgerichtete Gemeinschaften mit gemeinsamen Zielen und Wertvorstellungen, bei denen die „modernist ide-

519 Schmidt, Siegfried J.: Kunst und Experiment, S. 10. 520 Schmidt, Siegfried J.: Kunst und Experiment, S. 13. 521 Poldervaart, Saskia: Concepts of Utopianism, S. 22.

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als“522 noch eine Rolle spielen. Trotz der unterschiedlichen Herangehensweisen betonen beide Gruppen mit ihren Entwürfen aber die Möglichkeit einer anderen Welt. Gottfried Wilhelm Leibniz ging davon aus, dass Gott, „nachdem der alle möglichen Welten miteinander verglichen hat[te], deren beste […] erwähl[te] und sie durch das allmächtige Wort Fiat mit allem, was sie enthält ins Dasein“523 rief. Voltaire zeigte dagegen in seinem Roman „Candide“ die Katastrophen in dieser so genannten „besten aller möglichen Welten“ und gab damit den „Optimistenwahn und seine Vertreter der Lächerlichkeit preis.“524 Die zeitgenössischen Gruppen gehen weder davon aus, in der besten noch in der schlechtesten der möglichen Welten zu leben; sie weisen stattdessen darauf hin, dass die existierende Welt nur eine Wirklichkeit gewordene Möglichkeit unter anderen nicht realisierten Möglichkeiten ist und daher verändert werden kann.

2.4

S CHLUSSBETRACHTUNG

Wie an den Beispielen des Autocrat [Abbildung 1] von Atelier Van Lieshout und dem Snail Shell System [Abbildung 2] von N55 deutlich wurde, setzen sich die zeitgenössischen Künstlergruppen zunächst mit grundsätzlichen Fragen zur Lebensgestaltung auseinander. Exemplarisch untersuchen sie, wie jeder einzelne Mensch ein von der Gesellschaft unabhängiges Leben verwirklichen kann. In dieser praktischen Herangehensweise ist eine Wiederbelebung des antiken Konzepts der Selbstsorge zu erkennen: Das Leben wird als ein zu gestaltendes Werk aufgefasst, an dem man arbeiten kann, um es zu verbessern. Doch anders als zum Beispiel Henry David Thoreau geht es AVL und N55 nicht um eine individuelle Selbstreform, sondern sie wollen Möglichkeiten eines gemeinschaftlichen Lebens erproben. Dazu schaffen die zeitgenössischen Gruppen einen Raum, der auf vielfältige Art von der umgebenden Welt abgegrenzt ist und in dem sie Alternativen zu kritisierten Entwicklungen erarbeiten können. Für beide Gruppen sind die alternativen Lösungen aber kein Selbstzweck, sondern sie weisen ihrem utopischen Raum eine bestimmte Funktion innerhalb der umge-

522 Poldervaart, Saskia: Concepts of Utopianism, S. 19. 523 Leibnitz, Gottfried Wilhelm: Die Theodizee, S. 283. 524 Knittel, Elisabeth: Voltaire, S. 912.

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benden Gesellschaft zu. Dazu treten sie auf unterschiedliche Arten in Kontakt mit der Ausgangsgesellschaft und ermöglichen eine Beteiligung des Betrachters. Das Atelier schafft mit AVL-Ville einen detailliert ausgearbeiteten Freiraum, der sich demonstrativ von der Ausgangsgesellschaft absetzt. Die alternativen Lösungen wurden für eine bestimmte Situation gefunden und lassen sich daher kaum ins Allgemeine übertragen. AVL-Ville ist damit als das Ergebnis eines „experimentellen Produzentenhandelns“ 525 zu bezeichnen, ohne dass dabei eine Art Blaupause für den Aufbau von Gegenwelten gegeben würde. Für den Betrachter ist dieser alternative Raum aber der greifbare Beweis, dass ein anderes Leben möglich ist. Statt einer ausformulierten Welt entwickelt N55 mit seinen Objekten und Projekten verstreute Anknüpfungspunkte für Veränderungen, die die Gruppe bewusst in das Gefüge der Ausgangsgesellschaft stellt. Michel Foucault charakterisiert Utopien als „Platzierungen ohne wirkliche Orte,“ als Räume, die nur „im Zwischenraum zwischen [den] Worten“526 existieren können. Doch er sieht es als anthropologische Grundkonstante an, dass es neben diesen ortlosen alternativen Räumen auch eine besondere Form von Utopien gibt, die sich im Hier und Jetzt lokalisieren lassen – die „Heterotopien“: „wirkliche Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, […] tatsächlich realisierte Utopien.“527 AVL-Ville und die Arbeiten von N55 könnten in diesem Sinne als Heterotopien verstanden werden. In Kapitel 2.3 wurde beschrieben, dass die zeitgenössischen Gruppen ihre alternativen Räume nicht nur im Hinblick auf die eigene Gemeinschaft aufbauen. Diese Orte soll der Betrachter vielmehr nutzen, um das eigene Leben und seine Umgebung neu zu sehen. Auch das von Foucault als typisches Phänomen für Heterotopien charakterisierte „System der Öffnung und Abschließung […], welches sie von der Umgebung isoliert,“528 kann man bei AVL und N55 beobachten.529

525 Vgl. Fußnote 518 und 519. 526 Foucault, Michel: Die Heterotopien, S. 9. 527 Foucault, Michel: Andere Räume, S. 39. 528 Foucault, Michel: Die Heterotopien, S. 18. 529 Vgl. die Darst. in Kap. 2.3.1.

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2.4.1 Strategien der Entgrenzung Obwohl die in diesem Kapitel besprochenen Projekte also zu der Kategorie der Hetorotopien gehören, gibt es in den Arbeiten der zeitgenössischen Künstlergruppen auch eine Ebene, die wie die klassische Utopie „keinem Raum angehör[t]“530 und in der frei und losgelöst von den Vorgaben der Realität über Alternativen nachgedacht werden kann. Wie Atelier Van Lieshout und N55 diese zwei sehr unterschiedlichen Ebenen in ihren Werken vereinen, soll im Folgenden dargestellt werden. Im Schaffen von N55 und in dem Projekt AVL-Ville lassen sich zwei Entgrenzungstendenzen beobachten, die an historische Avantgardebewegungen denken lassen. Zum einen wurde deutlich, dass innerhalb des utopischen Raumes auf vielfältige Art versucht wird, Kunst und Lebenspraxis einander anzunähern. Ganz im Gegensatz zu Oscar Wilde, der feststellte: „It is through Art, and through Art only, that we can realise our perfection; through Art, and through Art only, that we can shield ourselves from the sordid perils of actual existence,“531 wollen sich die zeitgenössischen Künstlergruppen gerade mit diesen „erbärmlichen Gefahren“ des Alltags auseinandersetzen. Sie erarbeiten auf den Gebieten politische Ordnung, Wirtschaft, Lebensweise und Natur sowie Technik alternative Lösungen. Mit dieser Thematik geht auch ein Prozess der internen Entgrenzung zwischen den Künsten sowie eine Verbindung mit nicht-künstlerischen Disziplinen einher. Die unterschiedlichen Gebiete, in denen nach alternativen Lösungen gesucht wird, erfordern eine Beschäftigung mit so unterschiedlichen Bereichen wie Design, Architektur, Ingenieurwesen oder Landwirtschaft. Dieses Anliegen vertraten auch die russischen Konstruktivisten. Der Theoretiker Nikolaj Cuzak prägte mit seiner Auffassung der Kunst als „Lebenbauen“ die LEF (die linke Front der Kunst), die in der Sowjetunion der 1920er Jahre das Sprachrohr für viele Konstruktivisten war. Er spricht daher von einer „unausweichlichen Auflösung der Kunst im Leben.“532 Auch 530 Foucault, Michel: Die Heterotopien, S. 9. 531 Wilde, Oscar: The Critic As Artist, S. 1038. 532 Cuzak, Nikolaj: Pod znakom ziznestroenija, S. 12, zitiert nach Günther, Hans: Proletarische und avantgardistische Kunst. Die Organisationsästhetik Bogdanov und die LEF-Konzeption der „lebensbauenden“ Kunst, in: Ästhetik und Kommunikation. Beiträge zur politischen Erziehung, Heft 12, Sept. 1973, Jahrgang 4, S. 65.

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Wladimir Tatlin will „zu neuen Erfindungen anregen für unsere Arbeit am Aufbau einer neuen Welt, und […] alle Produzenten aufrufen, auf die Formen, die uns in unserem neuen Alltagsleben umgeben, zu achten.“533 Nicht ohne Stolz schreibt er, wie seine Vielseitigkeit als Künstler bei diesem Unternehmen helfen kann: „As the founder of the idea ‚art into life‘ I worked in the woodworking industry on the development of new models for furniture, and also worked in sewing trusts on the development of a clothing norm.“534 Nach Alexander Rodschenko ist es die Aufgabe eines Künstlers, „konstruktive[] Bauten im Leben zu errichten, jedoch nicht von ihm abgewandt oder außerhalb des Lebens.“535 Gegen eine autonome Stellung der Kunst in der Gesellschaft sprach sich auch das Staatliche Bauhaus aus. Es entstand in einer Zeit, in der sich in Deutschland viele lebensreformerische Gegenbewegungen etablierten und so gab es „zahlreiche Querverbindungen zwischen solchen Reformschulen und dem Bauhaus.“536 Es war also von Anfang an keine klassische Kunstschule und verstand sich besonders nach dem Umzug von Weimar nach Dessau nicht als „Freistatt für zweckfreie Kunst.“537 Walter Gropius verdeutlicht das in seinen Notizen zu einem Rundschreiben an die Bauhaus-Meister: „Wir sind uns alle darüber klar, dass die alte Auffassung von l’art pour l’art überholt ist.“ 538 Bereits im ersten Jahr des Bestehens hatte Gropius in einer Ansprache an die Studierenden das Bild einer „Kathedrale der Zukunft“ entworfen, die mit ihrer „Lichtfülle bis in die kleinsten Dinge des alltäglichen Lebens hineinstrahlen“ wird.539 Auch in der Kunst der 1960er Jahren lassen sich Versuche be-

533 Tatlin, Wladimir: Die Arbeit, die uns erwartet, Moskau 1921, zitiert nach Gaßner, Hubertus: Alexander Rodschenko, S. 44. 534 Tatlin, Wladimir in einem Brief an den Vorsitzenden der VkhUTEMAS 1927, zitiert nach: Art into Life. Russian Constructivism 1914-1932, Ausst.-Kat. The Henry Art Gallery University of Washington, Walker Art Center Minneapolis, Tretyakov Gallerie Moskau, New York 1990, S. 10-11. 535 Rodschenko, Alexander: Die Linie (Vortrag, gehalten am Institut für künstlerische Kultur in Moskau 1921), zitiert nach: Gaßner, Hubertus: Alexander Rodeschenko, S. 69. 536 Droste, Magdalena: Bauhaus 1919-1933, S. 14. 537 Adler, Bruno: Damals in Weimar …, S. 24. 538 Gropius, Walter: Die Tragfähigkeit der Bauhaus-Idee, S. 62. 539 Gropius, Walter: Ansprache an die Studierenden, S. 46.

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obachten, die Grenze zwischen Kunst und Lebenspraxis aufzuheben. Auf der 5. Konferenz der Situationistischen Internationalen von 1962 wird in Abgrenzung zu traditionellen Kunstformen festgestellt, dass die Kunst der Zukunft vom alltäglichen Leben ausgehen müsse.540 Ein Jahr zuvor hatten Attila Kotanyi und Raoul Vaneigem das „Elementarprogramm des Büros für einen Unitären Urbanismus“ entworfen. Hier beschreiben sie ihr Ziel, situationistische Brückenköpfe zu schaffen,von denen aus die Invasion des Alltagsleben ausgehen sollte.“541 Raoul Vaneigem schildert wenig später besonders drastisch eine Vision, in der der autonome Status der Kunst aufgehoben wird: „Sade und Lautréamont, aber auch Villon, Lukrez, Rabelais, Pascal, Fourier, Bosch, Dante, Bach, Swift, Shakespeare, Ucello und andere treten aus ihrer kulturellen Verpackung heraus, verlassen die Museen, in denen die Geschichte sie festgesetzt hat, und füllen wie mörderische Geschosse die Waffenkammern derjenigen, die die Kunst verwirklichen.“542 Die zeitgenössischen Künstlergruppen haben sich zwar von der Idee verabschiedet, dass es eine „quasi-wissenschaftliche Organisation eines konstruktiven Lebens“543 geben könnte, aber die Vorstellung, dass man am Leben arbeiten kann, um es zu verbessern, teilen sie mit den eben genannten Beispielen. Peter Bürger fragt, nachdem er die Strategien zur Entgrenzung von Kunst und Leben bei der historischen Avantgarde dargestellt hat, ob diese Versuche einer Aufhebung der Autonomie überhaupt Erfolg haben können. Garantiert „nicht vielmehr die Distanz der Kunst zur Lebenspraxis allererst den Freiheitsspielraum […], innerhalb dessen Alternativen zum Bestehenden denkbar werden?“544 Die zeitgenössischen Gruppen knüpfen bezüglich der Entgrenzung von Kunst und Leben an die klassischen Avantgarden an, trotzdem aber halten sie an der „Möglichkeit kritischer Reali-

540 Vgl. die Darst. in: La cinquième Conférence de L’I. S. a Göteborg, in: internationale situationniste, Numéro 7, 1962, S. 30. 541 Kotanyi, Attila; Vaneigem, Raoul: Programme élémentaire, S. 16. (Sie schreiben dort von „bases situationnistes, qui feront fonction de tétes des ponts pour une invasion de toute la vie quotidienne.“) 542 Vaneigem, Raoul: Handbuch der Lebenskunst (2. Teil: „Die Umkehrung der Perspektive, II. Kreativität, Spontaneität und Poesie,“ Absatz 4). 543 Gaßner, Hubertus: Alexander Rodschenko, S. 90. 544 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, S. 74.

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tätserkenntnis“545 fest. Die Avantgarde kämpfte für eine Kunst, die in der Lebenspraxis aufgeht. Einen abgesonderten Raum für die Kunst sollte es nicht mehr geben. Atelier Van Lieshout und N55 separieren dagegen ihr Werk trotz aller Entgrenzung von Kunst und Leben von der umgebenden Welt. Allerdings stellen sie nicht mehr die Lebenspraxis dem autonomen Kunstwerk gegenüber, sondern trennen ihre alternative Lebenspraxis selbst als Lebenskunstwerk von der Ausgangsgesellschaft ab. Wie in Kapitel 2.2.2 deutlich wurde, schaffen sie einen mehr oder weniger abgegrenzten Bereich, innerhalb dessen sie an einem nach alternativen Merkmalen strukturierten Gemeinwesen arbeiten können. Obwohl die Gruppen in ihrem thematischen Zugriff und ihrer Arbeitsweise viele Merkmale mit der angewandten Kunst teilen, werden ihre Projekte als freie Kunst wahrgenommen. Die zeitgenössischen Künstlergruppen nutzen also die Distanz, die ihnen der utopische Raum bietet, um den von Bürger geforderten „Freiheitsspielraum“ zu schaffen, ohne den Versuch einer Entgrenzung von Kunst und Leben aufgeben zu müssen. 2.4.2 Der doppelte Charakter der Arbeiten von AVL und N55 In Kapitel 2.2.3 wurde erläutert, an welche historischen Realisierungsversuche eines alternativen Lebens AVL und N55 mit ihren Projekten anknüpfen. Hier soll nun herausgearbeitet werden, dass es trotz dieser Parallelen einen wesentlichen Unterschied zwischen diesen früheren Bewegungen und den zeitgenössischen Künstlergruppen gibt. Dazu soll zunächst auf „Die Verklärung des Gewöhnlichen“ von Arthur C. Danto eingegangen werden. In seinem Buch will er „der ernsten ontologischen Frage“ nachgehen, wie man „zwischen Kunstwerken und Nichtkunstwerken“ 546 unterscheiden kann. Schon 1964 hatte er in einem Aufsatz am Beispiel einer Ausstellung von Andy Warhol in der Stable Gallery in New York seine Erfahrung beschrieben, dass ein gewöhnliches Ding, wie es uns in einem Supermarkt begegnet (eine Pappschachtel mit Topfreinigern der Marke Brillo), innerhalb einer Galerie als Kunstwerk wahrgenommen wird (die Brillo Boxes von Andy Warhol).547 Den Unterschied zwischen „rein[] reale[n] Din-

545 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, S. 68. 546 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 77. 547 Danto, Arthur Coleman: Die Kunstwelt, S. 915-919.

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gen“548 und Kunstwerken macht für Danto die Bezüglichkeit aus. Alltäglichen „Dingen als Klasse fehlt die Bezogenheit [aboutness; das Über], gerade weil sie Dinge sind. […] Kunstwerke sind typischerweise über etwas,“549 und Danto folgert weiter: ein Kunstwerk ist also „ein materielles Objekt plus y.“550 Ein realer Fleischerhackklotz ist zunächst ein Gebrauchsgegenstand. Kommt er aber als Teil eines Werkes von George Segal vor, wie es in The Butcher Shop von 1965551 der Fall ist, dann wird er zur „Darstellung“552 eines Hackklotzes. Im Zusammenspiel mit der Gipsabformung einer Frauengestalt reflektieren die Gegenstände die Atmosphäre in den Armenvierteln der amerikanischen Großstadt. The Butcher Shop ist sicher auch eine Auseinandersetzung mit Segals eigener Lebenssituation. Seine Eltern besaßen einen Fleischerladen in der Bronx und für die Frauenfigur am Hackklotz machte der Künstler Gipsabformungen vom Körper seiner Mutter.553 Doch übernimmt der Hackkotz im Rahmen des Werkes eine neue Funktion. Während der Gebrauchsgegenstand einfach ein Ding in der Welt ist, ist die Darstellung dieses Gegenstandes „außerhalb der Welt“ 554 und eröffnet eine von der Realität unterschiedene Ebene. Die von AVL und N55 hergestellten Objekte sollen wie jeder andere Gebrauchsgegenstand zunächst benutzt werden. In den Wohnmodulen kann man leben, in den verschiedenen Betten kann man schlafen, in den Toiletten soll man seine Notdurft verrichten. Es gibt Arbeiten, die sich mit Nahrungsmittelherstellung beschäftigen, andere bieten die Möglichkeit, zu kochen. Auf dieser Ebene sind die Objekte Gegenstände, die gestaltet wurden, um bestimmte Funktionen des alltäglichen Lebens zu erfüllen. Aber die Arbeiten von Atelier Van Lieshout und N55 sind auch „über etwas“:555 Sie schaffen einen Raum, der sich von der Umgebung abgrenzt und somit auf eine bestimmte Art und

548 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 17. 549 Danto, Arthur Coleman; Die Verklärung, S. 20. 550 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 23. 551 Das Werk ist heute Teil der Sammlung der Art Gallery of Ontario in Toronto. 552 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 129. 553 Vgl. die Darst. in: Siris (Smithonian Institution Research Information System), Art Inventories Catalog: The Butcher Shop (Sculpture), www.siris.si.edu/, März 2009. 554 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 130. 555 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 20.

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Weise „außerhalb der Welt“556 ist. Wenn der Betrachter in AVL-Ville umhergeht oder die Objekte von N55 benutzt, ist er ganz in dieser Welt. Doch die „Aboutness“-Ebene verweist trotz aller Verortung des utopischen Raumes im Hier und Jetzt auf die Möglichkeiten einer noch nicht vollzogenen Zukunft, denn aus den verschiedenen alternativen Lösungen lässt sich ein utopisches Gesellschaftsmodell erschließen. Kunst kann nach Ernst Bloch „belichte[n], was ein gewohnter oder ungestumpfter Sinn noch kaum sieht,“557 das heißt, in ihr könne sich ein „VorSchein“ ausdrücken, der der Frage nachgeht, wie die Welt „vollendet werden [könnte], ohne dass diese Welt, wie im christlich-religiösen Vorschein, gesprengt wird und apokalyptisch verschwindet.“558 Die „konkrete Utopie“ geht also von dem aus, was in der Gegenwart gegeben ist, und richtet den Blick dann in eine Zukunft. „So ist Kunst Nicht-Illusion, denn sie wirkt in einer Verlängerungslinie des Gewordenen.“559 Die Wurzeln der zukünftigen Entwicklungslinien liegen in der Gegenwart, von ihr geht alles aus. Dennoch ist die Zukunft noch nicht entschieden und kann verändert werden. „Erwartung, Hoffnung, Intention auf noch ungewordene Möglichkeiten: das ist nicht nur ein Grundzug des menschlichen Bewußtseins, sondern, konkret berichtigt und erfasst, eine Grundbestimmung innerhalb der objektiven Wirklichkeit insgesamt.“560 Mit diesem intentionalen Utopiebegriff knüpft Bloch an Gustav Landauer an, der sich gegen die klassische Utopietradition stellt. Während Thomas Morus und seine Nachfolger sich eine ideale Ordnung nur mit Hilfe von starken Institutionen denken konnten, geht Landauer in seinen Entwürfen zunächst vom einzelnen Menschen aus. Veränderung kann es seiner Ansicht nach nur geben, wenn sich mehrere Individuen zu autarken genossenschaftlichen Siedlungen zusammenschließen und hier beispielhaft eine solidarische Lebensweise verwirklichen.561

556 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 130. 557 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, S. 247. 558 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, S. 248. 559 Ebd. 560 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, S. 5. 561 Vgl. die Darst. zu Landauer auf S. 63. Zum Thema Solidarität vgl. auch die Darst. zu Peter Kropotkin, mit dem Landauer befreundet war auf den S. 71 und 72. Das dort erwähnte Buch „Mutual Aid: A factor of evolution“ übertrug Gustav Landauer 1904 ins Deutsche.

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Diese Idee, dass sich Individuen dazu entschließen, die Gesellschaft zu verlassen, um mit anderen Menschen eine alternative Lebensweise zu verwirklichen, geht von einer Handlung im Hier und Jetzt aus, wie sie auch bei Ernst Bloch eine wichtige Rolle spielt. Achim Kessler kennzeichnet Blochs „Kunstauffassung als performative Ästhetik [bei der] Handlung und Erkenntnis in einer engen Verbindung stehen.“562 Es geht Bloch um „die Aufzeigung der Tendenz und Latenz dessen, was noch nicht geworden ist und seine Täter braucht.“563 Kunst hat ein erkenntnistheoretisches Potential und kann damit „konstituierend[] und realisierend[]“564 wirken. Wie in Kapitel 2.3.2 dargestellt wurde, geht es auch den zeitgenössischen Künstlergruppen um die realisierenden Möglichkeiten ihrer Kunst. Handlung und körperliche Erfahrung spielen dabei eine wichtige Rolle. 2.4.2.1 Ästhetische Erfahrung An dieser Stelle lohnt es sich, noch einmal auf Danto einzugehen. Er ist der Meinung, dass der Betrachter das, was ein Kunstwerk von dem gewöhnlichen Ding unterscheidet, nur mit Hilfe eines erworbenen Kontextwissens erkennen kann.565 Vom Kunstobjekt selbst geht für Danto keine Wirkung aus, die nicht auch von dem gleich aussehenden realen Ding ausgehen könnte. Um auf etwas „ästhetisch reagieren zu können, muß man zuerst wissen, dass das Objekt ein Kunstwerk ist,“566 führt er aus. Trotz der zahlreichen Beispiele, die Danto findet oder konstruiert, lässt sich bei ihm allerdings kein Vergleichspaar finden, bei dem ein reales Ding und ein

562 Kessler, Achim: Ernst Blochs Ästhetik, S. 16. 563 Bloch, Ernst: Marxismus und Dichtung, S. 141. Auf „Täter“ hofft übrigens auch Gustav Landauer: „Wir brauchen Rufer im Streit; wir brauchen Täter. Die Täter, die Beginnenden, die Erstlinge werden aufgerufen zum Sozialismus“ (Landauer, Gustav: Aufruf zum Sozialismus, S. 185). 564 Bloch, Ernst: Erkenntnis als Schlüssel und Hebel, S. 120. 565 „Was letztendlich den Unterschied zwischen einer Brillo-Schachtel und einem Kunstwerk ausmacht, das aus einer Brillo-Box besteht, ist eine bestimmte Kunsttheorie. Es ist die Theorie, die sie in die Kunstwelt aufnimmt und vor dem Zusammenstürzen in das reale Objekt bewahrt“ (Danto, Arthur Coleman in: Die Kunstwelt, S. 916). 566 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 148.

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Kunstwerk wirklich völlig „ununterscheidbar“567 wären.568 Auch die von Danto als Beispiel angeführten Brillo Boxes sind vom Original im Supermarkt sehr wohl zu unterscheiden. Sie bestehen aus Holz und nicht aus Pappe und sie wurden zwar in einem mechanischen Verfahren, aber eben doch von Hand gefertigt. Diese „minimale Differenz zur Realität […] ist folglich genau jener Zwischenraum, aus dem die Bedeutung von Warhols Arbeiten entspringt“569 und dieser Unterschied ist vom Betrachter ohne theoretisches Hintergrundwissen erfahrbar. Auch bei den zeitgenössischen Künstlergruppen spielt die ästhetische Erfahrung eine zentrale Rolle, ohne sie würde sich dem Betrachter die „Aboutness“-Ebene nicht erschließen. Bei Atelier Van Lieshout und N55 gibt es bestimmte Vorgaben, die im Sinne Dantos die „ästhetische Reaktion“570 lenken: Sie grenzen den von ihnen geschaffenen utopischen Raum von der umgebenden Gesellschaft ab und betonen so die Andersartigkeit ihrer Arbeiten. N55 stellt jedem Werk ein Infomodul mit einer Gebrauchsanleitung zur Seite, in dem der Betrachter Informationen zu grundsätzlichen Zielen der Gruppe und Details zur jeweiligen Arbeit finden kann.571 AVL und N55 treten als Künstlergruppen auf und präsentieren ihre Werke von Zeit zu Zeit in Institutionen, die zur Kunstwelt gehören oder demonstrieren über Vorträge und Berichte in Kunstzeitschriften ihre Zugehörigkeit zu diesem Bereich. Trotzdem spielt bei den Objekten von N55 und AVL die von Danto außer Acht gelassene ästhetische Erfahrung eine entscheidende Rolle. Das Spaceframe von N55 liegt am Hafen von Kopenhagen vor Anker und man kann es sehen, anfassen und betreten. In seiner Gestaltung hebt es sich deutlich von den umgebenden Schiffen und Hausbooten ab: ein schwimmender Tetraeder, gebildet aus dreieckigen Elementen mit metallisch glänzender Oberfläche – man wäre nicht verwundert, würde man dieses Wohnmodul als Teil einer geplanten Kolonie auf einem erdnahen Planeten wiederfinden [Abbildung 8]. Es wurde deutlich, dass N55 von der Weiterentwicklung der Technik allein keine Lösung der heutigen Probleme

567 Ebd. 568 Bei der bereits erwähnten Arbeit The Butcher Shop von George Segal ist der reale Hackklotz nur Teil des Kunstwerkes und nicht alleiniger Bestandteil. 569 Lüthy, Michael: Das Ende wovon?, S. 66. 570 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 143. 571 Vgl. die Darst. auf S. 83.

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Abbildung 27: Affleck, Desbarats, Dimakopoulos, Lebenshold, Sise: Man the Producer, 1967 (Pavillon auf der Weltausstellung Expo 67 in Montreal, Kanada)

erwartet. Trotzdem erinnert der Anblick des Spaceframes an die fortschrittsoptimistischen 1960er Jahre. Es wurde bereits angedeutet, dass es Berührungspunkte zwischen Arbeiten von N55 und Entwürfen megastrukuralistischer Architekten dieser Zeit gibt. Dieser Vergleich soll hier noch einmal kurz aufgegriffen werden. Abbildung 27 zeigt den Themenpavillion Man the producer, der 1967 von den Architekten Affleck, Desparats, Dimakopoulos, Lebensold und Sise für die Weltausstellung in Montreal geschaffen wurde. Von außen ähneln sich das Spaceframe [Abbildung 8] und das Gebäudeensemble für die Expo 1967 sowohl in der Form des gekappten Tetraeders als auch in der metallisch glänzenden Oberflächenstruktur. Auch das Innere beider Architekturen vereint die modulartige Verwendung eines Raumfachwerks. Warum kommt N55 zu ähnlichen Lösungen, obwohl es große Unterschiede zwischen den Projekten der 1960er Jahre und den zeitgenössischen Arbeiten gibt?572 Ion Sørvin beschreibt in diesem Zusam572 Auf den S. 78 bis 82 wurde bereits auf den unterschiedlichen Maßstab der Entwürfe verwiesen. Während die Megastrukturalisten ganze Stadtlandschaften planten, geht N55 vom Individuum oder einer kleinen Gruppe von Men-

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menhang die Strategie von N55 so: „[We are] using the authority of something that looks good designed to communicate with people.“573 Lars Bang Larsen findet das Spaceframe „sexy,“574 zumindest aber macht es neugierig. Die verschiedenen Mobile Homes von Atelier Van Lieshout erinnern zwar weniger an Science-Fiction-Literatur, aber auch sie strahlen eine besondere Energie aus. Einige haben eine eher zurückhaltende Farbgebung, andere sind knallig bunt. Die Module sind jeweils aus vielfältigen Materialien gefertigt, und die Umkehrung des Entwurfsprozesses von innen nach außen führt oft zu außergewöhnlichen formalen Lösungen. Der Betrachter will unwillkürlich wissen, wie wohl das Innere dieser Wohneinheiten beschaffen ist. Oft bestehen die Oberflächen aus glasfaserverstärktem Kunststoff, was eine fein strukturierte, glänzende Schicht ergibt, die zum Berühren verführt. Ein zunächst auf Papier festgehaltener Entwurf, erklärt Joep van Lieshout, ändere durch seine dreidimensionale Umsetzung seinen Charakter: „Durch die Objekte wird es für den Betrachter viel realer. Die Menschen sind es gewohnt, mit realen Dingen umzugehen. Da kann man ansetzen.“575 Folgt der Betrachter der Einladung, die die Arbeiten aussprechen, und nutzt die verschiedenen Objekte, dann wird er zu dem, was Michel de Certeau „Spieler“576 im und mit dem Raum genannt hat. Die Arbeiten der zeitgenössischen Gruppen mögen innerhalb des Stadtraumes vielleicht sichtbarer sein als die von de Certeau beobachteten „einzigartigen und vielfältigen, mikrobenhaften Praktiken“577 oder „winzigen Listen der Disziplin,“578 aber auch sie verstehen sich als „Gegenstück zu Foucaults Analyse der Machtstrukturen.“579 Auch sie sollen als eine Möglichkeit verstanden

schen aus. Auch der unbedingte Zukunftsoptimismus und das Vertrauen auf die Lösung der herrschenden Probleme durch die Technik ist ein Unterschied zu N55. 573 Sørvin, Ion: Gespräch mit der Autorin (die formalen Lösungen verdanken sich allerdings auch noch anderen Ebenen des künstlerischen Schaffens. Vgl. die Darst. in Kap. 2.3.1.1 ab S. 134). 574 Larsen, Lars Bang: Space Body Life. 575 Van Lieshout, Joep in: Interview mit der Autorin, in: Ausst.-Kat. Aachen. 576 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, S. 180. 577 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, S. 186. 578 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, S. 187. 579 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, S. 186.

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werden, eine Raumordnung des „funktionalistischen Totalitarismus“ 580 zu unterlaufen. Danto geht davon aus, dass es sowohl einen materiellen Gegenstand geben könne als auch ein davon ununterscheidbares Kunstwerk, aber dabei spricht er immer von zwei unterschiedlichen Objekten. Summarisch verweist er auf andere Beispiele, vor allem außerhalb der bildenden Kunst, wie den Jagdruf aus der Oper „Tristan und Isolde,“ der ein Jagdruf ist „und gleichzeitig über einen Jagdruf“581 handelt. Ähnliches beobachtet er „wenn zeitgenössische Künstler auf ihren Gemälden Wörter verwenden.“ In diesem besonderen Fall, so führt er weiter aus, wären die Wörter „zugleich Bedeutungsträger und materielles Objekt.“582 Es ist gerade dieser doppelte Charakter, der die Werke der zeitgenössischen Künstlergruppen auszeichnet. Die Arbeiten von AVL und N55 sind beides zugleich: Gebrauchsgegenstand und Kunstwerk. Die Verortung der Gegenwelt im Hier und Jetzt ist Teil einer künstlerischen Strategie. Die Arbeiten sind „real,“ um den Betrachter anzusprechen und zum Handeln zu animieren. Während der Betrachter die Objekte benutzt (oder sich vorstellt, dass er sie benutzen könnte) und sich in die von den Künstlergruppen erzeugten Situationen begibt, eröffnet sich ihm die fiktive Ebene der Arbeiten. Über die konkrete Handlung kommt es zu einem Nachdenken über grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens und über mögliche Alternativen. Diese Strategie ist auch bei vielen Künstlern der 1960er/1970er Jahre zu beobachten. 1965 lässt Walter De Maria ein lateinisches Kreuz aus einem nach oben offenen Metallkanal herstellen. Darin liegt eine Kugel, mit der der Betrachter den Verlauf der Form nachvollziehen kann. Selbst wenn er sich nur vorstellt, dass er die Metallkugel durch den Kanal rollt, wird die Form „verlebendigt. Individueller Impuls und allgemeingültiges universelles Strukturelement treffen auf diese simple Weise zusammen.“583 In den folgenden Jahren entstehen weitere Arbeiten aus der auf Hochglanz polierten Hohlform wie Kreis, Quadrat und Dreieck. Im Gegensatz zu den Arbeiten der zeitgenössischen Künstlergruppen lassen die von De Maria entworfenen Metallformen nie einen Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zur Kunstwelt. Selbst wenn sie ohne Podest

580 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, S. 202. 581 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 139. 582 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 140. 583 Schmidt, Hans Martin: VII. Circle, Square, Triangle, o. S.

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auf dem Museumsboden liegen, wirken sie kostbar und hoheitsvoll. Diese Arbeiten wurden nicht für alltägliche Zwecke gemacht, wie beispielsweise das von N55 entworfene Küchenmodul. Aber wie bei den Objekten von AVL und N55 spielt der Handlungsaspekt eine zentrale Rolle. Erst durch den spielerischen Nachvollzug mit der durch den Kanal gleitenden Kugel werden die auf dem Boden liegenden Zeichen zu einem „geistigen Instrument.“584 Wie bei den Arbeiten von Atelier Van Lieshout und N55 lässt sich hier ein doppelter Charakter erkennen: Auf der einen Seite steht die materielle Form aus Aluminium, auf der anderen Seite werden mit dem Werk auch die „absolute Basic Symbols of Civilisation“585 thematisiert. Und wie bei den zeitgenössischen Künstlergruppen schafft bei De Maria eine Handlung – oder die Vorstellung einer Tätigkeit – den Übergang von dem greifbaren realen Bereich zu einer fiktiven, außerhalb der Welt liegenden Ebene. 2.4.2.2 Vergleich mit historischen utopischen Experimenten Bei den historischen Versuchen einer Verwirklichung utopischer Ideen ist die Konkretisierung der alternativen Lösungen zunächst ein Selbstzweck und verfolgt keinen darüber hinausgehenden Anspruch. Zwar erhoffte man sich oft ein beispielhaftes Wirken des eigenen Gemeinwesens, 586 aber von einer bewussten Gleichzeitigkeit von Realisierung und Fiktion kann man bei diesen Unternehmungen nicht sprechen. Die Siedler, die mit Robert Owen in die USA zogen, übernahmen für ihr Siedlungsprojekt Gebäude

584 Meyer, Franz: De Maria: Skulpturen, o. S. 585 De Maria, Walter zitiert nach: Meyer, Franz: De Maria. Skulpturen, o. S. 586 „Fest ist Owens Glaube, dass der erste gelungene Versuch dieser neuen sozialen Organisation die alte Welt aus ihren Angeln heben könnte durch die bezwingende Werbekraft, die von einem solchen Experimente […] ausgehen würde“ (Muckle, Friedrich: Die großen Sozialisten, Bd. I, S. 112). Owen reiste auch mit einem sorgsam ausgearbeiteten Modell eines idealen Gemeinwesens durch die USA, um für seine Projekte zu werben (vgl. die Darst. in: Bollerey, Franziska: Architekturkonzeption, S. 62/63). Emlen schreibt, dass die Shaker ihre Häuser möglichst nah an die Durchgangsstraßen bauten, zunächst aus praktischen Gründen, aber auch, um den Vorbeifahrenden den Reichtum der Gemeinden zu demonstrieren (vgl. die Darst. in: Emlen, Robert P.: Shaker Villages, S. 7).

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und Infrastruktur der vorher dort ansässigen Gemeinde. Eine bewusste Neugestaltung der Umwelt fand nicht statt. Selbst der vom Architekten Thomas Stedman Whitwell entworfene Idealplan von New Harmony [Abbildung 24] sieht keine grundsätzlich neue Formensprache vor, sondern greift auf historische Stile zurück.587 In den großzügigen Wohneinheiten, den vier Türmen und den in der Architektur angelegten Möglichkeiten zur Kommunikation588 spiegelt sich zwar ein Teil der alternativen Ideen Owens, aber eine „fiktiven Ebene“ wird sich einem Bewohner dieser Anlage durch sein Handeln nicht in dem gleichen Maße eröffnen, wie dem Nutzer der Objekte von AVL und N55. Der englische Gartenstadtplaner Raymond Unwin war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der Meinung, dass der architektonischen Gestaltung der Wohnhäuser innerhalb einer Siedlung eine wichtige Rolle innerhalb der Gemeinschaft zukommt. Das Kunstwerk „soll Ausdruck der neuen Menschenseele [sein und] sollte als Erzieherin der Sinne“ wirken.589 Die Architektur der meisten Gartenstädte hielt sich allerdings an altbekannte Muster. In einer dezentralen Siedlung mit Villen oder zweistöckigen Reihenhäusern im Grünen kann man sicher gut wohnen, aber der gedankliche Weg zu einem außer der Welt liegenden Bereich ist von hier doch weiter als bei den von den zeitgenössischen Gruppen entworfenen Wohneinheiten. Am ehesten lassen sich vielleicht die Siedlungen der Shaker mit dem „doppelten Charakter“ der Arbeiten von AVL und N55 in Verbindung bringen. Als sich um 1879 die ersten Shaker-Gemeinden in den USA bildeten, konnte von einem typischen „Shaker-Stil“ noch nicht die Rede sein. In den ersten 20 Jahren unterschieden sich diese Siedlungen nicht von anderen Dörfern.590 Erst mit dem Anwachsen der Gemeinden wurden Häuser speziell für das Gemeindeleben der Shaker entworfen und das hatte zunächst rein praktische Gründe: Man brauchte für die wachsenden Gemeinden große Häuser, in denen die Mitglieder während der Gottesdienste die typischen „Schüttel-Tänze“ aufführen konnten, ohne dass störende Stützelemente im Wege standen. Nach dem Vorbild einer einflussreichen Gemeinde wurde

587 Vgl. die Darst. bei Bollerey, Franziska: Architekturkonzeption, S. 64-66. 588 Vgl. die Darst. in Kap. 2.2.3.3 ab S. 114. 589 Raymond, Unwin, zitiert nach: Hartmann, Kristina: Gartenstadtbewegung, S. 293. 590 Vgl. die Darst. in: Emlen, Robert P.: Shaker Villages, S. 4.

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dann in allen anderen Shaker-Gmeinschaften die Konstruktion dieser Gemeinschaftshäuser übernommen. Erst um 1840 kann man von typischen Shaker-Siedlungen sprechen,591 die sich durch besondere Ordnung, geometrische Regelmäßigkeit und Sauberkeit auszeichneten. Hierin sahen die Gemeindemitglieder eine „expression of their spritual aspiration to live a heavenly life on earth.“592 Dieser Gedanke bezog sich nicht nur auf die Architektur, sondern auch auf die Auffassung von Arbeit. Es wurde bereits Joep van Lieshout zitiert, der ausführt: Es war „specific to the shakers […] that they said that working was the same as worshipping. If you work very well it is like showing your gratitude to god.“593 Das alltägliche Leben der Gemeindemitglieder wurde von den in den Evangelien niedergeschriebenen Regeln bestimmt. Der Gedanke, die Umwelt nach religiösen Grundsätzen zu formen, war in den Vorstellungen der Shaker von Anfang an angelegt. Wenn ein Handwerker aus einem rauen Holzstamm einen glatten und formschönen Stuhl herstellte, dann hatte er dieses Material der ungeordneten Umwelt entrissen und zu einem sinnvollen Teil der Gemeinschaft gemacht. Dies war sowohl für den, der das Möbel herstellte, als auch für den, der es benutzte, ein „transcendent experience.“594 Auf der einen Seite ist der Stuhl also ein für einen bestimmten praktischen Zweck hergestelltes Objekt, auf der anderen Seite aber erlaubt er durch seine vollendete Form einen Ausblick auf eine besser geordnete Welt, auf ein himmlisches Reich. 2.4.3 Ist es möglich, Utopien zu leben? Fast alle historischen Versuche einer praktischen Umsetzung utopischer Ideen sind langfristig gescheitert. In dieser Hinsicht gleichen die zeitgenössischen Künstlergruppen ihren historischen Vorgängern: AVL-Ville wurde nach neun Monaten von Vertretern städtischer Behörden aufgelöst.595 Joep van Lieshout sieht den Mangel an finanziellen Mitteln als den Hauptgrund für das Scheitern von gelebten Utopien.596 Das trifft beispielsweise eben-

591 Vgl. die Darst. in: Emlen, Robert P.: Shaker Villages, S. 6. 592 Ebd. 593 Van Lieshout, Joep: New ways of Exploiting People, Vortrag. 594 Emlen, Robert P.: Shaker Villages, S. 12. 595 Vgl. die Darst. in Kap. 2.2.2.1 ab S. 33. 596 Van Lieshout, Joep in: Gespräch mit Danilo Eccher, S. 7.

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falls auf das Sanatorium auf dem Monte Verità oder auf das von Robert Owen initiierte New-Harmony-Projekt zu. Diese Siedlungen waren unter anderem auch deshalb nicht erfolgreich, weil zu wenige Teilnehmer gut ausgebildet waren und sich am Aufbau hätten beteiligen können. 597 Doch ist eine mangelhafte Finanzierung nicht der einzige Grund des Scheiterns. Sicher hätten in AVL-Ville einige der Auflagen von behördlicher Seite mit mehr Geld umgesetzt werden können, wie beispielsweise die bereits erwähnte Abgaskläranlage. Zur Auflösung trugen aber sicher auch interne Probleme bei. In dem Abschnitt über die politische Ordnung der Gemeinwesen wurde bereits auf das Ungleichgewicht zwischen der in der Konstitution verbrieften Gleichheit aller Bewohner von AVL-Ville und der einflussreichen Position Joep van Lieshouts hingewiesen. Vielleicht liegt hier das gleiche Problem vor, das schon das in der Nachfolge von Charles Fourier gegründete Gemeinwesen von Wisconsin in den USA zerstört hatte. Die Siedlung war wirtschaftlich erfolgreich, aber scheiterte nach acht Jahren daran, „dass sie vielen ihrer Mitglieder keinen angemessen Rahmen für ihre individuelle Selbstenfaltung bot.“598 Problematisch war sicher auch die Stellung der Mitglieder von AVL: Auf der einen Seite waren sie Angestellte, die für ihre Arbeit bezahlt wurden, auf der anderen Seite aber Teilnehmer eines Projektes, das eine über das Angestelltendasein weit hinausgehende Hingabe forderte. Joep van Lieshout äußert sich im Rückblick bedauernd: „Ich hatte geglaubt, dass ich AVL-Ville für die Leute gemacht hätte, die in AVL, in meinem Unternehmen, in meinem Atelier arbeiten. Und die Leute selber haben gedacht: Ach ja, das ist ein Kunstprojekt vom Chef und das ist seine Utopie, aber nicht unsere Utopie. Also hat AVL-Ville nur knapp ein Jahr existiert. Im Nachhinein muss ich sagen: es war ziemlich schwierig, meine eigenen Leute für das Projekt zu begeistern.“ 599 Bei N55 trugen dagegen Differenzen im Inneren dazu bei, die über lange Zeit gut funktionierende Formation vier eng zusammenarbeitender Künstler und Künstlerinnen aufzulösen. Neben privaten Problemen hatte das auch mit

597 Vgl. Fn 154. 598 Saage, Richard: Utopieforschung. Eine Bilanz, S. 92. 599 Van Lieshout, Joep in: Gespräch mit Harald Kunde. In dieser Hinsicht äußerte sich van Lieshout in den Jahren direkt nach AVL-Ville nicht so deutlich. Zuvor hatte er für das Scheitern des Projektes vor allem externe Probleme (beispielsweise Auflagen seitens der Behörden) verantwortlich gemacht.

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dem Ideal einer gleichberechtigten Mitbestimmung zu tun: Unter den ständigen Gesprächen und zehrenden Diskussionen litt die Produktivität der Gruppe. Nach sieben Jahren wurde der enge Zusammenhang von gemeinschaftlichem Leben und Arbeiten der vier Mitglieder aufgegeben.600 Also haben die eingangs zitierten Kritiker Recht und jeder Versuch, eine Utopie zu realisieren, ist zum Scheitern verurteilt und endet „inhuman und barbarisch“?601 Man könnte mit Richard Saage fragen: „Kann die Geltungskraft des utopischen Konstrukts überhaupt von einer empirischen Verifikation abhängig gemacht werden?,“602 zeigt sich der Sinn oder Unsinn von gelebten Utopien also nur in der Dauer ihres Bestehens? In seiner Studie zur Mühl-Kommune kommt Peter Stoeckl zu dem Schluss, dass jede Generation ihre eigenen alternativen Lebensformen entdecken müsse: „Die gelebte Utopie [ist daher] nicht durch lange Lebensdauer erfolgreich, sondern durch Intensität und Experimentierfreude.“ 603 Uwe Ebbinghaus schreibt zu dem Experiment, das Henry David Thoreau Mitte des 19. Jahrhunderts unternahm: „Es ist die alternative Denkweise, die sich dem Reduktionsexperiment verdankt und es überlebt.“604 In der Tat hat Thoreaus Auszug aus der Zivilisation trotz seiner nur zweijährigen Dauer viele spätere Generationen dazu inspiriert, die eigene Lebensweise und die eigene Zeit bewusst wahrzunehmen und zu überdenken.605 Das ist das „eigentliche Wesen der Heterotopien,“ stellt Foucault fest: „Sie stellen andere Räume in Frage.“606 Es sind „Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind,“ um dort als „Gegenplazierungen oder Widerlager“ zu fungieren.607 Das erfüllen die Arbeiten von N55 und AVL in hohem Maße. Dadurch, dass die skandinavische Gruppe kein in sich geschlossenes Ge-

600 Ion Sørvin arbeitet nach dem Ausscheiden von Rikke Luther und Cecilia Wendt (2003) sowie nach dem Tod von Ingvil Aarbaakke (2005) weiterhin unter der Bezeichnung N55. Dabei kooperiert er zeitweilig mit verschiedenen Künstlern, Architekten und Designern, die auf der Homepage genannt werden. 601 Jenkis, Helmut: Sozialutopien, VII. 602 Saage, Richard: Utopische Profile, Bd. III, S. 446. 603 Stoeckl, Peter: Kommune und Ritual, S. 202. 604 Ebbinghaus, Uwe: Feng Shui. 605 Vgl. die Darst. in Kap. 2.1.2. 606 Foucault, Michel: Die Heterotopien, S. 19. 607 Foucault, Michel: Andere Räume, S. 39.

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meinwesen schafft, sondern verstreute Anknüpfungspunkte für Veränderung in das Gefüge der Ausgangsgesellschaft stellt, sind die Werke ein „Widerlager,“ an dem der Betrachter ansetzen kann. Auch AVL-Ville wirkt trotz seiner Auflösung in diesem Sinne weiter. Viele Objekte, die Teil des „Freistaates“ waren, wurden seit 2001 in Ausstellungen gezeigt und auch der von AVL herausgegebene Katalog dokumentiert diese Zeit ausführlich.608 2005 urteilt Joep van Lieshout über das Projekt: „AVL-Ville besteht nicht mehr, aber es wirkt noch […] legendarisch.“609 Es ist aber vor allem der doppelte Charakter der Arbeiten von Atelier Van Lieshout und N55, der dafür sorgt, dass die Kritik an den bestehenden Verhältnissen und die Suche nach möglichen Lösungen nicht im „Terror der Ideen“610 mündet. Die Realisierung des utopischen Entwurfs stellt zahlreiche Alternativen vor, die das alltägliche Leben verbessern können und auch sollen. Doch diese Umsetzung ist zugleich Teil einer künstlerischen Strategie. Immer wird mit den greifbaren Lösungsvorschlägen eine fiktive Ebene angesprochen, die „außerhalb der Welt“ liegt und daher auf neue Entwicklungen und Fragestellungen reagieren kann.

608 Atelier Van Lieshout: Atelier van Lieshout. 609 Van Lieshout, Joep in: Gespräch mit der Autorin 2005. 610 Fest, Joachim: Der zerstörte Traum, S. 81.

3 Sammeln und Archivieren als Ausgangspunkt für Utopien

In diesem Kapitel wird die Arbeit des 1997 von Marina Thies und Christina Dilger als Kunstprojekt gegründeten Institutes für Paradiesforschung und die Reihe Selbst/Bilder von Anke Haarmann untersucht. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit beruhen beide Projekte auf zwei ähnlichen Strategien: Zum einen wird der Betrachter zum aktiven Mitspieler an den Projekten, zum anderen werden die Ergebnisse dieser Teilnahme in einer Art Archiv geordnet und gesammelt. Was haben Kunstprojekte, bei denen Teilnehmer zunächst Texte, Karten, Filme oder Bilder produzieren, die dann in einem zweiten Schritt archiviert werden, mit Utopien zu tun? Inwiefern kann man vom Sammeln und Ordnen als einer utopischen Methode sprechen? Zur Beantwortung dieser Fragen sollen die einzelnen Projekte der Künstlerinnen zunächst vorgestellt und besonders der partizipative Ansatz vor dem Hintergrund historischer Vorbilder herausgearbeitet werden. Der zweite Teil vergleicht die vorgestellten Projekte mit der vor allem vom 16. bis zum 18. Jahrhundert verbreiteten Sammlungsform der Kunstkammer und den zeitgleich entstandenen literarischen Utopien.

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3.1

Z EITGENÖSSISCHE P OSITIONEN

3.1.1 ipfo. Institut für Paradiesforschung Das Kunstprojekt ipfo. Institut für Paradiesforschung wurde von Marina Thies und Christina Dilger 1997 im Rahmen ihrer Diplomarbeit des Studiengangs Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Dortmund gegründet. Seitdem lautet der „Forschungsauftrag“1 des Institutes, zeitgenössische Paradiesvorstellungen zu sammeln, zu visualisieren und dann zu veröffentlichen. Um „möglichst viele, unterschiedliche, detaillierte Paradiesvorstellungen zu sammeln,“2 ist das Institut auf Teilnehmer angewiesen, die für kurze Zeit an dem Projekt mitarbeiten, indem sie der Sammlung ihre eigenen Gedanken zum Thema Paradies einfügen. Dies geschah in den Jahren 1997/1998 zunächst über einen Fragebogen zur „Erhebung von Paradiesvorstellungen,“3 den die Künstlerinnen in ihrem Freundeskreis ausgaben und auf Veranstaltungen verteilten. Er enthielt 20 Fragen, die entweder als Entscheidungsfragen mit Ja oder Nein beantwortet werden sollten, die aber auch Raum für freie Formulierungen ließen. Gefragt wurde zum Beispiel nach Ort und Dauer des vorgestellten Paradieses oder nach den Voraussetzungen, um dort aufgenommen zu werden. Mit welchen Gefühlen, Sinneswahrnehmungen oder auch mit welchem Erkenntnisstand lebt man in diesem Paradies? Würde man es begrüßen, wenn die eigenen Vorstellungen vom Paradies verwirklicht würden? Orientiert sich die Paradiesvorstellung an religiösen oder politischen Ideen? Der Fragebogen wirkte in seiner graphischen Gestaltung sachlich und offiziell. Die der Frage „Welche Position nehmen Sie im Vergleich zu den anderen [Menschen] in Ihrer Paradiesvorstellung ein?“4 zur Seite gestellten zehn Graphiken schienen einem Lehrbuch der Soziologie entnommen:5 Die verschiedenen Punkte, Dreiecke und

1

Dilger, Christina; Thies, Marina: Was will ipfo?

2

Dilger, Christina; Thies, Marina: Paradiesforschung.

3

Dilger, Christina; Thies, Marina: Umfrage.

4

Frage 4 auf dem Fragebogen in: ebd.

5

Die Graphiken beruhen allerdings nicht auf soziologischen Untersuchungen, sondern wurden von Dilger und Thies selbst entwickelt (vgl. Christina Dilger in: Interview mit der Autorin).

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Kreise sollten die verschiedenen Möglichkeiten von Gruppenbildungen verdeutlichen und damit dem Befragten bei der Einordnung helfen. Für ihre Diplomarbeit werteten Dilger und Thies die handschriftlich ausgefüllten Fragebögen aus und stellten mit der CD-ROM Paradise, on exit go loop von 1998 eine Art erster „Paradies-Kollektion“6 vor, die sie auch bei folgenden Präsentationen und Workshops nutzten. Sie wollten die Vorstellungen von einem idealen Leben „in irgendeiner Form sichtbar machen.“7 Die Gestaltung der CD ist daher auch sehr viel lebendiger als die des Fragebogens: In einem Vorspann wird zunächst das Institut vorgestellt. Dann erscheint eine Plattform, auf der es sich sieben weiß gekleidete Menschen bequem gemacht haben [Abbildung 28]. Es sind personifizierte Paradiestypen, die die Künstlerinnen aus den beantworteten Fragebögen herausAbbildung 28: ipfo. Institut für Paradiesforschung: Paradise – on exit go loop (Plattform mit sieben Paradiestypen), CD-ROM 1998

6

Dilger, Christina; Thies, Marina: CD-ROM: Paradise.

7

Christina Dilger in: Interview mit der Autorin.

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gefiltert haben. Der Nutzer kann die Figuren anklicken und erhält eine Beschreibung der verschiedenen Vorstellungen vom Paradies. Es gibt die Idee eines „augenblickliche[n] Glück[es]“8 oder die an die buddhistische Glaubenslehre angelehnte Vorstellung eines „Nichts,“9 in dem sich alles gegenseitig aufhebt. Einige der Befragten entwickelten auch einen eher klassischen Paradiesbegriff, der auf dem christlichen Glauben aufbaut, andere verstanden den perfekten Zustand als den Versuch, „weise [zu] werden“10 und „das Wissen aller Kulturen in sich zu vereinen.“11 Einige Teilnehmer konnten sich nur „Zweisam im Paradies“ 12 vorstellen und beschrieben die „Intimität und Nähe eines erotischen Augenblicks,“13 während wieder andere von Landschaften träumten, die an antike Arkadienvorstellungen erinnern oder in einer Art „Alltagskaleidoskop“14 die schönen Momente des alltäglichen Lebens als Paradies verstanden. Die Figuren auf der Plattform bieten also eine erste Beschreibung der sieben Paradiesformen, die Dilger und Thies bei ihrer Recherche vorgefunden haben. In einem zweiten Schritt entwickeln die Künstlerinnen dann kurze Bilder oder Sequenzen zu diesen Paradieskategorien. In einem „Glückskosmos“15 kann der Nutzer der CD-ROM mit der Computer-Maus herumschwirrende Planeten fangen. In ihnen ist dann jeweils die Visualisierung einer Paradiesform enthalten. Einige der Planeten zeigen Bilder intensiver Glücksmomente, beispielsweise einen Fallschirmsprung oder das Erleben von Applaus auf der Bühne. Ein anderer Planet zeigt Adam und Eva im Garten Eden. Die Vorstellung des Nichts haben Dilger und Thies mit dem Effekt der Pixelwiederholung verdeutlicht: Einer der Paradiestypen erscheint zunächst in doppelter Form, nähert sich seinem Zwillingsbild an und löst sich dann auf, während die Umrisse der Figuren sich überlagern. Das Nichts wird so zu einer „Übereinanderlagerung von allem.“16 Die CD-

8

Dilger, Christina; Thies, Marina: CD-ROM: Paradise.

9

Ebd.

10 Ebd. 11 Dilger, Christina; Thies, Marina: Kategorienübersicht. 12 Dilger, Christina; Thies, Marina: CD-Rom: Paradise. 13 Dilger, Christina; Thies, Marina: Kategorienübersicht. 14 Dilger, Christina; Thies, Marina: CD-Rom: Paradise. 15 Ebd. 16 Dilger, Christina in: Interview mit der Autorin.

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ROM zeigt außerdem, dass das Thema Paradies in vielen Disziplinen diskutiert wird. Dilger und Thies führten im Rahmen ihrer Diplomarbeit Interviews mit Wissenschaftlern aus den Bereichen Theologie, Soziologie, Philosophie und Zukunftsforschung. Die Gespräche kann der Nutzer verfolgen, indem er die so genannten „Paradiesexperten“ anklickt, die ihr wissendes Haupt auf weiße Kissen gebettet haben [Abbildung 28].17 Christina Dilger und Marina Thies haben das Institut für Paradiesforschung auch nach Abschluss ihres Studiums 1998 weitergeführt und eine Website entwickelt.18 Sie enthielt Informationen zur Geschichte des Institutes und zu dessen Leitsätzen sowie eine Liste von weiterführenden Links. Der Fragebogen, der bis 2004 in Papierform verteilt worden war, konnte online angesehen und ausgefüllt werden. Die während der Arbeit zur CDROM entwickelten Paradieskategorien wurden nun auch im Rahmen des Fragebogens vorgestellt, so dass jeder Befragte seine Ideen selbstständig einer Kategorie zuordnen konnte. Aus einem Stapel von Fragebögen wurde ein online zugängliches Archiv, das ständig wuchs. Geordnet nach den schon erwähnten Kategorien konnten die Nutzer lesen, wie sich andere Befragte das Paradies vorstellen. Auf diese Weise sollte die Homepage des Instituts als „Austauschplattform für Paradiesafine“19 dienen. Zusätzlich gab es eine erste Auswertung der gesammelten Informationen. Ein Balkendiagramm zeigte, wie viel Prozent der Befragten ihre Paradiesvorstellung welcher Kategorie zugeordnet haben. Zum Beispiel fanden sieben Prozent der Befragten, dass ihre Vorstellungen vom Paradies am ehesten zu der Kategorie „Schlaraffenland“ passt, und 20 Prozent ordneten ihre Vorstellung den „utopischen Gemeinschaften“ zu.20 Das Projekt einer Sammlung und Archivierung von Paradiesvorstellungen beruhte also auf der Teilnahme von Menschen, die die Fragebögen von ipfo ausgefüllt haben. Christina Dilger und Marina Thies gaben dem Pro-

17 Es wurden Interviews mit Prof. K. Müller (Theologe), Prof. T. Kobusch (Philosoph), Prof. H. Herrmanns (Soziologe), Prof. Blothner (Psychologe) und mit Dr. Steinmüller (Zukunftsforscher) geführt, vgl. Dilger, Christina; Thies, Marina: CD-ROM: Paradise. 18 Dilger, Christina; Thies, Marina: www.ipfo.de. Die Homepage wurde von 2004 bis 2007 gepflegt. 19 Dilger, Christina; Thies, Marina: Was will ipfo? 20 Vgl. die Darst. in: Dilger, Christina; Thies, Marina: Auswertung.

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jektteilnehmer mit diesem Fragebogen bestimmte Rahmenbedingungen vor. Jeder, der an diesem Projekt teilnahm, erklärte sich von vorneherein mit der inhaltlichen Ausrichtung einverstanden, denn eine Möglichkeit zur grundsätzlichen Diskussion darüber gab es nicht. Im Gegensatz zu einer sozialen Interaktion ist die Kommunikation mit dem Medium Computer (oder mit einem Fragebogen auf Papier) nicht auf eine personale Anwesenheit der Teilnehmer angewiesen und macht so eine diachrone Verständigung möglich. Ein Fragebogen richtet sich auch in erster Linie an Einzelne und weniger an eine Gruppe von Menschen, die gemeinsam über das Thema Paradies diskutieren. Verträte zum Beispiel ein grundsätzlich am Projekt Interessierter die Meinung, dass eine Datenerhebung mittels eines Fragebogens die falsche Methode sei, verschiedene Paradiesvorstellungen zu sammeln, bliebe ihm nur, gar nicht am Projekt teilzunehmen. Auf die bereits bestehende Struktur der Website oder des Fragebogens kann er keinen Einfluss mehr nehmen. Es war allerdings möglich, die auf der Website unter „Kontakt“ angegebene Adresse, E-Mail-Adresse oder sogar die Telefonnummer zu nutzen, um mit den Künstlerinnen eine Diskussion zu eröffnen. Dort hieß es auch: „Ihre Anregungen, ob positiv oder kritisch und am wichtigsten natürlich Ihre Beiträge zu dieser Web-Site sind uns immer willkommen.“21 Diese Angaben fanden sich allerdings auf einer separaten Seite. Eine Kontaktaufnahme mit den Künstlerinnen war also prinzipiell möglich, aber nicht in der Struktur des Fragebogens angelegt. Eine Auseinandersetzung mit anderen Projektteilnehmern war darüber hinaus auch theoretisch nicht möglich, denn die Befragten blieben anonym.22 Das Konzept zur Sammlung von Paradiesvorstellungen stand also vor der Befragung fest: Die Künstlerinnen hatten die Idee zu diesem Projekt, formulierten den einleitenden Text und waren für die Art der Archivierung

21 Dilger, Christina; Thies, Marina: Kontakt. 22 Christina Dilger und Marina Thies veranstalteten von Zeit zu Zeit Workshops, in denen eine Gruppe von Teilnehmern gemeinsam über verschiedene Paradiesvorstellungen diskutierten (beispielsweise im Jahr 2000 im Rahmen der Ausstellung „Leben – Tod“ der Diözese Stuttgart-Rottenburg oder 2001 zu „zeitgenössischen Paradiesvorstellungen“ im Humboldt Gymnasium in Dortmund). Diese Veranstaltungen waren aber mit dem Archiv auf der Homepage nicht sehr eng verzahnt und eine Teilnahme an dem Projekt war auch ohne den Besuch dieser Workshops gut möglich.

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der eingegangenen Paradiesvorstellungen in der Datenbank verantwortlich. In ihrer dem Gruppennamen angemessenen „wissenschaftlich-objektiven“ Sprache ließen die Expertinnen keinen Zweifel an ihrer Stellung: Die erhobenen Daten wurden zum Beispiel erst „nach einer Prüfung durch das Institut im Archiv [der] Website veröffentlicht.“23 Die Projektinitiatorinnen stellten die Fragen des Erhebungsbogens und entwickelten aus den eingegangenen Paradiesvorstellungen verschiedene Kategorien, die sie dem Befragten mit einem kurzen Text vorstellten. Sowohl die Fragen als auch die bereits bestehenden Kategorien lenkten die Paradiesvorstellungen eines jeden neuen Projektteilnehmers. Aber trotz der Vorgaben hatten die Befragten die Möglichkeit, Einfluss auf das Archiv des Instituts zu nehmen. Jeder neu eingegangene Fragebogen wurde gespeichert und veränderte damit den Inhalt der Archivdatenbank. So konnten die Vorstellungen von Projektteilnehmern die Antworten eines neuen Befragten beeinflussen, der sich vorher das Online-Archiv angesehen hatte. Neben den Fragen, die nur ein Ankreuzen erforderten, ließ der Erhebungsbogen an anderen Stellen auch Raum für freie Formulierungen. Schon der erste Punkt auf dem Fragebogen beeinhaltete ein freies Feld für eine „Kurzbeschreibung“24 der Paradiesvorstellung, ohne dass eine bestimmte Richtung vorgegeben wurde. Schließlich bot die Homepage des Instituts für Paradiesforschung auch einen Ort, an dem – vollständig unabhängig vom Fragebogen – „freie Paradiesbeschreibungen“25 in Form von Texten oder auch Bildern veröffentlicht werden konnten.26 Bei einer Frage

23 Dilger, Chrstina; Thies, Marina: Paradiesforschung. In einem Interview mit der Autorin führt Christina Dilger aus: „Jede Paradiesvorstellung hat ihre Berechtigung und wir nehmen nur dann etwas heraus, wenn es gegen die guten Sitten verstößt, denn schließlich werden die Beiträge ja veröffentlicht.“ Autorin: „Kam das einmal vor?“ Dilger: „Ja, aber sehr selten“ (Christina Dilger in: Interview mit der Autorin). 24 Dilger, Christina; Thies, Marina: Umfrage. 25 Dilger, Christina; Thies, Marina: Paradiesforschung-Bild-Text. 26 Diese Möglichkeit wurde allerdings nicht sehr oft genutzt. „Wir haben auch auf Zusendungen gewartet, die bildlicher Art oder dreidimensionaler Art sind. Das ist aber kaum bei uns gelandet. Es gab dagegen einige sehr umfangreiche Aufsätze. Bisher haben wir keine Möglichkeit gesehen, diese im Internet zu veröffentlichen“ (Christina Dilger in: Interview mit der Autorin).

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war es sogar möglich, nicht nur den Inhalt des Archivs, sondern auch dessen Ordnungsstruktur zu ändern: Beim letzten Punkt ging es um die Einordnung der Paradiesvorstellung in die Kategorien. Der Betrachter hatte entweder die Möglichkeit, eine der schon vorgegebenen Kategorien auszuwählen, oder einen neuen Paradiesoberbegriff vorzuschlagen. Machten mehrere Befragte von der zweiten Möglichkeit Gebrauch, konnte eine weitere Kategorie gebildet werden, die dann für jeden neuen Projektteilnehmer zur Auswahl stand. Ein solcher Vorgang hat zum Beispiel seit 1998 dazu geführt, dass sich den bis dahin möglichen sieben Paradieskategorien zwei weitere hinzugesellten: „Schlaraffenland“ umfasste alle „materiell geprägten Paradiesvorstellungen,“ und die ebenfalls neue Kategorie „utopische Gemeinschaften“ beschäftigte sich mit „Gesellschaftsmodellen.“27 Das Projekt Institut für Paradiesforschung bot neben der Beantwortung des Fragebogens aber noch eine weitere Möglichkeit der Partizipation. Es wurde bereits auf die Workshops hingewiesen, die Dilger und Thies in unregelmäßigen Abständen organisierten und in denen dann eine Gruppe von Teilnehmern gemeinsam über verschiedene Paradiesvorstellungen diskutieren konnte. Die Künstlerinnen agierten dabei als Moderatorinnen und lenkten die Gespräche. Im Rahmen der Ausstellung „Reservate der Sehnsucht,“28 die 1998 in Dortmund stattfand, ist – so beschreibt es Christina Dilger – „in der Gruppe sehr viel entstanden. Obwohl sich die Gruppe zufällig gebildet hat, konnten […] Leute, die eigentlich seit Jahren glaubten, bestimmte Paradiesvorstellungen zu haben (oder auch keine zu haben), im Gespräch mit anderen Leuten auf einmal andere Ideen aufnehmen und waren auch sehr offen für ganz neue Inhalte.“29 3.1.1.1 Exkurs: Kategoriekritik Das interdisziplinäre Team von den für die CD-ROM befragten Paradiesexperten zeigt, wie weit der Begriff Paradies von Christina Dilger und Marina Thies gefasst wird. So sind auch die zuvor beschriebenen Kategorien, in die der Befragte seine Paradiesvorstellungen einordnen kann, sehr unter-

27 Dilger, Christina; Thies, Marina: Kategorienübersicht. 28 „Reservate der Sehnsucht,“ 21. August bis 4. Oktober 1998. Ein Projekt des Kulturbüros der Stadt Dortmund in Kooperation mit hartware und der Kultur Ruhr GmbH. 29 Christina Dilger in: Interview mit der Autorin.

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schiedlich. Grundsätzlich definieren die Künstlerinnen das Paradies als „perfekten Zustand,“30 und die Utopie ist für sie nur eine Ausformung dieses perfekten Zustandes, ebenso wie das Schlaraffenland oder Vorstellungen vom augenblicklichen Glück. Während Dilger und Thies hier also „Utopie“ als Unterbegriff unter den Oberbegriff Paradies subsumieren, wird in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich anders zwischen Paradies, Utopie und Schlaraffenland unterschieden. In gewisser Weise beschreiben alle Begriffe einen perfekten Zustand in einer der Ausgangsgesellschaft entgegengesetzten Welt, die entweder zeitlich oder räumlich dem Zugriff entzogen ist. Im folgenden Exkurs soll gezeigt werden, dass diese anderen Welten trotz der Gemeinsamkeiten so unterschiedlich sind, dass sie im Rahmen dieser Arbeit nicht ohne weiteres zusammengefasst werden können. Zum Schluss wird der Frage nachgegangen, warum es dennoch sinnvoll ist, sich in einer Arbeit über Utopien mit einem Institut zu beschäftigen, das sich der Untersuchung von Paradiesen (und eben nicht Utopien) verschrieben hat. Paradiesvorstellungen sind Teil der Schöpfungsmythen vieler Völker31 und gehören auch zur jüdisch-christlichen Gedankenwelt. Im Paradies war der Mensch unsterblich und lebte in Harmonie mit der Natur. Ursprünglich waren Adam und Eva schuldlos, erst nach dem Sündenfall wurde das Paradies „den Menschen entrückt.“32 Nach jüdischer Tradition wird dieses urzeitliche Paradies mit dem endzeitlichen Paradies in Einklang gebracht und existiert daher in der Vorstellung zwar weiter, kann aber vom Menschen nicht mehr lokalisiert werden. In mittelalterlichen „mappae mundi“ wird es weiterhin als Teil der Erde dargestellt, ist aber dennoch für den Menschen unerreichbar, andere mittelalterliche Vorstellungen verlegten das Paradies in den Himmel. In jedem Fall aber ist der Mensch nach dem Sündenfall mit Schuld beladen und muss fortan arbeiten, um in dieser Welt zu überleben. Es bleibt einzig der Ausweg, das diesseitige Leben so zu gestalten, dass es den Zugang zum Paradies im Jenseits ermöglicht. In diesem endzeitlichen Paradies, so die christliche Hoffnung, werden alle Widerstände des diesseitigen Lebens überwunden und einer vollkommenen Harmonie weichen. Diese Vorstellung lässt sich als Gegenentwurf zu einer als unvollkommen

30 Dilger, Chrstina; Thies, Marina: Was will ipfo? 31 Vgl. die Darst. in: Haekel, J.: Paradies, religionswissenschaftlich, Sp. 67. 32 Vgl. die Darst. in: Scheffczyk, L.: Artikel Paradies, Sp. 1697.

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erfahrenen geschichtlichen Welt sehen und so könnte man in der Bibel in der Tat ein „utopisches Potential“33 erkennen. Aber dennoch gibt es wichtige Unterschiede zur Utopie: Im Gegensatz zur Paradiesvorstellung wird hier ein idealer Zustand beschrieben, der im Diesseits und durch menschliche Überlegung und Tatkraft zustande kommen könnte. Der Mensch der Renaissanceutopien mag zwar fleißiger, lernbegieriger und friedliebender sein als der Durchschnittsbürger, aber dennoch ist er nicht vollkommen. Daher spielen Institutionen und Gesetze in den Staatsutopien so eine wichtige Rolle. Das vollkommene Leben wird „nicht mehr in der christlichen Heilsordnung (Sündenfall und Erlösung), sondern innerweltlich gesucht.“34 Darüber hinaus sind die in der Utopie entwickelte Kritik an der Ausgangsgesellschaft und die sich darauf beziehenden Lösungsvorschläge konkreter und detaillierter als die Vorstellungen von einem von allem Irdischen befreiten Leben im Paradies. Es „wäre […] sicher falsch,“ könnte man also mit Sven-Aage Jorgensen sagen, die Bibel „als eine im engeren Sinne literarische Utopie zu betrachten.“35 Der Begriff Utopie ist also nicht einfach als ein Unterbegriff von „Paradies“ zu sehen, sondern umfasst einen eigenen Bereich. Ähnliches lässt sich auch für Vorstellungen vom Schlaraffenland feststellen. Die Märchen und Erzählungen von einem Land, in dem einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen und niemand mehr arbeiten muss, lassen sich als „ein Gegen-Bild der sich entwickelnden bürgerlichen Welt der Neuzeit“ sehen und tragen daher „Konturen der sozialen Utopie“:36 Auf den Hunger und die Armut weiter Bevölkerungskreise antwortet das Schlaraffenland mit der Kommunität aller Luxusgüter. Die Ständeordnung wird durch die soziale Gleichheit aller Menschen ersetzt. Die strengen moralischen Vorstellungen der Kirche gelten nicht mehr, stattdessen herrscht eine „sexuelle Libertinage.“37 Gegen die Grundlagen der frühbürgerlichen Wirtschaftsordnung mit ihrer neuen Art der Zeitökonomie und Waren-GeldBeziehungen wird die „Schenke-Ordnung“38 gesetzt: Anstatt Arbeit und

33 Jorgensen, Sven-Aage: Utopisches Potential in der Bibel, S. 375. 34 Dierse, U.: Utopie, Sp. 510. 35 Jorgensen, Sven-Aage: Utopisches Potential in der Bibel, S. 375. 36 Richter, Dieter: Schlaraffenland, S. 9/10. 37 Richter, Dieter: Schlaraffenland, S. 44. 38 Richter, Dieter: Schlaraffenland, S. 36.

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Produktion gibt es nur Distribution und Konsum. Aber all diese Ideen verdanken sich nicht einer Gruppe von Menschen, die planen und arbeiten, sondern einer verkehrten Welt, die Unmögliches möglich macht: Die Natur schenkt den Bewohnern ihre Gaben freiwillig in Hülle und Fülle. Auch ohne eine erkennbare Form der Regierung gehen alle Bewohner friedlich miteinander um. Dieser ideale Zustand beruht also auf der – selbst auf theoretischer Ebene – nicht verwirklichbaren Prämisse eines Automatismus der Gütererzeugung, der die Menschen mit allem versorgt, was sie zum Leben brauchen. Daher ist die Vorstellung vom Schlaraffenland keine „populäre Utopie,“39 sondern muss als gesonderte Idealvorstellung behandelt werden. Im Rahmen dieser Arbeit werden die Begriffe Paradies, Schlaraffenland und utopische Gemeinschaften also anders definiert, als es Marina Thies und Christina Dilger in ihrem Institut für Paradiesforschung tun. Dennoch scheint der von ipfo gewählte Oberbegriff sinnvoll, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Der Begriff Paradies spricht vor allem die persönlichen Wünsche und Sehnsüchte an und ist in der Alltagssprache inzwischen auch jenseits der christlichen Bedeutung sehr verbreitet. Der Begriff Utopie dagegen ruft im alltagssprachlichen Bereich eher negative Assoziationen hervor.40 Trotz der unterschiedlichen Definitionen beschäftigt sich aber sowohl das Institut für Paradiesforschung als auch diese Arbeit mit den gleichen Fragen: Wie sieht unsere Welt aus, und welche Möglichkeiten gibt es, eine Alternative zu dem gegenwärtigen Leben zu entwerfen? 3.1.2 Anke Haarmann Seit 1998 arbeitet Anke Haarmann an der Projektreihe Selbst/Bilder, die sich mit verschiedenen gesellschaftlichen „Schlüsselthemen“41 auseinandersetzt. Für jedes Projekt lädt Haarmann jeweils bestimmte Gruppen vor Ort ein, sich auch jenseits des Alltags mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Besonderes Augenmerk legt die Künstlerin auf das Verhältnis des Einzelnen zur umgebenden Gesellschaft, die ihm in Form von Bildern und herrschenden Normen gegenübertritt. Sie geht davon aus, dass der Einzelne

39 Der Untertitel des Buches von Dieter Richter lautet: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Utopie. 40 Vgl. auch die Begriffgeschichte in Kap. 1.2. 41 Haarmann, Anke: Selbst/Bilder – Konzept der Projektreihe.

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eher passiv die von den öffentlichen Medien produzierten Bilderwelten und prototypischen Vorbilder konsumiert. Im Verlauf der Projekte sollen sich die Teilnehmer mit diesen öffentlichen Bildern auseinandersetzen und so schließlich zu „aktiven Produzenten“42 ihrer eigenen Bilder werden. Dazu stellt Haarmann ihre Fähigkeiten als Künstlerin zur Verfügung, um eine „kommunikative und künstlerische Plattform“43 zu schaffen, von der aus die Teilnehmer agieren können. Die bei den Vorbereitungen und der Projektarbeit entstehenden Bilder und andere Materialien werden dann gesammelt und sollen der „Erstellung eines kulturellen Archivs“ 44 dienen, das mit jedem neuen Projekt wächst. Im Folgenden soll vor allem das Projekt Visionen&Utopien aus der Reihe Selbst/Bilder vorgestellt werden, das die Künstlerin im Rahmen der Ausstellung „Museutopia. Schritte in andere Welten“ verwirklicht hat, die 2002 im Osthaus Museum Hagen stattfand.45 In einer ersten Recherchephase, die Haarmann selbst als „individuelle und kontingente Untersuchung“ 46 bezeichnet, geht die Künstlerin durch die Stadt und beobachtet, welche Themen im Moment aktuell sind.47 In Hagen fiel ihr beispielsweise die stadtplanerische Diskussion über die zukünftige Entwicklung der Stadt auf. Zeitgleich arbeitet sie an einer Art „fotografischer Bestandsaufnahme.“48 Der Projektvorschlag vom November 2001 zeigt, dass sie sich auch intensiv mit dem Konzept der „Ausstellung zum 100jährigen Jubiläum der Folkwang-Idee“ – so der Untertitel der Hagener Ausstellung – auseinan-

42 Ebd. 43 Ebd. 44 Haarmann, Anke: Das virtuelle Archiv. 45 Visionen&Utopien ist das 3. Projekt aus der Reihe Selbst/Bilder. Zuvor hatte sich Anke Haarmann mit den Themen HipHop (1997/1998 und 2000/2001) und Fitness (2000) beschäftigt. 46 Haarmann, Anke: Kurzbeschreibung Projekt III. 47 In einem Interview betont Haarmann auch den zunächst ungeplanten Aspekt dieser Phase: „[…] man läuft durch die Stadt […], steckt überall seine Nase rein und hat die ein oder andere Idee.“ Haarmann, Anke in: Interview mit der Autorin. 48 Haarmann, Anke: Kurzbeschreibung Projekt III.

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dergesetzt hat.49 Wie der Kurator Michael Fehr in seinem Exposé darlegt, sollten in dem Projekt „Museutopia“ vor der Folie des „Hagener Impulses“ zeitgenössische Künstler „konstruktive Visionen für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts“50 entwickeln. Der von Nic Tummers geprägte Begriff „Hagener Impuls“ bezieht sich auf die Zeit von 1900 bis 1921, in der der Mäzen Karl Ernst Osthaus versuchte, die Industriestadt Hagen zu einem Zentrum der Reformbewegung zu machen. Unter anderem gründete Osthaus 1902 das Museum Folkwang, in dem er sein als „Folkwang-Idee“ bekannt gewordenes Konzept eines Museums verwirklichen wollte, das bildende Kunst, Architektur, Kunsthandwerk und Städtebau verbinden sollte. Auf lange Sicht wollte Osthaus durch ästhetische Interventionen eine Umgestaltung des gesellschaftlichen und sozialen Lebens erreichen.51 Anke Haarmann weist auf das schwierige Erbe eines solchen Ansatzes hin. Ein Visionär entwickelt das abgeschlossene Bild einer besseren Zukunft und die Bewohner Hagens erscheinen dabei nicht als „Gemengelage konkreter Individuen, sondern [als] gestaltbarer Chor“ oder „als ästhetisches Material“52 ohne Mitsprachemöglichkeit. Diese Herangehensweise ist nach Haar-

49 Dieser zunächst sehr theoretische Zugang ist sicher auch das Ergebnis ihrer geisteswissenschaften Ausbildung. Anke Haarmann sieht in der Kunst, den Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften gleichberechtigte Zugänge zur Welt. Sie studierte Philosophie, Germanistik und Ethnologie, bevor sie 1995 ein Studium an der Kunsthochschule Hamburg aufnahm. Auch ihre Teilnahme an dem internationalen Postgraduierten-Programm der Jan van Eyck Akademie in Maastricht zeigt ihre Offenheit bezüglich der verwendeten Medien und Arbeitsweisen. 50 Fehr, Michael; Rieger, Thomas W.: Museutopia. Schritte in andere Welten. Exposé. 51 Herta Hesse-Frielinghaus fasst Osthaus’ „Lebenspläne“ so zusammen: „Osthaus will der Schönheit dienen / Er will dem Volke dienen […] / Eine veränderte Erziehung des Volkes ist erforderlich / Sie muß bezwecken die Heranführung des Volkes an die Schönheit […] / Die Erkenntnis der Schönheit in der Natur wird das Volk aus seinem grauen Alltag herausführen,“ Hesse-Frielinghaus, Herta: Folkwang 1. Teil, S. 121. 52 Haarmann, Anke: Zur Bilderwelt der Wunschgesellschaft.

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mann typisch für „historische, große, politische Utopien,“53 und davon möchte sich die Künstlerin bewusst absetzen.54 Sie suchte daher in einem zweiten Arbeitsschritt das Gespräch mit verschiedenen Personen und Bevölkerungsgruppen in Hagen. Die Kontakte ergaben sich aus Zufall, aufgrund persönlicher Empfehlungen oder durch ihre vorherige Recherche. Während dieser Gespräche bildete sich auch der Teilnehmerkreis heraus, der dann das Projekt Visionen&Utopien mitbestimmte. Anke Haarmann ist die Initiatorin des Projektes und wählt sowohl das Thema als auch den Teilnehmerkreis aus. Auch haben sich während der individuellen Recherchephase bestimmte thematische Schwerpunkte und Ideen der Umsetzung gebildet. Bei dem zweiten Projekt Fitness aus der Reihe Selbst/Bilder, das 2000 in Wolfsburg verwirklicht wurde, stellte Haarmann fest, dass „ohne meine Intervention, Animation, mein Vorschlagen und Nachfragen nichts stattfindet, obwohl die TeilnehmerInnen das Projekt spannend und interessant finden und auch Spaß daran haben. Ich bin Autorin und Initiatorin des gesamten Projektes, meine Autorinnenschaft kann ich nur vorsichtig zurücknehmen.“55 Genau dieses Zurücknehmen ist aber wichtiges Anliegen im Werk von Anke Haarmann. Sie versucht, die Projektteilnehmer am Arbeitsprozess zu beteiligen. Die Ergebnisse der Recherchephase dienen nicht nur ihrer eigenen Positionierung, sondern sollen als „provokative Grundlage“ für einen „Auseinandersetzungsanlass“ 56 innerhalb der Teilnehmergruppe sorgen. Anders als beim Projekt Institut für Paradiesforschung, wo nur einzelne Elemente des vorgegebenen Konzeptes veränderbar waren, kann ein Thema also schon in der Planungsphase in Diskussionen mit den Teilnehmern inhaltlich erweitert oder verschoben werden. Während dieser zweiten Phase, in der die Teilnehmer Einfluss auf die Konzeption des Projektes Visionen&Utopien nehmen konnten, bildeten sich schließlich drei thematische Schwerpunkte heraus. Anke Haarmann lud ei-

53 Ebd. 54 Diese kritische Auseinandersetzung mit den Vorstellungen Osthaus’ ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Utopien zugleich immer auch Utopiekritik sind (vgl. die These Wilhelm Voßkamps, in: Voßkamp, Wilhelm: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Utopieforschung, S. 7). 55 Haarmann, Anke in: Messdaghi, Manitsche: Selbstdefinition der Kunst, S. 27. 56 Messdaghi, Manitsche: Selbstdefinition der Kunst, S. 26.

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ne Gruppe allein erziehender Mütter in der Sozialhilfe aus Hagen ein, ihre individuellen Vorstellungen von einem idealen Leben zu thematisieren und in verschiedenen Medien auszudrücken. Ihr war es wichtig, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die in Hagen selbst wohnen und nicht „die kulturelle Abbildung 29: Anke Haarmann [AHA]: Selbst/Bilder, Projekt Visionen&Utopien (Utopische Porträts), 2001

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oder politische Elite vor Ort darstell[ten].“57 Da diese Frauen während der Projektarbeit an einer Maßnahme zur Qualifikation für den Arbeitsmarkt teilnahmen, stand das Thema Arbeit bei den Gesprächen im Vordergrund. Als sichtbare Ergebnisse der Auseinandersetzung wurden in der Hagener Ausstellung verschiedene Medien gezeigt. Utopische Porträts58 nennt Haarmann die Fotos der Teilnehmerinnen, in denen diese sich ganz unter schiedlich präsentieren [Abbildung 29]. Während des Fotoshootings wurden verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, sich zu inszenieren und sich so ein Bild von sich selbst zu machen. Ein weiteres Ergebnis des Projektes sind von den Teilnehmerinnen verfasste Texte, die unter der Überschrift „Texte und Lyrik zur Arbeit und arbeitsfreien Zeit im Verhältnis zur Utopie von Alleinerziehenden in der Sozialhilfe“59 zusammengefasst wurden. Außerdem entstand ein Video zum „Verhältnis von Arbeit, Sozialhilfe und Utopie.“60 In den Texten und dem Video thematisieren die Teilnehmerinnen den Gegensatz zwischen dem, was sie sich für ihr Leben wünschen und den Anforderungen, die die Familie, vor allem aber die Arbeitswelt an sie stellt. Ein anderes Teilprojekt von Visionen&Utopien war die Auseinandersetzung mit den stadtplanerischen Antworten der Stadt Hagen auf die Strukturkrise des Ruhrgebiets. In dem bereits erwähnten Projektvorschlag schildert Haarmann zunächst die „städteplanerische Großoffensive,“61 die den Bau von Shoppingcentern und die Errichtung eines Museums in der verkehrsberuhigten Innenstadt Hagens vorsieht, um den innerstädtischen Raum (auch überregional) aufzuwerten und auf dem Dienstleistungssektor neue Arbeitsplätze zu schaffen. Diese Pläne sollten in einem von Anke Haarmann initiierten Internetforum von den Hagener Bürgern diskutiert und mit eigenen Vorstellungen zur Stadtentwicklung kontrastiert werden. In einem dritten Projekt ging es um ideale Vorstellungen vom Wohnen. In Zusammenarbeit mit dem Stadtplanungsamt und Hagener Bürgern wurde für die Ausstellung ein Plakat entworfen. Anke Haarmann hat das Thema Eigenheim 2003 als weiteres Projekt der Reihe Selbst/Bilder im Rahmen der Ausstellung „Hamburg-Kartierung“ im Kunstverein Hamburg wieder

57 Haarmann, Anke: Kurzbeschreibung Projekt III. 58 Haarmann, Anke: Index Projekt III. 59 Haarmann, Anke: Projekt III. Arbeit in Hagen. 60 Haarmann, Anke: Projekt III. Arbeit in Hagen. 61 Haarmann: Zur Bilderwelt der Wunschgesellschaft.

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aufgegriffen und vertieft. Bei diesem Projekt wurde anhand der „alltäglichen Thematik des Eigenheims die Vorstellung von privater Umwelt“ 62 untersucht. Abbildung 30: Anke Haarmann [AHA]: Selbst/Bilder, Projekt Eigenheim, Installationsansicht Kunstverein Hamburg 2003/04

62 Haarmann, Anke: Kurzbeschreibung Selbst/Bilder Projekt IV.

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Nach der ersten individuellen Recherchephase und der Gruppenarbeit, in der sich die eben beschriebenen drei Projektschwerpunkte herausbildeten, wurden dann in einem dritten Arbeitsschritt die Ergebnisse der verschiedenen Projekte im Kunstraum präsentiert. Obwohl Haarmann diesen „Ausstellungsteil“ als den „schwierigeren“63 Part ihrer Projekte sieht, werden fast alle Ergebnisse der Gruppenarbeiten in Kunstvereinen oder Museen gezeigt. So stellte sie zum Beispiel die erwähnten verschiedenen Wohnformen 2003 im Rahmen der Ausstellung „Mapping a City: HamburgKartierung“ in der Architektur eines prototypischen Hauses vor [Abbildung 30]. Die im Verlauf des Projektes Visonen&Utopien entstandenen Texte, Bilder und Filme wurden in einem klassischen Aufbewahrungsmöbel mit Schubladen und Kartenhaltern gesammelt und waren 2002 Teil der Ausstellung „Museutopia. Schritte in andere Welten“ im Osthaus Museum Hagen [vgl. die Installation im Kunsthaus Hamburg, Abbildung 35]. Zum einen will sie damit „eine gewisse Präsenz in der Kunstbetriebsebene“64 erreichen, zum anderen aber den „Kunstraum […] als Dokumentationsplattform nutzen,“65 um damit auch für den Ausstellungsbesucher eine zumindest „minimale Kooperationsebene zu ermöglichen.“66 Alle Projekte der Reihe Selbst/Bilder sind darüber hinaus auch Teil der Homepage der Künstlerin und werden dort mit Texten und Bildern vorstellt. 3.1.3 Die Projekte und ihre Vorbilder Nachdem die Projekte von Anke Haarmann und dem Institut für Paradiesforschung im Einzelnen vorgestellt wurden, sollen sie im Folgenden auf bestimmte Fragen hin untersucht werden: Welche Ziele verfolgen die Gruppen mit ihren Projekten, welche Strategien entwickeln sie und mit welchen Themen setzen sie sich auseinander? Dabei soll immer auch gefragt werden, an welche historischen Strömungen die zeitgenössischen Positionen anknüpfen.

63 Anke Haarmann in: Interview mit der Autorin. 64 Anke Haarmann in: Interview mit der Autorin. Im weiteren Verlauf des Interviews klingt seitens der Künstlerin auch Bedauern über ein „Kunstbetriebssystem“ an, in dem man gezwungen ist, sich ständig zu präsentieren. 65 Ebd. 66 Ebd.

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3.1.3.1 Gesellschaftsintervention Dem Institut für Paradiesforschung geht es mit dem Projekt einer Sammlung von Paradiesvorstellungen nicht nur um das Sammeln, sondern vor allem auch um das Veröffentlichen dieser Ideen. Jeder Internetnutzer konnte sich – auch ohne den Fragebogen beantworten zu müssen – durch das Archiv schon eingegangener Paradiesvorstellungen klicken. So fungiert die Datenbank als „Austauschplattform,“ in der der Betrachter in einer „spielerischen Auseinandersetzung“ mit den vorhandenen Paradiesbeschreibungen schließlich eine eigene „individuelle Paradiesvorstellung“ entwickeln kann. Dem Nachdenken über ein ideales Leben soll sich „automatisch ein SollIst-Vergleich mit der eigenen Lebenssituation“ anschließen. Letztendlich wollen Christina Dilger und Marina Thies mit ihrem Institut für Paradiesforschung „die Lebensqualität eines jeden Einzelnen erhöhen,“ indem sie die „Motivation“ verstärken, „die eigene Lebenswirklichkeit der Paradiesvorstellung anzugleichen.“67 Die von Anke Haarmann initiierten Projekte behandeln „gesellschaftliche Schlüsselthemen auf der Ebene ihrer populären Erscheinungsformen.“68 Im Rahmen dieser Arbeit steht das Projekt Visionen&Utopien im Vordergrund, aber es wird auch kurz auf andere Arbeiten aus der Reihe Selbst/Bilder verwiesen, in denen zum Beispiel durch Medien vermittelte Körperbilder thematisiert 69 oder kulturelle Normen des Wohnens untersucht werden.70 Die Teilnehmer des jeweiligen Projektes sollen sich „in Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Umfeld“ und den „zeitgenössischen Medienbildern thematisieren, reflektieren und inszenieren,“71 um nicht nur „passiver Rezipient“ zu sein, sondern zu einem „aktiven Produzent ihres Selbst“72 zu werden. Sowohl Anke Haarmann als auch ipfo erheben also den Anspruch auf Veränderung und verstehen Kunst als eine Möglichkeit der Gesellschaftsintervention. Diese kulturelle Praxis ist typisch für eine Kunstrichtung, die sich in Europa vor allem „angesichts veränderter […] Lebensbedingungen

67 Dilger, Christina; Thies, Marina: Was will ipfo? 68 Haarmann, Anke: Selbst/Bilder – Konzept der Projektreihe. 69 Das Projekt Fitness wurde 2000 in Wolfsburg realisiert. 70 Unter anderem in dem Projekt Eigenheim (Hamburg, 2003). 71 Haarmann, Anke: Das virtuelle Archiv. 72 Haarmann, Anke: Selbst/Bilder – Konzept der Projektreihe.

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nach 1989“73 durchsetzte und sich seit Mitte der 1990er Jahre vermehrt institutionalisierte. Diese Projekte werden mit Bezeichnungen wie „Kunst im öffentlichen Interesse,“ „Interventionskunst,“74 „neue öffentliche Kunst,“75 „new genre public art (NGPA)“ oder „community based art“ 76 beschrieben. Im Folgenden werden am Beispiel von Anke Haarmann und ipfo Merkmale dieser kulturellen Praxis erarbeitet und jeweils auf die ihnen vorausgehenden Strömungen der 1960er Jahre bezogen. 3.1.3.2 Partizipation In den vorangegangenen Kapiteln wurde deutlich, dass die Beteiligung des Betrachters integraler Teil der Arbeiten von Anke Haarmann und dem Institut für Paradiesforschung ist. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass man in diesem Zusammenhang von einer partizipativen Arbeitsweise sprechen kann, die zum Publikum hin erweitert ist, denn die Künstlerinnen unterscheiden „zwischen Produzierenden und Rezipierenden [und sind] an der Beteiligung letzterer interessiert und überantworte[n] ihnen einen wesentlichen Anteil entweder an der Konzeption oder am weiteren Verlauf der Arbeit.“77 Das Projekt des Instituts für Paradiesforschung, ein Archiv verschiedener Paradiesvorstellungen zu veröffentlichen, ist auf die Teilnahme möglichst vieler Rezipienten angewiesen, die mit ihren Gedanken das Archiv aufbauen und immer wieder verändern. Diese Art der Beteiligung des Betrachters könnte man mit dem Begriff „Interaktivität“ beschreiben. Weil eine Definition dieses „schillernden“78 Begriffes selbst „in der wissenschaftlichen Medienliteratur“79 kaum zu finden ist, soll er hier nur mit einigen Merkmalen grob umrissen werden: Interaktivität beschreibt die Wechselbeziehung zwischen Mensch und einem Medium oder (seltener) zwischen

73 Rollig, Stella; Sturm, Eva: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Dürfen die das?, S. 13. 74 Stach, Walter; Sturm, Martin: Vorwort, S. 7. 75 Kravagna, Christian: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 34. 76 Kravagna, Christian: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 33. 77 Kravagna, Christian: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 30. 78 Bieber, Christoph; Leggewie, Claus: Interaktivität, S. 7. 79 Goertz, Lutz: Wie interaktiv sind Medien?, S. 99.

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Menschen, die das Medium als Mittel der Kommunikation nutzen. 80 Im Fall von ipfo ist das Medium entweder der Fragebogen, den der Teilnehmer in Papierform erhält und beantwortet, oder eine Maske, die er vor einem Computerbildschirm ausfüllt. Die Ergebnisse werden danach in das online zugängliche Archiv der Paradiesvorstellungen eingearbeitet. Der Betrachter kann auf der Website des Institutes zusätzlich Informationen über das Institut und dessen Ziele abrufen oder sich durch das Archiv klicken. Der Grad der Interaktivität hängt ab von der „measure of a media’s potential ability to let the user exert an influence on the content and/or form of the mediated communication.“81 Der Einfluss des Nutzers kann dabei unterschiedlich weit reichen. Für Christian Kravagna ist Interaktivität schon gegeben, wenn dem Betrachter „eine oder mehrere Reaktionen“ zur Verfügung stehen, „die das Werk in seiner Erscheinung – meist momentan, revidierbar und wiederholbar – beeinflussen, seine Struktur aber nicht grundlegend verändern oder mitbestimmen.“82 Daher will er den Begriff Interaktivität auch von einer „partizipatorischen Praxis“83 abgrenzen. Christoph Biber und Claus Laeggewie dagegen fordern von Interaktivität, dass sie „Einfluss auf Inhalt und Form, auf Ablauf und Dauer einer Kommunikation [nimmt] – und das heißt letztlich: die aktive De- und Reprogrammierung des ‚Programms‘ sowie die offene und autonome Mitgestaltung der Netzwerkarchitektur.“84 Diese Beschreibung der Interaktivität deckt sich mit Kravagnas Definition einer partizipativen Praxis. Daher erscheint es nicht sinnvoll, einen „Schwellenwert“ anzunehmen, ab dem etwas als interaktiv bezeichnet werden kann, sondern „Interaktivität als ein Kontinuum anzusehen.“85 Auf einer unteren Stufe der Interaktivität kann sich der Teilnehmer am Projekt des Instituts für Paradiesforschung

80 Nach Goertz enthält das „heutige Verständnis von ‚interaktiven Medien‘ […] sowohl das Interaktionskonzept der Soziologie (wechselseitig aufeinander bezogene Handlungen) als auch das der Informatik (Handlungen zwischen Mensch und Computer, die Handlungen zwischen Menschen ähneln)“ (Goertz, Lutz: Wie interaktiv sind Medien?, S. 101). 81 Jensen, J. F.: Interactivity, S. 201. 82 Kravagna, Christian: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 30. 83 Ebd. 84 Bieber, Christoph; Leggewie, Claus: Interaktivität, S. 9. 85 Goertz, Lutz: Wie interaktiv sind Medien?, S. 102.

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zum Beispiel zur 15. Frage des Erhebungsbogens „Ist ihre Paradiesvorstellung a) gleich bleibend / statisch oder b) Veränderung unterworfen / wandelbar“86 zwischen zwei möglichen Antworten entscheiden. Eine höhere Interaktivitätsstufe ist aber erreicht, wenn Christina Dilger und Marina Thies in ihrer vorgegebenen Struktur der Website auch Raum für freie Äußerungen lassen. Wie oben bereits beschrieben, soll der Nutzer gleich in der ersten Antwort seine Paradiesvorstellung mit eigenen Worten in einer Kurzbeschreibung umreißen. Darüber hinaus formt jede neu eingegangene Paradiesvorstellung die Bestände des Archivs und kann im Einzelfall sogar dazu führen, eine neue Kategorie zu entwickeln und damit auch die Struktur des Archivs zu verändern. Mit einer solchen „Mitgestaltung der Netzwerkarchitektur“87 wäre dann ein hoher Grad von Interaktivität erreicht. Wie das Beispiel des Instituts für Paradiesforschung zeigt, kann ein hohe Stufe innerhalb des Kontinuums der Interaktivität durchaus als eine Form partizipativer Praxis im Sinne Kravagnas gesehen werden, weil der Betrachter eben einen vielfältigen Einfluss „entweder an der Konzeption oder am weiteren Verlauf der Arbeit“88 nehmen kann. Im Gegensatz zur Beteiligung des Betrachters bei ipfo bedeutet die Teilnahme an von Anke Haarmann initiierten Projekten, in soziale Interaktion mit der Künstlerin und mit anderen Gruppenmitgliedern zu treten. Während bei ipfo keine persönliche Kommunikationssituation zwischen den Teilnehmern und den Projektinitiatorinnen entsteht,89 geht Haarmann in ihrem Projektvorschlag vom November 2001 davon aus, dass unter anderem „die Personen und Gruppen, mit denen ich zusammen arbeiten werde […] das Projekt in einer nicht vorhersehbaren Weise bestimmen“ 90 werden. In einem Interview beschreibt Haarmann ihre Zusammenarbeit mit den Pro-

86 Dilger; Thies: Umfrage. 87 Bieber, Christoph; Leggewie, Claus: Interaktivität, S. 9. 88 Kravagna, Christian: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 30. 89 Dilger und Thies veranstalten, wie in Kapitel 3.1.1 beschrieben wurde, auch Workshops, in denen die Teilnehmer dann natürlich sozial interagieren. Aber diese Veranstaltungen sind nicht zwingend notwendig, damit das Konzept des Instituts für Paradiesforschung funktionieren kann. Eine Beantwortung des Fragebogens oder ein Besuch des online zugänglichen Archivs ist auch ohne direkten Kontakt mit den Künstlerinnen möglich. 90 Haarmann, Anke: Zur Bilderwelt der Wunschgesellschaft.

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jektteilnehmern als „eine Art Verhandlungssituation,“ in der es manchmal auch zu einer „völlig neuen [thematischen] Ausrichtung“ kommen kann. 91 Bei der Zusammenarbeit mit den allein erziehenden Müttern in der Sozialhilfe wusste die Künstlerin am Anfang „auch gar nicht, was […] wir gemeinsam machen wollten.“ Daher plante sie zunächst eine „warming up Phase mit den utopischen Porträts,“ und erst nach und nach wurde deutlich, dass die „Arbeitsthematik, von der sie ja alle betroffen waren,“92 den Schwerpunkt der Gruppenarbeit für das Projekt Visionen&Utopien bilden sollte. Wie bereits erwähnt, hat sich Haarmann für ein anderes Teilprojekt der Hagener Ausstellung auch mit den Möglichkeiten der Kooperation, die ein Internetforum bietet, auseinandergesetzt.93 Sie beschreibt ihre Motivation, ein solches Forum einzurichten: „Für mich war das auch der Versuch, noch einmal etwas mit dem Internet auszuprobieren, sich zu fragen: wie interaktiv und kooperativ ist dieses Medium eigentlich, kann es überhaupt nur sein.“94 Zwar haben sich einige Hagener anhand des Forums mit der Planung ihrer Stadt beschäftigt, aber insgesamt zieht Anke Haarmann aus diesem Experiment einen eher negativen Schluss: „Es hat mir noch einmal deutlich gemacht, dass kooperative Arbeit auch stark etwas mit direkter Interaktion zu tun hat und nicht so gut läuft, zumindest nicht von alleine, auf dieser abstrakten Ebene eines Internetforums.“95 Es zeigt sich also hier ein Unterschied in der partizipativen Herangehensweise beider Gruppen. Zwar ist sowohl für das Institut für Paradiesforschung als auch für die Projekte von Anke Haarmann die kooperative Arbeitsweise wichtig. Während aber die Partizipation seitens des Betrachters beim Institut für Paradiesforschung eher in vorgegebenen Bahnen läuft

91 Bei dem Projekt 2 der Reihe Selbst/Bilder (Fitness), das 2000 in Wolfsburg realisiert wurde, hatte sich Haarmann beispielsweise in der ersten Recherchephase ausschließlich mit Sportrichtungen wie Gymnastik oder Aerobic auseinandergesetzt. Dann kam aber mit Bodybuilding ein ganz neuer thematischer Schwerpunkt hinzu, an den sie selbst zunächst gar nicht gedacht hatte (vgl. Haarmann, Anke in: Interview mit der Autorin). 92 Anke Haarmann in: Interview mit der Autorin. 93 Das Teilprojekt beschäftigte sich mit der Stadtentwicklung Hagens, vgl. die Darst. in Kap. 3.1.2. 94 Haarmann, Anke in: Interview mit der Autorin. 95 Ebd.

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und nur in Einzelfällen eine Veränderung der Projektkonzeption ermöglicht, legt Anke Haarmann großen Wert auf die direkte soziale Interaktion. So können die jeweiligen Teilnehmer auf die thematische Ausrichtung der Projekte entscheidenden Einfluss nehmen und den weiteren Verlauf des Projektes mitbestimmen. Wegen dieser zum Publikum hin erweiterten partizipativen Arbeitsweise unterscheiden sich die Projekte von ipfo und Anke Haarmann auch bezüglich der Gruppenstruktur von den anderen für diese Arbeit untersuchten Gruppen wie N55. Letztere arbeiten kollektiv, das heißt, sie bilden einen dauerhaften, homogenen Zusammenschluss von wenigen Experten mit einem ähnlichen Hintergrund,96 die am Schaffensprozess gleichberechtigt beteiligt sind. Zwar arbeiten auch diese Gruppen oft für bestimmte Projekte mit verschiedenen Menschen zusammen, aber diese agieren dann nicht als Rezipienten, sondern als Experten auf einem Gebiet, das von keinem Gruppenmitglied abgedeckt wird und das dennoch für die Projektentwicklung wichtig ist. Die partizipative Arbeitsweise von ipfo, besonders aber von Anke Haarmann, beruht dagegen auf der zeitweiligen Zusammenarbeit von Experten und einer Gruppe von Laien. Christina Dilger und Marina Thies sind diplomierte Kommunikationsdesignerinnen,97 und Anke Haarmann hat sowohl an Universitäten als auch an einer Kunsthochschule studiert.98 Ihre während der Ausbildung erworbenen Fähigkeiten setzen die Expertinnen in ihrer Arbeit mit den im Normalfall nicht in diesen Bereichen geschulten Laien ein. Eine Zwischenstellung nimmt hier das Atelier Van Lieshout ein. Es gibt einen Experten, Joep van Lieshout, der wie Anke Haarmann die Kunstakademie besucht hat. Er arbeitet mit Menschen zusammen, die aus ganz unterschiedlichen Bereichen kommen, aber teilweise ebenfalls Experten auf ihrem Gebiet sind, zum Beispiel die Public-Relations-Managerin Rian von Rijsbergen oder der Handwerker Jay Papik. Sie sind seit Jahren Teil der Gruppe. Zusätzlich gibt es unspezialisierte Mitarbeiter, die als „vo-

96 Ingvil H. Aarbakke, Rikke Luther, Ion Sørvin, Cecilia Wendt besuchten von 1991–1998 die Royal Danish Academy of Fine Arts in Kopenhagen. 97 Christina Dilger und Marina Thies studierten von 1992 bis 1998 Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Dortmund. 98 Anke Haarmann studierte von 1989 bis 1995 Philosophie, Germanistik und Ethnologie in Hamburg und Berlin und von 1994 bis 1999 Freie Kunst an der Kunsthochschule Lerchenfeld Hamburg.

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lunteer“ nur auf Zeit im Atelier Van Lieshout arbeiten. Im Unterschied zu N55 liegt die Leitung der Gruppe nicht bei allen Mitgliedern oder zumindest allen Spezialisten, sondern hauptsächlich bei Joep von Lieshout. Gemeinschaftliche Produktionsformen haben in der Kunst eine lange Tradition,99 aber die Erweiterung der kollaborativen Praxis hin zum Rezipienten entstand erst Ende des 19. Jahrhunderts. Ein früher Vordenker dieser Entwicklung war John Ruskin. In seiner Zivilisationskritik sprach er sich gegen industrielle Produktionsweisen mit ihrer Arbeitsteilung aus und schilderte im Gegenzug die Beteiligung von Steinmetzen am Figurenschmuck mittelalterlicher Kathedralen: „Betrachte noch einmal prüfend diese hässlichen Kobolde und formlosen Ungeheuer und steifen, ungestalten Statuen; aber du wirst sie nicht verspotten, denn sie verraten das Leben und die Freiheit jedes einzelnen Steinhauers; eine Freiheit des Gedankens und eine Rangstufe des Wesens, wie sie keine Gesetze noch Privilegien oder Mildtätigkeiten verschaffen können, wie es aber die erste Pflicht des heutigen Europas sein müsste, sie für seine Kinder wieder zu erobern.“ 100 Er selbst hatte über viele Jahre Arbeiter im Zeichnen unterrichtet 101 und setzte sich bei einem Neubau für das Oxforder Universitätsmuseum dafür ein, nicht nur die Ausführung, sondern auch den Entwurf des Kapitellschmucks einer Gruppe irischer Steinmetze zu überlassen.102 Kunst sollte also nicht nur von einzelnen spezialisierten Menschen wie Architekten oder Bildhauern geschaffen werden, sondern war ebenso in den Steinmetzen als einfachen Arbeitern verankert. Mit dieser Kunst „vom Volk für das Volk“ verabschiedete Ruskin sich von der Idee eines Geniekünstlers und übertrug

99

Vgl. zum Beispiel die oft zitierte und in der Rezeption meist idealisierte Zusammenarbeit der Handwerker mittelalterlicher Bauhütten oder das gemeinsame (oft auf Spezialisierung beruhende) Arbeiten von verschiedenen Künstlern innerhalb eines Werkstattzusammenhanges.

100 Ruskin, John: Steine von Venedig, Bd. II., S. 187/188. 101 Vgl. die Darst. in: Kemp, Wolfgang: John Ruskin, S. 210. 102 Vgl. die Darst. in: Kemp, Wolfgang: John Ruskin, S. 217/218. Kemp berichtet weiter: „Nach vielversprechenden, heute noch sichtbaren Anfängen endete dieses Projekt ähnlich traurig wie die gleichzeitige Freskierung der Union Hall. Die Steinmetzen entwickelten sich so frei, dass die Universitätsbehörden sich ihrer wieder entledigten und die meisten Kapitelle ohne Schmuck blieben“ (Kemp, Wolfgang: John Ruskin, S. 218).

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die Schöpfungskraft auf eine ganze Gruppe von Menschen, die nicht mehr für einen kleinen Bereich eingesetzt werden, sondern am schöpferischen Ganzen beteiligt werden sollen. Als „prä-partizipatorische Kunst,“ die die „Grundlagen“103 für diese Praxis bildete, kann man außerdem die Projekte der Konstruktivisten und Produktivisten ab circa 1915 bezeichnen. Entgegen dem Vorwurf, dass die gesamte Avantgarde mit ihren „in sich geschlossenen Utopien“ den Weg zum Totalitarismus geebnet habe, macht Hubertus Gaßner im Konstruktivismus durchaus auch „sehr offene“ Entwürfe aus, die nur als „Arbeitshypothesen für den gemeinsamen Aufbau der zukünftigen Welt“104 dienen sollten. Unter dem Begriff „Produktionskunst“ versuchte man, eine „gleichberechtigte Interaktion zwischen Künstlern und Industriearbeitern“105 und damit auch eine Entgrenzung von Kunst und Leben zu verwirklichen. Aber trotz aller Aufrufe blieb dieses Ziel eine Fiktion, und die Künstler arbeiten nach wie vor eher „für die statt mit der Bevölkerung.“106 Eine Erweiterung der Autorschaft bis hin zum Betrachter thematisiert auch Christian Dotremont in einem Artikel in „Le petit Cobra Nr. 2“: Er schildert ein Treffen der Gruppe Cobra, das 1949 in einem Ferienhaus in Bregnerød stattfand und bei dem die Wände und Decken des Hauses gemeinschaftlich bemalt wurden. Neben den Künstlern der Gruppe, wie Asger Jorn oder Stephen Gilbert haben sich auch ein Student der Radiotechnik und die Kinder der anwesenden Künstler an der Ausmalung beteiligt. Dotremont kommt es in seinem im Rückblick geschriebenen Artikel besonders darauf an, diese Zusammenarbeit von Laien und Experten zu betonen, wenn er sagt: „Les non-peintres ont peint, les non-sculpteurs ont sculpté.“107 Trotz dieser Begeisterung für die partizipative Arbeitsweise blieb es allerdings bei den meisten anderen Arbeiten der Cobra-Künstler bei einer Gemeinschaftsarbeit unter Künstlern.

103 Rollig, Stella; Sturm, Eva: Kunst als sozialer Raum, S. 134. 104 Gaßner, Hubertus: Utopisches im russischen Konstruktivismus, S. 57. 105 Rollig, Stelle; Sturm, Eva: Kunst als sozialer Raum, S. 132.. 106 Ebd. 107 Dotremont, Christian: Les grand choses, in: Le Petit Cobra, Nr. 2, Brüssel 1949, S. 6 (zitiert nach: Zimmer, Nina: Spur und andere Künstlergruppen, S. 39).

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Seit den 1960er Jahren setzte sich die Idee einer zum Publikum hin erweiterten Arbeitsweise „as a part of a broader, contextualizing urge“ 108 immer mehr durch. 1961 legte es beispielsweise Robert Rauschenberg in seinem Combine Black Market „auf die Mitwirkung der Betrachter an.“109 Eine collagierte Leinwand ist mit zwei Schnüren mit einem unter ihr auf dem Boden liegenden Kasten verbunden. Die Besucher konnten die in dem geöffneten Kasten liegenden Objekte herausnehmen und durch andere, mitgebrachte Gegenstände ersetzen. Dieser Tauschvorgang sollte dann in einem Buch verzeichnet werden, das hinter Klappen auf der Leinwand angebracht war: „Sofern konservatorische Rücksichten dies zulassen würden, […] würde das Kunstwerk ständig durch Gegenstände des Lebens verändert und diese Veränderung in einer kollektiven Buchführung festgehalten.“110 Wie bei dem Projekt des Instituts für Paradiesforschung wird in Black Market eine Rahmenstruktur vorgegeben (Leinwand, Koffer, Anzahl der Gegenstände und Aufzeichnung der Tauschvorgänge), innerhalb derer der Betrachter tätig werden kann. Wie auch bei den in einer Datenbank archivierten Paradiesvorstellungen werden die Austauschvorgänge der Rezipienten auf Papier vermerkt und damit auf Dauer festgehalten. Aber auch anderen Richtungen dieser Zeit, die auf den ersten Blick kaum eine Möglichkeit bieten, verändernd auf ein Kunstwerk einzuwirken, geht es darum, „das Verhältnis zwischen Kunst und Betrachter neu [zu] regel[n],“111 wie es Klaus Honnef für die Minimal Art feststellt. Der Betrachter wird gefordert: Nur seine „physische und psychische Beteiligung und Engagiertheit […], nur seine geistige Mitarbeit kann einen neuen künstlerischen und gleichzeitig geistigen Prozess auslösen. […] Ohne diese Engagiertheit würden [die Minimalobjekte] nur Gegenstände bleiben.“112 Besonders in der ConceptArt – so Honnef weiter – wird der Betrachter vom passiven „Empfänger“ eines Kunstwerkes zu seinem „Mit-autor“ oder „geistigen Mitspieler.“113 Ende der 1950er Jahre entwickelten sich erstmals Kunstformen, bei denen

108 Felshin, Nina: Introduction, S. 22. 109 Zacharias, Thomas: über Robert Rauschenberg, S. 7. 110 Ebd. 111 Honnef, Klaus: Concept Art, S. 22. 112 Zdenek Felix in dem Ausst.-Kat. „Pläne und Projekte als Kunst,“ zitiert nach Honnef, Klaus: Concept Art, S. 22. 113 Honnef, Klaus: Concept Art, S. 25.

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der „Schwerpunkt auf der Handlung“ lag.114 Dabei wurde die Beteiligung des Betrachters zu einem zentralen Thema. Allan Kaprow, der an der Entwicklung des Happenings wesentlichen Anteil hatte, schienen bisherige Formen der Betrachterbeteiligung als unzureichend. Er wollte daher eine ganz neue Kunstform etablieren115 und stellt in einem Text von 1966 unter der Bezeichnung „rules of the game“116 fest: Es ist notwendig, dass „people become a real and necessary part of the work. It cannot exist without them. […] Happenings are an active art, requiring that creation and realization, artwork and appreciator, artwork and life be inseparable.“117 Diese neue Arbeitsweise war nicht auf die USA beschränkt. Die 1960 in Paris gegründete Künstlergruppe Groupe de Recherche d’Art Visuel schrieb anlässlich der Ausstellung „Labyrinth 3,“ die 1965 in New York stattfand: „Wir möchten die Aufmerksamkeit des Betrachters erregen, ihn frei machen, ihn auflockern. Wir wünschen seine Anteilnahme. Wir möchten ihn in eine Lage bringen, die ihn in Bewegung setzt und zu ihrem Herrn macht. Wir wünschen ihn einverstanden, eine Partie zu spielen. Wir möchten, dass er eine Wechselwirkung mit anderen Betrachtern anstrebt. Wir wünschen, dass er mehr Wahrnehmung und Aktion zeigt. Ein seiner Macht bewusster und so vieler Irrtümer und Mystifikationen müder Betrachter wird fähig sein, seine Revolution in der Kunst zu machen und den Zeichen Handeln und Zusammenarbeiten zu folgen.“118 Besonders Anke Haarman knüpft an diese Entwicklung an. Sie versucht nicht nur, eine wie auch immer geartete Beteiligung des Betrachters anzuregen, sondern sie will die von ihr initiierte thematische Auseinandersetzung der Projektteilnehmer für die Dauer des Projektes auch begleiten. Ihre

114 Jappe, Elisabeth: Performance, Ritual, Prozeß, S. 9. 115 Kaprow, Allan: Participation Performance (1977), in: Kelley, Jeff (Hrsg.): Essays on the blurring of art and life / Allan Kaprow, Berkeley 1996, S. 185. 116 Kaprow, Allan: The Happenings are Dead: Long Live the Happenings! (1966), in: Kelley, Jeff (Hrsg.): Essays on the blurring of art and life / Allan Kaprow, Berkeley 1996, S. 62. 117 Kaprow, Allan: The Happenings, S. 64. 118 Groupe de Recherche d’Art Visuel: Stoppt die Kunst! (Anlässlich der Ausstellung „Labyrinth 3“ in New York 1965), in: Participation – à la recherche d’un nouveau spectateur; Groupe de Recherche d’Art Visuel, Ausst.-Kat. Museum am Ostwall Dortmund, Dortmund 1968, S. 8.

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„künstlerische Kompetenz“ soll dabei „von den Teilnehmern als Instrumentarium […] genutzt werden.“119 Diese Herangehensweise kann man mit den Wandbildkollektiven vergleichen, die sich in den 1920er Jahren in der UdSSR bildeten.120 Nina Zimmer berichtet in diesem Kontext beispielsweise von der Gruppe der AChR-Monumentalisten, die 1930 die Erstellung eines Wandbildes für ein Proletarierclubhaus leiteten. Eine zeitgenössische Rezension legte besonderen Wert darauf, dass die Arbeiter ein Mitspracherecht bei der Themenwahl gehabt hätten. Auf diese Weise hätten sie ein Kunstwerk geschaffen, das aus ihren Reihen stammte und an sie gerichtet war. Diese Arbeitsweise „stellte dabei die Einlösung eines Teils der utopischen gesellschaftlichen Ziele dar, die das Bild verkündete.“121 Im Zuge des New Deal, einer Reihe von Wirtschafts- und Sozialreformen, die in den USA von 1933–1937 die Folgen der Weltwirtschaftskrise lindern sollten, gab es ebenfalls Programme, die Künstler beauftragten, Wandgemälde im öffentlichen Raum zu gestalten oder sich als Lehrer zu engagieren. Roger Cahill, ab 1935 Direktor des Federal Art Project, betonte, dass „real understanding of art [does not come] from passive observation but from intense participation in the creative process. The task of the federal art project therefore [is] to make possible ‚democracy in the arts‘ through ‚community participation‘.“122 Wandbilder, die die lokale Bevölkerung von Beginn des Projektes an zur Teilnahme einladen, beschäftigen sich oft mit gesellschaftspolitischen Themen. Ob sie nun zu Anfang des Jahrhunderts von oben bestimmte Massenpropaganda betreiben und mit Aufbau des Kommunismus in der UdSSR

119 Haarmann: Selbst/Bilder – Konzept der Projektreihe. 120 Nina Zimmer betont, dass „im postrevolutionären Russland […] anders als man es vermuten könnte, kaum kollektive Arbeiten“ entstanden, denn „die individuelle Produktion des Kunstwerkes wurde […] zunächst nicht in Frage gestellt. […] Erst in den 20er Jahren bildeten sich die ersten Wandbildkollektive.“ (Zimmer, Nina: Spur und andere Künstlergruppen, S. 50/51). 121 Zimmer, Nina: Spur und andere Künstlergruppen, S. 51. 122 Cahill, Roger, zitiert nach: Mathews, Jane De Hart: Arts and the People: The New Deal Quest for a Cultural Democracy, in: Journal of American History 62, 1975, S. 322/323.

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und die wachsende ökonomische Krise im Kapitalismus 123 betitelt sind oder in den 1960er Jahren in einem Wohnviertel von Chicago von dessen Anwohnern gemalt wurden, „um unsere schwarzen Helden zu ehren und unsere Gemeinde zu verschönern“124 – noch heute sind in Zusammenarbeit zwischen Experten und Laien hergestellte Wandbilder ein wichtiges Instrument für politische Bewegungen. In einem politischen Online-Magazin wird Ende 2004 ein Artikel über „The importance of symbolism in the Zapatista movement“125 veröffentlicht. Darin werden Wandbildprojekte in Chiapas beschrieben, einem mexikanischen Bundesstaat, in dem die indianische Befreiungsbewegung der Zapatisten besondern aktiv ist. Die Aufgabe der dortigen Muralisten „is not to impose ideas for content, or appropriate the voice in the creation of the mural, but to accompany this process of creative expression.“126 Diese Aufgabenbeschreibung passt gut zu der Rolle, die Anke Haarmann in den von ihr initiierten Projekten ausfüllen will. Im Gegensatz zu den genannten Wandbildprojekten geht die Initiative zur Zusammenarbeit mit einer lokal definierten Öffentlichkeit aber von der Künstlerin aus und ist nicht Teil von staatlichen Programmen. Die bewusste Auswahl des Publikums ist ein weiteres Merkmal der community based art, die sich in den 1990er Jahren durchsetzte: „Aus dem einen anonymen Kunstpublikum werden gewissermaßen spezifizierte Publika, die sich über den direkten Kontakt mit dem/der KünstlerIn als solche konstituieren, sich von Projekt zu Projekt unterscheiden und häufig in die Realisierung von Arbeiten einbezogen sind.“127 Oft wird versucht, Bevölkerungsgruppen zu beteiligen, die bisher kaum eine Rolle im „Betriebssystem“ Kunst gespielt haben. Während das Institut für Paradiesforschung möglichst viele Teilnehmer für sein Archiv von Paradiesvorstellungen

123 So der Titel des 1930 von den schon erwähnten AChR-Monumentalisten in Zusammenarbeit mit den Arbeitern gestalteten Wandbildes (vgl. die Darstellung in Zimmer, Nina: Spur und andere Künstlergruppen, S. 51). 124 Aufschrift auf dem von 21 schwarzen Künstlern 1967 gemeinsam gestalteten Wandbild Wall of Respect in Chicago, zitiert nach: Barthelmek, Volker: Wandbilder USA / Westeuropa, Köln 1982, S. 5. 125 Anonym (Laila):

Zapatista

Murals,

in:

zoomZAP

(www.zoomzap.com.com/index-eng.php, Dezember 2005). 126 Ebd. 127 Kravagna, Christian: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 34/35.

November

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sucht und nicht an einer besonderen Auswahl interessiert ist, betont Anke Haarmann für ihr Projekt Visionen&Utopien, dass es ihr wichtig war, „gezielt diejenigen Milieus ausfindig zu machen, die nicht die kulturelle oder politische Elite vor Ort darstellen,“128 und sie für eine Mitarbeit zu gewinnen. Mit diesem Versuch, auch den Unterprivilegierten eine Stimme zu verleihen, schließt besonders Anke Haarmann an die Kunst der 1960er und 1970er Jahre an. Elisabeth Jappe beschäftigt sich in ihrer Untersuchung der Performance-Kunst unter der Überschrift „Soziale Betroffenheit und Behaviour Art“129 mit Performance-Künstlern, die ab Mitte der 1960er Jahre einen ähnlichen Weg einschlugen. 3.1.3.3 Kritik am Geniekünstler Mit einer zum Publikum hin erweiterten partizipativen Arbeitsweise verbindet sich immer auch eine Diskussion über die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft. Die online zugängliche Datenbank von gesammelten Paradiesvorstellungen beruhte nicht auf der Auseinandersetzung mit dem Thema Paradies seitens eines einzelnen Künstlers, sondern vereinte die Gedanken von zahlreichen Rezipienten. Die Datenbank fand sich daher auch nicht primär unter dem Namen Christina Dilger und Marina Thies, sondern firmierte unter der überpersönlichen Bezeichnung Institut für Paradiesforschung. Zwar wurden innerhalb des Textes, der die Geschichte des Institutes schildert, und auch im Impressum die Namen der Projektinitiatorinnen genannt, aber sehr viel häufiger kam auf der Homepage nur der Name ipfo vor. Die Ergebnisse der Projekte von Anke Haarmann sind nicht mit „Anke Haarmann“ signiert, sondern werden zusätzlich unter dem Kürzel „AHA“ verzeichnet. So soll „die individuelle Autorschaft in den Hintergrund“ gerückt werden: „AHA meint: Anke Haarmann in Zusammenarbeit mit …“130 Die Punkte am Ende des Zitats stehen für die einzelnen Teilnehmer eines jeden Projektes, die in der Ausstellung immer namentlich genannt werden.131 In einem Interview führt Haarmann diesen Gedanken weiter aus:

128 Haarmann, Anke: Kurzbeschreibung. Selbst/Bilder Projekt III. 129 Jappe, Elisabeth: Performance, Ritual, Prozeß, S. 34–36. 130 Haarmann, Anke: Das virtuelle Archiv. 131 Für das Projekt Visionen&Utopien sind das beispielsweise: Marion Stahl, Doris Reschke, Durdane Civa, Marina Covas Abade, Monika Depke, Nazile Durmaz, Angelika Grunwald, Alexandra Homberger, Susanne Hunstock, Pam

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Wir „scheinen […] an einem Punkt zu sein, wo dieses Künstlersubjekt, was ja aus der Romantik kommt – das Genie was da so schaffend kreativ und produktiv ist – einfach nicht mehr funktioniert. Und wenn man das konsequent umsetzt, dann landet man bei einer kooperativen, partizipativen Gruppenarbeit. […] Ein weiterer Grund ist die Erfahrung, dass Arbeiten sehr viel produktiver, intensiver und besser werden durch die Zusammenarbeit mit anderen Menschen […]. Man produziert dann nicht nur das, was man sich vorher schon gedacht hat oder bildlich vor Augen hatte, sondern man kann in einer intersubjektiven Auseinandersetzung wirklich etwas Neues erarbeiten.“132 Die hier besprochenen zeitgenössischen Gruppen verabschieden sich also von der Idee eines autonomen, aus sich schöpfenden Individuums und versuchen stattdessen, den Künstler als Vermittler und Agent der Innovation einzubringen. Die besondere Kritik am autonom schaffenden Künstler seitens der Projekte Anke Haarmann [AHA] und ipfo zeigt sich auch im Vergleich zur Namensgebung der anderen im Rahmen dieser Arbeit behandelten Künstlergruppen. Der Gruppenname Atelier Van Lieshout zum Beispiel bezieht sich auf den Namen des Gründers Joep van Lieshout. Zwar zeigt das „Atelier“ im Gruppennamen ebenfalls an, dass mehrere Menschen an einem Objekt gearbeitet haben, aber diese werden nicht einzeln genannt. 133 Darüber

Ketteler-Janssen, Ursula Krommenohl, Ingeborg Marquardt, Gudrun Nitlehner, Sabine Müller, Zahide Simsek, Katharina Stejzel, Karin Brensing, Martin Bleja, Alfredo Michel, Hagener Bürger/-innen (www.aha-projekte.de /utopie/ aha_ hagen_beteiligte.html). 132 Anke Haarmann in: Interview mit der Autorin. 133 Im Museum werden Objekte mit „Atelier Van Lieshout“ bezeichnet, ohne dass die einzelnen Gruppenmitglieder genannt sind. In einigen Katalogen, zum Beispiel „Francise Unit. Atelier van Lieshout,“ Ausst.-Kat. anlässlich einer Ausstellung im Openluchtmuseum voor Beeldhouwkunst, Antwerpen 2002, werden keine Mitglieder des Ateliers aufgezählt. In anderen Büchern, zum Beispiel den eine Ausstellung in Rabastens, Le Parvis und Zürich begleitenden Katalog „the good, the bad + the ugly. Atelier van Lieshout“ werden dagegen im Impressum zehn Mitglieder namentlich genannt und es wird auf „ andere“ verwiesen. Auch wenn von Zeit zu Zeit einzelne Mitglieder des Ateliers genannt werden, ist es nicht möglich, anhand der über AVL erschienenen Litera-

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hinaus taucht der Personenname van Lieshout im Gruppennamen auf, wohingegen „Anke Haarmann“ in dem Kürzel AHA nicht ohne weiteres wiederzuerkennen ist. N55 ist eine homogene Künstlergruppe, die aus wenigen gleichberechtigten Experten besteht. Der Gruppenname steht daher auch in keinem Zusammenhang mit dem Namen eines bestimmten Gruppenmitglieds, sondern leitet sich von einem Straßennamen ab. Anke Haarmann nimmt hier eine Zwischenstellung ein: Als Initiatorin und Autorin des jeweiligen Projektes findet sich wie bei Atelier Van Lieshout ihr Name im Gruppennamen wieder, aber wegen der für sie wichtigen partizipativen Arbeitsweise kommt er nur als Kürzel vor und verbindet sich für jedes Projekt neu mit den Namen der verschiedenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Auch N55 arbeitet für unterschiedliche Projekte mit verschiedenen Menschen zusammen, aber diese sind keine Laien, sondern agieren als Experten auf ihrem eigenen Gebiet. Sie verschmelzen daher nicht mit der Gruppe. Auch das Institut für Paradiesforschung arbeitet wie Anke Haarmann mit Laien zusammen. Der Teilnehmerkreis ist aber viel größer und unspezifischer, und zu einer direkten Auseinandersetzung mit den Projektteilnehmern während der Planungsphase kommt es meistens nicht. Daher spielen die einzelnen Projektteilnehmer in der Namensgebung keine Rolle. Bereist im 19. Jahrhundert gab es Künstler, die über eine kollektive Autorschaft nachdachten. Zunächst war es allerdings nur ein gedankliches Experiment, das noch keine praktischen Folgen hatte. Goethe zum Beispiel äußerte 1832 in einem Gespräch: „Was bin ich selbst? […] Ich habe all das gesammelt, nutzbar gemacht, was ich genommen, beobachtet habe. Meine Werke sind genährt durch Tausende von verschiedenen Einzelwesen […]. Mein Werk ist das eines Kollektivwesens, und es trägt den Namen Goethe.“134 Allerdings nimmt Goethe in diesem kurzen Zitat mit den Pronomen „ich“ und „mein“ mehrmals auf sich als Einzelperson Bezug und es wäre Goethe wohl kaum wie AHA und ipfo in den Sinn gekommen, seine Schriften aufgrund seiner Beobachtung unter einem überpersönlichen Namen

tur (Ausstellungskataloge, Interviews in Zeitschriften etc.) eine genaue Liste der wechselnden Mitglieder des Ateliers zu erstellen. 134 Goethe, Johann Wolfgang von, in einem Gespräch mit Frederic Soret am 17. Februar 1832, zitiert nach: Herwig, Wolfgang (Hrsg.): Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang, Bd. 3.2, Zürich/Stuttgart 1972, S. 839.

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herauszubringen. Isidore Ducasse (Lautréamont) stellte ein paar Jahrzehnte später fest: „die Poesie muss von allen gemacht werden. Nicht von einem,“135 und hatte daher in seiner 1870 erschienen Schrift „Poesie“ Gedanken verschiedener Autoren wie zum Beispiel Pascal, Vauvenargues, La Rochefoucauld oder Dante aufgenommen und dabei zum Teil erheblich verändert. Sogar sich selbst zitierte er auf diese Weise und erklärte sein Vorgehen in einem Brief an seinen Verleger: „zugleich verbessere ich darin sechs der schlechtesten Stellen meines verflixten Buches.“136 Er wendet damit auf sein eigenes Werk das an, was er als Methode in „Poesie“ weiter ausführt: „Das Plagiat ist notwendig, der Fortschritt schließt es mit ein. Es hält sich dicht an dem Satz eines Verfassers, bedient sich seiner Ausdrücke, beseitigt eine falsche Idee, ersetzt sie durch die richtige.“137 Der Autor ist damit nicht mehr der alleinige Schöpfer seines Werkes, sondern einer, der aus vorgefundenem Material etwas Neues zusammensetzt und ständig überarbeitet.138 Es verwundert nicht, dass die Surrealisten Lautréamont knapp 50 Jahre später wiederentdeckten und in ihm „le maître des écluses pour la littérature de demain“139 sahen. Er wurde daher auch in das Figurenprogramm eines 1940/1941 von Max Ernst, André Breton, André Mas-

135 Ducasse, Isidore (alias Lautréamont): Poesie, aus dem Französischen von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt, Hamburg 1997 (Original: Paris 1870), S. 52. 136 Ducasse, Isidore: Brief vom 21.2.1870 an seinen Verleger Verbroeckhofen, zitiert nach: Isidore Ducasse: Poesie, aus dem Französchen von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt, Hamburg 1979, S. 68 (mit dem „verflixten Buch“ bezieht er sich auf seine 1868 [erster Gesang] erschienenen „Gesänge des Maldoror“). 137 Ducasse, Isidore (alias Lautréamont): Poesie, S. 46. 138 Zu praktischen Folgen – zum Beispiel zu einem gemeinschaftlichen Schreibprozess mit anderen Autoren – haben diese kritischen Gedanken zur Rolle des autonomen Schöpfers bei Ducasse allerdings nicht geführt. Auch gibt es Stellen in seinem Werk, in denen er das aus sich selbst schaffende Genie positiv bewertet. (zum Beispiel der Aphorismus: „Das Genie garantiert die Fähigkeiten des Herzens,“ Ducasse, Isidore: Satz II, 1, in: Ré Soupault [Übersetzer]: Comte de Lautreamont – Gesamtwerk, Heidelberg 1954, S. 306). 139 Gide, André: „Préface,“ in: Le Cas Lautréamont, Le Disque vert. Revue Mensuelle de Littérature, Bd. III, 1925, Wiederabdruck: Brüssel 1971.

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son und anderen entworfenen Kartenspiels (dem „Jeu de Marseille“) aufgenommen.140 Die Surrealisten selbst entwickelten verschiedene Formen „kollektiver Bildgestaltung,“141 wie den „Cadavre exquis“ oder den „Châpeaux Surréalistes“, bei dem mehrere Teilnehmer gemeinsam einen Text oder ein Bild herstellten, ohne zu wissen, welchen Beitrag die anderen Teilnehmer jeweils beigesteuert hatten.142 In den 1960er Jahren gab es vermehrt Künstlergruppen, die sich in ihrer gemeinsamen Arbeit ganz bewusst von dem noch vorherrschenden Geniemodell absetzen wollten. In dem Gründungsmanifest der Gruppe Grave (Groupe de Recherche d’Art Visuel) von 1960 heißt es beispielsweise: „Mit diesem Tag erklären die Unterzeichner das Untersuchungszentrum für visuelle Kunst als begründet. Sie wollen durch die Schaffung dieses Zentrums auf diese Weise die traditionelle Attitüde des einmaligen, genialen Malers, Schöpfers unsterblicher Werke unterdrücken.“143 Ähnlich äußert sich auch die 1966 in Köln gegründete Gruppe K66: „Die in romantischer Zeit geprägte Vorstellung, der Künstler habe in aller Stille sein ‚Genie‘ zu entwickeln und werde dann schon von der Gesellschaft entdeckt, war wahrscheinlich immer absurd.“144 In den 1970er Jahren schließlich wurde die Idee eines autonomen Schöpfers im Rahmen der strukturalistischen Theorie vermehrt diskutiert: 1969 stellte Michel Foucault die nun für viele problematisch gewordene Frage: „Was ist ein Autor?,“145 und schon ein Jahr früher hatte Roland Barthes sein Unbehagen an einem ausschließlich aus sich selbst heraus schaffenden Genie noch

140 Vgl. die Darst. in: Convents, Ralf: Surrealistische Spiele. Vom „Cadavre exquis“ zum „Jeu de Marseille,“ Frankfurt am Main/Berlin/Bern u. a. 1996 (zugl. Diss. Köln 1995), S. 103. 141 Convents, Ralf: Surrealistische Spiele, S. 188. 142 Vgl. die Darst. in: Convents, Ralf: Surrealistische Spiele, S. 13/14 und S. 29– 34. 143 Participation, À la recherche d’un nouveau spectateur, Groupe de Recherche d’Art Visuel, Ausst.-Kat. Salle de Jeu, Museum am Ostwall, Dortmund 1968, zitiert nach: Zimmer, Nina: Spur und andere Künstlergruppen, S. 119. 144 K-66, Bandau, Boers, Bonato, Meschede, Ausst.-Kat. Kölnischer Kunstverein, Köln 1969, zitiert nach: Zimmer, Nina: Spur und andere Künstlergruppen, S. 119. 145 Foucault, Michel: Was ist ein Autor?, S. 1003–1041.

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drastischer ausgedrückt, indem er vom „Tod des Autors“ 146 sprach. An diese Strömungen knüpfen Anke Haarmann und das Institut für Paradiesforschung mit ihrer Arbeitsweise an. Doch im Gegensatz zu den oft im Theoretischen verbleibenden Vorbildern setzen sie ihre Kritik am GenieKünstler auch praktisch um. 3.1.3.4 Bildung von Netzwerken Stellt man die Idee eines Genie-Künstlers in Frage, erhält die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und verschiedenen Institutionen eine neue Bedeutung. Es geht den Beteiligten einer „neuen öffentlichen Kunst“ nicht nur um die Erweiterung der partizipativen Praxis hin zum Betrachter, sondern auch um eine interdisziplinäre Arbeitsweise. Auf der Homepage des Instituts für Paradiesforschung heißt es, dass „die Vernetzung von ipfo von großer Bedeutung“ ist, um „eine breite Öffentlichkeit [zu] erreichen.“147 Daher werden Vorträge gehalten, Workshops angeboten und der Homepage auch eine Linksammlung zum Thema Paradies angegliedert. Die bereits erwähnten Experten, die aus der Perspektive verschiedener Wissenschaften über das Forschungsfeld Paradies berichten, zeugen ebenfalls vom interdisziplinären Ansatz des Institutes. Anke Haarmann arbeitete für das Projekt Visionen&Utopien nicht nur mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus Hagen und natürlich mit dem Osthaus Museum zusammen, sondern auch mit dem Stadtplanungsamt. Darüber hinaus ist sie Gründungsmitglied der Gruppe tetrapak, die sie als „Produktionszusammenhang kultureller ProduzentInnen“ charakterisiert, und war Teil der Gruppe Außen, „ein philosophischer Diskussionszusammenhang von 1998–2003.“148 Hier unterscheiden sich ipfo und Anke Haarmann [AHA] nicht von den anderen im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Künstlergruppen. Auch Atelier Van Lieshout arbeitet für verschiedene Projekte mit Architekten, Museen oder privaten Auftraggebern zusammen. N55 sind sehr kritisch in der Auswahl

146 Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, S. 104–110. 147 Dilger, Christina; Thies, Marina: Was will ipfo? 148 Haarmann, Anke: tabellarischer Lebenslauf, in: www.ankehaarmann.de, Juli 2005.

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ihrer Kooperationspartner, weil ihnen die Unabhängigkeit gegenüber den ihrer Meinung nach auch als Machtzentren auftretenden kulturellen Institutionen wichtig ist. Aber für verschiedene Projekte arbeitet die Gruppe ebenfalls mit Spezialisten aus unterschiedlichen Bereichen zusammen. Nicht nur die Gruppenmitglieder vernetzen sich, auch einzelne Projekte von N55 funktionieren wie ein Netzwerk: Land und Rooms sind Systeme, mit denen verschiedene über die ganze Welt verteilte Stücke Land oder auch einzelne Räume in unterschiedlichsten Gebäuden miteinander verbunden werden, indem ihre Besitzer sie dem Prinzip des Privatbesitzes ausgliedern und der Allgemeinheit zur Verfügung stellen.149 3.1.3.5

Infragestellen der dominanten kulturellen Repräsentation Als letztes Merkmal, das AHA und ipfo als Beispiele für eine „neue öffentliche Kunst“ charakterisiert, thematisiert dieses Kapitel ihre Auseinandersetzung mit in der Gesellschaft zirkulierenden Bildern. Das Institut für Paradiesforschung stellte unter der Überschrift „Ausgangsposition“ eine kritische Beobachtung an den Anfang seines Projektes: „Das Paradies [ist] heute in unserem alltäglichen Umfeld durch die inflationäre Verwendung auf diversen Werbeverpackungen zwar dauerhaft präsent, verkommt in seinem Sinngehalt doch eher zu einer modebezogenen, werbebestimmten Scheinwelt.“150 Dieser Scheinwelt wollte das Projekt mit seiner Sammlung von Paradiesvorstellungen begegnen. Das Archiv und der Fragebogen regten dazu an, sich jenseits von „Schnitzelparadies oder NeckermannKleinstglück“151 mit dem idealen Leben zu beschäftigen und vor allem die eigene Lebenswirklichkeit in Beziehung zu einem vorgestellten Paradies zu setzen. Im Rahmen der Ausstellung „Stadtmitte, fixiert,“ die 2001 in der Dortmunder Innenstadt gezeigt wurde, realisierte Marina Thies ein weiteres Teilprojekt von ipfo: Auf einer Großwerbefläche wurde ein Foto mit dem Gesicht der Künstlerin angebracht, das sie solange digital bearbeitet hatte, bis es ihren Vorstellungen von einem idealen Gesicht entsprach [Abbildung 31]. Ebenmäßig und frisch – die blonden Haare von einem leichten Wind schwungvoll bewegt – scheint nun ein Model für Gesichtscreme formatfül-

149 Vgl. die Darst. in Kap. 2.2.2.2 (ab S. 67). 150 Dilger; Thies: Ausgangsposition, in: www. ipfo.de, September 2004. 151 Ebd.

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lend von der Plakatwand herabzublicken. Auf der linken Seite der „Werbefläche“ liest der Betrachter die Frage: „Was würden Sie an Ihrem Gesicht ändern, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten? Call ipfo: 0231-9508640, Institut für Paradiesforschung.“ Marina Thies orientiert sich mit dem Foto ihres veränderten Gesichts an den gängigen Maßstäben der Werbefotografie, daher erscheint die Plakatwand auf den ersten Blick wie die Anzeige einer Klinik für Schönheitschirurgie. Erst der zweite Blick macht mit dem Hinweis auf das Institut für Paradiesforschung (und eben nicht auf eine private Schönheitsklinik) nachdenklich. Abbildung 31: Marina Thies: Großplakatfläche im Rahmen der Ausstellung „Stadtmittte, fixiert,“ Dortmund 2001

Die Beschäftigung mit (Vor-)Bildern, die durch Massenmedien verbreitet werden, ist auch ein zentraler Inhalt der künstlerischen Arbeit von Anke Haarmann: „In der jeweiligen Projektarbeit geht es mir vor allem um die Frage, wie konkrete Individuen sich an den durch Medien vermittelten Bildern mit ihren jeweiligen Inhalten spiegeln, bestätigen oder davon abgestoßen fühlen. Mich interessiert der Prozess der Bildung des individuellen Selbst in der Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Umfeld, als

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Auseinandersetzung zwischen Vorbildern und Selbstbildern.“152 Die während einer Fotositzung im Rahmen des Projektes Visionen&Utopien entstandenen Utopischen Porträts von Alleinerziehenden in der Sozialhilfe kann man als eine Form einer solchen Auseinandersetzung begreifen [Abbildung 29]: Welche Eigenschaften schreibt das vorherrschende Rollenbild der Mutter in Werbung und Filmen den Alleinerziehenden zu, und wie sehen sich die Projektteilnehmerinnen selbst? So unterschiedlich sie sich auch in Szene setzen, eines haben alle Frauen gemeinsam: Sie treten ohne ihre Kinder vor die Kamera und lassen die ihnen zugewiesene Mutterrolle für einen Aubenblick hinter sich.153 Während hier also gängige Vorbilder nicht bedient werden, zeigt das zweite Projekt aus der Reihe Selbst/Bilder einen anderen Umgang mit durch Medien vermittelten Vorbildern. Für das Projekt Fitness, das 2000/2001 in Wolfsburg realisiert wurde, arbeitete Anke Haarmann mit Fitnessstudio-Nutzern zusammen: „Die Intention der Zusammenarbeit war es, durch Konfrontation mit den öffentlichen Körperbildern die Teilnehmer des Projekts zu einer ästhetischen Selbstinszenierung ihres privaten Körperbildes zu bewegen und die öffentlichen und privaten Bilder durch die Bildproduktion in Beziehung zu setzen.“154 In den im Rahmen dieses Projektes entstandenen Fotografien wurde die Ästhetik von Modeaufnahmen, wie sie in Zeitschriften und Werbefilmen transportiert werden, nachgeahmt. Es entstanden auch Bildserien, die wie Stills dramatischer Momente eines Filmes erscheinen, wie sie in den Schaukästen von Kinos ausgehängt werden. [Abbildung 32]. Haarmann bezeichnet diese Herangehensweise als „künstlerische Strategie der Reinszenierung“155 und bringt sie mit dem von Judith Butler geprägten Begriff der Performanz in Verbindung. Ausgehend von Foucaults relativistischem Subjektbegriff stellt Butler fest, dass die

152 Haarmann, Anke: Selbst/Bilder – Konzept der Projektreihe. 153 Ein Teil der Fotos entstand in einem Seminarraum am Arbeitsplatz der Frauen, an dem keine Kinder anwesend waren, aber andere Fotos sind auch bei den Teilnehmerinnen zu Hause gemacht worden. Hier wäre eine Inszenierung als Mutter (mit ihren Kindern) möglich gewesen. Dennoch hat sich keine der Frauen für diese Möglichkeit entschieden (vgl. das Interview mit der Autorin). 154 Haarmann, Anke: Zur Körperpolitik und Medienbildern, in: www.aha-projek te.de/fitness/ahainwolfsburg.html, Juli 2005. 155 Ebd.

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Idee von zwei einander gegenüberstehenden Geschlechtern nicht auf wirklich vorhandene körperliche Gegebenheiten Bezug nehme, sondern eine kulturelle Konstruktion sei. Wie aus diesem kulturellen Entwurf einer bestimmten Körperlichkeit die konkrete Wirklichkeit des einzelnen Menschen wird, erklärt Butler mit dem Akt der „Performativität […] verstanden als jene ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert.“156 Das kulturhistorisch festgelegte Wissen um die Geschlechterdifferenz, so Butler weiter, zirkuliere ständig und rufe jeden Einzelnen auf, es am eigenen Körper zu belegen. Haarmann interessiert hier besonders die grundsätzliche These Butlers, dass Körperlichkeit konstruiert sei, und stellt die eigene These auf, dass heute „die Gestaltbarkeit als eine neue Kategorie in der Natur des Körpers zu gelten beginnt,“157 wohingegen die Idee, dass der Körper durch natürliche Gegebenheiten bestimmt wird, zurücktritt. Die Fotos, die im Rahmen des Fitness-Projektes entstanden, sind Beispiele für den „performativen Charakter dieser Formierung“: 158 In der Gesellschaft zirkulieren öffentliche Bilder, die immer wieder geformte, durchtrainierte Körper zeigen. Sie funktionieren als „regulatives Prinzip,“159 nach dem die Fitnessstudio-Nutzer auch ihren eigenen Körper als gestaltbares Material begreifen. Eine weitere Beobachtung schließt sich an den Butler’schen PerformanzBegriff an. Während des oben beschriebenen stetig andauernden Prozesses, bei dem Wirklichkeit hergestellt wird, kommt es immer wieder zu „kleinen Ungenauigkeiten oder merkwürdigen Verschiebungen.“160 Beim FitnessProjekt zeigte sich das darin, dass sich – trotz aller Bemühungen von künstlerischer Seite und aller Unterstützung der Aufnahmetechnik und Retusche – keine hundertprozentige Deckung zwischen Vorbild und dem „tatsächlich produzierten Selbstbild der Teilnehmer“ 161 ergeben wollte. Gerade auf diese Differenz kommt es Anke Haarmann an. Auf diese Weise nimmt sich jeder Projektteilnehmer als Verschiebung vom ideellen Vorbild wahr und

156 Butler, Judith: Körper von Gewicht, S. 22. 157 Haarmann, Anke: Zu Körperpolitik und Medienbildern. 158 Ebd. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Ebd.

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Abbildung 32: Anke Haarmann [AHA]: Selbst/Bilder, Projekt Fitness (Filmstills), 2002

muss sich in dieser Verschiebung „affirmativ bestätigen.“162 Nur so kann es zu einer erfolgreichen „emanzipatorischen“ Identitätsbildung kommen. Auf einer allgemeineren Ebene verweist diese Differenz also „auf die Möglichkeit einer variablen Performanz und damit der variablen Identität.“163 Was hier am Beispiel der Arbeit „Fitness“ gezeigt wurde, gilt für die gesamte Reihe Selbst/Bilder: Jedes neue Projekt gibt die Möglichkeit, neue Verschiebungen zu entwickeln. In Visionen&Utopien zeugen Texte, Bilder und Filme, die während der Zusammenarbeit mit Hagener Bürgern entstanden sind, von einem erfolgreich durchlaufenden Prozess der Identitätsbildung. Diese Materialien werden abschließend in einem Aufbewahrungsmöbel zusammengefasst, geordnet und gelagert. Auf diese Weise kann der Betrachter, die von den Projektteilnehmern geschaffenen Verschiebungen zu in der Gesellschaft herrschenden Diskursen nachvollziehen. Die Auseinandersetzung mit in der Gesellschaft verbreiteten Konventionen und Bildern war vor allem seit Ende der 1960er Jahre ein wichtiges Thema. Besonders deutlich zeigt sich diese Beschäftigung in Kunstformen, die im Umfeld des Feminismus entstanden. Valie Export führte beispielsweise in ihren Aktionen und Medienarbeiten einen „‚Kunstfeldzug‘ gegen

162 Ebd. 163 Ebd.

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die Gewohnheit und ihre Repräsentation“164 und versuchte dabei, den weiblichen Körper als Projektionsfläche männlicher Phantasien zu enttarnen. In der Performance Asemie von 1973 schneidet die Künstlerin mit einem in ihrem Mund gehaltenen Messer ihre Füße und Hände aus einem Wachsmantel heraus, den sie zuvor auf ihre Extremitäten gegossen hatte. So nutzt Export „die stumme Sprache des Körpers als Alternative zur männlich dominierten Sprache.“165 Seit 1985 befragt auch die anonym agierende Künstlerinnengruppe Guerrilla Girls in Plakat- und Postkartenaktionen die Repräsentation von Frauen im Kunstbetrieb. Hinweisen kann man auch auf die Medienmanipulationen, die besonders seit den 1980er Jahren von aktivistischen Künstlern und Künstlerinnen vorgenommen wurden. Konventionen kommerzieller Werbung werden nachgeahmt, um Inhalte zu vermitteln, die man normalerweise nicht mit dem gewählten Medium im öffentlichen Raum verbinden würde. Auf diese Weise hoffen die Künstler, möglichst viele Menschen zu erreichen. Die Künstlergruppe Group Material mietete zum Beispiel 1981 Anzeigenflächen in Bussen, die unter anderem auf der Fifth Avenue verkehrten. Mit ihren Drucken ahmten sie Format und Erscheinungsbild „normaler“ Werbung nach, transportierten aber ganz andere Inhalte wie zum Beispiel Entfremdung am Arbeitsplatz, Zustand des amerikanischen Bildungssystems, die Unabhängigkeit Puerto Ricos und andere politische Themen.166 3.1.4 Zusammenfassung Das 1997 von Christina Dilger und Marina Thies gegründete ipfo. Institut für Paradiesforschung hat es sich zum Ziel gesetzt, Vorstellungen vom idealen Leben möglichst vieler Menschen zu sammeln und zu veröffentlichen. Dazu sammelte ipfo seit 1998 Paradiesvorstellungen und unterhielt von 2004 bis 2007 eine eigene Website im Internet. Dort konnte der Nutzer den Fragebogen „zur Erhebung von Paradiesvorstellungen“167 ausfüllen und erhielt außerdem Zugang zu dem Archiv der bereits eingegangenen Paradiesvorstellungen. Anke Haarmann arbeitet seit 1998 an der Projektreihe

164 Thiele, Carmela: Kunst als Gegenwehr, S. 3. 165 Thiele, Carmela: Kunst als Gegenwehr, S. 6. 166 Vgl. die Darst. in: Avgikos, Jan: Group Material Timeline, S. 104/105. 167 Dilger, Christina; Thies, Marina: Umfrage.

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Selbst/Bilder, in der sie mit einer Gruppe von Teilnehmern jeweils ein gesellschaftliches „Schlüsselthema“ erarbeitet. Im Rahmen dieser Arbeit wurde vor allem auf das Projekt Visionen&Utopien eingegangen, das die Künstlerin 2002 für eine Ausstellung am Osthaus Museum in Hagen verwirklichte. Nach einer ersten individuellen Recherchephase, in der sie eine vorläufige inhaltliche Ausrichtung des Projektes vorbereitete, trat Haarmann in einem zweiten Arbeitsschritt mit verschiedenen Gruppen aus der Bevölkerung Hagens in Kontakt. Es bildeten sich schließlich drei thematische Schwerpunkte heraus: Mit einer Gruppe allein erziehender Mütter in der Sozialhilfe entstanden Fotos, Texte, ein Film und eine Podiumsdiskussion zu den Themen Arbeit, Freizeit, finanzielle Absicherung und Erziehung. Ein zweites Teilprojekt bildete ein Internetforum, in dem die stadtplanerischen Antworten der Stadt Hagen auf die Strukturkrise des Ruhrgebietes seitens der Bürger diskutiert werden sollten. In Zusammenarbeit mit dem Stadtplanungsamt ging es in einem dritten Projekt um ideale Vorstellungen vom Wohnen. Die Ergebnisse dieser Gruppenarbeiten wurden schließlich in einem letzten Arbeitsschritt im Rahmen der Ausstellung „Museotopia. Schritte in andere Welten“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Sowohl Anke Haarman als auch das Institut für Paradiesforschung übertragen den Teilnehmern an ihren Projekten „einen wesentlichen Anteil […] an der Konzeption oder am weiteren Verlauf der Arbeit.“168 Bei ipfo lässt sich diese Art der Mitarbeit mit dem Begriff Interaktivität beschreiben, während die Teilnehmer der von Anke Haarmann initiierten Projekte in soziale Interaktion mit der Künstlerin und den anderen Teilnehmern treten. Haarmann, Dilger und Thies brechen so mit der Idee eines aus sich selbst heraus schaffenden Genie-Künstlers und agieren als Moderatorinnen, die ihre Fähigkeiten nutzen, um eine Gruppe von Menschen (die oft mit dem Betriebssystem Kunst bisher nicht in Berührung gekommen waren) für die Dauer eines bestimmten Projektes zu begleiten. Auf diese Weise wollen sie den Teilnehmern Anregungen geben, sich mit in der Gesellschaft verbreiteten Konventionen und Bildern auseinanderzusetzen, um diesen eigene Wünsche entgegensetzen zu können. Vorformen einer zum Publikum hin erweiterten Arbeitsweise lassen sich schon im 19. Jahrhundert finden, aber Haarmann, Dilger und Thies

168 Kravagna, Christian: Arbeit an der Gemeinschaft, S. 34.

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greifen vor allem den „broader contextualizing urge“ 169 auf, der sich in vielen Strömungen der 1960er/1970er Jahre zeigt. Die zeitgenössischen Projekte kann man im Zusammenhang mit Kunstformen sehen, denen es um eine „Neuregelung des Verhältnisses von Kunst und Betrachter“ 170 ging, wie zum Beispiel der Konzept-Kunst und Minimal Art. Die PerformanceKunst der 1970er Jahre beschäftigte sich ebenfalls mit diesem Thema 171 und führte gleichzeitig eine Entwicklungslinie weiter, die seit den frühen 1960er Jahren im Happening deutlich wurde: Ziel war weniger die abgeschlossene Gestaltung eines Kunstwerkes als vielmehr das In-Gang-Setzen eines Prozesses, an dem sehr unterschiedliche Publikumskreise Anteil haben sollten. Eine weitere Richtung, die als Vorläufer der zeitgenössischen Projekte gesehen werden kann, entwickelte sich von sowjetischen Wandbildkollektiven der 1920er Jahre über Künstlerprogramme, die während des New Deal in den USA unterstützt wurden bis hin zu Projekten, die in den 1960er/1970er Jahren eine lokale Bevölkerung an der Schaffung von Wandbildern im öffentlichen Raum beteiligten. Trotz ihrer Unterschiede lassen sich die Projekte von Anke Haarmann und dem Institut für Paradiesforschung einer Strömung zuordnen, die seit Mitte der 1990er Jahre mit Begriffen wie new genre public art oder „Kunst im öffentlichen Interesse“ beschrieben wird. Mit ihren historischen Vorbildern teilen die zeitgenössischen Projekte das Verständnis von Kunst als einer Möglichkeit der Gesellschaftsintervention.

3.2

D AS S PIEL ALS SCHÖPFERISCHES P RINZIP – EIN V ERGLEICH DER ZEITGENÖSSISCHEN P ROJEKTE MIT K UNSTKAMMERN UND FRÜHNEUZEITLICHEN U TOPIEN

Im vorherigen Kapitel wurden die zeitgenössischen Projekte vor allem im Hinblick auf ihre partizipative Arbeitsweise untersucht. Es wurde darauf hingewiesen, inwieweit die Teilnehmer Einfluss auf die Grundausrichtung und auch den weiteren Verlauf der Projekte nehmen konnten und an welche 169 Felshin, Nina: But is it Art?, S. 22. 170 Honnef, Klaus: Concept Art, S. 22. 171 Vgl. die Darst. in: Goldberg, Roselee: Performance Art, , S. 408.

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historischen Vorbilder sie dabei anknüpfen. Gelegentlich klang aber auch an, dass die Künstlerinnen in ihren Projekten bestimmte Rahmenbedingungen schaffen, die die Mitwirkung des Publikums lenken und die Offenheit ihrer Teilnahme einschränken. In diesem Kapitel soll geklärt werden, wie genau diese Strukturen funktionieren und auf welche Weise sie mit der geschilderten partizipativen Arbeitsweise zusammenwirken. Denn nur wenn beide Strategien ineinandergreifen, kann man vom Sammeln und Archivieren als utopischer Methode sprechen. 3.2.1 Das Archiv und seine Nutzer Ziel des Instituts für Paradiesforschung war es, verschiedene Paradiesvorstellungen zu sammeln. Diese wurden auf bestimmte Art und Weise erfragt, nach bestimmten Kriterien geordnet und in einer Datenbank archiviert, zum Teil auch statistisch ausgewertet und dann auf einer Internetseite veröffentlicht. Dass die Tätigkeit des Sammelns grundlegender Teil der Arbeit von ipfo war, wird auch durch die graphische Gestaltung der Internetseiten deutlich. Die Startseite von „www.ipfo.de“ [Abbildung 33] zeigt eine dreidimensionale Wabenstruktur, die sich über eine honiggelbe Kugel legt. Neben dem Logo des Institutes haben sich zwei Bienen niedergelassen – bereit, um loszufliegen und die Waben mit neuen Blütenpollen zu füllen. So gewährleisten sie die Überlebensfähigkeit ihres Stockes. Die Waben und die Silhouette der Bienenkörper tauchen auf der Homepage immer wieder auf und strukturieren auch den Fragebogen. Bei den Projekten von Anke Haarmann werden die materiellen Spuren (Texte, Fotos, Karten oder Pläne) eines erfolgreich durchlaufenen Prozesses der Selbstermächtigung gesammelt und in einem „klassischen“ Aufbewahrungsmöbel mit Schubladen gelagert [Abbildung 35], um so ein „kulturelles Archiv“172 zu bilden. In beiden Fällen spielt also das Archivieren eine wichtige Rolle. Die Idee, ein Archiv anzulegen, um mit seinen Beständen zu arbeiten, findet sich schon in frühen Zivilisationen. 3000 v. Chr. wurde zum Beispiel in Uruk das Schriftgut von Behörden und Verwaltungen zu administrativen Zwecken in Form von Keilschrifttontafeln aufbewahrt.173 Im Mittelalter wurden viele Dokumente gelagert, um besondere Rechte, Besitztitel und Ansprüche ein-

172 Haarmann, Anke: Das virtuelle Archiv. 173 Vgl. die Darst. in: Franz, Eckhart G.: Einführung in die Archivkunde, S. 7.

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zelner Personengruppen zu wahren,174 und heute sammelt das Bundesarchiv in Koblenz die Unterlagen, die bei zentralen Stellen der Bundesrepublik Deutschland entstehen und „von bleibendem Wert für die Erforschung der deutschen Geschichte sind,“ also einen besonderen Quellenwert für Historiker haben. In allen Fällen wird das Archiv genutzt, indem man sich wechselseitig auf etwas Gespeichertes bezieht und das ist, so Jürgen Fohrmann, eine „grundlegende Bedingung von Kommunikation.“175 Als sich Jacques Derrida mit dem Phänomen „Archiv“ beschäftigt, stellt er fest: „Eine gespenstische Messianizität beeinflusst den Begriff Archiv und bindet ihn, wie die Religion, wie die Geschichte, wie die Wissenschaft selbst, an eine ganz einzigartige Erfahrung des Versprechens.“ 176 Von diesen Überlegungen ausgehend, arbeitet Jürgen Fohrmann die unterschiedlichen Ebenen dieses Versprechens aus. Das Archiv steht zum Beispiel für eine „größtmögliche Extension.“177 Um ein Archiv zu füllen, reicht es also nicht aus, sich als Künstlergruppe mit überschaubaren Mitgliederzahlen zu konstituieren und über alternative Lebensformen nachzudenken, sondern man muss möglichst viele Menschen an diesem Kommunikationsprozess beteiligen. Auf der Homepage des Instituts für Paradiesforschung hieß es dann auch: „Jeder ist eingeladen, sich auf unterschiedliche Arten an dem Austausch über Paradiesvorstellungen zu beteiligen.“ So sollen nicht besonders außergewöhnliche Lösungsvorschläge vorgestellt, sondern „möglichst viele unterschiedliche, detaillierte Paradiesbetrachtungen“178 gesammelt werden. Auch Anke Haarmann weitet den Teilnehmerkreis über die Grenzen einer fest umrissenen Künstlergruppe hinaus aus, aber sie richtet sich nicht an ein anonymes Publikum, sondern wendet sich für jedes Projekt an Teilöffentlichkeiten und bestimmte Interessengruppen. Mit diesen erarbeitet sie dann aber ebenfalls eine möglichst große Bandbreite gesellschaftlich relevanter Themen. Wie oben bereits gezeigt wurde, ist für die Schaffung eines möglichst umfassenden Archivs eine zum Publikum hin

174 Ebd., S. 9. 175 Fohrmann, Jürgen: Archivprozesse, S. 19. 176 Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 65. 177 Fohrmann, Jürgen: Archivprozesse, S. 22. 178 Dilger, Christina; Thies, Marina: Was will ipfo? (eigene Hervorhebungen).

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erweiterte partizipative Arbeitsweise grundlegend für ipfo und Anke Haarmann [AHA]. Abbildung 33: ipfo. Institut für Paradiesforschung: Startseite des Internetauftrittes (www.ipfo.de), ab 1997

Gleichzeitig muss ein Archiv aber immer auch gewährleisten, dass die gewünschte Universalität nicht zu einer „Archiv-Überdehnung“179 führt und es unbrauchbar macht. Dies würde dem zweiten von Fohrmann genannten „Versprechen zur Produktivität“180 entgegenwirken. Jeder, der das Archiv nutzt und mit dessen Beständen arbeitet, produziert Erzählungen und Argumentationen, die ihrerseits wieder in das Archiv eingehen und es so verändern und aktivieren. Das Archiv ist damit nicht nur „als Thesaurus, als Ort, als Wunderkammer zu verstehen, sondern als Prozess.“181 Damit dieser Prozess wirklich produktiv abläuft und nicht im Chaos versinkt, haben die zeitgenössischen Künstlergruppen bestimmte Strukturen entwickelt, inner-

179 Fohrmann, Jürgen: Archivprozesse, S. 22. 180 Ebd. 181 Ebd.

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halb derer die Teilnehmer agieren können. Bei Anke Haarmann sind es die vorbereitenden Recherchen für jedes Projekt und die enge Zusammenarbeit mit den Teilnehmern, bei deren Diskussionen sie sich moderierend einschaltet. Beim Institut für Paradiesforschung sind es der Fragebogen und die vorgegebenen Paradieskategorien, die zugleich das Archiv strukturieren. Die Projekte vom Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann vereinen also zwei sehr unterschiedliche Arbeitsweisen: Auf der einen Seite wird ein Archiv angelegt – ein Vorgang, der normalerweise mit Langeweile, Staub und verknöchertem Ordnungssinn assoziiert wird –, auf der anderen Seite entsteht dieses Archiv nur durch die vielfältige und lebendige Teilnahme vieler Rezipienten, die den archivalischen Bestand herstellen und ständig verändern. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, auf welche Weise diese beiden gegensätzlichen Prinzipien in den zeitgenössischen Projekten zusammenwirken. Dazu werden die Projekte von ipfo und Anke Haarmann [AHA] mit anderen historischen Formen des Sammelns, Archivierens und Forschens verglichen. Vor allem vom 16. bis zum 18. Jahrhundert war in Europa der Sammlungstyp der Kunst- oder Wunderkammer verbreitet: An Höfen, aber auch in reichen Patrizierfamilien oder im Umkreis von Gelehrten wurden Objekte aus unterschiedlichen Gebieten wie Kunst, Natur und Technik gesammelt und nach bestimmten Ordnungsprinzipien gruppiert. Eng mit der Entwicklung dieses Sammlungstypus – das wird dieses Kapitel zeigen – ist die zeitgleich aufkommende literarische Gattung des utopischen Romans verbunden. In diesen Utopien wird ebenfalls gesammelt, geordnet und geforscht. Wie bei den zeitgenössischen Projekten ging es diesen historischen Formen aber nicht nur darum, verschiedene Objekte zu sammeln, sondern sie wurden darüber hinaus auch oft als Grundlage für eine Auseinandersetzung seitens des Nutzers bereitgestellt. 3.2.2 Räumlich geschlossene Systeme Jürgen Fohrmann stellt fest: „Archiv, das ist […] die Kodifizierung einer Grenze, die ein Arkanum gegen ein Anderes, Offenes, Nicht-Archiv, absetzt und auf diese Weise eine Versammlung, eine Konsignation ermöglicht.“182 Schon Samuel von Quicchenberg, Verwalter der Kunstschätze

182 Fohrmann, Jürgen: Archivprozesse, S. 20.

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Herzog Albrechts V. von Bayern und einer der ersten Sammlungstheoretiker, schrieb 1565, dass man die verschiedenen Sammelgebiete „innerhalb eines räumlich geschlossenen Systems“ 183 ordnen solle. Eine solche architektonische Sammlungseinheit hat sich bis heute in Florenz erhalten. Mitte des 16. Jahrhunderts hatte Giorgio Vasari unter Cosimo I. de Medici die Uffizien als Verwaltungsgebäude errichtet. Unter Francesco I. wurde das Obergeschoss der Anlage als Sammlungsort für Gemälde, Skulpturen, Waffen und wissenschaftliche Instrumente, aber auch für Exponate aus dem Bereich der Naturgeschichte umfunktioniert. 184 Im Westtrakt lagen Werkstätten für Gold- und Silberschmiede, für Kosmographen und Musiker. Auf dem Dach der Loggia dei Lanzi gab es ein Gewächshaus, in dem Gärtner ihrer Arbeit nachgehen konnten.185 Innerhalb eines Gebäudes wurden also Exponate aus den drei Reichen der Natur (mineralisches, vegetabiles und animalisches Reich) und den Feldern der menschlichen artes gesammelt. Wie es auch Quicchenbergs Entwurf einer idealen Kunstkammer vorsieht, wurde die Welt als Ganzes in einer abgeschlossenen Einheit mikrokosmisch wiederholt und vor allem geordnet. Höhepunkt dieser Gemeinschaft aus Ausstellungsräumen und Werkstätten war aber die von Bernardo Buontalenti erbaute Tribuna, ein überkuppelter Saal mit oktogonalem Grundriss im Osten der Galleria [Abbildung 34]. Durch die räumlichen Gegebenheiten war eine zentralere Platzierung nicht möglich, aber ein Idealentwurf der Uffizien von Giorgio Vasari d. J. aus der Zeit um 1590 zeigt, wie ein „in mancher Hinsicht als eine Entsprechung der Tribuna“ 186 zu verstehender Rundtempel das Zentrum der Anlage bildet. So, wie man

183 Wolfgang Braungart in Bezugnahme auf den Titel der Quicchenbergschrift in: Braungart, Wolfgang: Die Kunst der Utopie, S. 106. 184 Heikamp, Detlev: Uffizien-Tribuna, S. 200. 185 In einer Ernennungsurkunde des Ministro di Galleria aus dem Jahr 1588 werden folgende Künstler, Kunsthandwerker und Arbeiter genannt: „giollieri […], intagliatori […], cosmografi, orefici, miniatori, giardinieri della Galleria […], tornitori, confettieri, oriolai, distillatori, artefici di porcellane, scultori […], pittori, fornace di cristallo […], et in somma tutti li artefici d’ogni professione condizione et grado che lavorano per noi o a giornata o a stima“ (zitiert nach: Heikamp, Detlev: Uffizien-Tribuna, S. 199). 186 Heikamp, Detlev: Uffizien-Tribuna, S. 216.

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die gesamte Anlage der Galleria als einen Mikrokosmos der Welt verstehen kann, so bildet die Tribuna eine wiederum kleinere und konzentriertere vollständige Ordnung, die den Kosmos repräsentiert. Der achteckige Grundriss stellte nach antikem Vorbild die vier Haupt- und Nebenrichtungen der Winde dar. Die Laterne der Kuppel war außen mit einer Wetterfahne bekrönt, die im Inneren mit einem Pfeil verbunden war, so dass jeder Besucher der Tribuna die Windrichtung ablesen konnte.187 Detlev Heikamp folgert: „Die Kuppel ist ein Abbild des Himmelsgewölbes, das Walten der Natur ist sichtbar in den Raum hineingetragen.“ 188 Darüber hinaus wurden auch die vier Elemente dargestellt: Die Windrose war ein Sinnbild der Luft, eine Vorrichtung zum Ablesen des Sonnenstandes repräsentierte das Feuer, und die Erde war durch die in der Tribuna aufbewahrten Exponate aus Edelsteinen und Metallen vertreten. Die Dekoration der Innenseite der Kuppel mit Perlmutt verwies auf das Wasser. Diese Sinnbilder waren auf dem die Tribuna in Sockelhöhe umlaufenden Fries noch einmal bildlich dargestellt.189 Nach der ursprünglichen Planung stand in der Mitte der Tribuna auf einem achteckigen Unterbau ein heute verlorener Tempietto, ein für die Kunstkammern des 16. und 17. Jahrhunderts typischer Schrank. Hier wurde die Konzeption der Tribuna im Kleinen wiederholt. Damit wird ein letztes Mal nach der Galleria mit ihren Präsentationsräumen und Werkstätten und der Tribuna der Kosmos in wiederum verkleinerter Form gespiegelt. Am Beispiel der Kunstkammer der Medici-Herzöge in den Uffizien lässt sich also verfolgen, wie in der Kunstkammer eine Abgrenzung der Sammlung von der Umwelt erreicht wurde, um Raum zu schaffen für eine eigene Welt: Diese enthält alles, was auch in der Ausgangswelt vorkommt, aber zeigt es in konzentrierterer und geordneterer Form. So wird der Besucher einer Kunstkammer angeregt, die der Welt zugrunde liegenden Strukturen nachzuvollziehen und zu vergleichen.

187 Dieses Anliegen, die Kräfte der Natur sichtbar zu machen, griffen übrigens etwa 400 Jahre später die Künstler der Arte Povera auf. Giovanni Anselmo zum Beispiel fügte 1967/1968 in der Arbeit „Direzione“ einen Kompass in einen dreieckigen Granitstein ein. Diesen richtete er dann nach Norden aus, „so dass der Galerieraum genau geortet und in Bezug zu den Magnetpolen der Erde gesetzt wird“ (Bulk, Claudia: Die Bedeutung der Energie, S. 135). 188 Heikamp, Detlev: Uffizien-Tribuna, S. 208. 189 Vgl. die Darst. in: Heikamp, Detlev: Uffizien-Tribuna, S. 209.

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Abbildung 34: Bernardo Buontalenti: Die „Tribuna“ der Uffizien, 15801588 (Innenansicht)

Die Kunstkammer ist also mehr als nur eine abgegrenzte Einheit inmitten einer sie umgebenden Umwelt. Sie ist auch die Darstellung dieser ganzen Welt, eine „gebaute universaltopische, mikrokosmisch vollständige Ordnung.“190 Von dieser gebauten Ordnung der Kunstkammer ist es nur ein kleiner Schritt zu der mit Sprache vermittelten vollständigen Ordnung einer Welt. Der englische Philosoph, Naturwissenschaftler und Politiker Francis Bacon schlägt in einem seiner Essays das Reisen allgemein und besonders den Besuch von Kunstkammern als Mittel der Erziehung für junge Menschen vor.191 Noch 100 Jahre später empfiehlt das „Zedlersche Universalle-

190 Braungart, Wolfgang: Die Kunst der Utopie, S. 113. 191 „Das Reisen dient in jüngeren Jahren der Erziehung, in reiferen der Erfahrung. […] Was man sehen und studieren soll, sind die Höfe der Fürsten, zumal wenn sie gerade Gesandte empfangen; […] Schatzkammern für Juwelen und Staatsgewänder; Kunstkammern und Seltenheiten“ (Bacon, Francis: Über das Reisen, S. 59/60).

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xikon“ seinen Lesern während unternommener Reisen auch die „Kunst=Kammern“ aufzusuchen, um sich zu bilden.192 Diese Ratschläge wurden offensichtlich befolgt, denn viele der von der frühneuzeitlichen Oberschicht verfassten Reiseberichte enthalten Beschreibungen von Kunstkammern.193 „Die Reise,“ so sagt es Braungart mit einem Topos des 17. Jahrhunderts, „führt ein in die Welt als Kunstkammer und erschließt sie.“ 194 Die Gattung der utopischen Romane ist diesen Reiseberichten besonders nahe, denn auch die literarischen Utopien der frühen Neuzeit sind Erzählungen einer Fahrt in eine unbekannte ideale Welt, ähnlich wie der Bericht über einen Besuch einer Kunstkammer Einsicht in eine systematisch geordnete Welt bietet. Hier zeigt sich ein enger Bezug zwischen Kunstkammer und utopischem Staatsroman. Diese Zusammenhänge lassen sich auch auf anderen Ebenen feststellen. Ob nun Thomas Morus’ „Utopia,“ Tommaso Campanellas „Civitas Solis,“ Francis Bacons „Neu-Atlantis“ oder „Christianopolis“ von Johann Valentin Andreae – in allen Texten wird ein Staatsgebilde auf einer unerreichbar fernen Insel geschildert und der utopische Raum damit ebenso von der Umwelt abgegrenzt wie die Sammlungsobjekte in der architektonischen Einheit der Kunstkammer. In den Kunstkammern wurde eine möglichst vollständige Sammlung von Objekten aus allen Bereichen der Welt zusammengetragen, und auch innerhalb der Grenzen der in den Romanen geschilderten Gemeinwesen gibt es alles, was die Ausgangsgesellschaft bietet, nur eben sinnvoller organisiert. Als Beispiel dieser allumfassenden Ordnung mag Campanellas „Sonnenstadt“ dienen: Sie besteht aus sieben ringförmigen Stadtmauern, die sich über einen Hügel erstrecken. Sowohl die Innen- als auch die Außenseiten dieser Mauern sind mit Gemälden versehen, die „alle Wissenschaften in fabelhafter Anordnung wiedergeben“195 und so zu einem „orbus pictus“196 werden. Die Abfolge der dargestellten Themen, beispielsweise „alle Arten von Vögeln“ oder „alle mathematischen Figuren,“197 zeigen Ähnlichkeiten zu den Ordnungskategorien von Kunstkammern, denn in beiden Fällen geht es um eine systemati-

192 Zedler, Johann Heinrich (Hrsg.): Reisen, Sp. 378. 193 Fechner, Jörg-Ulrich: Die Einheit von Bibliothek und Kunstkammer, S. 21. 194 Braungart, Wolfgang: Die Kunst der Utopie, S. 123. 195 Campanella, Tommaso: Sonnenstaat, S. 120. 196 Ebd. 197 Campanella, Tommaso: Sonnenstaat, S. 120/121.

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sche Darstellung des Wissens gemäß den Schemata der vier Elemente und der drei Reiche der Natur. 198 Johann Valentin Andreae besaß sogar selbst eine Kunstkammer, 199 und so erstaunt es nicht, dass auch seine „Stadt der Christen“ nach Prinzipien geordnet ist, wie sie aus kunstkammertheoretischen Schriften bekannt sind. An den Tempietto, der einst das Zentrum der Uffizien-Tribuna bildete,200 knüpft Anke Haarmann mit ihrem Archivschrank mit Bild- und Dokumentationsmaterial über das Projekt Visionen&Utopien ihrer Reihe Selbst/Bilder an. Abbildung 35 zeigt das zeitgenössische Möbelstück im Vergleich zu einem Kunstkammerschrank des 17. Jahrhunderts [Abbildung 36]. Die Formensprache ist schlichter: ein einfaches Sideboard aus Holz mit Schubladenelementen und einer Schranktür. Ein seitlich angebrachter Kartenständer und ein Hocker vervollständigen das Möbelstück. Auf der als Tischplatte genutzten Ablagefläche steht ein Computer, der dem Nutzer einen Internetanschluss bietet, um die Filme anzusehen, die während des Projektes entstanden sind. In der späteren Installation des Projektes im Kunsthaus Hamburg war über dem Archivschrank zusätzlich ein indirekt beleuchteter Schriftzug mit dem Titel des Projektes Visionen&Utopien angebracht. Wie der verloren gegangene Florentiner Tempietto enthält der Archivschrank Materialien, die von einer eigenen geordneteren oder besseren Welt zeugen: Jede der drei Schubladenspalten enthält die Materialien von einem der drei Projektschwerpunkte:201 Pläne von einem gewünschten Haus im Grünen, Ideen zu einer besseren Stadtentwicklung, Vorstellungen von einem Leben ohne Zwang und Porträts von Alleinerziehenden, die gerade nicht das Rollenklischee der Mutter erfüllen wollen. Für die Präsentation des Projektes Eigenheim (das vierte Projekt der Reihe Selbst/Bilder) 2003 im Hamburger Kunstverein ließ die Künstlerin das Modell eines „idealtypischen kleinen Hauses“202 bauen, in das der Ausstellungsbesucher hineingehen konnte, um dort verschiedene „Vorstellungen von privater Umwelt“ 203

198 Vgl. die Darst. in Braungart, Wolfgang: Die Kunst der Utopie, S. 84. 199 Vgl. die Darst. in: Braungart, Wolfgang: Die Kunst der Utopie, S. 76. 200 Vgl. die Darst. in Kap. 3.2.2. 201 Vgl. die Darst. in Kap. 3.1.2. 202 Haarmann, Anke: Kurzbeschreibung Selbst/Bilder Projekt IV. 203 Ebd.

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Abbildung 35: Anke Haarmann [AHA]: Selbst/Bilder, Projekt Visionen&Utopien (Archivschrank mit Dokumentationsmaterial), Installationsansicht Kunsthaus Hamburg 2004

an Hand von Fotoserien, Videos und Hörstücken kennen zu lernen [Abbildung 37]. Wie der Archivschrank bildet dieses Haus eine von dem Ausstellungsraum abgeschlossene architektonische Einheit. Für das Projekt Fitness aus dem Jahr 2000 stand Haarmann eine Etage des Schlosses, in dem der Kunstverein Wolfsburg sich niedergelassen hat, zur Verfügung. Hier hatte sie das erste Mal „ausprobiert, was es bedeutet, die Projekte im Kunstraum zu präsentieren. […] Da war der Raum [die Etage im Schloss] selber der Einschluss.“204 Neben der Präsentation der einzelnen Projekte kann man aber auch die Homepage der Künstlerin, in der sie jedes der bisher neun

204 Haarmann, Anke in: Interview mit der Autorin.

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Projekte der Reihe Selbst/Bilder aufgenommen hat, als eine abgeschlossene Einheit, als eine Art Archiv betrachten. Anke Haarmann kann sich auch vorstellen, einmal alle ihre Projekte in einer Ausstellung „im Ganzen zu präsentieren. Entweder in jeweils einzelnen Kammern oder Räumen, die aber als eine gemeinsame Ausstellung wahrgenommen werden sollen, oder auch in einem großen Raum. Da wäre es wichtig, dass sich die Teilprojekte nicht vermischen.“205 Je mehr Projekte in Zukunft noch im Rahmen der Selbst/Bilder entstehen werden, je größer also die Bandbreite „gesellschaftlicher Schlüsselthemen“206 ist, desto sinnvoller erscheint der Künstlerin eine solche Zusammenschau. Obwohl sie um die Vergeblichkeit weiß, ein vollständiges Abbild der Welt zu schaffen, geht es ihr doch um eine „Sammlung von Themenbereichen der unterschiedlichsten Ebenen, die die zeitgenössische Lebenswelt repräsentieren.“207 Die beschriebenen Präsentationen im Kunstraum, das ständig wachsende Archiv der Homepage oder Abbildung 36: Kabinettschrank, 2. Hälfte 17. Jahrhundert, erzbischöfliche Kunst- und Wunderkammer, Dommuseum zu Salzburg

205 Ebd. 206 Haarmann, Anke: Selbst/Bilder – Konzept der Projektreihe. 207 Ebd.

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eine solche zukünftige Ausstellung könnte man also – wie die Kunstkammer und die literarische Utopie – als Repräsentation der Welt verstehen. Doch trotz der Abgeschlossenheit von Archivschrank oder Homepage ist es Haarmann wichtig, auf die engen Verbindungen zwischen Umwelt und Repräsentation in ihrer Arbeit hinzuweisen. Ihre Projekte möchte sie weniger als eine Gegenwelt zu der Ausgangsgesellschaft sehen, denn das „Gegen“ sei in seiner „dialektischen Opposition […] gewissermaßen ein Begriff der Moderne.“208 Stattdessen hält sie den Begriff „Verschiebung für viel treffender. […] Es geht darum, im Bestehenden die Mannigfaltigkeit des Anderen schon zu entdecken […]. Es geht auch darum, bestimmte Befunde, die eben abweichen vom hegemonialen großen Kontext, zu unterstützen, wahrzunehmen und in ihrer Andersheit, in ihrer Pluralität zu bestärken.“ 209 Auch die Homepage des Instituts für Paradiesforschung bildet eine Einheit innerhalb des Internets. Es wurde bereits beschrieben, dass es (wie bei der Kunstkammer) bestimmte Ordnungskriterien gibt, nach denen die einzelnen Paradiesvorstellungen erfragt und im Archiv abgelegt werden. Das Archiv der gesammelten Paradiesvorstellungen will aber nicht einen einzelnen großen Gegenentwurf zu der bestehenden Welt aufbauen, sondern vereint einen ganzen Kosmos von idealen Welten. Jede einzelne der bisher eingegangenen Paradiesvorstellungen ist eine der Ausgangsgesellschaft entgegengesetzte Welt, und gerade die Fülle der Vorstellungen eines besseren Lebens ist die Voraussetzung dafür, dass das Archiv seine eigentliche Funktion erfüllen kann. Die Kunstkammer schafft mit ihren von der Umwelt architektonisch abgegrenzten Sammlungsräumen eigenständige Welten, die alle Elemente der umgebenden Welt enthalten, sie aber in geordneterer, verbesserter Form präsentieren. Die mit den Kunstkammern auf vielfältige Weise verbundenen literarischen Utopien der frühen Neuzeit kann man als mit Sprache vermittelte, mikrokosmisch vollständige Ordnungen sehen, die sich ebenfalls von der Umgebung deutlich abgrenzen. Wie das Beispiel des Archivschrankes aus dem Projekt Visionen&Utopien von Anke Haarmann oder die Homepage mit dem Archiv des Instituts für Paradiesforschung zeigen, schaffen auch die zeitgenössischen Projekte abgeschlossene Räume, in denen Alternativen zur bestehenden Welt ihren Platz finden.

208 Haarmann, Anke in: Interview mit der Autorin. 209 Ebd.

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3.2.3 Einheit von Sammlung und Forschung Wie bei der Beschreibung der Uffizien-Galleria deutlich wurde, ging es bei dieser Anlage nicht nur darum, Präsentationsräume für Objekte zu schaffen, sondern es wurde auch Raum gegeben für die Einrichtung von Werkstätten. Diese Einheit von Präsentation auf der einen Seite und Vorrichtungen für verschiedene Tätigkeiten auf der anderen Seite lässt sich auch in vielen frühneuzeitlichen Utopien beobachten. Das Zentrum der Stadt in Tommaso Campanellas Sonnenstaat bildet beispielsweise ein runder Tempelbau, der nicht nur der religiösen Verehrung dient, sondern auch Stätte der astronomischen Unterweisung und der Forschung ist. Dies zeigt besonders deutlich das Dach des Tempels: Ähnlich der Kuppel der florentinischen Tribuna „ragt eine Art von drehbarer Fahne empor, die die Winde anzeigt.“210 Ebenso wird in Johann Valentin Andreaes „Christianopolis“ umfassend gesammelt, wie die Beschreibungen des „Schauhauses der Natur“ oder der „Archive“211 verdeutlichen. Aber es wird auch gründlich geforscht: Im Zentrum der Stadt gibt es einen Tempel, in dem zusammenhängende Forschungsund Sammlungsräume untergebracht sind. Im Laboratorium beschäftigen sich zahlreiche Forscher mit den drei Reichen der Natur und den vier Elementen,212 in der Apotheke ist alles versammelt, „was die Elemente bieten, die Kunst ausbreitet, was alle Kreatur uns zur Verfügung stellt […] und zwar nicht nur zur Pflege der Gesundheit, sondern auch zur Unterweisung des Verstandes.“213 Ein Raum ist der anatomischen Forschung vorbehalten,214 und in einem anderen Saal werden mathematische Instrumente aufbewahrt, unter anderem auch solche, „die den Forschungsversuchen der Jugend dienen.“215 Francis Bacon schließlich widmet den „Forschungsstätten und [deren] Errungenschaften“ ein eigenes Kapitel in „Nova Atlantis.“

210 Campanella, Tommaso: Sonnenstaat, S. 119. 211 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 72/73 und S. 65/66. 212 „Hier werden […] die Eigenschaften von Metallen, Mineralien, Pflanzen und Tieren untersucht […]; hier lernt man das Feuer beherrschen, die Luft nutzen, das Wasser schätzen und die Erde untersuchen“ (Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 69). 213 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 70. 214 Andreae, Johann Valentin: Christinaopolis, S. 71. 215 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 74/75.

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Ausführlich berichtet er dort von der „Erzeugung neuer künstlicher Metalle aus Stoffen und Steinen,“ erklärt, wie die Bewohner das Wetter studieren und sogar beeinflussen können oder neue Arten von Tieren kreieren. Er beschreibt die Einrichtung der „optischen“ und „akustischen Werkstätten“ und erklärt, welche Maschinen die Forscher in den „mechanischen Werkstätten“ herstellen können.216 Diese Einheit von Sammlung und Forschung gibt es auch bei den zeitgenössischen Projekten von Anke Haarmann und dem Institut für Paradiesforschung. Weiter oben in diesem Kapitel wurde das „Versprechen zur Produktivität“217 thematisiert, das die Archive von ipfo und von Anke Haarmann [AHA] einlösen möchten. In der Datenbank des Instituts für Paradiesforschung werden die verschiedenen Vorstellungen nicht um ihrer selbst willen gesammelt, sondern um den zukünftigen Nutzer der Datenbank anzuregen, eine eigene Paradiesvorstellung zu entwickeln. Im Kapitel 3.3.1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Datenbank als „Austauschplattform“ versteht, auf der der Nutzer in einer „spielerischen Auseinandersetzung“ mit den archivierten Paradiesbeschreibungen zur Entwicklung einer eigenen Vision eines idealen Lebens angeregt werden soll. Daran, so hoffen Dilger und Thies, schließt sich dann „automatisch ein SollIst-Vergleich mit der eigenen Lebenssituation“218 an. Auch Anke Haarmann bewahrt die während der Projektarbeit mit einer Gruppe von Teilnehmern entstandenen Texte, Pläne und Skizzen nicht nur auf, um ein Archiv zu füllen, sondern will damit eine weitere Form der Auseinandersetzung ermöglichen. Nach Abschluss der jeweiligen Projektarbeit werden die verschiedenen Ergebnisse im Kunstraum präsentiert. Dabei besteht zwar „nicht der Anspruch […] die gleiche Intensität in der Kooperation mit einem Ausstellungsbesucher herzustellen wie mit den Projektteilnehmern,“219 aber dennoch kann durch die Präsentation zum Beispiel des Archivschrankes im Osthaus Museum Hagen oder durch die Zusammenstellung der einzelnen Projekte auf der AHA-Homepage „durch die Fülle an Material [eine] mi-

216 Bacon, Francis: Neu-Atlantis, S. 205–213. 217 Fohrmann, Jürgen: Archivprozesse, S. 22. 218 Dilger, Christina; Thies, Marina: Was will ipfo? 219 Haarmann, Anke in: Interview mit der Autorin.

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nimale Kooperationsebene […] ermöglich[t]“220 werden. Die Eigenständigkeit des Besuchers wird dabei durch die verschiedenen Positionen gewährleistet, die das Archiv bereit hält. So kann er sich selbst ein Bild des jeweiligen Projektes machen. Der Betrachter soll also angeregt werden, das Archiv zu füllen und mit seinen Beständen zu arbeiten. Wie oben beschrieben wurde, entwickeln ipfo und Anke Haarmann [AHA] eine besondere Methode, um dieses Ziel zu erreichen, indem sie die partizipative Praxis zum Publikum hin ausdehnen und es so am Arbeitsprozess beteiligen. Die zeitgenössischen Gruppen erhoffen sich von dem Aufbau eines Archivs, dass dessen Nutzer mit den Beständen arbeiten und dass diese Auseinandersetzung vielleicht sogar eine Veränderung der Lebensumstände bewirken könnte., Viele Themen und Arbeitsweisen von ipfo und Anke Haarmann [AHA] haben ihre Vorläufer in der Kunst der 1960er/1970er Jahre. Auch mit ihrer Archivstrategie knüpfen sie an diese Zeit an: Joseph Beuys plädierte ebenfalls für Sammlungen, mit denen der Betrachter arbeiten kann und die so eine gesellschaftliche Wirkung entfalten sollten. Kann das eine Sammlung nicht leisten, „dann ist das Museum nichts anderes geworden als ein Archiv für menschliche, kulturelle Tätigkeit […]. Aber das ist m. E. viel zu wenig.“221 Jorge Luis Borges hat in „Die Bibliothek von Babel“ 222 ein Archiv beschrieben, das sich einer Nutzung versperrt. Es ist eine Welt, die aus einer unendlichen Ansammlung von mit Büchern gefüllten Galerien besteht. Doch für die Bewohner dieser Bibliothek sind die meisten Texte unverständlich und auch der Aufbau der einzelnen Galerien bleibt ihnen unbekannt. So sind die Bibliothekare gezwungen, ihr Leben lang die zahllosen Bücher zu durchblättern, ohne aber Sinn konstituieren zu können. „Mein Ort,“ so beschreibt der Erzähler der Geschichte von Borges seine Situation, ist „die Hölle.“223 Einen ähnlichen Ansatz wie das Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann verfolgt Andreja Kuluncic. Die 1968 in Jugoslawien geborene Künstlerin beschäftigt sich seit 1997 in web-basierten Projekten mit

220 Ebd. 221 Beuys, Joseph; Haks, Frans: Das Museum – Ein Gespräch über seine Aufgaben, Möglichkeiten, Dimensionen …, Wangen/Allgäu 1992, S. 34. 222 Borges, Jorge Luis: Die Bibliothek von Babel, Erzählung, in: Die Bibliothek von Babel, Stuttgart 2006 (Erstveröffentlichung 1941), S. 47–57. 223 Borges, Jorge Luis: Bibliothek, S. 54.

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Themen wie Genmanipulation, Modellen gesellschaftlichen Zusammenlebens oder den Folgen des ökonomischen Wandels in den ehemaligen Ostblockstaaten.224 Wie bei ipfo und Anke Haarmann [AHA] wird bei den meisten Projekten eine partizipative Arbeitsweise genutzt, um eine Datenbank aufzubauen, die immer weiter wächst. Als Beispiel soll hier auf das Projekt Distributive Justice aus den Jahren 2001–2005 eingegangen werden. Es beschäftigt sich mit verschiedenen gesellschaftspolitischen Modellen und stellt vor allem die Frage, nach welchen Kriterien allgemeine Güter innerhalb der Gesellschaft verteilt werden sollen. Kuluncic erklärt dazu: „The work does not exist without the viewers, and it is completely linked to audience participation.“225 Der Betrachter kann sich an Distributive Justice in ganz unterschiedlicher Weise beteiligen: Zum einen finden während Ausstellungen Vorlesungen und öffentliche Diskussionen statt, zum anderen kann man sich dem Thema – wie beim Institut für Paradiesforschung – interaktiv nähern. Die Ausstellungsinstallationen bieten Computerarbeitsplätze, an denen der Besucher an einer Art Spiel teilnehmen kann, um „nach Belieben materielle und nichtmaterielle Güter [zu verteilen] und damit eine sich dynamisch verändernde ‚Gesellschaft‘ auf[zubauen]. Am Ende des Spiels werden verschiedene typische Gesellschaftsformen erkennbar.“226 Die Ergebnisse werden gespeichert, und so füllt sich mit dem Beitrag eines jeden Mitspielers eine Datenbank: „Von Ausstellung zu Ausstellung verändert und entwickelt sich dieses Material. Die Beteiligung vieler verschiedener Länder führt dazu, dass jedes Land seine Spuren in der Arbeit hinterlässt, die dann Bestandteil der Ausstellung werden.“ 227 Wie beim Institut für Paradiesforschung werden die so zusammengetragenen Daten auch statistisch ausgewertet und unter anderem in Balkendiagrammen dargestellt. Der theoretische Teil des Projektes bietet zusätzliche Informationen. Während der Ausstellung sprechen Spezialisten wie Ökonomen, Juristen oder Soziologen über Verteilungsgerechtigkeit und ein Web-Portal des Projektes informiert auch unabhängig von der Ausstellung über die wich-

224 Zum Beispiel in den Arbeiten Closed Reality – Embryo (1998–2000), Distributive Justice (2001–2005) oder Nama: 1908 employes, 15 department stores (2000). 225 Ilic, Natasa: Introduction. 226 Kuluncic, Andreja: About the project. 227 Ebd.

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tigsten Theorien zu diesem Thema. Diese theoretische Begleitung erinnert an die „Paradiesexperten“, die ihr Wissen für die Projektteilnehmer des Instituts für Paradiesforschung zur Verfügung stellten. Die Projekte von Andreja Kuluncic setzen sich also mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinander, und die Teilnehmer ihrer Projekte sollen alternative Modelle des Zusammenlebens entwickeln. Dazu verbindet sie eine zum Publikum hin erweiterte partizipative Arbeitsweise mit einer Art Archiv. Auch ihre Rolle als Künstlerin definiert sie ganz ähnlich wie Anke Haarmann: „Here I see my role and the role of art – to offer a platform, a framework for all those people to feel good within […] one that is […] available to all and everyone can find their place within if they wish to participate.“228 Das nächste Kapitel soll zeigen, dass es trotz dieser Übereinstimmungen einen grundsätzlichen Unterschied zwischen ihren Projekten und der Arbeit von Anke Haarmann und dem Institut für Paradiesforschung gibt. 3.2.4 Orte spielerischen Austausches Bisher wurden als Bindeglieder von Kunstkammer, frühneuzeitlicher Utopie und den zeitgenössischen Projekten vor allem zwei Aspekte vorgestellt: Zum einen schaffen alle ein mehr oder weniger geschlossenes System, zum anderen bauen sie nicht nur eine Sammlung auf, sondern versuchen auch den Betrachter zu aktivieren. Dieses Zusammenspiel von ordnender Sammlung und verändernder Beteiligung des Raumnutzers soll im folgenden Kapitel näher untersucht werden. Welche Strategien greifen Anke Haarmann und das Institut für Paradiesforschung auf, um die Aktivitäten des Sammelns und Forschens miteinander zu verbinden und sie gleichzeitig im gesellschaftlichen Leben zu verorten? Horst Bredekamp charakterisiert die Kunstkammer „als Ort spielerischen Austauschs,“229 bei dem es – trotz aller Ordnungskategorien – nicht nur um die Präsentation einzelner getrennter Sammlungsbereiche geht. Vielmehr wird bei der Inszenierung der verschiedenen Objekte der Kunstkammer versucht, „ein Netz des assoziativen und grenzüberschreitenden visuellen Austausches zu spannen und auf diese spielerische Weise sowohl

228 Ebd. 229 Bredekamp, Horst: Die Kunstkammer, S. 65.

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die äußere wie auch die innere Natur des Menschen zu erkunden.“230 Stefan Laube beschreibt diesen Vorgang am Beispiel der Kunstkammer der Franckeschen Stiftung in Halle: Jemand, „der sich überraschenden Erkenntnisformen, dem Vergleich des anscheinend nicht Zusammengehörigen aussetzt, dessen Auge imstande ist, im Sammelsurium der Dinge ein virtuoses Spiel der Formen und Analogien zu entdecken,“231 kann sich hier in der „Ars combinatoria“232 üben und Zusammenhänge zwischen den verschiedensten Objekten herstellen. In der zeitgenössischen Kunst lassen sich ähnliche Strategien finden: Karsten Bott zum Beispiel gründete 1988 das Archiv für Gegenwarts-Geschichte, und seitdem sammelt er Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, archiviert sie aufwändig nach bestimmten Kriterien und stellt Teile seiner Sammlung in immer wieder neuen Zusammenhängen aus. Die Gegenstände wie Teller, Tapeten, Hosen oder Bürsten werden meist thematisch zusammengestellt, aber manchmal nutzt Bott auch eine „lockere Gruppierung […], um Dinge aufeinander treffen zu lassen, die sich nicht aus dem normalen Zusammenhang kennen.“233 „Sammeln ist materialgewordenes Assoziieren,“234 so beschreibt Matthias Winzen diese Strategien. Noch deutlicher als Bott lässt sich der amerikanische Künstler Mark Dion von dem Prinzip der Kunst- und Wunderkammer leiten. Er setzt diese Form des Sammelns gegen die rationalen Ordnungen des Museums, wie sie sich mit der Spezialisierung der modernen Wissenschaften ab dem späten 17. und dem frühen 18. Jahrhundert herausbildeten. Oft arbeitet Dion mit den Mitarbeitern des Museums zusammen, in dem die spätere Installation zu sehen sein wird. Auf diese Weise kann er die Sammlungsgeschichte und Arbeitsweise der Institution in seine Arbeit einbeziehen. Manchmal geht er wie ein Archäologe vor: Für das Projekt Tate Thames Dig sammelte er 1999 mit einer Gruppe von freiwilligen Helfern aus der Umgebung an der Themse Müll und Strandgut auf, reinigte die Objekte und präsentierte sie anschließend in einem an Kunstkammerschränke erinnernden Möbel in der Tate Gallery in London. Dions Ziel ist es, „to reveal art

230 Bredekamp, Horst: Die Kunstkammer, S. 66. 231 Laube, Stefan: Eine andere Ordnung der Dinge, S. N3. 232 Ebd. 233 Bott, Karsten: Von Jedem Eins, mit Abständen. 234 Winzen, Matthias: Sammeln, S. 10.

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and sciences as the dynamic process that they are.“235 Dazu nutzt er die Sammlungsform der Kunstkammer, denn sie „ist eine Chance, eine Situation zu schaffen, wo es möglich ist, Dinge zu entdecken, wo Neugierde belohnt wird durch verschiedene Verknüpfungen und Deutungen.“236 Die Kunstkammer ist „ein spielerischer […] Ort, deren Arrangement Wunder und Konversation in Gang setzt[].“237 In den von der Erkenntnisform der Kunstkammern beeinflussten frühneuzeitlichen Sozialutopien ist neben der „Ars combinatoria“ auch dieses von Dion erwähnte spielerische Element wichtig. Schon in der Vorrede nennt zum Beispiel Johann Valentin Andreae seinen utopischen Text „ein Spiel, das man bei dem berühmten Thomas Morus nicht missbilligt hat.“238 Auch innerhalb des von Andreae geschaffenen utopischen Raumes wird „gespielt.“ In der „Werkstatt der Malerkunst“ wird alles gesammelt, „womit sich die Geisteskräfte spielerisch beschäftigen,“239 und die Jungen lernen „gewissermaßen spielend“240 von Kräutern und ihren Anwendungsgebieten. Bei der Beschreibung des Laboratoriums in „Christianopolis“ nimmt Andreae diesen Gedanken des Spiels nochmals auf: „Hier hat der Affe der Natur etwas, womit er spielen kann, da er ihre Prinzipien nachahmt und mit Hilfe ihrer Merkmale eine neue, kleine und höchst künstliche bildet.“241 Was meint Andreae mit diesem „spielenden Affen der Natur“? Nachdem in der Literatur und Kunst des Mittelalters eine negative Deutung des Affen vorherrschte, wird das Tier seit der Renaissance wegen seiner imitatorischen Fähigkeiten mit dem Menschen und den von ihm ausgeübten artes assoziiert und damit zur „Allegorie der Kunst schlechthin.“242 In dieser Bedeutung taucht der spielende „Affe der Natur“ auch auf dem zwei Jahre vor Andreaes Text erschienenen Kupferstich Spiegel der ganzen Natur und Bild der Kunst auf [Abbildung 37]. Matthias Merian d. Ä. schuf diese Gra-

235 Dion, Mark in: Miwon Kwon in Conversation with Mark Dion, S. 19. 236 Dion, Mark: Das Kunstkabinett als Ausstellung, S. 72. 237 Dion, Mark: Das Kunstkabinett als Ausstellung, S. 74. 238 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 14. 239 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 73/74. 240 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 73. 241 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 69. 242 Vgl. die Darst. in: Böhme, Hartmut: Der Affe und die Magie.

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phik als Frontispiz zum ersten Band von Robert Fludds Schrift „Utriusque cosmi historia.“243 Im Zentrum dieses Systembildes sitzt ein Affe auf einer Erdkugel. Sein linker Arm ist an die Hand der weiblichen Natura gekettet. Diese wiederum ist durch eine weitere Kette an ihrem rechten Arm mit der Hand Gottes und der empyreischen Sphäre verbunden.244 Ihre Stellung im Bild verdeutlicht, dass sie nicht nur über die Himmelssphären herrscht, sondern auch die vier Elemente und die drei Reiche der Natur bestimmt. Das Tier wird von vier Kreisen hinterfangen, die die Alchemie und die freien Künste repräsentieren. Durch die Verbindung mit der Natura ist der Affe bei allem, was er in der Ausübung seiner Künste hervorbringt, von der (göttlichen) Natur inspiriert. In seiner Linken hält der Affe eine weitere Kugel, ähnlich der, auf der er selbst sitzt und die er mit einem Zirkel in seiner anderen Hand vermisst. Diese Geste des deus geometer weist ihn als Schöpfer dieser kleineren Kugel aus, denn auch Gott, der ja – so beschreibt es die Bibel – in der Schöpfung „alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“245 hat, wird oft mit dem Zirkel dargestellt, wie er das Erdenrund vermisst. Auch die göttliche Schöpfung kommt ohne das Spiel nicht aus: Die im Alten Testament als Person agierende Weisheit spricht von ihrer Teilhabe am göttlichen Schöpfungswerk: „Als er den Himmel baute war ich dabei, als er den Erdkreis abmaß über den Wassern […] da war ich als geliebtes Kind bei ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit. Ich spielte auf seinem Erdenrund, und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein.“246 Wie auch immer das „ludens“ in der „Vulgata“ gemeint war – ob im Sinne von „erfreut“ oder „spielend“ – seit der Renais-

243 Robert Fludd war ein in London tätiger Arzt, Astrologe und Naturphilosoph. Die Schrift „Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris metaphysica, physica atque technica historia“ (2 Bände, 1617–1621) ist eine Art Enzyklopädie der Naturphilosophie und stellt unter anderem die menschlichen Künste in Analogie zu himmlischen Archetypen dar. 244 Vgl. die Darst. in: Böhme, Hartmut: Der Affe und die Magie. 245 Bischöfe Deutschlands u. a. (Auftraggeber): Die Bibel, Altes Testament, Buch der Weisheit 11, 20. 246 Bischöfe Deutschlands u. a. (Auftraggeber): Bibel, Altes Testament, Buch der Sprichwörter 8, 27–31.

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Abbildung 37: Matthäus Merian d. Ä.: Integrae Naturae speculum Artisque imago, Frontispiz zu: Robert Fludd: Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica..., Bd. 1, Oppenheim 1617

sance wurde es im letzteren Sinn verstanden.247 Und nicht nur die Weisheit Gottes spielt während seines Schöpfungsaktes, auch die Natur – das Ergebnis dieser Schöpfung – spielt seitdem immer wieder. Nicht umsonst waren die in der Natur vorkommenden Abirrungen und Zufallsbildungen ein beliebtes Sammlungsobjekt in Kunstkammern und werden auch in „Christianopolis“ gesammelt. Andreae beschreibt, wie im „Schauhaus der Natur“ in Behältern „das Seltenste, Ungeheuerste und Ungewöhnlichste der Natur aufgehoben“248 wird. Von einer Stelle in der „Naturgeschichte“ des Plinius 247 Bredekamp, Horst: Die Kunstkammer, S. 68. 248 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 72.

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ausgehend, der in diesen Sonderformen ein Rest der schöpferischen Spielfreude sah, entwickelten Theoretiker der Renaissance die Annahme, dass in den sich „frei bildenden Zufallsbildern der Natur die Potenz aller Kunstformen läge.“249 Diese Gedanken zeugen von ersten Anzeichen eines entwicklungsgeschichtlichen Denkens. Die Schöpfung wird nicht als eine abgeschlossene betrachtet, sondern als eine, die sich grundsätzlich durch die tatkräftige Hilfe des Menschen weiter entwickeln kann.250 Am Ende einer solchen Entwicklung könnte so die „Repatriierung des Paradieses“251 stehen. Diesen Gedanken führt 1674 der Arzt und Sammler Johann Daniel Major in seiner kunstkammertheoretischen Schrift aus. Die Vertreibung aus dem Paradies ist für den Menschen eine ständige Herausforderung: Durch den Sündenfall hat Adam „gleichsam von der Taffel seines Gehirns so viel schön- und herrliche darin-aufgezeichnete Dinge vorsetzlich ja grausam und thöricht außgelescht: jedennoch und zum wenigsten ist itzt-gedachte geblößte Taffel so fern uns noch geblieben dass wiederumb und aufs neu was darauf-notiret werden kann.“252 Das Sammeln aus der Neugierde heraus und das damit verbundene Forschen ist also aus Majors Sicht nicht zu verdammen, sondern könnte auf lange Sicht zum paradiesischen Urstand zurückführen. Auch der Arzt, Mathematiker und Übersetzer Walter Hermann Ryff glaubt schon 1557, dass die Tatkraft des Menschen ihn „aus der tieffen Finsternus […] aufrichten / und […] seiner ersten Perfection nehren“253 könne. In ähnlichem Glauben treten die Forscher in „Christianopo-

249 Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben, S. 66. 250 Zu diesem Thema gibt es eine Forschungsdiskussion. Die Frage ist, ob Francis Bacon mit seinen Schriften den Rahmen der Schöpfung übertreffen wollte oder ob es ihm nur darum ging, die Vielfältigkeit der Natur auszuloten. Bredekamp meint, dass bei Bacon zwar noch keine „zielgerichtete Evolution Darwinistischer Prägung“ vorliege, aber er rückt dessen Denken zumindest „in die Nähe eines evolutionären Denkens“ (Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben, S. 72 und S. 76). Auch Wolfgang Braungart sieht in den Experimenten der Forscher auf Nova Atlantis „bereits keimhaft den Gedanken der Evolution, der Prozessualität der Natur“ (Braungart, Wolfgang: Die Kunst der Utopie, S. 98/99). 251 Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben, S. 44. 252 Major, Johann Daniel: Unvorgreiffliches Bedencken. 253 Ryff, Walter Hermann: Von rechtem Verstand / Wag und Gewicht, S. 44.

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lis“ als „sorgfältigste Hebamme der Natur“ auf und finden die „göttlichen, der Erde aufgeprägten Geheimnisse wieder.“254 Der „spielende Affe der Natur“ auf dem Merian-Stich hat also – wie es Andreae für seine Forscher in „Christianopolis“ ausdrückt – eine eigene „neue, kleine und höchst künstliche“255 Welt geschaffen. Das Spiel wird bei Andreae damit nicht abwertend als sinnlose Kinderbeschäftigung aufgefasst, denn die Forscher in „Christianopolis“ wiederholen mit ihren Experimenten das göttliche Schöpfungsspiel. Wie die Bemühungen der Wissenschaftler in Bacons „Nova Atlantis“ zeigen, versuchen manche Forscher dabei sogar Gottes Schöpfung zu übertreffen.256 Nicht nur die Forscher in Andreaes Utopie spielen, der Autor selbst bezeichnet seine Text-Schöpfung als Spiel. Auch Thomas Morus beschreibt in „Utopia“ ein auf der Insel beliebtes Spiel, das „dem Schachspiel einigermaßen ähnlich“257 ist, und in dem die Tugenden gegen die Laster kämpfen. In dem „Spiele zeigt sich überaus sinnreich, […] auf welche Weise die eine oder andere Partei den Sieg erringt.“258 Michael Holquist kommt zu dem Schluss, dass „what More is here describing suggest the underlying structure of almost all utopian fiction.“259 Sowohl die Utopie als auch dieses dem Schach ähnliche Spiel reduzieren die Realität und fassen sie in einem von der Realität abgegrenzten Raum zusammen. So können beide das Chaos ordnen. Die Ähnlichkeit von Spiel und Utopie fasst Holquist so zusammen: „Utopia is play with ide-

254 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 69. 255 Ebd. 256 Bacons Forscher wollen die „menschliche Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen“ ausdehnen (Bacon, Francis: Neu-Atlantis, S. 205). So versuchen sie beispielsweise, das Wetter zu beeinflussen, neue Tierarten zu züchten und neue Metalle zu erzeugen (Bacon, Francis: Neu-Atlantis, S. 205– 208). Die Forscher arbeiten auch daran, dass Pflanzen „in rascherer Aufeinanderfolge ausschlagen, sprossen und Früchte tragen, als sie es ihrer Natur nach zu tun pflegen“ (Bacon, Francis: Neu-Atlantis, S. 207). Sogar der Entwicklung von „künstlichen Menschen, Vierfüßlern, Vögeln, Fischen und Schlangen“ haben sich die Forscher verschrieben (Bacon, Francis: Neu-Atlantis, S. 212). 257 Morus, Thomas: Utopia, S. 68. 258 Morus, Thomas: Utopia, S. 68/69. 259 Holquist, Michael: How to play Utopia, S.109.

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as.“260 Die Kugel, die der Affe auf Merians Stich emporhebt, könnte man so auch als den vom Menschen geschaffenen utopischen Raum sehen. Wie dieser utopische Raum ist die Kugel abgegrenzt von der Umwelt, aber in ihrer Gestalt doch auf sie bezogen, durch die Kraft des Menschen hervorgebracht, der doch von der Natur inspiriert ist. Wie die Gedanken der Sammler Major und Ryff gezeigt haben, ist mit der Schaffung dieses „neue[n] […] und höchst künstlichen“261 utopischen Raumes die Hoffnung verbunden, die umgebende Welt zu verbessern, oder, wie es Andreae sagt, „für die menschliche Gesellschaft etwas zu leisten.“262 Auch das Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann wollen die sie umgebende Gesellschaft ändern. Innerhalb der Kunstkammer und den sich daran orientierenden frühneuzeitlichen Utopien ist das Spiel dabei ein wichtiger Faktor. Die Homepage von ipfo informiert, dass das Institut mit seiner Sammlung von Paradiesvorstellungen, den Nutzer zu einer „spielerischen Auseinandersetzung mit fremden und der Entwicklung eigener Paradiesvorstellungen“263 anregen möchte. Etwas später heißt es dann über die CD-ROM: „Der Benutzer kann über das Spiel mit den verschiedenen ‚Paradiestypen‘ und ‚Paradiesexperten‘ zu seinem eigenen Paradiesbegriff finden.“264 Offenbar soll also die online zugängliche Datenbank des Instituts für Paradiesforschung wie die Kunstkammer als „Ort spielerischen Austausches“265 genutzt werden. Das Spiel erweist sich somit als eine Strategie, die das Prinzip „Archivieren“ mit dem Prinzip „Partizipation“ verbindet. Hier liegt auch der zuvor angesprochene Unterschied zu den Projekten von Andreja Kuluncic. Ein Ausstellungsbesucher, der sich die Ergebnisse der von Anke Haarmann initiierten Projekte ansieht, kann die verschiedenen im Archivschrank oder dem prototypischen Haus gesammelten Materialien ansehen und vergleichen. Auch auf der Homepage des Instituts für Paradiesforschung kann sich der Nutzer durch das Archiv der schon eingegangenen Paradiesvorstellungen klicken und erhält so einen Einblick in

260 Holquist, Michael: How to play Utopia, S. 119. 261 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 69. 262 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 75. 263 Dilger, Christina; Thies, Marina: Was will ipfo?. 264 Dilger, Christina; Thies, Marina: Paradise – CD-ROM 1998. 265 Bredekamp, Horst: Die Kunstkammer, S. 65.

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ganz unterschiedliche Vorstellungen vom idealen Leben. Diesen kann er zustimmen oder sie kritisieren, er kann vielleicht auch eine Vorstellung als Ausgangspunkt nehmen und sie ausbauen oder verändern. In beiden Fällen sollen die gesammelten Daten oder Materialien als Kristallisationspunkt für eine eigene Auseinandersetzung genutzt werden. In dem beschriebenen Projekt Distributive Justice von Andreja Kuluncic dagegen muss der Nutzer erst an dem Spiel „Create the society you desire“ teilnehmen und allgemeine Güter nach verschiedenen Grundsätzen verteilen. Erst danach kann er seine eigenen Entscheidungen in einem größeren Kontext beurteilen. Abschließend erfährt er, wie viel Prozent der Befragten ebenfalls so entschieden haben und welche anderen Modelle gesellschaftlichen Zusammenlebens es noch gibt. Die statistische Auswertung ist sehr viel detaillierter, und da Kuluncic eng mit Soziologen zusammenarbeitet, werden auch die Kriterien der Datensammlung und -auswertung genau beschrieben. Durch die Fülle an Daten266 und aufgrund der transparenten Auswertung lassen sich zum Beispiel die Beteiligung verschiedener Länder miteinander vergleichen oder die Daten verschiedener Teilnehmergruppen nach ihrem sozioökonomischen Hintergrund unterscheiden. Dieser wissenschaftliche Anspruch fehlt der Datensammlung des Instituts für Paradiesforschung, während Anke Haarmann das von ihr gesammelte Material gar nicht statistisch auswertet. Dafür kann man bei Distributive Justice die einzelnen Beiträge der Teilnehmer nicht ansehen und sie als Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung nutzen. Das würde auch insofern wenig nützen, da die Spielbeteiligung bei Distributiv Justice keinen Raum für ausführlichere Beiträge lässt. Die sechs allgemeinen Güter lassen sich nicht verändern oder kommentieren. Bei Andreja Kuluncic spielen also die Beteiligung des Betrachters und die Sammlung von Daten eine wichtige Rolle, aber beide Strategien werden nicht so miteinander verzahnt wie bei Anke Haarmann und dem Institut für Paradiesforschung. Man kann Kuluncics Herangehensweise gut mit dem vom niederländischen Instituut voor Publiek en Politiek/IPP entwickelten und von der Bundeszentrale für politische Bildung in Deutschland erstmals bei der Bundestagswahl 2002 eingeführten Wahl-

266 Ein Fragebogen, der sich mit einer ähnlichen Problematik befasst wie das beschriebene Spiel „Create the Society you desire,“ wurde zum Beispiel bis zum März 2007 5739 Mal ausgefüllt und ist in die Auswertung eingegangen (vgl. die Darst. in: Kuluncic, Andreja: Statistical Analysis).

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O-Mat vergleichen: „Der Wahl-O-Mat ist ein Programm, das dem Nutzer oder der Nutzerin eine Reihe von Thesen zum aktuellen Wahlkampf vorstellt, zu denen er/sie sich zustimmend, ablehnend oder neutral verhalten kann. Am Ende […] zeigt [das Programm] die Nähe der eigenen Position zu den Positionen der Parteien.“267 Wie bei dem Projekt von Andreja Kuluncic folgt der Nutzer einer vorher festgelegten Struktur und kann nur zwischen wenigen Optionen wählen. Auch das Archiv des Instituts für Paradiesforschung ist nach bestimmten Ordnungsstrukturen aufgebaut. Sie bilden die Grundlage für die Paradieskategorien des Erhebungsbogens, der die Beiträge eines jeden neuen Teilnehmers lenkt. Auf der anderen Seite wurde ebenso deutlich, dass der Fragebogen auch Raum für freie Äußerungen lässt und es an einigen Stellen sogar möglich ist, die vorgegebenen Strukturen zu verändern. Diese „Dialektik von Einschränkung und Offenheit“268 ist typisch für das Spiel. Der Kulturhistoriker Johan Huizinga führt in seiner Abhandlung über die Rolle des Spiels in unserer Kultur aus: Das „Spiel ist zunächst und vor allem freies Handeln,“269 aber es läuft immer auch „nach bestimmten Regeln“270 ab. Beide Aspekte werden bei den Projekten von Anke Haarmann sichtbar. Sie agiert als Moderatorin und schafft eine „kommunikative und künstlerische Plattform,“271 die den Ausgangspunkt für die Beiträge der Projektteilnehmer bildet. Zugleich aber versucht Haarmann, die „Spielregeln“ möglichst offen zu gestalten, um dem „freien Handeln“ der Teilnehmer einen möglichst großen Raum zu geben. Während bei der Gruppenarbeit also die Offenheit dominiert, lässt sich die dritte Phase der Projekte, in der die Ergebnisse im Kunstraum präsentiert werden, eher mit der Archivdatenbank des Instituts für Paradiesforschung vergleichen. Ein weiteres Merkmal des Spiels nennt Huizinga, wenn er beschreibt, wie der Mensch während des Spiels aus dem „‚gewöhnliche[n]‘ oder ‚eigentlichen‘ Leben“ heraustritt und „in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität

267 Bundeszentrale für politische Bildung: Wahl-O-Mat: das Konzept, in: www.bpb.de, März 2007. 268 Buchhart, Dieter: Über die Dialektik von Spielregeln und offenem Handlungsfeld, S. 41. 269 Huizinga, Johan: Homo Ludens, S. 16. 270 Huizinga, Johan: Homo Ludens, S. 22. 271 Haarmann, Anke: Selbst/Bilder – Konzept der Projektreihe.

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mit einer eigenen Tendenz“272 eintaucht. Das Spiel ist damit gekennzeichnet durch seine „Abgeschlossenheit und Begrenztheit“ 273 von der umgebenden Welt. Auch Ingeborg Heidemann spricht vom Spiel als einer „Welt in der Welt“274 und betont, dass es ein „in sich geschlossenes und selbstständiges Phänomen“275 darstellt. Trotz dieser Abgehobenheit von der Welt ist das Spiel aber „nicht beziehungsloses Fürsichsein,“276 sondern ist auch auf die umgebende Welt bezogen. Diese Besonderheit – das gleichzeitige Sichabgrenzen auf der einen und das Verbundensein mit der Welt auf der anderen Seite – charakterisiert Heidemann mit dem Begriff der „ontologischen Ambivalenz des Spieles.“277 In Kapitel 3.2 wurde erwähnt, dass man die Datenbank des Instituts für Paradiesforschung und den Archivschrank im Rahmen des Projektes Visionen&Utopien von Anke Haarmann [AHA] als abgeschlossene Einheiten bezeichnen kann. Diese geschlossenen Systeme entwickeln ihre Wirkung aber nur im Zusammenspiel mit der umgebenden Welt. Ausgangspunkt der von Anke Haarmann initiierten Gruppenarbeit ist „der Prozess der Bildung des individuellen Selbst in der Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Umfeld als Auseinandersetzung zwischen Vorbildern und Selbstbildern.“278 Die Umwelt und die in ihr zirkulierenden Bilder sind die Grundlage der Gruppenarbeit, und auch in der abschließenden Präsentation der jeweiligen Projekte der Reihe Selbst/Bilder im Kunstraum geht es darum, eine „Kooperationsebene [mit dem Betrachter] zu ermöglichen“279 und damit eine Verbindung von geschlossenem System und Umwelt zu erreichen. Ziel des Instituts für Paradiesforschung ist es, Nutzer zu animieren, sich durch die eingegangenen Paradiesvorstellungen zu klicken und dem Archiv eine eigene Vorstellung vom idealen Leben einzugliedern. Diese Tätigkeiten sollen dann zu einem „Soll-IstVergleich mit der eigenen Lebenssituation“ führen und die Motivation verstärken, „die eigene Lebenswirklichkeit der Paradiesvorstellung anzuglei-

272 Huizinga, Johan: Homo Ludens, S. 22. 273 Huizinga, Johan: Homo Ludens, S. 18. 274 Heidemann, Ingeborg: Der Begriff des Spiels, S. 8. 275 Heidemann, Ingeborg: Der Begriff des Spiels, S. 6. 276 Heidemann, Ingeborg: Der Begriff des Spiels, S. 11. 277 Heidemann, Ingeborg: Der Begriff des Spiels, Kap. 1, S. 3–28. 278 Haarmann, Anke: Selbst/Bilder – Konzept der Projektreihe. 279 Haarmann, Anke in: Interview mit der Autorin.

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chen.“280 Die zeitgenössischen Projekte zeichnen sich also wie das Spiel durch eine „ontologische Ambivalenz“ aus: Sie bilden eine geschlossene Einheit, die sich deutlich von der Umwelt abgrenzt, aber zugleich vielfältig auf diese umgebende Welt bezogen ist. Wieso aber versuchen das Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann einen von der Welt abgegrenzten Bereich zu schaffen, der über seine eigene Ordnung verfügt, wenn es letztlich doch um eine Verbindung von geschlossenem Raum und Umwelt geht? Indem sie einen solchen Raum kreieren und ein offenes Handeln in diesem abgegrenzten Bereich ermöglichen, lösen sie den Menschen aus seinem fest gefügten Lebenszusammenhang heraus, denn „im Spiel [wird er] immer ein Möglicher.“281 Das Spiel ist keine unmittelbar existenzsichernde Tätigkeit und setzt „eine Seinsverfassung voraus[], die sich vom zweckgerichteten Leben unterscheidet“282 und damit offen ist für Möglichkeiten. Eugen Fink beschreibt in diesem Sinne die Situation zu Anfang eines Spiels: „Wir können alles sein, alle Möglichkeiten stehen offen, wir haben die Illusion des freien, uneingeschränkten Beginnens,“283 und er führt weiter aus: Das Spiel „lässt Möglichkeiten aufblitzen, die wir im Rahmen unseres sonstigen Lebensvollzuges nicht kennen.“284 Der Spielraum ist von der Umwelt abgegrenzt, „aber so, dass er einen Aktionsraum eröffnet.“285 In diesem „potentiellen Raum,“286 in dem Schutz seiner Abgeschlossenheit, können die Teilnehmer der zeitgenössischen Projekte über Alternativen zur umgebenden Welt nachdenken. Ausgangspunkt der Projektarbeit ist die reale Welt. Im Gegensatz zu dieser werden die Vorstellungen eines idealen Lebens entwickelt, aus dieser werden die durch Medien vermittelten Vorbilder genommen. Auch die Ergebnisse der Auseinandersetzung werden außerhalb des geschlossenen Raumes präsentiert und sollen durchaus Folgen in der umgebenden Welt zeitigen. Die Projektarbeit selbst aber findet im abgeschlossenen Raum des Spieles statt, in dem noch alle Möglichkeiten offen stehen

280 Dilger, Christina; Thies, Marina: Was will ipfo?. 281 Hohlfeldt, Marion: Grenzwechsel, S. 21. 282 Hohlfeldt, Marion: Grenzwechsel, S. 23. 283 Fink, Eugen: Spiel als Weltsymbol, S. 78. 284 Fink, Eugen: Spiel als Weltsymbol, S. 80. 285 Heidemann, Ingeborg: Der Begriff des Spiels, S. 33. 286 Winnicott, D. W.: Vom Spiel zur Kreativität, S. 124.

S AMMELN UND A RCHIVIEREN | 241

und nicht jeder Gedanke und jeder Arbeitsschritt eine Festlegung in der realen Welt bedeutet. 3.2.5 Zusammenfassung Im ersten Teil des Kapitels wurden Projekte des Instituts für Paradiesforschung und von Anke Haarman vorgestellt und besonders im Hinblick auf ihre partizipative Arbeitsweise untersucht. Marina Thies und Christina Dilger versuchen, möglichst viele unterschiedliche Vorstellungen eines idealen Lebens zu sammeln und zu veröffentlichen. Dazu haben sie eine Website gestaltet, auf der jeder Teilnehmer des Projektes einen Fragebogen „zur Erhebung von Paradiesvorstellungen“287 beantworten oder das Archiv der schon eingegangenen Paradiesvorstellungen studieren kann. Im Gegensatz zu dieser interaktiven Beteiligung setzen sich die Teilnehmer der Projektreihe Selbst/Bilder von Anke Haarmann in direkten sozialen Kontakt mit der Künstlerin mit einem gesellschaftlichen „Schlüsselthema“ 288 auseinander. Die Ergebnisse dieser Gruppenarbeit werden gesammelt und dann im Kunstraum präsentiert. Für beide Positionen ist die Beteiligung des Publikums also ein wesentlicher Teil der Arbeit und Haarmann und Dilger/Thies knüpfen hier vor allem an Strömungen der 1960er/1970er Jahre an, in denen es um eine Neuregelung des Verhältnisses zwischen Kunst und Betrachter289 ging. Ihre Arbeitsweise kann man aber auch mit staatlich geförderten Wandbildprojekten in Verbindung bringen, die in den 1920er Jahren in der Sowjetunion und in den 1960er/1970er Jahren besonders in den USA auf einer Zusammenarbeit von einem Künstler und einer lokalen Öffentlichkeit beruhten. Sowohl Anke Haarmann als auch ipfo machen in ihren Projekten bestimmte Vorgaben, die die Teilnahme des Publikums lenken und eine Archivierung der verschiedenen Beiträge ermöglichen. Während Anke Haarmann in der Phase der Gruppenarbeit das Handeln der Teilnehmer möglichst offen gestalten will, schafft sie für die Präsentation der Projektergebnisse unter dem Label AHA abgeschlossene architektonische Einheiten, wie zum Beispiel einen Archivschrank oder ein begehbares Modell eines

287 Dilger, Christina; Thies, Marina: Umfrage. 288 Haarmann, Anke: Selbst/Bilder – Konzept der Projektreihe. 289 Vgl. die Darst. in: Honnef, Klaus: Concept Art, S. 22.

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prototypischen Hauses. Hier werden die während der Gruppenarbeit entstandenen Bilder, Texte, Filme und Karten gesammelt und thematisch geordnet. Vergleichbar mit diesen Sammlungsorten ist die sich von der Umgebung im Internet abgrenzende Homepage des Instituts für Paradiesforschung. Sie enthält neben dem zur interaktiven Teilnahme einladenden Fragebogen auch ein nach bestimmten Kriterien geordnetes Archiv mit den gesammelten Vorstellungen vom Paradies. Die Art und Weise, wie die zeitgenössischen Projekte Ideen und Ergebnisse von Auseinandersetzungen in einem von der Umwelt abgegrenzten Raum vereinen, lässt sich mit der Sammlungsform der frühneuzeitlichen Kunstkammer vergleichen. Am Beispiel der Galleria in den Uffizien wurde deutlich, dass hier gesammelt wurde, um in einer architektonisch abgeschlossenen Einheit ein mikrokosmisches Abbild der Welt zu schaffen, das alle Elemente der Umwelt enthält, sie aber in geordneterer Form präsentierten kann. Zwischen der Kunstkammer und den zeitgleich entstandenen literarischen Utopien gibt es zahlreiche inhaltliche und strukturelle Parallelen. Die Staatsromane beschreiben ebenfalls einen von der Umwelt abgegrenzten Raum, der in seiner konzentrierten Form sehr viel besser strukturiert erscheint als die als chaotisch empfundene „reale“ Welt. Kunstkammer und frühneuzeitliche Utopie lassen sich nicht nur hinsichtlich ihres abgeschlossenen Sammlungsraumes mit den zeitgenössischen Projekten vergleichen. In den zunächst unveränderlich und starr erscheinenden historischen Formen waren durchaus Aktivitäten seitens der Nutzer vorgesehen. Viele Kunstkammern waren nicht nur eine Sammlung verschiedener Gegenstände, sondern verstanden sich auch als Ort eines „assoziativen und grenzüberschreitenden Austausches,“290 ein Gedanke, der in den Staatsromanen der Renaissance zum Teil sehr detailreich ausformuliert wird: Auch hier dienen die verschiedenen Archive, Schauhäuser und Schatzkammern als Ausgangspunkt einer Forschungsaktivität. Sowohl Anke Haarmann und das Institut für Paradiesforschung als auch die Sammlungsform der Kunstkammer und die literarischen Utopien der frühen Neuzeit teilen, wenn auch in recht unterschiedlicher Gewichtung, zwei Strategien: Auf der einen Seite wird ein Raum geschaffen, in dem Dinge oder Vorstellungen gesammelt und nach bestimmten Kriterien geordnet werden, auf der anderen Seite ermöglicht gerade diese festgelegte

290 Bredekamp, Horst: Die Kunstkammer, S. 66.

S AMMELN UND A RCHIVIEREN | 243

Struktur eine vielfältige Einflussnahme seitens der Raumnutzer. Diese „Dialektik von Offenheit und Einschränkung“291 ist typisch für die „Seinsweise“292 des Spiels. Auch bei ihm wird ein von der Welt abgegrenzter Spielraum mit eigenen Regeln geschaffen, in dem sich dennoch ein „freies Handeln“293 entfalten kann. Wie aus kunstkammertheoretischen Schriften des 16. Jahrhunderts und der Beschreibung der Forschungsaktivitäten in den literarischen Utopien deutlich wurde, wird der von der Umwelt abgeschlossene Bereich mit seinen Sammlungen und Ordnungsprinzipien genutzt, um mit dem vorhandenen Material das göttliche Schöpfungsspiel zu wiederholen und so vielleicht sogar die Lebensbedingungen des Menschen zu verbessern. Die zeitgenössischen Projekte greifen den Ansatz auf und verbinden ihn mit der vor allem auf Strömungen der 1960er/1970er Jahre aufbauenden partizipatorischen Arbeitsweise. Sie schaffen abgegrenzte Räume, in die der Betrachter eintreten kann, um bei ipfo einen ganzen Kosmos von idealen Welten miteinander zu vergleichen oder – wie bei AHA – in kleineren „Verschiebungen“294 von der Ausgangsgesellschaft Ansätze alternativer Welten zu erkennen. Für das Spiel ist außerdem eine „ontologische Ambivalenz“295 charakteristisch, das heißt es schafft einen von der Umgebung abgeschlossenen Raum, der aber zugleich auf seine Umwelt bezogen ist. Während diese Wechselwirkungen zwischen Spielraum und realer Welt bei den historischen Formen noch nicht so stark ausgeprägt sind, greifen das Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann gerade diese vermittelnde Fähigkeit des Spieles auf. Sie schaffen eine Art Schutzraum, indem sie den Projektteilnehmern ein von dem realen Zweckzusammenhang unabhängiges Handeln ermöglichen, das sich aber – trotz seiner Abgrenzung – mit der Umwelt auseinandersetzt und letztlich auf sie zurückwirken soll. In der Einleitung zu diesem Kapitel wurde die Frage gestellt, inwiefern das Sammeln und Ordnen als utopische Methode bezeichnet werden kann. Das Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann regen Menschen an, ihre Vorstellungen von einem idealen Leben sowie Spuren eines erfolgreich durchlaufenen Prozesses der Selbstermächtigung zu sammeln und ei-

291 Buchhart, Dieter: Dialektik von Spielregeln, S. 41. 292 Hohlfeldt, Marion: Grenzwechsel, S. 20/21. 293 Huizinga, Johan: Homo Ludens, S. 16. 294 Haarmann, Anke in: Interview mit der Autorin. 295 Heidemann, Ingeborg: Der Begriff des Spiels, Kap. 1, S. 3–28.

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ner Art Archiv einzugliedern. Damit wird eine Basis geschaffen, von der aus zukünftige Nutzer agieren können. Die in einem von der Welt abgegrenzten und somit geschützten Raum gesammelten alternativen Welten regen an, zu vergleichen, zu assoziieren und weiterzudenken. Auf diese Weise aktivieren die zeitgenössischen Künstlergruppen den „Möglichkeitssinn […] als die Fähigkeit […], alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“296 Damit führen die zeitgenössischen Gruppen das utopische „Spiel“ weiter, das – so sagt es Andreae – „man bei dem berühmten Thomas Morus nicht missbilligt hat.“297

296 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 16. 297 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, S. 14.

4 Schlussbetrachtung

Die zeitgenössischen Künstlergruppen knüpfen mit ihren Projekten an jeweils sehr unterschiedliche Vorbilder der utopischen Tradition an. Atelier Van Lieshout und N55 lassen sich vor allem als Nachfolger der anarchistischen Linie der Utopie charakterisieren. In ihrer Arbeitsweise erinnern sie an Siedlungsexperimente, die zunächst von religiösen Gemeinschaften, dann auch von alternativen Gruppen im 19. Jahrhundert unternommen wurden. Parallelen gibt es ebenfalls zur Lebensreformbewegung und den kommuneartigen Zusammenschlüssen, die sich während der 1960er und 1970er Jahre bildeten. Das Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann greifen in ihrer inhaltlichen Ausrichtung vor allem Themen auf, die in künstlerischen Richtungen der 1960er/1970er Jahre erstmals umgesetzt wurden. Die Struktur ihrer Arbeiten lässt sich mit der Sammlungsform der Kunst- oder Wunderkammer vergleichen, deren Prinzipien auch in vielen Staatsutopien der frühen Neuzeit verwurzelt sind. Trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweise haben die vier in dieser Arbeit besprochenen Künstlergruppen einen gemeinsamen Ausgangspunkt: In vielerlei Hinsicht schließen Atelier Van Lieshout, N55, Anke Haarmann und das Institut für Paradiesforschung an Utopien an, die seit Mitte der 1970er Jahre darauf reagierten, dass „das Leitbild des ‚Technischen Staates‘“1 in eine Krise geriet und die postindustrielle Gesellschaft sich neu orientierte. Am Beispiel von „Der Planet der Habenichtse“ von Ursula Le Guin (1974) und „Ökotopia“ von Ernest Callenbach (1975) sollen im Fol-

1

Saage, Richard: Utopische Profile, Band IV, S. 443.

246 | N EUE O RTE DER UTOPIE

genden Merkmale herausgearbeitet werden, die die Arbeiten der zeitgenössischen Künstlergruppen charakterisieren.

4.1

D ER

POSTMATERIELLE

U TOPIEDISKURS

In Ursula Le Guins Roman wird der Leser in die Lehren der fiktiven anarchistischen Theoretikerin Odo eingeführt, die für die dargestellte Gesellschaft auf dem Planeten Anarres eine wichtige Rolle spielt: „Ein wesentliches Element für diese Gesellschaft“ – so wird berichtet – ist „die Dezentralisierung. [Odo] beabsichtigte allerdings nicht, die Zivilisation zu deurbanisieren, […] [sondern wollte] alle Kommunen durch Kommunikationsund Transportnetze miteinander verbinden. […] Aber das Netz sollte nicht hierarchisch angelegt werden; es sollte weder ein Kontrollzentrum noch eine Hauptstadt geben, keine Einrichtung für die sich selbst in ständiger Bewegung haltende Maschinerie der Bürokratie und die Herrschsucht einzelner, die Führer, Boß, Staatschef werden wollten.“2 Auch in der von Callenbach beschriebenen Republik „Ökotopia“ werden die großstädtischen Strukturen aufgelöst, um kleineren „unabhängige[n] Gemeinden“ 3 Platz zu machen. Wie in Kapitel 2.2.2. deutlich wurde, plädieren Atelier Van Lieshout, besonders aber N55 ebenfalls für eine Dezentralisierung der politischen und wirtschaftlichen Institutionen. Dieses Aufbrechen der großen Einheiten ist verbunden mit der Forderung nach mehr direkter Teilhabe des Einzelnen an Entscheidungsprozessen, die das Gemeinwesen angehen. AVL-Ville wurde unter anderem gegründet, weil sich das Atelier nicht jede kleine Entscheidung von Gesetzen und einer als einengend empfundenen Bürokratie aus der Hand nehmen lassen wollte. An die Haltung des „Solvism“4 erinnert in „Ökotopia“ die „‚Do it yourself-Manier‘, die ein so wesentlicher Bestandteil des ökotopianischen Lebens ist.“5 Callenbach beschreibt weiter, wie die Gemeinden nach und nach mehr Selbstbestimmungsrecht erhielten und „auf diese Weise […] die Menschen in die Lage versetzt [wurden] bewusst über die Art ihres künfti-

2

Le Guin, Ursula: Planet der Habenichtse, S. 90.

3

Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 39.

4

Vgl. die Darstellung in Kapitel 2.3.2.

5

Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 37.

S CHLUSSBETRACHTUNG | 247

gen Zusammenlebens […] nachzudenken.“6 N55 sieht grundsätzlich in jeder Form eines repräsentativen politischen Modells7 die Gefahr der Machtkonzentrationen. Im Gegensatz dazu will die Gruppe mit ihren Projekten Menschen ermutigen, „to take on the responsibility, when necessary, for example in urban planning, housing, public furniture, public utilities, playgrounds, childcare, healthcare, schools, libraries, roads, waste etc.“ 8 Ohne eine Teilhabe des Betrachters wäre auch die Einrichtung eines Archivs, wie es das Institut für Paradiesforschung aufgebaut hat, nicht möglich. Aber Christina Dilger und Marina Thies geht es nicht nur um die Sammlung von Vorstellungen eines idealen Lebens, sie wollen darüber hinaus die Projektteilnehmer motivieren, aktiv zu werden und „die eigene Lebenswirklichkeit der Paradiesvorstellung anzugleichen.“9 Anke Haarmann gibt in ihren Projekten Hilfestellungen, um den Teilnehmern eine aktive Teilhabe zu ermöglichen und so einen Prozess der Selbstermächtigung in Gang zu setzen. Ein weiteres Element, das die eingangs genannten Utopien der 1960er/ 1970er Jahre verbindet, ist eine Absage an das Primat des Wirtschaftswachstums und eine Tendenz zum Konsumverzicht. Auf Anarres ist das „Prinzip organischer Sparsamkeit […] für das Funktionieren der Gesellschaft viel zu wesentlich, um nicht die Ethik und Ästhetik grundlegend zu beeinflussen. ‚Überfluß ist Exkrement‘ […] und Exkrement, das im Körper bleibt, ist Gift,“10 wird aus den Schriften der Theoretikerin Odo zitiert. Ziel der Gesellschaft in „Ökotopia“ ist es nicht, die Produktionsraten zu steigern, sondern „einen bescheidenen Platz im geschlossenen ausgewogenen Gewebe des organischen Lebens einzunehmen und dabei dieses Gewebe so wenig wie möglich zu stören.“11 Daher mussten die Ökotopianer bei der Umstellung der Wirtschaft „auf ihren bis dahin gewohnten und hart

6

Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 84.

7

Wie in Kapitel 2.2.2 dargestellt wurde, lehnt N55 auch die repräsentative Demokratie als Regierungsform ab, denn „the notion that it is possible to elect a small number of persons to protect the rights of a vast number of people, is absurd“ (N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch).

8

N55: Manual for Kommune.

9

Dilger, Christina; Thies, Marina: Was will ipfo?

10 Le Guin, Ursula: Planet der Habenichtse, S. 93. 11 Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 60.

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erarbeiteten Komfort verzichten.“12 Diese Thematik geht einher mit einem neuen ökologischen Bewusstsein, das sich gut mit der bereits beschriebenen Forderung nach Dezentralisierung vereinbaren lässt. Die Utopien gehen davon aus, dass nur der, der auf verschiedenen Ebenen agiert, „sich der technisch-administrativen Homogenisierung [des] Lebensraumes“13 erwehren kann. In der von Le Guin beschriebenen Gesellschaft auf dem Planeten Anarres herrscht Rohstoffmangel, und so ist Sparsamkeit eine Tugend, und jedes gebrauchte Material, und seien es auch die menschlichen Exkremente, wird sorgfältig recycled. Wie der Name „Ökotopia“ schon vermuten lässt, ist auch für dieses Gemeinwesen eine umweltschonende Lebensweise oberstes Gebot. Leitbild ist dabei das „Konzept des stabilen Gleichgewichts.“14 In der landwirtschaftlichen Produktion wird beispielsweise darauf geachtet, dass alle Abfälle und Abwässer dem Boden wieder zugeführt werden, „um den Nahrungsmittel-Kreislauf zu schließen.“15 Die Menschen finden hier „ihr Glück nicht in der Herrschaft über die Erde und ihre Lebewesen, sondern in einem Leben […], das sich in größtmöglicher Harmonie mit der Natur befindet.“16 Das Thema Recycling spielt auch für Atelier Van Lieshout eine große Rolle. Die Komposttoilette aus dem Jahr 2000 ist eine Anlage, die menschliche Fäkalien in Kompost umwandelt. Dieser soll dann in der im Rahmen von AVL-Ville betriebenen Landwirtschaft eingesetzt werden, um die Nahrungsmittelproduktion zu steigern. Die Nahrung wird von den Bewohnern verzehrt, und so schließt sich der Kreislauf. N55 hat mit der Soil Factory ebenfalls eine Kompostanlage entworfen. Die Hygiene Modules wurden hergestellt, um Wasser zu sparen, und die Platforms arbeiten mit Solarenergie.17 Auch zeigen zahlreiche Einträge des ipfo-Archivs, dass für viele Projektteilnehmer ein harmonisches Leben im Einklang mit der Natur zur Vorstellung eines idealen Lebens gehört. Grundsätzlich kann man bei den zeitgenössischen Künstlergruppen ein ähnliches Verhältnis zur Technik feststellen, wie es Callenbach und Le Guin in ihren Utopien beschreiben:

12 Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 63. 13 Strasser, Johano: Leben ohne Utopie?, S. 99. 14 Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 31. 15 Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 26. 16 Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 60. 17 Vgl. die Darst. in Kap. 2.2.2.4 (ab S. 97).

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Die Technik wird nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern bei jeder einzelnen Erfindung wird geprüft, ob sie das natürliche Gleichgewicht stört und welchen Nutzen sie der Gesellschaft bringt. So haben die Ökotopianer viele „moderne Errungenschaften,“18 wie beispielsweise private Autos oder synthetische Materialien abgeschafft, aber für die Holzgewinnung nutzen sie „große elektrische Traktoren,“19 und in der Entwicklung des Bildtelefons sind sie der umgebenden Welt sogar voraus. 20 Während das Thema Gleichberechtigung von Frauen und Männern bei den zeitgenössischen Gruppen nicht so stark thematisiert wird wie bei den hier besprochenen literarischen Utopien, sehen die genannten utopischen Entwürfe in der Solidarität ein Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens. Die Frage, inwieweit Menschen innerhalb einer Gesellschaft bereit sind, sich gegenseitig zu unterstützen und dabei ihre eigenen Interessen zugunsten eines Kollektivwohls zurückzustellen, ist ein zentrales Thema aller Utopien. Während in den Renaissanceentwürfen der Bürger vor allem durch staatliche Reglementierung zu einem guten Mitglied der Gemeinschaft wird, gehen die anarchistischen Utopien der Aufklärung von einem grundsätzlich altruistisch eingestellten Menschen aus, der nur durch den unterdrückenden Staat verdorben wurde. Die Utopien zur Zeit der Industrialisierung setzen dagegen wieder vermehrt auf den positiven Einfluss der gesellschaftlichen Strukturen, um das Zusammenleben der Bürger zu ordnen. Die postmateriellen Utopien orientieren sich in dieser Frage wieder an den anarchistischen Entwürfen, wenn sie auch die Veranlagung des Menschen zum „utopischen Altruismus“21 nicht mehr so hoch einschätzen. Die Hoffnung, dass es einen „neuen Menschen“ geben könne, verbindet sich mit der Erkenntnis, dass jedes Gemeinschaftsmitglied Eigenschaften besitzen kann, die ein harmonisches Zusammenleben erschweren. Dennoch ist das Konzept der Solidarität in den postmateriellen Utopien tief verwurzelt. Ursula Le Guin nennt beispielsweise Peter Kropotkin als wichtigen Bezugspunkt für ihren Roman „Planet der Habenichtse.“22 An einer zentralen Stelle des

18 Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 22. 19 Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 77. 20 Vgl. die Darst. in: Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 22. 21 D’Idler, Martin: Die Modernisierung der Utopie, S. 284. 22 Vgl. die Darst. in: Saage, Richard: Utopia als selbstreflexive Vision, S. 808.

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Buches heißt es über die geschilderte Gesellschaft: „Wir haben keine Gesetze als das eine und einzige Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Wir haben keine Regierung als das eine und einzige Prinzip der freien Gesellschaftsbildung.“23 Der Erzähler in Callenbachs Roman, der von außen in die isolierte Gesellschaft von „Ökotopia“ kommt, stellt erstaunt fest, dass im Gegensatz zu seiner eigenen Welt die Menschen hier „ungeheuer großzügig, richtiggehend brüderlich sind – aber ohne die Konkurrenzhaltung, die damit vermischt sein kann.“24 Auch für N55 kann man die Theorien von Peter Kropotkin als Vorbild ausmachen.25 Die Gruppe geht davon aus, dass eine Haltung der Verbundenheit in jedem Menschen angelegt ist, 26 dass sie aber in der heutigen Gesellschaft keine Möglichkeit hat, sich zu entfalten. Sie wollen daher Situationen schaffen, in denen der Betrachter „small-group-behaviour and ethics“27 erfahren kann. Hier könnte man auf soziobiologische Forschungen verweisen, die sich seit einiger Zeit mit der Frage auseinandersetzen, wieso es altruistisches Verhalten zwischen Menschen gibt. Unter anderem wird ein reziproker Altruismus angenommen, bei dem der Einzelne bereit ist, etwas zu geben, weil er dafür eine Art Ausgleich erwartet. Dieses soziale Prinzip „can support cooperation in small groups, but not in larger ones.“ In einer kleinen Gruppe „each helping act benefits all group members,“28 wohingegen dieser direkte Nutzen in einer größeren Gemeinschaft für den Einzelnen nicht mehr unmittelbar erfahrbar ist. Die Annahme, dass der Mensch auch außerhalb der engen Familiengrenzen zu einer unterstützenden Haltung fähig ist, führt in den postindustriellen Utopien zur Bildung neuer Lebensgemeinschaften. Auf Anarres gibt es die klassische Kleinfamilie nicht mehr, und auch in Ökotopia wurde dieses Modell zugunsten von „Wohngemeinschaften von fünf bis zwanzig Mitgliedern [aufgelöst], die keineswegs immer miteinander verwandt sind. In vielen dieser Familien teilt man sich nicht nur die Versorgungs- und

23 Le Guin, Ursula: Planet der Habenichtse, S. 274. 24 Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 81. 25 Vgl. die Darst. In Kap. 2.2.2.2 (ab S. 67). 26 Vgl. auch die Darst. zu dem dänischen Philosophen Peter Zinkernagel in Kap. 2.3.1.1 (ab S. 136). 27 N55 in: Bloom, Brett: E-Mail-Gespräch. Vergl. auch die Darst. in Kap. 2.2.2.1. 28 Boyd, Robert; Richerson, Peter J.: Not by Genes Alone, S. 199.

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Haushaltspflichten, sondern auch die Kindererziehung.“29 Wie die Beispiele der Bed Modules von N55, des Gemeinschaftsbettes oder des Modular Multi-Women Beds von AVL zeigen, entwerfen die zeitgenössischen Gruppen ebenfalls Möbel für eine variable Anzahl von Menschen, die ihr Leben mit anderen teilen wollen.30 Neben diesen inhaltlichen Übereinstimmungen knüpfen die zeitgenössischen Künstlergruppen noch auf andere Weise an die postmateriellen Utopien an. Obwohl „Utopiekritik […] in der Tat so alt wie die Utopie“ 31 selbst ist, erreicht die Selbstreflexion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität. Besonders ein Aspekt ist dabei für die zeitgenössische Auseinandersetzung von Bedeutung, der bereits in Ursula Le Guins Roman „Planet der Habenichtse“ anklingt. Obwohl sie zwei entgegengesetzte Welten beschreibt, entwickelt sich kein dichotomes Schema, weil in der Romanhandlung eine Verbindung der beiden Welten angelegt ist. Le Guin sympathisiert zwar mit dem anarchistischen Anarres, aber ihre Darstellung wird dem Untertitel des Romans („ambigous utopia“) insofern gerecht, als es auch in der als Alternative vorgestellten Welt problematische Tendenzen gibt: Als ein Wissenschaftler die Möglichkeit erhält, seine Studien an einem angesehenen Institut für Physik weiterzuführen, stellt er fest, dass trotz der verfassten Gleichheit aller Bewohner die Lebensbedingungen hier besser sind als in anderen Städten des Planeten. „Warum? Waren die Mitglieder des Zentralinstituts für Naturwissenschaften besser als andere Leute?,“32 fragt er sich. Er muss auch beobachten, dass sein unmittelbarer Vorgesetzter die Gedanken eines anderen als eigene Forschungsergebnisse ausgibt und hinter den Kulissen über sehr viel mehr Macht verfügt, als es ihm in dieser anarchistischen Gesellschaft möglich sein sollte. Schließlich erkennt der Wissenschaftler, dass die Behörden die Verbreitung seiner fortschrittlichen Theorien offensichtlich verhindern wollen. Erst als er mit den Wissenschaftlern auf dem Planeten Urras – dem „Klassenfeind“ – diskutiert, erlebt er zum ersten Mal ein wissenschaftliches Gespräch als „eine

29 Callenbach, Ernest: Ökotopia, S. 87. 30 Vgl. die Darst. in Kap. 2.2.2.3 (ab S. 88). 31 Seeber, Hans Ulrich: Die Selbstkritik der Utopie, S. 47. 32 Le Guin, Ursula: Planet der Habenichtse, S. 105.

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Diskussion als Gleicher unter Gleichen.“33 Dass Le Guin die alternative Welt innerhalb der Utopie kritisiert, ist eine Neuerung im Utopiediskurs und kann als eine Reaktion auf den Totalitarismusverdacht gesehen werden, unter dem Utopien im 20. Jahrhundert immer wieder standen.34 Obwohl AVL-Ville auf den ersten Blick als Versuch erscheint, der Gesellschaft eine rein positive Alternative gegenüberzustellen, klang bereits an, dass man den „Freistaat“ ebenfalls als „ambigous utopia“ bezeichnen kann. Schon in der Zeichnung Settlement after 10 Years [Abbildung 3] von 1998, die im Vorfeld von AVL-Ville entstand, gibt es im Inneren des abgegrenzten Siedlungsraumes eine Art Wehrturm, auf dem eine Waffe zu sehen ist. Zudem wartet auf der linken Seite ein Panzer auf seinen Einsatz. In diesen Jahren stellte das Atelier auch eigene Waffen und Schlagringe her, wie beispielsweise die Pistolet Poignée [Abbildung 7]. Während einer Ausstellungseröffnung in Frankreich fuhren die Mitglieder mit einem umgebauten Mercedes-Pick-up umher, auf dessen Ladefläche ein selbstgebautes Geschütz montiert war [Abbildung 38]. Obwohl die Fotos davon zeugen, dass die AVL-Mitglieder nicht ungern mit Waffen posierten, könnte man vielleicht noch vermuten, dass es einem friedlichen Gemeinwesen hier ausschließlich auf die Möglichkeit zur Verteidigung ankam. Die ebenfalls aus dem Jahr 1998 stammende Werkstatt für Alkohol und Medizin zeigt aber, dass mit der Waffenproduktion noch ein anderer Aspekt angesprochen wird. Die Werkstatt wurde 2001 auf dem Gebiet von AVL-Ville aufgestellt

33 Le Guin, Ursula: Planet der Habenichtse, S. 69. 34 Dieses Prinzip gibt es bereits bei Thomas Morus. Am Ende des Buches „Utopia“ schließt Morus’ Erzähler-Ich den Bericht des Weltreisenden mit den Worten: „Mir kam nun zwar manches in den Sinn, was an den Sitten und Gesetzen dieses Volkes überaus unsinnig erschienen war, nicht nur an der Art der Kriegführung, am Gottesdienst, an der Religion und noch anderen ihrer Einrichtungen, sondern vor allem auch an dem, was die eigentliche Grundlage ihrer ganzen Verfassung bildet, nämlich an ihrem gemeinschaftlichen [kommunistischen] Leben und der Lebensweise ohne jeden Geldumlauf“ (Morus, Thomas: Utopia, S. 109). Bereits in dem der Erzählung von „Utopia“ vorangehenden Gespräch hatte Morus’ Erzähler-Ich die Abschaffung des Privateigentums kritisch kommentiert (vgl. die Darst. in Morus, Thomas: Utopia, S. 45). Allerdings beeinflussen diese kritischen Anmerkungen nicht die Vorstellung des Gemeinwesens, sondern sind in der die Erzählung einrahmenden Dialogstruktur enthalten.

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und besteht aus einem Schiffscontainer, in dem eine Art Labor mit Geräten zur Alkoholdestillierung untergebracht ist. Die Arbeit „confounds the distinction between right and wrong,“35 denn man kann mit ihrer Hilfe Medizin herstellen, aber dieselben Geräte lassen sich ebenso benutzen, um illegal Alkohol zu panschen oder andere Stoffe herzustellen, die Menschen schaden können. Abbildung 38: Die Mitglieder von AVL während der Eröffnung der Ausstellung „The Good, the Bad and the Ugly“, Rabastens 1998

Der Grat zwischen der positiven und negativen Utopie ist bei AVL also nur schmal ausgebildet. In AVL-Ville wurden zunächst Maschinen und Kreisläufe entwickelt, die den Bewohnern des „Freistaates“ das Leben erleichtern sollten. Besonders ab 2002 entstehen aber vermehrt Arbeiten, in denen das reibungslose Funktionieren von Systemen nur durch Überwachung und Zwang gewährleistet werden kann. The Disciplinator (2003), The Technokrat (2003) und die groß angelegte Installation Slave City (ab 2005) knüpfen an die Dystopien an, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der literarischen Utopie neue Impulse gaben. Zwar werden die eben genannten Werke im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich besprochen, weil der 35 AVL: Workshop for Alcohol and Medicines, 1988, in: Atelier van Lieshout, Rotterdam 2007, S. 117.

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Gruppenzusammenhang hier nicht mehr – wie noch bei AVL-Ville – zentraler Bestandteil ist, dennoch stehen diese Dytopien in einem engen Zusammenhang mit dem Projekt AVL-Ville und geben Aufschluss über die Frage, wie AVL mit der Gefahr des Totalitarismus in den neu geschaffenen utopischen Räumen umgeht. Daher soll auf zwei dieser späteren Arbeiten kurz eingegangen werden. Besonders gut eignet sich in diesem Zusammenhang ein Thema, dem bereits in AVL-Ville viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, der Entsorgung von Exkrementen. In dem Kapitel „Schaffung eines utopischen Raumes“ wurde die Funktionsweise der für AVL-Ville entwickelten Kläranlage beschrieben und auch auf die Komposttoilette eingegangen, bei der alle Umwandlungsprozesse sehr anschaulich verfolgt werden können. Dass solche infrastrukturellen Probleme im „Freistaat“ selbst gelöst wurden, war ein wichtiger Schritt für die Autarkie des Gemeinwesens und daher eng mit der Idee der Freiheit verbunden. Nach dem Ende von AVL-Ville griff die Arbeit Die ewige Flamme von 2007 [Abbildung 39] das Recyclingthema erneut auf. Es handelt sich um einen Raum, in den unterschiedliche Toiletten eingebaut wurden. Sie sind mit einer aufwändigen Biogasanlage verbunden. Funktioniert sie korrekt, bringt das hergestellte Gas eine Lampe zum Leuchten. Doch damit die empfindliche Anlage auch wirklich problemlos arbeitet, muss sich jedes Mitglied streng an die vorgeschriebene Nutzung von Vakuumtoilette und Urinal halten. Weil das für den Benutzer der Anlage mit mehr Arbeit verbunden ist, hat Joep van Lieshout Kameras geplant, die die Vorgänge im Toilettenraum überwachen können: „Die Anlage ist ein technologisches Gerät, das unsere Umwelt schont, aber dazu muss man eben diese privaten Vorgänge kontrollieren – sonst funktioniert das System nicht. […] Also geht es in dieser Arbeit um das Gute und um Verantwortung, aber eben auch um Kontrolle und Unterdrückung.“36 Van Lieshout spricht hier eine der zentralen Fragen im utopischen Diskurs an: Wie kann ein Gemeinwesen ein stimmiges Verhältnis von Freiheit und Zwang definieren und welche Rolle spielen dabei die Rechte des Individuums auf der einen Seite gegenüber den Bedürfnissen der Allgemeinheit auf der anderen Seite. Wie ein System aussieht, bei dem kein Gleichgewicht mehr zwischen diesen Polen versucht wird, thematisiert Joep van Lieshout mit dem Technokrat aus den Jahren 2003–2005. Wieder

36 Van Lieshout, Joep: Gespräch mit der Autorin während der Pressekonferenz.

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Abbildung 39: Atelier Van Lieshout: Die ewige Flamme (Innenansicht, Detail), 2007

ist der Umgang mit Exkrementen ein zentrales Moment: Die Installation wurde für 1000 Bürger konzipiert, die willenlos betäubt auf roh gezimmerten Etagenbetten liegen. Sie werden mit einer als Fütterer bezeichnete Maschine über einen Trichter im Mund mit Alkohol und Nahrung versorgt. Die über Schläuche abgesaugten Fäkalien werden in einer Biogasanlage verarbeitet. Mit der gewonnenen Energie werden die Geräte angetrieben, die wiederum die Nahrung und den Alkohol für den Fütterer herstellen – ein geschlossener Kreislauf, der den Menschen zu einem seelenlosen „biologischen Zahnrad“37 degradiert. Die einzelnen Bestandteile des Technokraten wurden vom Atelier so gebaut, dass sie in der Realität funktionieren würden, fänden sich genügend Teilnehmer, die sich als Bürger für das System zur Verfügung stellen würden. Der Betrachter kann an den einzelnen Geräten vorbeigehen und verfolgen, wie sie funktional zusammenhängen. Die Anlage „has a nostalgic design, a rounded and heavy shape that evokes German and other totalitarian designs from the 1930s.“38 Der Technokrat 37 Atelier Van Lieshout, Rotterdam 2007, S. 206. 38 Atelier Van Lieshout, Rotterdam 2007, S. 212.

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zeigt sehr drastisch, welche Entwicklungen in der Ausgangsgesellschaft von AVL kritisch beurteilt werden. Aus den Überlegungen für eine selbstbestimmte Lebensweise ist ein Bestandteil eines effizient funktionierenden, aber überaus restriktiven und menschenverachtenden Systems geworden. Mit dem Einbezug dieser Thematik unterscheidet sich AVL von den anderen in dieser Arbeit besprochenen Gruppen. Zwar mögen die Erfahrungen mit dem Scheitern des Projektes AVL-Ville einer der Gründe gewesen sein, sich ab 2002 der Dystopie zuzuwenden, aber interessanterweise liegen die Keime für diese spätere Entwicklung bereits in dem utopischen Projekt von 2001 und werden dort auch verhandelt. Utopie und Dystopie – beide Formen untersuchen „the same problem but just seen from another perspective,“ wie es Joep van Lieshout ausdrückt.39 Ursula Le Guins Roman lässt sich noch in einem weiteren Punkt mit den zeitgenössischen Künstlergruppen in Verbindung bringen. In „Planet der Habenichtse“ übt ein Freund des Protagonisten in einem vertraulichen Gespräch Kritik an der Gesellschaft, die sich inzwischen von ihren anarchistischen Anfängen entfernt hat und Gefahr läuft, hierarchische Strukturen auszubilden. Er beobachtet, wie jeder neue Gedanke auf Anarres aus „Angst vor Veränderungen erstickt“ wird. Im Gegensatz dazu weist der Freund auf die ursprünglichen Lehren der Gründerin Odo hin: „Veränderung bedeutet Freiheit, Veränderung bedeutet Leben: Gibt es im odonischen Denken etwas Wesentlicheres als das? Aber heutzutage gibt es keine Veränderung mehr. Unsere Gesellschaft ist krank […]. Das Sozialbewusstsein ist nicht mehr etwas Lebendiges, sondern eine Maschine, eine von Bürokraten beherrschte Machtmaschine. […] Wir erziehen nicht zur Freiheit.“ 40 Le Guin verdeutlicht also, dass selbst nach einem geglückten Neuanfang mit einer alternativen Gesellschaftsordnung auf einem isolierten Planeten ein besseres Leben auf Dauer nicht möglich ist, wenn die Gemeinschaft nicht bereit ist, sich ständig anzupassen und zu verändern.

39 Van Lieshout, Joep in: Busse, Bettina M.: Und das nennen wir dann den Alltag, S. 36. 40 Le Guin, Ursula: Planet der Habenichtse, S. 155/156.

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4.2

B ILDENDE K UNST

ALS

M EDIUM

DER

U TOPIE

Ursula Le Guin spricht die Notwendigkeit ständiger Veränderung in „Planet der Habenichtse“ an. Die einzelne literarische Utopie gibt ihr allerdings keine Möglichkeit, einen solchen Transformationsprozess wirklich ablaufen zulassen. Ist der Roman abgeschlossen, kann er zwar Teil eines sich weiterhin verändernden Utopiediskurses werden, der Text selbst kann sich aber gewandelten Umständen nicht anpassen. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit die zeitgenössischen Künstlergruppen in diesen Fragen über die postmateriellen Utopien hinausgehen und Transformationsprozesse nicht nur ansprechen, sondern Strategien entwickeln, um diese auch über einen längeren Zeitraum zu verfolgen. Ein weiterer Punkt, an dem die Künstlergruppen ansetzen, wird vor allem bei Callenbachs „Ökotopia“ deutlich: Seine vergleichsweise große Verbreitung verdankt der Text den geschilderten Ideen, weniger einem Spannungsbogen, dem der Leser im Romanverlauf folgen könnte. Auf dieses Problem bei der Schilderung von idealen Gemeinwesen wies schon der Dichter Novalis um 1800 hin. Mit der „Darstellung des Vollkommenen“ ist für ihn immer die Gefahr der „Langeweile“ verbunden.41 Ähnlich denkt Friedrich Schiller, wenn er befürchtet, dass durch die Schilderung einer Welt, in der alle Antagonismen aufgehoben sind, die Sehnsucht nach diesem idealen Zustand versiegen könnte.42 Doch Langeweile ist nicht der einzige problematische Effekt einer detailliert dargestellten alternativen Welt. Seit der Verzeitlichung der Utopie Ende des 18. Jahrhunderts führt der „temporale Impuls“ 43 dazu, dass der utopische Entwurf als grundsätzlich realisierbar gedacht wird. Eine genau festgelegte Handlungsanweisung aber lässt keinen Raum für freie Entwicklung

41 Novalis: Das Allgemeine Brouillon (Nr. 862), S. 435. Novalis selbst hat auf diese Gefahr in seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ insofern reagiert, als er hier kein detailliertes Bild einer idealen Welt zeichnet. Die erhoffte „neue“ Welt scheint in Märchen, Sagen und Träumen auf, die den Handlungszusammenhang immer wieder durchbrechen (Novalis [Friedrich von Hardenberg]: Heinrich von Ofterdingen). 42 Schiller fragt sich, wie man es bei der „Schilderung einer harmonischen Welt vermeiden könne, dass das Streben darum aufhöre“ (Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 228/229). 43 Voßkamp, Wilhelm: Selbstkritik und Selbstreflexion, S. 235.

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– ein Umstand, auf den immer wieder hingewiesen wird, wenn es um die totalitären Potentiale utopischen Denkens geht. Am Beispiel von „Planet der Habenichtse“ wurde bereits angesprochen, dass die postmateriellen Utopien auf dieses Problem mit einer Kritik innerhalb des utopischen Entwurfs reagieren. Das folgende Kapitel soll zeigen, dass die zeitgenössischen Künstlergruppen diese Tendenz verstärken, indem sie neue Strategien entwickeln, um die Offenheit zukünftiger Entwicklungen in ihre Werke zu integrieren. Dabei spielen die von den zeitgenössischen Künstlergruppen praktizierten gemeinschaftlichen Produktionsformen eine wesentliche Rolle. Um herauszuarbeiten, inwiefern die Gruppen damit neue Möglichkeiten für utopisches Denken entwickeln, soll zunächst auf einer allgemeineren Ebene auf das Verhältnis von utopischem Entwurf in der Literatur und den bildenden Künsten eingegangen werden. 4.2.1 Utopien in Literatur und bildender Kunst Bis zum 20. Jahrhundert scheint die Utopie kaum ein Thema in den bildenden Künsten zu sein. Natürlich gibt es zahlreiche Darstellungen von „anderen Räumen“ (oder auch anderen Zeiten), wie beispielsweise Bilder vom himmlischen Jerusalem oder dem Hortus conclusus sowie Darstellungen des Goldenen Zeitalters oder eines Schlaraffenlandes. Doch wie bereits dargestellt wurde, sind diese „anderen Räume“ keine Utopien im engeren Sinn. Mehr Berührungspunkte mit der Utopie bietet das Genre des Idealstadtentwurfs, das sich in der frühen Neuzeit parallel zur literarischen Utopie entwickelte.44 Hermann Bauer bezeichnet Utopien daher auch als „erzählte Architektur,“45 doch der Umkehrschluss, dass man eine Architekturdarstellung als Utopie verstehen kann, ist nur bedingt möglich. Als Beispiel soll hier auf den Entwurf einer idealen Stadt vom Ende des 15. Jahrhunderts [Abbildung 40] eingegangen werden, der heute im Palazzo Ducale in Urbino aufbewahrt wird. Nach Michaela Herrmann hat der unbekannte46

44 Vgl. die Darst. in: Eaton, Ruth: The City as an Intellectual Exercise, S. 121. 45 Bauer, Hermann: Kunst und Utopie, S. 81. 46 Michaela Herrmann überlegt, ob Piero della Francesca diese Idealstadtentwürfe geschaffen haben könnte (vgl. die Darst. in: Hermann, Michaela: Die Utopie als Modell, S. 60–68. Richard Krautheimer wiederholt Morollis These, die Leon

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Abbildung 40: Italienische Schule: Idealstadt mit Rundtempel, Ende 15. Jahrhundert

Künstler den „malerischen Entwurf einer Gesellschaftsutopie“47 geschaffen. Dabei verweist sie auf Parallelen zwischen dem dargestellten Raum und Beschreibungen in humanistischen Architekturtraktaten. 48 Den Zentralbau in der Bildmitte identifiziert sie als christlichen Kirchenraum, dem sich als weiteres öffentliches Bauwerk die Basilika im rechten Bildhintergrund anschließt: Sie sei der Raum, in dem Recht gesprochen wird, und so würden in dem Bild „die Einheit von Recht und Herrschaft, von göttlicher und menschlicher Ordnung“49 symbolisiert. In dem oft mit der Urbiner Tafel verglichenen mittelitalienischen Idealstadtentwurf aus der Walters Art Gallery in Baltimore50 geben die einen zentralen Platz einrahmenden Skulpturen einen Hinweis auf das Bildthema: Die weiblichen Figuren auf den Säulen versinnbildlichen die Tugenden der Fortezza, Iustitia, Temperanza und Abundanzia51 und dienen dem Betrachter als Ansatzpunkt, um über die Tugenden nachzudenken, die ein ideales Gemeinwesen bestimmen sollten – Leon Battista Alberti spricht in diesem Zusammenhang von Säulen, die

Battista Alberti als Künstler der Urbiner Tafel, vielleicht auch der weiter unten erwähnten Tafel aus Baltimore vorschlägt (vgl. die Darst. in: Krauheimer, Richard: The panels in Urbino, S. 256). 47 Hermann, Michaela: Utopie als Modell, S. 58. 48 Vgl. die Darst. in: Hermann, Michaela: Die Utopie als Modell, S. 59 und in: Krautheimer, Richard: The panels in Urbino, S. 255. 49 Hermann, Michaela: Die Utopie als Modell, S. 59. 50 Eventuell wurden beide Tafeln von einem Künstler geschaffen (vgl. die Darst. in: Krautheimer, Richard: The panels in Urbino, S. 253). 51 Vgl. die Darst. in: Hermann, Michaela: Die Utopie als Modell, S. 70.

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keinen praktischen Nutzen erfüllen, sondern als „Denkzeichen“52 fungieren. Obwohl beide Idealstadtentwürfe den Lebensraum von Menschen zeigen, sind auf dem Urbiner Gemälde keine Bewohner dargestellt, und die vereinzelten Gestalten auf dem Gemälde aus Baltimore lassen wenig Raum für die Entwicklung von Erzählungen.53 Damit unterscheiden sich diese Stadtansichten wesentlich von den zur gleichen Zeit entwickelten Architekturdarstellungen, die vor allem gemalt wurden, um Raum für eine Erzählung zu schaffen.54 Bei den hier besprochenen Tafeln bildet die Architektur nicht den Hintergrund, sondern wird um ihrer selbst willen dargestellt. Sie ist ein Modell oder „a vision of an urban ambient, a utopia, a higher world ruled by the principles of humanism,“55 wie es Richard Krautheimer ausdrückt. Tatsächlich gibt es einige Parallelen zu dem ungefähr 30 Jahre später entstandenen „gattungsgeschichtlichen Prototyp[]“56 der „Utopia“ von Thomas Morus. In beiden Fällen wird ein fiktiver Raum geschaffen, in dem einen ideale Stadt dargestellt wird. Sowohl der mittelitalienische Künstler als auch Thomas Morus richten sich dabei an eine „humanistisch gebildete Intelligenzschicht,“57 die die Darstellungen als Anknüpfungspunkt für philosophische Debatten über das ideale Gemeinwesen nutzen konnte. In beiden Fällen bemühte man sich darum, den fiktiven Raum als real existierenden Staat vorstellbar zu machen. Doch in der Wahl der Mittel unterscheidet sich der Künstler vom Schriftsteller: Bei den beiden Tafelbildern wurde der Raum durch eine sorgfältig konstruierte Perspektive geschaffen. Die Darstellung der Gebäude ist detailreich und wirkt in ihren stimmigen Proporti-

52 Alberti, Leon Battista: Zehn Bücher über die Baukunst, S. 438. 53 Richard Krautheimer überlegt, ob diese Figuren vielleicht später hinzugefügt wurden, da sie über der Firnissschicht gemalt wurden (vgl. die Darst. in: Krautheimer, Richard: The panels in Urbino, S. 238). 54 Vgl. die Darst. in: Krautheimer, Richard: The panels in Urbino, Baltimore and Berlin, S. 246. 55 Krautheimer, Richard: The panels in Urbino, S. 239. 56 Voßkamp, Wilhelm: Thomas Morus’ Utopie, S. 183. 57 Vgl. die Darst. in: Honke, Gudrun: Die Rezeption der Utopie im frühen 16. Jahrhundert, S. 168/169. Morus war sogar gegen eine Übersetzung seines lateinischen Textes ins Englische (vgl. ebd.). Vgl. auch die Darst. in: Krautheimer, Richard: The panels in Urbino, S. 252 und 255.

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onen fast greifbar. Der Betrachter kann sich gut vorstellen, durch diese Städte zu gehen und sich neugierig umzuschauen. Aber dass er dabei auf sprechende und handelnde Bewohner treffen könnte, die Auskunft über die Organisation ihres Gemeinwesens geben, scheint nicht sehr wahrscheinlich. Der Betrachter kann aus den Gebäuden schließen, dass in dieser Stadt offensichtlich das antike Erbe gepflegt wird und bestimmte Tugenden gelten. Man könnte auch vermuten, dass der christliche Glaube eine wichtige Rolle spielt. Ruth Eaton weist zwar darauf hin, dass es in dieser Zeit einen engen Zusammenhang zwischen den Modellen einer Stadt und den gesellschaftlichen Strukturen gebe,58 aber ein detailliertes Bild der funktionalen Zusammenhänge innerhalb des Gemeinwesens ergibt sich aus den hier besprochenen Werken nicht. Betrachtet man die Tafeln ohne das Wissen der durch Text vermittelten Architekturtraktate dieser Zeit, kann man den meisten Gebäuden keine eindeutige Funktion zuweisen. Für welchen Zweck wurden beispielsweise die beiden großen Eckgebäude im Vordergrund der Urbiner Tafel gebaut? Nehmen hier Beamte verschiedener Abteilungen ihre öffentlichen Aufgaben wahr oder handelt es sich um Mehrfamilienhäuser? Eine eindeutige Funktionsbestimmung ist allein durch werkimmanente Hinweise nicht möglich. Auch lassen sich aus der bildlichen Darstellung keine Alternativen für andere Bereiche des Lebens ablesen. Wie werden die Nahrungsmittel hergestellt und verteilt? In beiden Tafeln geht der Blick hinaus auf eine ländliche Szene, aber sie scheint eher als Gegensatz zum Stadtraum konzipiert worden zu sein, als dass sie Auskunft über landwirtschaftliche Methoden gäbe. Wie werden die Kinder erzogen? Wie ist die Arbeit innerhalb der Gemeinschaft aufgeteilt? Gibt es Handelsbeziehungen zu anderen Städten? Wie ist das Verhältnis der Geschlechter? Diese Fragen werden in den beiden bildlichen Entwürfen nicht beantwortet. Im Gegensatz dazu vermitteln literarische Utopien ein nach alternativen Kriterien geordnetes Gemeinwesen in allen Einzelheiten. Thomas Morus gibt in „Utopia“ beispielsweise detailliert Auskunft darüber, wie Nahrungsmittel angebaut werden, wie die Rechtsprechung funktioniert und nach welchen Grundsätzen die Arbeit auf der Insel organisiert wird. Um Architektur, Bräuche, Funktionsweisen und Abläufe detailliert schildern zu können, nutzen die literarischen Utopien bestimmte Erzählstrategien: Manche Utopien lesen sich als Bericht, insbesondere als Reisebericht, andere

58 Vgl. die Darst. in: Eaton, Ruth: The City as an Intellectual Exercise, S. 11.

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sind in Dialogform geschrieben oder machen Elemente der Satire oder des Abenteuerromans für ihre Texte fruchtbar – in jedem Falle erschließen sich die verschiedenen Elemente des utopischen Gemeinwesens über eine schriftliche Darstellung von (fiktiven) Ereignisfolgen. Lessing beschreibt diesen Sachverhalt auf einer allgemeineren Ebene: Mit den Mitteln der Poesie lasse sich „eine sichtbar fortschreitende Handlung […], deren verschiedene Teile sich nach und nach, in der Folge der Zeit, ereignen,“59 darstellen. Im Gegensatz dazu könne die Kunst „in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen“ 60 und sei daher dem Raum zugeordnet. Nach diesen Überlegungen wäre bis zum 20. Jahrhundert die Literatur das einzig mögliche Medium für utopisches Denken. Nur in ihr könnte man die Alternativen in den verschiedenen Bereichen des Lebens detailliert beschreiben und darlegen, wie die gesellschaftlichen Teilbereiche funktional ineinandergreifen. Ungeachtet des Lessing’schen Diktums gab es allerdings schon früher in der Kunst Bildtypen, in denen Geschichten erzählt wurden, ohne sich auf den einen „einzigen Augenblick“ 61 zu beschränken. In mittelalterlichen Simultanbildern kann eine Figur mehrfach im Bild erscheinen und so können verschiedene Stufen einer Handlung dargestellt werden. Auch in Bilderreihen aus monoszenischen Einzelbildern wurden im Mittelalter Geschichten erzählt. Seit dem 18. Jahrhundert entstanden dann ganze Bilderzyklen, bei denen „Autoren-Maler […] einen autonomen Bildtext verwirklichen wollen.“62 Dennoch bleibt es bei der Beobachtung, dass bis zum 20. Jahrhundert im Medium der bildenden Kunst keine Utopien im engeren Sinn entstanden sind. Wolfgang Kemp macht in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Punkt aufmerksam: Da Bilderzählungen im Gegensatz zur Literatur jede Szene aufwändig darstellen müssen, ist eine Auswahl von einzelnen Szenen notwendig. „Solange Bilderzählungen in einem literarischen Vorwissen abgestützt sind, ist das Intervall nur eine negative Größe und bereitet keine wirklichen Probleme. […] Probleme ergaben sich immer dann, wenn die Maler neue Geschichten erzählen woll-

59 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, S. 113. 60 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, S. 115. 61 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, S. 23. 62 Jäger, Thomas: Die Bilderzählung, S. 13.

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ten.“63 Im Gegensatz zum himmlischen Jerusalem oder dem Schlaraffenland können sich Künstler und Betrachter bei der Darstellung eines alternativen Gemeinwesens eben nicht auf bekannte religiöse, historische oder mythische Stoffe stützen. Trotzdem haben Bilder, Modelle und Pläne schon früh eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von alternativen Gemeinschaften gespielt, allerdings nur, wenn Sprache in Form von begleitenden Überschriften oder Erklärungen integriert wurde. Ein sehr frühes Beispiel dafür ist der Klosterplan von St. Gallen. Nach den in dieser Arbeit geltenden Kriterien kann er zwar nicht als Utopie bezeichnet werden, dennoch lässt sich an dem Entwurf eines idealen Klostergemeinwesens die Bedeutung der Sprache gut darstellen.64 Der Betrachter erkennt auf dem 112 x 77,5 cm großen Plan die Grundrisse von rund 50 Gebäuden und kann die Anordnung sowie ihre Größenverhältnisse auf diese Weise gut nachvollziehen. Doch ein Nachdenken über die ideale Organisation des klösterlichen Lebens wird nur durch die 334 Beischriften65 möglich, die den Plan begleiten und die eingezeichneten Räume in ihrer jeweiligen Funktion benennen. Bisweilen erfährt der Leser dabei, warum bestimmte Bauteile eingezeichnet wurden, wie beispielsweise die Zäune um das Schulgelände – sie „schränken die Wünsche der Schuljugend ein.“66 Einige Beischriften sind in Versform gehalten und vermitteln dem Leser sogar einen Einblick in die Hoffnungen, die der Planbeschrifter mit der mönchischen Lebensweise verband: Über den Begräbnisplatz der Mönche im Obstgarten des Klosters heißt es: „Unter diesen Hölzern der Erde ist das heiligste immer das Kreuz, / an dem duften die

63 Kemp, Wolfgang: Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitigkeiten, S. 62. 64 Vgl. die Abgrenzung von Utopie und religiös motivierten Gemeinschaftsbildungen in Kap. 2.2.3.2 (ab S. 107). Peter Ochsenbein sieht in dem Plan die „architektonische Umsetzung der nach 500 entstandenen ‚Regula Bendicti‘,“ auf die in dieser Arbeit an verschiedenen Stellen ebenfalls eingegangen wurde (Ochsenbein, Peter: Der St. Galler Klosterplan, S. 98). Vgl. beispielsweise die Darst. in Kap. 2.2.3.2 (ab S. 107). Es gibt auch Forscher, die den Plan nicht als Darstellung einer idealen Gemeinschaft sehen, sondern als „verbindliche Bauanleitung“ deuten (vgl. die Darst. in: Jacobsen, Werner: Der Klosterplan von St. Gallen, S. 322). 65 Vgl. die Darst. in: Berschin, Walter: Der St. Galler Klosterplan, S. 109. 66 Berschin, Walter: Der St. Galler Klosterplan, S. 120.

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Früchte des ewigen Heils. / Um es herum sollen liegen die Leiber der verstorbenen Brüder; / Wenn es wieder erglänzt, mögen sie empfangen die Reiche des Himmels.“67 Bei anderen Entwürfen einer idealen Stadt steht der Text im Vordergrund, und Skizzen, Risse und Schnitte dienen vor allem der Illustration des Geschriebenen. Dies ist zum Beispiel bei den fiktiven Städten „Sforzinda“ und „Plusiapolis“ der Fall, die Antonio Averlino (gen. Filarete) Mitte des 15. Jahrhunderts im Rahmen seines Architekturtraktats beschrieben hat. Dieses Zusammenwirken von Text und Bild (und Objekt) lässt sich auch bei den zeitgenössischen Künstlergruppen beobachten. Die Konstitution mit ihren zwölf Paragraphen war Teil von AVL-Ville, N55 legt jedem Objekt ein „Manual“ bei und in der Projektarbeit von Anke Haarmann entstehen neben Videos und Bildern auch Texte. Die meisten Archiveinträge des Instituts für Paradiesforschung schließlich werden in schriftlicher Form abgelegt. Dennoch sind Texte, Bilder und Objekte nicht das wesentliche Medium, mit denen die hier vorgestellten zeitgenössischen Künstlergruppen arbeiten. 4.2.2 Die gemeinschaftliche Produktionsform als utopische Methode Die gemeinschaftliche Produktionsform ist die wesentliche Gemeinsamkeit von AVL, N55, Anke Haarmann und dem Institut für Paradiesforschung, auch wenn jede der Gruppen unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit entwickelt hat. Nina Zimmer spricht in ihrer Untersuchung über Künstlergruppen und Gemeinschaftsarbeit von „Begriffs- und Definitionsprobleme[n]“68 und obwohl in den letzten Jahren einige Ausstellungen zum Thema „kollektive Kreativität“69 veranstaltet wurden, kann von einer einheitlichen Definition der Kategorie „Künstlergruppe“ nicht die Rede sein. Es wurde im Rahmen dieser Arbeit dennoch versucht, verschiedene Formen der Zusammenarbeit zu unterscheiden: Die Mitglieder von Atelier Van

67 Übersetzung von Walter Berschin in: ders.: Der St. Galler Klosterplan, S. 140/141. 68 Zimmer, Nina: Spur und andere Künstlergruppen, S. 86. 69 Block, René; Nollert, Angelika (Hrsg.): Kollektive Kreativität. Eine andere Ausstellung fand unter dem Titel „Get Together“ 1999 in der Kunsthalle Wien statt.

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Lieshout arbeiten über einen längeren Zeitraum sehr intensiv zusammen, wobei es wegen der Gruppengröße zu deutlicher Arbeitsteilung und ungleichmäßig verteilter Verantwortung kommt. Um eine festgefügtere Kerngruppe hat sich ein Bereich gebildet, in dem eine größere Fluktuation zu verzeichnen ist. Bei der sehr viel kleineren Formation N55 kann von einer Gemeinschaftsarbeit im engeren Sinne gesprochen werden, denn von 1996– 2003 hatte jedes der vier Mitglieder zu jeder Zeit Einfluss auf die Konzeption und den Verlauf der Arbeit.70 Im Gegensatz zu AVL und N55, bei denen alle Beteiligten entweder einen ähnlichen Hintergrund haben oder Spezialisten auf einem bestimmten Gebiet sind, kommt es beim Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann zu einer Zusammenarbeit mit Menschen, die keine spezielle Ausbildung haben müssen und nicht in besonderer Verbindung zum „Betriebssystem Kunst“ stehen. Bei dieser kooperativen Gruppenarbeit tritt der Künstler als eine Art Moderator auf, der Strukturen für eine zeitlich begrenzte Partizipation seitens des Publikums bereitstellt. Während ipfo vor allem auf eine interaktive Beteiligung setzt, tritt Anke Haarmann in der ersten Projektphase in persönlichen Kontakt zu den jeweiligen Projektteilnehmern. Doch wesentlicher als die Unterschiede sind die Gemeinsamkeiten dieser überindividuellen Arbeitsweise. Sie erlaubt es den Gruppen – das soll zum Schluss dieser Arbeit gezeigt werden – den utopischen Diskurs in einem Medium zu erweitern, das bisher nicht mit ihm in Verbindung gebracht wurde. Es kam bereits zur Sprache, dass sowohl die Auffassung des Lebens als ein zu bearbeitendes Werk als auch der Aufbau eines Archivs in kooperativer Gruppenarbeit nicht denkbar wäre ohne den erweiterten Werkbegriff, der seit den 1960er Jahren zur Entwicklung neuer Kunstformen führte. Einige der in diesem Zusammenhang genannten Aspekte sollen hier noch einmal unter einem neuen Blickwinkel betrachtet werden. Die gemeinschaftliche Arbeitsweise der besprochenen Künstlergruppen lässt sich in vielerlei Hinsicht mit der „Transformation der Kunst vom Werkhaften zum

70 Vgl. die Definition der Gemeinschaftsarbeit in: Zimmer, Nina: Spur und andere Künstlergruppen, S. 98.

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Performativen“71 in Verbindung bringen, die seit Mitte der 1990er Jahre auch in den Kulturwissenschaften vermehrt Beachtung findet.72 Im Unterschied zu Erika Fischer-Lichte, die die „Ästhetik des Performativen im Begriff der Aufführung“73 verankert, kann man bei den hier untersuchten Künstlergruppen allerdings vielfältigere Vermittlungsformen ausmachen. Wenn ein Mitglied von N55 das Snail Shell System durch die Straßen von Turin rollt,74 könnte man das als „Aufführung“ betrachten oder genauer als „darstellende Realisierung eines künstlerischen Konzepts in einer konkret erfahrbaren, zeitlich und räumlich strukturierten Situation.“75 Auch die einzelnen Aktionen, die im Rahmen verschiedener Projekte von N55 durchgeführt werden, wie beispielsweise Konzerte oder Kochaktionen, könnte man hier einordnen. Ist aber in einem Museum ein Mobile Home von AVL oder das Hygiene-System von N55 ausgestellt, dann kann von einer Aufführung im engeren Sinn nicht die Rede sein. Anders als viele performative Praktiken verabschieden sich Atelier Van Lieshout und N55 nicht von der Kategorie „Werk.“76 Ihre Objekte treten dem Betrachter als eigene Einheiten gegenüber und ermöglichen so eine ästhetische Erfahrung, die aus dem Betrachter einen „Spieler“77 macht. Dennoch sind die „Tätigkeiten des Herstellens, Produzierens, Machens“78 – laut Fischer-Lichte zentral für performative Prozesse – wesentlich für Gruppen, die das Leben

71 Bianchi, Paolo: Kunst ohne Werk, S. 54. 72 Der Begriff „performativ“ kommt ursprünglich aus der Sprechakttheorie und beschreibt (Sprech-)Handlungen, die selbstreferentiell sind und Wirklichkeit konstituieren, wie beispielsweise die von einer bestimmten Person in einer bestimmten Situation getätigte Äußerung „Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau.“ Vgl. die Darst. in: Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte. 73 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 41. 74 2002 im Rahmen von „BIG Torino. International Biennal of Young Art.“ Zum Snail Shell System vgl. die Darst. in Kapitel 2.1.1. 75 Von Hantelmann, Dorothea: Inszenierung des Performativen, S. 255. Interessanterweise erinnert die Aktion von N55 an Michelangelo Pistoletto, der 1966 eine große aus Zeitungspapier geformte Kugel, die Palla di Giornali (Oggetti in meno), ebenfalls durch die Straßen von Turin rollte. 76 Vgl. die Darst. in: Mersch, Dieter: Ereignis und Aura, S. 94–103. 77 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, S. 180. 78 Fischer-Lichte, Erika: Vom ‚Text‘ zur ‚Performance‘, S. 61.

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als Werk begreifen. Produktion findet hier auf zwei Ebenen statt. Zum einen innerhalb der Künstlergruppen: Die Mitglieder arbeiten zusammen und stellen Objekte des täglichen Gebrauchs her – die Arbeit Autarka, eine Art Werkzeuggürtel, der auf Abbildung 41 stolz von einem Mitglied von AVL getragen wird, wirkt wie eine „Apotheose des Machens.“ Durch die Auseinandersetzung mit dem Ergebnis dieser Zusammenarbeit – dem hergestellten Objekt – soll es andererseits aber auch seitens der Betrachter zu „Handlungen, Austauschprozessen, Veränderungen und Dynamiken [kommen,] durch die sich bestehende Strukturen auflösen und neue herausbilden.“79 Obwohl AVL und N55 also nach wie vor Objekte herstellen, ist es nicht ihr Ziel, ein abgeschlossenes Gesamtwerk zu schaffen, sondern ihre Arbeiten sollen sich in Auseinandersetzung mit der Ausgangsgesellschaft verändern. Abbildung 41: Atelier Van Lieshout: Autarka I, 1994

AVL-Ville funktionierte neun Monate lang als work in progress, das sich sowohl durch das Zusammenleben der Gruppenmitglieder als auch durch die Reaktionen aus der Umwelt immer wieder neu ausrichtete. Bei N55 sollen die einzelnen Arbeiten als Ausgangspunkt für eine praktische Weiterentwicklung seitens der Betrachter dienen. Die vom Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann aufgebauten Archive verändern sich mit jedem neuen Eintrag. Es ist also ein wesentliches Merkmal der hier vorgestellten

79 Ebd.

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Künstlergruppen, dass sie Objekte und Projekte schaffen, die auf Veränderung und Weiterentwicklung angelegt sind. Diese Möglichkeit zur Transformation beruht auf zwei Aspekten, die ebenfalls mit dem Konzept des Performativen verbunden sind. Zunächst gibt es einen besonderen Umgang mit den Kategorien Zeit und Raum: „Das Verstreichen von Zeit [ist] eines der Merkmale des Performativen,“80 stellt Fischer-Lichte fest, und in den Arbeiten der hier besprochenen Künstlergruppen vergeht Zeit auf eine besondere Weise. Grundsätzlich erfolgt natürlich auch die Betrachtung eines Tafelbildes „in zeitlicher Ausdehnung, über deren Geschwindigkeit, respektive Langsamkeit, kaum präzise Angaben möglich sein werden.“ Denn ein Bild, „obschon in all seinen Bestandteilen immer zugleich anwesend, eröffnet sich erst langsam im Schauen in seiner Vielschichtigkeit.“81 Obwohl in dieser Weise auch die Zeit vergeht, wenn ein Besucher ein in einem Museum ausgestelltes Werk von AVL oder N55 ansieht, unterscheidet sich der Zeitgebrauch der Künstlergruppen von dieser Art der Betrachtung. Beim Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann erstreckt sich die Partizipation der Teilnehmer über unterschiedlich lange Zeiträume, aber vor allem bei Anke Haarmann kommt es zu einer intensiven Phase der Gruppenarbeit, die über mehrere Wochen dauern kann. Die von ipfo und Anke Haarmann [AHA] aufgebauten Archive sind auf Dauer angelegt und wachsen und verändern sich mit jedem neuen Projekt und mit jedem neuen Eintrag. Veränderungen in der Umwelt können so immer wieder ihren Niederschlag in den Archiven finden und die nachfolgenden Teilnehmer beeinflussen. Um den Zeitgebrauch bei AVL und N55 zu untersuchen, soll hier versuchsweise ein erzähltheoretisches Begriffspaar auf die künstlerischen Arbeiten bezogen werden, um ihre Herangehensweise mit literarischen Utopien vergleichen zu können. Die Literaturwissenschaft unterscheidet zwischen „Erzählzeit“ und „erzählter Zeit.“82 Die Erzählzeit ist die zum Lesen (oder Erzählen) des utopischen Entwurfs benötigte Zeit, wohingegen man unter erzählter Zeit die Zeiträume versteht, von denen erzählt wird. Bei einer Utopie in Form eines Reiseberichtes sind es meist jene Tage, die die

80 Fischer-Lichte, Erika: Grenzgänge und Tauschhandel, S. 287. 81 Friedel, Helmut: Das Vergnügen an der Langsamkeit, S. 7. 82 Vgl. die Darst. in: Müller, Günther: Die Bedeutung der Zeit, S. 247–268 und in: ders.: Erzählzeit und erzählte Zeit, S. 269–186.

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Berichterstatter im utopischen Gemeinwesen verbringen dürfen, bevor sie wieder in ihre Ursprungswelt zurückkehren. Bisweilen können damit aber auch sehr lange Zeiträume gemeint sein, wenn beispielsweise über die Vorgeschichte des fiktiven Staates oder einzelner Personen berichtet wird. Günther Müller verdeutlicht, dass sich die Rezeption von Dichtung in der „physikalischen Zeit“ abspielt, aber „was sie vergegenwärtigt, hat zu dieser keine Beziehung; es ist vielmehr der Zeit enthoben.“83 Dieses Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit ändert sich bei AVL und N55. Wenn die Mitglieder von Atelier Van Lieshout ein Gemeinwesen aufbauen und dafür ein Gebiet abgrenzen, flexible Wohnmodule und Komposttoiletten bauen, wenn auf einer Art Bauernhof Landwirtschaft betrieben und gemeinsame Abendessen organisiert werden, wird auf diese Weise ein utopischer Raum vermittelt. Aber es gibt keine erzählende Instanz, die Abläufe raffen oder dehnen könnte. Wenn die Entwicklung einer Biogasanlage für AVL-Ville Monate in Anspruch nimmt, dann kann (oder muss) man die verschiedenen Entwicklungsstufen über Monate verfolgen. Der Wachstumsprozess der in der Home Hydroponic Unit [Abbildung 22] von N55 gezogenen Gurken kann weder gedehnt noch verkürzt werden. Die in dem Objekt der Künstlergruppe wachsende Gurke ist ein reales Gemüse in einem realen Raum, sie entwickelt sich in einer realen Zeit. Sie repräsentiert nicht, sondern ist zunächst einmal selbst präsent. Im Gegensatz zur literarischen Utopie fällt hier also die erzählte Zeit mit der Erzählzeit zusammen. AVL und N55 knüpfen damit an die 1960er und 1970er Jahre an, in denen PerformanceKünstler die „Bedeutung des realen Raums und der Realzeit in der Kunst entdeckten“84 und das Prozesshafte betont wurde. Auf diese Weise können Transformationsprozesse, seien es nun die Entwicklung von einem Samen zu einer Gurke oder komplexere Veränderungen innerhalb der Gemeinschaft, nicht nur angesprochen oder in Aussicht gestellt werden, sondern real ablaufen. Der andere Aspekt, der dafür entscheidend ist, dass in den Arbeiten der zeitgenössischen Künstlergruppen Veränderungen stattfinden können, ist die Neubestimmung des Verhältnisses von Künstler und Betrachter: Fischer-Lichte beobachtet, dass seit den performativen Wenden im 20. Jahrhundert Zuschauer nicht mehr „nur als fühlende oder denkende Subjekte

83 Müller, Günther: Die Bedeutung der Zeit, S. 251. 84 Jappe, Elisabeth: Performance, Ritual, Prozeß, S. 69.

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zugelassen sind, sondern auch als handelnde, als Akteure.“85 Es wurde bereits dargestellt, dass besonders das Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann die Idee eines Geniekünstlers kritisieren und daher die Beteiligung der Betrachter eine wesentliche Rolle spielt. Ohne das Konzept einer kooperativen Gruppenarbeit wären ihre Projekte nicht durchführbar. Auch bei AVL und N55 wird der Betrachter in unterschiedlicher Weise in die Projekte involviert. Die Entscheidung, im Rahmen einer Gruppe zu agieren, mag auch durch persönliche Gründe verstärkt worden sein: Hans Peter Thurn spricht beispielsweise von einem „Stützungseffekt,“86 den sich vor allem junge Künstler von der Gruppenarbeit versprechen. Doch für die hier besprochenen Gruppen sind es vor allem inhaltliche Gründe, die für eine überindividuelle Arbeitsweise sprechen. Die Beteiligung mehrerer Personen an einem Projekt führt zu einem intensiven Austausch von Ideen und Meinungen. Das verspricht zum einen die Überwindung subjektiver Standpunkte, und zum anderen können im Rahmen der Gruppenarbeit Inhalte entstehen, „die in dieser Form nicht von einer Einzelperson geleistet werden könnten.“87 Inwiefern diese Einschätzung auf die zeitgenössischen Künstlergruppen zutrifft, sollen die beiden letzten Kapitel dieser Arbeit verdeutlichen. 4.2.2.1

ipfo. Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann (AHA) – das Medium als Möglichkeit zur Formbildung Die zeitgenössischen Künstlergruppen lösen sich von „substantialisierten Werkkonzepten wie auch subjektzentrierten Autorschaftsbegriffen“88 und legen stattdessen Wert auf vielfältige Möglichkeiten der Kommunikation. Daher soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, systemtheoretische Begriffe auf diese Untersuchung anzuwenden. Die hier vorgestellten Künstlergruppen kann man auch als soziale Systeme verstehen: Sie haben sich selbst in Differenz zur Umwelt gebildet, haben interne Strukturen auf-

85 Fischer-Lichte zu der Performance „Lips of Thomas,“ die Marina Abramović 1975 in Innsbruck aufführte (Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, S. 21). 86 Thurn, Hans-Peter: Die Sozialität des Solitären, S. 109. 87 Nollert, Angelika: Kunst ist Leben und Leben ist Kunst, S. 21. 88 Kampmann, Sabine: Niklas Luhmann, S. 9.

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gebaut, um eine fortlaufende Kommunikation zu ermöglichen, und sie beobachten sich selbst auch im Hinblick auf das, was außerhalb des Systems geschieht. Dabei kommunizieren die Künstlergruppen nicht nur systemintern, sondern treten darüber hinaus in Kontakt zur Umwelt. Dass aber ein anderes System mit den Künstlergruppen kommuniziert, ist aus systemtheoretischer Sicht „extrem unwahrscheinlich,“ da unendlich viele „Anforderungen […] erfüllt sein müssen, damit [Kommunikation] zustande kommt.“ Gerade diesen „Anschluß von Kommunikation an Kommunikation“ wollen die Künstlergruppen aber ermöglichen, und daher konstruieren sie „erwartungsleitende Wahrscheinlichkeiten,“89 wie es Niklas Luhmann ausdrückt. Sie bemühen sich also, den Selektionsspielraum zu begrenzen, ohne dabei die Möglichkeiten zur Selektion zu verhindern. Um die „evolutionäre Errungenschaft“90 dieses Vorgehens zu charakterisieren, führt Luhmann die Unterscheidung von „Medium“ und „Form“ ein,91 die besonders fruchtbar auf die Projekte von Anke Haarmann und das Institut für Paradiesforschung bezogen werden kann. Während ipfo ein online zugängliches Archiv utopischer Ideen aufbaut, sammelt Anke Haarmann Ergebnisse erfolgreich durchlaufener Prozesse der Selbstermächtigung. In Kapitel 3.2.4 wurde dargelegt, inwiefern dabei eine „Dialektik von Offenheit und Einschränkung“92 vorliegt, die man mit der Funktionsweise des Spiels in Verbindung bringen kann. Auf der einen Seite machen die Projektinitiatorinnen in ihrer kooperativen Gruppenarbeit bestimmte Vorgaben, wie zum Beispiel die Themenauswahl, Fragebögen oder nach bestimmten Kriterien geordnete Archive. Das ist mit einem Spiel vergleichbar, bei dem zunächst Spielraum und -regeln festgelegt werden müssen, damit verschiedene Spieler sinnvoll interagieren können. Ebenso machen die Vorgaben von ipfo und Anke Haarmann Kommunikation erst möglich, denn sie fungieren als ein „systemspezifisches Medium,“93 das die Teilnahme des Publikums zunächst begrenzt. Innerhalb dieses Mediums kann sich dann aber eine vielfältige Beteiligung der Projektteilnehmer ent-

89 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 190. 90 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, S. 220. 91 Vgl. die Darst. in: Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 190– 202 und in: ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 165–215. 92 Buchart, Dieter: Dialektik von Spielregeln, S. 41. 93 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 197.

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wickeln: Sie beschäftigen sich mit einem bestimmten Thema, kommunizieren, assoziieren, stellen Zusammenhänge her und schaffen eigene Texte und Bilder. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung sind „die jeweils aktualisierten Formen“94 innerhalb der Möglichkeiten, die das Medium bietet. Jeden Beitrag, der in den Archiven gesammelt wird, könnte man so als Form des Mediums verstehen, welches die Künstlergruppen als Rahmenstruktur bereitgestellt haben. Allgemeiner drückt es Luhmann aus: „Das Medium besteht in lose gekoppelten Elementen, eine Form fügt dieselben Elemente dagegen zu strikter Kopplung zusammen.“95 Jede der realisierten Formen, die sich in das Medium einschreiben, kann man als Ergebnis einer Anschlusskommunikation bezeichnen, und jede auf diese Weise entstandene neue Form kann wiederum eine sich nach ihr vollziehende Aktualisierung beeinflussen. Durch seine Projektteilnahme wird der Betrachter also, wenn auch für eine begrenzte Zeit, zum Teil des von der Künstlergruppe gebildeten sozialen Systems. Dies ist eine neue Form utopischer Auseinandersetzung, weil hier innerhalb eines Werkes ein Prinzip zur Anwendung kommt, das zwar tief in der utopischen Tradition verwurzelt ist, aber bisher nur auf die Gesamtheit aller Utopien bezogen werden konnte. Nimmt man den utopischen Diskurs seit Thomas Morus in den Blick, kann man eine fast 500-jährige Abfolge von Vorschlag und Gegenvorschlag – oder wie es Luhmann sagen würde: von Kommunikation und „Anschlusskommunikation“ –96 beobachten. Auf die straffe Organisation des von Thomas Morus erdachten Gemeinwesens auf der Insel „Utopia“ antworten die anarchistischen Utopien der Aufklärung. 97 Auf das Ideal eines ohne staatliche Reglementierung lebenden „natürlichen“ Menschen reagieren die utopischen Entwürfe zur Zeit der Industrialisierung, deren Fortschrittsoptimismus zur Wandlung von der Raum- zur Zeitutopie führt. Den teleologischen Zukunftshoffnungen setzten Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts schwarze Utopien entgegen, in denen das staatliche Glücksversprechen zu radikaler Unterdrückung wird. Die postmateriellen Utopien

94 Ebd. 95 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 198. 96 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, S. 198. 97 Wilhelm Vosskamp weist darauf hin, dass die erste „satirisch-kritisch[e]“ Antwort auf Morus’ „Utopia“ schon 1534 mit „Gargantua“ von Rabelais erfolgte (Vosskamp, Wilhelm: Selbstkritik und Selbstreflexion, S. 235).

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der 1970er Jahre reagierten auf diese Entwürfe mit einer Wiederbelebung der positiven Utopietradition. Die Verstärkung der selbstreflexiven Tendenz war dabei auch eine Antwort auf totalitäre Potentiale vorhergehender Utopien. Hier findet also ein über Jahrhunderte laufender Transformationsprozess statt, denn „Utopie und Utopiekritik bilden eine komplementäre Einheit.“98 Indem Anke Haarmann und das Institut für Paradiesforschung ein Medium schaffen, in das verschiedene, sich zum Teil auch widersprechende Formen eingeprägt werden können, setzen die zeitgenössischen Gruppen diese komplementäre Einheit als künstlerische Strategie in ihren Arbeiten um. Die kooperative Gruppenform ermöglicht also eine ständige Neuformulierung von utopischen Entwürfen. Innerhalb eines künstlerischen Projektes können zahlreiche Vorschläge und Gegenvorschläge gemacht werden und jeden neuen Beitrag ändern, beeinflussen oder verstärken. 4.2.2.2

Atelier Van Lieshout und N55 – Sprechen im Indikativ und Konjunktiv Atelier Van Lieshout und N55 wollen die Möglichkeiten eines alternativen Lebensentwurfes praktisch erproben. Dazu ziehen die Gruppenmitglieder zusammen und realisieren eine gelebte Utopie. Atelier Van Lieshout entwickelt in dem als „Freistaat“ ausgerufenen AVL-Ville alternative Lösungen, die keinem einheitlichen Formwillen entspringen, sondern auf jede Situation mit neuen Materialien und Formen reagieren. Getreu der „Solvism“Einstellung99 stehen pragmatische und flexible Lösungen im Vordergrund. Obwohl die Gruppe mit AVL-Ville einen detailliert ausformulierten utopischen Entwurf schafft, macht sie deutlich, dass kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben wird. Im Vergleich zum Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann bietet die Gruppe also kein Medium an, sondern aktualisiert selbst eine mögliche Form innerhalb des utopischen Diskurses. Diese „strikte Kopplung“100 soll der Betrachter aber nicht als konkret umsetzbare Handlungsanweisung verstehen, sondern als Mitteilung im systemtheoretischen Sinn. AVL-Ville kann man also als eine Art Versuchanordnung sehen, die den Betrachter zur Entwicklung weiterer Formbildung animiert.

98

Vosskamp, Wilhelm: Einleitung, in: Utopieforschung, Bd. 1, S. 7.

99

Vgl. die Darst. in Kap. 2.3.2

100 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 198.

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Die Gruppe N55 entwickelt dagegen in ihrem weniger abgegrenzten utopischen Raum verschiedene Projekte und Objekte aus wiederkehrenden Grundelementen, die universal einsetzbar sind. Die formale Gestaltung beruht auf den in Zusammenarbeit mit dem dänischen Philosophen Peter Zinkernagel gefundenen „logical relations.“101 Aus ihnen leitet die skandinavische Gruppe ethische Normen ab, die als Grundlage für ihre Werke dienen. Diese Prinzipien können nicht ohne weiteres aus den in der realen Welt gewonnenen Erfahrungen entwickelt werden, und gerade dadurch entfalten sie ein kritisches Potential. Ähnlich, wie es Immanuel Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ beschreibt, sollen diese Ideen eine Funktion für das alltägliche Leben übernehmen: Sie haben „einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten.“102 Auch wenn dieses Ziel nie erreicht werden kann, muss man dennoch eine „ins Unendliche fortschreitende Annäherung“103 versuchen. Die von der Künstlergruppe geschaffenen Situationen ermöglichen eine Annäherung zwischen der abstrakten (ethischen) Idee und der realen Anwendung im alltäglichen Leben. Dieses praktische Erproben kann nur in einer ständigen Auseinandersetzung mit anderen Menschen geschehen. In gewisser Weise versucht jeder Utopieentwurf, die unendlichen Handlungsoptionen in einer komplexen Welt handhabbar zu machen. Bei Thomas Morus dient ein ordnender Staat der Kontingenzbewältigung innerhalb des utopischen Entwurfs. Im 20. Jahrhundert wird „das Kontingente selbst zum utopischen Programm,“ schreibt Wilhelm Voßkamp im Hinblick auf literarische Utopien. „Es erscheint als der utopische Konjunktiv, der dem Indikativ schlechter Ordnungsutopien gegenübergestellt wird.“ 104 Atelier Van Lieshout und N55 haben eine Möglichkeit gefunden, beide Aussageweisen miteinander zu verbinden. Sie sprechen den Betrachter zunächst im „Indikativ“ an, sehen aber diesen Modus nicht – wie viele Siedlungsexperimente zuvor – als einzige Form der Aussageweise. Im Rahmen des Lebenskunstwerkes leben und arbeiten die Gruppenmitglieder eng zusammen. So fungieren sie selbst als ein Beispiel für eine Lebensweise, die

101 Vgl. die Darst. in Kap. 2.3.1.1. 102 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, S. 428. 103 Kant, Immanuel: Vom ewigen Frieden, S. 386. 104 Voßkamp, Wilhelm: Utopie als Antwort auf Geschichte, S. 281.

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auf Solidarität und Zusammenarbeit setzt. In einem von der Umwelt abgegrenzten Raum stellen die Gruppen auch Objekte des alltäglichen Gebrauchs her, mit denen sich der Betrachter direkt auseinandersetzen kann, und die ihn so zu Handlungen animieren. Doch zugleich sind diese Arbeiten nicht nur reine Gebrauchsobjekte, sondern sie sind auch „über etwas,“ wie es Danto sagen würde.105 Daher eröffnet das Umgehen mit den handlich-realen Objekten dem Betrachter eine Ebene jenseits der bereits realisierten Alternative. Auf ihr kann er über die „noch ungewordene[n] Möglichkeiten“106 nachdenken und selbst Gegenmodelle zur Ausgangsgesellschaft entwickeln. Die Künstlergruppen nutzen die Umsetzung des utopischen Entwurfs im Hier und Jetzt – also als eine künstlerische Strategie, um sich direkt an den Betrachter wenden zu können. Darüber hinaus sprechen die Künstlergruppen aber im „utopischen Konjunktiv“ 107 und entgehen so der Gefahr, „in der Verwirklichung zu totalitären oder jedenfalls inhumanen Zuständen [zu] führen.“108 „Veränderung bedeutet Freiheit, Veränderung bedeutet Leben […]. Aber heutzutage gibt es keine Veränderung mehr. Unsere Gesellschaft ist krank,“ urteilt ein Bewohner des anarchistischen Planeten Anarres in Ursula Le Guins Utopie „Planet der Habenichtse“ über die eigene Gesellschaft. Die Notwendigkeit ständiger Transformation hat die Autorin im Rahmen ihres Romans also bereits angesprochen. Die zeitgenössischen Gruppen gehen insofern über die postmaterielle Utopie hinaus, als es ihre gemeinschaftliche Produktionsform erlaubt, einen Möglichkeitsraum auzufbauen, der offen ist für ständige Veränderung. In der liteararischen Utopie kann dieser Möglichkeitsraum nur kurz angedeutet werden und bietet dem Leser keine konkreten Anhaltspunkte. Im Gegensatz dazu schaffen die hier besprochenen Künstlergruppen greifbare Möglichkeitsräume, die sowohl Zeit als auch Raum geben für vielfältige Formen der Partizipation. Die Künstlergruppen setzen beim einzelnen Menschen oder bei kleinen überschaubaren Gemeinwesen an. Das Institut für Paradiesforschung und Anke Haarmann nutzen eine kooperative Arbeitsweise, um eine Rahmen-

105 Danto, Arthur Coleman: Die Verklärung, S. 20. 106 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, S. 5. 107 Voßkamp, Wilhelm: Utopie als Antwort auf Geschichte, S. 281. 108 Fest, Joachim: Der zerstörte Traum, S. 94.

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struktur oder eine Art Medium zu schaffen, in das sich immer wieder verschiedene Formen einschreiben und aktualisieren können. Jeder neue Gegenvorschlag kann dabei auf Veränderungen der Ausgangsgesellschaft und auf schon bestehende Einträge reagieren. Atelier Van Lieshout und N55 nutzen die Strategie des gemeinsam erarbeiteten Lebenskunstwerkes, um in ihren gelebten Utopien den alternativen Entwurf im Hier und Jetzt umzusetzen. Während man AVL-Ville als eine Art Versuchsanordnung sehen kann, fungieren die Objekte von N55 als regulative Idee. In beiden Fällen eröffnen die praktisch ausgerichteten Arbeiten immer auch eine fiktive Ebene und so kann der Entwurf ständig transformiert und angepasst werden. Wie bei einem Spiel schaffen es die Künstlergruppen also, einen utopischen Raum außerhalb der Welt zu schaffen, der doch immer auf diese Welt bezogen bleibt. So können sie aufbauen, was Joachim Fest in der Geschichte der Utopie bisher vergeblich gesucht hat: den utopischen Raum als „ein wirklich offenes Gemeinwesen.“109 Die hier besprochenen Künstlergruppen geben seiner These vom „Ende des utopischen Zeitalters“ 110 insofern Recht, als sie den Versuch aufgeben, eine auf Ewigkeit angelegte vollkommene Gesellschaft zu entwerfen. Sie haben Wege gefunden, mit dem „Widerspruch zwischen dem geschlossenen Charakter aller grundlegenden Neuentwürfe“ und der Komplexität und Unvorhersehbarkeit eines jeden Gemeinwesens umzugehen. Der Betrachter wird nicht auf eine Möglichkeit festgelegt oder aus seiner individuellen Verantwortung entlassen. Die gemeinschaftliche Produktionsform ermöglicht es den zeitgenössischen Künstlergruppen, dauerhafte und zugleich flexible Strukturen zu schaffen, in denen Menschen ihren „Möglichkeitssinn“ entwickeln können – „die Fähigkeit […] alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“111

109 Fest, Joachim: Der zerstörte Traum, S. 95. 110 Der vollständige Titel lautet: Fest, Joachim: Der zerstörte Traum: Vom Ende des utopischen Zeitalters. 111 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 16.

5 Biographien

5.1

ATELIER V AN L IESHOUT

Joep van Lieshout wurde 1963 in Ravenstein in den Niederlanden geboren. Er studierte an der Academy of Modern Art in Rotterdam (1980–1985), im Ateliers ’63 in Haarlem (1985–1987) und an der Villa Arson in Nizza (1987). Zunächst entwickelt van Lieshout funktionale Objekte wie Möbel und Waschbecken, in den 1990er Jahren entstehen Mobile Homes, flexibel einsetzbare Wohnmodule. 1995 stellt van Lieshout einige Assistenten ein, um größere Aufträge besser bewältigen zu können. Seitdem arbeitet das Atelier Van Lieshout (AVL) in wechselnder Besetzung von circa 10–30 Personen. Diese Form der Gruppenarbeit hatte nicht nur praktische Gründe, sondern bot vor allem zu Anfang auch die Möglichkeit, die Arbeitsweise und Rolle des Künstlers in der Gesellschaft neu zu bewerten. Die vorliegende Arbeit widmet sich in erster Linie dem Projekt AVL-Ville – einer Art „Freistaat,“ den das Atelier Van Lieshout von Februar bis Oktober 2001 am Hafen von Rotterdam aufbaute. Die Gruppenmitglieder lebten und arbeiteten hier in größtmöglicher Autarkie und suchten alternative Lösungen für kritisierte Entwicklungen in der umgebenden Gesellschaft.

5.2

ANKE H AARMANN [AHA]

Anke Haarmann wurde 1968 in München geboren und studierte Philosophie, Literatur und Ethnologie an der Universität Hamburg und der Freien Universität Berlin (1989–1995). Sie nahm am Postgraduiertenprogramm der Jan van Eyck Akademie for Art, Theory and Design in Maastricht teil

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(1994–1996) und studierte von 1994–1999 Freie Kunst an der Kunsthochschule Lerchenfeld Hamburg. 1998 bis 2000 war sie Stipendiatin im DFGGraduiertenkolleg „Technisierung und Gesellschaft“ an der Technischen Universität Darmstadt. 2004 schloss sie eine Promotion in Philosophie an der Universität Potsdam ab. Anke Haarmann ist Gründungsmitglied der Gruppen tetrapak und Aussen. Die vorliegende Arbeit thematisiert die Werkgruppe Selbst/Bilder, die in den Jahren 1998 bis 2005 entstand und berücksichtigt im Besonderen das Teilprojekt Visionen&Utopien, das 2002 im Osthaus Museum Hagen realisiert wurde. Für die Selbst/Bilder erarbeitet Anke Haarmann mit unterschiedlichen Beteiligten jeweils vor Ort ein gesellschaftlich relevantes Thema und präsentiert die Ergebnisse der partizipativen Zussammenarbeit unter dem Label AHA im Kunstraum. Auf diese Weise entsteht ein kulturelles Archiv, das von der Auseinandersetzung des Einzelnen mit den eigenen Idealen, mit kulturellen Normen und öffentlichen Bildern zeugt.

5.3

IPFO . I NSTITUT FÜR

P ARADIESFORSCHUNG

Christina Dilger (geboren 1963 in Dortmund) studierte Pädagogik an der Westfälischen Wilhelms Universtität Münster (1982–1988), Graphikdesign an der Fachhochschule Münster (1988–1998) und Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Dortmund (1992–1998). Marina Thies wurde 1965 in Bad Oeyenhausen geboren und studierte Kommunikationsdesign an der Fachhochschule für Design in Dortmund (1992–1998) und freie Fotografie am Pratt Institute in New York (1995–1997). In dieser Arbeit wird das Projekt ipfo. Institut für Paradiesforschung untersucht, mit dem Dilger und Thies 1997/1998 den Studiengang Kommunkationsdesign an der Fachhochschule in Dortmund abgeschlossen haben. Ziel von ipfo war es zunächst, möglichst zahlreiche individuelle Vorstellungen eines idealen Lebens zu sammeln und so eine Diskussion über verschiedene Formen des Zusammenlebens anzuregen. In der ersten Projektphase wurden im Rahmen Workshops und Präsentationen Fragebögen verteilt und Beiträge gesammelt. Von 2004–2007 wurden die Ergebnisse dann über die OnlineDatenbank „www.ipfo.de“ auch anderen Nutzern zugänglich gemacht.

B IOGRAPHIEN | 279

5.4

N55

Die vier Künstler Ingvil Aarbakke (geboren 1970 in Bergen, Norwegen), Rikke Luther (geboren 1970 in Aalborg, Dänemark), Ion Sørvin (geboren 1964 in Kopenhagen, Dänemark) und Cecilia Wendt (geboren 1965 in Malmö, Schweden) lernten sich während ihres Studiums an der Royal Academy of Fine Arts in Kopenhagen kennen, das sie in den Jahren 1997/1998 abschlossen. Bereits ab 1994 arbeiteten sie mit anderen Künstlern im Umfeld eines unabhängigen Ausstellungsraumes in der Nørre Farimagsgade 55 in Kopenhagen und agierten von 1996 bis 2003 gemeinsam unter dem Gruppenamen N55. Die vorliegende Arbeit legt das Hauptaugenmerk auf Projekte und Interventionen, die in diesem Zeitraum entstanden sind. Die Mitglieder von N55 gehen von einem engen Zusammenhang von Ethik und Ästhetik aus und stellen Situationen her, in denen Menschen ihre Vorstellungen und Lebensweise in Frage stellen können. Dazu entwickeln die Gruppenmitglieder unter anderem Gebrauchsobjekte, die Alternativen in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens anbieten. Ab 2003 führten Ion Sørvin und Ingvil Aarbakke die Künstlergruppe weiter, während Rikke Luther und Cecilia Wendt sich 2004 mit anderen zu der Formation Learning Group zusammenschlossen. Seit dem Tod von Ingvil Aarbakke im Jahr 2005 ist Ion Sørvin für N55 verantwortlich und kooperiert mit verschiedenen Künstlern, Designern und Architekten, die auf der N55-Homepage jeweils genannt werden.

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308 | N EUE O RTE DER UTOPIE

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L ITERATURVERZEICHNIS | 309

Vaneigem, Raoul: Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen, Hamburg 1980 (Original: Paris 1967) Voigt, Kirsten Claudia: „Wie wird man Revolutionär? Das ist das Problem.“ Zur substanziellen, medialen und anthropologischen Erweiterung des Materialbegriffs bei Joseph Beuys, in: Blume, Eugen; Nichols, Catherine: Beuys. Die Revolution sind wir, Ausst.-Kat. Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart Berlin, Göttingen 2008, S. 343–345 Von Graevenitz, Antje: Hütten und Tempel: Zur Mission der Selbstbesinnung, in: Szeemann, Harald (Hrsg.): Monte Verità. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologien als Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie, Ausst.-Kat. Collegio Papio Ascona, Casa Anatta Ascona, Museo Comunale di Ascona u. a., Mailand 1978, S. 85–97 Von Graevenitz, Antje: Ritual, in: Szeeman, Harald: Beuysnobiscum: eine kleine Enzyklopädie, Amsterdam/Dresden 1993, S. 305–308 Von Hantelmann, Dorothea: Inszenierung des Performativen in der zeitgenössischen Kunst, in: Paragrana, Bd. 10 (Theorien des Performativen), Heft 1, 2001, S. 255–270 Von Lüttichau, Mario-Andreas: Das Atelier als selbstgestaltete Welt, in: Dalbajewa, Birgit; Bischoff, Ulrich (Hrsg.): Die Brücke in Dresden 1905–1911, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Köln 2001, S. 283–288 Voß, Elisabeth: Was ist eine Kommune?, in: Kollektiv KommuneBuch (Hrsg.): Das KommuneBuch. Alltag zwischen Widerstand, Anpassung und gelebter Utopie, Göttingen 1996, S. 17–26 Voßkamp, Wilhelm: Selbstkritik und Selbstreflexion der literarischen Utopie, in: Göbel, Walter; Kohl, Stephan; Zapf, Hubert (Hrsg.): Modernisierung und Literatur. Festschrift für Hans Ulrich Seeber zum 60. Geburtstag, Tübingen 2000, S. 233–243 Voßkamp, Wilhelm: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 1, Stuttgart 1982, S. 1–10 Voßkamp, Wilhelm: Thomas Morus’ Utopie: Zur Konstituierung eines gattungsgeschichtlichen Prototyps, in: ders. (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1985, S. 183–196

310 | N EUE O RTE DER UTOPIE

Voßkamp: Wilhelm: Utopie als Antwort auf Geschichte. Typologie literarischer Utopien in der Neuzeit, in: Eggert, Hartmut; Profitlich, Klaus; Scherpe, Klaus R. (Hrsg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, Stuttgart 1990, S. 273–283 Voßkamp, Wilhelm (Hrsg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, 3 Bde., Stuttgart 1982 Wilde, Oscar: The Critic As Artist (1888), in: Complete Works of Oscar Wilde. With an Introduction by Vyvyan Holland, London/Glasgow 1966 Wimmer, Thomas: I Nazareni – die klösterliche Utopie, in: Kunstforum International, Bd. 116, November/Dezember 1991, S. 78–94 Winnicott, D. W.: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1997 (Originalausgabe: London 1971) Winzen, Matthias: Sammeln – so selbstverständlich, so paradox, in: Schaffner, Ingrid; Winzen, Matthias (Hrsg.): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, Ausst.Kat. Haus der Kunst München, Nationalgalerie SMPK Berlin, Kunstmuseum Düsseldorf, Henry Art Gallery Seattle, München/New York 1997, S. 10–19 Wolff, Reinhard: Kopenhagener Freistaat Christiania Illegal nach 37 Jahren, in: die tageszeitung, 26.5.2009 Wyss, Beat: Die erste Moderne, in: Hollein, Max; Steinle, Christina (Hrsg.): Religion. Macht. Kunst. Die Nazarener, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Köln 2005, S. 155–167 Zacharias, Thomas: Über Robert Rauschenberg, in: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 46, Heft 14, 2. Quartal 1999 Zedler, Johann Heinrich (Hrsg.): Reisen, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 31, Halle u. a. 1742, Sp. 378 Zelevansky, Lynn: Sense and Sensibility – Women Artist and Minimalism in the nineties, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art New York, New York 1994 Ziemke, Hans-Joachim: Die Anfänge in Wien und in Rom, in: Gallwitz, Klaus (Hrsg.): Die Nazarener, Ausst.-Kat. Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt a. M. 1977, S. 51–58

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7 Dank

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine leicht veränderte Version meiner Dissertation, die 2010 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Für die engagierte Bereitschaft, das Thema als Doktormutter zu betreuen, für ihren wissenschaftlichen Rat und die ermutigenden Worte danke ich sehr herzlich Frau Prof. Dr. Antje von Graevenitz. Für die Übernahme des Zweitgutachtens gilt Herrn Prof. Dr. Stefan Grohé mein Dank. Zu Dank verpflichtet bin ich besonders den Künstlerinnen und Künstlern Christina Dilger, Anke Haarmann, Rikke Luther, Ion Sørvin und Joep van Lieshout, die in Gesprächen einen tiefen Einblick in ihre Projekte und Arbeitsweisen gewährten. Für die geduldige und kritische Durchsicht des Manuskriptes danke ich meinen Eltern Dr. Wilhelm und Ursula Bulk und Alexandra Lethgau. Bei technischen Problemen war mir meine Schwester Dr. Bianca Mertens eine große Hilfe. Für die umfassende Unterstützung und liebevolle Begleitung möchte ich schließlich noch einmal meinen Eltern danken – ihnen sei diese Arbeit von Herzen gewidmet.

8 Bildnachweis

8.1

C OPYRIGHT

© für die Werke von: Anke Haarmann [AHA], Atelier Van Lieshout, ipfo. Institut für Paradiesforschung, N55 und Marina Thies: die Künstler, Künstlergruppen und ihre Rechtsnachfolger; © für die Werke von: Richard Buckminster Fuller: Courtesy The Estate of R. Buckminster Fuller; von Ronald James Herron: VG Bild-Kunst, Bonn 2014; von Michael Rakowitz: Courtesy Michael Rakowitz and Lombard Freid Gallery; New York und © für die Abbildung „Man the Producer Pavillon at Expo 67“: Government of Canada. Reproduced with the permission of the Minister of Public Works and Government Services Canada (2014)

8.2

F OTONACHWEIS

Atelier Van Lieshout: S. 17, 29, 32, 37/38, 45, 47, 67, 78, 87, 89, 98, 100, 141, 253, 267 Bulk, Julia: S. 255 Corbis GmbH, Deutschland: S. 115 Dommuseum zu Salzburg, Foto: J. Kral, S. 221 Haarmann, Anke: S. 181, 183, 207, 220 ipfo. Institut für Paradiesforschung: S. 169, 213 Kunsthistorisches Institut in Florenz – Max-Planck-Institut: S. 217 Library and Archives Canada/Canadian Corporation for the 1967 World Exhibition fonds: S. 159 Lombard Freid Gallery, New York: S. 72

316 | N EUE O RTE DER UTOPIE

N55: Umschlagabbildung, S. 19, 49, 52, 71, 73, 75, 101, 103, 130 Sammlung Deutsches Architekturmuseum, Foto: Uwe Dettmar: S. 77 The Estate of R. Buckminster Fuller: S. 50 The National Library of Medicine (NLM): S. 231 The Walters Art Museum, Baltimore: S. 259 Thies, Marina: S. 204 Umschlagabbildung: N55: N55 Spaceframe (1999), Kopenhagen 2001

Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Mai 2018, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.) Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 Mai 2017, ca. 264 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3585-0

Sabiene Autsch, Sara Hornäk (Hg.) Material und künstlerisches Handeln Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst April 2017, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3417-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Image Astrit Schmidt-Burkhardt Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas Januar 2017, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3631-4

Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.) Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken Oktober 2016, 218 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3452-5

Michael Bockemühl Bildrezeption als Bildproduktion Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur (hg. von Karen van den Berg und Claus Volkenandt) Oktober 2016, 352 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3656-7

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Birgit Wudtke Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung Künstlerische Strategien in der digitalen und postdigitalen Phase

Juli 2017, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2821-0

September 2016, 210 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3280-4

Susi K. Frank, Sabine Hänsgen (Hg.) Bildformeln Visuelle Erinnerungskulturen in Osteuropa

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April 2017, ca. 350 Seiten, kart., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2717-6

September 2016, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3598-0

Julia Allerstorfer Visuelle Identitäten Künstlerische Selbstinszenierungen in der zeitgenössischen iranischen Videokunst März 2017, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3523-2

Judith Bihr Muster der Ambivalenz Subversive Praktiken in der ägyptischen Kunst der Gegenwart Januar 2017, ca. 362 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3555-3

Manuela Naveau Crowd and Art – Kunst und Partizipation im Internet Januar 2017, ca. 200 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3678-9

Goda Plaum Bildnerisches Denken Eine Theorie der Bilderfahrung Juli 2016, 328 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3331-3

Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur Juni 2016, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1711-5

Judith Siegmund (Hg.) Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht? Juni 2016, 222 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3216-3

Johanna Gundula Eder Homo Creans Kreativität und Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst

Franziska Stöhr endlos Zur Geschichte des Film- und Videoloops im Zusammenspiel von Technik, Kunst und Ausstellung

November 2016, 550 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3634-5

April 2016, 432 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 48,99 €, ISBN 978-3-8376-3209-5

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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