Transplantierte Alltage: Zur Produktion von Normalität nach einer Organtransplantation [1. Aufl.] 9783839424803

Eine Organtransplantation verspricht Schwerkranken, wieder zu einem »normalen Alltag« zurückzufinden. Doch wie gelingt i

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German Pages 266 Year 2014

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
1. Einleitung
2. Blickwinkel und Bezugspunkte
3. Alltag als Test: Von unzähligen Regeln für neue Körper
4. Organ-Alltage: Transplantierte Körper vermessen, regulieren, stabilisieren
5. Post-Transplantations-Alltage als normal herstellen und leben
6. Schluss: Transplantierte Alltage und (ihre) Normalitäten
Literatur
Dank
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Transplantierte Alltage: Zur Produktion von Normalität nach einer Organtransplantation [1. Aufl.]
 9783839424803

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Katrin Amelang Transplantierte Alltage

Band 21

Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und • damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR) und Allan Young (McGill University Montreal, CAN).

Katrin Amelang ist Kulturanthropologin und arbeitet am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Katrin Amelang

Transplantierte Alltage Zur Produktion von Normalität nach einer Organtransplantation

Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Programm »Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog« (Förderkennzeichen: 01GWS051) und von der FAZIT-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Ulf Heidel, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2480-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2480-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1 Einleitung | 3

2 Blickwinkel und Bezugspunkte | 11 2.1 Transplantationsmedizin-Geschichte(n) – kulturanthropologisch erzählt | 11 2.2 Alltag als Problem(-stellung) | 34 2.3 Besonderheiten des Forschungsfeldes und methodisches Vorgehen | 43

3 Alltag als Test: Von unzähligen Regeln für neue Körper | 61 3.1 Entlassung aus dem Krankenhaus: An Alltag neu herantasten | 62 3.2 Rückblende I: Von ungeahnten körperlichen Ausnahmezuständen | 72 3.3 Anschlussheilbehandlung: Von Wochenplänen und Alltagssimulationen | 82 3.4 Rückblende II: Von (un-)disziplinierten Warteroutinen | 108 3.5 Fazit: Praxisanleitungen für und Testläufe von Alltag | 118

4 Organ-Alltage: Transplantierte Körper vermessen, regulieren, stabilisieren | 123 4.1 Transplantierte Körper und immunologische (Nicht-)Normalität | 125 4.2 Transplantierte Körper und ihre Vermessung | 134

4.3 Normalität und Therapie(un)treue im Dialog | 158 4.4 Fazit: Normale Leber-Alltage | 173

5 Post-Transplantations-Alltage als normal herstellen und leben | 177 5.1 Post-Transplantationsgeschichten – eine Auswahl | 177 5.2 Neue Normalitäten und Regeln im Praxistest | 190 5.3 Normalisierung des Alltags durch Familie und Arbeit | 201 5.4 Transplantierte Gesundheit – Antworten auf eine unfreundliche Frage | 215 5.5 Fazit: Fast normale Alltage | 227

6 Schluss: Transplantierte Alltage und (ihre) Normalitäten | 231

Literatur | 243

Dank | 259

1 Einleitung

»Peter Hellriegel arbeitet als Lehrer, treibt Sport, engagiert sich ehrenamtlich und ist für seine Familie da. Er führt ein ganz normales Leben – was in seinem Fall außergewöhnlich ist. Denn ohne eine Organspende wäre der 44-Jährige heute tot. Eine Autoimmunkrankheit hatte nach und nach seine Leber zerstört, nur eine Transplantation konnte ihn retten. Im Januar 2006 bekam Hellriegel eine neue Leber. Und damit ein neues Leben.« (TKK 2009: 8)

Geschichten von Organtransplantierten wie diese, welche in den Medien oder in öffentlichen Kampagnen für Organspenden präsentiert werden, erzählen von Menschen, die auf dramatische Weise mit Krankheit und Tod konfrontiert waren, von einer lebensrettenden erfolgreichen Transplantation und von wiedererlangter Normalität. Das durch den Organaustausch gerettete, verlängerte oder verbesserte Leben wird in diesen Berichten oft als neues oder zweites Leben bezeichnet und Transplantierte werden als fröhliche, gesunde, wieder arbeitende, manchmal schwangere, häufig sportlich aktive Menschen porträtiert, die dank der Transplantation wieder ein ganz normales Leben führen können. Wie dieses Leben oder der Alltag nach einer Organtransplantation genau aussieht, wird jedoch selten erzählt. Stattdessen wird, wie im Fall von Peter Hellriegel, der Erfolg der Transplantation betont und von einer scheinbar problem- und mühelosen Rückkehr in individuelle und gesellschaftliche Normalität berichtet. Meine Arbeit setzt an dieser typischen Erzählung an, befragt, ergänzt und kontextualisiert sie.1 Ich mache das Leben nach einer Transplantation zum ethnografischen Untersuchungsgegenstand und schaue mir Post-Transplantations-Alltage im Detail an.

1 | Diese Arbeit wurde 2012 an der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation anerkannt.

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Der Transfer von Organen eines Körpers in einen anderen gilt heute als medizinische Routine, als etabliertes Behandlungsverfahren für schwere, oftmals langwierige Erkrankungen, die mit der eingeschränkten Funktion oder dem lebensbedrohlichen Versagen eines Organs einhergehen. Zwischen 2002 und 2012 wurden in Deutschland jährlich etwa 4.500 Organe – Nieren, Lebern, Herzen, Lungen, Bauchspeicheldrüsen und Dünndärme – transplantiert.2 Ein gewöhnlicher Eingriff ist die Organtransplantation dennoch nicht. Das Angebot der Transplantationsmedizin ist in zweierlei Hinsicht besonders: Erstens nutzt sie menschliche Körperteile therapeutisch. Tote oder lebende Spenderinnen3 werden zur ›Quelle von Leben‹ für eine andere Person. Gerade aufgrund dieses verstörenden Zwiespalts wird die Organtransplantation kontrovers diskutiert. Zweitens zielt die Transplantationsmedizin zwar darauf, »den Gesundheitszustand zu normalisieren« (OTIS),4 das Potential einer vollständigen Heilung, im Sinne einer Wiederherstellung von Gesundheit, ist jedoch eingeschränkt. Zum einen können Transplantierte mit verschiedenen mit der Grunderkrankung oder der Transplantation zusammenhängenden Krankheiten konfrontiert sein. Zum anderen benötigen Transplantierte Medikamente, die verhindern, dass ihr Immunsystem das körperfremde Transplantat abstößt. Die Einnahme dieser Immunsuppressiva kann wiederum zu einer Vielzahl unterschiedlicher, nicht unerheblicher Nebenwirkungen führen. Deshalb müssen Transplantierte bestimmte Ernährungs- und Hygieneregeln befolgen und sich regelmäßig ärztlich kontrollieren lassen. Kurz: Organtransplantationen »schenken Leben«, wie Organspendekampagnen es gern ausdrücken, produ-

2 | Für Details und Zahlen siehe Datenbank der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (Abfrage »Organtransplantation [einschließlich Lebendspende]«: http://www.gbe-bund. de, [letzter Zugriff: 15.8.13]). 3 | Aus Gründen der Lesbarkeit wird auf die zusätzliche Formulierung der männlichen Form verzichtet. Ich möchte deshalb ausdrücklich darauf hinweisen, dass die ausschließliche Verwendung der weiblichen Form explizit als geschlechtsunabhängig verstanden werden soll. 4 | OTIS steht für Organ Transplant Information Software. Sie wurde von einem USamerikanischen Arzt und dem Pharma-Konzern Roche entwickelt. Über das untersuchte Transplantationszentrum hatte ich Zugang zu einer Testversion. Inhalte der Software können transplantations- und zentrumsspezifisch angepasst werden. Patientinnen können Informationen interaktiv in Form von Lernmodulen durcharbeiten, kleine Videobeiträge ansehen, in denen Transplantierte berichten, sowie ihre Medikamente verwalten. Die Einschätzungen von Medizinerinnen zum Einsatz von OTIS variierten: Einerseits wurde die Software als neue Form der Informationsvermittlung gelobt, andererseits wurden die Zugangsvoraussetzungen kritisiert (Patientinnen benötigen zu Hause oder über die Klinik einen Computerzugang). »Das ist eher was für die gebildete Mittelschicht«, bemerkte ein Pfleger.

1 Einleitung | 5

zieren aber auch Menschen, die lebenslang auf medikamentöse Intervention und medizinische Betreuung angewiesen sind. Was die Transplantationsmedizin ermöglicht, ist somit eine sehr spezifische Form von Gesundheit. Was in den öffentlichen Darstellungen als neues Leben Organtransplantierter bezeichnet wird, lässt sich als Leben mit einem chronischen Gesundheitsproblem charakterisieren, als ein von Medikamenten und Medizin abhängiges Leben. Diese Diagnose lässt eher die Unmöglichkeit von Alltag und Normalität erwarten. Trotzdem versicherten mir Organtransplantierte, die ich 2005 im Rahmen eines EU-Forschungsprojektes traf,5 dass es zu ihrem Leben nach der Transplantation nicht viel zu erzählen gebe: Ihr Alltag sei »völlig gewöhnlich« oder zumindest »fast normal«. Allerdings berichteten sie auch: »Ich nehme 42 Tabletten am Tag« (66-Jähriger, seit drei Jahren herztransplantiert). »Sie können vieles nicht mehr. Zum Beispiel Erdbeeren essen [. . . ] oder auf einer Feier ein Glas Sekt trinken« (47-Jähriger, seit acht Jahren lebertransplantiert). »Sonnenbäder sind verboten, auch Solarium. Das gibt es alles nicht mehr, das ist vorbei.« (57-Jährige, seit zwei Jahren lebertransplantiert). »Man ist mit dem Krankenhaus verheiratet [. . . ] und, für das Eheleben mit meiner Frau nicht unwichtig, die Libido lässt nach« (56-Jähriger, seit fünfzehn bzw. zehn Jahren zweifach herztransplantiert). Diese oft als Banalitäten gekennzeichneten und eher beiläufig geäußerten Zusatzinformationen deuten an, dass dem Wörtchen fast mehr Aufmerksamkeit zu schenken ist. Das Betonen eines »normalen Alltags« bei gleichzeitigem Aufzählen dauerhafter Einschränkungen nach einer Organtransplantation stellte in seiner Widersprüchlichkeit den Ausgangspunkt meiner Forschung dar: Was verstehen organtransplantierte Menschen unter einem normalen Alltag? Was die zitierten Gesprächspartnerinnen mir gegenüber als normal darstellten, etwa die Anzahl der tagtäglich einzunehmenden Tabletten oder zur Routine gewordene Verhaltensregeln, verweist eher darauf, was sie als alltäglich und selbstverständlich ansahen, mich als nicht-transplantierte und zuvor mit dem Transplantationsbereich nicht vertraute Person jedoch überraschte. Mit kulturanthropologischem Vokabular ausgedrückt war es die Konfrontation mit

5 | Als Projekt-Mitarbeiterin war ich an den in Deutschland stattfindenden Gruppendiskussionen zu Transplantationsmedizin und Gendiagnostik beteiligt und für die daran anschließenden Interviews zuständig. Details zum Projekt »Challenges of Biomedicine. Sociocultural Contexts, European Governance and Bioethics« (2004-2007, EC/FP6 »Science & Society«, Contract No. SAS6-CT-2003-510238) unter http://www.univie.ac.at/virusss/ cobpublication (letzter Zugriff: 15.8.13).

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einer anderen, mir fremden Sicht auf das, was als alltäglich und normal erachtet wird, die mich dazu brachte, das Leben nach einer Organtransplantation und seine Alltagsnormalitäten genauer in den Blick zu nehmen. Problemstellung: Zunächst handelt es sich bei meiner Arbeit um eine medizinanthropologische Fallstudie, in welcher Umgangsweisen mit einem Gesundheitsproblem in Alltag und Klinik beleuchtet werden. Der üblichen Repräsentation eines medizinischen Eingriffs – hier dem hegemonialen Transplantationsnarrativ – wird anhand der Erfahrung Betroffener eine andere Erzählung gegenübergestellt. Ich analysiere das Leben nach einer Organtransplantation als Weiterleben, um darauf zu verweisen, dass es für Transplantierte weniger um ein ›neues‹ Leben geht als darum, dass ihr bisheriges Leben weitergeht, wenn auch unter spezifischen Bedingungen. Angesichts einer Behandlungsform, die gesellschaftlich als außergewöhnlich gilt, unterstrichen meine Gesprächspartnerinnen mit ihrem Beharren auf Alltag und Normalität, dass trotz ihrer Transplantation nichts ungewöhnlich sei: Sie haben zwar ein neues Organ bzw. das Organ einer anderen Person bekommen, aber ein normales Leben – einen typischen Alltag eben, wie andere Menschen auch. Das mit der Transplantation in Aussicht gestellte Versprechen eines ›zweiten Lebens‹ als einer ›Rückkehr zur Normalität‹ scheint eingelöst. Hingegen zeigen die nachgeschobenen Aussagen zu den Auswirkungen oder Nebenwirkungen einer Transplantation eher, woran sich diese Transplantierten gewöhnt haben: das Leben mit einem transplantierten Organ und den daraus resultierenden Konsequenzen. Das durch die Transplantationchirurgie ermöglichte Weiterleben bedarf der weiteren Zuwendung – seitens der Medizin oder Transplantationsnachsorge wie der Transplantierten selbst. Alltag wird zu einem Problem, das erarbeitet und tagtäglich gemanagt werden muss. Aufschlussreich ist daher nicht allein die Frage, was Organtransplantierte unter einem normalen Alltag verstehen, sondern auch, was sie – und die Medizin – dafür tun (müssen), um diesen spezifischen Alltag als normal bezeichnen zu können. Was hier in den Blick des Forschungsinteresses rückt, sind diejenigen Aktivitäten, die auf die Normalisierung transplantierter Körper, medikamentös unterdrückter Immunsysteme, chronischer Gesundheitsprobleme und instabiler Alltage zielen und diese Körper und diese Alltage letztlich konstituieren: Wie bewerkstelligen Organempfängerinnen und Medizinerinnen die tagtägliche Aufrechterhaltung des so genannten neuen Lebens? Mittels welcher Praktiken werden nach einer Transplantation Normalität und ein gewöhnlicher Alltag hergestellt? Mit dieser Fragestellung wird das Leben nach einer Organtransplantation als Resultat von Praktiken, also hinsichtlich der es konstituierenden Herstellungsformen analysiert. Ich nehme damit eine Perspektive ein, die ebenso an Arbeiten aus den disziplinären Teilbereichen der Medizin- und Kör-

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peranthropologie wie aus dem Forschungsfeld der Science and Technology Studies orientiert ist. Meine Arbeit wird zwar auch von konkreten Alltagen erzählen, in erster Linie beschreibe und analysiere ich jedoch die Thematisierung und Herstellung von Alltag vor dem Hintergrund transplantierter, instabiler Gesundheit. Die durch die Organtransplantation anvisierte Rückkehr ins normale Leben wird als Projekt der Veralltäglichung und Normalisierung untersucht. Am Forschungsgegenstand PostTransplantations-Alltag lassen sich medizinanthropologische Fragen zum Umgang mit chronischen Gesundheitsproblemen im Alltag genauso wie Fragen zur generellen Produktion von Alltag exemplarisch bearbeiten. Mit der Bezeichnung PostTransplantations-Alltag klassifiziere ich den von transplantierten Gesprächspartnerinnen als gewöhnlich bezeichneten Alltag wenn nicht als ungewöhnlich, so doch als spezifisch. Es geht um den Alltag einer bestimmten Gruppe von Menschen, die Alltag unter bestimmten, gewissermaßen außergewöhnlichen Bedingungen hervorbringen. Im Mittelpunkt steht jedoch weniger die Beschreibung einer spezifischen Alltagskultur als die Frage, wie Alltag gemacht wird. Die Analyse der Praktiken, die in diesem Fall die Konstitution oder Produktion von Alltag erst ermöglichen, verdeutlicht, wie viel Arbeit für die Herstellung von Alltag nach einer Transplantation nötig ist. Als Beispiele für einen in die Krise geratenen Alltag machen die untersuchten Post-Transplantations-Alltage dabei durchaus auch sichtbar, was in weniger ›exotischen‹ oder weniger ›extremen‹ Alltagen oft verborgen und unbemerkt bleibt. Es geht also darum, nicht allein ein Phänomen im Alltag zu erforschen, sondern Alltag selbst in den Blick zu nehmen. Der Alltag nach einer Lebertransplantation gilt dann als konfrontativer Extremfall, der es erlaubt, die Selbstverständlichkeit von Alltag, die vermeintlichen Gewissheiten des Alltags und einen Begriff von Alltag als unproblematisch Gegebenes zu hinterfragen. Vorgehensweise: Meine auf ethnografischer Feldforschung basierende Untersuchung von Post-Transplantations-Alltagen konzentriert sich auf das Beispiel der Lebertransplantation in Deutschland. Warum die Lebertransplantation? Will man die gemeinsame Produktion von Alltag durch Transplantierte und Transplantationsnachsorge beforschen, führt diese Forschung auch ins Krankenhaus, genauer gesagt in eine chirurgische Klinik. Da in der Medizin sehr genau zwischen verschiedenen Spezialisierungen und Zuständigkeiten für bestimmte Organe oder Körperregionen unterschieden wird, musste ich mich forschungspraktisch für einen chirurgischen Bereich und damit für ein Organ entscheiden. Die öffentliche und nicht-medizinische wissenschaftliche Aufmerksamkeit fokussiert beim Thema Organtransplantation zuallererst auf die Herztransplantation. Aufgrund der symbolischen Bedeutung des Her-

8 | Transplantierte Alltage

zens scheint sein Austausch, im Vergleich zu dem der symbolisch weniger aufgeladenen Niere oder Leber, kulturell mehr zu irritieren und zu faszinieren.6 Die Irritation gründet sich vor allem darauf, dass das Herz hierzulande als Lokus von Identität, Ich und Seele, als Erfahrungsspeicher, Sitz der Gefühle und Organ des Fühlens betrachtet wird. Nicht zuletzt ist es ein Organ, das durch den Herzschlag spürbar ist. Auch die Nierentransplantation ist Gegenstand kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung: zum einen, weil sie die mit Abstand häufigste Transplantationsart ist, zum anderen, weil mit ihr die künstliche Niere oder Dialyse als eine (temporäre) Alternative zur Transplantation verbunden ist. Die Entscheidung, die Lebertransplantation als empirisches Beispiel zu wählen, war somit durch eine Forschungslücke motiviert. Spannend ist die meist lebensrettende, chirurgisch nicht ganz einfache Transplantation dieses zentralen, stumm arbeitenden wie leidenden, zur Eigenregeneration fähigen, künstlich nicht überbrückbaren Organs noch aus einem weiteren Grund. In der Öffentlichkeit wird die Alkohol abbauende Leber am ehesten mit der sprichwörtlichen ›Säuferleber‹ assoziiert. Das Devianz oder vermeintliches Fehlverhalten anzeigende Organ wird häufig als Paradebeispiel für einen Zusammenhang von individueller Verantwortung und Krankheit herangezogen. Mit diesem moralisch aufgeladenen Bild werden Lebertransplantierte unabhängig von der Ursache ihrer Lebererkrankung konfrontiert. Die in der öffentlichen Erzählung häufig vorgenommene, nicht weniger normative Rahmung jeder Transplantation als ›zweite Chance‹ wirkt für sie umso mehr. Doch im Fokus meiner Arbeit stehen nicht diese Bilder oder die kulturelle Bedeutung der Leber. Die Lebertransplantation ist vielmehr das Beispiel, an dem ich erläutere, wie Alltag und Normalität produziert werden. Bevor ich den Herstellungsprozess von Alltag und Normalität nach einer Transplantation anhand meines Materials genauer unter die Lupe nehme, werde ich in Kapitel 2 die zentralen Perspektiven und konzeptionellen Bezugspunkte meiner Arbeit vorstellen. Während ein Teil der Literatur, die mich inspiriert hat und auf der meine Arbeit aufbaut, später im Zusammenhang mit dem jeweiligen empirischen Material diskutiert wird, werde ich hier die theoretischen und methodischen Koordinaten meiner Forschung skizzieren und darlegen, was ich wie untersucht habe. Zuerst werde ich relevantes Hintergrundwissen zum Themenfeld Transplantationsmedizin liefern und dazu in die Geschichte und die Infrastrukturen der Praxis der Organtransplantation sowie in die diesbezüglichen Kontroversen einführen. Danach werde ich meinen Zugriff auf zentrale Begriffe wie Alltag und Normalität, Veralltäglichung und Normalisierung näher bestimmen. Schließlich gehe ich auf mein Forschungsdesign ein,

6 | Die ungleiche kulturelle Bedeutung der drei Organe wird bereits an der unterschiedlichen Zahl von Redewendungen deutlich, in denen sie bildhaften Ausdruck finden.

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auf die Besonderheiten des Forschungsfeldes und die Strategien, die ich verwendet habe, um darin forschen zu können. Mein empirisches Material präsentiere ich in drei Kapiteln, die in ihrer Zusammenschau Post-Transplantations-Alltage hinsichtlich der jeweils unterschiedlichen Thematisierungen und Herstellungsformen von Alltag und Normalität nachzeichnen und analysieren. Kapitel 3 beginnt mit der Entlassung aus dem Krankenhaus nach der Transplantation, bei der Alltag einerseits als etwas diskutiert wird, zu dem Transplantierte zurückkehren, andererseits als etwas, das neu eingeübt werden muss. Das Entlassungsgespräch und die Anschlussheilbehandlung in einer Reha-Klinik beschreibe ich als Schnittstellen zwischen Klinik(en) und Alltag. Die Vielzahl von Regeln zum Umgang mit dem transplantierten Körper, mit denen Transplantierte konfrontiert werden, analysiere ich als Angebote zur Herstellung und Praxisanleitung für Post-Transplantations-Alltage. In Kapitel 4 stehen die medizinischen Praktiken der Transplantationsnachsorge in einer Lebertransplantationsambulanz im Mittelpunkt. Hier werden Körper- und Organfunktionen vermessen, Immunsysteme ausbalanciert und ›transplantierte Normalität‹ am Kreuzungspunkt von Labor und Klinik zwischen medizinischem Personal und Patientinnen hergestellt. Alltag wird dabei vor allem auf den Körper und das Organ bezogen und als etwas thematisiert, das medizinisch überwacht werden muss. In Kapitel 5 geht es schließlich darum, wie Post-Transplantations-Alltage jenseits des Krankenhauses tagtäglich gelebt werden. Einerseits wird die Narration von Alltag beleuchtet, wie sie in biografischen (Post-)Transplantationserzählungen hergestellt wird. In diesem Zusammenhang werde ich darauf eingehen, welche Vorstellungen von Normalität, Gesundheit und Krankheit für meine Gesprächspartnerinnen eine Rolle spielen. Andererseits werde ich zeigen, wie viel Arbeit Post-Transplantations-Alltage erfordern – seitens der Transplantierten, aber auch seitens ihres sozialen Umfeldes. Die Herstellung von Alltag und Normalität nach einer Lebertransplantation ist weder ein Individualprojekt Transplantierter noch ein ohne Spannungen ablaufendes Unterfangen. Im Kapitel 6 werde ich die zentralen Aussagen der Arbeit thematisch bündeln und zusammenfassend diskutieren. Ausgehend von den Besonderheiten, Selbstverständlichkeiten und Produktionen des Weiterlebens nach der Transplantation werde ich erörtern, welchen Stellenwert die Betrachtung von Post-Transplantations-Alltagen für die Kulturanthropologie als Alltagswissenschaft hat.

2 Blickwinkel und Bezugspunkte

2.1 T RANSPLANTATIONSMEDIZIN -G ESCHICHTE ( N ) – KULTURANTHROPOLOGISCH ERZÄHLT Das durch eine Organtransplantation ermöglichte (Weiter-)Leben, das in dieser Arbeit untersucht wird, ist Produkt eines medizinischen Eingriffs, der gleichermaßen Faszination und Irritation hervorruft: Körper werden aufgeschnitten, Organe werden vom Körper separiert, mitunter etliche Kilometer zu ihrem neuen Körper hintransportiert, wo sie dann als Fremdkörper eingesetzt und unter anderem mithilfe von Medikamenten körperlich neu integriert werden müssen. Einerseits demonstriert die Transplantationsmedizin auf spektakuläre Weise die Erfolge der heutigen hochtechnisierten und naturwissenschaftlich orientierten Medizin westlicher Tradition (der so genannten Biomedizin): Ein funktionsuntüchtiges Organ wird ersetzt, wodurch Leben gerettet und verlängert, Tod hingegen aufgeschoben wird. Andererseits lösten der Austausch von Organen und der dabei stattfindende Zugriff auf lebende oder in den meisten Fällen tote Spenderinnen Unbehagen aus, werden doch mit ihm körperliche Grenzen radikal verschoben, soziale Kategorien unterlaufen und kulturelle Vorstellungen herausgefordert. Kulturelle Gewissheiten, wie die Unterscheidung zwischen Leben und Tod, Mensch und Maschine oder Selbst und Nicht-Selbst, werden durch die Möglichkeit der Organtransplantation und insbesondere ihre Voraussetzungen, Hirntod und Organspende, grundlegend infrage gestellt. Die Transplantationsmedizin wirft daher, wie andere neuere Entwicklungen der Medizin, vielfältige moralische, soziale und kulturelle Fragen auf (vgl. Franklin/Lock 2003; Sperling 2003). Deshalb steht sie immer wieder im Fokus öffentlicher Auseinandersetzungen und wird von einem breiten Spektrum wissenschaftlicher Diszipli-

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nen jenseits der Medizin diskutiert – darunter Philosophie, Rechts-, Politik- und Geschichtswissenschaft, Psychologie, Soziologie und Ethnologie. Öffentliche wie wissenschaftliche Debatten verdeutlichen das gesellschaftliche Ringen um (angemessene) Umgangsweisen mit einer umstrittenen medizinischen Technik und der kontroversen Frage, unter welchen Umständen der gesellschaftliche Zugriff auf individuelle Körper erfolgen und menschliches Körpermaterial therapeutisch genutzt werden darf. Die sozial- und kulturanthropologische Forschung interessierte in diesem Zusammenhang zunächst, wie mit den mit der Transplantationsmedizin einhergehenden Herausforderungen und neuen Verständnissen von Körper, Leben und Tod individuell und sozial sowie in verschiedenen lokalen Kontexten umgegangen wird. Dabei richtete sich ihr Blick darauf, welche Konsequenzen die Praxis der Organtransplantation und Organspende für die betroffenen Individuen im Alltag, aber auch für die Beziehung zwischen ihnen und der Gesellschaft hat. Vor dem Hintergrund meiner Erforschung der Organtransplantation als einer Alltag und Normalität herstellenden Behandlungsmethode interessierten mich bei der Lektüre der vielfältigen nichtmedizinischen Forschungsliteratur zur Organtransplantation vor allem die Grundlagen und Vorbedingungen des von der Transplantationsmedizin ermöglichten so genannten neuen oder zweiten Lebens. Daher werde ich, um thematisch einzuführen, einige Schlaglichter auf die Transplantationsmedizin, ihre Voraussetzungen, Praktiken und Infrastrukturen werfen. Dabei werde ich mich überwiegend auf ethnografische kultur- und sozialanthropologische Arbeiten zur Praxis der Organtransplantation beziehen und die darin diskutierten Problemfelder einem Glossar ähnlich bündeln und in Form verschiedener Transplantationsmedizin-Geschichten erzählen. Legendäre Träume Während meiner Forschung stieß ich, neben Verweisen auf die historischen Meilensteine der Transplantationsmedizin im 20. Jahrhundert, auch auf alte Legenden wie das Beinwunder von Kosmas und Damian.1 Dieses wurde als Wunderbericht in der

1 | Der Überlieferung zufolge waren die im 3. Jahrhundert lebenden syrisch-christlichen Zwillingsbrüder, denen in Europa etliche Kirchen geweiht wurden und die bis heute als christliche Märtyrer, Heilige und Schutzpatrone verehrt werden, als wundertätige Ärzte bekannt, die Kranke unentgeltlich heilten. Im Mittelalter wurden medizinische Fakultäten wie auch die Zünfte von Barbieren und Chirurgen ihrem Schutz unterstellt (Wittmann 1967). Auch für die heutige Zeit stellte sie mir ein Chirurg als Schutzpatrone der Ärzteschaft generell, insbesondere aber der Transplantationschirurgie dar. Ein anderer Chirurg erwähnte die Legende von Kosmas und

2 Blickwinkel und Bezugspunkte | 13

populären Legenda aurea des 13. Jahrhunderts festgehalten, im Mittelalter etliche Male bildlich dargestellt und wird heute gern als »erste Transplantation« erzählt (vgl. Bröer 26.9.2003): In einer den zwei Heiligen geweihten römischen Kirche arbeitete ein Kirchendiener weißer Hautfarbe, dessen Bein durch ein Krebsgeschwür zerstört war. Ihm erschienen Kosmas und Damian im Traum und behandelten ihn erfolgreich. Um das kranke Bein zu ersetzen, nahmen sie das Bein eines an dem Tag verstorbenen und begrabenen schwarzen Äthiopiers, setzten es dem Mann an und legten dessen abgeschnittenes weißes Bein in das Grab. Traum und Heilung des am nächsten Morgen von seinen Schmerzen befreiten Mannes wurden nach der Öffnung des Grabes bestätigt (Bönisch-Brednich 1986: 312).

An der Legende und insbesondere ihren bildlichen Darstellungen2 fasziniert die Verbindung zwischen religiösem Wunder und geschilderter medizinischer Praxis: Behandlung und Heilung im Traum, zwei Ärzte mit Heiligenschein, Austausch eines weißen Beins durch ein schwarzes, bei der Operation assistierende Engel etc. Auch typische Motive der durch die Transplantationsmedizin hervorgerufenen Irritationen tauchen auf: verschobene Körpergrenzen zwischen totem Spender und geheiltem Empfänger sowie ein soziale Kategorien berührender Organaustausch, wie er Jahrhunderte später dann wieder Aufsehen erregte, als nach der ersten Herztransplantation 1967 auch noch eine Niere derselben weißen Spenderin verpflanzt wurde. Im Gegensatz zum Herz ging die Niere jedoch an einen im damaligen Apartheidregime Südafrikas als ›farbig‹ klassifizierten Empfänger.3 Aus der Perspektive heutiger medizinisch-chirurgischer Taten werden Kosmas und Damian offenbar deshalb

Damian als Inspiration während seines Studiums, als ich ihn fragte, wie er zur Transplantationsmedizin gekommen sei. 2 | Zwei bekannte Beispiele sind ein Altarbild aus Ditzingen (16. Jh.), Landesmuseum Württemberg Stuttgart, online unter http://www.freebase.com/wikipedia/images/ commons_id/589748 (letzter Zugriff: 15.8.13), und ein Ölgemälde aus der Kathedrale von Burgos, Spanien (15. Jh.), Wellcome Library London, online unter http://www. sarahbakewell.com/Exhibitions.html (letzter Zugriff: 15.8.13). 3 | Gerade bei den ersten in Südafrika stattfindenden Herztransplantationen war der Austausch von Organen zwischen Personen unterschiedlicher Hautfarbe ein Thema (vgl. Obrecht 2003: 54). Dass soziale Kategorien für immunologische Differenzierungen von ›eigen‹ und ›fremd‹ irrelevant sind, ist zwar heute ein Gemeinplatz, trotzdem waren mit dem Transplantationsbereich nicht vertraute Personen in Alltagsgesprächen zu meiner Forschung oft irritiert, dass z. B. die Kategorie Geschlecht für die Transplantationschirurgie keine Rolle spielt, also Männer durchaus Organe von Frauen erhalten und umgekehrt.

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so gerne in die Transplantationsgeschichte eingereiht, weil ihre Wundertat für einen Traum steht, dem das Versprechen der Transplantationschirurgie nahezukommen scheint – einen Traum, der im Nachrichtenmagazin Der Spiegel in Reaktion auf die erwähnte erste Herztransplantation unter Überschriften wie »Tod überlebt« und »Ersatzteile für den Menschen« zusammengefasst wurde (Spiegel 15.1.1968). Der deutsche Medizinhistoriker Thomas Schlich zeigt jedoch, dass die Organtransplantation keineswegs ein alter Traum der Menschheit ist, sondern zwischen 1880 und 1930 erfunden, dann als undurchführbar aufgegeben und schließlich nach 1945 neubegründet wurde (Schlich 1998: 7-22). Ihm zufolge lassen historisierende Indienstnahmen früherer »Transplantations-Helden« – seien es Heilige, mythische Figuren oder reale Personen – die gegenwärtige Transplantationschirurgie als Ergebnis einer linearen Entwicklungsgeschichte erscheinen (Schlich 1995: 325) und nicht als etwas, das »zu einer bestimmten Zeit, unter bestimmten Bedingungen des Wissens, der Technik und der Gesellschaft« geschaffen wurde (Schlich 1998: 339). Am Beispiel der ersten Schilddrüsen-Transplantation 1883 verdeutlicht er, dass das Prinzip des Organ-Ersatzes erst mit der Vorstellung einer Krankheitsursache, die Krankheit allein mit dem Versagen eines Organs begründete (statt z. B. mit Umweltbedingungen und Lebensverhältnissen), Sinn ergab: Die Idee und die Praxis, einen Mensch durch den Ersatz eines inneren Körperteils gesund zu machen, wurden also erst Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt und beruhen auf dem spezifischen Körper- und Krankheitsbild, das sich in dieser Zeit herausbildete (ebd.: 340ff.). Entpersonalisierte Körper(-bilder) Die Auswirkungen der Transplantationsmedizin auf individuelle wie kollektive Körpervorstellungen und Selbstrepräsentationen sind ein häufiges Thema in der sozialund kulturwissenschaftlichen Forschungsliteratur. Darin wurde das der Transplantationsmedizin zugrunde liegende, zwischen Person und Körper trennende Körperbild als das eines mechanischen, parzellierten Körpers analysiert, der aus austauschbaren »Ersatzteilen« bestehe (Fox/Swazey 1992; Joralemon 1995). Dieses, wie kulturanthropologische Untersuchungen betonen, spezifisch euro-amerikanische Körperverständnis beruht auf der kartesianischen Körper-Geist-Trennung und präsentiert ein Grundprinzip westlicher, naturwissenschaftlich orientierter Medizin (ScheperHughes/Lock 1987; Ohnuki-Tierny 1994). Es findet sich auch in zeitgenössischen Ideen, in denen der Körper, zumindest teilweise, als Maschine imaginiert wird (Featherstone/Turner 1995; Helman 2001). Auch darüber hinausgehend ist der Körper als »primary action zone« moderner Medizin (Scheper-Hughes 1994: 229) ein prominenter Gegenstand in der kulturanthropologischen Problematisierung der Trans-

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plantationsmedizin, überschreitet diese doch die physischen Grenzen des im euroamerikanischen Kontext als autonom und singulär verkörpert gedachten Individuums (Strathern 1997). Das heißt, sie transformiert nicht allein materielle Körper, sondern auch die darin verkörperte Person und ihre sozialen Beziehungen, betrifft also Körper gleichzeitig als Subjekt und Objekt. Die Konsequenzen und Diskrepanzen dieser »Aufteilung zwischen dem LeiblichLebendigen-Subjektivierbaren und dem Körperlich-Abtrennbaren-Objektivierbaren« (Hauser-Schäublin u. a. 2001: 134) verfolgen die deutschen Ethnologinnen Brigitte Hauser-Schäublin, Vera Kalitzkus, Imme Petersen und Iris Schröder indem sie Akteurinnen der Transplantations- und Reproduktionsmedizin beobachten. Dabei orientieren sie sich am phänomenologisch geprägten Leibkonzept4 und stellen dem Körper als Gegenstand medizinischer Intervention und Produkt wissenschaftlicher Objektivierungsmethoden den Leib als subjektives Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Empfindungsorgan gegenüber: Sie zeigen einerseits, dass diejenigen, die eine fragmentierte Sicht auf den Körper akzeptieren und Körperteile als entpersonalisierte, von menschlicher Individualität losgelöste Objekte auffassen, Körper-Leib-Eingriffe wie die Organtransplantation besser bewältigen, verweisen andererseits aber auf alternative Sichtweisen sowie Grenzen und Widersprüche der Entpersonalisierung und Entleiblichung von Körpern, konkreter die Schwierigkeiten verschiedener Akteurinnen – seien es Organempfängerinnen oder Angehörige von Organspenderinnen subjektive Körperwahrnehmung und -erfahrung mit einer verdinglichten Sicht auf den Körper in Einklang zu bringen (Hauser-Schäublin u. a. 2001: 78-175; Kalitzkus 2003). Insgesamt verdeutlichen die Forscherinnen in ihren Studien, dass Körper(-teile) nicht nur materielle, sondern auch kulturelle Objekte sind: Sie werden mit unterschiedlichsten Bedeutungen versehen und ihre Nutzung – z. B. durch die Transplantationsmedizin – unterliegt spezifischen Vorstellungen, Normen, Praktiken und Politiken. Chirurgische Techniken, interdisziplinäre Partnerschaften und Immunologie Feldforschungsnotizen Reha-Klinik, Juni 2009: Für transplantierte Patientinnen steht während ihres Aufenthaltes auch ein Vortrag zur Geschichte der Transplantationsmedizin auf dem Programm. Auch hier der Verweis auf die Legende von Kosmas und Damian, doch der vortragende Arzt beginnt sogar noch früher: mit der Legende einer Herztransplantation des chine-

4 | Zentral ist hier der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty (1974), der Husserls Phänomenologie und Begriffe wie Leib kritisch weiterführte und konkretisierte.

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sischen Arztes Bian Que (500 v. u. Z.). Dann der Verweis auf den indischen Arzt Sushruta (6. Jh. v. u. Z.), der zur Wiederherstellung von Ohren und Nasen Hautgewebe verpflanzte und dessen Techniken der Gewebe-Rekonstruktion dann im 17. Jh. vom italienischen Arzt Gaspare Tagliacozzi fortgeführt wurden. Im Mittelpunkt des Vortrags des passionierten Chirurgen standen jedoch weniger altertümliche Legenden als die Väter chirurgischer Techniken, ohne die Transplantationsmedizin nicht denk- bzw. machbar gewesen wäre: z. B. der französische Arzt Alexis Carell, der 1902 eine Methode entwickelte, Gefäßwände zu verbinden.

Zum einen erinnerte der Vortrag an Beispiele chirurgischer Geschichtsschreibung und Problemdefinition, die Schlich (1995), wie oben erwähnt, hinsichtlich ihrer historisierenden, objektivierenden und stabilisierenden Mittel und Effekte analysiert hat. Zum anderen präsentierte er Transplantationsmedizin als interdisziplinäres Kollektivprojekt präsentiert, für das nicht allein chirurgische, sondern verschiedene medizinische Beiträge um 1900 relevant waren: die Entdeckung der Blutgruppen, Entwicklungen in den Bereichen der Antisepsis und der Narkose oder die frühen immunologischen Forschungen von Louis Pasteur und Robert Koch, die zu einem besseren Verständnis des Immunsystems führten. Gerade die Fortschritte in Immunologie und Transplantationsmedizin waren und sind bis heute eng miteinander verzahnt. Dass die experimentellen Organtransplantationen Anfang des 20. Jahrhunderts aufgrund einer immunologischen Abstoßungsreaktion – der so genannten Immunantwort – scheiterten, wurde zwar erahnt, konnte aber erst mithilfe der modernen Immunologie erklärt werden, insbesondere mit der Entdeckung des HLA-Systems (humanes Leukozytenantigen-System) 1958, das für die Fähigkeit des Immunsystems, zwischen eigenem und fremdem Gewebe zu unterscheiden, verantwortlich ist. 1954 gelang die Transplantation einer Niere zwischen eineiigen Zwillingen. In den 1960ern wurden dann die ersten als erfolgreich bezeichneten Transplantationen von Leber, Lunge, Herz und Bauchspeicheldrüse gemeldet. Die Organempfängerinnen überlebten jedoch nur kurze Zeit: Die Überlebensraten lagen beispielsweise bei den 1970 weltweit 109 durchgeführten Lebertransplantationen nach einem Jahr bei 8,2% und nach zwei Jahren bei 2,2% (Starzl 1982), Ende der 1970er überlebten immerhin 30% das erste Jahr (Starzl 1981). Trotz verschiedener Versuche, die unerwünschte Immunantwort zu verhindern – durch Medikamente (Immunsuppressiva) einerseits, das Aufeinanderabstimmen der Gewebeeigenschaften von Spenderinnenorgan und Empfängerinnenkörper andererseits5 –, blieb das

5 | Um den Pool von Spenderinnen zu vergrößern und damit die Chance zueinander passender Spenderinnen und Empfängerinnen in mehreren europäischen Ländern zu erhöhen, wurde 1967

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Immunsystem die zentrale Barriere der Transplantationschirurgie und ihres Therapieerfolgs. Dies änderte sich erst mit der Entwicklung und Einführung von Ciclosporin Anfang der 1980er Jahre, das gezielter als vorherige Immunsuppressiva wirkte und die Überlebenszeiten schlagartig verbesserte: Bei der Lebertransplantation stieg die 1Jahr-Überlebensrate auf 60-70%, woraufhin der Eingriff als gängiges Verfahren zur Behandlung von schwerem Leberversagen etabliert wurde (Consensus Conference 1984). Seitdem wurden chirurgische Transplantationstechniken weiterentwickelt und standardisiert, Maßnahmen der Betreuung von Patientinnen und des Managements ihrer Körper(-zustände) vor, während und nach der Operation verbessert, Fortschritte in der Organkonservierung erzielt sowie weitere Immunsuppressiva erprobt. Auch wenn Transplantationsmedizin und Immunologie bisher viel voneinander gelernt haben, sind ein besseres Verständnis immunologischer Vorgänge sowie die Entwicklung einer (noch) genaueren Immunsuppression mit geringeren Nebenwirkungen nach wie vor Gegenstand klinischer Forschung und gelten als zentrale Herausforderungen der Behandlungsform Organtransplantation. Was im Vortrag des Reha-Klinik-Arztes zu den Voraussetzungen der Transplantationsmedizin nicht auftauchte, ist die offizielle Definition des Hirntods als Kriterium für den Tod eines Menschen. Dabei hätte die Transplantationsmedizin ohne die juristische Anerkennung dieser medizinischen Neudefinition des Todes nicht routinisiert werden können (Lock 2002: 74). Hirntod-Konzept und lebende Leichen Mit den ersten Erfolgen der Transplantationschirurgie stellte sich in den 1950/60ern zunehmend die Frage, woher die zu transplantierenden Organe kommen sollten, ist doch die Therapie der Organtransplantation auf Organ-gebende Menschen angewiesen. Eine Niere oder Leberhälfte kann zwar heute von lebenden Personen zur Verfügung gestellt werden, der Großteil transplantierter Organe wird jedoch hirntoten Menschen entnommen und deshalb als postmortale Organspende bezeichnet.6 Die

Eurotransplant gegründet. Die in Leiden (Niederlande) ansässige Organisation ist auch heute für die Organvermittlung zuständig (siehe S. 21). 6 | Im deutschen Transplantationsgesetz wird der postmortalen Organspende gegenüber der Lebendspende der Vorrang gegeben (§ 8 TPG). Die Lebendspende von Nieren oder Leberteilen gilt im Einzelfall als vertretbare Alternative und nimmt zu. Bei der Nierentransplantation lag der Anteil der Lebendspenden in Deutschland 2010 bei 22,6%, bei der Lebertransplantation bei 7% (Jahresbericht der DSO 2010).

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Suche nach potentiellen Organspenderinnen fiel in eine Zeit, in der die damals recht neue Intensivmedizin mit ihren Mitteln der künstlichen Beatmung und technischen Herz-Kreislauf-Überbrückung so manchen Menschen am Leben halten konnte, aber auch die Grenze zwischen Leben und Tod verwischte, indem sie bisweilen »living cadavers« (Lock 2004) produzierte. Diese irreversibel bewusstlosen Körper, die nur mit technischer Assistenz atmeten und existierten, sich am Übergang zwischen Leben und Tod befanden und Fragen danach aufwarfen, wann ein Behandlungsabbruch legitim sei, waren es, die die Transplantationschirurgie interessierten und Kommissionen wie das Ad-hoc-Komitee der Harvard-Universität zur Untersuchung der Definition des Todes beschäftigten. Die 1968 von ihm veröffentlichte Stellungnahme, in der es den irreversiblen Verlust der kompletten Gehirnfunktion als sicheres Todeszeichen bestimmt (Committee 1968), gilt als die berühmteste Erklärung zum Hirntod. Konzept, Symptome und diagnostische Kriterien des Hirntods wurden in dieser Zeit unter Medizinerinnen verschiedener Bereiche (Neurologie genauso wie Transplantationschirurgie) bereits länger diskutiert (Giacomini 1997: 1466f.).7 Der Tod war kein selbsterklärendes Phänomen: In der Erarbeitung von Tests und Kriterien, mit denen der Hirntod als technischer Fakt gemessen und definiert werden konnte, wurde nicht nur ein neuer Tod klinisch und sozial konstruiert, sondern wurden auch hirntote Körper erst als solche beschrieben (ebd.: 1478f.). Zuvor war der Tod, den auch weiterhin die meisten Menschen sterben, medizinisch und juristisch mit dem Herzstillstand definiert. Diesem ›traditionellen‹ Konzept vom Tod wurde nun der nur auf einer Intensivstation feststellbare Hirntod oder Tod durch Hirnversagen zur Seite gestellt. Richtlinien zur Hirntod-Diagnostik wurden schließlich in den 1980ern festgelegt, z. B. in Deutschland 1982 durch den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer, und später mehrmals aktualisiert (BÄK 1998b). Nach einem festen Protokoll muss der Hirntod von zwei qualifizierten Ärztinnen, die nicht in Organentnahme und -transplantation involviert sind, diagnostiziert und im Abstand von 24 bzw. 72 Stunden erneut bestätigt werden. Seit seiner Einführung ist das Hirntod-Konzept immer wieder Gegenstand von Diskussionen. In Deutschland wurde es insbesondere im Vorfeld der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes (TPG) 1997 verhandelt (für einen diskursanalytischen Überblick siehe Schneider 1999). Die stark polarisierte Debatte zwischen Positionen, die das Hirntod-Konzept entweder befürworten oder kritisieren und ablehnen, wurde zwar auf medizinisch-juristischer Ebene entschie-

7 | Zum Beispiel veröffentlichte die Kommission für Reanimation und Organtransplantation der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie ebenfalls 1968 Standards zur Hirntoddiagnostik, welche die Diskussion in Deutschland bestimmten (Wiesemann 2006: 91f.).

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den, allerdings nicht unbedingt abgeschlossen. 40 Jahre nach den Empfehlungen des Harvard-Komitees lieferte etwa ein Weißbuch des US-amerikanischen Bioethikrates erneuten Diskussionsstoff, da in diesem zwar die biologisch-neurologischen Kriterien des Hirntods infrage gestellt und der Begriff Hirntod problematisiert, aber an der mit »total brain failure« bezeichneten Diagnose eines klinischen Zustandes als Voraussetzung für die postmortale Organspende festgehalten wurde (President’s Council 2008; Müller 2010). Auch wenn der professionelle und gesellschaftliche Konsens zum Hirntod-Konzept, dessen Fundierung, Aussagekraft und Bedeutung, je nach Position und Kontext, mal stabiler, mal fragiler erscheint, gilt die Hirntodfeststellung als unerlässliche Voraussetzung jeder postmortalen Organentnahme (§ 3 TPG): Organspenderinnen müssen als hirntot diagnostiziert werden, bevor ihren technisch am Leben gehaltenen Körpern Organe entnommen werden dürfen – »while the organ can ›live on‹, as described in transplant rhetoric, the person must die« (Hogle 1999: 160).8 Historische Studien verdeutlichen, dass die Definition und Bestimmung des Todes nicht erst mit dem Hirntod problematisiert wurde, sondern technisch wie kulturell immer wieder neuer Verhandlungen und Bestätigungen bedurfte (vgl. Pernick 1988; Schlich/Wiesemann 2001). Die von der Transplantationsmedizin und dem Hirntod-Konzept provozierten Kontroversen um die Grenze zwischen Leben und Tod lassen sich daher als Ausdruck gesellschaftlicher Deutungskämpfe verstehen (Schneider/Manzei 2006: 9f.). Während Thomas Schlich die Hirntod-Debatte aufgrund der häufig genutzten historischen statt ethischen Argumente auch als »Streit um die Vergangenheit« und damit um verschiedene Geschichtsversionen darstellt (Schlich 1999), verweisen kulturanthropologische Studien auf die kulturellen Implikationen von Hirntod und Organspende. In diesem Zusammenhang sind gerade kulturvergleichende Untersuchungen interessant, z. B. die Forschungen von Emiko Ohnuki-Thierny und Margaret Lock in Japan und Nordamerika: Ohnuki-Thierny kontextualisiert die Ablehnung von Hirntod und Organspende in Japan und kritisiert die mit der Transplantationsmedizin verknüpften westlichen Annahmen, Rationalitäten und Moralitäten, z. B. die Lokalisierung des Selbst im Gehirn oder die rhetorische Verpackung der Organspende als einem altruistischen Geschenk (Ohnuki-Tierny 1994). Lock nimmt die lokal (nicht) geführten Hirntod-Debatten in Japan und Nordamerika als Ausgangspunkt, um zu untersuchen, wie die Neudefinition des Todes innerhalb der Medizin verhandelt wird und unterschiedliche Gesellschaften mit der

8 | Inzwischen werden in etlichen Ländern (z. B. der Schweiz, Österreich, Belgien, den Niederlanden und den USA) unter bestimmten Umständen auch so genannte Non-Heart-BeatingDonors (›Herztote‹) zur Organspende herangezogen (BÄK 1998a; Siegmund-Schultze/ZylkaMenhorn 2008).

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Ambivalenz hirntoter Person-Körper-Hybride umgehen (Lock 2002). In Japan wird zwar die Organentnahme von Hirntoten akzeptiert, Hirntod jedoch nicht generell als Tod anerkannt, sondern nur, wenn der Organentnahme (insbesondere seitens der Familie des hirntoten Menschen) zugestimmt wird, was sehr selten der Fall ist. Der nordamerikanischen Hirntod-Konzeption »bodies outlive persons« wird so die japanische Konzeption »persons linger in bodies« gegenübergestellt (ebd.: 235-314). Solche vergleichenden Arbeiten hinterfragen die Einheitlichkeit der Biomedizin, die Neutralität ihrer Anwendung in verschiedenen kulturellen Kontexten und die Art und Weise, wie in der Transplantationsmedizin Leben und Sterben definiert werden. Transplantationsmedizin-Geschichte wird durch die Erweiterung der Blickrichtungen pluralisiert. Doch der Blick muss nicht in die Ferne schweifen, um durch hirntote Körper und/oder Organtransplantationen ausgelöste kulturelle Verunsicherungen aufzuspüren. Körper(-teile), die länger leben als Menschen, und die lebendigen Körper hirntoter Personen irritieren nicht nur Angehörige von potentiellen Organspenderinnen (vgl. Kalitzkus 2003: 108-149), sondern können auch beim klinischen Personal ambivalente Gefühle und Reaktionen hervorrufen. So stößt Lock bei nordamerikanischen Intensivmedizinerinnen trotz Anerkennung des Hirntodes und seiner Irreversibilität auf »doubts among certainty« (Lock 2002: 246-249). Die deutsche Soziologin Gesa Lindemann, die Intensivmedizinerinnen bei der Durchführung des Hirntodprotokolls begleitete, verweist auf das darin eingeschriebene Paradox, einerseits den Sterbeprozess zu protokollieren, andererseits einen Todeszeitpunkt festzulegen (Lindemann 2001). Den technischen wie sozialen Prozess, in dem aus Patientinnen hirntote Organspenderinnen, Körper und schließlich Organtransplantate werden, beschreibt die US-amerikanische Kulturanthropologin Linda Hogle in ihrer Ethnografie zur Organentnahme-Praxis in Deutschland (Hogle 1999). Darin verfolgt sie, zum Teil Forschungsmaterial aus den USA und Deutschland kontrastierend, die Praktiken und Strategien, mit denen sterbende Körper in »therapeutic tools« (ebd.: 4) umgewandelt werden. Indem nicht mehr auf den Menschen, sondern auf seinen Körper als Objekt und Behälter von Organen fokussiert wird, werden Person und Körper separiert und Organe entpersonalisiert (ebd.: 140-160). Trotzdem zeigen Studien wie die von Hogle, dass aufgrund des uneindeutigen Status von Organtransplantaten – die gleichzeitig Objekte (Organe) und Subjekte (Spenderinnen), das Leben des einen und den Tod des anderen symbolisieren sowie Empfängerinnen an den eigenen (noch mal verschobenen) Tod wie den ihrer Organspenderinnen erinnern – eine klare Unterscheidung zwischen Körper und Person für die beteiligten Akteurinnen schwierig bleibt. Jenseits standardisierter Hirntod-Protokolle und routinisierter Organentnahmeprozeduren werden so die praktischen Anstrengungen und die spezifischen kulturellen Me-

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chanismen deutlich, auf denen die Gewinnung oder Herstellung von Organtransplantaten basiert. Verteilte Knappheiten Ebenso komplex wie die Infrastrukturen der Organgewinnung ist das Beziehungsgefüge der Institutionen, Prozeduren und Kriterien, die regeln, wie die verfügbaren Organe verteilt werden. Die Vermittlung und Zuteilung postmortal gespendeter Organe wird in den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Österreich, Deutschland, Kroatien und Slowenien durch Eurotransplant (ET) koordiniert. Das heißt, Organspenderinnen (Spenderinnenorgane) und Wartelistenpatientinnen dieser sieben Länder werden ET gemeldet, dort gemeinsam verwaltet und einander zugeordnet. Dazu werden Organprofile, z. B. hinsichtlich Blutgruppenkompatibilität, verglichen und passende Spenderin-Empfängerin-Konstellationen ermittelt. Während bei der Nierentransplantation die Übereinstimmung zentraler Gewebemerkmale (HL-Antigene) eine Rolle spielt, ist bei der Lebertransplantation wichtig, dass Spenderinnen und Empfängerinnen ein ähnliches Körpergewicht haben. Weitere, je nach Organ unterschiedlich gewichtete Faktoren sind die Einstufung medizinischer Dringlichkeit, die Wartelistenzeit und die Ischämiezeit, also die Zeit, die ein Organ vom Blutkreislauf entkoppelt sein kann, ohne dass aufgrund der fehlenden Durchblutung und Sauerstoffversorgung Gewebeschäden auftreten. Die schließlich erstellte Rangfolge listet dann für ein spezifisches Spenderinnenorgan die am besten passenden Empfängerinnen auf. Kurz, eine Warteliste im Sinne einer feststehenden Reihenfolge gibt es nicht. Stattdessen gibt es digitale Datensätze und organspezifische Verteilungsalgorithmen. Angesichts der Organknappheit, das heißt eines das Organangebot übersteigenden Bedarfs, sind die in die komplexe Rechenoperation einfließenden Parameter sowie deren Definition und Gewichtung untereinander eine sensible Angelegenheit: Ein Algorithmus stellt zwar eine geregelte Prozedur im Umgang mit einem spezifischen Problem zur Verfügung, hier die Verteilung von Organen, löst aber keine Gerechtigkeitsprobleme. Wie es ein Mitarbeiter des Transplantationsbüros des von mir untersuchten Zentrums ausdrückte: »So lange wir einen Mangel verwalten, gibt es immer einen Leidtragenden. Je nach Verteilungssystem werden immer bestimmte Gruppen benachteiligt. Es gibt kein zu 100% gerechtes System«. Wer ein Organ erhält oder überhaupt auf die Warteliste kommt und somit Zugang zum Auswahlverfahren erhält, ist daher keine allein von der Transplantationsmedizin zu lösende Frage. Das deutsche Transplantationsgesetz gibt vor, dass die Organvergabe nach Regeln, die dem neuesten Stand medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse entsprechen, und vor allem nach den Prinzipien Dringlichkeit und Erfolgsaussicht erfolgen

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soll (§ 12 Abs. 3 TPG). Diese Regeln werden durch organspezifische Richtlinien der Bundesärztekammer definiert (BÄK 2011, 2012). Insbesondere aus verfassungsrechtlicher und ethischer Perspektive wird jedoch kritisiert, dass Gesetz und Richtlinien den Eindruck erwecken, dass es neutrale, rein medizinische Kriterien gebe (vgl. Klinkhammer/Siegmund-Schultze 2008; Schmidt 2002; Hauser-Schäublin u. a. 2001: 57ff.). Diese Kritik betrifft nicht nur das auf psycho-sozialen Einschätzungen beruhende Kriterium der späteren Therapietreue. Auch Kriterien wie die Dringlichkeit und Erfolgsaussicht einer Transplantation sind schwer abschätzbar, hinsichtlich ihres Verhältnisses nicht bestimmt und stehen im transplantationsmedizinischen Bereich häufig konträr zueinander. Bei der Leber-Vergabe ist seit Dezember 2006 die Dringlichkeit einer Transplantation entscheidend, zu ihrer Einschätzung wird der den Schweregrad einer Lebererkrankung angebende MELD-Score (Model for End-stage Liver Disease) herangezogen (BÄK 2006). Die Wartezeit spielt nur im direkten Vergleich von Patientinnen mit identischer Dringlichkeitsstufe (MELD-Score), identischer Blutgruppe, ähnlichem Körpergewicht etc. eine Rolle. Die Umstellung des Systems führte zwar zu einer Abnahme der Mortalität auf der Warteliste, gleichzeitig jedoch zu einer Verschlechterung der Transplantationsergebnisse, konkret der 1-JahresÜberlebensraten (Schlitt 2011: 33). Insgesamt seien »die Verhältnisse schwieriger geworden«, berichtete die Leiterin der untersuchten Transplantationsambulanz: Während sich vor 20 Jahren »wenige Transplantationszentren sehr gute Organe [für wenige Patientinnen] teilen konnten«, gebe es heute »mehr Transplantationen, mehr Transplantationszentren und viel mehr Patientinnen auf der Warteliste«. Zudem habe sich »die Spenderpopulation verändert, insofern, dass früher viele Spender eher junge Unfallopfer [waren]«.9 Generell wurden die Spenderinnen- und Organkriterien im Kontext von Organknappheit ausgeweitet. Von einigen älteren Chirurgen hörte ich dazu Sätze wie: »Heute transplantieren wir Organe, die wir früher nicht in die Hand genommen hätten.« Seit Juni 2004 müssen Wartelistenpatientinnen eine Einwilligungserklärung zur Akzeptanz ›marginaler‹ bzw. ›schwer vermittelbarer‹ Organe unterschreiben. Als schwer vermittelbar gelten Organe, die z. B. einen höheren Verfettungsgrad (Leber) oder gewisse Schädigungen aufweisen (lebensrettende Maßnahmen sind selten

9 | Bei postmortalen Organspenden der Leber ist das statistische Median-Alter in den letzten 20 Jahren kontinuierlich gestiegen: 1990 lag es bei 26 Jahren (höchstens 50% waren jünger/älter), 2009 hingegen bei 53 Jahren (Eurotransplant 2012: 33). Dass das weit verbreitete Bild des jungen Motorradfahrers als Organspender bzw. des Autounfallopfers als typischem Hirntoten kaum mehr zutrifft, gilt ebenso als Ergebnis intensiv- und unfallmedizinischer Entwicklungen wie von Sicherheitsvorschriften im Straßenverkehr.

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Organ-schonend), oder Organe, die bereits für mehrere spezifische Empfängerinnen von deren Transplantationszentren als unpassend abgelehnt wurden.10 Auf ein Organ wartende Patientinnen sollen hier entscheiden, ob sie ein Transplantat mit eingeschränkter (nicht weiter definierter) Funktion akzeptieren würden, wobei sie mit einem Ja diese Entscheidung ihren Transplantationschirurginnen überlassen. Hier wird Mitsprache und Wahlmöglichkeit in einem Prozess suggeriert, in dem Patientinnen ansonsten nicht beteiligt sind und sich ohnehin auf die Entscheidungen ihrer Ärztinnen verlassen müssen: Welche Patientin welche Leberqualität benötigt oder verkraftet, lässt sich nur schwer anhand von professionellen Standards beantworten: Unabhängig davon, ob es sich um eine ›Bilderbuch-Leber‹ oder ein schwer vermittelbares Organ handelt, wird die Passfähigkeit von den transplantierenden Ärztinnen situativ, im Hinblick auf konkrete Patientinnen beurteilt. Neben der zunehmenden Konkurrenz unter Wartelistenpatientinnen aufgrund der Organknappheit und des weniger restriktiv gehandhabten Wartelistenzugangs (vgl. Schmidt 1996, 2002) weisen die oben zitierten Aussagen der Leiterin der Transplantationsambulanz auf die Konkurrenz zwischen Transplantationszentren hin: Organtransplantationen bringen einer Klinik hohe Fallkostenpauschalen ein. Sie sind deshalb ökonomisch für die Kliniken wichtig und oft im Jahresbudget eingeplant (vgl. Schlitt 2011: 36).11 Auf der Ebene von Eurotransplant zeigt sich diese Konkurrenz in Faktoren, die auf ausgeglichenere Austauschbilanzen zwischen einzelnen ET-Ländern zielen (gerade Deutschland stand hier als starker Organ-Importeur in der Kritik), oder daran, dass die Ischämiezeit als Kriterium herangezogen wird, um einen zentrumsorientierten Regionalbonus zu rechtfertigen (Schmidt 2002: 259ff., 263). Auch ohne hier alle Details und Zwickmühlen der Organvergabepraxis zu berücksichtigen, lässt sich erkennen, dass es bei den von Eurotransplant genutzten Verteilungsalgorithmen nicht allein um medizinische Kriterien und mathematische Rechenoperationen geht. Vielmehr sind auch die Prinzipien und Vorschriften internationaler Protokolle, nationaler Transplantationsgesetze, professioneller Richtlinien und loka-

10 | Um Organe trotz fortgeschrittener Ischämiezeit zu vermitteln, wandelt Eurotransplant das Organ in ein so genanntes Zentrumsangebot um. Diese Abweichung von der üblichen patientenbasierten Zuteilung ist einerseits weniger transparent, da das Organ innerhalb des jeweiligen Zentrums zugeteilt wird. Andererseits kann so ein Organ, das für bestimmte Patientinnen die ›falsche Wahl‹ darstellen würde, für andere genutzt werden. 11 | Das damit verbundene Prestige wurde in Bemerkungen deutlich, in denen die Transplantationsmedizin mir gegenüber als »Kronjuwel« (Chirurg) oder »Mercedes« (Allgemeinmediziner) der Medizin bezeichnet wurde. Transplantierte seien »wertvoll«, für das Klinikbudget wie für die Forschung.

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ler Praktiken von (mit) entscheidender Bedeutung bei der Verteilung der Organe. Mit Blick auf die einfließenden normativen Wertungen und diplomatischen Übereinkünfte stellen die Algorithmen in erster Linie einen politischen Kompromiss dar. Transplantationsmedizingeschichte ist in diesem Sinne auch eine Verteilungsgeschichte, genauer gesagt eine unabgeschlossene Dokumentation der Grenzen, Politiken und Dilemmata der Verteilung von Organknappheiten.12 Jenseits transplantationsmedizinischer Fachkreise ist die hochpolitische Frage der Organverteilung überwiegend Gegenstand juristischer und ethischer Diskussionen (vgl. Gutmann 2006: 113-136; Bader 2010; Sitter-Liver 2003). Juristinnen kritisieren beispielsweise die Delegation von Entscheidungsprozessen an nicht-staatliche Akteurinnen wie die Bundesärztekammer, Eurotransplant und die Deutsche Stiftung Organtransplantation (Höfling 2011). In die Feinheiten und Ungereimtheiten der komplexen OrganvergabePolitiken führt die 1996 erschienene Studie des Soziologen Volker Schmidt ein. Sechs Jahre später aktualisierte er seine Ergebnisse im Hinblick auf das 1997 verabschiedete Transplantatationsgesetz: Wie in wissenschaftlichen Zeitschriften üblich ist sein Artikel mit inhaltlich zentralen Stichworten versehen, eins davon lautet »Selbsttäuschung durch Ausblendung inopportuner Gesichtspunkte« (Schmidt 2002: 252). Dies bringt die Versuche der Rationalisierung des nicht lösbaren Gerechtigkeitsproblems Organverteilung auf den Punkt.13 Telefonisch koordinierte Synchronisation Das einer Organtransplantation zugrunde liegende komplexe, fein abgestimmte Netzwerk von beteiligten Akteurinnen und sozio-technischen Arrangements zeigt sich auch im Hinblick auf die räumlich-zeitliche Synchronisation des Organaustauschs (Hauser-Schäublin u. a. 2001: 70-77; Joerges 1996). Die folgende, auf ethnografi-

12 | Zu dieser Verteilungsgeschichte gehört ebenso der illegale, von sozialen Ungleichheiten geprägte Kauf und Verkauf von Organen. Anthropologische Studien zum Organhandel sind z. B. Schepher-Huges 2000; Sanal 2004; Lundin 2012. 13 | Im Juli 2012 rückte die Praxis der Organverteilung in die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit und wurde Thema politischer Debatten. Anlass gaben bekannt gewordene Manipulationen von Laborwerten und somit möglichen Zuteilungschancen von Wartelistenpatientinnen im Göttinger Lebertransplantationszentrum (FAZ 27.7.12). Der OrganspendeSkandal im Bereich der Lebertransplantation weitete sich aus, weitere Richtlinienverstöße wurden in Leipzig, München und Münster festgestellt (siehe Bericht der Prüfungskommission unter http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.6.3285 [letzter Zugriff: 14.2.14]).

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schem Material beruhende Transplantationsmedizin-Geschichte berichtet daher von der im Hintergrund synchronisierten Arbeit der vielen Beteiligten und führt ins Transplantationsbüro des von mir untersuchten Zentrums, also an einen der Orte, die über einen Organaustausch miteinander verknüpft werden. Im Dezember 2007 wird in einem Krankenhaus im Eurotransplant-Raum, wo genau spielt keine Rolle, der Hirntod eines Patienten ein zweites Mal protokolliert, sein Tod festgestellt, die traurige Nachricht den Angehörigen überbracht, der Spende mehrerer Organe zugestimmt, ein medizinischer Wechsel weg von lebensrettenden zu organerhaltenden Maßnahmen vorgenommen, eine Organspende gemeldet, per Verteilungsalgorithmus eine Empfängerin ermittelt und das für sie zuständige Transplantationszentrum angerufen. »Hier Eurotransplant, wir haben ein Organangebot für Frau X«. Mal ruhiger, mal hektischer werden die bei einer Organtransplantation beteiligten Einrichtungen und Akteurinnen in Bewegung gesetzt, ein Zusammenspiel aus festen Abläufen und Infrastrukturen. Solche Organangebote gehören zwar im Transplantationsbüro zum Arbeitsalltag, sind aber den Mitarbeiterinnen zufolge doch »jedes Mal besonders« und mit einem spezifischen Arbeitsrhythmus verbunden: enge Zeitfenster, höchste Konzentration, lineare wie parallele Arbeitsabläufe, routinierte Hektik. Der Anruf von Eurotransplant funktioniert wie die Action-Klappe am Film-Set, das Startsignal für eine besondere Art der Geschäftigkeit. Der den Anruf von Eurotransplant entgegennehmende Mitarbeiter ruft den im Raum gerade anwesenden Kolleginnen »Organangebot« zu, sucht die Akte der Transplantationskandidatin heraus, greift die parallel von Eurotransplant übermittelten Daten zum Spender aus dem Faxgerät, ruft den aktuell zuständigen Ansprechpartner der Chirurgie an und übergibt ihm die Unterlagen. Das chirurgische Team trifft auf dieser Grundlage eine erste Entscheidung: Passt diese spezielle Leber zu dieser konkreten Patientin? Eine Frage, die vorläufig positiv beantwortet wird: »Sieht auf dem Papier gut aus.« Unterdessen kurzes Innehalten im Transplantationsbüro, so lange, bis der Chirurg hereinkommt und grünes Licht gibt: »Nehmen wir!« Mehrere Mitarbeiterinnen beginnen gleichzeitig zu telefonieren. Einer telefoniert mit Eurotransplant: »Es geht um Spender Nummer Soundso und Empfängerin Nummer Soundso, wir akzeptieren, erst einmal, endgültig nach Makro[skopie] und Schnell-Schnitt.« Eine andere koordiniert zusammen mit dem Krankenhaus, in dem sich der Spender befindet, und der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO)14 die Organentnahme. Bei der Leber wird regional kooperiert, das heißt, die Entnahme übernimmt ein Team des

14 | Die DSO ist für die bundesweite Koordinierung postmortaler Organspenden zuständig. Zur Zeit muss sich die privatrechtliche Stiftung mit Kritik auseinandersetzen, siehe z. B. Süddeutsche.de 29.12.2011 und taz.de 7.5.12.

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regional zuständigen Transplantationszentrums, auch wenn die entnommene Leber für jemanden in einer anderen Region bestimmt ist und somit von einem anderen Zentrum transplantiert wird.15 Zeitgleich wird die Transplantationskandidatin angerufen.16 Anschließend wird ihr Transport ins Krankenhaus organisiert und die zuständige Station im Krankenhaus darüber informiert, dass und wann sie eintrifft. Dort wird sie für die Transplantation vorbereitet: letzte Untersuchungen und Aufklärungsgespräche, Zustimmungsformulare, die unterschrieben werden müssen, ein Körper, der penibel geduscht, rasiert und ›entleert‹ werden muss. Noch ist es nicht soweit. Inzwischen wird geklärt, wie das Spenderorgan zur Empfängerin kommt. Dafür werden Entfernungen und Wege durchgerechnet, verschiedene Verkehrsmittel geprüft, ihre Kosten und Fahrzeiten abgewogen sowie Wetter und Verkehr einkalkuliert.17 Die Pilotin des schließlich ausgewählten Fluges wird am Zielflughafen sofortige Landeerlaubnis erhalten. Ein Transportunternehmen wird bereitstehen, um die weiße Styroporbox mit dem rot-orangen Henkel und der Aufschrift »human organ (for transplant)« entgegenzunehmen und mit dem Auto zur Klinik zu bringen. Noch immer ist es nicht so weit. Das Operationsteam für die Transplantation muss zusammengestellt werden: Wer wird seitens der Chirurgie mit welcher Funktion dabei sein? Wer übernimmt die Anästhesie, assistiert, ist Springerin zwischen steriler und nicht-steriler OP-Zone? Es werden zwei chirurgische Teams benötigt. Das eine, aus zwei Personen bestehende Team wird Organ und Gefäße entgegennehmen und im Laufe einer knappen Stunde präparieren, also begutachten und vorbereiten. Während dieser Zeit wird das zweite, personell größere Team den Bauchraum der Patientin für die Transplantation vorbereiten und die bisherige Leber entfernen – eine Arbeit,

15 | Bei Herz, Lunge und Dünndarm reist das Transplantationsteam in der Regel selbst zur Organentnahme an. Die Organentnahme erfolgt durch auf bestimmte Organe spezialisierte Teams, die bei der Spende bzw. Entnahme mehrerer Organe vor Ort aufeinandertreffen. Es gibt eine feste Reihenfolge der Entnahme, die mit den Ischämie-Toleranzen der jeweiligen Organe zusammenhängt: erst Herz und/oder Lunge, dann Dünndarm, Leber, Pankreas und Niere(n). 16 | Falls sie nicht gleich erreicht wird, versucht man es maximal eine halbe Stunde lang immer wieder. 17 | Die Richtlinien der Bundesärztekammer geben dem Organtransport mit dem Auto (Sonderfahrt mit Blaulicht) den Vorzug. Ist die Distanz größer als 300 Kilometer und/oder dauert die Fahrzeit länger als viereinhalb Stunden, können Züge und Flugzeuge (oder Hubschrauber) genutzt werden. Unter besonderen Voraussetzungen kann, z. B. im Hinblick auf die Ischämiezeit des Spenderorgans oder den kritischen Gesundheitszustand der Empfängerin, auch vorher ein Flug erwogen werden.

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die weit mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen kann. Die erforderliche Zeit variiert, je nach Person, Lebererkrankung und deren Folgen. Die Lebertransplantation gilt unter anderem deshalb als komplex und schwierig, weil die von zentralen Gefäßen umringte Leber ›ungünstig› im Körper sitzt. Es werden drei, manchmal vier Chirurginnen für die Arbeit des ›Platzschaffens‹ benötigt, angehende Ärztinnen verbringen mitunter Stunden damit, ›nur‹ den Dünndarm zu halten. Nach der Entfernung der funktionsuntüchtigen Leber braucht das Team eine weitere knappe Stunde, um das vorbereitete Transplantat einzusetzen und an den Blutkreislauf ›anzuschließen‹. Wenn alles gut läuft, ist die Transplantation innerhalb von vier Stunden absolviert, mitunter aber auch erst nach acht oder mehr Stunden. Für die zeitliche Koordination muss deshalb die Operationszeit berücksichtigt werden. Ab dem Moment der Entnahme des Spenderorgans wird gegen die Uhr gearbeitet, da mit zunehmender Ischämie-, also Konservierungszeit (maximal zwölf Stunden, weniger als zehn Stunden gelten als ideal) die Gefahr steigt, dass das Transplantat unumkehrbare Schäden aufweist und nicht funktioniert. Aber es ist immer noch nicht soweit. Während die Blutbank über die anstehende Transplantation, den damit einhergehenden Bedarf an Blutkonserven und die Blutgruppe der Empfängerin verständigt wird, gibt es Rückmeldung vom Entnahmeteam zur makroskopischen Einschätzung der Spenderleber und damit neue Daten für das chirurgische Team bezüglich der Passfähigkeit des Organs. Makroskopie bedeutet, dass die Leber im geöffneten Bauchraum in Augenschein genommen wird. Ziel ist es, die bis dahin zum Spenderorgan bekannten Informationen zu erweitern, um einen besseren Eindruck von der Leber hinsichtlich Größe, Farbe, Konsistenz und Grad der Verfettung zu erhalten. Wie es ein Chirurg mir gegenüber ausdrückte: »Das Sehen und Tasten der Chirurgen vor Ort ist mehr wert als Laborwerte«. Erfahrung wird nicht nur für die Entnahme der Leber und der dazugehörigen Blutgefäße benötigt, sondern auch, um den nicht anwesenden Kolleginnen zu beschreiben, wie die Leber aussieht. Das Transplantationsteam muss sich auf das Entnahmeteam verlassen, trotzdem können ihre Urteile variieren, gerade weil die eine Seite konkrete Empfänger-Körper mit ihren jeweiligen Besonderheiten vor Augen hat. Bei Unklarheiten oder generell um weitergehende Informationen zu bekommen, wird ein so genannter Schnellschnitt durchgeführt: Im Gegensatz zur ausführlichen, ein- bis zweitägigen pathologischen Untersuchung des Lebergewebes dauert das pathologische Schnellverfahren eine halbe Stunde. Es gibt Auskunft über Zustand, Verfettung und Vernarbung des Feingewebes und klärt, ob das Organ tumorfrei und transplantabel ist. Bei jeder neuen Datenlage evaluiert das chirurgische Team im Transplantationszentrum neu, ob Organ und Empfängerin zueinanderpassen oder ob das Organangebot für diese Patientin und ihren spezifischen Gesundheitszustand doch als unpassend abgelehnt und an den Eurotransplant-Pool zurückgegeben

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wird. Die endgültige Entscheidung treffen die Chirurginnen des Transplantationsteams, wenn sie die Leber selbst sehen und vor allem in den Händen halten.18 Schließlich wird das Entnahmeteam innerhalb von etwa einer Stunde die Spenderleber für den Transport vorbereiten. Sie wird durchgespült, gekühlt (4◦ C), biochemisch inaktiviert, entnommen und schließlich in mehrere Plastiktüten, die Konservierungslösungen enthalten (triple bag technique), verpackt, bevor sie in einer mit sterilem Eis gefüllten Kiste transportiert wird. Bis es so weit ist, gibt es immer wieder Anrufe und Rückmeldungen, Entscheidungen und Bestätigungen, Kalkulationen und Korrekturen: Wer ist gerade womit beschäftigt, hat die Entnahme schon begonnen, wo ist das Organ, ab wann ist mit ihm zu rechnen, mit Blaulicht oder ohne, was ist mit dem virologischen Befund, wer muss sich wann bereithalten, ist die Empfängerin schon eingetroffen, wann wird »der Schnitt« (der Beginn der eigentlichen Transplantation) angesetzt etc. Manchmal gibt es Zwangspausen: Beispielsweise als in dem kleinen Krankenhaus, in der sich der Spender befindet, eine NotfallBlinddarmoperation die angesetzte Organentnahme nach hinten verschiebt, da es nur wenige Operationsräume gibt. Immer wird irgendwo gewartet, Warten geht in Hektik über und umgekehrt. Die beschriebenen Tätigkeiten und Entscheidungen veranschaulichen das umfangreiche Netzwerk von Akteurinnen und Infrastrukturen, das für die ›just in time‹Logistik des Organaustauschs aktiviert und synchronisiert wird. Was hier ineinandergreift sind transnationale Protokolle und regionale Vereinbarungen, nationale Gesetze und professionelle Richtlinien, globale Informations- und Kommunikationssysteme und örtliche Verkehrskonzepte, wissenschaftlich etablierte Standards der Organkonservierung und spezifische Toleranzen von menschlichem Körpermaterial, institutionalisierte Regeln und Abläufe sowie lokale Routinen und Interpretationen. Es ist dieses vielfältige wie kleinteilige Zusammenspiel, das Organe über körperliche und geografische Distanzen hinweg transportabel macht. Organspende-Beziehungen und anonyme Geschenke Eine Transplantationsmedizin-Geschichte wird nicht zuletzt von den persönlichen, mitunter emotional turbulenten Involviertheiten der gebenden und nehmenden Seite der Organtransplantation geprägt. Die Transplantationsmedizin überschreitet Körpergrenzen, indem sie ähnliche, im Hinblick auf einen Organaustausch zueinanderpassende Körper verbindet. Damit setzt sie Personen und ihre Körper auf spezifi-

18 | Zum Stellenwert lokaler Entnahme- und Transplantations-Praktiken siehe Hogle 1999: 161-185.

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sche Art und Weise in Beziehung zueinander, stellt also neue, materielle wie soziale Beziehungen zwischen ihnen her. Gesellschaftlich wird die Übertragung von Körperteilen zwischen verschiedenen Personen als spezifische Transaktion entworfen: als Organspende, als Akt, der laut deutschen Organspendekampagnen »Leben schenkt«. Auf diese Weise wird die Nutzung individueller Körper als freiwilliger, nicht-kommerzieller, selbstloser, gemeinnütziger Akt des Gebens markiert wie legitimiert. Die Modelle dieses Gebens sind dabei unterschiedlich geregelt und korrespondieren mit der Bedeutung persönlicher und abstrakter Beziehungen in der euroamerikanischen Kultur (Strathern 1997): Eine Lebendorganspende ist nur zwischen sich bereits in persönlich enger Beziehung zueinander stehenden Personen erlaubt, während eine postmortale Organspende anonym erfolgt. Das potentiell postmortal spendende Individuum wird als Mitglied einer gesellschaftlichen Solidargemeinschaft adressiert: In der so genannten Widerspruchslösung wird davon ausgegangen, dass alle Gesellschaftsmitglieder einer Organspende grundsätzlich zustimmen. Anderweitig muss aktiv selbst (zu Lebzeiten) oder durch Angehörige widersprochen werden. Bei der in Deutschland herrschenden Zustimmungsregelung ist es umgekehrt: Hier darf ohne Zustimmung der verstorbenen Person oder ihrer Angehörigen keine Organentnahme erfolgen.19 Für beide Modelle gibt es die enge Variante, bei der nur die betroffene Person entscheidet (z. B. mittels Organspendeausweis), und die weitaus häufigere erweiterte Variante, die Angehörige bei Nicht-Äußerung des Willens miteinbezieht. Diese Einbeziehung wird von Befürworterinnen der engen Lösung als Bürde für Hinterbliebene problematisiert, die sich so zusätzlich zum schwer fassbaren (Hirn-)Tod eines nahestehenden Menschen mit der schwierigen Entscheidung für oder gegen eine Organspende auseinandersetzen müssen (Kalitzkus 2003: 253). Da Angehörige, als potentielle Spenderinnen (Niere, Leber) oder Hinterbliebene von als hirntot Diagnostizierten, Verantwortung als Entscheidungsträgerinnen übernehmen müssen, werden durch die Transplantationsmedizin nicht nur Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft, sondern auch Verwandtschaftsbeziehungen neu mobilisiert (Hauser-Schäublin u. a. 2001: 276). Die durch euro-amerikanische Verwandtschafts-

19 | Seit Herbst 2010 wurde im deutschen Bundestag eine Neuregelung der Organspende diskutiert. Fraktionsübergreifend wurde sich auf die so genannte Entscheidungslösung geeinigt: Alle Bürgerinnen werden um eine Entscheidung gebeten, indem sie regelmäßig von ihren Krankenkassen zur ihrer Organspende-Bereitschaft befragt werden. Zudem soll die Organisation der Organspende in den Krankenhäusern verbessert werden (Richter-Kuhlmann 2011). Die Änderungen des Transplantationsgesetzes wurden im Sommer 2012 verabschiedet und traten November 2012 in Kraft.

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konzepte nahegelegte Möglichkeit neuer intimer Beziehungen oder »imaginärer Verwandtschaften« (Sharp 1995: 375f.) – hier basierend auf Organen statt auf Blut und Genen – zwischen der gebenden und nehmenden Seite der Organtransplantation ist hingegen selten ein Thema und wird zumindest auf gesellschaftlicher Ebene eher negiert (Hauser-Schäublin u. a. 2001: 276). Die durch eine postmortale Organspende hergestellten Verbindungen und Verbundenheiten zwischen Individuen (Spenderinnen/ihren Angehörigen und Empfängerinnen) einerseits sowie zwischen Individuen und Gesellschaft andererseits sind letztlich anonym. Gleichzeitig werden in Organspendekampagnen die persönlichen Geschichten von Organempfängerinnen, das als Organmangel bezeichnete Ungleichgewicht zwischen begrenztem Angebot und steigender Nachfrage von Organen und der in Zahlen ausgedrückte »Tod auf der Warteliste« von Organbedürftigen verknüpft mit dem Appell an die Großzügigkeit und Solidarität der Bevölkerung, als potentielle Organspenderinnen Gutes für andere sowie das Allgemeinwohl zu tun, Organe nicht zu »verschwenden« und letztlich »Leben zu schenken«. Angesichts des moralisch verpflichtenden Vokabulars, das in solchen Kampagnen verwendet wird, haben Kulturanthropologinnen nicht nur die inadäquate Rhetorik des Organmangels (Koenig 2003) und die Ausblendung familiärer, kultureller und politischer Kontexte der Praxis Organspende kritisiert (Lock/Crowley-Matoka 2008), sondern auch die Geschenkbzw. Gabenmetapher problematisiert (Ohnuki-Tierny 1994: 241; Fox/Swazey 1992) – sowohl bezüglich der kulturspezifischen Annahmen, die mit einer Gabe verbunden werden, als auch im Hinblick auf das Problem, wie die Gabe eines Organs, das überdies meist anonym und von einer verstorbenen Person ›geschenkt‹ wurde, angemessen erwidert werden kann.20 Auch wenn das Gebot der Anonymität persönliche Beziehungen und somit Reziprozität zwischen Individuen verhindert, verweist der Begriff Organspende auf eine spezifische Beziehungskonstellation zwischen Gebenden und Nehmenden (Strathern 1997: 301; Godelier 1999: 13f.). Da die Organspende als Akt der Mensch-

20 | Für diese Kritik wird das altbewährte Konzept des Gabentausches von Marcel Mauss (2004) herangezogen. Ihmzufolge beinhaltet ein Gabentausch neben Geben und (An-)Nehmen immer auch Reziprozität (Gegenseitigkeit), die Verpflichtung zur Gegengabe. Die daraus resultierenden, von Verpflichtungen und Erwartungen geprägten Austauschbeziehungen reproduzieren soziale Beziehungen. Zur neueren, interdisziplinären Diskussion siehe die von Alan Schrift herausgegebene Aufsatzsammlung The Logic of the Gift (1999). Mona Motakef (2011) verbindet in ihrer soziologischen Dissertation zum Diskurs der Organspende in Deutschland Diskussionen zu den Ökonomien der Gaben und der Verfügbarkeit von Körperteilen mit denen zu Biopolitik und Gouvernementalität.

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lichkeit und einseitige mittelbare Gabe an die Gemeinschaft entworfen wird, wurde der bei einer Transplantation stattfindende Organaustausch als »unvollständiger Gabentausch« (Kalitzkus 2003: 218-249) analysiert, der rhetorisch und symbolisch durchaus mit Konsumkultur und Warenaustausch verstrickt ist (Strathern 1997; Hauser-Schäublin u. a. 2001: 207-227). Während die generelle gesellschaftliche Organspende-Bereitschaft und Organempfängerinnen in der Öffentlichkeit verstärkte Aufmerksamkeit erfahren, wird die konkret gebende Partei oft vernachlässigt: Die Organgeberinnen selbst sind tot, ihre Angehörigen suchen selten die Öffentlichkeit und Forscherinnen verweisen auf Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme, von der, beispielsweise aus Pietät und Angst, Hinterbliebene erneut zu belasten, abgesehen oder abgeraten wird. Daher ist die mit dem Titel »Leben durch Tod« überschriebene medizinethnologische Untersuchung von Vera Kalitzkus außergewöhnlich: Sie parallelisiert nicht nur die jeweils spezifischen Erfahrungen der gebenden und nehmenden Seite der Organtransplantation, sondern untersucht auch ihre gegenseitigen Sichtweisen aufeinander und zeigt so die widersprüchlichen Verbindungen und bisweilen auftretende Unvereinbarkeiten (Kalitzkus 2003). Insgesamt fügt sich die Rahmung des Organaustauschs als altruistische Transaktion zwischen »intimen Fremden« (ebd.: 242) und als solidarische Verpflichtung von Gesellschaftsmitgliedern (Hogle 1999: 191) in die weiter oben beschriebenen komplexen Entpersonalisierungsprozesse der Transplantationsmedizin ein. Da auf diese Weise Spenderinnen-Organe bzw. Transplantate als von Personen und ihren Biografien losgelöste, standardisierte und vor allem anonyme Objekte produziert und behandelt werden, werden die potentiell beziehungsreichen Effekte der Transplantationsmedizin letztlich unterbunden. So abstrakt Transplantate nach diesen strategischen ›Bereinigungen‹ auch sein mögen, am Ende werden sie in einen neuen Körper verpflanzt und müssen dort von den Empfängerinnen re-personalisiert werden. Post-Transplantationsgeschichten Fragen der Identität Organtransplantierter im Spannungsfeld zwischen Selbst und Nicht-Selbst verhandelt die US-amerikanische Kulturanthropologin Lesley Sharp. Sie analysiert die Organtransplantation als transformative Erfahrung, als Restrukturierungsprozess des Selbst (Sharp 1995). Auch der französische Philosoph JeanLuc Nancy (2000) und der chilenische Biologe, Philosoph und Neurowissenschaftler Francisco Varela (2001), die ihre Eindrücke nach einer Herz- bzw. Lebertransplantation beschrieben wie analysiert haben, fragen angesichts ihres alten/neuen, in mehrfacher Hinsicht fremd gewordenen Selbst: »Welches ich (Selbst)?« Ihre eindrücklichen Skizzen eines als entfremdet, dezentriert und heterogen erlebten Selbst verweisen

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nicht allein auf das neue, körperlich fremde Organ, sondern auch auf die Herausforderungen des Lebens mit diesem Organ: das immunologische Selbst muss verändert, ja geschwächt werden, das intime Zusammentreffen von Spenderin-Organ und Empfängerin-Körper muss durch ein Team von Medizinerinnen vermessen, überwacht und technisch manipuliert werden, mit dem sozialen oder auch imaginären Netzwerk des anonymen Geschenkes muss umgegangen werden und die andauernde Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit muss ausgehalten werden. Auch solche persönlichen (Post-)Transplantationsgeschichten erzählen TransplantationsmedizinGeschichte, kreuzen sich in ihnen doch individuelle Schicksale mit den jeweils aktuellen medizinisch-technischen Möglichkeiten. Ausgedrückt in Statistiken zu den Überlebensraten von Transplantaten (graft survival) und Transplantierten (patient survival)21 symbolisieren Organempfängerinnen und ihr Über- und Weiterleben letztlich die konkreten Erfolge der Transplantationsmedizin. Was darin in Jahren gemessen nüchtern als generelle Bilanz dokumentiert wird, verrät jedoch nichts über das so genannte neue Leben selbst. Aussagen dazu verspricht der Bereich der gesundheitsbezogenen Lebensqualitätsforschung, der mit der gestiegenen Bedeutung von chronischen Erkrankungen entstanden und heute in der Gesundheitsforschung gerade zur Beurteilung von Therapien populär geworden ist. Aufgrund ihres überwiegend quantitativen Forschungsdesigns werfen die Studien aus diesem Bereich jedoch methodologische Fragen danach auf, wie sich so etwas Komplexes wie Lebensqualität operationalisieren und messen lässt, insbesondere wenn die Befragten mit instabilen Langzeitverläufen konfrontiert sind und ihr Vergleichspunkt die gesundheitlich akute, oft lebensbedrohliche Situation vor der Transplantation ist, sie also eine Therapie bewerten, der sie ihr Leben verdanken (Joralemon/Fujinaga 1996). Medizinanthropologische Forschungen zum (Weiter-)Leben von Organempfängerinnen fokussieren eher auf das Erleben von Transplantation und Transplantat sowie die Folgen der Transplantation für Körper, Identität und Biografie. Während Sharp die rekonstruierten Körper und transformierten Selbste Transplantierter vor allem vor der Folie öffentlicher Repräsentation von Organtransplantation und Organspende erörtert (Sharp 1995) und Kalitzkus die Modifikation und Fragilität des mit einem transplantierten Organ ausgestatteten Selbst auf die Schwierigkeiten, Körper und Leib in Übereinstimmung zu bringen, zurückführt (Kalitzkus 2003), diskutiert die bayrische Volkskundlerin Olivia Wiebel-Fanderl narrative Bewältigungsformen nach der Transplantation als biografische Selbstverge-

21 | Da Transplantate versagen oder abgestoßen werden können, ihre Empfängerinnen mithilfe der Medizin jedoch mitunter gerettet werden können, wird in der Transplantationsmedizin getrennt dokumentiert, wie es transplantierten Organen und Personen ergeht.

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wisserung. Sie verdeutlicht auf der Basis der in narrativen Interviews erzählten Erfahrungen Herztransplantierter in Bayern und Ostdeutschland, dass Transplantationsgeschichten nicht nur von individuellen Erfahrungen und Lebensanschauungen berichten, sondern auch von kollektiven Erfahrungen und Erzählweisen: Die verschiedenen Erzählungen von Herztransplantationen, seien es Rechtfertigungs-, Erfolgsoder Konflikterzählungen, verweisen demnach sowohl auf die kultur- und zeithistorischen Rahmenbedingungen der Transplantationsmedizin, ihre öffentliche Repräsentation und Verhandlung als auch auf (teilweise regional spezifische) Alltagstheorien von und Umgangsformen mit (Herz-)Erkrankungen (Wiebel-Fanderl 2003). Ferner beschreibt Kalitzkus, hinsichtlich der populären metaphorischen Rahmung der Organtransplantation als »Wiedergeburt« oder »zweitem Geburtstag«, den Prozess, den Transplantierte von der Warteliste bis zu ihrem »zweiten Leben« durchlaufen als Übergangsritual (Kalitzkus 2003: 173-202).22 Auf dieses klassische ethnologische Konzept beziehen sich auch die US-amerikanische Medizinanthropologin Megan Crowley-Matoka und der zypriotische Sozialanthropologe Costas Constantinou in ihren jeweiligen Forschungen zu den soziokulturellen und politischökonomischen Bedingungen der Nierentransplantation in Mexiko (Crowley-Matoka) und den vielfältigen Erfahrungen griechisch-zypriotischer Nieren-Kranker (Constantinou). Crowley-Matoka zufolge verbleiben Transplantierte in einem Zustand »anhaltender Liminalität« (persistent liminality), sind also statt mit einem »normalen«, von Gesundheit und (Re-)Produktivität gekennzeichneten Leben mit einer dauerhaften Situation »dazwischen« (betwixt and between) konfrontiert, zwischen Gesundheit und Krankheit sowie zwischen der Abhängigkeit von Familie und Gesellschaft und deren Mitgestaltung (Crowley-Matoka 2005: 827-830). Diesen Befund bestätigt Constantinou, wenn er die von der Transplantationsmedizin ermöglichte ›Wiedergeburt‹ als ambivalent beschreibt und auf die vielfältigen Synchronisierungsleistungen Transplantierter hinsichtlich ihrer gleichermaßen normalen wie unnormalen Körper und Sozialitäten verweist (Constantinou 2009: 214-252). Für meine Forschung waren diese beiden Arbeiten besonders interessant, wird in ihnen doch das alltägliche Leben mit einem Transplantat explizit zum Thema und hinsichtlich der Gesundheits-

22 | Das Konzept der Übergangsriten (rites des passage) wurde von dem französischen Ethnologen Arnold van Gennep (1999) geprägt. Er unterschied im Hinblick auf soziale, sich auf bestimmte Lebenszyklen beziehende Status-, Zustands- und Positionswechsel von Individuen drei Phasen: Ablösung/Trennung, Umwandlung/Übergang und Integration/Wiedereingliederung. Für die als zentral geltende mittlere, einen temporären Schwellen- bzw. Zwischenzustand kennzeichnende Phase hat der van Gennep weiterentwickelnde britische Ethnologe Victor Turner (1989) den Begriff der Liminalität geprägt.

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und Normalitätsversprechen der Behandlungsform Organtransplantation ausführlich diskutiert. Ihre Post-Transplantationsgeschichten werden durch meine Forschung zur Lebertransplantation im deutschen Kontext ergänzt. Mir geht es darum, die wenig erzählten Banalitäten des Alltags von Lebertransplantierten und des medizinischen Bereichs der Transplantations-Nachsorge genauer in den Blick zu nehmen, um ebenso kulturanthropologische Transplantationsmedizingeschichte(n) wie Alltagsgeschichten zu schreiben. Die in diesem Unterkapitel zusammengetragenen Transplantationsmedizin-Geschichten geben Einblicke in die vielfältigen historischen Voraussetzungen der Organtransplantation als Therapiekonzept und Behandlungsmethode. Statt die ungebrochene Erfolgsgeschichte einer medizinischen Technik zu erzählen, betonen sie die komplexen Rahmenbedingungen und zusammenwirkenden Infrastrukturen – wissenschaftliche, technische, institutionelle, rechtliche, politische und kulturelle –, die den Austausch von Organen ermöglichen. Sie weisen auf die verschiedenen Irritationen, Diskussionen sowie Politiken hin, die diese Technik begleite(te)n. Sie kennzeichnen Organtransplantation damit als eine gesellschaftliche Praxis (Schneider/Manzei 2006) und umreißen den kontroversen Rahmen, in dem Transplantationsmedizin operiert und Organtransplantierte ihr ›neues‹ Leben antreten.

2.2 A LLTAG

ALS

P ROBLEM (- STELLUNG )

Von welchem Alltag ist in dieser Arbeit die Rede und wie nehme ich Alltag in den Blick? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich die Erforschung von Alltag in der Kulturanthropologie rekapitulieren und auf fünf Begriffe eingehen: Leben, Alltag, Normalität, Veralltäglichung und Normalisierung. Die Darlegung meines Verständnisses dieser Begriffe erfolgt weniger in Form einer Literaturschau als in Form eines problemorientierten Grundrisses meiner Argumentation, um vorab eine ›Lese-Brille‹ für die empirischen Kapitel 3 bis 5 mit auf den Weg zu geben. Alltag aus kulturanthropologischer Perspektive Alltag zu untersuchen ist für eine Kulturanthropologin nicht ungewöhnlich. Alltag gilt als zentrales Phänomen kulturanthropologischer Beobachtung und Befragung (Greverus 1987: 24). Er ist die Arena, in der Kultur dingfest gemacht und erforscht wird: als naturalisierte Gewohnheit, subjektiver wie kollektiver Erfahrungshorizont und Bedeutungszusammenhang oder heterogene Vielfalt eingespielter Normalität (vgl. Greverus 1987; Jeggle 1999). Die seit den 1970er Jahren stattfindende Ausein-

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andersetzung mit pluralen Alltagskulturen oder Alltagswelten in Form historischer wie aktueller mikroanalytischer Studien prägen bis heute das Verständnis des Fachs als Alltags(kultur)wissenschaft. Alltag steht dabei laut Ueli Gyr (1997) zugleich für einen Forschungsgegenstand wie eine spezifische Blickrichtung und bildet bis heute eine wesentliche intradisziplinäre Klammer (Schmidt-Lauber 2010: 57). Der durch die Hinwendung der Kulturanthropologie zum Alltag markierte Paradigmenwechsel (Lipp 1993: 12) fand vor dem Hintergrund einer breiteren wissenschaftlichen wie politischen ›Entdeckung‹ des Alltags in den 1970ern statt. Zentral waren dabei phänomenologische und marxistische Ansätze (ebd.). Erstere, prominent durch Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1979) vertreten, verstanden Alltag als unhinterfragten und unproblematisch geltenden Wirklichkeitsbereich und interessierten sich für die Sinnstrukturen und Regeln alltäglichen Handelns sowie das von den Mitgliedern einer sozialen Ordnung geteilte Wissen. Letztere, assoziiert mit Agnes Heller (1978) und insbesondere Henri Lefebvre (1987), thematisierten demgegenüber die Entfremdung der Menschen vom Alltag unter kapitalistischen Bedingungen, diskutierten die Widersprüchlichkeit von Alltag und machten diesen solchermaßen zum Gegenstand der Kritik.23 Somit wurden zwei eher konträre als kompatible theoretische Ansätze zum Alltag im Fach aufgenommen: Einerseits ging es darum, sich den Alltag als vertrauter, selbstverständlicher Welt verstehend anzunähern und seine Eigenlogiken zu erforschen, andererseits darum, Alltag und seine Zwänge (ideologie-)kritisch zu beleuchten. In beiden Ansätzen jedoch ist Alltag stets sowohl individuell als auch kollektiv. Problematisiert und politisiert wurde Alltag zudem von feministischen Analysen im Anschluss an die zweite Frauenbewegung, die auf die geschlechtliche Strukturierung von Alltag hinwiesen und alltägliche Praktiken einer machtanalytischen wie geschlechtersensiblen Prüfung unterzogen (z. B. Smith 1987). Auf soziale Klassen bezogen hat Pierre Bourdieu (1987) gezeigt, wie soziale Unterschiede und Abgrenzungen in alltäglichen Praktiken wirken, aber auch konstituiert werden. Heute steht Alltag in der Kulturanthropologie sowohl für das Gewöhnliche und Selbstverständliche im menschlichen Tun als auch für ein Spannungsfeld, in dem gesellschaftliche Ordnungen, Vorstellungen und Positionen ausgehandelt und manifestiert werden (vgl. Fenske 2010).

23 | Zur Bedeutung des Alltäglichen im kapitalistischen Reproduktionsprozess siehe Sälzer (2000): Anhand der herrschaftskritischen Analysen alltäglicher Praktiken von Lefebvre, de Certeau, Bourdieu und Vertreterinnen der Situationistischen Internationalen arbeitet er deren Verbindungen heraus und diskutiert ihre unterschiedlichen Einsichten und Akzente für eine Betrachtung (post-)fordistischer Alltage.

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Begrifflich entzieht sich Alltag einer eindeutigen Definition. Aus soziologischer Sicht kommentierte Norbert Elias den damaligen Alltags-Boom mit einer polemischen Kritik an dem gleichermaßen vagen wie mehrdeutig schillernden Alltagsbegriff (Elias 1978: 22). Für ihn bedurfte die Nutzung des Alltagsbegriffs der Klärung zweier Punkte: Erstens fragte er nach dem Verhältnis von Alltag und Gesellschaft, zweitens kritisierte er ein Verständnis von Alltag als Universalkategorie (ebd.: 28f.). Der erste Punkt betrifft eine theoretische Entscheidung darüber, welche Alltags- bzw. Kulturoder Gesellschaftstheorie herangezogen wird. Ausgehend von den unterschiedlichen Versuchen, Alltag wissenschaftlich zu beleuchten, ihn theoretisch wie empirisch zu fassen zu bekommen, kann dem britischen Kultur- und Medienwissenschaftler Ben Highmore zufolge von einer heuristischen Ortung von Alltag zwischen oder quer zu Gesellschaft und Individuum, Struktur und Handlungsfähigkeit oder Herrschaft (Zwang) und Widerstand (Eigensinn) gesprochen werden (Highmore 2001: 5). Innerhalb dieses Spannungsfelds existiert Alltag erst durch die Praktiken, die ihn konstituieren, durch die Methoden, mittels derer Menschen sich die Zeiten und Orte ihres Lebens aneignen (Sheringham 2006: 386).24 Dem zweiten Punkt von Elias würden Kulturanthropologinnen vermutlich zustimmen. Die von ihnen (und anderen Disziplinen) unternommene Erforschung der Pluralität von Alltag(en) unterstreicht, dass Alltag in spezifischen kulturellen, historischen und politischen Kontexten situiert ist. Gleichwohl bleibt die Frage »wessen Alltag?« für eine Beschäftigung mit Alltag zentral. Sie erinnert daran, dass ein Aufrufen von Alltag häufig mit Tendenzen der Generalisierung und somit mehr oder weniger impliziten Ein- und Ausschlüssen verbunden ist: Wer sich auf einen gewöhnlichen Alltag beruft, normalisiert das Partikulare oder Spezifische des Alltags, setzt sich aber auch in Beziehung zu anderen, verweist auf etwas, das geteilt wird mit anderen (Highmore 2001: 1). Gerade darin besteht die Verbindung von Alltag und common sense: in einem Eindeutigkeit beanspruchenden, geteilten, aber zugleich diversen Alltagsverständnis oder Erklärungsmuster dafür, wie die Welt funktioniert (Herzfeld 2001: 1; Hannerz 1992: 127) und alltägliches Leben praktiziert wird. Beide, Alltag und common sense, werden von gesellschaftlichen Normen geprägt und durchkreuzt und beinhalten unhinterfragte und als offensichtlich geltende Selbstverständlichkeiten. Diese aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit gewissermaßen unsichtbaren, leicht zu übersehenden oder schlicht für banal erklärten Gewissheiten finden sich in jeder Beschreibung von Alltag. Daher

24 | Michael Sheringham arbeitet die wechselseitige Beeinflussung der Arbeiten von Lefebvre, Barthes, de Certeau und Perec heraus und entwirft auf diese Weise eine Genealogie des Interesses am Alltag oder Alltäglichen im französischen Kontext in den 1960ern bis 80er Jahren und darüber hinaus.

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bezeichnet der deutsche Volkskundler Hermann Bausinger den Alltagsbegriff zwar als »nicht präzise«, aber »prägnant trächtig« (Bausinger 1996: 33). Trotz seiner »verfließenden Ränder« umfasse Alltag einen bestimmten »Kernbereich«: »den Bereich der Routine«, verstanden als »das Eingespielte, Eingefahrene, seiner selbst Sichere« (ebd.: 33). Es ist dieses Alltag ausmachende »Netz von Selbstverständlichkeiten«, das für Bausinger gleichzeitig »die Borniertheit des Alltags, seine Beschränkung« kennzeichnet wie umgekehrt seine Gewissheit und Zuverlässigkeit im Sinne einer entlastenden »Erwartungs- und Verhaltenssicherheit« (ebd.: 34, 43). Ob bornierte Gewohnheit, fraglose Stabilität oder langweilige Pflichterfüllung, unser Leben besteht überwiegend aus Alltag. Was Alltag für die Kulturanthropologie interessant macht, ist gerade das, was ihn nicht erwähnenswert erscheinen lässt: immer wieder dieselben Zeiten, Räume, Rhythmen, Rituale, Personen, Aktivitäten – alles wie gewöhnlich – eine Aneinanderreihung unproblematischer Gegebenheiten, verknüpft mit Vorstellungen von Eintönigkeit und Banalität. Das, was alle haben und doch niemand haben will, vertraute und planmäßige Selbstverständlichkeit geregelten Lebens. Etwas, das permanent geschieht, und doch ein Nicht-Ereignis: »Alltag kann man nicht erzählen. Aber ohne Alltag gäbe es gar nichts zu erzählen. Er ist der Normalzustand, von dem sich das (erzählenswerte, erzählbare) Außergewöhnliche abhebt« (Michel 1975: 3). Alltägliches und Nicht-Alltägliches erschließen sich erst durch ihre Gegenüberstellung. Alltag an sich ist ein so sperriger wie flüchtiger Untersuchungsgegenstand. Er scheint sich aufzulösen, wenn er einer genauen Prüfung unterzogen wird (Sheringham 2006: 360). Mehr noch, sobald ihm Aufmerksamkeit geschenkt wird, wird er dem Fluss täglichen Lebens entzogen, seiner Alltäglichkeit beraubt und durchläuft einen Prozess des »de-everyday-ing« (Highmore 2001: 24). Was hinterfragt wird, ist das »Wie, Wo, Wann und Warum« unseres alltäglichen Tuns, sind »Backsteine, Beton, Glas, unsere Tischmanieren, unsere Utensilien, unsere Werkzeuge, die Art und Weise, wie wir unsere Zeit verbringen, unser Rhythmus« (Perec 2001: 178). Wohl alle Alltagsforscherinnen wissen: Was als selbstverständlich gilt, wird erst dann sichtbar, wenn es in die Krise gerät.25 Die von dem US-amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel geprägte, an ein phänomenologisches Alltagsverständnis anknüpfende Ethnomethodologie hat diese Einsicht in so genannten Krisen-Experimenten durchexerziert und zur Methode erhoben: Um die impliziten Regeln aufzudecken, die soziale Interaktionen strukturieren und ihnen Stabilität verleihen, wurden sie bewusst irritiert, indem auf ebenso amüsante wie anschaulich Weise gegen Erwartungen

25 | Dies kann Jeggle zufolge auch für die wissenschaftliche Entdeckung von Alltag in den 1970ern konstatiert werden (Jeggle 1999: 82f.).

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und Normalitätsannahmen verstoßen wurde (Garfinkel 1964). Demgegenüber machte für Kulturanthropologinnen insbesondere der Vergleich von Gewohnheiten und Gepflogenheiten in unterschiedlichen Kulturen Alltag (in seiner Pluralität wie Widersprüchlichkeit) sichtbar, inklusive der ›Eigenarten‹ der Forscherin in ihrer Auseinandersetzung mit einem ihr fremden oder von ihr verfremdeten Anderen. Eine Variante, Alltag zu fassen zu bekommen, ist die von Utz Jeggle propagierte »historische Rückwendung« der Alltagsforschung mit dem Ziel des Entschlüsselns des »Hier und Jetzt im Einst und Dort«(Jeggle 1999: 104f.).26 Eine andere, für mein Vorgehen relevante Variante besteht darin, sich nicht-alltäglichen ›Gegenphänomenen‹zuzuwenden. Es sind die zum Leben gehörenden Krisen, die Alltag potentiell erschüttern, hinsichtlich seiner Bewältigung problematisch und damit sichtbar werden lassen. Zusammenfassend bleiben zwei Punkte zur Erforschung von Alltag festzuhalten. Erstens stellt der Fokus auf Alltag in der Kulturanthropologie hauptsächlich einen methodischen Zugriff dar, einen Ausgangs- und Bezugspunkt. Zweitens werden Alltag und Nicht-Alltag, das Gewöhnliche und das Un- oder Außergewöhnliche, das Eigene und das Fremde sowie das Normale und Nicht-Normale vorrangig über ihre jeweilige Gegenüberstellung und Verknüpfung sichtbar – und letztlich dadurch erst erzeugt. Alltag nach einer Lebertransplantation: Zugriffe und Begriffe Am Anfang meiner Forschung interessierten mich in erster Linie die Effekte der Lebertransplantation. Wie wirkt sich dieser spezifische medizinische Eingriff auf Körper und Leben Organtransplantierter aus? Er ist ein Eingriff, der einen Abschluss markiert und doch unabgeschlossen bleibt, weil auch in seinem Anschluss weiter in Körper und Leben eingegriffen werden muss. Doch eine Organtransplantation interveniert nicht einfach in das Alltagsleben Transplantierter, sie interveniert in das Leben selbst. Die in Organspende-Kampagnen verwendete Metapher vom Organtransplantat als ›geschenktem Leben‹ verweist auf diese zwei Aspekte des transplantationsmedizinisch ermöglichten Lebens: Mit dem Transplantat einer Organspenderin kann Leben weitergelebt werden – biologisch und biografisch. Im Zusammenhang mit diesen unterschiedlichen Dimensionen von Leben ist die Neubestimmung des Lebensbegriffs durch den französischen Anthropologen Didier

26 | Ob die Erforschung von Alltag(-skultur) eher gegenwartsbezogen (Greverus/Frankfurt am Main) oder historisch (Jeggle/Tübingen) angegangen wurden, spiegelte nicht allein die unterschiedliche Rezeption und Diskussion des Alltagsbegriffs im Fach wider, sondern auch die unterschiedlichen Ausrichtung der jeweiligen Institute/Personen (vgl Lipp 1993: 6-9).

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Fassin bemerkenswert, die an George Canguilhems Unterscheidung zwischen Lebend(ig)em (the living, le vivant) und Ge- bzw. Erlebtem (the lived, le vécu) anknüpft (Fassin 2009: 47). Fassin versucht das Leben in seinen multiplen Bedeutungen neu zu fassen und greift dafür die von Michel Foucault geprägten Begriffe Biopolitik und Biomacht auf (Fassin 2009, 2011). Dabei knüpft er an Ansätze an, die sich auf »das Leben selbst« (life itself ) konzentrieren (stellvertretend nennt er Paul Rabinow, Sarah Franklin und Nikolas Rose), die Biopolitik als spezifische Regierungsweise und als Bevölkerungspolitik analysieren, welche auf »das Leben selbst«, seine (genetische) Verbesserung und die gesundheitliche Kontrolle von Bevölkerungen zielen (Fassin 2009: 47). Fassin schlägt den Begriff »Leben als solches« (life as such) vor, um »Leben, das durch Körper (nicht allein durch Zellen) gelebt wird und als Gesellschaft (nicht nur als Spezies)«, zu fassen (ebd.: 48). Ihm geht es um ein neues Verständnis von Lebens-Politik als vielfältig in Leben eingreifende Politik(en) (politics of life) (ebd.: 57). Dadurch öffnet er den Blick für die Effekte dieser Politiken auf einzelne Personen(-gruppen), ihr (all-)tägliches Leben (Tun wie Erleben) und nicht zuletzt die Beziehung oder Wechselwirkung von Lebendem und Gelebtem (Vailly u. a. 2011: 22). Es ist diese Verbindung von organisch Lebendem und alltäglich Gelebtem, die meine Erforschung des Weiterlebens nach der Transplantation inspiriert hat, aber auch die Frage nach den Wirkungsweisen transplantationsmedizinischer Intervention(en) dahingehend verschob, dass neben den Effekten die Intervention(en) selbst sowie die Intervenierenden in den Blick gerieten. Diese Bewegung war aber nicht nur das Ergebnis einer theoretischen Blickverschiebung, sondern auch meiner ersten Forschungsphase in einem Transplantationszentrum, deren zentrale Lektion sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Die Transplantationsmedizin interveniert in ein durch Krankheit problematisch gewordenes Leben, dessen biologische Existenz und Alltagsfähigkeit ohne Transplantat bedroht ist. Sie verspricht eine ›Rückkehr zur Normalität‹, die gleichzeitig eine normale Leberfunktion wie ein normales (Alltags-)Leben umfasst. Um beides aufrechtzuerhalten, muss die medizinische Intervention auch nach der Transplantation fortgesetzt werden, primär in Form einer medikamentösen Beeinflussung des Immunsystems von Transplantierten. Was hier als physiologische wie erlebte Normalität in Aussicht gestellt wird, basiert auf einer medikamentös erzeugten immunologischen NichtNormalität. Zur Erzeugung dieser Kombination aus Normalität und Nicht-Normalität intervenieren nicht allein Medizinerinnen in das Leben von Transplantierten. Über das Therapieregime27 der Transplantations-Nachsorge sind Transplantierte in die

27 | Gemeint sind die unterschiedlichen therapeutisch eingesetzten Dinge und Aktivitäten zur Verbesserung des Gesundheitszustandes, seien es Tabletten, Tests, Diäten oder Gesprächs-

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Herstellung und Aufrechterhaltung ihres Weiterlebens eingebunden, ebenso wie die klinischen Praktiken von Medizinerinnen und die Alltagspraktiken der Transplantierten miteinander verbunden sind. ›Transplantiertes‹ Weiterleben basiert auf einer spezifischen Beziehung von Klinik und Alltag. Diese Verschränkung von Klinik und Alltag bildet den analytischen Fokus meiner Arbeit. Neben medizinanthropologischen Untersuchungen zum Erleben von und Umgang mit Gesundheitsproblemen seitens der Patientinnen wurden daher auch dem Feld der Wissenschafts- und Technikforschung zugerechnete Studien dazu, wie diese Probleme in der Medizin definiert und bearbeitet werden (z. B. Berg/Mol 1998; Lock u. a. 2000; Keating/Cambrosio 2003), zu einem wichtigen Bezugspunkt meiner Analyse. Ferner rückte während meiner Forschung Alltag, das eigentlich Nicht-Erwähnenswerte, aufgrund seiner vielfachen Erwähnung immer mehr in den Blick. Wie in der Einleitung erwähnt, irritierte mich in den Aussagen Transplantierter gerade das eher ungewöhnliche Beharren auf einem gewöhnlichen Alltag nach der Transplantation. Anfangs interpretierte ich diese Betonung von Alltag als Reaktion auf die Erschütterung und Krise des eigenen Alltags durch die schwere Krankheit im Vorfeld der Transplantation. Will im Alltag eigentlich niemand Alltag haben, gar möglichst oft und gerne daraus flüchten, lässt der Verlust von Alltag dessen positive Seite deutlich werden, seine Sicherheitsfunktion. Die Aussage, einen gewöhnlichen Alltag zu haben, beinhaltet den impliziten Verweis ›wie alle anderen auch‹, sie markiert wiedergewonnene Stabilität wie Sozialität. Dasselbe gilt für die Aussage Transplantierter, ein normales Leben zu führen – normal, ›wie alle anderen auch‹, wie es üblich (durchschnittlich und legitim) ist oder was als solches gilt. Ein Kernthema meiner Analyse ist daher, was Post-Transplantations-Alltage ausmacht, was sie spezifisch, aber auch gewöhnlich und normal macht. Parallel und ebenso prominent war in meinem Forschungsfeld eine weitere Form der Thematisierung von Alltag. Nach der Transplantation ging es, gerade seitens der Klinik, darum, dass Alltag neu organisiert werden muss. Wie ich im Laufe der Arbeit ausführlich zeigen werde, geht diese Organisation von Alltag über ein simples Anknüpfen an alte Gewohnheiten deutlich hinaus. So umfasst sie neue Bedingungen, Aufgaben, Regeln und Gewohnheiten und eine daraus resultierende Rekonfiguration von Alltag, deren Ergebnis ich Post-Transplantations-Alltag nenne. Alltag wird

kreise. Der Begriff Therapieregime gehört zwar nicht zum Vokabular meiner Gesprächspartnerinnen, aber zum medizinischen Vokabular, man könnte auch von Therapieplänen oder Behandlungsschemata reden. Mag sein, dass es Ergebnis meiner politikwissenschaftlichen Ausbildung ist, dass ich den Regime-Begriff vorziehe, alle drei Begriffe deuten den systematischen, regelnden wie ordnenden Zugriff an, um den es mir geht.

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zu einem Problem, das bearbeitet werden muss. Weder in den alten Alltag noch die alte Normalität kann einfach zurückgekehrt werden. Hier bieten die Studien zur Bewältigung chronischer Krankheiten und der in diesen Prozess involvierten Arbeit von Anselm Strauss u.a. einen Anknüpfungspunkt. Bereits in ihrer Untersuchung medizinischer Arbeit im Krankenhaus interessierten sie sich für verschiedene Typen von Arbeit(-stätigkeit), z. B. Arbeit mit technischen Geräten oder emotionale Arbeit, und erwähnten die Beteiligung von Patientinnen an diesen Arbeiten (Strauss u. a. 1997). Später untersuchten sie die Arbeit der Krankheitsbewältigung in den Familien chronisch Kranker und unterschieden dabei zwischen krankheitsbezogener Arbeit (Therapieregime einhalten, Krisen und Symptome bewältigen), Biografie-Arbeit (Integration von Krankheit in die Biografie, Re-Konzeptionalisierung des Selbst) und AlltagsArbeit (Beruf, Haushalt, Kindererziehung) (Corbin/Strauss 1993: 76). Hilfreich ist weniger ihr weit gefasster, eher unpräziser Begriff von Arbeit als das, was durch den Blick auf spezifische Aktivitäten als Arbeit sichtbar gemacht wird – die für die Bewältigung von Gesundheitsproblemen nötigen Anstrengungen und Kooperationen und besonders die verschiedenen (Un-)Sichtbarkeiten dieser Arbeiten (vgl. Star/Strauss 1999). Hiermit wird eine Sichtweise auf Alltag und Normalität als Ergebnis von vielfältigen Anstrengungen möglich. In diesem Sinne untersuche ich Alltag und Normalität hinsichtlich ihrer Herstellung, genauer gesagt als Produkt verschiedener, teilweise miteinander verschränkter Herstellungspraktiken von Medizinerinnen und Transplantierten. Im Vordergrund steht dabei weniger die Rekonstruktion sozialer Praktiken als das Wie oder das doing von Alltag und Normalität nach einer Lebertransplantation. Die Kapitel 3 bis 5 zeigen, wie Alltag und Normalität durch verschiedene Praktiken unterschiedlich hergestellt werden und dabei verschiedene Dinge fokussiert, einund ausgeschlossen werden – ein Blickwinkel, den ich Annemarie Mols 2002 veröffentlichter Studie zum Körper bzw. zur Atherosklerose (Arterienverkalkung) als multiplem Objekt und seiner vielfachen Produktion verdanke. Grundsätzlich sind die Begriffe Alltag und Normalität aufeinander bezogen. Während Alltag vor allem Routinen, Regelmäßigkeiten und Gewohnheiten erfasst, verweist Normalität stärker auf die Konventionen und normativen Ordnungen, denen Alltag oder Leben als solches unterliegt. Aussagen über die Normalität einer Sache verknüpfen auf spezifische Art deskriptive und normative Aussagen (vgl. Hacking 2004). Alltag lässt sich demnach als gelebte Normalität analysieren, als Repräsentation und gleichzeitige Gewährleistung von Normalität. Die zweite Form der Thematisierung von Alltag hebt die Besonderheit von Post-Transplantations-Alltagen hervor. Wie lässt sich dieses Bild mit den Alltags- und Normalitätsbekundungen meiner transplantierten Gesprächspartnerinnen verbinden, mit ihrem Beharren auf dem Gewöhnlichen und ihrer Betonung des Normalen trotz dessen ständiger Verunsiche-

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rung, medizinischen Vermessung und Regulierung? Diese Frage lenkt den Blick auf Prozesse der Veralltäglichung und Normalisierung, darauf, wie das Neue oder Besondere banalisiert, verallgemeinert und normalisiert wird. Bausinger spricht von einem Unauffällig-Werden als einem Weg zum Alltag (Bausinger 1996: 32). Oder wie Highmore es ausgedrückt: »Things become ›everyday‹ by becoming invisible, unnoticed, part of the furniture.« (Highmore 2001: 21) Der deutsche Volkskundler Gerrit Herlyn (2008) untersucht am Beispiel der Computernutzung die Veralltäglichung von Technik, indem er danach fragt, ob und wie sie Alltag durchdringt und in den Alltag integriert wird. Er analysiert die Veralltäglichung von Computern anhand ihrer Nutzungsformen und Deutungen vorrangig als kommunikative Aneignung, Integrationsleistung, Akzeptanz und Aushandlungsprozess in einem kulturell strukturierten Möglichkeitsraum (Herlyn 2008: 22-29). Mir geht es demgegenüber um die Fabrikationsprozesse und Kompetenzen, die Alltag und Normalität konstituieren, sowie die darin involvierten Kollektivitäten und Normativitäten. Im Zentrum meiner Arbeit steht die Veralltäglichung und Normalisierung des täglichen Umgangs mit einem transplantierten Körper und des in Körper und Leben (als solches) intervenierenden Therapieregimes. Veralltäglichung und Normalisierung interessieren mich nicht allein als Erzählstrategie gegenüber mir als Forscherin oder als Reaktion auf gesellschaftliche Erwartungen, sondern ebenso als Ziel und Ausdruck gelebter Praxis. Vor dem Hintergrund meiner Frage nach der Herstellung von Alltag und Normalität verstehe ich die Veralltäglichung und Normalisierung des Weiterlebens nach der Transplantation als dynamischen, instabilen wie unabgeschlossen Prozess (siehe auch Amelang u. a. 2011). In der Darstellung dieses Prozesses werde ich häufiger von Routinisierung, also einer Gewohnt-Werdung bestimmter Praktiken sprechen. Bezogen auf die untersuchte Verschränkung von Klinik und Alltag, die sich in einem Arbeitsbündnis zwischen Medizinerinnen und Transplantierten niederschlägt, muss analytisch zwischen unterschiedlichen Projekten der Veralltäglichung und Normalisierung unterschieden werden. Während Transplantierte versuchen, mit ihrem transplantierten Körper umzugehen und neue Routinen auszubilden, um Alltag herzustellen, geben die Medizinerinnen ein Disziplin erforderndes Regime für den Alltag vor und erweitert ihren Einflussbereich über die Klinik hinaus. Demgegenüber bezieht sich das Projekt der klinischen Normalisierung darauf, transplantierte Körper und ihre Funktionen normal zu halten. Diese körperliche Normalisierung ist zwar auch für Transplantierte wichtig, entscheidender ist für sie jedoch, dass sie ein nach eigenen, aber auch gesellschaftlichen Maßstäben normales Leben führen. Gerade Normalisierung wird daher auch auf die mit ihr verknüpften Definitionen und Messungen von Normalität befragt. Die verschiedenen Projekte der Veralltäglichung oder Normalisierung des Lebens nach der Transplantation sind dabei miteinander

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verbunden und stehen in Spannung zueinander. Diese Spannung verdeutlicht die dynamische Wechselbeziehung von Klinik und Alltag, die zugleich als Verhandlung einer Grenzverschiebung zwischen Klinik und Alltag zu verstehen ist. Obwohl ich den spezifischen Alltag Lebertransplantierter als Forschungsgegenstand fasse und meine Analyse die Auslassungen und Unsichtbarkeiten in der Herstellung von Alltag und Normalität sichtbar machen wird, kann ich weniger mit einer präzisen Definition von Alltag aufwarten als mit einer empirisch fundierten Vielheit, die verunsichert, befragt und anregt. Anders ausgedrückt: Ich nutze die thematische Fülle wie konzeptionelle Vieldeutigkeit und Unschärfe des Alltagsbegriffs heuristisch, indem ich ihn für die Analyse bewusst offen und widersprüchlich halte. Nur so kann ich die Bandbreite vielfältiger Thematisierungen, Dimensionen und Produktionen von Alltag abstecken, die ich in den empirischen Kapiteln für PostTransplantations-Alltage genauer beleuchten werde. Ich werde Banalitäten, Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten vorstellen, die von den meisten Leserinnen nur teilweise als solche bezeichnet werden würden und von denen viele auch für mich anfangs nicht alltäglich waren. Ich werde viel von Alltagen und Normalitäten berichten, dabei jedoch das Bild einer ungewöhnlichen Produktion von Alltag und Normalität unter ›extremen‹ Bedingungen zeichnen. Wie in der Kulturanthropologie üblich, erzähle ich folglich vom Außergewöhnlichen und Anderen mit der Absicht, dadurch ebenfalls etwas über die eigenen Selbstverständlichkeiten zu lernen – selbst wenn in diesem Fall das Außergewöhnliche und Andere explizit unter den Begriffen Alltag und Normalität verhandelt wird.

2.3 B ESONDERHEITEN

DES F ORSCHUNGSFELDES UND METHODISCHES VORGEHEN

Meine Arbeit basiert auf ethnografischer Feldforschung. Wie habe ich das Untersuchungsfeld konzeptionalisiert, um es beforschbar zu machen? Welche Forschungsstrategien habe ich dazu verwendet? Im Mittelpunkt dieses Abschnittes steht meine Wissensproduktion, der Lern- und Verstehensprozess während der Feldforschung. Um diesen transparent zu machen, werde ich mein empirisches Feld vorstellen, darlegen, wo sich die von mir untersuchten Praktiken lokalisieren ließen, aus welchen (Beobachtungs-)Positionen heraus ich sie beforschte und wie ich bei der Bearbeitung und Auswertung des Materials vorgegangen bin.

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Feld bestimmen und zusammensetzen Mit dem Fokus auf Post-Transplantations-Alltage beziehe ich mich auf einen spezifischen Ausschnitt der Transplantationsmedizin, den Bereich der TransplantationsNachsorge, gewissermaßen ihre unspektakuläre Seite. Meine Forschung beginnt also erst nach dem, eigentlichen Ereignis: der Organtransplantation. Sie beginnt, nachdem diverse, mitunter kontroverse, diesen medizinischen Eingriff erst ermöglichende soziomaterielle Infrastrukturen und Aktivitäten erfolgreich miteinander verbunden worden sind und der daraus hervorgehende Prozess abgeschlossen ist (siehe 2.1). Wenn die Herstellung von Alltag und Normalität nach einer Lebertransplantation der Gegenstand dieser Arbeit ist, was ist dann das konkrete empirische Feld? Wie und wo lässt sich das (Weiter-)Leben Transplantierter und dessen Herstellung als normaler Alltag erforschen? Das Feld als selbstverständlicher Ort kulturanthropologischer Forschung und Selbstverortung hat spätestens in den 1990er Jahren seine vermutete Stabilität verloren (vgl. Gupta/Ferguson 1997; Amit 2000; Faubion/Marcus 2009; Knecht 2010). Seither wird die Konstruktion des Feldes im Prozess der Feldforschung betont. Wie die britischen Anthropologen Simon Coleman und Peter Collins es ausdrücken: »[. . . ] fields are as much ›performed‹ as ›discovered‹, framed by boundaries that shift according to the analytical and rhetorical preferences of the ethnographer and, more rarely, the informant« (Coleman/Collins 2006: 17). Die Konstruktion des Feldes erfolgt durch die Praktiken der Feldforscherin, ihre Interaktionen mit und Beziehungen zu Gegenstand, Ort(en) und Teilnehmerinnen der Forschung. In der Konsequenz bedeutet das, dass das Feld stets »im Prozess des Werdens« ist (ebd.: 12). Zur Veranschaulichung zwei Beispiele, wie sich durch Beobachtungs- und Gesprächssituationen produzierte sowie darüber hinaus mit einbezogene Materialien ›mein Feld‹ im Laufe der Forschung immer wieder neu ausdehnte oder verengte, gestreift oder vertieft wurde: Mittendrin und am Rande: Mehr als eine Stunde hörte ich bei Kaffee und Keksen in der Esszimmerecke eines Reihenhauses Robert Jost zu, der mir noch einmal ausführlich erzählte, wie es ihm vor und mit der Transplantation und insbesondere im letzten Jahr ergangen ist. Kennen gelernt hatte ich den 65-Jährigen knapp drei Wochen nach seiner Lebertransplantation im Krankenhaus. Damals trug er Mundschutz und Handschuhe, um sich vor Keimen zu schützen, und freute sich, das Krankenhaus pünktlich zu Weihnachten verlassen zu können. Dass ein halbes Jahr später erneut ein Tumor in seiner Leber gefunden wurde und behandelt werden musste, erschütterte ihn, wie mir eine Ärztin erzählte, warf ihn zurück, wie er selbst sagte, war jedoch in der Interviewsituation, sechs Monate sowie einen chirurgischen Eingriff später, zu

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einer Randnotiz geworden. Seine Transplantationsgeschichte entwarf er sachlich-nüchtern wie optimistisch als eine positive. Emotionaler fiel die Einschätzung seiner Frau aus, die mir, als ich das Geschirr zurück in die benachbarte Küche brachte, wo sie in Hörweite zum Interview Marmelade kochte, eine Art informellen Kommentar zur eben gehörten Geschichte ihres Mannes lieferte und jenseits des familiären Optimismus auch die »gefühlsmäßig anstrengende[n] Momente« erwähnte, während Robert Jost eine Enkeltochter von der Schule abholte. Am Ende schenkte sie mir ein Glas der gerade abgefüllten Marmelade, »selbstverständlich alkoholfrei«, wie sie scherzte. Obwohl ein Arzt bezüglich der im Rezept verwendeten zwei Esslöffel Rum auf vier Liter Marmelade grünes Licht gegeben hätte, lasse sie diesen aufgrund des Alkoholverbotes nach einer Lebertransplantation inzwischen weg.

In diesem Beispiel wird der Gegenstand Post-Transplantations-Alltag anhand des ersten Transplantationsjahres eines Lebertransplantierten und seiner Geschichte entwickelt. Er entsteht im Transkript der 75-minütigen Audioaufnahme des Interviews, in darüber hinausgehenden Notizen zu Gesprächseindrücken und der Unterhaltung mit Robert Josts Frau genauso wie in Beobachtungs- und Gesprächsprotokollen zu Situationen im Krankenhaus, in denen mir Robert Jost persönlich, als besprochener ›Fall‹ im Gespräch zwischen Ärztinnen oder indirekt in Form seiner Patientenakte begegnete. Die Konstruktion des Feldes umfasst und verbindet hier unterschiedliche zeitliche Episoden, Orte wie das Krankenhaus und Zuhause Robert Josts oder Praktiken wie die medizinische Check-up-Untersuchung und das familiäre Weglassen einer Marmeladen-Zutat. Diese Zeiten, Orte und Praktiken existieren auch ohne mich und mein Zutun. Erst durch ihre spezifische, auf Gegenstand und Problemstellung bezogene Auswahl und Verknüpfung werden sie für mein Feld relevant und konstitutiv. Das zweite Beispiel, eine unvollständige Aufzählung von Aktivitäten, die zusätzlich zu Beobachtungen und Gesprächen stattfanden, deutet an, dass auch weniger offensichtliche Feldforschungsaktivitäten die prozesshafte Formung des Feldes mitbestimmen oder prägen. Streifzüge: Ich lese einen von einer Kollegin als für mein Thema interessant eingestuften Artikel aus einem wissenschaftlichen Journal. Ich rufe mir Filme wie 21 Gramm (2003) oder Fleisch (1979) ins Gedächtnis, die Themen wie Herztransplantation oder Organhandel behandeln und die ich sah, lange bevor ich mich mit dem Thema Transplantationsmedizin befasste, die mir aber seitdem wieder häufiger begegnen. Ich versuche aus den bunten Balkendiagrammen der Knochendichtemessung Sinn zu machen, die indirekt anzeigen, wie stark sich ein Immunsuppressivum auf die Knochenstabilität einer Patientin niederschlägt, und erinnere mich an die Eselsbrücke einer Ärztin: »Befinden sich alle Messwerte im blau gefärbten Bereich, ist alles im sprichwörtlich grünen Bereich«. Ich bleibe in der Fußgängerzone einer mittelgroßen deutschen Stadt am Stand einer Selbsthilfegruppe stehen, die für Organspende wirbt. Ich spiele ein

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Computerspiel, das eine Zeit lang auf einer Internet-Seite angeboten wurde, auf der eine große Pharmafirma zum Thema Organtransplantation informiert und den Kampf von Transplantat und Immunsystem simuliert. Ich verfolge in der Presse die Diskussionen zur Änderung des Transplantationsgesetzes. Zum Geburtstag bekomme ich nicht den neuen Roman des Berliner Schriftstellers David Wagner, sondern seine Transplantationsgeschichte.28

Das Material, auf dem diese Arbeit basiert, umfasst nicht allein die auf Grundlage beobachteter Situationen und geführter Gespräche produzierten Feldnotizen und Gesprächsprotokolle, z. B. zum typischen Ablauf einer Check-up-Untersuchung oder zu den Konsequenzen einer Lebertransplantation aus Sicht eines freiberuflichen Theaterregisseurs ohne feste Partnerschaft. Neben dem Wechselspiel zwischen eigener empirischer Forschung und der parallel erfolgenden Lektüre mehr oder weniger einschlägiger Literatur stellen die hier skizzierten Aktivitäten verschiedene Zugriffe auf Post-Transplantations-Alltage dar und (re-)konstruieren das Feld und seine thematischen Ränder immer wieder neu. Beide Beispiele betonen die Herstellung des Feldes durch meine Forschungspraxis und deuten dadurch schon seine Flüchtigkeit an. Den Gegenstand (Alltag) im Feld zu finden und nicht aus den Augen zu verlieren oder das Feld über die verstreuten Eindrücke und Forschungsorte zusammenzuhalten, ist Ergebnis von Entscheidungsprozessen (vgl. Knorr Cetina 2002: 26-28) sowie von Verknüpfungs- und Übersetzungsarbeit (vgl. Callon 1986). Der ersten Exploration wie Skizze des Forschungsfeldes dienten, neben der Lektüre von Literatur zum Thema Transplantation, sechs Interviews und eine Gruppendiskussion mit Organtransplantierten in Berlin, die im Rahmen des interdisziplinären EU-Projekts Challenges of Biomedicine stattfanden (siehe Fn.5 S. 5). Dabei begegneten mir erstmals verschiedene Transplantierte, ihre Sichtweisen auf ihr Leben mit einem Organtransplantat (Herz, Leber, Niere) sowie auf die Auswirkungen und die Gestaltung dieses Lebens. Wie schon erwähnt nahm das Interesse, Alltags- und Normalisierungspraktiken nach einer Transplantation genauer zu erkunden, hier seinen empirischen Anfangs- und Ausgangspunkt. Aufgrund meiner Frage nach der Herstellung von Alltag und Normalität ist mein Forschungsfeld in erster Linie durch Praktiken gekennzeichnet: die vielfältigen täglichen Aktivitäten von Lebertransplantierten und Medizinerinnen, die getrennt voneinander, aufeinander bezogen und/oder gemeinsam die Herstellung und Stabilisierung transplantierter Körper und Leben bewerkstelligen. Damit geht es um die Praktiken zweier unterschiedlicher sozialer, in sich heterogener Akteursgruppen, die in einem doppelten Fokus betrachtet werden. Unter Medizinerinnen subsumiere ich Personen

28 | Gemeint ist hier Wagners Für neue Leben, 2009 bei SuKuLTuR erschienen.

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verschiedener medizinischer Berufs- und Statusgruppen, untersuche und beschreibe sie also in ihreren professionellen Rollen und Praktiken. Hinsichtlich der Gruppe der Leber-Transplantierten lässt sich darüber streiten, ob Bezeichnungen wie Organempfängerinnen oder Patientinnen, die ich bisweilen synonym verwende, angemessener wären. Erstere hebt das über eine Organtransplantation hergestellte Austauschverhältnis hervor, welches nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit steht. Letztere werden aufgrund der lateinischen Wortherkunft als Erduldende oder Ertragende eines Leidens mit einer gewissen Passivität verbunden und vor allem über ihre Position und Interaktion im Medizinsystem klassifiziert. Sie ist daher nur im klinischen Kontext sinnvoll. Was Lebertransplantierte verbindet, ist eine bestimmte medizinische Intervention in ihr Leben, auch wenn ihre jeweiligen Erfahrungen mit diesem Eingriff genauso variieren wie ihre sozialen Herkünfte und Biografien. Unterschiedliche Perspektiven von Medizinerinnen und Patientinnen, ein klassisches Thema der Medizinanthropologie, werden auch in meiner Arbeit beleuchtet. Gleichzeitig werden sie durch den Fokus auf die Praktiken jedoch zu einem gewissen Grad de-thematisiert oder de-zentriert (vgl. Mol/Law 2004). Um Praktiken zu untersuchen, bieten sich vor allem Verfahren der Beobachtung an. Gerade Alltagspraktiken, und damit auch klinische Praktiken (vgl. Timmermans/ Berg 1997), lassen sich hinsichtlich ihrer Einbettung in soziale Kontexte eher beobachten als erfragen. Als Kulturanthropologin konnte ich mit der teilnehmenden Beobachtung auf ein Herzstück der Disziplin und ihres methodischen Repertoires zurückgreifen. Ebenso entscheiden sich an der Rekonstruktion sozialer Praktiken interessierte Soziologinnen oder Wissenschafts- und Technikforscherinnen häufig für ein ethnografisches Vorgehen (vgl. z. B. Hirschauer/Amann 1997; Knorr Cetina 2002). Der Stellenwert teilnehmender Beobachtung wird jedoch in der gegenwärtigen Kulturund Sozialanthropologie unterschiedlich bewertet. Der US-amerikanische Kulturanthropologe Michael Herzfeld betont ihre anhaltende Zentralität und vor allem die durch sie generierte Vertrautheit, er spricht von »intimacy of focus« (Herzfeld 2001: 6), die üblicherweise über längerfristige Anwesenheiten und den Aufbau sozialer Beziehungen im Feld etabliert wird. Demgegenüber kritisieren sein US-amerikanischer Kollege Hugh Gusterson und der schwedische Sozialanthropologe Ulf Hannerz vor dem Hintergrund ihrer multilokalen, dem Bereich des studying up zugeordneten Forschungen die fetischartige Fixierung des Faches auf diese eine Prozedur und werten weniger ›vertrauliche‹ Forschungstechniken und -aktivitäten auf.29 Während Guster-

29 | Studying up steht für eine die Machtverhältnisse zwischen Forschenden und Beforschten reflektierende Positionierung wie Forschungsrichtung. Laura Nader (1999) prägte den Begriff Ende der 1960er Jahre, verbunden mit der Kritik an der Beschränkung auf bestimmte Perso-

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son, je nach Feld, Zugangsmöglichkeiten und thematischen Prioritäten, ein weites Verständnis von Feldforschung als »polymorphous engagement« favorisiert (Gusterson 1997: 116), beschreibt Hannerz die kultur- bzw. sozialanthropologische Datenproduktion als Ausloten von Möglichkeiten: »an art of the possible, where one always has to keep an eye out for new opportunities« (Hannerz 2003: 34). Beide unterstreichen, was ebenso für die klassische Kombination aus Beobachtungen und Gesprächen gilt, einen von Improvisation, Pragmatik und dem Nutzen von Gelegenheiten geprägten Forschungsprozess – was Karin Knorr-Cetina in ihrer Laborstudie zur naturwissenschaftlichen Wissensproduktion als opportunistische oder zweckmäßige Anpassung der Forschenden wie des Forschungsprozesses an die jeweilige Situation bezeichnet hat (Knorr Cetina 2002: 56). In diesem Sinne basiert meine über zwei Jahre dauernde und innerhalb dieses Zeitraums unterschiedlich intensive Forschung auf von mir auf unterschiedliche Weise eingegangenen Verbindlichkeiten und wahrgenommenen Gelegenheiten. Praktiken und Forschungsorte lokalisieren Trotz seiner räumlichen und zeitlichen Unmittelbarkeit ist Alltag schwer zu orten und wird erst durch die Erfassung der ihn konstituierenden Praktiken sichtbar (vgl. Sheringham 2006: 360). Diese (Alltags-)Praktiken sind stets auf konkrete Orte bezogen. Ein Ort, an dem Alltag und Normalität nach einer Organtransplantation hergestellt werden, ist das Krankenhaus. Hinsichtlich seiner Alltäglichkeit ist das Krankenhaus jedoch auch ein ambivalenter Ort. Für die einen, z. B. Medizinerinnen oder Langzeit-Patientinnen, ist es ein Arbeitsort oder sogar »zweites Zuhause«. Für andere Patientinnen oder Angehörige ist es ein Ausnahmeort, an dem Ängste und Hoffnungen, Leben und Tod eng beieinander liegen. Für wieder andere, gerade Foucaultund Goffman-Belesene, ist es eine machtvolle kulturelle Institution. Innerhalb des Forschungsfeldes der Hospital Ethnography ist die Mehrdeutigkeit und Ambivalenz des Krankenhauses ein wichtiger Aspekt: Krankenhäuser werden darin einerseits als »Inseln« verstanden, kulturell abgetrennt von der Sphäre normalen gesellschaftlichen Lebens, andererseits als in diese Sphäre eingebettet, als wichtiger Teil des kulturellen oder gesellschaftlichen »Festlandes« (Van der Geest/Finkler 2004: 1998; Long

nengruppen und der Hoffnung auf eine Neuausrichtung der von der Forschungsbewegung her in die eigene Gesellschaft ›zurückkehrenden‹ und diese nun untersuchenden Anthropologie (»repatriated anthropology«, »anthropology at home«). Sie forderte, nicht nur gesellschaftliche »underdogs« (studying down), sondern ebenso die Mächtigen und ihre Institutionen (studying up) zu untersuchen.

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u. a. 2008: 71-73). Letztere Lesart erinnert an Bewegungen innerhalb der Medizinanthropologie, nicht mehr nur Medizin in verschiedenen Kulturen zu untersuchen, sondern Medizin als Kultur sowie damit verbunden die Kulturen der keineswegs homogenen (Bio-)Medizin (Beck 2007). Für Transplantierte scheint das Krankenhaus gleichzeitig Alltag zu ermöglichen, zu begleiten und zu verunmöglichen. Erstens wird dort (Weiter-)Leben als Bedingung von Alltag durch eine nicht gerade alltägliche Operation, den Austausch eines Organs, erst möglich. Sich bisweilen ins Krankenhaus zu begeben gehört zweitens zum Alltag Transplantierter: Ihr Weiterleben wird durch das Krankenhaus (Transplantationszentrum) kontinuierlich begleitet wie überwacht. Drittens symbolisiert das Krankenhaus nichtsdestotrotz Nicht-Alltag, sie sind (hier) Patientinnen und an einem Ort, der sie sowohl an ihre Sterblichkeit als auch ihr Überleben erinnert. Inwiefern Transplantationszentrum und Reha-Klinik als Orte der Festlegung und Verhandlung des Therapieregimes dann Veralltäglichung stören oder unterstützen, ist eine empirische Frage, die im Laufe der Arbeit geklärt wird. Der zweite für die Alltagspraktiken von Lebertransplantierten relevante Ort ist deren Zuhause, wobei dieses Wort den genauen Ort nur unzureichend bezeichnet. Ich traf Transplantierte oft in ihren eigenen vier Wänden, was aber natürlich keineswegs bedeutet, dass ihre Alltagspraktiken darauf begrenzt waren. Die interessierenden Praktiken finden an den Orten statt, an denen Lebertransplantierte kochen, entspannen, ihre Medikamente nehmen, Freundinnen treffen, Sport treiben und zur Arbeit oder ins Kino gehen – also in ihrer Wohnung, ihrem Wohnviertel, im Wald am Stadtrand, im Stadtzentrum, in öffentlichen Verkehrsmitteln etc. Es geht somit um ihre verschiedenen ›Alltagsorte‹, die für Transplantierte zum Alltag gehörenden Orte – wozu ebenso das Krankenhaus zählt. In der schwierigen Lokalisierung dieser Alltagsorte liegt das Dilemma meiner Forschung. Die Herstellung von Alltag und Normalität nach einer Lebertransplantation findet innerhalb und außerhalb des Krankenhauses statt, lässt sich aber im Krankenhaus leichter lokalisieren. Doch das Krankenhaus und Orte außerhalb davon werden hier nicht als sich ausschließende Einheiten oder Gegensätze betrachtet. Vielmehr stehen sie, wie die empirischen Kapitel 3 bis 5 zeigen werden, miteinander in Beziehung und mal mehr, mal weniger im Konflikt. Mal sind sie durch Praktiken verschränkt, mal involvieren sie unterschiedliche Praktiken und Normen oder verschiedene Projekte der Veralltäglichung und Normalisierung. Meine Arbeit löst dieses Spannungsverhältnis nicht auf, sondern zeigt, wie mit ihm umgegangen wird. Im Rahmen meiner Forschung sind dann ein Krankenhaus in einer deutschen Großstadt, das jeweilige ›Zuhause‹ (in einem sehr weiten Sinne) verschiedener Lebertransplantierter in dieser Stadt oder deren Umgebung und eine in einem anderen Bundesland befindliche Reha-Klinik Forschungsorte, an denen ich mehr über die Herstellung von Alltag und Normalität nach einer Lebertransplantation erfahren,

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mit Medizinerinnen und Transplantierten ins Gespräch kommen sowie ihre Praktiken lokalisieren konnte. Ausgangs- wie kontinuierlicher Bezugspunkt meiner Feldforschung war ein in Deutschland zu den größeren seiner Art gehörendes Zentrum für Lebertransplantation, das an einer chirurgischen Universitätsklinik angesiedelt ist und dort, verteilt auf verschiedene Abteilungen und Etagen des Klinikgebäudes, diverse mit einer Transplantation verbundene Orte umfasst: Operationssäle, Intensivstation, Pflegestationen für Transplantierte und/oder andere Patientinnen, verschiedene Behandlungsund Untersuchungszimmer, das für die Logistik einer Transplantation zuständige und Wartelistenpatientinnen betreuende Transplantationsbüro, die Abteilung für klinische Studien und schließlich die Lebertransplantationsambulanz.30 Letztere stand aufgrund meines Fokus auf der Transplantations-Nachsorge im Mittelpunkt meiner wiederholten, unterschiedlich langen Forschungsaufenthalte von zwei zusammenhängenden Monaten im Herbst 2007, elf wöchentlich stattfindenden Forschungstagen im November und Dezember 2008 und monatlichen ›Stippvisiten‹ 2009. Als Ort, an dem Patientinnen versorgt werden, nicht aber über Nacht oder mehrere Tage stationär verbleiben, ist die Ambulanz selbst ein Zwischenort: eine Schnittstelle zu anderen Bereichen des Zentrums, des Krankenhauses und des lokalen medizinischen Versorgungssystems, zu einer Reha-Klinik, in deren Transplantationsbereich ich im Sommer 2009 für eine Woche hospitierte, da dort etliche Patientinnen des untersuchten Zentrums ihre Anschlussheilbehandlung nach der Transplantation verbringen, und zu den Lebertransplantierten, die ich als Ambulanz-Patientinnen kennen lernte. Insgesamt traf ich in der Ambulanz mehr als 100 Lebertransplantierte, bisweilen deren Angehörige und drei Lebendorganspenderinnen sowie vermittelt über das Transplantationsbüro 13 Wartelistenpatientinnen und zwei potentielle Lebendspender. Näheres erfuhr ich zudem über Anrufe einiger dieser und weiterer Personen sowie Gespräche zwischen Medizinerinnen über dieselben. Wenn sich die Gelegenheit bot, nutzte ich die von mir begleiteten Interaktionen zwischen Patientinnen und medizinischem Personal und die Zeit davor, währenddessen und danach, um mit (potentiellen) Transplantierten ins Gespräch zu kommen. Hier ging es darum, Beobachtungen zu ergänzen und darüber hinausgehende Eindrücke und Kontakte zu erlangen. Neben solchen einmaligen, meist kürzeren informellen Gesprächen hatte ich mit 35 Patientinnen der Ambulanz wiederholten Kontakt. Zwölf von ihnen begleitete ich intensiver, traf sie, mit Ausnahme eines Patienten, außerhalb der Ambulanz und führte mit ihnen offene, leitfadengestützte Interviews mit narrativen, biografischen und themenzentrierten

30 | Hinweise auf die geografischen Orte meiner Forschung werden zum Schutz der Anonymität der Forschungsteilnehmerinnen bewusst unterlassen.

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Anteilen durch. Dabei ging es mir darum, dass die Gruppe im Hinblick auf Alter, Geschlecht und Bildungshintergrund, aber auch im Hinblick auf die Umstände der Lebertransplantation selbst (Zeitpunkt der Transplantation und Grunderkrankung) möglichst heterogen zusammengestellt war.31 Im Transplantationszentrum und in der Reha-Klinik lief meine Forschung unter der Bezeichnung Forschungshospitanz. Gerade in Ausbildungskrankenhäusern wie Universitätskliniken sind Medizinerinnen und Patientinnen, insbesondere krankenhauserfahrene Langzeit-Patientinnen wie Lebertransplantierte, daran gewöhnt, während ihrer Arbeit, Untersuchung oder Interaktion von unerfahrenen Neulingen beobachtet und befragt zu werden. Im Krankenhaus konnte ich daher forschungsstrategisch eine bestehende Rolle nutzen, selbst wenn meine Interessen und mein Verhalten als Nicht-Medizinerin und Feldforscherin mitunter quer zu dieser Rolle lagen.32 Eine solche Rolle fehlte dagegen im Alltag der Lebertransplantierten. Die Beobachtung ihrer Praktiken hing nicht allein von der Frage des Zugangs ab (wer lässt sich bei seinen banalen wie intimen Alltagsaktivitäten zu Hause beobachten), sondern betraf die Eingrenzung der Praktiken: Wo beginnt und wo endet Alltag? In klinische Praktiken erhielt ich einen Einblick durch die Begleitung von Medizinerinnen in ihrem Arbeitsalltag. Meine Anwesenheit war nicht üblich, änderte jedoch bis auf meine Frage an Patientinnen, ob ich an Untersuchung oder Gespräch teilnehmen kann, nicht die Abläufe. Demgegenüber wurden meine ›Haus‹-Besuche von Lebertransplantierten öfter als »Abwechslung« bezeichnet und so von ihnen als nicht-alltäglich markiert. Gleichwohl mussten währenddessen Tabletten genommen, Hygiene-Vorschriften beachtet, Anrufe von der Krankenkasse oder der Arbeitgeberin beantwortet und Bemerkungen von Angehörigen kommentiert werden. Insgesamt lernte ich die Effekte medizinischer Interventionen im und auf den Alltag Transplantierter in den Interaktionen mit ihnen innerhalb und außerhalb der Ambulanz kennen: in Gesprächen und Beobachtungen in der Klinik, wo die Nor-

31 | In der Ambulanz gab es keine offizielle Statistik, nur die durch meine Beobachtungen bestätigte Aussage, dass mehr Männer als Frauen Patientinnen der Ambulanz sind. Demgegenüber waren von den zwölf von mir begleiteten Lebertransplantierten fünf Männer und sieben Frauen. Gesamtgesellschaftlich sind Organtransplantierte zahlenmäßig eine kleine Gruppe, im Hinblick auf Klassenzugehörigkeit und Alter jedoch halbwegs repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. 32 | Dieses Querliegen bestand nicht allein darin, dass ich andere Dinge interessant fand oder fragte als eine Medizinstudentin oder Pflegeschülerin, sondern betraf auch meine Position quer zu den Hierarchien: Häufig begleitete ich Ärztinnen. Blieb ich länger bei einer Patientin, unterbrach ich damit Routinen, aber es wurde meiner Forschung zugerechnet. Wechselte ich zwischendurch zu den Krankenschwestern, sorgte das für wesentlich mehr Irritation.

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malität transplantierter Körper, das Therapieregime und die Alltagserfahrungen wie -praktiken von Transplantierten verhandelt wurden, wenn ich mit Patientinnen den Weg von der Klinik zum öffentlichen Nahverkehr teilte oder sie nach ihrer Arbeit für ein längeres Gespräch im benachbarten Park traf, wenn ich mit ihnen zu Hause oder in einem Restaurant aß, mit ihnen telefonierte oder mit ihnen und ihrem Hund spazieren ging. Weiter lernte ich, was Alltag und Normalität für sie, mit dem Therapieregime und jenseits davon, heißt, wenn ich sie in ihren Wohnungen, Häusern oder Gärten in der Stadt oder anderswo, mit und ohne Familienmitglieder traf. Schließlich versuchte ich meinen Gesprächspartnerinnen zuzuhören, als wenn sie »ihre eigenen Ethnografinnen« wären (Mol 2002: 15). In der Kulturanthropologie ist es nicht untypisch, Forschungsteilnehmerinnen als Expertinnen ihres Alltags zu verstehen – eine Auffassung, die auf der Annahme beruht, dass man über Phänomen X zwar nicht alles, aber vieles von denjenigen erfährt, die X tun oder erleben. Da Anthropologinnen aufgrund ihrer Beobachtungen wissen, dass in diesen Erzählungen, Repräsentationen und Reflexionen von Alltagspraxis nicht alles erzählt wird, lautet der ethnografische Imperativ, Menschen zu ihren Praktiken zu befragen und bei der Ausführung derselben zu beobachten. Letzteres fand statt, wenn auch nicht ›mit aufgeschlagenem Zelt‹ an einem oder mehreren festen Orten, sondern in den qua Zugang begrenzten Interaktionen und Beobachtungen. Als ihre eigenen Ethnografinnen mögen meine Gesprächspartnerinnen ungenau, da untrainiert, gewesen sein, ihre unterschiedlich ›dichten‹ Beschreibungen zu den praktischen Dingen des Lebens nach einer Lebertransplantation schärften jedoch meinen Blick für die Banalitäten, Widrigkeiten wie (Nicht-)Normalitäten des Lebens nach der Transplantation – und wie diese praktisch ge- und erlebt werden. Kurz, ich habe unterschiedliche Sorten von Material über und Zugriffe auf Alltagspraktiken nach einer Lebertransplantation produziert. Ihre wechselseitige Ergänzung wie Konfrontation prägte den Erkenntnisprozess während der Feldforschung ebenso wie die anschließende Analyse des Materials. Der dabei stattfindende Dialog zwischen Beobachtungen und Gesprächen sowie zwischen Praktiken innerhalb und außerhalb des Krankenhauses ging über eine bloße Addition oder Gegenüberstellung von Klinik und Alltag hinaus. Stattdessen ist es dieser mitunter konfliktreiche Dialog, der das (Weiter-)Leben nach der Transplantation kennzeichnet und dessen Analyse die drei empirischen Kapitel dieser Arbeit zusammenhält. Zuletzt bleibt anzumerken, dass es sich aus kulturanthropologischer Perspektive um eine Forschung ›vor der eigenen Haustür‹ handelte: Ich kannte das deutsche Medizinsystem als Patientin, lebe wie die begleiteten Medizinerinnen und Lebertransplantierten in Deutschland und kannte das Leben mit einer lebensbedrohlichen chronischen Krankheit aus der Perspektive einer Angehörigen. Gleichzeitig war mir die

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Transplantationsmedizin und ihre Intervention in den Alltag der Betroffenen am Anfang der Forschung fremd. Nähe und Distanz zum Forschungsfeld mögen aus unbekannten lokalen Gepflogenheiten oder persönlichen Vertrautheiten mit mehr oder weniger fernen Orten und Praktiken in oder außerhalb der eigenen Gesellschaft erwachsen, sind aber auch ein Produkt der methodischen Entscheidungen und Forschungsstrategien der Forschenden. Auf die Formen der Beobachtung der Alltagspraktiken von Lebertransplantierten bin ich gerade eingegangen, im nächsten Abschnitt werde ich meine Beobachtungspositionen im Krankenhaus ausführlicher darstellen. (Beobachtende) Positionierungen Statt einer klassischen ethnografischen Ankunftsgeschichte (arrival tale) beginne ich mit der Kittelfrage und damit mit einem zentralen Artefakt des Krankenhaus-Alltags: Ein paar Tage bevor ich im November 2007 meine Forschung in der Transplantationsambulanz begann, telefonierte ich erneut mit dem Oberarzt, an den meine Forschungsanfrage vom Chefarzt der Klinik delegiert worden war. Während wir letzte Details meiner Ankunft klärten, fragte er nebenbei: »Haben Sie einen Kittel?« Als ich irritiert verneinte, überlegte er laut: »Das wäre nicht schlecht. Schließlich sind Sie ja in der Patientenversorgung. Da bräuchten Sie schon einen Kittel«. Seine knappe Begründung deutet zwei zentrale Aufgaben der bekannten Arbeitskleidung an, die wie kaum ein anderes Objekt das Bild von Ärztinnen prägt: Schutz und Differenzierung. Die historischen Ursprünge des weißen Kittels als Kleidung und Symbol für die Ärzteschaft liegen laut dem US-amerikanischen Mediziner Dan Blumhagen in verschiedenen Transformationen der Medizin um 1900 begründet: im Aufkommen der antiseptischen Chirurgie, in der Aneignung des Laborkittels im Kontext einer neuen (Selbst-)Darstellung der Medizin als Wissenschaft und in der veränderten Bedeutung des Krankenhauses als Ort des Heilens – die weißen Uniformen des medizinischen Personals lösten die schwarzen des religiösen Personals ab (Blumhagen 1979: 112f.). Bereits damals erfüllte der Kittel sowohl eine praktische Schutzfunktion, indem er beim Kontakt zwischen Ärztinnen und Patientinnen beide Seiten vor Keimen schützte, als auch symbolische Repräsentationsfunktion, indem er den professionellen Status inklusive dazugehöriger Autorität anzeigte.33 Der Kittel markiert seine Trägerin,

33 | Blumhagen (1979) sieht im partiellen Abwenden vom Kittel in der Kinder- und Jugendmedizin sowie der Psychatrie eine Reaktion auf die Kritik am Kittel als Symbol für ärztliche Autorität. In Großbritannien wurde 2008 sogar die Abschaffung des Arzt-Kittels eingeläutet, da dieser als »Dreckschleuder« identifiziert und seine Schutzfunktion jenseits von OPs und konkreten Eingriffen für hinfällig erklärt wurde (Süddeutsche Zeitung 18.9.2007).

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er differenziert. Die Vorstellung, ›einfach so‹ in dieses Kleidungsstück zu schlüpfen, fiel mir daher nicht allein wegen seiner symbolischen Bedeutung und meiner fehlenden medizinischen Ausbildung schwer. Was mich an der Kittelfrage irritierte, war in erster Linie ihre Konsequenz für meine Forschungsposition: Mit dem Kittel würde ich mich positionieren und positioniert werden, noch bevor ich im Feld angekommen wäre. Sich auf die Seite des medizinischen Personals zu schlagen, ist in der ethnografischen Krankenhausforschung durchaus üblich, wird in dieser doch von drei möglichen Rollen für die Feldforscherin ausgegangen: die der Ärztin und/oder Krankenschwester, der Patientin und der Besucherin (Van der Geest/Finkler 2004: 1998). Welche gewählt wird, hängt von der Fragestellung und dem Zugang ab, hat aber immer Konsequenzen für die eigene Position, also darauf, wen und was die Forscherin aus welcher Perspektive wahrnimmt. Damit hängt zusammen, dass die teilnehmende Beobachtung in der Hospital Ethnography als Widerspruch gilt (ebd.: 1999), da die Teilnahme, das Eintauchen in eine Rolle oder das Teilen einer Körpererfahrung unübersehbar an Grenzen stoßen muss. Es war meine Rolle als Feldforscherin, die es mir erlaubte, am Geschehen im Transplantationszentrum teilzunehmen, dieses zu beobachteten und dabei mit verschiedenen Akteurinnen des Krankenhauses zu interagieren. Hilfreich fand ich daher den Begriff der »negotiated interactive observation«, den die dänische Kulturanthropologin Gitte Wind vorschlägt, um zu beschreiben, was Ethnografinnen im Krankenhaus (aber auch in anderen Feldern) tun (Wind 2008). Es reicht nicht, sich ins Feld zu begeben, einen Kittel anzuziehen (oder dies zu verweigern) und davon auszugehen, dass das Feld sich einfach so beobachten lässt und Teilnahmemöglichkeiten zur Verfügung stellt. Die Position der Feldforscherin ist vielmehr Ergebnis kontinuierlicher Verhandlungen darüber, wann und wie Beobachtungen und Interaktionen stattfinden oder auch nicht (ebd.: 85). In meiner Forschung bedeutete dies oftmals ad hoc zu entscheiden und zu verhandeln, wen ich in welcher Situation wohin begleiten, wem ich über die Schulter schauen und zu welchem Zeitpunkt ich fragen und Notizen machen wollte und konnte. Positionierung meint hier die Bearbeitung des Feldes durch die Forscherin, um es beobachten zu können, also die Wahl und den Einsatz bestimmter Beobachtungsweisen und Beobachtungshilfen (vgl. Scheffer 2002). Strategien der praktischen Bearbeitung des Feldes werden während der Feldforschung eher situativ und pragmatisch angewendet als von langer Hand geplant. Um sie im Nachhinein explizit zu machen, fand ich die von dem Soziologen Thomas Scheffer vorgelegte Systematisierung sozialer und räumlicher Positionierungen im Feld hilfreich und greife sie im Folgenden partiell auf (ebd.). Die für mich mit einer vorschnellen Positionierung verbundene und daher unangenehme Kittelfrage erledigte sich am Ende von selbst: Sie wurde nicht wieder

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angesprochen und ich blieb ohne Kittel. Trotzdem hatte ich gegenüber Patientinnen und Angehörigen so manches Mal das Gefühl, einen unsichtbaren Kittel zu tragen – vielleicht, weil ich ihnen oftmals zusammen mit Medizinerinnen gegenübertrat, selbstverständlich Türen mit der Aufschrift »Eintritt nur für Personal« passierte oder minimale Hilfsdienste verrichtete. Die vom Kittel symbolisierten Abgrenzungen werden nicht allein durch diesen, sondern ebenso durch Verhaltensweisen und räumliche Aufteilungen hergestellt. Während der Forschung im Transplantationszentrum war ich daher eher auf der Seite der Medizinerinnen positioniert, was ich durch das von Treffen Lebertransplantierten außerhalb des Krankenhauses im Sinne eines Positionsbzw. Perspektivwechsels auszugleichen versuchte, aber auch durch kleinere Veränderungen von Feldforschungsroutinen, z. B. indem ich Patientinnen auf der Station traf, einigen ihrer Wege im Krankenhaus folgte oder Zeit im Wartebereich anstatt in den Ambulanzräumen verbrachte. Hier ging es methodisch darum, unterschiedliche Sichtweisen auf das Geschehen zu bekommen.34 Solche durch Positionswechsel herbeigeführten Perspektivwechsel auf Transplantationsmedizin und Post-Transplantations-Alltage ergaben sich aufgrund verschiedener Mobilitäten und Platzierungen innerhalb des medizinischen Bereichs. So erweiterten Beobachtungen im Transplantationsbüro nicht nur mein Hintergrundwissen über die organisatorischen Abläufe einer Lebertransplantation, sondern ermöglichten die Verbindung und den Vergleich der Betreuungsregime vor und nach einer Transplantation. Indem ich verschiedenen Mitarbeiterinnen der Ambulanz folgte, ließen sich die vielfältigen, arbeitsteilig zwischen ärztlichem und pflegerischem Personal sowie zwischen diversen Abteilungen des Zentrums differenzierten Aktivitäten der Herstellung transplantierter Körper genauer beobachten und aufschlüsseln sowie in Zusammenhang bringen. Einen Großteil der Zeit verbrachte ich jedoch in den Arbeitsräumen des Ambulanzpersonals. Retrospektiv verdanke ich einem Hocker mit Rollen – den mir eine fürsorgliche Schwester am ersten Tag besorgte, damit ich als sichtbar Schwangere nicht zu viel und als Beobachterin nicht im Weg stand – die unkomplizierte Möglichkeit, innerhalb der Ambulanz mit manchmal nur minimalen

34 | Diese Sicht- oder Umgangsweisen betrafen auch die emotionale Verarbeitung von Forschungseindrücken: Das ethnografische Schutzschild einer Position als gleichzeitig mitfühlende wie professionell distanzierte Beobachterin und Gesprächspartnerin half im Einzelfall, nicht aber im Umgang mit der Fülle von Krankheitsbiografien und Transplantationsgeschichten. Die oft erstaunlich lakonischen wie trockenen Kommentare, Anekdoten und Witze der Lebertransplantierten zu eigentlich drastischen Erlebnissen boten eine, in der Situation, leichter zu ›verdauende‹ Position, ebenso wie der empathische, aber primär auf Körperfunktionen und Laborwerte gerichtete Blick der Medizinerinnen.

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Bewegungen die Beboachtungsposition zu wechseln und damit neue Einblicke in einzelne Arbeitsroutinen zu bekommen: Ich konnte dichter an den Schreibtisch der Ärztinnen rücken und ihnen, je nach Verhandlung, genauer dabei zusehen, wie sie Laborergebnisse auswerteten oder diagnostische Einschätzungen in Briefen festhielten, aber auch Abstand wahren, wenn sie dabei keine Fragen von mir beantworten wollten. Ich konnte mich näher in Richtung der Schreibtische bewegen, um Telefongesprächen mit Patientinnen zuzuhören, oder mich so platzieren, dass ich im angrenzenden Raum verfolgen konnte, wie Pflegerinnen sich mit Patientinnen unterhielten und ihnen Blut abnahmen. Ein Äquivalent zum Rollhocker als Bewegungsmittel zwischen den Forschungsorten gab es nicht, hier musste ich auf meine eigene Beweglichkeit zurückgreifen und Gelegenheiten schaffen, den Transplantierten jenseits der Klinik zu folgen. Neben dem Variieren von Beobachtungspositionen ging es vielfach darum, diese wiederholt einzunehmen und zu fokussieren, um im Laufe der Forschung gemachte Beobachtungen einzelner Situationen, Gespräche und Interaktionen einordnen und miteinander vergleichen zu können: War dies ein typisches Abschlussgespräch? Was hieß es, wenn das Personal sagte, heute war ein normaler Tag? Reagierten die meisten Patientinnen so wie Herr X? Fragen wie diese, die in Verbindung mit konkreten Beobachtungen entstanden und die Verwunderung der noch am Anfang stehenden Forscherin ausdrückten, zielten auf die Entschlüsselung typischer Muster und Routinen sowie ihre Varianz. Ihre Beantwortung bedurfte der längeren Anwesenheit in der Ambulanz und der wiederholten Beobachtung von Arbeitsabläufen. War die erste Feldphase 2007 überwiegend von einem ›Aufsaugen‹ verschiedenster, noch ungeordneter Eindrücke und einem ersten Identifizieren von Routinen und von auf meine Fragestellung bezogenen Problemfeldern geprägt, ging es in späteren Phasen darum, diese Eindrücke zu vertiefen und/oder mit neuen Ordnungsversuchen zu konfrontieren. Dazu stellte ich mir kleinere Beobachtungsaufgaben, die die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Situation oder Person, einen spezifischen Gegenstand oder Zeitabschnitt richteten. Trotz solcher Planungsmomente entstanden viele Beobachtungen, Gespräche und Nachfragen parallel zu den Dynamiken täglicher Ambulanzarbeit fallspezifisch: Ein Patient mit einer Komplikation, die ich noch nicht kannte, musste behandelt werden, bei einem anderen musste das Medikament umgestellt werden oder der Ehemann einer Patientin nutzte eine Pause, um mir zu erzählen, wie er das ›zweite‹ Leben seiner Frau sieht. Solch fallbezogenes Lernen verbindet die ethnografische mit der medizinischen Wissensproduktion: Der Assistenzarzt, den ich am intensivsten begleitete, und ich lernten beide mit jeder neuen Patientin etwas über Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten transplantierter immunsupprimierter Körper. Während er Einzelfälle in sein Ausbildungswissen des Allgemeinen einordnete, lernte ich All-

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gemeines eher über die Zusammenführung von Einzelfällen, aber auch indem ich das ärztliche Wissen über das Allgemeine erfragte sowie in medizinischen Lehrbüchern, Forschungsartikeln, Broschüren von Selbsthilfegruppen oder internetbasierten Medizinlexika recherchierte. Vertrautheiten mit lokalen Selbstverständlichkeiten wurden mit jedem neuen Einzelfall erweitert oder wieder infrage gestellt. Die bisher dargestellten Positionierungen betrafen die verwendeten Beobachtungsstrategien. Beobachtungen wurden durch Nachfragen und Gespräche ergänzt. Bis auf die zwölf ausführlichen Interviews mit Patientinnen im Jahre 2009 und ein formales Interview, eine Art Abschlussgespräch, mit der Ambulanzleiterin am Ende meiner Forschung im März 2010 entstanden alle Gespräche mit Medizinerinnen und Patientinnen ad hoc, an Ort und Stelle, im Zusammenhang des jeweiligen Geschehens, einer beobachteten Situation oder wenn sich eine Gelegenheit für Nachfragen ergab. Schließlich beruht Feldforschung als interaktiver Verhandlungsprozess auf den dabei eingegangen, sozialen Beziehungen. Ebenso wenig, wie die Erlaubnis der Lebertransplantierten, sie zu begleiten, oder die Freimütigkeit, mit der sie mir Einblicke in ihr (Weiter-)Leben gewährten, selbstverständlich waren, war dies die herzliche Aufnahme, die ich als Feldforscherin im Transplantationszentrum, insbesondere in der Lebertransplantationsambulanz, erfuhr: Den Hierarchien entsprechend stellte ich meine Forschungsanfrage an den Chefarzt der Klinik, der mein Anliegen an einen Oberarzt weiterreichte. Dieser bewilligte nach telefonischen und persönlichen Verhandlungen inklusive einer gefaxten Bestätigung meiner institutionellen Einbindung an einer Universität meine Anfrage und stellte mich der Leiterin der Ambulanz vor. Vom Oberarzt legitimiert, war meine Anwesenheit damit formal akzeptiert – auch wenn ich sie dann in der täglichen Forschungsinteraktion mit den jeweils betroffenen Mitarbeiterinnen oftmals wieder neu verhandeln musste. Im Laufe der Zeit konnte ich auf zunehmende Kontakte innerhalb des Transplantationszentrums oder daraufzurückgreifen, dass Mitarbeiterinnen mich bereits in Begleitung einer ihnen bekannten Person kennen gelernt hatten. Im besten Fall wurde ich eine Art Kollegin, die zwar ›Fremdkörper‹ blieb, der aber mit viel Offenheit begegnet wurde, obwohl mein fachlicher Hintergrund eher unbekannt und mein Vorgehen den naturwissenschaftlich geprägten Forschungsgepflogenheiten im medizinischen Feld diametral gegenüberstand. Es gab die üblichen Witze über das ethnografische hanging around als Nichtstun, darüber, was ich womöglich gerade notierte, oder darüber, wie viele Notizbücher ich noch füllen müsste, um ein Buch zu schreiben. Dessen ungeachtet wurde ich als Wissenschaftlerin ernst genommen. Entgegen meiner Erwartung wurde meine Position zur Transplantationsmedizin weder von Medizinerinnen noch Transplantierten abgefragt. Rückblickend war es, neben den wiederholten Anwesenheiten

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und gemeinsamen Erlebnissen während der Arbeit, meine Schwangerschaft in der ersten Forschungsphase, die mich den Forschungsteilnehmerinnen näherbrachte: Der sichtbare Bauch ermöglichte es ihnen, Rückfragen jenseits der Forschung zu stellen, mich etwas Persönliches zu fragen, anstatt nur gefragt zu werden, und in gewisser Hinsicht auf Augenhöhe zu kommunizieren.35 Zusammenführung Abschließend einige Bemerkungen zu den verwendeten Hilfsmitteln sowie zur Bearbeitung und Auswertung meines Materials. Während der Beobachtungen im Transplantationszentrum und in der Reha-Klinik nutzte ich als Gedächtnisstütze und erste Form der Verschriftlichung handschriftliche Notizen. Diese waren hinsichtlich ihrer Dichte äußerst heterogen, da sie je nach Situation und Möglichkeit sowohl möglichst wortgetreue Mitschriften von beobachteten Gesprächen oder detaillierte Beschreibungen von Praktiken als auch kurze Stichworte zum Geschehen oder zu meiner Position enthielten. Manche Notizen entstanden synchron, andere zeitlich versetzt zum Beobachteten. Aufgrund der häufig vorkommenden Parallelität von unterschiedlichen Aktivitäten verschiedener Personen wären andere Aufnahmeformen gescheitert, weshalb ich wiederholte und fokussierte Beobachtungen nutzte, um mit den beobachteten Dynamiken und Gleichzeitigkeiten umzugehen. Bei der anschließenden Übertragung in Textdateien führte ich die Notizen weiter aus, bündelte sie thematisch und versah sie mit ersten theoretischen Verweisen, Fragen oder Reflexionen zum Beobachteten. Zwischen den einzelnen Feldphasen erstellte ich auf der Grundlage dieser weiterbearbeiteten Notizen detaillierte Protokolle zu zentralen Situationen und Problemfeldern und brachte das Material mehrerer Tage zusammen. Hier ging es darum, Einzelbeobachtungen durch den Vergleich mit weiteren Beobachtungen genau-

35 | Ich war erstaunt, wie oft sich Transplantierte, die ich nach längerer Zeit wiedertraf, erkundigten, was es geworden sei, oder dass Mitarbeiterinnen nach längerer Abwesenheit immer das Neueste vom Kind, am besten mit einem aktuellen Foto dokumentiert, wissen wollten. Nach und nach verstand ich, dass es hier um mehr ging als persönliche Anteilnahme. Während ich in diesen Situationen fragte, was es Neues gab, und damit in erster Linie auf die Arbeitsabläufe im Transplantationszentrum oder die gesundheitliche Situation der Lebertransplantierten Bezug nahm, machte diese Frage umgekehrt für meine Gegenüber wenig Sinn: Offenbar war meine Forschung noch nicht fertig, war ich doch wieder da, um weiterzuforschen. Ihre Rückfragen betrafen daher den Teil meines Lebens jenseits der Wissenschaft, den sie mitbekommen hatten und dessen punktuelle Begleitung ihnen erlaubte, das Gefälle, das hinsichtlich des Wissens voneinander bestand, zumindest teilweise auszugleichen.

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er zu rekonstruieren. Dieses formalisierte Aufschreiben ermöglichte es in späteren Feldphasen, systematischere Beobachtungen anzustellen und Nachfragen zu formulieren, Wissenslücken zu schließen, Problemkomplexe zu vertiefen und Fragen neu zu stellen. Nach der zweiten Feldphase entwickelte ich auf Grundlage der Beobachtungen und Gespräche in der Ambulanz einen Frageleitfaden für die längeren Interviews mit lebertransplantierten Gesprächspartnerinnen. Ich verwendete einen narrativen Einstieg, bei dem sie ihre Transplantationsgeschichte ausführlich erzählen konnten, und im zweiten Teil themenzentrierte Fragekomplexe zu ihren Alltagspraktiken, ihren Einschätzungen der Konsequenzen einer Lebertransplantation sowie ihren Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Körper. Von diesen in der Regel ein bis zwei Stunden dauernden Interviews fertigte ich Audioaufnahmen an, die ich mit Gedächtnisprotokollen zu Gesprächsverlauf, generellen Eindrücken und Beobachtungen ergänzte. Beim anschließenden Transkribieren hielt ich vorläufige Begriffe oder Zusammenfassungen des Erzählten in Stichworten für die weitere Analyse fest. Das so entstandene Material wurde durch weitere Beobachtungen und Interviews sowie mithilfe der Forschungsliteratur analytisch weiter verdichtet. Die sich generell am Material orientierende Analyse lässt sich demnach nicht trennen von den teils vorab und teils parallel zur Datenproduktion wie zur ersten Auswertung vorgenommenen empirischen und theoretischen Fokussierungen. Zudem resultierte der Wechsel zwischen Feldforschungs- und Auswertungsphasen in unterschiedlichen Involviertheiten mit dem und Distanzierungen zum Material. Dies erlaubte es mir, die im Feld entwickelten Hypothesen mal stärker aus einer empirisch grundierten Perspektive heraus, mal eher aus einer theoretischen, von der Forschungsliteratur inspirierten Perspektive zu beleuchten, anschließend jedoch wieder mit dem Feld zu konfrontierten. In diesem Prozess entstanden Material-Theorie-Exzerpte, die die produzierten Notizen inhaltlich nach Kernthemen sortierten und mit der Forschungsliteratur in Verbindung brachten, die Häufigkeit und Konzentration von Problemfeldern über die Materialsorten hinweg ermittelten, die Thematisierung von Alltag und Normalität sondierten und schließlich die interessierenden Praktiken ordneten und kommentierten. Diese Material-Theorie-Exzerpte waren der Ausgangspunkt für die Gliederung des empirischen Teils dieser Arbeit. Zusammengenommen lässt sich mein Vorgehen hinsichtlich der verwendeten Forschungsstrategien und Auswertungsschritte als ein Pendeln beschreiben: Zwei Jahre lang bewegte ich mich mehr oder weniger regelmäßig zwischen Feld und Schreibtisch, zwischen verschiedenen Forschungslokalitäten, Akteursgruppen und Materialsorten, zwischen Empirie und Theorie hin und her, vor und zurück. Pendeln bezieht sich nicht allein auf eine Mobilitätsform, sondern beim Einradfahren auch auf die durch Bewegung aktiv erreichte Herstellung des Gleichgewichts. Auf den For-

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schungsprozess bezogen meint Pendeln also auch die vielfältigen beobachtenden und analytischen, empirischen und theoretischen Bewegungen, mit denen ich die anfangs noch weiten Eindrücke, Fragen und Thesen im Feld nach und nach sortierte und vertiefte. Ergebnis dieser Bewegungen und Auswahlprozesse ist die vorliegende Arbeit, in der die drei empirischen Hauptkapitel auf der Grundlage unterschiedlicher Ausschnitte meines Materials und verschiedener thematischer Fokussierungen jeweils Teilblicke auf verschiedene Herstellungsformen des (Weiter-)Lebens nach der Transplantation als (fast) normalen Alltag werfen. Zum Schluss zwei Vorbemerkungen zur Darstellung meines empirischen Materials: (1) Die folgenden ethnografischen Szenen, Beschreibungen und Zusammenfassungen enthalten eher einzelne zitierte (Halb-)Sätze als längere Gesprächspassagen. Das liegt an meiner Aufzeichnung der Gespräche mit Forschungsteilnehmerinnen und ihren Aussagen. Mit Ausnahme der aufgenommenen und transkribierten Interviews mit zwölf transplantierten Gesprächspartnerinnen und der Ambulanzleiterin, beruht das präsentierte Material auf Feldnotizen bzw. Gesprächs- und Beobachtungsprotokollen, in denen ich Gesprochenes paraphrasiert und nur markante Formulierungen und zentrale Sätze wortwörtlich festgehalten habe. (2) Die Teilnehmerinnen meiner Forschung werden unterschiedlich genau erwähnt und identifiziert. Diejenigen von ihnen, die in dieser Arbeit an einer Stelle länger oder wiederholt begleitet werden oder zu Wort kommen, haben zur Orientierungshilfe von mir einen Namen (Pseudonym) erhalten.

3 Alltag als Test: Von unzähligen Regeln für neue Körper

Kapitel 3 behandelt den Zeitraum, in dem das Leben biologisch wie biografisch nach der Transplantation weitergeht und sich Alltag im Sinne einer stabilen Praxis von Gewohnheiten im ersten, noch medizinisch angeleiteten Testlauf befindet. Auch wenn in dieser Phase von Alltag viel die Rede war, blieben Alltagsberichte in den Post-Transplantationsgeschichten meiner transplantierten Gesprächspartnerinnen hier größtenteils aus: Das Leben mit einem transplantierten Organ wurde noch nicht als alltäglich, geschweige denn normal betrachtet. Das Kapitel beginnt mit der Entlassung aus dem Krankenhaus nach der Transplantation, führt allerdings noch nicht zurück ins ›echte Leben‹. Stattdessen behandelt es das anlässlich der Entlassung aus dem Krankenhaus stattfindende Informationsgespräch mit einer Vertreterin der Transplantationsambulanz (3.1) und die daran anschließende Anschlussheilbehandlung in einer Reha-Klinik (3.3). Beide Ereignisse interessieren mich als Schnittstelle zwischen Klinik und Alltag, als Punkte der Neu-Justierung, an denen die Weichen für die später zu lebenden Post-Transplantations-Alltage ein-gestellt werden. Was ich in diesem Kapitel vorwiegend aus der (reha-)klinischen Perspektive in den Blick nehme, ist ein sehr spezifisches Angebot zur Herstellung eines normativ festgeschriebenen Post-Transplantations-Alltags. Dabei wird erkennbar, dass die von Medizinerinnen angebotene Veralltäglichung oder Routinisierung des Lebens nach der Transplantation für Transplantierte eher Veralltäglichungsschranken aufzubauen scheint. Darüber hinaus enthält das Kapitel zwei Rückblenden (3.2 und 3.4), in denen PräTransplantationsgeschichten erzählt werden. Sie verdeutlichen den Stellenwert der (Wieder-)Herstellung von Alltag nach der Transplantation und die Verbindungen zwischen Spielregeln und disziplinierten Praktiken vor und nach einer Transplantation.

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3.1 E NTLASSUNG AUS DEM K RANKENHAUS : A N A LLTAG NEU HERANTASTEN November 2007, ich begleite Schwester Britta1 , die zum Pflegepersonal der Lebertransplantationsambulanz gehört, zu einem »Abschlussgespräch« mit einem Patienten, dessen Entlassung aus dem Krankenhaus nach erfolgter Transplantation kurz bevorsteht. Wir gehen dafür in einen Raum, der vom Personal als »Wohnzimmer« bezeichnet wird. Im Gegensatz zu den funktional eingerichteten Behandlungszimmern der Ambulanz, in denen üblicherweise Untersuchungen und Gespräche mit Patientinnen stattfinden, gibt es in diesem schmalen ruhigen Büro neben einem Schreibtisch auch eine Sitzgruppe. Nur das obligatorische Waschbecken mit zwei großen Spendern für Flüssigseife und Desinfektionsmittel erinnert daran, dass wir uns in einem Krankenhaus befinden. Wohnlich mag der Raum zwar nicht wirken, doch der mit vier Stühlen ausgestattete runde Tisch unterstützt die Gesprächsatmosphäre und wird daher gern für längere Besprechungen mit Patientinnen genutzt. Auf dem Weg erklärt mir Schwester Britta, dass im Entlassungsgespräch, das auf der Station erfolgt, »alles Medizinische« geklärt werde, während im folgenden, etwa einstündigen Gespräch die Alltagsorganisation nach einer Lebertransplantation im Mittelpunkt stehe. Wir treffen den mit Handschuhen und Mundschutz ausgestatteten 53-jährigen Detlef Kranert, der vor 20 Tagen eine postmortal gespendete Leber erhalten hat. Schwester Britta begrüßt ihn und eine etwa 15 Jahre jüngere Frau in seiner Begleitung und teilt ihm mit, dass er Handschuhe und Mundschutz, die zum Schutz der gerade Transplantierten vor Keimen dienen und in der gesamten Zeit im Krankenhaus getragen werden müssen, für das Gespräch ablegen dürfe, ein Angebot, dem er gerne nachkommt. Er tritt uns fröhlich-überschwänglich gegenüber und wirkt auf mich erstaunlich ausgelassen, fast ein bisschen aufgekratzt: Ja, es gehe ihm gut, »sogar blendend«. Detlef Kranert ist Gastwirt, seine Begleiterin – die sofort betont, dass sie weder verheiratet noch verwandt, sondern einfach nur befreundet sind – hält im Lokal für ihn die Stellung. Schwester Britta händigt den beiden zwei Informationszettel im Din-A4-Format aus: »Einige Tipps für Ihren Alltag« und »Empfehlungen zur Ernährung nach einer Lebertransplantation«. Sie bittet sie, diese aufmerksam zu lesen. Unklarheiten und Fragen können anschließend geklärt werden. Sie fügt an Detlef

1 | Die seit 2004 als Gesundheits- und Krankenpflegerinnen Bezeichneten, die ich während meiner Forschung traf, nutzten für sich selbst den älteren Begriff Krankenschwester/Krankenpfleger und wurden so auch von Ärztinnen (Herr/Frau Dr. Nachname) und Patientinnen ›Schwester/Pfleger Vorname‹genannt. Ich übernehme diese (Eigen-)Bezeichnung, da sie auch die Positionierung des Pflegepersonals innerhalb der Klinikhierarchien anzeigt.

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Kranert gerichtet an, dass ihm die Informationen bekannt vorkommen müssten, da sie auch in der Broschüre enthalten seien, die Patientinnen überreicht werde, wenn sie auf die Warteliste zur Transplantation gesetzt würden. Das ist im Falle Detlef Kranerts eineinhalb Jahre her: Dass er auf den Verweis nicht reagiert, mag der unterschiedlichen Relevanz bestimmter Informationen vor und nach der Transplantation geschuldet sein. Stattdessen kurze Unruhe, er hat seine Brille vergessen, weshalb seine Begleitung die Leseaufgabe für ihn übernimmt. Die »Alltagstipps« sind als Aufforderungen formuliert: Transplantierte Patientinnen sollen sich bei länger als einen Tag andauerndem Unwohlsein (Fieber, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen) unverzüglich bei der Ambulanz melden, im sozialen Umfeld auftretende Kinderkrankheiten mitteilen, in der ersten Zeit größere Menschenmengen meiden, regelmäßig zur Blutabnahme gehen (dazu dürfen sie gefrühstückt, nicht aber ihre Medikamente eingenommen haben) und sich für ihre Laborwerte interessieren. Weiter wird an den vierteljährlich benötigten Überweisungsschein erinnert sowie an die Entfernung der T-Drainage, die während der Transplantation vorübergehend zur Gallen-Ableitung gelegt wurde und ungefähr sechs Wochen im Körper verbleibt. Dann geht es um Haustiere, Topfpflanzen und Gartenarbeit, Komposthaufen und Biomülltonnen, erlaubte und verbotene Lebensmittel, Alkohol, Sport und Schwimmbäder, Duschen und Zahnbürsten. Schließlich wird empfohlen, sich – falls man keinen Anrufbeantworter besitzt – einen solchen anzuschaffen und Kontakt zur Apotheke des Vertrauens aufzunehmen, da Medikamente wie die teuren Immunsuppressiva selten vorrätig sind und meist vorbestellt werden müssen. Der zweite Zettel behandelt das Thema Ernährung ausführlicher: Aufgelistet werden nicht nur Lebensmittel, die vermieden werden sollen, sondern auch Hinweise zum Einkaufen, Lagern, Säubern und Zubereiten von Nahrungsmitteln. Während Detlef Kranert und seine Begleitung all diese Informationen lesend-diskutierend durchgehen und dabei hier und da etwas anstreichen, nimmt sich Schwester Britta die von der Station mitgebrachte Patientenakte vor. Aus dieser überträgt sie Daten in eine neue Akte, die bisher nur mit einer Nummer versehen ist und zwei leere Formblätter enthält, die sie auszufüllen beginnt. Sie notiert diverse aktuelle Blutwerte, aber auch Größe, Gewicht, Puls, Stuhlgang (Farbe, Konsistenz) und allgemeine körperliche Beschwerden (z. B. Schlappheit), wobei sie Detlef Kranert einige kleinere Fragen stellt, damit dieser Angaben ergänzt oder bestätigt. Dann leitet sie ins Gespräch über. Detlef Kranert wird wieder aktiv: Er fühle sich gesund, wolle »wieder loslegen« und fragt sofort, wie es mit Sport aussehe. Schwester Britta antwortet mit zwei nüchternen Gegenfragen: »Nehmen sie an der Krankengymnastik in der Gruppe auf der Station teil? Sind Sie hier im Haus schon mal wieder eine Treppe gelaufen?« »Ja, beides ja, selbstverständlich.« Er könnte »Bäume ausreißen«, fühle sich zumindest

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so. »Er will sogar wieder Marathon laufen«, so seine Begleiterin lachend-ungläubig. Sie fügt jedoch kritisch an: »Dir wurden nicht die Fingernägel geschnitten, sondern ein neues Organ eingepflanzt.« Er solle sich doch bitte Zeit lassen. Schwester Britta unterstützt sie und erwähnt die World Transplant Games, eine Art Olympische Spiele für Transplantierte. In der Ambulanz hängen zwei Medaillen, die Patientinnen der Ambulanz dort vor einigen Jahren gewonnen haben.2 »Generell«, so die Schwester, »sei es natürlich gut, sich fit zu halten«, in Bewegung zu bleiben und über sportliche Aktivität seine Leistungsfähigkeit zu steigern. Im Einklang mit den »Alltagstipps« verweist sie jedoch eher auf krankengymnastische Übungen, Spaziergänge, Fahrradfahren und andere »leichte Sportarten«. Detlef Kranert winkt ab und rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her: Um seine Fitness habe er sich bereits vor der Transplantation gekümmert, auch in Vorbereitung auf diese. Schwester Britta erinnert ihn trotzdem daran, dass die große Narbe – einmal längs und quer über den Bauch und von Lebertransplantierten wie ihren Operateurinnen häufig als »Mercedes-Stern« bezeichnet – schichtweise zusammenwachsen müsse, was durchaus ein bis zwei Jahre beanspruche. Größere körperliche Anstrengungen wie Kraftsport, das Heben schwerer Lasten oder Möbelrücken erfordern noch Zurückhaltung. Sie nimmt erneut die Akte zur Hand und setzt das Abfragen fort: Krankenkassenstatus, Hausarzt, Anschlussheilbehandlung ...? Als beruflich Selbstständiger ist Detlef Kranert privat versichert, »ohne Chefarzt-Behandlung«, wie er trocken anfügt. Schwester Britta versichert ihm, dass er trotzdem ein gutes Transplantationsteam hatte: »Das waren drei Cracks«. Die Frage sei jetzt, wie es weitergeht. Detlef Kranert will die dreiwöchige Anschlussheilbehandlung in einer Reha-Klinik, die versicherungstechnisch spätestens nach 14 Tagen angetreten werden muss, sofort nach der Entlassung beginnen: »Weihnachten will ich wieder zu Hause sein.« Das sei bereits alles organisiert, auch dass ein Freund sein Auto dorthin bringt, damit er allein zurückfahren kann. Erneut mahnen ihn seine Begleiterin und Schwester Britta, dass er sich, bei allem Optimismus und Tatendrang und trotz des optimalen Transplantationsverlaufs, doch bitte Zeit lassen solle. Detlef Kranert reagiert auf diese Ermahnungen gelassen, hält sie aber für übertrieben und betont stattdessen erneut, dass er eben »wieder loslegen« wolle und auch bereit dazu sei. »Loslegen ist schön und gut«, sagt Schwester Britta, »aber bitte nichts überstürzen«.

2 | Dieser Hinweis markiert die Differenz von Transplantierten, ihre Abweichung: Sie wetteifern nicht mit anderen Sportlerinnen, sondern untereinander. Ziel der World Transplant Games Federation ist es laut Selbstdarstellung (www.wtgf.org), auf Nutzen und Erfolge der Transplantationsmedizin aufmerksam zu machen und für die Organspende zu werben.

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Das Gespräch zur weiteren medizinischen Betreuung fortsetzend, erklärt sie ihm, dass die Verantwortung beim Transplantationszentrum bzw. der Transplantationsambulanz verbleibe. Dessen ungeachtet könne er die regelmäßigen Blutuntersuchungen – in den ersten drei Monaten zweimal wöchentlich – auch bei seinem Hausarzt durchführen lassen. Sie übergibt ihm einen Informationszettel für den Hausarzt, der aufführt, welche Laboruntersuchungen wie oft gemacht werden müssen und vor allem welche Blutwerte die Ambulanz benötigt und regelmäßig per Fax mitgeteilt bekommen haben möchte. Sie erklärt weiter: Die Ärztinnen der Ambulanz kontrollieren die Laborwerte und verändern eventuell die Zusammensetzung und/oder Dosis der Medikamente. Deshalb müsse er für die Ambulanz erreichbar sein. Kurzes Innehalten auf beiden Seiten – Erreichbarkeit? Nach der Transplantation heißt Erreichbarkeit einen Anrufbeantworter zu besitzen und/oder zurückzurufen, wenn er die Nummer der Ambulanz in seiner Anrufliste vorfindet. Detlef Kranert nickt: »Kein Problem.«3 Schwester Britta überprüft, ob sie die richtigen Kontaktdaten von ihm hat und händigt ihm zwei Karten aus. Die eine listet wichtige Telefonnummern des Transplantationszentrums auf, die andere, eine Art Transplantationsausweis, soll er für Notfälle immer bei sich tragen. Zudem soll er sich seine Transplantationsnummer merken: Die vierstellige Nummer auf der Akte benötigt er, wenn er die Ambulanz anruft. »Das heißt nicht, dass Patienten für uns Nummern sind« – die lange Jahre praktizierte alphabetische Sortierung wurde aus Ordnungsgründen aufgegeben, da individuelle Nummern schneller auffindbar seien. Nebenbei verrate ihm die Transplantationsnummer, die wievielte Lebertransplantation des Zentrums er sei. Zurück zu den Laborwerten: »Diese spielen gerade in der ersten Zeit nach der Transplantation oft verrückt«, erläutert Schwester Britta. »Insbesondere die Blutzuckerwerte werden aufgrund der anfänglich hohen Gaben an Kortison erst einmal durcheinandergeraten.« Eine Information, die für Detlef Kranert relevant ist, da er seit vier Jahren Diabetes hat und Insulin spritzt. Gemeinsam gehen sie den Medikamentenplan durch, der zwei weitere Immunsuppressiva und ein gallenwirksames Mittel umfasst, und besprechen deren Wirkung, Dosis sowie Einnahme. Regelmäßigkeit ist hier das entscheidende Stichwort. Detlef Kranert kommentiert Schwester Brittas Ausführungen mit dem Satz: »Ich wäre nicht hier, wenn ich mich nicht an die Spielregeln halten würde, an das, was die Ärzte sagen.« Doch zwei Fragen habe er da schon noch: »Heißt das, die Laboruntersuchungen sind bis zum Lebensende notwendig?«

3 | Das Wort Erreichbarkeit löst hier eine kurze Irritation aus, weil die Pflicht zur Erreichbarkeit vor der Transplantation strenger definiert und von Wartelistenpatientinnen oft als Last erlebt wird (siehe S. 114).

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»Ja!«4 »Und wann bin ich endgültig übern Berg?« Auf diese Frage fällt Schwester Brittas Antwort weniger lakonisch aus: »Man steckt letztlich nicht in einem Körper drin, es gibt keine Garantien. Wer sich wie schnell erholt, ist unterschiedlich, genauso wie eine Abstoßungsreaktion des Immunsystems immer auftreten kann, aber nicht muss.« Sie haben hier im Zentrum viel Erfahrung und können vieles vorhersagen, genau könne man es allerdings nie wissen: »Dann kommt zum Beispiel Körper 101 und alles ist anders.« Die Patientin mit der Transplantationsnummer 1, die seit 20 Jahren mit ihrer neuen Leber lebt, »springt nach wie vor fit und fidel durchs Leben.« »Und die Nummer 2?«, fragt halb ernst, halb lachend Detlef Kranerts Begleiterin, die eben noch über die Höhe seiner Transplantationsnummer gestaunt hatte. Hierauf weiß Schwester Britta keine Antwort.5 Sie kommen zu den Ernährungsempfehlungen. Zum einen bestehen diese aus hygienischen Vorsichtsmaßnahmen zur Keimreduktion, reagieren also auf die von den immunsuppressiven Medikamenten verursachte Körperabwehrschwäche von Transplantierten. Zum anderen beinhalten sie allgemeine Hinweise, die auf eine ausgewogene Ernährung zielen. Detlef Kranert bezeichnet sie im Gespräch als Regeln. Aufgrund seiner Diabetes-Erkrankung seien Ernährungsregeln nicht neu für ihn. Lachend fügt er an: »Ich hatte nie Lust auf etwas Süßes, seitdem ich Diabetiker bin, hingegen schon. Mal seh’n, wie sich diese Verbotsliste auswirkt.« Anweisungen, wie Dinge mit Erdkontakt nicht frisch zu verzehren oder unterwegs lieber eine gut erhitzte Gemüsebeilage als einen frischen Salat zu essen, diskutiert er auch unter dem Stichwort Lebensqualität, deren Wichtigkeit er betont. Schwester Britta stimmt ihm zu, sagt aber auch, »man müsse Kompromisse machen«. Sie fasst die lange Liste von Lebensmitteln, die vor allem im rohen Zustand vermieden werden sollen, mit einer Faustregel zusammen: »Schälen, kochen und überlegen, woher kommt es.« Im Zweifelsfall ist frische, eigene Zubereitung langer Lagerung oder dem Restaurantbesuch vorzuziehen. Doch nicht Naturbelassenheit bekommt den Vorzug, sondern industrielle Verarbeitung. Generell appelliert Schwester Britta daran, »wacher durchs Leben zu gehen«. »Ja«, entgegnet Detlef Kranert, er habe »nach dieser ganzen Geschichte« sowieso vor, »intensiver zu leben«. Noch einmal geht es um Sport, Schwimmbad- und

4 | Sie dienen der Kontrolle der Leberfunktion und der Einstellung der Immunsuppressiva. Ihr Stellenwert für die Transplantations-Nachsorge und die mit dieser verknüpfte Definition von Normalität wird in Kapitel 4.2 erläutert. 5 | Die durchschnittliche prozentuale Überlebensrate erstmals Lebertransplantierter in Europa liegt nach einem Jahr bei 83%, nach drei Jahren bei 77%, nach fünf Jahren bei 72% und nach zehn Jahren bei 62% (Statistik der European Liver Transplant Registry [ELTR] 12/2010, http://www.eltr.org/spip.php?article188 [letzter Zugriff: 15.8.13]).

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Saunabesuche. Wenn die Wundheilung nach zwei, drei Monaten abgeschlossen sei, könne er wieder ins Schwimmbad, ein Saunabesuch sei nach etwa einem Jahr möglich. »Wacher« durchs Leben zu gehen, meint im Hinblick auf öffentliche Schwimmbäder und Saunen in erster Linie, auf die Hygiene vor Ort zu achten, sich vor Fußpilz zu schützen und Duschen (wie zu Hause auch) erst eine Weile heiß laufen zu lassen, damit Keime am Brausekopf weggespült werden. Abschließend kommt Schwester Britta zu Detlef Kranerts sozialem Umfeld, genauer gesagt dazu, wer potentiell da ist, um ihm zu helfen, sich um und für ihn zu kümmern. »Auf wie viele Schultern ist die Unterstützung verteilt?«, fragt sie mit Blick auf Detlef Kranerts Begleiterin. »Das geht schon«, meint er. Er lebe allein, seine Mutter sei schon alt, aber er habe einige Freunde, die ihm helfen würden. »So schlimm ist es ja auch nicht mit meiner Hilfsbedürftigkeit!« Eine Stunde ist vergangen, vorerst scheinen von beiden Seiten alle Fragen geklärt zu sein. Bei später auftauchenden Fragen könne er einfach in der Ambulanz anrufen. Detlef Kranert zieht sich Mundschutz und Handschuhe wieder an. Noch zwei Tage, dann wird er aus dem Krankenhaus entlassen und kann beides endgültig ablegen. Allerdings solle er das Händeschütteln jenseits des engen Familien- und Freundeskreises vorerst unterlassen. Zur Verabschiedung schüttelt Schwester Britta ihm die behandschuhte Hand: »Auf gute Zusammenarbeit!« Zwischen Dezember 2007 und März 2009 begleitete ich Schwester Britta zu sechs weiteren solcher Gespräche. Die Mitte 40-Jährige arbeitet auf einer Dreiviertel-Stelle und gilt, weil sie schon so lange dabei ist, im Team der Lebertransplantationsambulanz als »alter Hase«. Sie wisse es noch ganz genau, angefangen habe sie bei Transplantationsnummer 120. Das ist mehr als 15 Jahre her. Ablauf und Inhalte des Informationsgesprächs stehen grob fest, werden von Schwester Britta aber je nach Gegenüber und Gesprächseinstieg variiert und angepasst. Etliche Fragen, Sorgen und Antworten hörte ich wiederholt, zum Teil im selben Wortlaut. Man merkte Schwester Britta an, dass sie diese Gespräche schon viele Male geführt hatte: In ihren nicht müde werdenden Erklärungen und Ratschlägen kombinierte sie professionelle Routine mit Humor und Empathie. Das Informationsblatt mit den Alltagstipps hatte sie vor einigen Jahren auf der Basis ihrer langen Erfahrung in der Betreuung von Lebertransplantierten verfasst. Ähnlich kamen die Ernährungsempfehlungen zustande: Sie wurden von einer Krankenschwester zusammengestellt, die auf der Station arbeitete, auf die viele Transplantierte nach ihrer ersten Zeit (ca. 7-14 Tagen) auf der Intensivstation verlegt wurden. Beide Krankenschwestern verschriftlichten dabei nicht allein persönliches Erfahrungswissen, sondern ein kollektives, professionelles wie praktisches Arbeitswissen, das über die Jahre im Austausch der Mitarbeiterinnen des Transplanta-

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tionszentrums untereinander oder mit Kolleginnen anderer Zentren entstanden ist. In einem Feld, in dem es zwar einen klinischen common sense, aber keine einheitlichen Richtlinien darüber gibt, was Transplantierte für ihren Alltag mit einem Transplantat alles wissen sollten, bilden diese Handzettel für Patientinnen lokale Standards ab – ein Punkt, der später im Kapitel wieder aufgegriffen wird. Detlef Kranert war mit seiner nahezu überbordenden Loslegen-wollen-Stimmung kein Einzelfall. Diese enthusiastische Aktivität nach der Transplantation konnte ich öfter beobachten. Laut Schwester Britta kommt sie oft vor, wenn es den Leuten gut geht (was nicht immer der Fall ist), gerade weil sie vor der Transplantation gesundheitlich oft sehr eingeschränkt waren. »Allerdings«, fuhr sie fort, »stoßen sie im wahren Leben, nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, dann doch recht häufig an ihre Grenzen, gerade wenn die erste Euphorie vorüber ist bzw. das Erleben dieser Grenzen ernüchtert dann die Euphorie.« Während sie solche Patientinnen im Gespräch mit Formeln wie »bitte Zeit lassen«, »noch etwas Geduld haben« oder »vorerst noch langsam angehen« zu bremsen versuchte, ging es in anderen Gesprächen darum, zu vorsichtige oder pessimistische Patientinnen zur Lockerung ihrer eigenen Bremse zu ermuntern. So stellte Schwester Britta unsicheren Patientinnen gegenüber klar: »Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen, nach der Lebertransplantation fängt ein neuer Lebensabschnitt an.« In diesem Zusammenhang wurden Patientinnen mal direkt, mal indirekt dazu angehalten, ihren aktuellen Zustand mit dem vor der Transplantation zu vergleichen. Die Erinnerung daran, dass sich etwas verbessert hat, sollte Mut machen, »das Leben wieder neu anzugehen«. Verneinten Patientinnen die oft am Anfang des Gesprächs gestellte Frage, ob sie wieder Treppen laufen würden, war dies für Schwester Britta ein Grund nachzuhaken. Als eine Patientin unbekümmert meinte, sie bräuchte das nicht, sie wohne ja im Erdgeschoss, reagierte Schwester Britta streng: »Es wäre trotzdem besser zu üben. Es geht darum, den Körper wieder zu belasten, darum, dem Körper und sich selbst wieder ein Gefühl für körperliche Belastbarkeit zu geben«. Der insgesamt eher übervorsichtigen Patientin riet sie, sich ruhig wieder »etwas zu trauen und zu wagen« und »sich nicht zu sehr in Watte zu packen«. Diesen Hinweis erhielt ebenfalls ein Patient, der Ernährungs- und Verhaltensregeln pedantisch erörterte: »Nicht zu sehr in Watte packen und nicht vergessen, ein bisschen Gefahr gehört zum Leben!« Kurz, so Schwester Britta zu einer Patientin: »Sie sollen ja zurück ins Leben!« Zurück ins Leben! Um nicht mehr und nicht weniger geht es bei einer Organtransplantation. Der durch die Leberprobleme verursachte Ausnahmezustand, der unterschiedlich lange andauert sowie unterschiedlich unerträglich ausfällt, ist beendet. Das Transplantationsteam hat seine Arbeit getan. Die nun Transplantierten werden

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zurück ins Leben entlassen, in ihr altes wie neues Leben – »ein neuer Lebensabschnitt« beginnt. Was hier im Rahmen der Entlassung aus dem Krankenhaus als Abschlussgespräch bezeichnet wird, ist eigentlich ein Willkommensgespräch. Dies wird an Schwester Brittas Verabschiedungsformel »Auf gute Zusammenarbeit!« deutlich. Detlef Kranert verlässt das Krankenhaus. Seine Stationsakte wird geschlossen, während in der Transplantationsambulanz eine neue Patientenakte für ihn eröffnet wird. Das Gespräch mit Schwester Britta markiert den Transfer: Er wird in die Obhut der Transplantationsambulanz übergeben. Dort erscheint er mindestens viermal im Jahr, nämlich dann, wenn er ein neues Rezept für seine Medikamente braucht, die so teuer sind, dass sein Hausarzt, bei dem er die regelmäßigen Laboruntersuchen macht, sie lieber nicht auf sein Praxisbudget nehmen möchte.6 Zudem kehrt Detlef Kranert nach einem halben Jahr für seine erste, eineinhalb Tage dauernde Check-up-Untersuchung zurück (für Details siehe S. 137). Zwischendurch gibt es zwischen ihm und der Ambulanz telefonischen Kontakt, weil er eine Frage hat oder ihm, in Reaktion auf seine regelmäßig übermittelten Blutwerte, mitgeteilt wird, dass er eins seiner Medikamente reduzieren kann. Auch wenn es Detlef Kranert und seinem Transplantat weiterhin gut geht und er zu den »Werbefällen« gehört – wie ein Gesprächspartner transplantierte Mit-Patientinnen bezeichnete, die den Idealverlauf repräsentieren – benötigt Detlef Kranerts ›neues‹ Leben medizinische Betreuung. Das Gespräch mit Schwester Britta stellt den Auftakt einer Beziehung dar, die Dr. Seitz, die Leiterin der Ambulanz, mir gegenüber ironisch als »Bund fürs Leben« bezeichnete: Organtransplantierte bleiben ihrem Transplantationszentrum lebenslang verbunden – wenn nicht aus Dankbarkeit, dann für die ambulante Nachsorge. Die Koordinaten dieser Beziehung und des Lebens mit einer transplantierten Leber werden im Informationsgespräch mit Schwester Britta abgesteckt. Wie wird dabei Alltag thematisiert, dessen Organisation hier im Mittelpunkt stehen soll, auf den ersten Blick im Gespräch jedoch zweitrangig erscheint? Vieles im Gespräch handelt von der medizinischen Betreuung, die als Zusammenspiel von Transplantierten, Hausärztinnen, Laboren, Apotheken und Transplantationsambulanz im Alltag organisiert werden muss. Darüber hinaus geht es in Schwester Brittas Fragen und Schreibaktivitäten erst einmal um den transplantierten Körper: sein Zustand, sein Befinden. Fitness und Kondition werden ebenso eingeschätzt wie die Motivation der Patientinnen zur

6 | Die Kosten für die teuren Immunsuppressiva sprengen die engen Budgetgrenzen von hausärztlichen Praxen. Die Krankenkassenärztliche Vereinigung sieht für Hausärztinnen, die Organtransplantierte betreuen, eine Ausnahmeregelung vor, die aber nicht von allen in Anspruch genommen wird. Viele betreuen die Transplantierten zwar weiter, schicken sie aber für kostenintensive Prozeduren oder Medikamentenrezepte in die Transplantationsambulanz.

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körperlichen Betätigung, wobei diese nicht zu stürmisch sein soll, aber auch nicht zu zaghaft. Der mit einer neuen, funktionstüchtigen Leber ausgestattete Körper kann und soll wieder belastet werden. Bereits auf der Intensivstation geht es darum, den Körper mittels Atemtraining und Mobilisation möglichst schnell wieder für den Alltag fit zu machen. Anleitung zur Selbstständigkeit ist hier das Stichwort. Im Sinne einer Rückkehr ins (alte) Leben wird Alltag so zum körperlichen Belastungstest: Was geht wieder, was (noch) nicht, was hat für wen Priorität, was kann wie kompensiert werden? Bei aller potentiellen wie realen Leistungsfähigkeit ist der neue Körper jedoch ein transplantierter und daher immunologisch bzw. medikamentös beeinflusster Körper, der regelmäßig hinsichtlich seines Funktionierens kontrolliert werden muss. Was diese Kontrolle beinhaltet, steht im Fokus des Abschlussgesprächs, in dem das Therapieregime in konkrete Regeln übersetzt wird. Alltag wird dabei als Körperumwelt interessant, als Arena, in der mit dem neuen Körper tagtäglich agiert wird: die Wohnung, die ohne Treppensteigen zu erreichen ist oder sich im vierten Stock eines Altbaus ohne Fahrstuhl befindet, der Arbeitsort Kneipe, Hochofen, Behörde, zu dem zurückgekehrt wird oder auch nicht, die Topfpflanzen, die für mindestens sechs Monate aus Schlafzimmer und Küche ausquartiert werden und von der Familie bereits auf Tongranulat umgetopft wurden, die Ernährung, die neu überdacht, oder die Fahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr, von der in der Erkältungssaison Abstand genommen werden muss. Alltag, verstanden als komplexe Ansammlung oder Ordnung solch alltäglicher Dinge und Praktiken wie den hier genannten, erscheint so als für den neuen Körper potentiell gefährliches Terrain, das mit leberfreundlichem und keimreduzierendem Verhalten sicherer gestaltet werden kann. Im Gespräch geht es daher um mehr als nur Tipps für den Alltag. Alltag wird zu etwas, das neuen Anforderungen unterliegt, in das interveniert werden muss und das der (Re-)Organisation bedarf. Die vielen Imperative verdeutlichen, dass tägliches Leben einer Überprüfung unterzogen, neu justiert und gelernt werden muss: Welche Gewohnheiten kann man wieder aufnehmen, welche besser nicht, und welche müssen neu erworben werden? Schwester Britta umreißt die (Spiel-)Regeln, denen die Rückkehr ins Leben nach einer Transplantation unterliegt, und setzt damit, mal strenger, mal kompromissbereiter, Wegmarken zur Orientierung. Kooperation und Disziplin werden, insofern sie im eigenen Interesse liegen, erwartet, gerade wenn es um die lebensnotwendigen Medikamente geht. Dabei wird weniger gemahnt als an Einsicht, Selbstständigkeit und Eigenverantwortung appelliert. Schwester Brittas Fragen zum sozialen Umfeld der Patientinnen zielen zwar auf die erwünschte Einbeziehung familiärer und befreundeter Unterstützerinnen beim Alltagsmanagement, generell werden Transplantierte jedoch als die zentralen Akteurinnen des Post-Transplantationsregimes und Gestalte-

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rinnen ihres neuen Lebens entworfen. Die Erwartung an die Patientinnen bringt eine Informations- und Lernsoftware für Transplantierte auf den Punkt: »Wenn Sie nach Hause gehen, werden SIE SELBST das wichtigste Mitglied des Transplantationsteams« (OTIS, Hervorhebung im Original). Dieser Appell impliziert eine normative Vorstellung davon, dass Transplantierte verantwortlich mit ihrem neuen Leben umgehen soll(t)en. Dazu passt, dass das Leben nach der Transplantation von verschiedenen Akteurinnen des Transplantationsbereichs häufig als »zweite Chance« bezeichnet wird. Diese Chance wahrzunehmen und der Aufforderung zu folgen, selbst zum eigenen Wohle aktiv zu werden, korrespondiert mit zeitgenössischen Auffassungen von Gesundheit als kontinuierlich herzustellender individueller Leistung (vgl. z. B. Greco 1993; Beck-Gernsheim 1994).7 Transplantierte werden allerdings nicht komplett sich selbst überlassen, die Lebertransplantationsambulanz bleibt lebenslange Begleiterin – helfend, mahnend, kontrollierend (siehe Kapitel 4). Doch zurück zum Abschlussgespräch mit Schwester Britta: Noch haben die Transplantierten das Krankenhaus nicht verlassen, noch wird die Rückkehr in den Alltag vorbereitet. Wenn hier von Alltag die Rede ist, geht es vor allem um die neuen Bedingungen eines Alltags, dessen (Rück-)Eroberung durch die Transplantierten selbst noch aussteht. Die Zeit und Betreuung im Krankenhaus gibt einen Ausblick auf alte wie neue Alltage – vorerst in kleinen Portionen und Schonräumen, aber mit kontinuierlicher Steigerung der Dosis. Dies wird bereits in der Informationsbroschüre deutlich, die Wartelistenpatientinnen erhalten und die den Ablauf des gesamten Transplantationsprozesses beschreibt: Dort geht es von der Betreuung der fürsorglichen Intensivstation, welche die Transplantierten bereits zur Selbstständigkeit anleitet, zur Normalstation, auf der spätestens wieder mehr Selbstverantwortung übernommen werden muss. Die Entlassung aus dem Krankenhaus geht eventuell mit einem kurzen Zwischenstopp zu Hause einher, und die folgende dreiwöchige Anschlussheilbehandlung in einer Reha-Klinik vergönnt noch eine Verschnaufpause, bevor das »wahre Leben« (Schwester Britta) wieder angetreten wird. Das Gespräch mit Schwester Britta bildet auf diesem Weg einen Meilenstein, den Übergang zwischen zwei Etappen: weniger Krankenhaus, mehr Alltag oder auch weniger Fremdkontrolle, mehr Selbstkontrolle. Gleichzeitig stellt das Gespräch eine Zusammenfassung dar, haben die Transplantierten im Krankenhaus doch (unter Anleitung) begonnen, neue Alltagspraktiken einzuüben, beispielsweise wenn sie gefragt werden, was für Tabletten sie wann, in welcher Anzahl und warum nehmen müssen. Die von Schwester Britta ausbuchstabierten Regeln, die vorgeben, wie in Körper und Alltag interve-

7 | In Kapitel 5.4 werden unterschiedliche Auffassungen von Gesundheit und Krankheit ausführlich diskutiert.

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niert werden soll, geben den Transplantierten eine Praxisanleitung mit auf den Weg, ein Programm für Post-Transplantations-Alltage und deren Herstellung. Dieses Programm wird außerhalb des Krankenhauses hinsichtlich seiner Anwendbarkeit und Alltagstauglichkeit getestet und herausgefordert. Wie Regeln von Transplantierten erlebt, angewendet, modifiziert und verworfen werden, werde ich im Kapitel 5 darstellen. Ein erster Ort, der nicht nur den Ausblick auf Alltag und dessen neue Regeln intensiviert, sondern diese auch weiter einübt und testet, ist die Reha-Klinik. Bevor ich die Herstellung von Alltag nach einer Transplantation weiterverfolge, werde ich mithilfe meiner transplantierten Gesprächspartnerinnen den Blick noch einmal zurückwerfen.

3.2 R ÜCKBLENDE I: VON UNGEAHNTEN AUSNAHMEZUSTÄNDEN

KÖRPERLICHEN

Von der Entlassung aus dem Krankenhaus noch einmal ein paar Schritte zurück: In was für Lebenssituationen befinden sich Menschen und welche gesundheitlichen Probleme haben sie, wenn sie mit der Option Lebertransplantation konfrontiert werden? Auf der Internetseite einer Initiative des Pharmakonzerns Novartis mit dem bezeichnenden Namen »Transplantation verstehen. Wissen für das neue Leben« wird die Zeit des Wartens auf ein Organ als erste Etappe auf dem Weg zum »neuen Leben« beschrieben.8 Aus der klinisch-medizinischen Perspektive markiert die Anmeldung auf der Warteliste für ein Organ, wann jemand zur potentiellen Patientin der Transplantationsmedizin wird. Die Anmeldung selbst ist unterdessen das Resultat einer von zwei Seiten getroffenen Entscheidung für eine Transplantation: einerseits der Medizin aufgrund bestimmter Befunde, vor allem aber nach einer ausgiebigen, etwa zweiwöchigen im Krankenhaus stattfindenden Evaluation des gesamten Körpers, andererseits von denjenigen, denen eine Transplantation als Therapieangebot nahegelegt worden ist. Die Erschütterung des gewohnten Lebens, angesichts der die Begriffe Weiterleben oder »neues Lebens« nach der Transplantation ihre Bedeutung entfalten, ereignete sich für meine transplantierten Forschungsteilnehmerinnen jedoch früher. Daher geht es mir, neben dem Rückblick auf das Leben vor der Transplantation, auch um eine Änderung der Blickrichtung in der Erzählperspektive. Im vorherigen Kapitel habe ich vorrangig den klinischen Blick wiedergegeben: Das Entlassungsgespräch

8 | Insgesamt wird zwischen vier Etappen unterschieden: Wartezeit, Operation, die ersten drei Monate und das neue Leben (www.transplantation-verstehen.de).

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wurde als alltägliches Ereignis der Institution Klinik dargestellt, nicht als besonderes Ereignis im Leben gerade Transplantierter. Nun kommen fünf meiner transplantierten Gesprächspartnerinnen zu Wort, die ich ausführlich interviewt habe. Anhand ihrer Erfahrungen werden die Umstände und Phasen im Vorfeld einer Lebertransplantation deutlich. Die auf paraphrasiertem Interviewmaterial beruhenden Ausschnitte ihrer persönlichen Rückblicke werden von medizinischem Vokabular dominiert, waren es doch Diagnosen, Symptome und Krankheitsverläufe, die ihr Leben maßgeblich »umkrempelten«, wie es ein Gesprächspartner ausdrückte. Aus vollster Gesundheit heraus (Waltraud Fornell) »Also, das war wirklich ein ... ja, ein Unwetter in meinem Leben. Das war ein so plötzliches, bedrohliches Ereignis. Ich war überhaupt nicht krank, ich war unmittelbar im Sterben.« An einem ziemlich heißen Abend im Sommer 1989 wurde Waltraud Fornell nach einem deftigen Abendessen mit Arbeitskolleginnen auf einmal sehr übel. Am nächsten Morgen, immer noch das schmerzende Druckgefühl im Bauch, begab sich die 45-jährige Medizinerin in ein Krankenhaus. Von dort aus Transport quer durch die Stadt, zu einem der damals noch nicht so häufig vorhandenen Geräte für eine Kernspintomografie. Diagnose: Budd-Chiari-Syndrom, eine seltene Lebererkrankung, bei der es zu einem Verschluss der zentralen Lebervenen und damit »zum blutigen Infarkt des Gesamtorgans« kommt. »Es war wirklich völlig unerwartet und aus vollster Gesundheit heraus.« Waltraud Fornell wurde sofort in eine Universitätsklinik mit Transplantationsbereich verlegt. Das war kein Schock für sie, sondern sie hatte »das Gefühl am richtigen Ort zu sein«. Obwohl die Therapieform Lebertransplantation damals noch fast unter experimenteller Medizin gelaufen sei, wie sie später lachend anfügt.9 »Ich hatte dann schon eine hepatische Enzephalopathie, ich konnte schon nicht mehr richtig denken. Ich habe Sätze nicht mehr zu Ende gebracht und so weiter [. . . ]. Meine Kinder, die mich besucht haben, unsere jüngste Tochter war damals elf, die ist heulend von meinem Bett weggelaufen und hat ihren Vater gefragt, ›Was hat denn Mama?‹ Weil, das war nicht mehr ich, das war so was ganz Kleines.«

9 | 1985 wurden in Deutschland 55 Lebertransplantationen durchgeführt, 1990: 316, 2000: 780, seit 2006 jährlich knapp über 1.000 (www.gbe-bund.de). Den experimentellen Status hatte die Transplantationsmedizin im Bereich der Lebertransplantation bereits in den 1980er Jahren verlassen, siehe S. 17.

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Was Waltraud Fornells Tochter ängstigte, resultierte aus der beeinträchtigten Entgiftungsfunktion der Leber. In deren Folge kam es zu einem Anstieg von Ammoniak im Körper und dadurch zu Ausfallerscheinungen des Gehirns (hepatische Enzephalopathie). Je nach Stadium äußern sich diese in Aufmerksamkeits-, Reaktions- und Gedächtnisproblemen, Müdigkeit, Störungen der Orientierungsfähigkeit, Feinmotorik und Sprache oder können sogar zu Verwirrtheit und Bewusstlosigkeit (Leberkoma) führen. »Ich war sofort ... [ein] Notfall, ich hatte noch eine Überlebenschance von zwei Tagen! [. . . ] Es war von hier nach da.« Was wäre die Alternative gewesen? (Robert Jost) Die Leber(-werte) von Robert Jost stand(en) schon etliche Jahre unter medizinischer Beobachtung. Entgegen dem Rat seiner Hausärztin ließ er sich Zeit, bis er einen Facharzt aufsuchte: »Nun ist es ja so, die Leber tut nicht weh. Und dann geht man nicht gleich den nächsten Tag, nicht?« Als er schließlich ging, 1999, wurde festgestellt, dass aufgrund einer erblich bedingten Hämochromatose (Eisenspeicherkrankheit) sein Eisenstoffwechsel gestört war. Eine Behandlung begann sofort, aber »es war schon zu spät«. Die Leber des damals 55-jährigen Postbeamten »hatte schon eine erhebliche Schädigung erfahren, mit Leberzirrhose«. Dieses als Schrumpfleber bekannte irreversible Endstadium vieler chronischer Leberkrankheiten resultiert aus der gestörten Regeneration und damit einhergehenden Vernarbung von Lebergewebe, in deren Folge es zu Durchblutungsstörungen der Leber kommt. Zudem können sich bösartige Tumore bilden. Ein solches Leberzellkarzinom, für das Hämochromatose und Leberzirrhose als Risikofaktoren gelten, wurde bei Robert Jost 2007 entdeckt. Trotzdem fühlte er »keine wesentlichen Beeinträchtigungen« und »lief nicht auf’m Zahnfleisch«. Als man ihm mitteilte, dass die einzige Möglichkeit, sein Leben zu retten, eine Lebertransplantation sei, war das für ihn »ein herber Schlag: Man wird plötzlich mit einer Situation konfrontiert, die man bislang nur am Rande mal, in der Zeitung vielleicht, gelesen hat.« Robert Jost, der sich als Optimist beschreibt, der bei Problemen nach dem Motto »Wir müssen da durch« handelt, entschied sich für die Transplantation: »Denn was wäre die Alternative gewesen? Ich hatte ja keine Alternative! Die Alternative wäre gewesen, man hätte nichts gemacht ... [atmet tief durch]«. Das Wort Tod hängt unausgesprochen in der Luft. Warten. »Diese Wartezeit war eigentlich gar nicht so schlimm für mich, ich hatte es dann wieder verdrängt, hatte mich nicht damit beschäftigt. [...] Was ist jetzt schlimmer: nicht zu wissen, wann man dran ist, und man ist plötzlich dran, oder zu wissen, man ist am Tag XY dran, und dann läuft der Countdown? Was zerrt mehr an einem?«

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Letztlich bekam er den ersehnten Anruf, »Wir haben eine Leber für Sie«, bereits nach zwei Monaten: an einem Tag, als er am Vormittag Röntgenbilder aus dem Transplantationsbüro abholen musste und mit einem Mitarbeiter darüber plauderte, dass er in Sachen Wartezeit »noch mittendrin« sei, in einem Moment, als er gerade zufrieden nach einem Fußball-Länderspiel ins Bett gehen wollte: »Woah, erst einmal tief geschluckt!« Wie lange kann so was gehen? (Gudrun Nietschke) Dass »was nicht in Ordnung ist«, wurde Gudrun Nietschke 1995 mitgeteilt. Die damals 49-jährige Chemielaborantin unterzog sich anlässlich eines Arbeitgeberwechsels einer betriebsärztlichen Untersuchung, bei der erhöhte Leberwerte festgestellt wurden. »Nach langem Hin und Her« stand die Ursache fest: Irgendwann in ihrem Leben hatte sie sich mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert. Die akute, überwiegend symptomarme Erkrankung blieb, was nicht selten ist, unbemerkt und hatte sich, was häufig eintritt, chronisch manifestiert. Sie bedeutet, dass kontinuierlich Leberzellen geschädigt und zerstört werden, die Stoffwechselfunktion der Leber beeinträchtigt wird und in der jahrelangen Folge dieses Prozesses, zumal ohne Behandlung, schwere Leberschädigungen (Leberzirrhose, Leberzellkarzinom) auftreten können. Trotzdem veränderte die Diagnose Gudrun Nietschkes Leben nicht sofort. »Dann hieß es, man könnte etwas dagegen tun, diese Interferon-Therapie, die würde aber nur zu 20% wirken, man müsste jeden Tag ’ne Spritze kriegen, hätte starke Nebenwirkungen, solche Sachen.10 Und ich hatte ja gerade den Job gewechselt, war die ganze Zeit nicht fest angestellt, und da wollte ich nicht riskieren, arbeitslos zu sein. [. . . ] Und da habe ich das so gehen lassen, [ohne Therapie], und hab bis 2003 gearbeitet.«

10 | Eine chronische Hepatitis C wird zurzeit mit einer Kombination aus Interferonen, welche die der Immunabwehr dienenden T-Lymphozyten anregen und so die Abwehrkräfte des Körpers gegen den Virus stärken, und einem Wirkstoff, der die Viren-Vermehrung hemmt, behandelt. Heute wird zwar ›nur noch‹ ein- bis zweimal wöchentlich gespritzt und die prozentualen Wirkungschancen haben sich unter anderem durch ein individuell fein abgestimmtes Therapiemanagement gegenüber den 1990er Jahren verbessert, trotzdem ist die 24- bis 48-wöchige Therapie körperlich anstrengend und mit zahlreichen Nebenwirkungen verbunden. Der TherapieErfolg wird von Faktoren wie der Viruslast, der Dauer der Erkrankung oder dem Genotyp des Virus beeinflusst.

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Erst dann konnte oder wollte Gudrun Nietschke – die sich selbst als ehrgeizige Arbeiterin beschreibt, der ihre finanzielle Unabhängigkeit(vom Staat wie von einem Lebenspartner) wichtig ist und für die »eine Erkältung keine Krankheit [war]« – es sich »leisten«, finanziell wie altersmäßig, in den vorgezogenen Ruhestand zu gehen und eine Behandlung zu beginnen. Als sie die Therapie hintenanstellte, fühlte sie sich (noch) nicht krank: »Man merkt nichts! Das hatte mir der Arzt auch gesagt. Die Leber ist ein Organ, wo man nichts merkt.« Nach einigen Jahren machte sich die weiterentwickelnde Leberzirrhose dann aber doch bemerkbar: Müdigkeit, Konzentrationsschwäche und Erinnerungsprobleme beeinträchtigten Gudrun Nietschke zunehmend, gerade auch bei ihren anspruchsvollen Arbeitstätigkeiten. 2005 begann sie eine Interferon-Therapie. Diese musste jedoch abgebrochen werden, denn sie bekam »einen großen, dicken Wasserbauch« – Aszites, eine typische mit der Leberzirrhose zusammenhängende Erkrankung, bei der sich vermehrt Flüssigkeit in der Bauchhöhle ansammelt. Der behandelnde Arzt schickte Gudrun Nietschke daraufhin ins Transplantationszentrum, Ergebnis: ein Platz auf der Warteliste für eine neue Leber. Über das Warten oder die Transplantation nachzudenken, blieb ihr im folgenden Jahr »nicht wirklich« Zeit, denn die körperlichen Ausnahmezustände vermehrten und verschärften sich: »Der Bauch wuchs und wuchs«, die Blutwerte verschlechterten sich, Schlappheit, Bauchwasser wurde abgesaugt, neue Medikamente, der Bauch wuchs weiter und »dann diese Ammoniakausschüttung [hepatische Enzephalopathie], wo man völlig daneben ist. Das ist mir, was heißt mir, das ist dreimal passiert, also dass ich am Boden rumgekrabbelt bin und mich in die Toilette eingesperrt habe und solche Sachen. Hat man mir erzählt. Ich kann mich nicht dran erinnern, ich war völlig weg. Woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich mich nicht erinnern konnte, zum Beispiel an Telefonnummern oder Geburtsdaten. Ich hab alles durcheinandergeschmissen, hab nichts gewusst. [. . . ] Die ganze Zeit war ich eigentlich immer ich und dieses Mädel da neben mir und hab mich selber beobachtet und festgestellt: Also die hat ’ne Macke [lacht].«

Einmal, »das war wohl ziemlich eng«, musste sie sogar auf der Intensivstation behandelt werden. Die Dringlichkeit einer Lebertransplantation stieg, immer wieder Krankenhaus, immer wieder reagieren müssen und zwischendurch, in einem Moment der Ruhe, die Frage: »Wie lange kann so was gehen?« Im Oktober 2006 wurde Gudrun Nietschke lebertransplantiert.

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Eine Art unsichtbare Fessel (Alexander Dahlen) Er präsentiere eine untypische Geschichte, so Alexander Dahlen, da man bei ihm die Krankheit zwar »formal ablesen konnte«, er aber, bis auf den Umstand, dass Augen und Haut im Laufe der Jahre ein bisschen gelb wurden und seine Haut zum Schluss etwas juckte, keine Symptome hatte. Infolge einer chronischen Entzündung der Gallenwege (primär sklerosierende Cholangitis) wurde er im Alter von 33 Jahren lebertransplantiert. »Ich hatte, seit ich zehn war, ’ne Darmentzündung, die dann dazu geführt hat, dass sich die Gallengänge entzündet haben, die sich in der Leber befinden. Was mit 16 festgestellt wurde. Und mit 16 hat man mir gesagt, dass ich so statistisch [gesehen] maximal 22 werde. Aber dieses Transplantationsthema, das gab’s eigentlich so konkret erst später.«

Letztlich »war ich nie durch die Krankheit irgendwie in der Realität beeinflusst. Das hat natürlich nach sich gezogen, dass ich dem [der Transplantation] relativ unaufgeschlossen gegenüberstand.« Das Leben mit einer Erkrankung, die man nicht fühlt, »ohne praktische Einschränkungen«, habe dadurch »was Surreales« bekommen. Gleichzeitig habe er »immer diese Todesangst« gehabt, jahrelang, von der Kindheit an, jeden Tag – ein Leben »quasi im Krieg«, »’ne Art unsichtbare Fessel, die einen davon abhält, zu leben« und Zukunftspläne zu machen. Trotzdem hat er immer was gemacht, hat studiert, sogar in den USA (ein Herzenswunsch von ihm), hat angefangen zu arbeiten. Zugleich blieb die Gewissheit, dass irgendwann die Leber »aussteigen« und »ein drastischer Eingriff« nötig werden wird. 2001 unterzog er sich dann der Evaluationsuntersuchung im Transplantationszentrum. Grünes Licht seitens der Medizin, doch Alexander Dahlen selbst fand den Entschluss nicht leicht, ließ sich Zeit: aus Sorge darüber, dass etwas schiefgehen könnte, aber auch aufgrund seines Unbehagens mit dem »Transplantationsvertrag«, den darin festgelegten Verpflichtungen für Patientinnen, nicht aber für Medizinerinnen. Die Auflage für Transplantationskandidatinnen, ständig telefonisch erreichbar sein zu müssen, war für ihn, der nach eigener Aussage zur ersten Generation europäischer Hacker gehört, »eine seltsame Erfahrung«. Zudem würden einem die diversen Evaluationsuntersuchungen »relativ klarmachen, dass man sehr formal als Mensch auf Kriterien des Erfolgs getestet wird, die nicht zuletzt, ja, auf eine bestimmte Statistik zielen«. Insbesondere die psychologische Evaluation, in seinem Fall ein computerbasierter Multiple-ChoiceTest und ein kurzes Gespräch, fand er in diesem Zusammenhang »respektlos« und »nicht sozial«. Eine psychologische Begleitung des Transplantationsprozesses fehle demgegenüber. Er suchte sich selbst psychotherapeutische Unterstützung, doch

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sein Problem konnte nicht gelöst werden: »Der Tod ist ja nicht verhandelbar«. 2005 entschied er sich dann für die Anmeldung auf der Warteliste. Unbehagen, Sorgen und Ängste blieben, Telefonklingeln wurde zum »Psychoterror-Element«. Nach etwa sieben Monaten wurde er angerufen, es ging los. Von Zuhause abgeholt und auf der Intensivstation auf die Operation vorbereitet werden: Untersuchungen wie Blutentnahme und EKG, Aufklärung über Ablauf, Risiken und Narkose, gewogen und rasiert werden (von den Brustwarzen bis zur Leistengegend), einen Einlauf kriegen, duschen. Dann die Mitteilung, dass die Transplantation nicht klappe, er könne wieder nach Hause: »nervenaufreibend«.11 Weil ich ja auch leben wollte (Erika Voss) Das Jahr 2001 markiert im Leben von Erika Voss und ihrer Familie einen massiven Einschnitt: Nachdem ihr Leben aufgrund einer verheerenden Diagnose schon fast beendet schien, erhielt sie im Mai von ihrem Sohn einen Teil seiner Leber und ihre Lebenszeit wurde so noch einmal verlängert. »Ein Vierteljahr vorher etwa ging das los mit den Beschwerden. Ich hab gar nicht gewusst, was das sein soll. Ich war so schlapp, ich hab [beim Gang über die Straße] nicht mal mehr eine Ampelphase geschafft, [. . . ] Treppen waren überhaupt nicht mehr drin und man konnte richtig zusehen: Es wurde von Tag zu Tag schlimmer. [. . . ] Erst hab ich gedacht, das kann doch nicht sein: Sicher, du hast viel um die Ohren, deine Arbeit, das und das [. . . ], aber, ach, wird schon wieder«.

Was abrupt begann, verschlimmerte sich so kontinuierlich wie rapide. Sie suchte ihren Hausarzt auf. Eine Überweisung und einen Facharzt später fand sich die damals 52-Jährige im Krankenhaus wieder und erhielt nach unzähligen Untersuchungen folgende Auskunft: »Jetzt wissen wir, was Sie haben: Sie haben ’ne Hepatitis C, Sie haben ’ne Leberzirrhose und sie haben Krebs. Wir können jetzt nichts mehr für Sie tun. [. . . ] Melden Sie sich mal im [Krankenhaus-Name] wegen einer Lebertransplantation. Das war wie ein Hammer! Also so unsensibel, wie die [Ärztin] das rübergebracht hat [. . . ], das war ein bisschen herb.«

Die trockene Aneinanderreihung unbegreiflicher Diagnosen war extrem in ihrer Übermittlung wie in ihrem Inhalt. Hepatitis C, Leberzirrhose, Leberzellkarzinom und Le-

11 | Eine Absage der Transplantation aufgrund einer Ablehnung des Organs durch das chirurgische Team kann zu diesem Zeitpunkt vorkommen (siehe S. 27f.).

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bertransplantation – mögliche Stationen, wie sie lernte, einer Hepatitis-C-Erkrankung und ihrer Folgen für die Leber. Unentdeckte Vorgänge im Körper wurden plötzlich aufgedeckt. Im selben Moment, in dem für sie alles ins Wanken geriet, erhielt Erika Voss, die als Pflegeassistentin einer Sozialstation arbeitete, einen anonymen Mobbingbrief von ihrer Arbeitsstelle, in dem ihr vorgeworfen wurde, unberechtigt krankzufeiern: »Ich war fix und fertig! Das kam alles so, von allen Seiten überschüttet ... [unterstreichende Handbewegung]«. Kurze Zeit später, im April 2001, kam sie auf die Warteliste für eine Lebertransplantation. Sie erfuhr, dass sie eine Blutgruppe hat, »wo es länger dauert«, sodass nicht vor Ende des Jahres mit einem Organ für sie zu rechnen sei. Es war unklar, ob sie so lange überleben würde. Ihr Sohn, damals 26 Jahre, eins von zwei erwachsenen Kindern, sagte daraufhin: »Kommt gar nicht in Frage. Jetzt testen Sie mich mal!« Anfangs war Erika Voss dagegen. Ihr Kind, »ein junger Mann mitten im Leben«, mit einem tollen, zumal körperlich anstrengenden Job, sollte nicht leiden, nicht einen Teil von sich hergeben – für seine Mutter. Doch an seiner Haltung war nicht zu rütteln und sie ließ sich »überzeugen« – »weil ich ja auch leben wollte«. Es folgten medizinische Tests, die Entscheidung der Lebendspendekommission,12 der gemeinsame Krankenhausaufenthalt und der Termin für die Operation zweier Familienmitglieder – Leberentnahme und -transplantation. Von entgleitenden Alltagen Bis auf Waltraud Fornell, die im Rahmen der Neuropathologie beruflich mit den funktionalen Parametern der Hirntod-Diagnostik zu tun hatte, lange bevor sie das Thema Organtransplantation persönlich betraf, hatten meine Gesprächspartnerinnen höchstens am Rande von der Möglichkeit einer Organtransplantation gehört oder darüber gelesen. Mehr oder weniger plötzlich fanden sie sich jedoch in einer gesundheitlichen Situation wieder, in der sie mit dem Eingriff real konfrontiert wurden, mit einer Therapieform, der man in der Regel erst dann begegnet, wenn eine Organerkrankung bereits fortgeschritten ist und andere Behandlungsformen keine Aussicht auf Erfolg bieten. Unabhängig davon, wann die unerwartete Therapie-Option angespro-

12 | Personen, die sich zu einer Lebendspende bereit erklären, müssen nicht nur medizinisch geeignet sein, sondern auch in einem nachweislich engen Verhältnis zu der Person stehen, die die Niere oder Leberhälfte bekommen soll und erklären, dass sie sich über die Konsequenzen des Eingriffs im Klaren sind und ihn freiwillig eingehen. Diese Kommission ist Sache des jeweiligen Bundeslandes, der dortigen Landesärztekammer. Sie setzt sich aus Vertreterinnen ärztlicher, richterlicher und psychologischer Professionen zusammen (Vorgaben des TPG § 8 Abs. 3.). Ausführlicher zu Lebendspendekommissionen in Deutschland vgl. Sievers 2007.

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chen wurde, ob sofortiger Handlungsbedarf bestand oder Zeit zum Warten und Nachdenken blieb, bedeutet sie auch noch Jahre später einen Einschnitt im Leben meiner Gesprächspartnerinnen, eine gesundheitliche Krise und nicht-alltägliche Unterbrechung. Die häufig gefühlte Schlagartigkeit, mit der das Thema Organtransplantation über sie hereinbrach, verweist auf die Besonderheit der Therapieform, insbesondere aber auf das konkrete Erleben des mal abrupten, mal schleichenden, körperlich nicht unbedingt spürbaren Leberversagens und die Erkenntnis, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Es verwundert nicht, dass unter solchen Umständen die rückblickenden Erzählungen weniger von Entscheidungsprozessen berichten als von der unbeirrten, wenn auch mitunter zögerlichen Annahme eines medizinischen Angebots, das, wie es ein Gesprächspartner ausdrückte, »dem Ergreifen des letzten Strohhalms« gleichkommt. In der gleichermaßen abstrakten wie konkreten Entscheidung zwischen Tod und Transplantation geht es um nicht weniger als den Wunsch weiterzuleben, noch nicht zu sterben. Der Begriff der Entscheidung ist in diesem Kontext, in dem mögliche Bedenken und Abwägungen der Patientinnen ein untergeordnetes Thema sind und ihre Zustimmung implizit vorausgesetzt wird, schlussendlich problematisch, wenn nicht unangemessen. Gerade diejenigen, die sich in einer akuten Gesundheitskrise ad hoc entscheiden mussten, betonten, dass die Zustimmung zur Transplantation, »da man keine Wahl hat«, letztlich »gezwungenermaßen« stattfindet. Gesprächspartnerinnen mit mehr Zeit im Vorfeld der Transplantation beschrieben die Akzeptanz der Organtransplantation eher als Prozess des »Reinwachsens«. Dieser Begriff verweist auf einen Lernprozess, der sich über medizinische Befunde zum Nicht-Funktionieren der Leber genauso wie über Alltagserfahrungen wie das Scheitern an Treppenstufen, Ampelphasen oder Routine-Aufgaben bei der Arbeit manifestierte. Parallel zum graduellen »Reinwachsen« nahmen die aus den Diagnosen resultierenden medizinischen Interventionen zu. Mehrere Transplantierte beschrieben den Krankheitsverlauf als schrittweise Abfolge von Eingriffen und Reaktionen der Medizin, bei der ihr Gesundheitsproblem in überschaubarere Probleme zergliedert und dadurch ihre Angst reduziert wurde: »Wenn Sie mittendrin sind, gehen Sie immer nur den nächsten Schritt. [. . . ] Sie machen viele Schritte, aber sie machen einen Schritt nach dem anderen. Sie sehen nicht das Ganze, sondern nur einen Schritt« (Hasan Çelik). Das sei es, was einem Kraft gebe. Am Ende ist die Transplantation der nächste Schritt, der bei aller Verstörung nun ganz folgerichtig erscheint. Jenseits typischer Krankheitsverläufe und körperlicher Symptome von Lebererkrankungen verdeutlichen die individuellen Rückblicke, was Leberversagen bedeutet, was es heißt, wenn Diagnosen Leben und Alltage infrage stellen, man sich auf eins seiner Organe nicht mehr verlassen kann und ein Körper nicht mehr reibungs-

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los funktioniert. »Ein integraler Bestandteil des Körpers« (Alexander Dahlen) wird plötzlich »zum defekten Baustein« (Robert Jost). Ein etwa zwei Kilo schweres Organ, das man »nicht spüren kann« und das gern als »Chemiefabrik« oder »Entgiftungszentrale« des Körpers bezeichnet wird, gerät hinsichtlich seiner vielfältigen Bedeutung für den Stoffwechsel in den Blick: »Erst wenn die Leber krank ist oder schlecht funktioniert, merkt man, dass sie fehlt.« (Gudrun Nietschke) Ihr Versagen steht laut einer Gesprächspartnerin im wahrsten Sinne des Wortes für »den Verlust von Lebenskraft«. Für sie und andere stieß die erstaunliche Regenerationsfähigkeit der Leber an ihre Grenzen:13 stattdessen Schädigung und Untergang von Leberzellen, Einlagerung von Bindegewebe, Umbau und Vernarbung von Lebergewebe, eine häufig erst vergrößerte, dann geschrumpfte Leber, die nach und nach »aussteigt«. Was sich im Inneren des Körpers abspielt, wird auf einmal zur Frage des Überlebens und steht einigen am Ende, in Form gelber Augen (Bindehaut) und Hautfarbe, deutlich ins Gesicht geschrieben. Lebenszeit wird anhand des körperlichen Zustandes vermessen, prognostiziert und begrenzt. Wartelistenzeit gibt meinen Gesprächspartnerinnen zufolge »Hoffnung auf ein Danach« und kann gleichzeitig Angst machen, ist »Zeit, die wegläuft«, unkalkulierbar in ihrer Länge, erfordert Geduld, viel Geduld, und wirft Fragen auf, indem sie die immer bewusste und im Alltag doch so oft verdrängte Endlichkeit von Leben(s-zeit) vor Augen führt. Die Rückblicke meiner Gesprächspartnerinnen sind überwiegend Erzählungen akuter körperlicher Krisen und existentieller Ausnahmezustände. Alltag taucht in diesen Beschreibungen kaum auf und wird höchstens angedeutet. Dass Alltag, in Form von liebgewordenen Gewohnheiten, banalen Routinen und eingespielten Übereinkünften, hier so blass bleibt, mag ein dramaturgischer Effekt und dem retrospektiven Spannungsbogen des erzählten Transplantations-Dramas geschuldet sein, ist jedoch gleichermaßen Ausdruck der ungewissen Situation, in der sich auf ein Organ Wartende befinden. Der Verlust von Kontrolle über Körper, Leben und Zeit kann nur schwer als Alltag erzählt werden. Längere, schwerwiegende Krankheiten fordern die Selbstverständlichkeiten täglicher Routinen heraus (vgl. Charmaz 1991): Alltag wird verunsichert. Gleichzeitig ist es eine gewisse Alltagsunfähigkeit gewesen, die einige meiner Gesprächspartnerinnen Medizinerinnen aufsuchen ließ.

13 | Diese Regenerationsfähigkeit wird in der Lebendspende genutzt und ist kulturhistorisch durch die Prometheus-Sage der griechischen Mythologie bekannt. Im Streit mit Zeus hatte Prometheus den Menschen das Feuer (wieder-)gebracht. Zur Strafe wurde er an einen Felsen gekettet, wo jeden Tag ein Adler von seiner Leber fraß. Da sich die Leber immer wieder erneuerte, hatte er täglich Qualen zu erleiden, bis Herakles ihn aus Mitleid erlöste. Die Regeneration der Leber wird darin jedoch Prometheus’ Unsterblichkeit als Titan zugeschrieben.

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Der Versuch, an Alltag festzuhalten, ihn aufrechtzuerhalten oder neu zu arrangieren, kann in einigen Momenten ausgesprochen schwerfallen. Zum Beispiel dann, wenn man aufgrund seiner gelblichen Hautfarbe als hochgradig ansteckend eingeordnet aus dem Supermarkt um die Ecke verwiesen wird und sich daraufhin erst ein Attest besorgen muss, das erklärt, dass es sich um ein für die Allgemeinheit ungefährliches Symptom einer Lebererkrankung handelt, bevor man seine Besorgungen fortsetzen kann; wenn man am Arbeitsplatz mit nicht enden wollender Müdigkeit kämpft und der Konzentrationsmangel immer schwieriger zu verbergen ist; wenn Erinnerungsprobleme Freundschaften oder den Familienfrieden strapazieren; oder wenn man im Krankenhaus, von einer Vielzahl von Studierenden umringt, als Anschauungsobjekt totalen Leberversagens dient. Alltag fehlt im Vorfeld der Transplantation nicht, ist aber etwas, das zunehmend entgleitet.

3.3 A NSCHLUSSHEILBEHANDLUNG : VON W OCHENPLÄNEN UND A LLTAGSSIMULATIONEN Zurück zur Rückkehr in gewohnte wie ungewohnte Alltage: Nach der Lebertransplantation und dem anschließenden Krankenhausaufenthalt, der je nach Verlauf drei bis sechs Wochen, manchmal Monate dauert, wird eine stationäre Anschlussheilbehandlung empfohlen. Alle Lebertransplantierten, die ich im Rahmen meiner Forschung traf, folgten dieser Empfehlung und begaben sich, oft mit einem Zwischenstopp von ein paar Tagen zu Hause, für drei, manchmal vier Wochen in eine Reha-Klinik. An einer dieser bundesweit zehn Kliniken mit einer Fachabteilung für Organtransplantation hospitierte ich im Juli 2009 für eine Woche und begleitete Patientinnen sowie Ärztinnen, Pflegerinnen und Therapeutinnen in ihren Tagesabläufen. Mein Forschungsanliegen wurde freundlich aufgenommen und unkompliziert ermöglicht. Die laufende Forschung im Transplantationszentrum war hier von Vorteil: Dass Transplantationszentren und Reha-Kliniken miteinander kooperieren, vereinfachte die Kontaktaufnahme und ich kam mit Vorwissen in die Klinik, was die Gespräche mit Personal wie Patientinnen erleichterte. Im Transplantationsbereich der Reha-Klinik werden zwar auch Organempfängerinnen auf die Transplantation vorbereitet und Rehabilitationsmaßnahmen für Lebendorganspenderinnen oder bereits längere Zeit Transplantierte angeboten, die Mehrheit der Patientinnen kommt jedoch im Anschluss an die Trans-

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plantation. Während meiner Forschungszeit waren 27 Patientinnen anwesend, von denen die meisten nierentransplantiert und mehrere lebertransplantiert waren.14 Die Anschlussheilbehandlung zielt seitens der für die Kosten aufkommenden gesetzlichen Rentenversicherung oder Krankenkasse auf die Wiederherstellung von Organtransplantierten, das heißt auf den Wiederaufbau ihrer Belastbarkeit in Alltag und Arbeitsleben. Dieses Ziel übersetzte Dr. Schönfeldt – mein erster Ansprechpartner in der Klinik, Chefarzt der Urologie, der sich auch im Transplantationsbereich auskennt, die Klinik mitaufgebaut hat und für die Ultraschall-Untersuchungen der transplantierten Patientinnen zuständig ist – bei unserem ersten Telefonat folgendermaßen: Im Wesentlichen gehe es darum, »die frisch Transplantierten wieder in den Alltag hineinzuwerfen, Alltag zu simulieren und eben zu gucken, wie geht es dem einzelnen Patienten und woran muss noch gearbeitet werden«. Woran genau gearbeitet wird und was man sich unter der Simulation von Alltag in einer Reha-Klinik vorzustellen hat, ist Thema dieses Unterkapitels. Ebenso wie beim zuvor beschriebenen Informationsgespräch in der Transplantationsambulanz interessiert mich bei der Anschlussheilbehandlung ihre Funktion als Schnittstelle oder Brücke zwischen Klinik und Alltag: Wie werden Transplantierte auf das Leben nach der Transplantation, auf die Rückkehr in den Alltag mit einem Organtransplantat vorbereitet und welcher Alltag ist dies überhaupt? Keine Erholungskur, sondern Arbeit Das Krankenhaus und den Wohnort verlassen, an einen idyllischen, Erholung versprechenden Ort reisen, ein Zimmer mit Balkon, Vollverpflegung mit Mittagsmenü-Wahl und üppigem Buffet am Morgen und Abend, Veranstaltungsangebote und Vorschläge für die Tagesgestaltung – Alltag sieht anders aus. Dass es sich dennoch nicht um Ferien (vom Alltag und/oder Krankenhaus) handelt, lässt nicht nur die weiße Uniform des Personals erahnen, sondern auch die Begrüßung: Zusammen mit dem Zimmer-

14 | Es gab mehr Männer als Frauen; viele waren in den 1950er Jahren geboren, einige in den 1960ern und 1970ern, der Jüngste war Jahrgang 1981. Neben den seit kurzer Zeit Transplantierten waren anwesend: eine seit drei Jahren Nierentransplantierte, die die Möglichkeit nutzte, als Langzeit-Patientin ein zweites Mal eine Reha zu machen, eine Wartelistenpatientin sowie eine erfolglos transplantierte Dialyse-Patientin, deren Transplantat nach einigen Tagen versagt hatte, zusammen mit ihrer Mutter, ihrer Lebendorganspenderin.

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schlüssel werden ein Urin- und ein Messbecher ausgehändigt,15 wird über die Zeiten zum Verbandswechsel informiert und muss zusammen mit einem Zivildienstleistenden ein Fragebogen zur Einschätzung der persönlichen Pflegebedürftigkeit ausgefüllt werden. Auch der wellenförmige Bau des Gebäudes und der daraus resultierende Effekt, dass man in den meisten Fällen das Ende des Ganges nicht sehen kann, sind weniger dem Umstand geschuldet, dass die langen Gänge auf diese Art weniger an ein Verwaltungsgebäude erinnern, sondern sollen vor allem bewirken, dass das Gehen auf diesen Fluren die Patientinnen nicht so schnell erschöpft. Wegstrecken, die fürs Tagesprogramm absolviert werden müssen, sind an diesem Ort keine Kleinigkeit. Wer hier anreist, ist meist noch schwach auf den Beinen, manchmal mit einem Rollator oder sogar einem Rollstuhl unterwegs und kann oft präzise Auskunft darüber geben, wie viele Meter und/oder Treppenstufen er oder sie gerade schafft. Ideen von einer Erholungskur mit Anwendungen, denen man sich passiv hingeben kann, verblassen. Nicht umsonst stellen die Rentenversicherer auf einer ihrer Webseiten klar, dass eine medizinische Rehabilitation Arbeit ist, und zwar »Arbeit an der eigenen Gesundheit. Der Patient soll seine gesundheitliche Situation richtig einschätzen und entsprechend handeln können. Er wird zum eigenen ›Gesundheitsmanager‹ ausgebildet.«16 Ein Verständnis von Gesundheit, demzufolge diese individuell hergestellt werden muss, ist hier nicht mehr nur Leitidee, sondern konkrete Aufgabe. Das damit verbundene Bild der Arbeit an der eigenen Gesundheit oder ›Gesundheitsarbeit‹ greife ich für die folgende Beschreibung und Analyse der Anschlussheilbehandlung auf. Einen ersten Einblick in die anvisierte Gesundheitsarbeit geben die Antragsformulare für den Reha-Aufenthalt. Vorformulierte oder selbst formulierte Rehabilitationsziele nach der Transplantation lauten häufig »Schmerz-Reduktion«, »Steigerung körperlicher Leistungsfähigkeit« und »Wiedererlangung von Kraft und Mobilität«, manchmal auch »Leben mit einem Spenderorgan« oder »krankheitsangemessenes Verhalten«. Gespräche mit Patientinnen und Klinikpersonal bestätigten den Eindruck aus den Akten: Für die meisten Transplantierten geht es darum, körperlich wieder fit, mobil und stärker zu werden. Arbeit an der eigenen Gesundheit bedeutet für sie Arbeit an ihrem Körper und ihrer Fitness. Dass sie auch etwas über Ernährung ler-

15 | Neben Gewicht, Blutdruck und Fieber wird die tägliche Urinmenge gemessen, um im Abgleich mit dem Gewicht zu kontrollieren, ob nach der Transplantation die Ausscheidung ordentlich funktioniert und keine übermäßigen Wassereinlagerungen im Körper stattfinden. 16 | Webseite der Regionalträger der Deutschen Rentenversicherung: http://www. ihre-vorsorge.de/gesundheit/medizinische-rehabilitation.html (letzter Zugriff: 15.8.13).

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nen oder sich zum psychologisch begleiteten Austausch treffen sollen, finden viele erst einmal weniger wichtig. Doch »eine Transplantation ist was Großes, da muss viel verarbeitet werden«, so Dr. Schönfeldt. In den Transplantationszentren wird seiner Meinung nach häufig »nur aufs Organ geschaut«, und denjenigen, deren Transplantatsfunktion und Laborwerte in Ordnung seien, werde gesagt, dass sie wieder arbeiten gehen könnten: »Dass da noch was anderes ist, weshalb der oder die Patientin das vielleicht nicht hinkriegt, blockiert ist, einfach noch was im Argen ist, wird da oft nicht miteinbezogen. Demgegenüber versuchen wir hier eben ganzheitlicher anzusetzen«. Er unterscheidet, dem rehabilitationswissenschaftlichen Jargon gemäß, zwischen somatischen, funktionalen, psychosozialen und edukativen Rehabilitationszielen. Das heißt, Angebote betreffen Körper- und Organfunktion(en), Selbstversorgung und Mobilität, Krankheitsbewältigung, berufliche und soziale (Re-)Integration oder lebensstilbezogene Verhaltensstrategien. Das in diesem Sinne umfassende RehaProgramm ist also auf unterschiedliche Bereiche von Gesundheitsarbeit ausgerichtet. Für die meisten Patientinnen stand hingegen eine allgemeine gesundheitliche Verbesserung im Vordergrund. Mit einem neuen, funktionstüchtigen Organ ausgestattet wollten sie »die Krankenhaus-Zeit hinter sich lassen« und ihr »Leben wieder in Angriff nehmen« (seit vier Wochen Lebertransplantierter, Ende 50).17 Auf dem Weg dorthin stellt die Reha eine Zwischenstation dar. Nimmt man Dr. Schönfeldts Formel von der Reha als Alltagssimulation ernst, ist die Zeit in der Reha-Klinik gleichermaßen Schonraum, eine Auszeit von individuellen Alltagsverpflichtungen, und Belastungsprobe, ein Testlauf ›als ob‹, noch darf geübt werden. Inwiefern simulieren einzelne Therapiebereiche der Reha-Klinik Alltag? Was für ein Bild von Alltag, insbesondere Post-Transplantations-Alltag, wird dabei entworfen? Was hat die therapeutisch unterstützte Arbeit an der Gesundheit mit Alltag zu tun? Bevor ich diesen Fragen anhand meines Materials für die Bereiche körperliche Fitness, Ernährung und Krankheitsbewältigung nachgehe, werde ich vorstellen, wie ›Alltags-Testläufe‹ und die Arbeit an der eigenen Gesundheit in der Reha-Klinik organisiert werden. (Gesundheits-)Arbeit nach Plan Spätestens wenn man sein persönlich zu absolvierendes Reha-Programm sieht, wird klar, dass der Aufenthalt in einer Reha-Klinik Arbeit ist. Angesichts des täglichen

17 | Hin und wieder wurde in den Reha-Anträgen angekreuzt, dass keine gesundheitlichen Verbesserungen erwartet werden. Diese Aussage, so der Chefarzt des Transplantationsbereichs, seien für Patientinnen typisch, denen es extrem gut oder extrem schlecht gehe: In beiden Fällen könne sich vorab nicht vorgestellt werden, dass eine Änderung eintreten könnte.

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Stundenplans voller Therapie-Termine übersieht man fast, dass der Wochenplan am Wochenende Freizeit vorsieht – ist das schon Alltagssimulation? Grundlage des Wochenplans ist der Therapie-Plan. Er wird im Erstgespräch der neu angereisten Patientin mit Dr. Spira erstellt, einem Transplantationschirurgen »am Ende seiner Karriere«, wie er selbst es ausdrückte, der in der Reha-Klinik als Urlaubsvertretung begonnen hatte und nun seit sechs Jahren dort als Chefarzt des Transplantationsbereichs arbeitete. Nach kurzer Begrüßung und Verständigung zur jeweiligen Transplantationsgeschichte, zum Medikamentenplan und zur aktuellen Situation lenkt der Arzt die Aufmerksamkeit auf das zukünftige Arbeitsprogramm: »Kommen wir zum Wichtigsten, dazu, weshalb Sie hier sind.« Er beginnt mit der Aufzählung von Angeboten aus den Bereichen Physiotherapie/Krankengymnastik, Sport und Entspannung: Massagen für die Narbe und Fango-Schlammpackungen, Fahrrad-Ergometer für die Kondition, Muskelaufbau-Training und (Hocker-)Gymnastik, Laufen oder Gehen in der Gruppe mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder auch Nordic Walking, Schwimmen, Wasser-Fitness, Bogenschießen und Badminton, Tai Chi oder progressive Muskelentspannung nach Edmund Jacobson. Gibt es beim Sport noch Wahlmöglichkeiten, wird im Bereich der Gesundheitsbildung vieles eher mitgeteilt: »ein theoretisches Seminar« – dahinter verbirgt sich eine aus drei Teilen bestehende Vortragsreihe, in der Dr. Spira Patientinnen über die Geschichte der Organtransplantation, das Immunsystem und Abstoßungsreaktionen sowie den Alltag mit dem neuen Organ informiert –, Seminare zum Thema Ernährung, bei Bedarf auch zum Thema Diabetes oder Laborwerte. Weiter, so Dr. Spira zu der neuen Patientin, treffen sich die Transplantierten, um sich untereinander auszutauschen. Das Gespräch werde von einer Psychologin moderiert: »Da lernen Sie die Psychologin auch gleich kennen, falls Sie was mit ihr in einer Einzelsitzung besprechen wollen.« Hinzu kommt der Bereich freien Werkens, wo man malen, töpfern, Körbe flechten, batiken oder modellieren kann, und schließlich das Angebot, sich vom Sozialdienst zu beruflichen Wiedereingliederungsmöglichkeiten oder Rentenversicherungsfragen beraten zu lassen. Während Dr. Spira die Angebote der Reha-Klinik aufzählt und erläutert, Vorschläge macht und mit der Patientin abstimmt, verteilt er Kreuzchen auf dem Vordruck des Therapie-Plans. Selbst wenn hier und da persönliche Vorlieben der Patientinnen berücksichtigt werden, ist etliches als Standard-Verordnung für Transplantierte bereits vorher markiert. Variationen im Therapie-Mix betreffen vor allem den physio- und sport-therapeutischen Bereich und reagieren auf die jeweilige körperliche Verfassung der Patientinnen: Für den einen ist erst einmal Hocker-Gymnastik und Treppensteigen-Üben angesagt, die andere kann auf dem Ergometer gleich mit höheren Watt-Zahlen einsteigen. Je nachdem, wie motiviert, zaghaft oder unbestimmt die Patientinnen auftreten, ermahnt oder ermuntert Dr. Spira sie dazu, sich Belastung zu-

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zutrauen und zuzumuten, sich aber auch vorsichtig an die eigenen Leistungsgrenzen heranzutasten und diese zu beachten. Nach diesem etwa halbstündigen Auftakt, der mit einer kurzen körperlichen Begutachtung endet, ist der Therapie-Plan zusammengestellt. Rückmeldungen und Änderungswünsche aufgrund von Überlastung oder Unterforderung werden zwischen den Patientinnen und Dr. Spira in den wöchentlichen Visiten verhandelt sowie in den Treffen des therapeutischen Teams, in denen Eindrücke zu den einzelnen Patientinnen und deren Pensumsbewältigung einmal pro Woche ausgetauscht und die Therapie-Pläne gegebenenfalls in die eine oder andere Richtung korrigiert werden. Während der Therapieplan das Arbeitsprogramm inhaltlich strukturiert, verknüpft der Wochen- oder Stundenplan Zeitabschnitte mit unterschiedlichen Aktivitätsmodi, wodurch das Arbeitsprogramm als Tagesablauf mit einem bestimmten Arbeitspensum organisiert wird.18 Generell beginnt das Programm früh, dreimal die Woche bereits um 7 Uhr mit Frühsport, und dauert oft bis etwa 17 Uhr. Jeden Tag ist mindestens eine eineinhalbstündige Mittagspause vorgesehen, an Sonnabenden darf ausgeschlafen und bis auf ein bis zwei Termine zur körperlichen Betätigung gefaulenzt werden, der Sonntag steht komplett zur freien Verfügung. Mit dieser Zeitordnung erinnert der Wochenplan an eine typische Lohnarbeitswoche, auch wenn es sich nicht um die klassische 40-Stunden-Woche handelt und die Länge des ›Arbeitstages‹ oder das arbeitsfreie Wochenende in erster Linie daraus resultieren, wann das therapeutische Personal (nicht) arbeitet. Unabhängig davon, ob es sich dabei um einen geplanten oder ungeplanten Nebeneffekt administrativer Organisationslogik handelt, erzeugt die Orientierung des Wochenplans an bekannten Unterscheidungen von Arbeit und Freizeit eine gewisse Alltagsnormalität. Gerade diese Normalität einer durch Erwerbsarbeit geregelten Tagesstruktur wurde für viele Transplantierte durch Krankheit und daraus resultierende berufliche Auszeiten oder Arbeitslosigkeit erschüttert. Die Simulation von Alltag oder Vorbereitung auf die Rückkehr in den Alltag betrifft hier die Existenz eines wiederkehrenden Tages- und Wochenverlaufs – inklusive eines so banalen wie vertrauten Gefühls: »Feierabend! Endlich Wochenende!« (Patient während eines Gesprächs am Freitag) Überdies unterstützen die Vorgaben des Wochenplans die anvisierte Selbstaktivierung der Patientinnen, wie sie das zitierte Leitbild von der Reha-Patientin als Ma-

18 | Diesen Plan erstellt die Klinikadministration. Deshalb kommt es manchmal zu therapeutisch ungünstigen Stundenplänen (was folgt aufeinander). Auch das Ziel der gleichmäßigen Verteilung des Arbeitspensums über die Woche wird nicht immer erreicht, was einige Patientinnen störte, während es andere aufgrund längerer Pausen an einem sehr vollen Tag dankbar annahmen.

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nagerin der eigenen Gesundheit impliziert: aufstehen, Muskeln aufbauen, Kondition verbessern, mehr über das Immunsystem lernen – jetzt, nicht morgen. Einsatz und Mitarbeit werden erwartet. Der Plan gibt eine Tagesstruktur vor, der man sich fügt (fügen muss), und ein Arbeitspensum, das man unterschiedlich engagiert abarbeitet. Der disziplinierende Effekt des Wochenplans wird dadurch verstärkt, dass Patientinnen sich jeden absolvierten Programmpunkt unterschreiben lassen müssen. Zwei Patienten berichteten mir in diesem Zusammenhang von einem »Gerücht«, von dem ich bereits vor meiner Zeit in der Klinik gehört hatte: Angeblich müsse, wer am Ende zu viele Fehlzeiten aufweise, die Reha-Maßnahme selbst zahlen. Eigentlich, so Dr. Schönfeldt, hätten sie mit den Unterschriften angefangen, weil die Klinikverwaltung diese Angaben für die Abrechnung privatversicherter Reha-Teilnehmerinnen benötige und auch die Rentenversicherer manchmal danach fragen würden. Aus Gründen der Einfachheit hätten sie es dann für alle Patientinnen eingeführt. Was als kleiner, unerheblicher Verwaltungsakt begann, entfaltete zusammen mit der Gerüchteküche, in der täglichen Reha-Praxis durchaus große Wirkung. »Klar, ein bisschen hat man so auch die Kontrolle: Machen die Patienten überhaupt, was da für sie zusammengestellt wurde? Und so ein bisschen Disziplin schadet dem einen oder anderen auch nicht. Es gibt aber auch Patienten, die das sehr ernst nehmen und ihren Wochenplan als obligatorisch betrachten. Da kann es dann auch mal, wenn es zum Beispiel zu viel ist, zu Überforderung kommen. Zum Beispiel Frau M. [die Patientin war drei Tage zuvor stressbedingt kollabiert], sie hat das als zu erfüllendes Soll gesehen. Das ist natürlich auch nicht gut. Die Patienten sollen zwar motiviert werden und sich durchaus auch ein bisschen austesten, aber Überforderung soll auch nicht sein. Sie müssen ja auch Geduld haben und je nach Zustand lernen, dass Fortschritte sich oft nicht sofort und manchmal nur sehr langsam und schrittweise einstellen.« (Dr. Schönfeldt)

Im Gegensatz zu diesen Ausführungen sahen viele Patientinnen ihren täglichen Stundenplan als grundsätzlich verbindlich an. Während ihn die einen hochmotiviert oder mit einem gleichgültigen Schulterzucken absolvierten, stießen andere bei der ›Pflichterfüllung‹ nach Plan an ihre Grenzen. Was ein Patient »sportlich, als Herausforderung« annahm, empfanden andere als »unangemessene Belastung« oder »unrealistische Anforderungen«. Auch eine Gesprächspartnerin aus der Ambulanz, Gudrun Nietschke, deren Reha-Aufenthalt zwei Jahre her war, berichtete: »Ich hab das nicht als gut empfunden, weil ich mich nicht als gut empfunden habe. Ich hab da keinen Spaß dran gehabt. Ich habe alles gemacht, weil ich versucht habe, dem zu folgen, dass das gut für mich ist.« Insgesamt habe sie sich bezüglich des Wochenplans »eher als Gefangen[e] betrachtet«: »Also ich hätte gerne mal nachmittags durchgeschlafen, und da war da aber irgendeine Anwendung.« Für Patientinnen symbolisierten Plan

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und Pensum die (un-)erfüllbaren Erwartungen seitens der Reha-Klinik, die (manchmal zu hohen) Ansprüche an sich selbst, aber auch persönlichen Erfolg oder eben Scheitern. Das Training in der Reha bestand dann darin, mithilfe der Therapeutinnen »das individuell richtige Maß« zu finden. Zugleich kam es durchaus vor, dass jemand eine Trainingseinheit ausfallen ließ. Gerade bei Terminen am frühen Morgen oder nach der Mittagspause hieß es häufig, dass »schlichtweg verschlafen« wurde. Inwiefern sich in diesem Verschlafen (oder Schwänzen) eine Ablehnung der Rehabilitationsmaßnahme oder deren einzelner Bestandteile oder einfach nur Erschöpfung und Überforderung ausdrückten, wurde mir gegenüber nicht eindeutig beantwortet. Das mag auch daran gelegen haben, dass Fragen zum absolvierten Pensum immer ein Hauch von Kontrolle anhaftet. In puncto Alltagssimulation könnte man diskutieren, ob nicht das morgendliche Noch-einmal-Umdrehen und ›absichtliche‹ Weiterschlafen angesichts des in der Regel selbst auferlegten Frühsport-Vorhabens ganz und gar alltäglich ist. Insgesamt stand die (wochen-)planmäßige und dadurch in gewisser Weise alltagsnahe Disziplinierung der Patientinnen vielleicht nicht im Vordergrund, war aber seitens der Klinik ein einkalkulierter Effekt. Körperarbeit als Belastungstest Um das Leben nach der Transplantation wieder in Angriff zu nehmen, müssen sich Transplantierte ihren Körper neu aneignen. Während bei der Transplantation eine bestimmte Körperfunktion, ein einzelnes Organ im Zentrum steht, rückt in der Anschlussheilbehandlung der gesamte Körper in den Fokus. Nach der Schwächung des Körpers durch die Krankheit und der großen Operation darf und soll man sich wieder etwas zumuten, indem der Körper wieder belastet, die Kondition gesteigert und die Muskeln aufgebaut werden: Was im Krankenhaus angefangen wurde, wird in der Reha-Klinik höher dosiert. Die Arbeit am eigenen Körper und seiner Leistungsfähigkeit nimmt, wie von allen Patientinnen gewünscht, im Reha-Programm den größten Raum ein. Von welcher Ausgangsposition das umfassende Sportprogramm gestartet werden konnte, hing vom Gesundheitszustand vor und nach der Transplantation ab, vom Alter sowie von der individuellen Sportpraxis. Einige begannen eher zaghaft, ihrem neu zusammengesetzten Körper misstrauend, andere stürzten sich ins volle Programm und überschätzten bisweilen ihre Belastungsgrenzen. Etliche entdeckten, dass Nordic Walking oder Tai Chi »tatsächlich Spaß machen« (mehrere Patienten) oder dass sie Bogenschießen zwar nicht als Sport bezeichnen würden, aber ihnen die abverlangte »körperliche und geistige Konzentration guttut« (nierentransplantierter Handwerker, Ende 30). Ob in der morgendlichen Gehgruppe querfeldein oder beim Badminton, zahlreiche Patientinnen wurden durch die Erfahrung der Leistungs-

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steigerung – »dass körperlich wieder was geht, neben Kraft auch das eigene Gefühl vom Körper zurückkehrt« (lebertransplantierter Verwaltungsangestellter, Anfang 50) – ermutigt und angespornt. Parallel verlangsamte die verzögerte Wundheilung gerade bei Lebertransplantierten mitunter die körperliche Wiederherstellung. Frustration, wenn es langsamer aufwärtsging als erwartet, wurde so manches Mal von den stets viel Lob aussprechenden Therapeutinnen aufgefangen, indem die individuellen Trainingsprogramme immer wieder neu angepasst und Patientinnen an ihre bisherigen – kleineren oder größeren – Fortschritte erinnert wurden. Körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern, bedeutete in diesem Zusammenhang auch, wie das Klinikpersonal nicht selten unterstrich, sich und dem eigenen Körper wieder etwas zuzutrauen und die eigenen körperlichen Ressourcen und Grenzen wahrzunehmen. Doch Transplantierte wissen aus eigener Erfahrung, dass (ihren) Körpern nur bedingt zu trauen ist. Davon zeugen auch die aus Wartelistenzeit und Krankenhaus bereits gewohnten Aufmerksamkeiten für Urin, Körpertemperatur und -gewicht, Blutdruck und Blutwerte: Auch in der Reha bleibt der Körper Gegenstand medizinischer Vermessung und (Selbst-)Beobachtung.19 Um das Sportprogramm und weitere Rehabilitationsmaßnahmen beginnen zu können, muss man bereits einigermaßen in Form sein: rehabilitationsfähig, wie es die Rentenversicherer ausdrücken, belastbar und selbstständig genug, um die Reha zu bewältigen. Die Selbstständigkeit der Patientinnen spielt besonders für das Pflegepersonal eine Rolle, gibt es doch in Reha-Kliniken einen geringeren Personalschlüssel als in Krankenhäusern. So kritisierte ein Pfleger, dass in der Kommunikation mit den Transplantationszentren nicht immer klar sei, wie mobil, selbstständig oder hilfsbedürftig die angemeldeten Patientinnen tatsächlich seien. Als Bewertungsmaßstab wird im Pflegebereich üblicherweise der mittels eines Fragebogens ermittelte Barthel-Index herangezogen. Den darin abgefragten Fähigkeiten oder Aktivitäten wie Körperpflege, Ankleiden, Gehen oder Nahrungsaufnahme werden Punktzahlen zugeordnet: Je geringer die Hilfsbedürftigkeit, desto höher die Punktzahl, maximal können 100 Punkte erreicht werden (vgl. BAGkgE e.V. 2002). Reha-Patientinnen sollen mindestens 65 Punkte erreichen, was die meisten auch tun. Dr. Schönfeldt zufolge wird von den Krankenhäusern jedoch öfter »geschummelt, weil sie Patienten aus Kosten-

19 | Routinen des (Ver-)Messens transplantierter Körper in der Transplantationsnachsorge werden ausführlich in Kapitel 4 behandelt. Für eine Betrachtung von Messroutinen als Teil von Gesundheitsarbeit in der Reha siehe Chakkalakal (2011), der am Beispiel von auf den ›richtigen‹ Blutdruck zielenden Maßnahmen und Aktivitäten in einer ambulanten kardiologischen Rehabilitation die »gemeinsame Arbeit am und oft gegen den Körper« (ebd.: 187) von Medizinerinnen, Patientinnen sowie Messtechniken und -geräten zeigt.

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gründen nach einer Weile loswerden wollen«. Wenn möglich werden diese weniger mobilen und eigenständigen Patientinnen in Zimmern in der Nähe des Pflegetresens oder eines Fahrstuhls untergebracht, eine Anordnung, die dennoch voraussetzt, dass nicht zu viele zu hilfsbedürftige Patientinnen betreut werden müssen. Angehörige, die weniger selbstständige Patientinnen begleiten, sind dann für das Pflegepersonal eine wichtige Hilfe. Allerdings, so eine Pflegerin, benötigen viele dieser Angehörigen oft selbst eine Reha oder freuen sich darauf, sich mal nicht um ihre kranken Angehörigen kümmern zu müssen: Dass sie auch hier wieder einspringen müssen, werde vorher nicht immer klar kommuniziert. Auch zwei meiner Gesprächspartnerinnen aus der Ambulanz hoben hervor, dass sie die Reha ohne die Hilfe ihrer Angehörigen nicht geschafft hätten. Ohne ihren Partner, der auf eigene Kosten mitgekommen sei, wäre in der Reha »überhaupt nichts passiert«, betonte Gudrun Nietschke: »Eigentlich war ich noch Patient, [. . . ] ich hätte ständig ’ne Schwester um mich rum gebraucht, und das ist ja in so ’ner Kurklinik gar nicht drin.« Auch Alexander Dahlen kritisierte rückblickend, dass in der Reha-Klinik eine zu hohe »Erwartung besteht, was Patienten dann können sollten«. Für ihn war das Personal in der Reha-Klinik »nicht willens oder in der Lage [. . . ], sich auf die individuellen Erfordernisse [s]eines Zustandes einzustellen«, was die für ihn ohnehin problematische Zeit nach der Transplantation erschwert habe. Schließlich sei es eine »extreme Erfahrung«, wenn man »alles, bis auf vielleicht Gedächtnisinhalt abrufen, neu lernen muss – also essen, trinken, normal sprechen, sitzen, stehen, laufen und so weiter«. Es sind genau diese Basisfertigkeiten des täglichen Lebens, deren Bewältigung der Barthel-Index in den Blick nimmt. Was er misst, ist das körperliche Vermögen, seinen Alltag zu bewerkstelligen. Das Reha-Sportprogramm baut diese Art der Alltagskompetenz oder körperlichen Grundfitness weiter aus. Um die durch das lange Liegen im Krankenhaus verlorene Kondition und die bei einer Lebertransplantation durchtrennte Bauchmuskulatur wieder aufzubauen, ist gleichwohl über die Reha-Zeit hinaus Training nötig. Patientinnen lernen in der Reha, dass die Wiederherstellung des eigenen Körpers Zeit und Arbeit erfordert, aber auch, dass die Arbeit am Körper ein unabgeschlossenes Projekt bleibt. Diese Auffassung entspricht den Verlautbarungen gesundheitsbezogener Präventionskampagnen, dass alle immer noch fitter werden können oder weiter trainieren sollten, um fit zu bleiben. Die körperbezogene Vorbereitung auf den Alltag in der Reha folgt demnach einer Doppelstrategie: Erstens werden Transplantierte wieder für den Alltag fit gemacht, um ihn überhaupt meistern zu können. Zweitens sollen sie mitunter neue, sportliche Routinen in ihren Alltag mitnehmen und zur Gewohnheit machen. Auch diejenigen, deren Alltag vor der Krankheit und Transplantation ohne sportliche Betätigung auskam, werden an die Bedeutung körperlicher Fitness erinnert und zu mehr Bewegung ermuntert. Zum hier entworfenen, idealen Post-Transplantations-

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Alltag gehört leichter, wohldosierter Ausdauersport. Wie bei der Normalbevölkerung gilt es, einem Bewegungsmangel vorzubeugen, insbesondere weil die für Transplantierte lebensnotwendige Immunsuppression mit erhöhten Risiken für Bluthochdruck, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen oder verminderte Knochendichte (Osteoporose) einhergeht. Bewegung kann, so wird während der Reha immer wieder bekräftigt, diese Risiken reduzieren oder eingetretene Nebenwirkungen abmildern. Kurz, es geht um eine gesunde Lebensführung, um den Transplantationserfolg – das eigene Weiterleben – nicht zu gefährden. Damit kann das Bewegungsprogramm der Reha, wie Denny Chakkalakal in seiner ethnografischen Untersuchung kardiologischer Rehabilitation feststellt, auch als Arbeit »gegen Alltag« gelesen werden (Chakkalakal 2011: 190) – gegen einen bewegungsarmen Alltag oder einen Alltag ›schlechter‹ Körpergewohnheiten. Ernährungsregel-Salat als Kostprobe Um Alltagsgewohnheiten geht es auch in den verschiedenen Angeboten der RehaKlinik, die sich dem Themenfeld Ernährung widmen. In Ernährungsseminaren, bei der Beratung am Büfett oder dem gemeinsamen Kochen in der Lehrküche steht die »Wissensvermittlung«, die Anleitung zum späteren situationsangemessenen Handeln »in Eigenregie« im Vordergrund – so Regine Schmitz, die seit zehn Jahren in der Reha-Klinik als Ernährungsberaterin arbeitet. Ihr zufolge soll die in den Seminaren stattfindende »Schulung« Transplantierte dazu befähigen, »über ihre Ernährung ihren Beitrag zur Gesundheit zu leisten«. Gesundheitsarbeit beinhaltet zu lernen, was es als Transplantierte heißt, ›richtig‹ zu essen und zu trinken. Für viele geht es nach der Transplantation jedoch erst einmal darum – nach Mangelernährung, Appetitlosigkeit oder unterschiedlich strengen Ernährungsauflagen vor der Transplantation –, überhaupt »normal essen und trinken« zu können. Essen schmeckte plötzlich wieder und mehrere Gesprächspartnerinnen betonten, dass sie wieder Appetit hätten.20 Eine so genannte normale Kost wurde bereits auf der Intensivstation des Transplantationszentrums angestrebt und schrittweise eingeführt. Wieder normal essen und verstoffwechseln können, heißt für Transplantierte jedoch nicht, so zu essen wie alle anderen

20 | Ein gesteigerter Appetit kann hier einerseits auf das zur Immunsuppression eingenommene Medikament Kortison zurückgeführt werden, andererseits symbolisch als ›Lebenshunger‹ der über- und weiterlebenden Organtransplantierten interpretiert werden. Von vielen Transplantierten wird es zudem als Zeichen von Normalität gewertet, ›normal‹ essen zu können (ebenso Constantinou 2012: 34).

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auch bzw. das zu essen, was man eben so mag. Dem jeweiligen Verständnis von normaler Ernährung werden spätestens in der Reha-Klinik Grenzen gesetzt. Eine PowerPoint-Folie am Anfang des Ernährungsseminars stellt klar: »Lebensmittel machen nicht nur satt. Sie können auch die Gesundheit erhalten oder wiederherstellen, Krankheiten vorbeugen, aber auch krank machen.« Gesundheit zu erhalten, bedeutet im Kontext der Transplantationsnachsorge in erster Linie, die Langzeitfunktion des transplantierten Organs zu bewahren. Zur guten Versorgung des Organs gehören dann nicht nur die lebenslange Einnahme von Immunsuppressiva und Checkup-Untersuchungen, sondern auch eine spezifische Ernährung, die das medikamentös unterdrückte Immunsystem Transplantierter berücksichtigt und dementsprechend arm an Keimen ist. Zusätzlich befasst sich die mehrere Seminare umfassende Ernährungsschulung mit der Frage, wie die Ernährungsregeln zur Transplantationskost im Alltag umgesetzt werden können, mit der Möglichkeit, Laborwerte oder mögliche Nebenwirkungen der lebenslang einzunehmenden Medikamente über die Ernährung zu beeinflussen, und ganz allgemein mit Nahrungsgruppen, Energiebedarf und abwechslungsreicher Ernährung. In Ergänzung zu den unzähligen Informationen, Regeln und Ratschlägen konnten dann in der Lehrküche Seminarinhalte durch das Kochen von Beispielrezepten praktisch erprobt und als Anregung für Zuhause mitgenommen werden. Insgesamt werden also unterschiedliche Methoden angewandt, um Wissen über Essen als »Therapie ohne Nebenwirkungen« (Regine Schmitz) und die Vorbeugung ernährungsbedingter Gesundheitsprobleme zu vermitteln. Das Einmaleins der Transplantationskost beginnt Regine Schmitz mit Statistiken: »Hält man sich an keine Regeln, geht das zu 70% gut. Die anderen 30% Lebensmittelinfektionen sind das, wo wir hier ansetzen.« Die entsprechenden Grundsätze lauten dann, streng auf die Hygiene des Körpers, der Küche und der Lebensmittel zu achten. Um möglichen Lebensmittelinfektionen vorzubeugen, sollen zudem keine Rohmilchprodukte und rohen Eier, kein rohes Fleisch, kein roher Fisch und kein Schimmelkäse verzehrt werden. Ebenfalls verboten sind Grapefruit, da deren Enzyme mit zwei üblichen Immunsuppressiva interagieren.21 Regeln werden im Seminar

21 | Diese Vorgaben kannte ich zum einen aus dem Transplantationszentrum, zum anderen, wenn man vom Grapefruit-Verbot absieht, aus meiner Schwangerschaft. Gerade weil ich zeitgleich zur ersten Forschungsphase im Transplantationszentrum lernte, dass die spezifische Lebensmittel- oder Infektionsvermeidung Schwangeren ärztlicherseits sehr unterschiedlich kommuniziert wird, Schwangere (mich eingeschlossen) diese verschieden streng interpretieren und ich einen gewissen Widerwillen gegen die für mich temporären Verbote empfand, hatte ich für das alltägliche Ringen und Hadern mit Ernährungsregeln auf Seiten meiner transplantierten Gesprächspartnerinnen wohl besonders viel Empathie.

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ausführlich diskutiert, Gefahren fürs geschwächte Immunsystem bekommen einen Namen (Salmonellen und Listerien, Noro- und Hepatitis-A-Virus, Gießkannen- und gemeiner Brotschimmel) und Lebensmittelverbote werden konkretisiert (Salami und Schinken gelten nur als roh, wenn sie luftgetrocknet sind etc.). Im Verhältnis zur Empfehlung vieler Lebertransplantationszentren, auf Alkohol generell zu verzichten, weil er die Leber schädigt und das Verstoffwechseln der eingenommenen Immunsuppressiva durcheinanderbringt, erscheint das Achtung-beim-Alkoholgenuss-Gebot der Reha weicher. Dennoch wird sehr genau besprochen, dass Alkohol nicht nur schädlich, sondern auch kalorienreich ist, dass die meisten ›alkoholfreien‹ Biere Alkohol enthalten und die Annahme, dass Alkohol verkoche, ein Ammenmärchen ist – circa 30% bleiben übrig. Die Seminare erinnerten mich an Schulsituationen: Es gab die aktiv Zuhörenden, Vielfragerinnen, Mitschreibenden, genauso wie die Sprücheklopferinnen, Mürrisch-Verschlossenen und Gelangweilten. Erst bei den Lebensmittelverboten tauten die meisten auf. Hier wurden ihre Alltage berührt, alltagspraktisches Wissen vermittelt und konkrete Vorlieben verhandelt. Neben den Vorgaben dazu, was wie gelagert, geschält und zubereitet werden sollte, gab es detaillierte Ratschläge, wie verbotene Lebensmittel für den Verzehr korrekt transformiert werden können: Frische Erdbeeren und Kräuter sind verboten, kurz blanchiert und anschließend in Eiswasser getaucht jedoch »fast frisch« verzehrbar. Besondere Strenge hinsichtlich der Einhaltung der Regeln gelte, so Regine Schmitz, in den ersten sechs Monaten nach der Transplantation, manche sagen, in den ersten zwölf Monaten. In diesen beiläufigen Bemerkungen wird die Bandbreite der von Transplantationszentren und RehaKliniken aufgestellten Regeln deutlich. Im Vergleich zum Informationsgespräch im Transplantationszentrum (3.1) rückte in der Reha-Klinik die Verhandlung und Anwendung von Ernährungsregeln stärker in den Fokus. Ein Patient des von mir untersuchten Zentrums, der seit 14 Jahren mit einer transplantierten Leber lebte, aufgrund eines Blasentumors gerade operiert worden und deswegen Patient der urologischen Abteilung der Reha-Klinik war, erzählte mir in diesem Zusammenhang erstaunt, dass er, der sich »immer konsequent an die Vorschriften gehalten« hätte und damit »gut gefahren« sei, hier Patientinnen aus anderen Zentren getroffen hätte, »die so gar keine Informationen erhalten haben, die gar nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen – was für ein Jammer«.22 In der Reha-Klinik treffen ebenso Menschen verschiedener sozialer Herkunft mit ihrem jeweiligen Ernährungswissen und ihrer Ernährungspraxis aufeinander wie Transplantierte aus ver-

22 | Der Patient hob die elementare Orientierungsfunktion der Vorschriften des Therapieregimes nach der Transplantation hervor. Diese Regeln gehörten für ihn zu seinem normalen Alltag. Einen Alltag ›ohne Anleitung‹ konnte er sich offenbar gar nicht (mehr) vorstellen.

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schiedenen Transplantationszentren mit ihren jeweiligen Zentrumsregeln. Gerade das Thema Ernährung wird in den Zentren sehr unterschiedlich gehandhabt. In einigen Zentren erhalten Transplantierte ausführliche Listen mit Ernährungshinweisen oder werden genau instruiert. Andere Zentren informieren kaum und verweisen stattdessen auf die Möglichkeit, eine Ernährungsberaterin zu konsultieren, oder auf die Angebote in der Reha-Klinik. Auch die Anzahl und Strenge der Ernährungsregeln weicht von Zentrum zu Zentrum ab. Diese Unterschiede, neben Transplantationserfahrungen und Krankheitsgeschichten ein häufiges Thema zwischen Reha-Patientinnen, wurden von einigen als Widerspruch oder auch »Regelsalat« erlebt (Nierentransplantierter, 50), stellen sie doch die Unumstößlichkeit der Regeln infrage. Daher muss Regine Schmitz im Seminar, in dem Teilnehmerinnen bei der Vorstellungsrunde außer ihrem Namen auch das transplantierte Organ und das besuchte Transplantationszentrum nennen, so manches Mal »die Wogen glätten«, wenn in der Gruppe mal wieder »so viele Meinungen wie Zentren« vertreten sind: »Die Patienten wollen ja im Prinzip alles richtig machen. Wenn sie hören, dass es woanders anders ist, gibt es oft starke Verunsicherungen – wer hat denn nun Recht?« Im Seminar erzählte sie dazu eine Anekdote: Einmal trafen zwei Langzeit-Patientinnen aus verschiedenen Zentren aufeinander: eine seit 24 Jahren Lebertransplantierte, die im Hinblick auf die Ernährungshygiene immer sehr gründlich war, und eine seit 19 Jahren Herztransplantierte, die nie darauf geachtet hatte. Zwei Modelle, zwei Erfolgsgeschichten. Regine Schmitz zufolge »flogen richtig die Fetzen zwischen beiden«. Erstere erfuhr in der Reha, dass sie ruhig etwas weniger streng, letztere, dass sie etwas sorgfältiger sein könne. Das fanden dann beide Patientinnen absurd: Sie hatten jeweils ihren Weg gefunden und wollten und konnten nach langjähriger Praxis ihre Routinen nicht ändern. Wie zäh Essgewohnheiten und eingefleischte Alltagsroutinen sind, mag mit Blick auf Pierre Bourdieus ›feine Unterschiede‹ nicht verwundern. Dessen Auffassung von relativ stabilen Habitusmustern im Bereich Ernährung (Bourdieu 1987) widerspricht jedoch der Interventionslogik der an Präventionsprogrammen orientierten Gesundheitsausbildung im Ernährungsseminar. Im Seminar diente die Anekdote als Plädoyer für »eine gewisse Gelassenheit mit den Regeln«, zwischen zu viel Vorsicht und zu viel Leichtsinn müssen alle »einen eigenen Weg für sich finden«. Das bedeutet nicht, dass die Regeln beliebig sind. Sie werden im Seminar als »lebenslange Prinzipien« präsentiert. Nichtsdestotrotz räumt Regine Schmitz, die aus beruflichem Interesse bei etlichen Regeln »genauer nachgeforscht« hat, ein, dass man »zum Teil drüber reden [kann], ob etwas okay ist oder nicht. Aber auf dem Papier, wenn Regeln aufgeschrieben werden, muss man strenger sein.« Allerdings seien die nicht ganz seltenen ein Verbot abschwächenden Aussagen »in Maßen« oder »entscheidend ist die Menge« problematisch: »Was heißt für wen ›gelegentlich eine klei-

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ne Portion‹?« Sie möchte diese Menge nicht vorgeben, »das Restrisiko« nicht tragen und will auch »die Ausnahmen nicht herausstellen«. Das mache sie in den Seminaren nie. Zumal beim Alkoholkonsum oftmals gerade diejenigen nachfragen würden, die einen Suchthintergrund hätten. Ihr persönlich gehe es bei den Regeln zur Transplantationskost wie den darüber hinausgehenden Ernährungsempfehlungen um die Nachhaltigkeit der vermittelten Informationen, darum, dass das Wissen zum Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit im Alltag der Patientinnen ankomme und sich in neuen Routinen niederschlage. Aus ihrer langjährigen Erfahrung wisse sie allerdings, dass die meisten Transplantierten nach einer Weile »nachlässiger« würden: »Sie wollen verständlicherweise nicht die ganze Zeit wachsam sein.« Es sei daher eine Frage, wie man die Regeln verkaufe: »Es darf nicht den Eindruck des erhobenen Zeigefingers geben, das funktioniert nicht.« So nennt sie den Vortrag für eine interessierte Selbsthilfegruppe von Transplantierten dann eher »Glücksrezepte«, versucht zu vermitteln, dass sich Verhaltensregeln und Genuss nicht ausschließen müssen, und unterstützt eine Sichtweise, die Regeln »nicht als Belastung, sondern als Selbstständigkeit, das Risiko von Lebensmittelinfektionen und ernährungsbedingten Krankheiten zu mindern«, auffasst. Diese Darstellung einer Mobilisierung von Selbstsorge erinnert an eine zentrale Maxime ›neoliberalen Regierens‹, wie sie von den Foucault-inspirierten Gouvernementalitäts-Studien ausgemacht wurde (vgl. Rose 1999; Bröckling u. a. 2000): Statt des erhobenen Zeigefingers, wird auf eine ›sanfte Lenkung‹ der Überzeugung gesetzt. Die Einschätzungen der Transplantierten, mit denen ich während oder nach der Reha über die Ernährungsseminare und -regeln sprach, variierten: Je nach persönlicher Beschäftigung mit dem Thema fanden sie die vermittelten Informationen, Regeln und Hinweise »banal«, »aufschlussreich« oder »neu«, bisweilen auch »zu viel« oder »verwirrend«. Viele schienen vorzuhaben, ihrem jeweiligen Zentrum treu zu bleiben: Wer aus einem Zentrum mit strengen Vorgaben kam, sah sich bestätigt und nahm eventuell eine Anregung oder Ergänzung mit, wer aus einem Zentrum mit wenigen Auflagen kam, hielt sich an den »leichteren Weg«, wie ein Psychologe der Klinik gegenüber einem Patienten kritisierte. Fast alle und ganz besonders diejenigen, deren Essgewohnheiten von den umfangreichen Regeln stark abwichen, betonten deren einschränkenden Charakter und argumentierten dabei häufig mit »Genuss« und »Lebensqualität«. Auch die vorherige Erfahrung mit Ernährungsauflagen hatte eine Auswirkung, wenn auch eine uneindeutige: Einerseits waren diejenigen, die vor der Transplantation schon lange krank gewesen waren und sich an viele Regeln hatten halten müssen, Verhaltensregeln häufig leid und wollten nach der Transplantation »endlich keine Regeln mehr«. Andererseits standen viele den Regeln indifferent gegenüber, entweder weil sie sie auf ihren Ess-Alltag bezogen unproblematisch fanden

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oder aufgrund langjähriger Erfahrung, z. B. mit Diabetes oder Dialyse, »daran gewöhnt« waren, auf ihre Ernährung zu achten und ihr Ess-Verhalten zu regulieren. Mit Blick auf die geflügelten Worte Brillat-Savarins, dass »man ist, was man isst«, lässt sich sagen: Die individuellen Ernährungsgewohnheiten meiner Gesprächspartnerinnen, die mit den Ernährungsregeln konfrontiert wurden, waren alles andere als homogen. Angesichts dessen wurde durch die Schulung in der Reha und die Verbotslisten der Transplantationszentren versucht, sie so weit auf einen Nenner zu bringen, dass die angestrebten neuen Essgewohnheiten verraten (können), dass man möglicherweise transplantiert ist.23 Einer solchen Vereinheitlichung läuft zuwider, dass die Ernährungsregeln zwischen den deutschen Transplantationszentren variieren, selbst wenn sich Reha-Kliniken und Zentren untereinander austauschen und teilweise absprechen. Es gehört zum professionellen common sense der Transplantationspflege, dass es für die pflegerischtherapeutische Begleitung des Lebens nach der Transplantation keine medizinisch etablierten Standards im Sinne einer einheitlichen Anleitung zu einer wissenschaftlich fundierten wie evaluierten Praxis gibt: Stattdessen existieren gewachsene, auf der Erfahrung des Personals beruhende wie weiterentwickelte lokale Routinen und Arbeitsabläufe, Verbotslisten und pragmatische Handhabungen – von denen das in 3.2 dargestellte Gespräch mit Schwester Britta genauso zeugt wie die Zusammenkünfte der Transplantationspflegerinnen zum Austausch lokaler Standards oder ein in diesem Zusammenhang entstandenes Lehrbuch zur Krankenpflege rund um die Organtransplantation (Homburg 2010).24 Das in der Reha vermittelte und zur An-

23 | Aus einer kulturvergleichenden Perspektive wäre interessant, ob sich kulturelle Ernährungsgewohnheiten in unterschiedlichen Ernährungsverboten für Transplantierte manifestieren. Wird das dem Klischee nach berühmte tägliche Glas Wein in Frankreich oder Italien Organtransplantierten ebenfalls verboten? Regine Schmitz wusste zwar nichts zu den Regeln in anderen Ländern, betonte aber das Problem der Vergleichbarkeit, gerade beim Alkoholkonsum: Alkohol werde in Frankreich und Italien generell »anders konsumiert«, zusammen mit Essen, während er in Deutschland oft abseits des Essens getrunken werde. Anderes Essen, andere Stoffwechsel, andere Lebern? 24 | Der Klappentext des Buches unterstreicht, dass »keine Hitliste der Pflege-Goldstandards« geliefert, sondern sich »auf ein wertungsfreies Nebeneinander möglichst vieler etablierter Erfahrungsschätze« beschränkt werde. Es wurde vom Arbeitskreis Transplantationspflege (AKTX Pflege e.V.) herausgegeben, in dem sich seit 1999 Pflegekräfte aus verschiedenen Transplantationszentren in Deutschland zusammengeschlossen haben. Der Arbeitskreis veranstaltet jährlich ein Symposium, das parallel zum Kongress der Deutschen Transplantationsgesellschaft stattfindet.

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eignung bereitgestellte Ernährungswissen präsentiert sich einerseits als geschlossen (klare Regeln), andererseits als kontingent/variabel. Dessen ungeachtet werden in den Ernährungsseminaren allgemeine gesundheitpolitische Präventionsabsichten deutlich: Nicht allein transplantationsspezifische, sondern ›gesunde‹ Ernährung generell wird zum wichtigen Bestandteil von Gesundheitsarbeit erklärt. Ziel der Rehabilitation als Gesundheitsausbildung ist dann sowohl Wiederherstellung als auch Vorbeugung. Wie beim Bewegungsprogramm geht es um die Vermeidung diverser Risiken, sei es eine Lebensmittelinfektion oder eine mögliche Nebenwirkung der eingenommenen Medikamente wie Diabetes oder Durchfall. Um Patientinnen zur Verhaltensregulierung zu motivieren, werden ihnen die Risiken vor Augen geführt und wird an ihre Eigenverantwortung im Sinne einer »Sorge um sich selbst« (Foucault 1993) appelliert. Wenn man von den spezifischen Erfordernissen und Folgen eines medikamentös unterdrückten Immunsystems absieht, kann vieles, was in den Seminaren über Ernährung gelehrt wird, einem Ernährungswissen zugerechnet werden, das im Alltag beispielsweise in Form von Ernährungspyramiden auf Lebensmittelpackungen präsent ist und, so ein Patient, zum »Alltagsverstand« gehört. Zu diesem allgemein bekannten und in Präventionskampagnen geförderten Wissen über ›gute Ernährung‹ gehört gleichwohl die biografische Erfahrung vieler, dass sich Ernährungsempfehlungen ändern können.25 Gerade in den letzten Jahren sind ernährungswissenschaftliche Wissensbestände, Empfehlungen und Ernährungspyramiden hinsichtlich ihrer Reichweichte und Wirksamkeit unter Druck geraten und werden innerhalb der Ernährungswissenschaften kontrovers diskutiert (vgl. Schwarz 2005). Insgesamt mögen die vielen Informationen und auf zukünftiges Handeln ausgerichteten Übungen zum Thema Ernährung »nicht schaden« (Lebertransplantierte, Anfang 50). Ob sie im Alltag der aus der Reha entlassenen ›Gesundheitsmanagerinnen‹ etwas bewirken und eine Änderung von Ernährungspraktiken anstoßen, steht auf einem anderen Blatt. Der tatsächliche Testlauf oder Praxistest, die Einführung und Einbettung der Ernährungsregeln in konkrete Alltage, hat noch nicht begonnen. In der Reha werden Regeln aufgestellt und Empfehlungen gegeben, die spezifischen Bedingungen der ›echten‹ Ess-Alltage der Patientinnen sind dagegen selten ein Thema. In Kommentaren wie »Ach, schade, ich esse doch so gerne Erdbeeren und Blauschimmelkäse« wird der von Patientinnen abgeforderte Verzicht deutlich, nicht aber, wie diese im Alltag verzichten, vermeiden oder aufmerksam sind. Im Seminar lernt man

25 | Zur historischen Entwicklung moderner Gesundheitspolitik und Präventionsregime, insbesondere in Bezug auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, siehe Lengwiler/Beck 2008; Lengwiler/Madaráz 2010.

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alltagstaugliche Tricks oder in der Lehrküche, wie man einen vegetarischen Brotaufstrich herstellt, doch man muss weder selbst einkaufen und kochen (oder kochende Angehörige über die Regeln aufklären), noch angesichts einer möglicherweise eher eintönigen wie fetthaltigen Betriebskantinenkost entscheiden, welches Menü die Vorgaben am besten erfüllt. Das in der Reha zur Aneignung bereitgestellte, gleichermaßen heterogene wie instabile Ernährungswissen, trifft auf ebenso vielfältige wie möglicherweise resistente Ernährungsgewohnheiten und muss in wechselnden Situationen jeweils neu angewendet und ausgelegt werden. Wie Ernährungsregeln im Alltag passend gemacht werden und welche Verbote dabei relevant, alltagspraktikabel oder schwierig einzuhalten sind, wird sich erst noch herausstellen – und aus der Perspektive Transplantierter in Kapitel 5.2 behandelt. Transplantationsverarbeitung: Für harte Hunde eine Aufgabe Wiederholt betonten Klinik-Mitarbeiterinnen mir gegenüber, dass transplantierte Patientinnen »besonders« seien. Eine Pflegerin bezeichnete sie als »harte Hunde« – eine Zuschreibung, die im Alltagssprachgebrauch eher für äußerst zähe wie unnachgiebige Sporttrainer, Manager oder Vorgesetzte generell reserviert ist und hier auf die für den Transplantationsprozess notwendige Entschlossenheit von Transplantierten (z. B. ihren unbedingten Willen zum Weiterleben mit dem Organ einer anderen Person) anspielt. In erster Linie stellten die Mitarbeiterinnen heraus, dass Organempfängerinnen »hart im Nehmen« seien: »Sie haben viel mit- und durchgemacht«, »halten viel aus«, »sind an einiges gewöhnt, gerade was Schmerzen betrifft«, sowie »generell selten zu erschüttern«. Diese Begründungen verweisen auf die auch im medizinischen Kontext außergewöhnlichen Krankheitsgeschichten Transplantierter und ihre Erfahrung mit langen Krankenhausaufenthalten, Kontrollverlust auf verschiedenen Gebieten und invasiven wie intimen medizinischen Eingriffen in Körper und Leben, die ich mit den persönlichen Rückblicken einiger Lebertransplantierter in 3.2 angedeutet habe. Überdies werden Organtransplantierte laut Dr. Schönfeldt vergleichsweise »selten« wahrgenommen, also »nicht so häufig wie beispielsweise Menschen mit Krebs, deren Probleme und Geschichten wesentlich präsenter sind«. Viele Transplantierte fühlten sich deshalb »exotisch«, so die für den Transplantationsbereich zuständige Psychologin Thea Salewski. Hinzu komme, dass sich viele »nach der Transplantation gerade in den Transplantationszentren nicht beklagen oder beschweren wollen, sondern nur dankbar sind« (Dr. Schönfeldt). Dennoch seien etliche unter ihnen »durchaus düstere Gemüter« (Psychologe). Das kranke Organ wurde ersetzt, doch die Verarbeitung von Krankheit und Krank-Sein ist mit der Transplantation nicht abgeschlossen. Vor dem Hintergrund, dass »man das alles ja erstmal wegstecken muss« (verschiedene Mit-

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arbeiterinnen), bietet die Reha »Zeit zum Nachdenken, um Dinge sacken zu lassen« (Lebertransplantierter, Ende 50), »eine Auszeit« von den Ablenkungen des Alltags (Lebendnierenspenderin, Anfang 50) sowie professionelle psychologische Unterstützung und die Anwesenheit ähnlicher Anderer, die zumindest in Teilen wissen, wovon man redet. »Hier sind Organtransplantierte eben kein Exot mehr« (Thea Salewski). Bezogen auf die in der Reha-Programmatik angestrebte Arbeit an der Gesundheit geht es nicht um das Bearbeiten von Körpern oder Ernährungsgewohnheiten, sondern um das Verarbeiten von Krankheit und Transplantation – während der Reha mindestens einmal pro Woche, in Form einer Gruppensitzung. Bei diesen 75-minütigen Zusammenkünften treffen vier bis acht Patientinnen aufeinander, wobei es sich um frisch Transplantierte, um Langzeit-Patientinnen oder Wartelistenpatientinnen sowie um Lebendspenderinnen handeln kann und keine gesonderten Gruppen gebildet werden.26 Das kann gut funktionieren, wenn eine seit drei Jahren Transplantierte die anderen Teilnehmerinnen wegen ihrer Fragen, Sorgen und Kommentare liebevoll-ironisch als »Frischlinge« bezeichnet, aber auch ermutigt. Für Wartelistenpatientinnen kann die Konfrontation mit negativen Transplantationsberichten aber auch schwierig sein: »Ich sag nur einen Satz: Ich hab ’ne Scheiß-Angst« (Wartelistenpatientin, Anfang 40). Für diese Patientin mobilisierte Thea Salewski den Erfahrungsschatz der Gruppe: Sie forderte die bereits transplantierten Teilnehmerinnen auf, sich zu vergegenwärtigen, wie es ihnen damals in der Situation ging, wie sie es jetzt sehen und was sie der Wartenden mit auf den Weg geben wollen. Drastische Beschreibungen wurden durch konkrete Tipps, z. B. zum Umgang mit der Angst in der Familie, ergänzt. Dennoch kann es vorkommen, dass es den aufgrund ihrer Situation sensiblen Wartelistenpatientinnen in der Gruppe zu viel wird und sie eher die Möglichkeit von Einzelgesprächen nutzen. Einzelsitzungen werden von den Patientinnen in den Erstgesprächen mit Dr. Spira selten nachgefragt. Bedarf entsteht oft erst in Reaktion auf die Zusammenkünfte in der Gruppe und den dortigen Kontakt zu einer der Psychologinnen. Zum Zeitpunkt meiner Hospitation gehörte nur die Gruppe zum Pflichtprogramm für die Transplantierten.27

26 | Im Hinblick auf die Zusammenstellung der Gruppen lässt sich Thea Salewski bei der jeweils ersten Sitzung von der Klinikadministration »überraschen«, bevor sie die Gruppen dann neu zusammensetzt. Für Patientinnen bedeutet das, dass sie bei ihren mindestens drei Gruppensitzungen auf wechselnde Gesprächspartnerinnen treffen. 27 | Einerseits kann man hier mit Freiwilligkeit, Bedarf und vollen Wochenplänen argumentieren. Andererseits kann es als Ausdruck dafür gelesen werden, dass der Körper gegenüber der Psyche den Vorzug erhält: Transplantationszentren sind zwar gesetzlich verpflichtet, die psychische Betreuung vor und nach der Transplantation sicherzustellen (§ 10 Abs. 2, 5 TPG),

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»Ein wichtiger Punkt der Gruppen ist es, ganz viel Austausch hinzukriegen, zu sehen, ich steh damit nicht alleine da« (Thea Salewski). Mit anderen Transplantierten zu tun zu haben, hoben etliche meiner transplantierten Gesprächspartnerinnen während und nach der Reha als positiven Aspekt hervor. Länger transplantierte Patientinnen aus der Ambulanz berichteten, dass sie – abgesehen vom Wartebereich in der Ambulanz, in der mehr oder weniger gesprächig gewartet wird, und von Selbsthilfegruppen, in denen nur wenige von ihnen aktiv sind – mit anderen Transplantierten hauptsächlich kurz nach der Transplantation zu tun hatten, noch im Krankenhaus und dann in der Reha-Klinik. Wohl auch deshalb wurden Reha-Patientinnen dazu ermutigt, die Zeit außerhalb der Gruppensitzungen ebenfalls für den Austausch untereinander zu nutzen. Dies geschah fast automatisch, man kannte sich vom Essen, den verschiedenen Gruppentherapien oder auch der Raucher-Insel. Allerdings hatten nicht alle »Lust« dazu, weil sie sich »nicht nur über Krankheiten unterhalten« (Nierentransplantierter, Mitte 40) oder einfach ihre »Ruhe« haben wollten. Sie mögen aufgrund der Organtransplantation bestimmte Erfahrungen teilen und »eine Art Leidensgemeinschaft« (Nierentransplantierte, Ende 30) bilden, sind darüber hinaus, was ihre Krankheitsgeschichten, ihre individuellen wie sozialen Merkmale und Ressourcen betrifft, jedoch äußerst heterogen. Unterschiede gab es zudem zwischen Leberund Nierentransplantierten. In den Geschichten der Ersteren unterstrichen Aussagen wie »es war knapp«, »alles ging so schnell und abrupt« oder »da blieb keine Zeit zum Nachdenken« ihre häufig akuten Gesundheitsprobleme und rasante Krankheitsverläufe. Demgegenüber waren die Berichte der Nierentransplantierten von den oft anstrengenden Jahren der Dialyse und den deutlich längeren Wartezeiten bis zur Transplantation geprägt. Für Erstere war die Transplantation meist eine Frage des Überlebens, für Letztere eher eine Maßnahme, welche die Lebensqualität deutlich steigert. Nierentransplantierte gingen, den Psychologinnen der Klinik zufolge, aufgrund der längeren Wartezeiten oft »vorbereiteter« und »weniger blauäugig« in die Transplantation. Zudem behielten sie durch die Nierenersatztherapie der Dialyse »in ihrem neuen Leben eine gewisse Sicherheit«: Sie wäre nach der Transplantation zwar ein unerwünschter Rückschritt, steht aber bei Versagen des Transplantats zur Verfügung. Jenseits ihrer körperlichen und persönlichen Differenzen und Gemeinsamkeiten würden Transplantierte generell »viel Zeug mit sich rumschleppen – in Sachen Krankheitsund Transplantationsbewältigung kommt da nicht unbedingt während der Reha schon alles auf den Tisch« (Psychologe).

dies wird jedoch in der Praxis eher vernachlässigt (Frick/Storkebaum 2003: 93; Sonnenmoser 2011).

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Die von Thea Salewski in der Gruppe angebotene Übersetzung des »großen Begriffs Krankheitsbewältigung« lautet, »seinen eigenen Weg zu finden«. Sie erklärt, dass analog zu den drei Phasen des Transplantationsprozesses – Zeit vor der Transplantation, direkt nach der Transplantation (Krankenhaus/Reha) und Alltag mit dem Organtransplantat – auch die Krankheitsbewältigung in Phasen ablaufe. »Beobachten Sie das ruhig zwischendurch immer wieder mal«, rät sie den Gruppenteilnehmerinnen: Es sei wichtig sich zwischendurch zurückzulehnen, zurückzuschauen und anzuerkennen, was schon alles geschafft worden sei. Neben dieser Ermunterung zur Selbstreflexion erinnert sie während des Erfahrungsaustauschs in der Gruppe immer wieder daran, »sich Zeit zu geben« und »keine Wunder [zu] erwarten«: Genauso wie der Wiederaufbau von Kondition, Gewicht und Muskeln Zeit brauche und es eine Weile dauere, bis sich Blutdruck und Laborwerte, Ernährung und Immunsuppression nach den ersten Schwankungen einpegelten, benötige auch die Psyche Zeit, mit den körperlichen Veränderungen, vielfältigen Erfahrungen, unzähligen Tabletten etc. klarzukommen und in die neue Situation »reinzuwachsen«. Eine Transplantation sei körperlich ein vielschichtiger Prozess. Daher sei es »wichtig, über all diese Dinge zu reden«: »Bitte nicht runterschlucken und mit sich allein ausmachen«, »wenn Tränen kommen, ist das völlig in Ordnung, dann kommt’s raus.« Transplantierte mögen als »harte Hunde« so einiges »wegstecken«, aber in der Reha soll dafür gesorgt werden, dass sie das Erlebte nicht nur aushalten, sondern sich mit der eigenen Krankheitsund Transplantationsgeschichte aktiv auseinandersetzen und mit ihrer Situation emotional fertigwerden. Austausch in der Gruppe heißt dann nicht allein reden, sondern Emotionen und Befindlichkeiten zur Sprache zu bringen. Um die Teilnehmenden zum Sprechen zu bringen, legten Thea Salewski und ihr Kollege in den Gruppen öfter Landschaftsaufnahmen von Wäldern, Seen oder Feldern aus. Die Teilnehmerinnen wurden aufgefordert ein Bild auszuwählen, das zum Ausdruck bringe, wie sie sich »gesundheitsbezogen« fühlten. Ein Ende 30-jähriger Nieren- und Pankreastransplantierter nahm sich in einer der Sitzungen das Bild eines auf einer Blüte sitzenden Schmetterlings und begründete seine Auswahl damit, dass er sich vor der Transplantation »eher wie eine Raupe im Kokon« gefühlt habe, die nun nach der Transplantation wie ein Schmetterling geschlüpft sei, »ein neuer Mensch, nach 22 Jahren mit und nun ohne Diabetes«. Ein Lebertransplantierter Ende 50 wählte den See am Waldrand bei Sonnenaufgang und erzählte von seiner Freude, dass er »nach all der Angst« weiterleben und als Frühaufsteher mit einem Schlafzimmer gen Osten noch viele Sonnenaufgänge erleben dürfe. Eine Mitte 40-jährige Nierentransplantierte am Ende ihrer Reha-Zeit meinte, dass für ihre Zeit in der Reha zwei Bilder zuträfen. Erst sei es der dunkle Wald gewesen: Sie sei nach der Transplantation unglücklich gewesen, habe gedacht, alle seien glücklich, nur sie nicht, und

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habe Probleme mit dem Transplantat gehabt. Jetzt habe sie ein besseres, positiveres Bild von sich und ihrer Situation, wozu für sie ebenfalls die Blüte mit dem Schmetterling passt. Am beliebtesten war das Bild vom voll erblühten Mohnfeld: Es drückte für viele, nachdem sie die Zeit der Krankheit vor der Transplantation als ein »Brachliegen« erlebt hätten, ihr »Aufblühen« aus. Insgesamt dienen die Bilder als Symbole, die es ermöglichen (sollen), die inneren Gefühlszustände zu artikulieren.28 Der Austausch über Erfahrungen und Emotionen wurde von Thea Salewski und ihrem Kollegen durch aktives Zuhören, bestätigende und ermutigende Kommentare sowie (kritische) Nachfragen begleitet. Sie stellten vor allem Verbindungen zwischen den Teilnehmerinnen, ihren gleichen, ähnlichen oder konträren Erfahrungen her. Die dadurch angeregte Praxis des Vergleichens untereinander (»bei mir war das so«) war ein zentrales Element der Gruppenarbeit. Thea Salewski räumte zwar ein, dass diese Vergleiche aufgrund der Differenzen der individuellen Geschichten, Sichtweisen und Befindlichkeiten Grenzen haben, indes helfen würden zu verdeutlichen, dass »die Gedanken, die sich Leute machen, nicht unnormal« seien. Gerade im Fall von Enttäuschungen, z. B. weil eine schnelle Genesung erwartet oder das Therapieregime (immer noch/wieder ein Leben mit unzähligen Regeln) vorher nur beiläufig zur Kenntnis genommenen worden war, war es ihr zufolge wichtig, diese »durchaus normale Reaktion zu unterstützen« und Patientinnen »den selbstgemachten Druck zu nehmen«, dass nach der Transplantation alles toll sein müsse. In meinen Gesprächen mit Transplantierten wurde deutlich, dass dieser Druck sich nicht nur aus zu hohen eigenen Erwartungen speiste, sondern auch aus denen des sozialen Umfeldes. Selbst dann, wenn sie medizinisch gesehen eine optimale Entwicklung nahmen, waren so manche eben nicht sofort einfach nur glücklich oder hatten Probleme damit, die eigene Situation mit den normativ wirkenden medialen Bildern oder konkreten Vergleichsfällen von ›Vorzeige-Transplantierten‹ in Einklang zu bringen. Ein weiteres Thema, das in den Gruppen von den Psychologinnen angesprochen wurde, ist die Verarbeitung der Transplantation in Bezug auf das gespendete Organ

28 | Auch in der von der Reha-Klinik angebotenen Kunst- und Gestaltungstherapie ging es um dieses Zur-Sprache-Bringen: Hier bestand die Aufforderung darin, sich mit Blick auf die Krankheit bezogen als Baum zu malen oder Wünsche, Ziele und Ängste zu visualisieren. Die gemalten Bilder dienten dann als Aufhänger für ein Gespräch über die eigene Situation, als Mittel zur emotionalen Artikulation. Zur Zeit meiner Forschung wurde den Transplantierten eher das als ›untherapeutisch‹ gedachte freie Werken angeboten. Ich begleitete zwei GestaltungstherapieSitzungen mit Patientinnen der urologischen Abteilung und erhielt über Thea Salewski Einblick in solche Bilder von Transplantierten, die unter der Anleitung einer nicht mehr anwesenden Kunsttherapeutin in den Jahren zuvor entstanden waren.

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und seine Spenderin. Die Frage, ob ihnen das Organ fremd sei, beantworteten viele sehr nüchtern: Nein, das Organ sei ja jetzt ihr Organ, es komme nicht darauf an, wer es gewesen sei, Wissen zur Person nütze nichts, man erfahre es ja auch nicht. Einige waren verhaltener, äußerten, dass sie das Organ »ein bisschen fremd« oder »komisch« fänden und viel an die Spenderin denken würden, mitunter unter Tränen. An die Spenderin (hin und wieder) zu denken und dieser zu danken oder auf symbolische Art und Weise gedankt zu haben, war bei fast allen ein Thema. So manch eine strich sich dabei über den Teil des Bauches, der das Transplantat beherbergte. In ihrer langjährigen Arbeit mit Transplantierten seien Thea Salewski »nur wenige extreme Fälle« begegnet, bei denen das fremde Organ für die Transplantierten ein Problem dargestellt habe. Akzeptanzprobleme und eine pessimistische Sicht, die die Integration des neuen Organs beeinträchtigten, ließen sich ihr zufolge in Einzelgesprächen oft lösen. Es sei nicht unüblich, dem Organ einen Namen zu geben – eine Praxis, die ich aus dem untersuchten Transplantationszentrum kannte – oder das Organ zu ›streicheln‹ und ihm für das gute Zusammenleben zu danken. Seit einiger Zeit beobachtete Thea Salewski, dass Organempfängerinnen ein Ultraschallbild von ihrem Transplantat mitbrachten oder gern eins haben wollten und diese Bilder dann einen zentralen Platz bekamen. Ihr zufolge sei es wichtig, dass sich Organempfängerinnen ein positives Bild von der Spenderin machten – dies sei durch das Transplantationsgesetz auch möglich. Das Transplantationsgesetz war ein beliebtes Thema in den Gruppen, gerade wenn vorher über das gespendete Organ gesprochen worden war. Die Teilnehmerinnen plädierten meist einstimmig für die Widerspruchslösung (siehe S. 28ff.). Thea Salewski wies die Teilnehmerinnen dagegen auf einen Vorteil der in Deutschland geltenden Zustimmungslösung hin: Der Spender oder die Spenderin oder deren Familien müssen der Organspende zugestimmt, diese also gewollt haben – ein Punkt der das Weiterleben mit dem Organ eines anderen Menschen erleichtere. Die ihr zufolge »beliebte wie unergiebige« Diskussion zum Transplantationsgesetz bog sie mit dem Verweis darauf ab, dass es in Ordnung sei, wenn sich Menschen keine Gedanken darüber machen wollten, tot und potentielle Spenderinnen zu sein.29 Der Verlust

29 | Die Kritik am Transplantationsgesetz basiert auf der Unzufriedenheit mit dem ›Organmangel‹. Viele teilten die Annahme, dass er durch die Widerspruchslösung reduziert werden würde, verknüpft mit der Annahme, dass, wenn von einem generellen Konsens zur Organspende ausgegangen würde und man aktiv widersprechen müsste, auch mehr Organe gespendet werden würden. Ebenso häufig war die Position, dass Leute nur genug aufgeklärt werden müssten, um einer Spende zuzustimmen. Dass die Entscheidung gegen eine Organspende nicht allein Resultat von Nicht-Wissen oder Uninformiertheit sein muss und eine Widerspruchslösung indirekt

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der eigenen Niere oder Leber war kein Thema. Für die meisten war das ›alte‹ Organ gestorben. Da es »krank« war, einen selbst »krank gemacht« hatte oder »nicht mehr funktioniert und mitgespielt hat«, klang die Idee, es zu ersetzen nachvollziehbar. Für einige vielleicht nicht von Anfang an, doch in der Wartezeit konnten auch sie sich auf die Transplantation vorbereiten und damit vom alten Organ verabschieden. Nicht wenige waren froh, den »Problemverursacher« los zu sein und »neu starten« zu können. Zu den Themen, die Patientinnen in die Gruppendiskussionen einbrachten, gehörten die nicht seltene Erfahrung, dass man das Sterben anderer auf der Warteliste miterlebt und im Krankenhaus viele »schwere Schicksale« mitbekommen hatte, der Umgang mit Angehörigen, von denen man unterschiedlich abhängig war und ist, und die Zeit nach der Reha. Der letzte Punkt betraf Unsicherheiten mit den unterschiedlichen Regeln, den vielen Medikamenten und deren Nebenwirkungen, aber auch die Frage, wie es generell im Leben weitergeht. Solche Zukunftssorgen, beruhigten die Psychologinnen, seien »normal«. Ausblicke in anstehende, wieder einsetzende Alltagsverpflichtungen ganz unterschiedlicher Art gerieten dabei in den Blick, blieben aber größtenteils unkonkret. Für die meisten Patientinnen stand die Freude im Mittelpunkt, »endlich wieder nach Hause« zu können. Ausblicke ins Leben nach der Reha Wieder zu Hause und damit im eigenen Alltag anzukommen, bedeutet auch, den Schonraum der Reha-Klinik hinter sich zu lassen. Medizinische Obhut wird ein weiteres Mal reduziert. Die abreisenden Reha-Patientinnen mögen zwar auf eine arbeitsreiche Zeit zurückblicken, nichtsdestotrotz verlassen die meisten von ihnen die Reha-Klinik wesentlich beschwingter, als sie sie erreichten. Gerade ihre körperlichen Grundlagen zur Alltagsbewältigung wurden verbessert und gemäß den Rehabilitationszielen wiederhergestellt. Anhand des beschriebenen Arbeitsprogramms in einer Reha-Klinik wurde deutlich, dass die therapeutisch unterstützte Arbeit an der eigenen Gesundheit weit über eine körperliche Leistungssteigerung hinausgeht und mit der Reha nicht abgeschlossen ist. Die in der Reha stattfindende Anleitung zum selbstständigen Gesundheitsmanagement macht dies unmissverständlich klar: Ob Körperarbeit, Ernährung oder Krankheits- und Transplantationsbewältigung, es bleibt für die

von einer Nicht-Beschäftigung mit dem Thema ausgeht, war dabei kein Thema. Die Bereitschaft von Transplantierten, Organe zu spenden oder sich für die Organspende zu engagieren, kann als symbolische Form der Dankbarkeit interpretiert werden, auch wenn dabei eher dem System (von dem man profitiert hat) und nicht den Spenderinnen/ihren Familien gedankt wird.

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Transplantierten weiterhin viel zu tun. Doch was hat all diese Arbeit mit den ›echten‹ Alltagen von Transplantierten zu tun? Inwiefern wurde in der Reha-Klinik Alltag simuliert, für den neuen (ungewohnten), aber auch alten (gewohnten) Alltag trainiert und auf dessen Herausforderungen vorbereitet? Zusammengenommen präsentieren die beschriebenen Arbeitsbereiche des RehaProgramms eine Praxisanleitung für den besonderen Alltag mit einem Organtransplantat. Zu einem Zeitpunkt, zu dem gewohnte Alltage längst erschüttert, in die Krise geraten, entglitten oder ausgesetzt sind, werden zukünftige Alltage unter den Bedingungen des Transplantiert-Seins neu justiert. Dieser Prozess geht mit Unsicherheit einher. Das ermöglichte Weiterleben mit einem neuen, nun transplantierten und immunsupprimierten Körper bedeutet auch, dass es keine vollständige Rückkehr zu dem gibt, was zuvor als normaler Alltag ge- und erlebt wurde und angesichts der oft jahrelangen Gesundheitsprobleme vor der Transplantation bereits mehrfach angepasst werden musste. Die Post-Transplantationserzählungen meiner Gesprächspartnerinnen haben in der Reha-Klinik begonnen, die Alltagserzählungen – und spezifischen Narrative von Post-Transplantations-Alltagen, die ich von meinen Gesprächspartnerinnen aus der Transplantationsambulanz kannte – blieben unterdessen noch aus. In diesem Moment von Neuanfang wie Verunsicherung liefert das Reha-Programm mit all seinen Regeln, Hinweisen, Appellen und Ermutigungen, wie schon das Informationsgespräch in der Transplantationsambulanz, einen Entwurf für den lebenslang medizinisch begleiteten Alltag von Transplantierten als Langzeit-Patientinnen. Vor diesem Hintergrund mag es nicht verwundern, dass nicht wenige Patientinnen der Reha bei ihrem Entlassungsgespräch danach Dr. Spira fragen, was sie machen müssten, damit sie nach zwei, drei Jahren erneut in »den Genuss eines RehaAufenthaltes« (Lebertransplantierter, Ende 50) kommen könnten. Was gegenüber den Krankenkassen bei der Antragstellung mit dem Erhalt der langfristigen Transplantatfunktion begründet wird, begrüßt das Reha-Personal auch in Bezug auf das anvisierte Selbstmanagement von Patientinnen. Beispielsweise argumentiert Dr. Spira, dass eine Rückkehr helfe, die Patientinnen »neu ins Gleis zu setzen« – eine Metapher, die die normativen Aspekte des Reha-Programms verdeutlicht. Er fährt fort, dass für Patientinnen beim ersten Mal alles neu sei, viel vergessen werde und ein erneuter Aufenthalt dann wieder Motivation für Bewegung gebe: »Eigentlich müsste man drei-, viermal immer nach zwei Jahren wieder zur Reha kommen, bis das im Alltag eingeschliffen ist.« Dr. Spira spricht hier die Grenzen der Reha an. Übungen und Wissensvermittlung zielen zwar auf Einsicht und Selbstaktivierung sowie eine gewisse Habitualisierung, Routinen sind indes noch nicht ausgebildet und die angerufenen Subjekte möglicherweise eigensinnig, gerade was die vielen in der Reha gehörten Imperative betrifft. Allerdings kommen dann doch nur wenige Transplantierte erneut zur Reha.

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Dies ist meines Erachtens nicht nur dem eingeschränkten Willen der Krankenkassen geschuldet, diese zu bewilligen. Vielmehr liegt es an den nach zwei, drei Jahren wieder ›robusteren‹ Alltagen der meisten Transplantierten. Das wird deutlich, wenn die anwesende Langzeit-Patientin erzählt, dass sie in den drei Jahren mit ihrer »neuen Niere längst im Alltag angekommen« sei. Sie genieße zwar den erneuten Aufenthalt, rät aber den »Frischlingen« ironischerweise dazu, »nicht zu viel nach[zu]denken, später im Alltag«, und sich lieber über jeden Tag zu freuen. Die Regeln zur Ernährung seien ihr nicht bewusst gewesen, sie habe auf nichts verzichtet, selbst Grapefruitsaft trinke sie ab und zu. Es gehe ihr gut, sie will »weitermachen wie bisher« – eine Position, die die programmatische Gesundheitsausbildung der Rehabilitationsmaßnahme offenbar weniger ernst nimmt und Dr. Spiras ›Habitualisierung-Offensive‹ unterläuft. Letztlich verweigert sie sich damit einem Therapieregime, das über die regelmäßige Einnahme von Medikamenten und daraus resultierenden Kontrolluntersuchungen hinausgeht und das ausgeweitet auf vielfältige Bereiche des täglichen Lebens auch in Bewegungs- und Ernährungsverhalten intervenieren möchte. Die erfolgreiche Übertragung des in der Reha begleiteten ›Alltags-Testlaufs‹ in den konkreten Alltag der Transplantierten ist nicht allein eine Frage der Akzeptanz der geforderten Interventionen in ihren Alltag. Die Ausrichtung auf einen idealen Post-Transplantations-Alltag erweist sich außerhalb des Schonraums der RehaKlinik und angesichts von älteren Vorlieben und Verpflichtungen zuweilen als wenig alltagstauglich. So manche der aus der Reha entlassenen Patientinnen starten ihr ›neues Leben‹ zu Hause mit Optimismus und Energie. Doch häufig gestaltet sich der Transfer von Regeln oder Reha-Routinen problematischer und anstrengender als angenommen, wenn man zugleich mit nicht transplantationsbezogenen Erfordernissen des täglichen Lebens kämpft und »einen der normale Alltag wieder auffrisst« (Gesprächspartner aus der Ambulanz, sechs Monate transplantiert). Zudem bedeutet die Freude transplantierter Gesprächspartnerinnen über ihr medizinisch ermöglichtes Weiterleben nicht, dass sie mit ihrem ›alten‹ Leben nichts mehr zu tun haben (wollen): Sie wollen nicht nur zurück ins Leben (Leben im biologischen Sinne weiterleben) – sondern in ihr Leben, ihren Alltag (Leben im biografischen Sinne weiterleben; vgl. auch Diskussion zu ›life itself‹ und ›life as such‹ auf S. 39). Alltagsgewohnheiten und -routinen werden seitens der Patientinnen während der Reha zwar durchaus zur Sprache gebracht, werden dort allerdings eher bezüglich der Möglichkeiten und Begrenzungen der eigenen Situation sowie deren Kompatibilität mit den Regeln und Erfordernissen für optimale Post-Transplantations-Alltage verhandelt. Zukunft ist im Hinblick auf Stichworte wie Familie, Freundinnen und Erwerbsarbeit ein Thema. Gleichzeitig scheint vieles von dem, was einen da zu Hause erwartet, noch unklar. Für manche stellt sich die Frage, was vom gewohnten Alltag oder Leben

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übrig geblieben ist, drastischer als für andere: Bei einer ist der Arbeitsplatz schon lange weg, bei einem anderen die Möglichkeit nicht mehr gegeben, den alten Job körperlich auszuüben, und noch eine andere wurde direkt nach ihrer Transplantation von ihrem Ehemann verlassen. Während sich einige – und zwar nicht nur die Älteren, über 50-Jährigen – zumindest zum Zeitpunkt der Rückkehr nach Hause, nicht vorstellen konnten, wieder zu arbeiten und sich längst mit einer frühzeitigen Verrentung abgefunden hatten, standen andere geradezu unter Strom und konnten nicht abwarten, endlich in jeder Hinsicht wieder loszulegen. Gerade Letztere waren es, die häufig bereits im Erstgespräch thematisierten, dass sie möglichst schnell an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wollten oder im Einzelfall sogar die freien Stunden am Reha-Wochenplan für arbeitsrelevante Telefonate nutzten. Die Rückkehr in die Erwerbsarbeit stellte für viele meiner Gesprächspartnerinnen einen zentralen Marker für Normalität dar. Für die die Rehabilitationsmaßnahme bezahlenden Rentenversicherer ist sie einerseits das wichtigste Rehabilitationsziel, um die gesellschaftliche Re-Integration und Teilhabe ehemals schwer kranker, nun transplantierter Menschen zu erreichen. Andererseits wird Transplantierten in der Sozialgesetzgebung, vor dem Hintergrund der so genannten Heilsbewährung, für zwei Jahre ein Schwerbehindertenstatus mit einem Grad der Behinderung von 100 zugestanden. Wie Transplantierte in die Erwerbsarbeit zurückfinden oder nicht und ihre jeweilige Situation zwischen Erwerbsarbeit und Rente, Unter- und Überforderung und verschiedenen gesellschaftlichen Schonräumen wie Anforderungen verhandeln sowie in Bezug auf ihr Verständnis von Gesundheit und Normalität diskutieren, wird im Kapitel 5 untersucht. Was für die eine selbstverständlich ist und vom anderen als selbstverständlich erwartet wird, kann in der Reha nicht simuliert werden, sondern ist Bestandteil alltäglicher Praxis. Die Einübung der neuen Gewohnheiten, die den Post-Transplantions-Alltag ausmachen (sollen), mag in der Reha-Klinik erfolgreich sein. Im Hinblick darauf, was Transplantierte als ihren Alltag verstehen, bleibt die dortige ›Simulation‹ von Alltag allerdings einseitig auf das medizinische Therapieregime bezogen und daher unvollständig.

3.4 R ÜCKBLENDE II: VON ( UN -) DISZIPLINIERTEN WARTEROUTINEN Es folgt eine weitere Rückblende in die Zeit entgleitender Alltage und ungewissen Wartens, die auf Interviews mit zwei Transplantierten beruht. Zudem werde ich, anhand ethnografischen Materials zum Wartelistenmanagement des Transplantationsbüros, die Pflichten von Wartelistenpatientinnen erläutern. Gegenüber der ersten

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Rückblende (3.2) werde ich stärker auf die im Vorfeld einer Transplantation erforderliche Disziplin fokussieren und so verdeutlichen, dass das Wartelistenregime bereits auf das Therapieregime nach der Transplantation Bezug nimmt. So richtig Maß genommen (Berit Lüdecke) Eigentlich kam Berit Lüdecke 1991 aufgrund eines Verdachts auf Eierstockkrebs ins Krankenhaus. Es stellte sich jedoch heraus, dass sich aufgrund einer Leberzirrhose Flüssigkeit in der Bauchhöhle angesammelt hatte (Aszites). Klare Ansagen folgten: kein fettes Essen, Medikamente gar nicht bis sparsam, absolut kein Alkohol. Doch »ich habe immer fleißig weitergetrunken«, so die zu jener Zeit 34-jährige Arzthelferin. Sechs Jahre später kam sie erneut ins Krankenhaus, diesmal als Notfall, weil sie wegen »aufgeplatzter Krampfadern in der Speiseröhre eimerweise Blut spuckte«. Solche Ösophagusvarizen sind ebenfalls mögliche Folge einer Leberzirrhose. Durch den beeinträchtigten Blutabfluss in der Leber kommt es zu einem überhöhten Blutdruck in der Pfortader und in der Folge zu Umgehungskreisläufen: Statt in die Pfortader zu fließen, weicht das Blut auf andere Venen (z. B. der Speiseröhre) aus und kann Krampfadern verursachen. Ein Reißen dieser führt zu lebensgefährlichen Blutungen. Auf der Intensivstation eine halbe Stunde der Entscheidung, ob Berit Lüdecke durchkommt oder nicht. Der Erfolg hatte einen konkreten Preis: Sie musste einen stationären Alkoholentzug machen und sich eine Selbsthilfegruppe suchen. »Da bin ich dann regelmäßig hingegangen: mindestens einmal die Woche, wenn ich’s geschafft hab, auch zweimal. Und das ging, na ja, gute fünf Jahre«. Dann der Rückfall. Vier Jahre später sagte ihr ein Arzt, sie sei »prädestiniert für ’ne neue Leber«, dass man gleichwohl »einige Kriterien« erfüllen und »diszipliniert« sein müsse. Ihre erste Reaktion: »Puh ... Du kannst mich mal ... Transplantation? Nein danke!« Doch die Krankenhausaufenthalte häuften sich, ihr Zustand verschlechterte sich drastisch und sie wurde ans Transplantationszentrum überwiesen. Dort wurden die Symptome des zunehmenden Leberversagens behandelt und sie selbst wurde »so richtig Maß genommen« – auf die Warteliste für eine neue Leber komme sie nur, wenn sie vom Alkohol loskomme, mindestens ein halbes Jahr abstinent sei. Die Psychologin war pessimistisch und sagte, Berit Lüdecke schaffe das nicht. Wieder klare Ansagen: »Ich sollte 50 Kilo abnehmen, meine Trinkmenge am Tag einhalten, 1.500 ml am Tag, und, na ja: kein Alkohol.« Sechs disziplinierte alkoholfreie Monate später tritt sie 48 Kilogramm leichter vor die positiv überraschte Psychologin. Daraufhin wird sie medizinisch und psychologisch evaluiert, muss Gespräche mit zwei weiteren Psychologinnen führen und kommt schließlich auf die Warteliste – unter der Bedingung »hart [d.h. abstinent] zu bleiben«. »Dann hab ich gewartet, gewartet, gewartet. Und zwischendurch

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bin ich immer ins [Leber-]Koma gefallen, weil meine Leber den Körper ja nicht mehr entgiftet hat.« Mehr als zwei Jahre später wird es immer schwieriger, Berit Lüdecke aus dem Leberkoma herauszuholen. Neben der Leber fing die Niere an, »verrücktzuspielen«. Die Dringlichkeit einer Lebertransplantation stieg: »Irgendetwas musste passieren«. Ende April 2009 wird sie transplantiert. Das war einfach mein Normal-Sein (Frank Olbert) Blutungen in der Speiseröhre (Ösophagusvarizen) machten Frank Olbert 2004 die Bedrohlichkeit seiner Krankheit bewusst: »haarscharf« am Tod vorbei, »ein Moment von Schock«, vor Augen geführt bekommen, »was Leberversagen bedeuten könnte«, »merken«, dass man noch nicht sterben will, und die Klarheit, »das sind Symptome«. Er fand sich in einer Situation wieder, in der er »das Problemfeld Hepatitis haben, Leberzirrhose bekommen« ganz neu betrachten musste. Mit der »uralten« Hepatitis B, die sich chronifiziert und durch eine Ko-Infektion mit Hepatitis D verkompliziert hatte, mit dem Wissen also, Hepatitis B/D zu haben, lebte Frank Olbert seit 1981, seit er Mitte 20 war. Seitdem trank er keinen Alkohol mehr, versuchte »möglichst gesund« zu leben, ging regelmäßig zur Blutkontrolle, schob gerade nach beruflich stressigen Zeiten Regenerationsphasen ein und meinte, dass er, sofern er »umsichtig« lebte, »hoffentlich damit nie« ein Problem bekommen würde. Obwohl er diszipliniert lebte und viele Entscheidungen vor dem Hintergrund traf, dass sein Körper »nicht mehr ganz fit« war, erschien die Möglichkeit eines Leberversagens infolge seiner Hepatitis-Erkrankung »nicht real« für ihn und, da seine Blutwerte »nicht extremst auffällig« waren, »irrsinnig weit weg«: »Ich hatte nicht das Bewusstsein von extremer Krankheit oder dass man daran sterben kann.« Zugleich waren Symptome körperlicher Abgeschlagenheit für ihn bereits seit Jahren normal: »Ich konnte das gar nicht unterscheiden: Ist das jetzt, weil ich krank bin oder weil ich ... das war einfach mein Normal-Sein, ja. Ich hab das integriert in mein Sein«. Dieses Bild von sich, der Krankheit und seinem Krank-Sein musste Frank Olbert nach den lebensgefährlichen Blutungen in der Speiseröhre und der anschließenden Diagnose einer Leberzirrhose korrigieren. Plötzlich fand er sich in einer »Maschinerie« von medizinischen Untersuchungen und Krankenhausaufenthalten wieder, die ihn mit einem »ganz anderen Feedback von Krank-Sein« konfrontierten. Nach dem ersten Schock setzte er sich »seriöser« (intensiver) mit dem Thema Organtransplantation auseinander. Trotzdem machten die neue Situation und der Verlust der vorher »naiven« Haltung Angst. Frank Olbert folgte der ärztlichen Empfehlung, sich auf die Warteliste für eine Lebertransplantation setzen zu lassen. Die Wartezeit belastete ihn aufgrund der »permanente[n] Abrufbarkeit« und der daraus resultierenden »Nicht-Planbarkeit« sehr: Auf der einen

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Seite das Wissen, dass es »noch ewig« dauert, weil es ihm »zu gut« geht und viele Menschen auf wenige Organe warten; auf der anderen Seite dennoch immer mit einem Anruf rechnen zu müssen. Die Planungsunsicherheit ließ sich zudem schlecht mit seiner Arbeit als freier Theaterregisseur verbinden, die vor einem Stück längere Vorlaufzeiten und zeitliche Selbstverpflichtungen verlangt. Zwischen dem Abarbeiten bereits laufender Theaterproduktionen, der »Lähmung«, keine neuen Projekte anfangen zu können, und dem »Festhalten« an der Idee, dass »es« noch Jahre dauert, bekommt Frank Olbert für ein kleines Theaterprojekt eine Einladung auf eine Insel in den Tropen: zwei Monate Auszeit von der Warteliste und »dem Druck«, den entscheidenden Anruf zu bekommen, »eine tolle Zeit«, sogar ohne körperliche Probleme. Kurze Zeit danach, das vierte Jahr auf der Warteliste hatte begonnen, wurde ein Lebertumor festgestellt: Zunehmende Angst und das Gefühl, nur noch im Krankenhaus zu sein. Bei einem der vielen Klinikaufenthalte teilte er das Zimmer mit jemandem, dem es »hundsmiserabel« ging und der »händeringend« auf eine neue Leber wartete. Eine ihm die Augen öffnende Erfahrung in Bezug auf seine eigene fragile Zukunft, wie er berichtete, aber auch die Hoffnung, vorher und nicht erst in so einem schlechten Gesundheitszustand dranzukommen. Eineinhalb Wochen später erhielt Frank Olbert »den Anruf«: 20 Minuten Zeit, um das Allerwichtigste zu erledigen. 20 Minuten, bis er abgeholt und ins Transplantationszentrum gebracht wird, um dort (s)eine neue Leber zu erhalten. Das Wartelistenregime (Blick ins Transplantationsbüro) Die Disziplin, die Berit Lüdecke aufbringen musste, um als Transplantationskandidatin auf die Warteliste zu kommen, oder die von Alexander Dahlen angesprochenen Verpflichtungen des »Transplantationsvertrages« (siehe S. 77) verweisen auf die Regeln der Wartelistenzeit. Einblicke in diese Regeln liefert das Transplantationsbüro, das als organisatorische Zentrale des Transplantationszentrums für die Verwaltung und Betreuung der lokalen Wartelistenpatientinnen sowie die Koordination und Logistik einer Organtransplantation zuständig ist.30 Patientinnen haben das erste

30 | Um Kontinuität bezüglich des für diese Aufgaben nötigen Arbeitswissens zu gewährleisten, wurde das Büro mit nicht-ärztlichem Personal besetzt. Die sechs dort tätigen Mitarbeiterinnen kommen größtenteils aus der Krankenpflege. Ihnen zufolge liegt ihr Arbeitsgebiet, für das es keine Ausbildung gibt, an der Schnittstelle zwischen medizinischen und nicht-medizinischen Aufgaben. Ihre enge Kooperation mit den Chirurginnen des Zentrums sei deshalb weniger durch die klassischen Hierarchien zwischen ärztlichem und nicht-ärztlichem Personal geprägt als andere Bereiche der Krankenhausarbeit.

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Mal mit dem Transplantationsbüro zu tun, wenn sie auf die Warteliste für eine Leber gesetzt werden, und das letzte Mal, wenn sie den Anruf erhalten, dass es eine Leber für sie gibt. Wie in der Transplantationsambulanz gibt es auch hier ein Gespräch, das für potentielle Transplantationskandidatinnen gleichermaßen Abschlusswie Auftaktgespräch ist: Es markiert einerseits den positiven Abschluss der Evaluationsuntersuchung für eine Transplantation, andererseits den Beginn der Wartezeit. In der gründlichen Evaluationsuntersuchung, »einer Art Bestandsaufnahme des Körpers« (Robert Jost) durch diverse Fachgebiete der Medizin (u.a. Chirurgie, Innere Medizin, Kardiologie, Anästhesie, Zahnmedizin, Psychosomatik), wird man gewissermaßen »auf Herz und Nieren geprüft« (57-jährige, 2003 transplantierte Patientin). Dabei geht es zum einen um den allgemeinen Gesundheitszustand, die Prognose, ob die lange, schwierige Operation körperlich bewältigt werden kann, sowie Faktoren, die eine Transplantation ausschließen würden, wie etwa Infektionen oder zusätzliche schwerwiegende Erkrankungen. Zum anderen soll eingeschätzt werden, ob die Patientin generell – also nicht nur in körperlicher Hinsicht – in der Lage ist, den Eingriff und das daran anschließende Therapieregime zu bewältigen, also auch die zahlreichen Regeln einzuhalten. Entscheidend für die ärztliche Befürwortung ist die Antwort auf die Frage, ob eine Person als transplantabel gilt und ein Transplantationserfolg zu erwarten ist. Das Urteil darüber, wer transplantationsfähig ist und auf die Warteliste kommt, beruht auf einem spezifischen Klassifikationssystem, das heißt auf kulturellen, moralischen und politischen Entscheidungen sowie auf symbolischen und materiellen Ordnungssystemen (Douglas 1985; Bowker/Star 2000). Statt neutralen medizinischen Kriterien gibt es Übereinkünfte und Ermessenspielräume (Schmidt 2002). Die Warteliste kann als »erstes Nadelöhr der Organverteilung« (Schneider 2000: 49) verstanden werden. Volker Schmidt hat darauf hingewiesen, dass die Kriterien, die für oder gegen eine Lebertransplantation sprechen, innerhalb der Medizin nicht unumstritten sind, gerade wenn es um den pauschalen Ausschluss von HIV-Infizierten und Alkoholikerinnen geht (Schmidt 2002: 266-271). Auch die Altersgrenze (ca. 65 Jahre) wird von Transplantationszentren unterschiedlich festgesetzt. Dem Gespräch mit dem Transplantationsbüro geht ein ärztliches Aufklärungsgespräch sowie das Einverständnis seitens der Chirurginnen wie Patientinnen zur Transplantation voraus. Darin stehen die festgestellten Diagnosen und medizinischen Details im Vordergrund: Wie wird operiert, welche Risiken hat der Eingriff, was für Alternativen gibt es, was sind Neben- und Folgewirkungen, wie geht es nach der Transplantation weiter? Vom Transplantationsbüro erhalten potentielle Transplantationskandidatinnen dagegen eine Art Schnell-Kurs zu Prozeduren, beteiligten Insti-

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tutionen und Regeln des Wartelistenregimes:31 Die zukünftige Wartelistenpatientin erfährt, was es bedeutet, eine solche zu sein. In der dabei ausgehändigten Informationsbroschüre zu den organisatorischen Abläufen vor und nach einer Transplantation wird erwähnt, dass die für die Wartenden emotional vielschichtige, hinsichtlich ihrer Dauer schwer kalkulierbare und oftmals viel Geduld erfordernde Wartezeit »möglicherweise [. . . ] der schwierigste Teil am Gesamtgeschehen der Transplantation« ist. Im Gespräch selbst geht es weniger um Emotionen und gemischte Gefühle als um Prozeduren und Pflichten. Erklärungen werden häufig mit konkreten Handlungsanweisungen verknüpft. Von nun an werden drei Laborwerte und der aus ihnen errechnete MELD-Score (Model for Endstage Liver Disease) zu zentralen Koordinaten für die Wartenden. Der MELD-Score gibt den Schweregrad einer Lebererkrankung an und stellt seit Dezember 2006 den entscheidenden Faktor dar, wenn es um Wartelistenpositionen und Organzuteilungen durch Eurotransplant geht (BÄK 2006).32 Mit zunehmender Höhe des MELD-Scores erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten drei Monaten zu sterben (beim niedrigsten Wert 6 liegt diese bei 1%, beim Höchstwert 40 bei

31 | Eine Liste zum Abhaken führt auf, was für die Transplantationsakte eingereicht, geklärt, erläutert, dokumentiert und unterschrieben werden muss. Dazu gehört auch das Thema Lebendorganspende: Wann kommt sie in Betracht, was sind Voraussetzungen und gesetzliche Regelungen, was bedeutet es Lebendorganspenderin zu werden? Das diffizile Thema der Lebendorganspende kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Wer dem Thema wie begegnet, in welchen Gesundheits-, Lebens- und Beziehungskontexten es relevant wird und wie und mit welchen Motivationen es unter Angehörigen verhandelt wird, wäre eine eigene ethnografische Untersuchung wert. Zu Entscheidungsfindungsprozessen in der Lebendnierenspende forscht zur Zeit die Göttinger Kulturanthropologin Sabine Wöhlke. 32 | Zur Berechnung des MELD-Scores werden Bilirubin- und Kreatinin-Wert sowie die Blutgerinnungszeit (INR) herangezogen: Erstere sind Stoffwechselprodukte, die Auskunft über die Funktion der Leber (Bilirubin) und Niere (Kreatinin) geben; Letztere verweist auf mögliche Synthesestörungen der Leber. Da das MELD-Score-basierte Verteilungssystem einige Lebererkrankungen in ihren Auswirkungen nicht angemessen abbildet bzw. um hieraus resultierende Benachteiligungen auszugleichen, wurden spezifische Ausnahmen (standard exceptions) definiert. Für diese Ausnahmen sowie Kinder unter zwölf Jahren wird der reguläre Wert (labMELD) in zeitlich vorgegeben Schritten erhöht (matchMELD). Darüber hinaus kann im Einzelfall eine Anpassung des MELD-Score bei einer durch Eurotransplant eingesetzten Auditgruppe beantragt werden (non-standard exeptions). Für Wartende in akut lebensbedrohlichen Situtionen gibt es die Dringlichkeitsstufe high urgency, die bei der Organvergabe vorrangig berücksichtigt wird (BÄK 2011).

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98%), aber auch die Chance, bei einer Organvergabe berücksichtigt zu werden. »Das Paradoxe« ist, so ein Mitarbeiter des Transplantationsbüros zu einem Wartelistenpatienten, »dass wir [das Transplantationsbüro] uns über schlechte Werte freuen, denn das Ziel ist ja die Transplantation«. Der Blick auf Laborwerte ist für die meisten Patientinnen nicht neu. Leberwerte spielen in der Einschätzung ihres Gesundheitsund Leberzustandes oft seit längerem eine Rolle. Was der Mitarbeiter paradox nennt, beschrieben einige Gesprächspartnerinnen als zwiespältige Hoffnung: Auf der einen Seite die Hoffnung, möglichst schnell und vor allem rechtzeitig eine neue Leber zu bekommen, auf der anderen Seite die Hoffnung, dass sich eine Transplantation vielleicht doch (noch) als unnötig erweist, da man sich mit der unzureichenden Leberfunktion arrangieren kann, solange sich diese nur nicht weiter verschlechtert. Das Transplantationsbüro meldet den MELD-Score an die Organvermittlungsstelle Eurotransplant, wobei die Höhe des Wertes auch seine Geltungsdauer bestimmt: Je höher der Wert, desto häufiger muss er aktualisiert werden. Wartelistenpatientinnen sind verpflichtet, Änderungen mitzuteilen und dabei Fristen einzuhalten: Das Transplantationsbüro fordert spätestens nach drei Monaten eine Mitteilung und ist damit in einigen Fällen strenger als von Eurotransplant vorgeschrieben. Die Mitarbeiterinnen begründeten diese Strenge zum einen mit dem Wunsch, zu wissen, wie es um die jeweilige Person steht (»schließlich versuchen wir das Beste für unsere Patienten herauszuholen«), zum anderen mit dem Verweis auf die Zeit nach der Transplantation: »Man will wissen, dass die Wartelistenpatienten mitmachen, das müssen sie ja später auch, also regelmäßig Medikamente einnehmen und ihre Blutwerte ermitteln lassen.« Weiter sind Wartende verpflichtet, temporäre Gegenanzeigen zur Transplantation mitzuteilen, z. B. ob sie gerade an einem Infekt erkrankt sind. Vorübergehende Ausschlussgründe, zu denen auch freiwillige Auszeiten wie ein Urlaub im Ausland zählen, führen zur zeitweisen Einstufung als »nicht transplantabel«.33 Nur wer als »transplantabel« eingetragen ist, wird bei einer Organvergabe berücksichtigt. In diesem Zusammenhang appellieren die Mitarbeiterinnen des Transplantationsbüros trotz des Konkurrenzverhältnisses der Wartenden an deren Fairness: »Wenn sich erst vor Ort herausstellt, dass man aufgrund eines Infektes aktuell nicht transplantabel ist, geht wertvolle Zeit und damit Organqualität verloren«. Die Pflicht, erreichbar zu sein, verbildlichte ein Mitarbeiter zukünftigen Wartelistenpatientinnen folgendermaßen: »Die Zeit der Nicht-Erreichbarkeit ist für Sie vorbei! Wie die Feuerwehr oder ein Chefarzt müssen Sie jetzt immer erreichbar sein! Wenn Sie also ins Kino oder Theater ge-

33 | Beim Aufenthalt im Ausland geht es um die Transport-Organisation und Übernahme der Kosten, da die Krankenkassen in der Regel nur den Transport vom Wohnort zum regional nächsten Transplantationszentrum zahlen.

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hen, setzen Sie sich über Handy-Verbote hinweg!« Die Pflicht zur ständigen Erreichbarkeit ist diejenige, die von Wartenden und zurückblickenden Transplantierten am häufigsten als »belastend« eingeordnet wurde. Ständig erreichbar zu sein, ist durch Mobiltelefone leichter und kostengünstiger geworden, wird jedoch als ambivalent erlebt, gerade im Hinblick auf die gleichzeitige Aufforderung, das Leben während der Wartezeit »in normalen Bahnen verlaufen zu lassen« (Informationsbroschüre des Transplantationsbüros). Mobiltelefone erlauben zwar, im Alltag beweglich zu sein, das Telefon nie ausschalten zu können und immer darauf zu achten, ob das Gerät Empfang hat, wurde jedoch von nicht wenigen als »Druck« empfunden. Das ausführliche Informationsgespräch eröffnet die ungewisse Etappe der Wartezeit und zugleich das Arbeitsbündnis zwischen Klinik/Transplantationsbüro und Wartelistenpatientin. Einsicht in die Details des Wartelistenregimes wird gegeben, um die Wartenden einzubinden und ihnen ihre Pflichten einsichtig zu machen. Wie es ein Patient am Ende des Gesprächs lakonisch ausdrückte: »Ich habe verstanden, Disziplin ist gefragt.« Einem Mitarbeiter des Transplantationsbüros zufolge hat das MELD-Score-basierte System zur stärkeren Einbindung geführt, da es mehr Regelmäßigkeit von den Patientinnen fordert. Ob laborchemische Blutkontrolle (MELDScore), selbstbeobachtende Statuskontrolle (transplantabel oder nicht) oder telefonnetzbasierte Empfangskontrolle (Erreichbarkeit), die aktive Mitarbeit und Konformität mit den Regeln ist im eigenen Interesse gefordert. Den Mitarbeiterinnen des Transplantationsbüros kommt hier eine gleichzeitig kontrollierende wie unterstützende Rolle zu, z. B. wenn sie per Brief und Telefon daran erinnern, dass ein MELDScore in nächster Zeit aktualisiert werden muss. Dass diese Arbeit manchmal umsonst ist und einige ihre Meldung dennoch versäumen, findet eine Mitarbeiterin des Büros regelmäßig frustrierend. Ein Kollege erinnert sie jedoch daran, dass es Sache der Wartenden ist, inwieweit sie sich an »die Spielregeln der Warteliste« halten. Wer nicht rechtzeitig Laborwerte schickt, wird von Eurotransplant »runtergestuft«, wer als Ex-Alkoholikerin wieder trinkt, wird vorübergehend gesperrt, wer eine halbe Stunde nicht erreichbar ist, verpasst möglicherweise seine oder ihre Chance. Hinsichtlich der Regeln und ihrer Einhaltung gab es sowohl Regelverstöße als auch Selbstanzeigen: einerseits den Patienten, der mit Alkohol im Blut zur Transplantation erschien und deshalb nicht transplantiert wurde, andererseits die Patientin, die anrief und mitteilte, dass sie sich zwar viel Mühe gebe, aber leider doch »drei Gläser Schaumwein« getrunken habe. Disziplinierter Alkoholkonsum ist im Kontext der Lebertransplantation ein Kapitel für sich.34 Der Umgang mit der Rückfälligkeit

34 | Zu den häufigsten Indikationen bzw. Diagnosen für eine Wartelistenanmeldung zur Lebertransplantation gehören in Deutschland die alkoholbedingte Leberzirrhose, das Leberzellkar-

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von (Ex-)Alkoholikerinnen, die wegen alkoholbedingter Leberzirrhose auf der Warteliste stehen, ist umstritten, auch weil die Problematik moralisch aufgeladen ist. So berichtete ein Mitarbeiter, dass ihn »so ein Verhalten« zunehmend »sauer macht« und er persönlich dafür sei, »solche Leute komplett von der Liste zu kicken«, denn »Lebertransplantation heißt eine zweite Chance zu bekommen: Entweder man nutzt diese Chance oder eben nicht!« Es gebe wohl einige Transplantationszentren, wo dies der Fall sei. Im untersuchten Zentrum werden rückfällige Alkoholikerinnen mindestens ein halbes Jahr als »nicht transplantabel« gesperrt und müssen sich selbst darum kümmern, wieder transplantabel zu werden, indem sie sich selbstständig in der psychosomatischen Abteilung vorstellen, falls nötig einen erneuten Alkoholentzug machen und »beweisen, dass sie es mit der Transplantation und dafür geforderten Alkoholabstinenz ernst meinen«.35 Diese Regel findet eine andere Mitarbeiterin problematisch: »Diese Patienten müssten eigentlich kontinuierlich betreut werden und bräuchten regelmäßig Hilfe«, es handle sich schließlich um Suchtkranke. Ob Alkoholkonsum oder regelmäßige Blutkontrolle, die im Wartelistenregime gleichzeitig geforderte wie eingeübte Routine und Disziplin ist nach einer Lebertransplantation weiter relevant. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Detlef Kranerts Bemerkung zu den Regeln nach der Transplantation: »Ich wäre nicht hier, wenn ich mich nicht an die Spielregeln halten würde«. Doch eine Garantie, ein Organangebot zu erhalten, gibt es für die Wartenden nicht. Den 2012 in Deutschland durchgeführten 1.079 Lebertransplantationen (davon 80 Lebendspenden) standen in Deutschland 1.815 Personen auf der Warteliste gegenüber, davon 709, die im Jahr 2012 neu angemeldet wurden (Eurotransplant 2012). Was bleibt, ist laut einem Gesprächspartner, der auf drei Jahre Wartezeit zurückblickte, eine wechselnde Aneinanderreihung von »guten, nicht so guten, schlechten und richtig schlechten Tagen«, die Frage, ob es so weitergehen kann und muss, und nicht zuletzt die Hoffnung, auf der Liste ohne feste Plätze »der Nächste zu sein« und endlich »den Anruf« zu erhalten.

zinom und die Fibrose oder Zirrhose der Leber infolge chronischer Hepatitis C (Jahresbericht DSO 2009). 35 | Mitarbeiterinnen des Zentrums, mit denen ich über diese Regel sprach, räumten ein, dass die geforderten sechs Monate einen »artifiziellen Zeitraum« darstellten und die Zeitspanne der Abstinenz wenig darüber aussage, ob jemand auf der Warteliste oder nach der Transplantation wieder rückfällig werde.

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Der Anruf – Ende und Anfang einer (disziplinierten) Etappe Der Anruf mit der Nachricht »Wir haben eine Leber für Sie!« markiert den oft mit gemischten Gefühlen erwarteten Tag X der Transplantation. Viele Transplantierte erzählten – ohne dass ich danach gefragt hätte – von der genauen Situation, in der sie ihn erhalten hatten: »Es war am 14. Mai, so halb drei nachmittags, ich war gerade dabei ...«. Es war der Anruf, auf den sie die ganze Zeit gewartet, mit dem sie gerade in diesem Moment aber doch nicht gerechnet hatten. Die Ungewissheit täglichen, manchmal alltäglich gewordenen Wartens und Nichtwissens, »wie lange noch«, hatte ein Ende. So manches Mal war die erste, dann schnell zurückgenommene Reaktion dennoch: »Oh nein, ausgerechnet jetzt? Lieber nicht. Das passt gerade nicht.« Nicht umsonst lautet die erste Regel in dieser Situation »Ruhe bewahren!« (Informationsbroschüre des Transplantationsbüros). Etliche meiner Gesprächspartnerinnen mussten daran auch nicht erinnert werden. Anlässlich des nun tatsächlich zur Verfügung stehenden Organs beschrieben sie eine erstaunliche »innere Ruhe«, die häufig im Kontrast stand zu den ambivalenten Erzählungen der Wartezeit mit ihren unruhigen Hochs und Tiefs, Hoffnungen und Ängsten sowie der Nervosität gegenüber jedem Klingeln des niemals abgestellten Telefons. Diesmal war es soweit. Eine Gesprächspartnerin berichtete, sie sei »vor allem erleichtert und froh« gewesen, ein anderer, er habe geweint »wie ein kleines Kind«, wieder ein anderer bekam auf dem Weg ins Krankenhaus doch »Muffensausen« und noch ein anderer schüttelte den Kopf und sagte: »Angst? Nee, ich war der glücklichste Mensch, der ruhigste Mensch – ich war da! Mir konnte doch nichts passieren. Wenn’s passiert wäre [der Tod], gut ... das hätte ich ja nicht gemerkt. Und ich hatte nichts mehr zu verlieren« (Joachim Quaas). Der Anruf markiert das Ende der ungewissen Wartezeit, einer Zeit, der sich Wartende mitunter passiv ausgeliefert fühlen. Mit Ausnahme der meist als belastend empfundenen Pflicht zur ständigen Erreichbarkeit waren die vorgestellten Regeln des Wartelistenregimes kaum Thema. Stattdessen wurden die rückblickenden Erzählungen von den durch die sinkende Leberleistung und die Selbstvergiftung des Stoffwechsels verursachten körperlichen Ausnahmezuständen und emotionalen Unsicherheiten dominiert. Wie mit diesen umgegangen werden kann, dafür geben die Regeln der Wartelisten-Zeit keine Praxisanleitung. Trotzdem ist das Warten auf ein Organ nicht nur passiv. Die Wartezeit ist auch eine disziplinierte Etappe. Wartende werden vom Transplantationsbüro als eigenverantwortliche ›Mitspielerinnen‹, als Teil eines Teams adressiert – Mitarbeiterinnen wie Wartende müssen ›am Ball bleiben‹. Ein Organangebot können sie trotzdem nicht beeinflussen. Auch im telefonisch immer besetzten Transplantationsbüro wird auf Organe gewartet. Anruf und Transplantation

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stehen in diesem Kontext zugleich für Neuanfang und Fortsetzung – Glück gehabt, das Leben geht weiter. Telefonklingeln darf wieder ignoriert und an den Anrufbeantworter delegiert werden.

3.5 FAZIT: P RAXISANLEITUNGEN VON A LLTAG

FÜR UND

T ESTLÄUFE

Die Organtransplantation wird als Therapie- oder Rehabilitationsmaßnahme verstanden, die Gesundheitsprobleme Schwerkranker behandelt und ihnen eine Rückkehr in Leben und Alltag, Beruf und Gesellschaft ermöglicht. Das Transplantat hat seine Arbeit aufgenommen, der Körper als Verursacher der Alltagskrise Krankheit steht nach etwas Erholungszeit und Training wieder zur Alltagsbewältigung zur Verfügung und das Leben geht weiter. Doch eine »Rückkehr zur Normalität«, wie es in einer solchen Lesart der Organtransplantation oft heißt, lässt an anderes denken als das, was ich in diesem Kapitel beschrieben habe. Als gern zitierte Formel in Presseberichten zur Organtransplantation oder gut gemeinte Phrase von Medizinerinnen, Familienmitgliedern, Arbeitgeberinnen oder Außenstehenden drückt sie gleichermaßen einen individuellen Wunsch wie eine gesellschaftliche Erwartung an die Therapierten aus. Doch das in diesem Zusammenhang oft bemühte mechanistische Körperbild endet beim Verlassen des Operationssaals: Die kartesianische ›Maschine‹ Körper mit Organtransplantat ist eben kein Auto mit ausgewechseltem Ersatzteil, das die Werkstatt nach der Reparatur mit Vollgas wieder verlässt, sondern ein von Krankheit, Operation und Krankenhausaufenthalt erschöpfter Körper, dessen Status zwischen Krankheit und Gesundheit noch zu klären wäre (siehe 5.4). Die an ›die Reparatur‹ erinnernde Operationsnarbe symbolisiert einerseits eine körperlich wie emotional extreme Erfahrung, andererseits die bleibende, äußerlich unsichtbare innere Differenz: Man lebt weiter mit dem Organ eines anderen Menschen und einem Immunsystem, in das lebenslang interveniert werden muss. Aus medizinischer Sicht gehören Organtransplantierte deshalb zur heterogenen Gruppe chronisch Kranker, sind per Definition »inhärent krank« (Dumit 2002: 125) und dauerhaft sowie in einem besonderen Ausmaß mit dem Management ihrer Gesundheit beschäftigt. Mit dem medizinisch veränderten und stabilisierten Körper mag die Rückkehr zu einer individuell definierten und gesellschaftlich akzeptierten Normalität gelingen, vorerst aber muss Alltag auf bestimmte Art und Weise (wieder-)hergestellt werden. Die (reha-)klinische Gebrauchsanleitung dafür, wie der spezifische Post-Transplantations-Alltag produziert werden sollte, lieferte dieses Kapitel.

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Das medizinisch entworfene Programm für die Implementierung des lebenslangen Therapieregimes im Alltag fokussiert auf die Bedingungen des Weiterlebens nach der Transplantation. Es fordert von Transplantierten, ihren Alltag auf spezifische Weise zu organisieren und zu regulieren, um mit den Risiken ihres transformierten Körpers umzugehen. Das Therapieregime bezieht sich auf die Art und Weise, wie Leben tagtäglich gelebt wird. Alltag wird als ein für den transplantierten Körper potentiell gefährliches Terrain und als ein Produkt unzähliger Regeln, Interventionen und Selbstdisziplinen entworfen. Die Normen und Prinzipien, die das zukünftige Handeln von Transplantierten anleiten sollen und definieren, wie angemessenes Verhalten nach der Transplantation aussieht, werden durch die Klinik vermittelt, aus deren Obhut – Schutz wie Aufsicht – die Transplantierten entlassen werden, in der sie als chronisch kranke Langzeit-Patientinnen aber auch verbleiben. Klinik expandiert so in den Alltag der Betroffenen. Diese werden dabei nicht als schnöde Befehlsempfängerinnen, sondern als zentrale Akteurinnen und Mitglieder des medizinischen Teams adressiert. Diese Einbeziehung ist für Wartelisten-erfahrene Transplantierte genauso wenig neu wie ein Leben nach medizinischer Anleitung. Das Post-Transplantationsregime lässt sich daher als modifizierte Fortsetzung des Wartelistenregimes analysieren. Umgekehrt können die Verpflichtungen des Wartelistenregimes als erstes Training für PostTransplantations-Alltage aufgefasst werden. Die Koordinaten des (Weiter-)Lebens haben sich geändert und Alltag muss wiederum neu justiert werden. Die Schlussfolgerung, dass es sich hier um ein hermetisch-kohärentes medizinisches Kontrollprogramm und eine daraus resultierende Selbstdisziplin der Kontrollierten handelt, wäre unangemessen, da sie die Grenzen dieses Programms, die Widerstandsfähigkeit alltäglicher Gewohnheiten und die Rolle von Transplantierten bei der Etablierung des Post-Transplantationsregimes außer Acht ließe. Stattdessen unterstreicht das (Post-)Transplantationsbeispiel das Spannungsfeld, das Didier Fassin (2009) als life itself und life as such bzw. als die Verschränkung von organisch Lebendem und alltäglich Gelebtem diskutiert hat (siehe S. 39). Das Nachsorgeregime fokussiert zwar auf das Leben selbst, das durch die Medizin umfassend und hochgradig reguliert wird, und greift weit in Alltag ein, ist aber in seiner Wirkung offen. Leben als solches, so stimme ich Fassin zu, umfasst mehr als das, was hier vonseiten der Medizin anvisiert wird, und wird durch das Therapieregime nicht vollständig erfasst oder reguliert. Das deuten selbst Medizinerinnen an. Schwester Britta spricht vom »wahren Leben«, das erst noch angetreten werden müsse und »ernüchtern« könne. Darüberhinaus findet in der Reha-Klinik die Wissensvermittlung bereits mit dem Wissen statt, dass die Regeln des Therapieregimes zentrumsspezifisch ausgelegt werden und aus Gründen zunehmender »Nachlässigkeit« auf Handzetteln oder in der Seminarsituation »strenger« formuliert werden müssen. Schließlich macht die

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in der Reha von mehreren Therapeutinnen geäußerte Formel, dass jede ihren »eigenen Weg« finden müsse, auf den Unterschied zwischen Programm und praktischer Umsetzung des Programms aufmerksam. Ich habe hier das in Transplantationszentrum und Reha-Klinik ausbuchstabierte Ideal des Post-Transplantations-Alltags vorgestellt, ein spezifisches Angebot der Veralltäglichung (Routinisierung) therapeutisch erstrebenswerter Interventionen in Alltag. Für Transplantierte und ihre spezifischen Alltage baut dieses Alltagsideal, in dem permanent auf alles Mögliche geachtet werden muss, allerdings Veralltäglichungsschranken auf. Im Informationsgespräch mit Schwester Britta und in der Anschlussheilbehandlung dominiert der ›neue‹ Alltag von Transplantierten. Ihr ›alter‹ Alltag wird eher indirekt adressiert. Das Leben als solches, der Alltag meiner Gesprächspartnerinnen jenseits der (Reha-)Klinik, verstanden als spezifisches soziales Geflecht verlässlicher Strukturen, Beziehungen und Gewohnheiten bleibt oft so diffus wie die von körperlichen Ausnahmezuständen geprägte Erinnerung an entgleitende, längst verblasste Alltage in den persönlichen Rückblicken. Die Transplantation transformiert das Leben selbst und das Leben als solches, sowohl Körper als auch Alltage. Letztere befinden sich vor der Transplantation oft seit längerem im Umbau. Die Frage, zu welchen Gewohnheiten Transplantierte zurückkehren können und wollen, stellt sich daher nicht bloß aufgrund der neuen Regeln. Es ist vielmehr eine Frage, die in alltäglicher Praxis beantwortet wird. Die Nicht-Thematisierung der ›echten‹ Alltage Transplantierter interpretiere ich als Effekt der Selbstverständlichkeit von Alltag – in den eigenen Alltag wird man sich schon wieder »irgendwie einfädeln« (nierentransplantierte Reha-Patientin). Vor dieser alltäglichen Grundannahme wird das Neue, (noch) nicht Selbstverständliche zukünftiger Post-Transplantations-Alltage während des Transfers zwischen Klinik und Alltag von Medizinerinnen wie Transplantierten umso mehr betont. Sowohl die Rückeroberung als auch die Einübung alltäglicher Gewohnheiten befindet sich in einer ersten Testphase. Normal ist all das, was hier für Alltag aufgeschlüsselt wurde, für Transplantierte (noch) nicht. Mit dieser Zeit verband keine meiner Gesprächspartnerinnen Normalität. Gleichwohl beinhaltet das klinische Veralltäglichungsprojekt auch ein Normalisierungsangebot: Zum einen im Sinne der beschriebenen Routinisierung und ihrer impliziten Normativität: Medizinisch sieht ein idealer normaler Post-TransplantationsAlltag so und nicht anders aus. Zum anderen helfen Medizinerinnen dabei, die von Transplantierten erlebten Abweichungen von der Norm einer erwarteten Rückkehr zur Normalität zu normalisieren. Transplantierte lernen von Medizinerinnen, dass Schwankungen der Laborwerte am Anfang genauso normal (üblich) sind wie starkes Händezittern – die normale (häufige) Nebenwirkung eines Immunsuppressivums

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– oder negative Emotionen und Gefühlsschwankungen. Vieles werde sich über die Zeit normalisieren, das heißt reduzieren oder stabilisieren. Die bei der Entlassung aus dem Krankenhaus und in der Reha-Klinik stattfindende Vorbereitung auf eine veränderte Normalität betrifft neben dem Alltagsleben nach neuen Regeln den Status Transplantierter: Normal meint hier unvollständig geheilt oder chronisch krank, aber am Leben teilnehmend. Eine gewisse Differenz zu einer Normalität, die mit Gesundheit gleichgesetzt wird, bleibt und stellt die neue Normalität für Transplantierte dar. Man könnte daher von einer medizinisch angeleiteten und »abhängigen Normalität« (Dumit 2002: 127) sprechen. Der US-amerikanische Kulturanthropologe Joseph Dumit bezieht sich mit diesem Begriff primär auf Psychopharmaka, genauer gesagt auf die auf Produkt-Webseiten der Herstellerfirmen von Antidepressiva prominente Kupferkurve, die den Verlauf depressiver Erkrankungen illustriert (ebd.: 125). Normalität werde darin relational definiert, als etwas, das permanent gefährdet und nur durch lebenslange Intervention mittels Pharmazeutika aufrechterhalten werden kann: Ein akzeptables Normalitätsniveau wird dabei zum Produkt optimal eingestellter Medikamente (ebd.: 125f.). Einerseits entlarvt Dumit die darin implizierte Auffassung von Gesundheit, der Krankheit immer schon inhärent ist, und von einer von Medikamenten »abhängigen Normalität« als Vermarktungsstrategie von Arzneimittel-Herstellern. Andererseits versteht er diese Auffassung als paradigmatisch für das heutige Verständnis von Gesundheit. Dumits Ausführungen lassen sich auf die Situation Organtransplantierter übertragen, wenn auch nur begrenzt. Für Transplantierte (wie für andere chronisch Kranke) ist die versprochene Rückkehr zur Normalität stets eine vorläufige – ein Punkt, den ich in den nächsten zwei Kapiteln weiter ausführen werde. In meiner Studie geht es jedoch nicht um die Erschließung neuer pharmazeutischer Absatzmärkte, indem immer mehr Menschen für inhärent krank erklärt werden, sondern um eine begrenzte Gruppe von Patientinnen, deren lebenslange Abhängigkeit von teuren Medikamenten zumindest vom deutschen Gesundheitssystem getragen wird. Darüber hinaus verdeutlichte dieses Kapitel, dass die abhängige Normalität Transplantierter über die optimale Einstellung von Medikamenten deutlich hinausgeht. Bezogen auf die Verschränkung von Klinik und Alltag im Leben Transplantierter lässt sich am ehesten von einer medizinisch begleiteten Normalität sprechen. Wie ich zeigen werde, heißt das nicht, dass diese Begleitung konfliktfrei verläuft. Die Devise, sich »so normal wie möglich« zu verhalten, die Transplantierten von Medizinerinnen mit auf den Weg gegeben wird, markiert die Differenz (ganz normal ist unmöglich, Normalität schließt lebenslange Nicht-Normalität ein), aber auch einen über das klinische Veralltäglichungs- und Normalisierungsprojekt hinausgehenden Bewertungsmaßstab. Ohne diesen Bewertungsmaßstab genau zu definieren, wird sich

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dabei ebenso auf gesellschaftliche Normen und Normalitäten des jeweiligen sozialen Umfelds von Transplantierten wie auf ihre bisherigen, individuellen Alltagsnormalitäten bezogen. Unterdessen ist die Herstellung von Alltagsnormalitäten durch Transplantierte immer auch ein Spielraum oder selbstbestimmter Kompromiss, bei dem es darum geht das Regelwerk der Transplantationsnachsorge umzusetzen und unterschiedliche Erwartungen und Anforderungen mit dem eigenen Alltag in Einklang zu bringen und damit mit dem, was man für normal erachtet.

4 Organ-Alltage: Transplantierte Körper vermessen, regulieren, stabilisieren

Im Mittelpunkt von Kapitel 4 steht die Lebertransplantationsambulanz. Hier werden die Patientinnen des untersuchten Zentrums nach der Transplantation und dem daran anschließenden Klinikaufenthalt medizinisch betreut. Die Ambulanz fungiert als Schnittstelle zwischen dem Transplantationszentrum, den Transplantierten und ihren behandelnden (Haus-)Ärztinnen, zwischen verschiedenen medizinischen Fachgebieten innerhalb und außerhalb der Klinik sowie zwischen ambulanter Versorgung und klinischer Forschung. Sie gehört zum Leben und Alltag all meiner transplantierten Gesprächspartnerinnen, unabhängig davon, wie das im vorangegangen Kapitel beschriebene Therapieregime und normative Angebot zur Herstellung eines PostTransplantations-Alltags auf individueller Ebene tagtäglich gelebt wird und wie lange jemand transplantiert ist. Dabei gestaltet sich die Beziehung zwischen Ambulanz und Transplantierten unterschiedlich eng. Mal kommt sie einer Fernbeziehung gleich, in der überwiegend per Telefon, Anrufbeantworter und Fax kommuniziert wird. Mal beinhaltet sie häufigen persönlichen Kontakt oder fühlt sich so an, als ob man »mit der Ambulanz verheiratet« wäre (zwei Ambulanz-Patienten). Sie symbolisiert einen nicht-reduzierbaren Moment der Klinik im Alltag: Aus dem Alltag Transplantierter ist die Klinik nicht mehr wegzudenken. Im Fokus dieses Kapitels steht, was die Ärztinnen und Pflegerinnen der Ambulanz tun, um das Leben nach der Transplantation zu gewährleisten. Beleuchtet wird die medizinische Arbeit der Transplantations-Nachsorge, die das Wohlergehen Transplantierter und ihrer Transplantate zum Gegenstand hat: als vielfältiges Ensemble von Tätigkeiten, das sich auf das kontinuierliche Management von Krankheitsverläufen bezieht und gleichermaßen ärztliche wie pflegerische, diagnostische wie therapeutische, dokumentierende wie emotionale Aktivitäten umfasst (vgl. Strauss u. a. 1997; Atkinson 1995). Mit dem Begriff Krankheitsverlauf (illness trajectory) neh-

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men Strauss und seine Kolleginnen neben dem physiologischen Prozess verschiedener Krankheitsphasen (illness course), mit dem Erkrankte im zeitlichen Verlauf einer Krankheit konfrontiert sind, vor allem die in diesen Prozess involvierten Arbeiten und deren zeitliche und räumliche Organisation in den Blick (Strauss u. a. 1997: 8-39). Sie unterscheiden zudem verschiedene Typen von Arbeit, die weniger der im Krankenhaus üblichen Arbeitsteilung zwischen Berufs- und Statusgruppen oder medizinischen Fachgebieten als Merkmalen und Funktionen von Arbeitstätigkeiten folgt: »machine work«, »safety work«, »comfort work«, »articulation work« (ebd.: 8-39). Demgegenüber konzentriere ich mich auf die Regulierungs- und Stabilisierungsarbeit des Ambulanzteams, also die Praktiken, mittels derer es das Management von Post-Transplantationsverläufen bewerkstelligt. Die Aktivitäten der Transplantations-Nachsorge beziehen sich auf das generelle Weiterleben Transplantierter, das Leben mit einem transplantierten Organ und damit einhergehende Gesundheitsprobleme. So können Transplantierte mit verschiedenen Krankheiten konfrontiert sein: Neben chirurgischen Komplikationen betrifft dies primär das erneute Auftreten der Grunderkrankung (Rezidiv), eine immunologische Abstoßungsreaktion oder Folgen der lebenslang notwendigen Medikamente (Immunsuppressiva). Im Zentrum des klinischen Post-Transplantations-Managements steht der transplantierte Körper, genauer gesagt die medizinische Handhabung von Organtransplantaten, Körperfunktionen und Immunsystemen. Die ambulante Unterstützung der Transplantierten beim Leben und damit die Herstellung von Alltag und Normalität nach einer Lebertransplantation wird als Projekt der kontinuierlichen medizinischen Vermessung und Kontrolle, Regulierung und Stabilisierung transplantierter Körper betrieben. Die Praktiken der Transplantations-Nachsorge bzw. der AmbulanzArbeit zielen weniger auf die Herstellung des Alltags Transplantierter als auf die Herstellung der Normalität transplantierter Körper. Normale transplantierte Körper sind gleichzeitig das Kennzeichen von dem und die Voraussetzung für das, was meine transplantierten Gesprächspartnerinnen einen normalen Alltag nennen. Bevor ich auf den Alltag der Ambulanz eingehe, werde ich in das Thema Immunsystem und Immunsuppression einführen (4.1). Danach werde ich erläutern, wie transplantierte Körper in der Ambulanz am Kreuzungspunkt von Klinik und Labor vermessen und immunologisch reguliert werden und zwei Formen der klinischen Herstellung normaler transplantierter Körper analysieren (4.2). Diese Formen der Herstellung von Normalität werden mit dem Blick auf die Interaktion von Medizinerinnen und Patientinnen um eine weitere ergänzt (4.3). Normalität nach der Transplantation wird in der Ambulanz auf der Basis labormedizinischer Diagnostik und klinischer Erfahrung sowie in der Interaktion zwischen medizinischem Personal und Patientinnen hergestellt. Im Zusammenhang mit Letzterer werde ich das Involviert-

4 Organ-Alltage | 125

Sein Transplantierter in klinische Regulierungs- und Normalisierungspraktiken ebenso thematisieren wie ihre Auffassung des ambulanten Therapieregimes und seiner kontrollierenden Effekte für ihren Alltag. Damit wird Alltag explizit zum Thema, diesmal jedoch nicht als Testlauf für Post-Transplantations-Alltage (Kapitel 3), sondern als Organ-Alltag, der medizinisch überwacht werden muss.

4.1 T RANSPLANTIERTE KÖRPER (N ICHT-)N ORMALITÄT

UND IMMUNOLOGISCHE

Der durch die Transplantation neu zusammengesetzte Körper bleibt ein problematischer Körper, der weiter behandelt werden muss. Das Transplantat markiert seine Nicht-Normalität und begründet seinen zwiespältiger Status zwischen Selbst und Nicht-Selbst (siehe S. 14f. & 31ff.). Die Akzeptanz und Integration des gespendeten Organs stellt nicht nur auf den Ebenen der persönlichen Einverleibung und der biografischen Restrukturierung des Selbst eine Herausforderung dar. Es provoziert das Immunsystem, den körpereigenen Mechanismus, dem zugeschrieben wird, dass er zwischen Selbst und Nicht-Selbst unterscheidet, und das »immunologische Selbst« (Obrecht 2003: 55f.).1 Zum Wohle des vom Immunsystem als Fremdkörper identifizierten Organs, das der Gefahr einer immunologischen Abwehrreaktion – nämlich einer Abstoßung – ausgesetzt ist, muss in den transplantierten Körper weiter interveniert werden. Im Gegensatz zur einmaligen Intervention chirurgischer Hände und Instrumente in den Körper während der Transplantation meint Intervenieren hier das stete Regulieren transplantierter Körper. Entscheidend ist dabei das medikamentöse Abschwächen des Immunsystems (Immunsuppression) und damit das Hemmen des Erkennens von Differenz (Cohen 2001: 11f.), der genetischen Unterschiedlichkeit von Spenderin und Empfängerin.2 Der transplantierte Körper ist ein immunolo-

1 | Innerhalb der Immunologie ist die konventionelle wie dominante Auffassung der »selfnonself«-Unterscheidung nicht unumstritten, siehe für eine historische Perspektive Moulin (1989) sowie aktuell Napier (2012) in der Februar-Ausgabe der Cultural Anthropology und die weiteren Artikel zum Thema Immunologie im selben Heft. 2 | Cohen identifiziert auf der Basis seiner ethnografischen Studie zum Organhandel in Indien nicht die über Gewebetypisierung ermittelte Passfähigkeit von Spenderin-Organ und Empfängerin-Körper, sondern die Immunsuppression als zentralen bio-politischen Faktor, der ermöglicht spezifische Bevölkerungsteile (potentielle Verkäuferinnen von Nieren) ›gleich genug‹ zu machen (Cohen 2001: 12). Die Übereinstimmung bestimmter immungenetischer Gewebemerkmale (Histokompatibilitäts-Antigene) spielt zwar bei der Zuteilung von Nieren durch

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gisch manipulierter, instabiler Körper. Von seiner erfolgreichen Stabilisierung ist der Transplantationserfolg abhängig. Eine Abstoßungsreaktion kann jederzeit stattfinden. Form und Schweregrad sind dabei unterschiedlich. Am häufigsten ist die akute Abstoßung. Mit einer kurzfristig hochdosierten Therapie durch gängige Immunsuppressiva hat man diese Variante heutzutage recht gut im Griff. Seltener ist die problematischere chronische Abstoßung, die eine schleichende, im Hintergrund stattfindende und schwer festzustellende wie zu behandelnde Schädigung des Transplantats bezeichnet. Bewertungsmaßstab des Transplantationserfolgs ist daher weniger die chirurgische Leistung, das hochspezialisierte, handwerkliche Gelingen einer, im Fall der Leber, aufwändigen wie komplizierten Operation, sondern ein statistischer Durchschnittswert, der Erfolg in Überlebensraten beziffert und Auskunft über die nach der Operation gelebten Jahre von Transplantaten und Transplantierten gibt. Zentrale Aufgabe der Transplantations-Nachsorge ist deshalb die regelmäßige Beobachtung der Organfunktion und die diffizile Einstellung der Immunsuppression. Diese Aufgabe ist innerhalb der Medizin disziplinär nicht eindeutig zugeordnet. Während die öffentliche Anerkennung von Transplantationserfolgen meist den transplantierenden Chirurginnen zukommt, sind die Protagonistinnen der TransplantationsNachsorge häufig Internistinnen (Frick/Storkebaum 2003: 92f.). Auch wenn die Hauptverantwortung beim Transplantationszentrum verbleibt, ist die Versorgung Transplantierter je nach Zentrum und Organ unterschiedlich organisiert. Mal wird sie an niedergelassene Fachärztinnen oder spezifische Fachabteilungen der Klinik delegiert, mal, wie im hier vorgestellten Fall, in einer Ambulanz gebündelt. Dass im untersuchten Transplantationszentrum die Nachsorge mit der Chirurgie verbunden bleibt, stellte die Leiterin der Ambulanz als »generell eher unüblich« dar. Bemerkenswert sei in diesem Zusammenhang, dass der Chefarzt der Klinik einen Ansatz vertrete, der sich »gegen das Bild vom Chirurgen [wende], der nur ein Handwerker ist, der Patienten jenseits des OP-Tisches kaum bis gar nicht zu Gesicht bekommt«: Wer an seiner Klinik die chirurgische Facharztausbildung absolviert, muss auch ein halbes Jahr in die Transplantationsambulanz und ist in dieser Zeit eben nicht »am Tisch«, wie es im Krankenhausjargon heißt, sondern hat statt mit Operationen mit unzähligen Patientinnen-Gesprächen und »Schreibtischarbeit« (Assistenzarzt) zu tun. Im Fokus ärztlicher Aufmerksamkeit steht dabei weiterhin die Leber – nun nicht mehr als eingeschränkt funktionierendes, Krankheit verursachendes Organ, sondern als Transplantat, dessen fragiler Status vom Immunsystem und von der Immunsuppres-

Eurotransplant eine Rolle, gilt jedoch hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Transplantationserfolg, mit Ausnahme der Knochenmarkstransplantation, als umstritten, zumal Immunsuppression notwendig bleibt.

4 Organ-Alltage | 127

sion abhängt. Interessanterweise war das Immunsystem in meinem Forschungsfeld ein zugleich allgegenwärtiges und abwesendes Thema. Einerseits war es zentraler Gegenstand täglicher Aufmerksamkeit, etwas auf das man reagieren, das man beobachten, kontrollieren und beeinflussen muss. Andererseits war es ein vager, selten explizit erwähnter Referenzpunkt, ein selbstverständlich agierendes Körpersystem im Hintergrund. Mit historischen und zeitgenössischen Vorstellungen vom Immunsystem haben sich die Kulturanthropologin Emily Martin (1994) sowie die Biologin und feministische Wissenschaftsforscherin Donna Haraway (1996) beschäftigt. Ausgangspunkt wie Gegenstand ihrer Kritik ist das populäre Bild des Immunsystems als rigorosem und aggressivem Verteidigungsapparat. In Darstellungen von Laiinnen, AlternativMedizinerinnen und Immunologinnen (Martin 1994: 45-112) sowie innerhalb der heterogenen Diskurse der Immunologie (Haraway 1996: 308) haben die zwei USamerikanischen Wissenschaftlerinnen Ansätze für alternative Sichtweisen auf das Immunsystem gefunden. Ihnen zufolge hat sich seit den 1960er Jahren ein Verständnis des Körpers als dynamisch vernetztem System durchgesetzt: Die Idee eines Körpers als Festung, der von der Außenwelt klar abgrenzbar ist und der als arbeitsteilig und hierarchisch organisiertes System gedacht wird, wurde von einer Vorstellung des Körpers als ausgeklügeltem System ineinandergreifender Selbststeuerungen und Rückkopplungen abgelöst (ebd.: 322). Damit verschob sich die immunologische Aufmerksamkeit von äußeren Bedrohungen, denen durch spezifische Maßnahmen wie Hygiene Einhalt geboten werden kann, auf Bedrohungen und Abwehrmechanismen innerhalb des Körpers (Martin 1994: 24-37). Die Idee eines sich ständig verändernden Körpers kennzeichnen Haraway und Martin als paradigmatisch für eine neue Art, über den Körper und das Selbst zu sprechen. Dieser Körper bzw. dieses Selbst lernt dazu, antizipiert das Fremde und reagiert schnell, flexibel und spezifisch. Martin diskutiert die Idee flexibler Körper vor dem Hintergrund des postfordistischen Produktions- und Arbeitsregimes und bezeichnet das Immunsystem als »Schlüsselgarantie für Gesundheit« im 20. Jahrhundert (Martin 2002: 33), während Haraway das Immunsystem aus Sicht postmoderner Biopolitik als »Ikone für Systeme symbolischer und materieller ›Differenz‹ im Spätkapitalismus« beschreibt (Haraway 1996: 309). Blickt man mit Martin und Haraway auf die Transplantationsmedizin, mag zwar das Bild einer mechanischen Körper-Maschine mit ausgetauschtem Ersatzteil plausibel sein. Dieses Bild wirkt jedoch spätestens dann zu begrenzt, wenn es um die immunologische Aktivität und Regulierung transplantierter Körper geht. Zugleich stellt sich im Transplantationskontext die Frage des immunologischen Erkennens von Körper-Eigenem und Körper-Fremdem, das Haraway und Martin im Kontext der De-

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batten um HIV/AIDS in den 1980er und 1990er Jahren diskutieren, anders: Hier geht es statt um die Antizipation molekularer Gleichheit und Differenz um die Unterdrückung des Systems, das eigen und fremd erkennt (Cohen 2001: 10f.). Was genau ist damit gemeint? Eine Variante, wie Immunsuppression erzählt werden kann, lernte ich durch ein Computerspiel des Pharmakonzerns Novartis kennen, lange bevor ich das Transplantationszentrum als Forscherin betrat. Novartis ging unter anderem aus der Firma hervor, die das Immunsuppressivum Ciclosporin entwickelt und damit in den 1980ern die Routinisierung der Transplantationsmedizin vorangetrieben hatte. Das Unternehmen bietet auf einer Webseite Informationen zum Thema Organtransplantation und immunsuppressive Therapie für Patientinnen, Fachkreise und andere Interessierte an. Mitte der 2000er Jahre konnte das Computerspiel TransWars heruntergeladen werden.3 Was aus der Perspektive einer Computerspielerin die zigste Variante eines klassischen Jump-’n’-Run-Spiels darstellte, bot interessantes Material zu Körperbildern. Der Name des Spiels deutet es an: Hier muss gekämpft und geballert werden, was die Tastatur hergibt. Ausgestattet mit der Spielfigur »Hilde Herz«, »Norbert Niere« oder »Ludwig Leber« – im Comic-Stil gezeichnete Organe, deren behandschuhte Hände Spritzen wie Pistolen halten – läuft und springt die Spielerin durch die Blutbahn. Umherschwebende rote Blutkörperchen helfen, den von Abgründen und Höhenunterschieden gekennzeichneten Weg durch den Körper zurückzulegen. Ständig gilt es, sich gegen kleine und große Makrophagen, B- und T-Zellen mit grimmigem Blick und mitunter Reißzähnen zur Wehr zu setzen und diese Angreiferinnen abzuschießen. Ihre Schusskraft oder Munition erhält die Spielerin durch das Einsammeln von sechs Medikamenten, von denen eins aussieht wie ein Pilz und auf das aus einem Pilz gewonnene Ciclosporin verweist. Ein anderes Medikament lässt gerade die zu bekämpfenden Zellen, die sich vermehren, erstarren als wären sie eingefroren, hemmt also wie viele Immunsuppressiva deren Zellteilung. Schafft es die Spielerin nicht, die diversen Zellen des Immunsystems auf Distanz zu halten, und wird der Organ-Avatar von diesen berührt, wird er von einer Art Husten-Brechreiz geschüttelt und geschwächt – eine interessante Verbildlichung des Begriffs Abstoßung – und die Spielerin verliert Lebenspunkte. Zum Ausgleich können kleine Herzen eingesammelt werden, um die Lebenskraft wieder zu erhöhen. Am Ende muss ein riesiger Lym-

3 | Siehe http://www.novartistransplantation.de; das 2003 entwickelte Spiel wurde inzwischen durch ein themenunspezifisches Spiel ersetzt. Warum TransWars ersetzt und wie lange es auf der Seite angeboten wurde, konnte ich mittels telefonischer Anfrage im November 2011 genauso wenig in Erfahrung bringen wie Zweck oder Adressatinnen beider Spiele auf dem Informationsportal.

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phozyt, der permanent neue kleine Leukozyten produziert, mehrfach komplett abgeschossen werden. Nach erfolgreichem Absch(l)uss jubelt der Organ-Avatar hüpfend, die zur Faust geballte Hand nach oben reißend: »You did it!« Die immunologische Abstoßung, das heißt die Schädigung und Zerstörung des Organs wurde abgewehrt. TransWars zeichnet ein Bild vom Körper im Kriegszustand. Entgegen der üblichen Rhetorik eines sich verteidigenden inneren Selbst und eines zu bekämpfenden äußeren Nicht-Selbst wird das Immunsystem jedoch nicht von außen, sondern von innen angegriffen und überdies selbst zum lebensbedrohlichen Feind, der das lebenswichtige Organ fälschlicherweise bekämpft und deshalb abgewehrt werden muss. Das Spiel betont das Zerstörungspotential von Immunsystem wie Immunsuppression: Transplantiertes Weiterleben muss auf Kosten des Immunsystems rücksichtslos erkämpft werden. Das Immunsystem ist in TransWars weder besonders komplex noch flexibel. Die aus der Transplantation resultierende Uneindeutigkeit von Selbst und Nicht-Selbst wird in einer eindeutigen, wenn auch umgekehrten, Rollenzuteilung von Freund (Transplantat) und Feind (Immunsystem) aufgelöst. Dabei werden genau die altbekannten militärischen Metaphern des Immunsystems aufgerufen, die Emily Martin und Donna Haraway infrage gestellt haben. Die Transplantations-Nachsorge, die ich in der Ambulanz kennen lernte, denkt und behandelt transplantierte Körper hingegen als ein dynamisches System – ein System, das aufgrund seines Eigenlebens nicht beherrscht, aber partiell beeinflusst werden kann. Im Gegensatz zum TransWars-Szenario wirkte das zur Beschreibung von Immunsystemen benutzte Vokabular von Medizinerinnen wie Transplantierten erst einmal friedfertig. Das Immunsystem selbst war kaum ein Thema. Stattdessen ging es um Immunsuppressiva, deren Nebenwirkungen und Konsequenzen sowie um Medikamentenspiegel, Tablettenzahlen und Verhaltensregeln. Transplantierte sprachen davon, dass ihr Immunsystem durch Medikamente »gedrosselt«, »runtergefahren« oder »herabgesetzt« wird, während Medizinerinnen erklärten, dass die Immunsysteme Transplantierter »gezähmt«, »reguliert« oder »kontrolliert« werden (müssen). Und auch Novartis vermerkte auf dem Informationsportal nur wenige Maus-Klicks von TransWars entfernt, dass unter Immunsuppression »das Bremsen oder Stilllegen von Teilen des Abwehrsystems des Körpers« zu verstehen ist. Gegenüber diesen Begrifflichkeiten erscheint die Kriegsmetaphorik von TransWars fast altmodisch: Was hier aufgerufen wird, erinnert in der (Bild-)Sprache eher an aktuelle Formen militärischer Auseinandersetzung (Aufstandsbekämpfung, militärische Polizeieinsätze etc.). Letztlich stellen die verwendeten Verben aber ebenso klar, dass Körper bzw. Immunsysteme wenn auch nicht bekämpft so gefügig gemacht und unter Kontrolle gebracht werden müssen.

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Immunsysteme können bisher jedoch nur unvollständig »gezähmt« werden: Das Immunsystem kennt keine Toleranz gegenüber dem körperfremden Transplantat und gefährdet daher permanent den Transplantationserfolg. Immunsuppressiva stellen keine Erziehungsmaßnahme dar, bei der das Immunsystem wie bei einer Impfung dazulernt. Stattdessen sind sie ein Mittel, das spezifische Bestandteile des Immunsystems und ihre Funktion, wie die Aktivierung oder Vermehrung von bestimmten Leukozyten, Antikörpern und immun(zellen)stimulierenden Botenstoffen, unterbindet, einschränkt oder vermindert. Reguliert oder beeinflusst wird die normale (gängige) Immunantwort. Um einer Abstoßung vorzubeugen und somit transplantiertes Weiterleben zu ermöglichen, wird das Immunsystem zwar nur partiell, aber dauerhaft unterdrückt. Was meine transplantierten Gesprächspartnerinnen als normalen Alltag bezeichnen, basiert auf ihrer mittels Medikamenten hergestellten wie kontrollierten immunologischen Nicht-Normalität. Diese Nicht-Normalität hat Konsequenzen, die nicht allein die Funktion des Transplantats betreffen. So ging es in den Gesprächen mit Transplantierten häufig um die Folgen eines »starken« oder »schwachen Immunsystems« für Körper und Alltag. Sie betonten dabei stets die Bedeutung des Immunsystems für ihre generelle Gesundheit: Einerseits soll es nicht zu stark sein, damit es nicht zu einer Abstoßungsreaktion kommt, andererseits soll es nicht zu sehr geschwächt werden. Denn die erwünschte Wirkung von Immunsuppressiva stellt, insofern der Körper von Transplantierten durch sie anfälliger für Infektionen wird, gleichzeitig eine unerwünschte ›Nebenwirkung‹ dar. Daher ist das Management transplantierter, immunsupprimierter Körper bisweilen kompliziert – z. B. im Fall Lebertransplantierter mit chronischer Hepatitis C, die nach der Transplantation nahezu alle, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Verlaufsform, von einer Re-Infektion der Transplantatsleber betroffen sind (Bahra u. a. 2007). Ihr Immunsystem wird einerseits zum Schutz vor einer Abstoßung herabgesetzt, andererseits zum Schutz gegen den Virus durch immunstimulierende Medikamente temporär angeregt, »gewissermaßen aufgeputscht« (Arzt). Darüber hinaus galten gerade in Bezug auf die Leber, die unter anderem für den Abbau körperfremder Stoffe zuständig ist, »alle Medikamente« als möglichst zu vermeidendes »Gift« (mehrere Ärztinnen), unabhängig davon, ob es sich um stark wirksame Medikamente wie Immunsuppressiva oder Magnesium-Tabletten zur Behandlung von Mangelerscheinungen handelte. Besonderes Augenmerk gilt den Immunsuppressiva, die ein Arzt gegenüber einer Patientin so beschrieb: »Das sind schwer giftige Medikamente, die viele Nebenwirkungen haben: Ich bräuchte allein zehn Minuten, um ihnen alle Nebenwirkungen aufzuzählen – ohne sie zu erklären«. Zu den nicht unerheblichen Nebenwirkungen zählen, neben der Infektanfälligkeit, die akute Episoden von Krankheit wahrscheinlicher und aufgrund des niedrigen Immunstatus langwieri-

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ger und/oder problematischer macht, insbesondere mittel- und langfristig auftretende Probleme wie erhöhte Risiken für Krebs- und Hauterkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes und daraus resultierende Herz-Kreislauf-Probleme, Osteoporose oder gar Niereninsuffizenz. Von Ärztinnen wurde mir die Praxis der Immunsuppression vor diesem Hintergrund in erster Linie als »ein Balance-Akt« oder »eine Gratwanderung« beschrieben – »zwischen Schaden und Nutzen«, »zuviel und zuwenig« Immunsuppression. Jenseits der massiven Hemmung des Immunsystems in der ersten Zeit nach der Transplantation gehe es darum, diese nach und nach wieder zu verringern und, so eine oft verwendete Formel, »das delikate Gleichgewicht« zwischen einem »zu starken und zu schwachen Immunsystem«, also zwischen Abstoßungsrisiko und erhöhtem Infektions- und Nebenwirkungsrisiko, herzustellen. Ziel wie Herausforderung der hochgradig individuell abgestimmten Einstellung der Immunsuppression ist, den Ärztinnen zufolge, die jeweils passende Zusammensetzung und Dosierung von Immunsuppressiva zu finden. Das Gleichgewicht herzustellen, heißt dann laut den Ärztinnen, »die günstigste Kombination« und »die am geringsten nötige Erhaltungsdosis« zu ermitteln, damit Transplantierte »so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich« Immunsuppressiva einnehmen. »Delikat« ist das Gleichgewicht zudem, weil es keinen endgültigen Zustand gibt, der dann nur noch beibehalten werden müsste (siehe auch S. 121). Vielmehr ist es ein instabiles, das heißt Änderungen unterworfenes und Anpassungen erforderndes Abhängigkeitsverhältnis von Immunsystem, Transplantat und Immunsuppression, deren Beziehung mitunter neu justiert oder, wie es ein Arzt gegenüber einem Patienten mit milder Abstoßungsreaktion ausdrückte, »erneut ins rechte Gleis gebracht« werden muss. Um stabil gehalten zu werden, muss transplantiertes Weiterleben also immunologisch immer wieder ausbalanciert werden. Während es in TransWars an der Spielerin liegt, ob sie das Organ durchbringt und die erfolgreiche Akzeptanz des Organs nach etwa zwölf Minuten Spielzeit verwirklicht werden kann, bleibt die Unterdrückung von Immunsystemen in der Transplantations-Nachsorge eine niemals endende und, aufgrund ihrer Nebenwirkungen, sensible Aufgabe. Zur Bewältigung dieser Aufgabe steht Medizinerinnen wie bei TransWars ein Arsenal potenter Medikamente und Wirkstoffe zur Verfügung, das in pharmazeutischer und klinischer Forschung weiterentwickelt und erprobt wird. Doch das komplexe biochemische Immunsystem wird, wie Mitarbeiterinnen des Transplantationszentrums mir gegenüber häufiger klarstellten, nach wie vor in vielerlei Hinsicht nicht verstanden. Beispielsweise werde das Risiko einer Abstoßungsreaktion für Lebertransplantierte als etwas geringer eingeschätzt, da die Leber im Vergleich zu anderen Organen, die transplantiert werden, immunologisch »gutmütiger«, »robuster« und »weniger anfällig« sei. Warum das so ist, wisse man bisher nicht genau. Letztlich

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kommt das Immunsystem in diesen Darstellungen einer kaum oder nur unvollständig entschlüsselten Black Box gleich. Im Schnittfeld von Transplantationsmedizin und Immunologie ist das Immunsystem eine zugleich relevante und unberechenbare, nur in Teilen bekannte wie unstete Größe: ein System oder Objekt, in das mit Transplantat und Immunsuppression interveniert wird (Input) und das darauf in unterschiedlicher Ausprägung mit Abstoßung und Infektanfälligkeit reagiert (Output). Der Begriff Black Box beschreibt hier weniger ein Modell, das darauf abzielt, die inneren Mechanismen eines komplexen Objektes zugunsten der Analyse von Input-OutputBeziehungen zu vernachlässigen (Latour/Woolgar 1986: 242; Latour 1987: 22ff.), als den Umstand, dass der Transplantations-Nachsorge, zumal als klinischem Anwendungsbereich, bisher nicht viel anderes übrig bleibt, als sich auf In- und Output zu konzentrieren.4 Das Wissen und Nichtwissen zu Immunsystemen steht zwar nicht im Vordergrund der in Kapitel 4 vorgenommenen Analyse zur klinischen Herstellung von Alltag und Normalität. Dennoch werde ich in der Analyse der Art und Weise, wie Medizinerinnen Immunsysteme Transplantierter behandeln oder handhaben, auch darauf eingehen, auf welchem Wissen diese Handhabungen basieren. Meine Perspektive gründet dabei zum einen auf wissensanthropologischen Ansätzen, die sich mit unterschiedlichen Arten zu wissen beschäftigen und von der Interaktivität und Positionalität von Wissen ausgehen (vgl. Harris 2007). Zum anderen ist sie geprägt durch Studien aus dem interdisziplinären Feld der Wissenschaftsforschung, die wissenschaftliches Wissen als Praxis oder in Aktion in den Blick genommen haben und damit der Frage nachgegangen sind, unter welchen Umständen Wissen produziert, angewendet, validiert, transformiert und legitimiert wird (z. B. Latour/Woolgar 1986; Knorr Cetina 2002). Mit diesen Ansätzen folge ich einem Verständnis von Wissen als instabilem Produkt einer situierten, individuellen wie kollektiven Praxis und werde am Beispiel der klinischen Praxis der Transplantations-Nachsorge verdeutlichen, dass Wissen eine Ressource ist, die sich in kontinuierlicher Überarbeitung befindet. Darüber hinaus wirft der Umstand, dass Immunsysteme seitens der Medizinerinnen teilweise unverstanden sind, die Frage auf, wem bei der Immunsuppression oder Stabilisierung transplantierter Körper Handlungsfähigkeit zukommt oder wie sich Handlungsträgerschaft verteilt – also die Frage nach der agency in diesen komplexen Stabilisierungsprozessen.

4 | Anlässlich des sehr seltenen Falls eines Transplantierten, der nach 13 Jahren Immunsuppression komplett ohne Immunsuppressiva lebte (zum Zeitpunkt des Gesprächs bereits seit einem Jahr), erklärte mir ein Arzt, dass es etliche mehr oder weniger erfolgreiche Studien zu diesem Weglassen der Immunsuppression gebe, allerdings mit Mäusen, zumal solchen, deren »Immunsysteme noch nichts kennen« würden.

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Der englische Begriff agency bezieht sich in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskussion meist auf das Handlungsvermögen, die Handlungsmacht oder Handlungspotentiale von Akteurinnen und wird häufig als Handlungsfähigkeit (Ahearn 2001) übersetzt. Er lenkt den Blick auf das Verhältnis von Individuum und sozialer Struktur sowie auf die Frage, inwiefern oder innerhalb welcher Grenzen es Individuen möglich ist, im Hinblick auf soziale oder kollektive Akteurinnen und Strukturen zu handeln oder Strukturen zu verändern. Die Frage, wie das Spannungsverhältnis von Individuum und Struktur konkret gestaltet ist und zu welcher Seite hin es womöglich aufgelöst werden kann, beschäftigt einen Großteil der Kultur- und Sozialtheorie und ist dort ein Dauerbrenner theoretischer wie empirischer Verhandlung (vgl. Bourdieu 1979; Giddens 1988; Ortner 1984, 2006: 129-153). In den letzten 20 Jahren sorgten insbesondere Ansätze aus dem Feld der Wissenschafts- und Technikforschung für neuen Diskussionsstoff, da sie den üblichen Fokus auf soziales Handeln als menschliches Handeln kritisierten und genereller die etablierte Unterscheidung zwischen Sozialem und Technischem (z. B. Latour/Woolgar 1986) oder zwischen Natur und Kultur (z. B. Haraway 1991) hinterfragten und zugunsten einer Betonung ihrer Verwicklungen aufbrachen. Arbeiten im Bereich der Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Callon 1986; Latour 1996, 2005) stellen deshalb menschlichen Akteurinnen nichtmenschliche Aktanten zur Seite, mehr noch heben deren permanente Verbindung in soziotechnischen Konstellationen und ihre Verflechtung in Akteur-Netzwerken hervor, durch die Handlungen, als verteiltes Handeln oder Ergebnis verteilter Handlungsträgerschaft (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002), erst zustande kommen. Der Mainzer Soziologe Stefan Hirschauer, der sich für die Praktiken von Körpern interessiert, nimmt nicht-menschliche Akteure als materielle »Partizipanden sozialer Prozesse« in den Blick, »die an Praxis teilhaben und in ihre Dynamik verwickelt sind (Hirschauer 2004: 74). Körper sind dann nicht allein Ergebnis von Praktiken, sondern stecken »in den Praktiken« (ebd.: 75, Hervorhebung im Original). Was damit gemeint ist, illustriert Hirschauer unter anderem am Beispiel der Chirurgie und der Art und Weise, wie chirurgische Praxis bestimmte Körper hervorbringt (Hirschauer 2004: 8388; vgl. auch Hirschauer 1996). Körper ist hier im Sinne der niederländischen empirischen Philosophin Annemarie Mol (2002) kein bereits gegebenes, sondern ein »multiples« Objekt, das in spezifischen Praktiken jeweils »enacted«, das heißt aufgeführt und aktualisiert, hergestellt und umgeformt wird. Mit einer solchen Perspektive richtet sich der Untersuchungsfokus dann nicht darauf, wer welche Handlungspotentiale (nicht) hat, sondern darauf, wen und was Praxis in welcher Art und Weise einbezieht (Hirschauer) oder wie Körper oder Krankheit durch multiple situierte Praktiken hergestellt werden (Mol). Ich verabschiede mich in diesem Kapitel nicht gänzlich von der Frage nach den Handlungsmöglichkeiten, stelle diese jedoch hintenan. Inspiriert

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von den Arbeiten Hirschauers und Mols nehme ich die Praxis der Immunsuppression und die daran Beteiligten – Medizinerinnen wie Tabletten, Messwerte wie Patientinnen – in den Blick. Mein Ziel ist dabei nicht, die Erzeugung von Körpern in Praxis zu zeigen, sondern die Erzeugung der Normalität(en) transplantierter Körper und transplantierten (Weiter-)Lebens.

4.2 T RANSPLANTIERTE KÖRPER

UND IHRE

V ERMESSUNG

Die zentrale Aufgabe der Transplantations-Nachsorge besteht darin, transplantierte Körper und ihre Funktionen zu beobachten, zu (ver)messen, zu regulieren, zu kontrollieren und zu stabilisieren sowie schließlich die Konsequenzen der verschiedenen Eingriffe in transplantierte Körper abzuwägen. Die Lebertransplantationsambulanz ist der Ort, an dem sich diese Praktiken abspielen, sie soll im Folgenden noch einmal im Zusammenhang vorgestellt werden. Organisatorisch gehört die von Montag bis Freitag geöffnete Lebertransplantationsambulanz zum Transplantationszentrum bzw. zur chirurgischen Klinik des Krankenhauses. Seit Ende 2008 hat die Ambulanz den Status eines medizinischen Versorgungszentrums (MVZ), was ihre Möglichkeiten der direkten Kostenabrechnung gegenüber den Krankenkassen verbessert hat.5 Zu den fest angestellten Mitarbeiterinnen der Ambulanz zählten während meiner Forschungszeit eine Ärztin und fünf Krankenschwestern, von denen drei immer anwesend waren. Die Ärztin, Dr. Seitz, leitet die Ambulanz nahezu seit ihrem Bestehen, seit etwa 20 Jahren. Drei der Krankenschwestern – eine von ihnen die in Kapitel 3.1 begleitete Schwester Britta – arbeiten auf einer Dreiviertel-Stelle. Die anderen zwei, mit je einer halben Stelle, gingen zum Ende meiner Forschungszeit in Rente. Ihre Stellen wurden infolge Personalabbaus nicht wieder besetzt. Im Gegensatz zu anderen Krankenhausstationen, auf denen es eine hohe Personalfluktuation gibt, bestand das Ambulanzteam aus Mitarbeiterinnen, die seit etlichen Jahren zusammenarbeiteten. Für personelle Verstärkung sor-

5 | Vorher bekam sie als Hochschulambulanz von den Krankenkassen pro Patientin und Quartal einen zweistelligen Pauschalbetrag, der dem Personal zufolge nicht einmal die Kosten für die Laborkontrollen der Transplantierten deckte. Die Gründung eines MVZ war daher betriebswirtschaftlich sinnvoll, da die Verluste der Ambulanz seitdem weniger zu Lasten des chirurgischen Budgets der Klinik geht. Seitens der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ging es bei der Einführung von MVZs darum, Einrichtungen zu schaffen, die Patientinnen an einem Ort fachübergreifend ambulant versorgen (siehe http://www.kbv.de/koop/8791.html, [letzter Zugriff: 15.8.13]).

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gen Assistenzärztinnen, die im Rahmen ihrer Facharztausbildung für die Allgemeine Chirurgie ein halbes Jahr in der Ambulanz absolvieren.6 Zwei von ihnen, eine Ärztin und einen Arzt, begleitete ich während ihrer Ambulanz-Zeit regelmäßig. Weitere Assistenzärzte lernte ich eher auf einer Ein-Tages-Basis kennen, entweder als ›Ehemalige‹, die ihre Zeit in der Ambulanz schon hinter sich hatten und als Krankheitsoder Urlaubsvertretung aushalfen, oder weil ich der Ambulanz zum Ende meiner Forschung nur noch kurze Besuche abstattete. Gelegentlich wurde die Ambulanz durch eine als ›Springerin‹ arbeitende Pflegerin, eine Pflegerin in Ausbildung oder einen Zivildienstleistenden aus der allgemeinen chirurgischen Ambulanz unterstützt. Mit der chirurgischen Ambulanz teilt sich die Transplantationsambulanz darüber hinaus zwei Räume – das in Kapitel 3.1 erwähnte »Wohnzimmer« für Informationsgespräche und ein Untersuchungszimmer mit Ultraschallgerät, in dem die Leberpunktionen stattfinden. Generell bilden drei miteinander verbundene Räume, ein daran angrenzender, als Wartebereich dienender Gang und zwei davon abgehende Zimmer für Untersuchungen und für Gespräche das kompakte Raum-Ensemble der Ambulanz. Den zentralen und größten Raum betritt man durch eine Tür mit der Aufschrift »Zutritt nur für Personal«. Er enthält drei Schreibtische, je einer für die zwei Ärztinnen und einer für die Krankenschwestern, sowie mehrere Aktenschränke. An einer Raumseite gehen zwei Zugänge (meist offene Türen) zu den anderen zwei Räumen des Ensembles ab, durch die man wiederum in den Wartebereich gelangt. Der eine Raum, der einzige, den auch Patientinnen betreten, kann als Hoheitsgebiet der Krankenschwestern bezeichnet werden. Er dient der Blutabnahme und beherbergt neben den dafür notwendigen Utensilien einen Computer-Schreibtisch. Im anderen, wesentlich kleineren und fensterlosen Raum befinden sich weitere Aktenschränke sowie ein Fax- und Kopiergerät. Das Besondere und für die Feldforschung Vorteilhafte an dieser Raum-Aufteilung war, dass die Tätigkeiten der Ärztinnen und Krankenschwestern auf engstem Raum, in Hör- und Sichtweite voneinander, stattfanden. Innerhalb des Ambulanzteams spielte die übliche Arbeitsteilung entlang der Einteilung in Berufsund Statusgruppen und davon abgeleiteten Zuständigkeiten genauso eine Rolle wie das verschiedene Wissen, das Mitarbeiterinnen als »alter Hase« (die Arbeitsbiografie betreffende Zuschreibung im Team) oder als halbjährlich wechselnde Assistenzärztin mit(ein)brachten. Was ich beschreibe, sind generelle Praktiken der Transplantations-

6 | Bundesweit beträgt der Anteil von Frauen in der Chirurgie etwa 16% (Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie im Mai 2009; http://www.thieme.de/ specials/presseservice/dgch/meldungen/2009/frauen.html [letzter Zugriff: 15.8.13]).

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Nachsorge, konkret jedoch die in diesem Zentrum und Team etablierten Arbeitsroutinen. Vom Schweigen und Sehen von Organen Der französische Chirurg René Leriche schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts: »Gesundheit ist das Leben im Schweigen der Organe« (zit. n. Canguilhem 1977: 58). Dass diesem Schweigen nicht ausnahmslos zu trauen ist, wissen nicht nur Medizinerinnen. Die Lebertransplantierten, die ich in meiner Forschung begleitete, erfuhren es am eigenen Leib. Organe bzw. deren beeinträchtigte Funktion spürt man nicht unbedingt. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um die Leber handelt. Die in den Kapiteln 3.2 und 3.4 präsentierten Rückblenden verdeutlichten, dass die Schädigung, eingeschränkte Funktion oder gar das Versagen der Leber eher von Ärztinnen diagnostiziert als von meinen transplantierten Gesprächspartnerinnen bemerkt wurde. Sie registrierten, dass etwas nicht stimmte, dass sie müde und kraftlos waren und ihnen die Bewältigung alltäglicher Routinen schwerfiel. Aber erst die medizinische Untersuchung stellte einen Zusammenhang zwischen diesen Erfahrungen einer gewissen Alltagsunfähigkeit oder körperlichen Schwäche und der Leber her. Erst die Diagnose identifizierte eine Lebererkrankung. Die Chirurginnen erklärten den Patientinnen, dass die Leber unbemerkt arbeitet wie leidet. Da sie keine Nerven (Schmerzrezeptoren) habe und nicht wehtun könne, schmerze im Vorfeld einer Transplantation, wenn überhaupt, eher die Gallenblase oder im Falle einer stark vergrößerten Leber das umliegende Bauchgewebe. Die Auffassung, dass die Leber selbst nicht spürbar ist, wurde zwar von einigen Transplantierten angezweifelt, trotzdem war die Aussage »man merkt es (ja) nicht« typisch, wenn meine Gesprächspartnerinnen über die Wahrnehmung ihrer erkrankten Leber, ihres Lebertransplantats oder eine potentielle Abstoßungsreaktion sprachen. »Ich merk’s ja gar nicht, dass ich transplantiert bin. Ich merke nur, dass es mir gut geht«, erläuterte beispielsweise Pia Krüger, wie mehrere andere, warum sie nicht das Gefühl habe, »dass da irgendein Fremdkörper in [ihr] drin ist«. Ein gutes Jahr nach ihrer Lebertransplantation hatte sich die Mitte 60-Jährige körperlich nicht nur erholt, ihr sich vorher durch die Krankheit bemerkbar machender Körper war, was sein Funktionieren anbelangt, für sie wieder selbstverständlich und ihre Leber in dieser Hinsicht wieder ›abwesend‹. Häufiger verwiesen Gesprächspartnerinnen mit der Formulierung »nicht merken« auf die Grenzen bzw. die Unzuverlässigkeit ihrer körperlichen Wahrnehmung oder Selbstbeobachtung – gerade im Hinblick auf das Erkennen einer Abstoßungsreaktion. Einerseits werden Transplantierte dazu angehalten, selbst auf mögliche Warnzeichen einer Abstoßungsreaktion – z. B. Fieber, Kälteschauer, Schmerzen im Bauchraum, Verfärbungen von Stuhlgang und Urin oder

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schnelle Gewichtszunahme – zu achten und bei Auftreten dieser Symptome sofort das Transplantationszentrum zu benachrichtigen. Andererseits werden sie darüber informiert, dass eine Abstoßungsreaktion oftmals nicht anhand dieser unspezifischen Symptome von ihnen selbst »bemerkt« werden kann, sondern von Ärztinnen anhand der Veränderung der Laborwerte »festgestellt« werden muss. In den Worten eines Lebertransplantierten: »Die [Labor-]Werte sagen, ob es einem gut geht.« Die darin angesprochene Abhängigkeit Transplantierter von medizinischen Techniken der Körperbeobachtung, brachte eine herztransplantierte Gesprächspartnerin, die ich 2005 als Mitarbeiterin des eingangs erwähnten EU-Projektes traf (siehe Fn.5 S. 5), auf den Punkt: »Man muss sich ja ständig angucken lassen – weil ich ja nicht in mich reingucken kann!« Um in Körper hineinzuschauen, kann die gegenwärtige Medizin auf vielfältige Techniken der diagnostischen Körpervermessung zurückgreifen, die ganz unterschiedliche Einsichten in Körper erlauben. In der Transplantations-Nachsorge gehören dazu insbesondere Untersuchungen von Blut und Urin, Ultraschalluntersuchungen der Leber (Doppler-Sonografie) sowie die Leberbiopsie, die mikroskopische Untersuchung des Lebergewebes durch Pathologinnen. Ferner runden im untersuchten Zentrum das Röntgen des Brustkorbs (Röntgen-Thorax), das Elektrokardiogramm (EKG) und die Messung der Knochendichte bzw. des Knochenkalksalzgehaltes (Dual-Röntgen-Absorptiometrie) das Programm der Check-up-Untersuchung nach der Transplantation ab. Diesem ausführlichen, eineinhalb Tage dauernden Checkup müssen sich Lebertransplantierte sechs und zwölf Monate nach der Transplantation und anschließend alle zwei bis drei Jahre unterziehen. Spätestens für diese Untersuchungen kehren sie in ihr Transplantationszentrum zurück. Im Zentrum der Untersuchungen, die auf unterschiedliche Weisen Leberaktivitäten, Lebergewebe und Gallenwege in den Blick nehmen bzw. in Körper eindringen, steht die Leberfunktion. Darüber hinaus spielen beispielsweise bei der Messung der Knochendichte mögliche Folgen der langfristigen Einnahme von Immunsuppressiva wie Osteoporose eine Rolle. Dass der »klinische Blick« Körper und Krankheit sehr spezifisch sieht und folglich auf bestimmte Art und Weise Wahrheit über Körper produziert, hat Michel Foucault in Die Geburt der Klinik ausführlich dargelegt (Foucault 2002). Was und wie Ärztinnen sehen, beschreibt er darin als »Wahrnehmungsakt« (ebd.: 123), der Sehen, Berühren und Hören auf besondere Weise konfiguriert (ebd.: 177). Ferner ist dieser Blick vom pathologisch-anatomischen Wissen »unsichtbarer Sichtbarkeit« gekennzeichnet (ebd.: 179), also einem Wissen, das sich auf Tod und Tote (Leichen) bezieht (ebd.: 155-160) und zwischen dem Normalen und dem Pathologischen differenziert (ebd.: 52f.). Die Ärztinnen der Ambulanz sehen die Leber – im Gegen-

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satz zu den transplantierenden Chirurginnen des Zentrums oder den von Foucault beschriebenen, Leichen öffnenden Medizinern, die am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert die pathologische Anatomie konstituierten – nicht mit bloßem Auge, sondern technisch vermittelt. Sie beugen sich weniger über Körper als über Zahlen, Diagramme, Kurven, Bilder oder Texte, die Kolleginnen aus der Radiologie, Kardiologie, Pathologie etc. generiert und zum Teil bewertet haben. Was sie sehen, sind die in Zahlen ausgedrückten Stoffwechselprodukte der Leber und der Aktivitäten von Leberenzymen im Blut, die mittels Schallwellen und in Form von Bilddaten sichtbar gemachte Leberstruktur oder pathologische Beschreibungen zum feingeweblichen Aufbau der Leber, z. B. dem Grad ihrer Verfettung oder Vernarbung. Diese Ergebnisse unterschiedlicher Körper- und Leber-Einblicke dienen den Ärztinnen dazu, Post-Transplantationsverläufe zu beurteilen. Was in den täglichen Urteilen des Ambulanzpersonals als »unproblematisch« oder »auffällig« gilt, ist dann eine Frage der Grenzziehung. Mit dieser Grenzziehung, dem Verhältnis des Normalen zum Pathologischen in der Medizin, hat sich der französische Philosoph und Arzt Georges Canguilhem eingehend beschäftigt. Beim Normalen wie beim Pathologischen handle es sich nicht – so sein zentrales Argument – um faktische Gegebenheiten oder wissenschaftliche Tatsachen, sondern um situationsspezifisch ausgehandelte Werte (Canguilhem 1977). Er widerspricht der im 19. Jahrhundert durch Auguste Comte über die Medizin hinaus berühmt gewordenen Idee des französischen Mediziners François Broussais, das Pathologische und das Normale als zwei gegensätzliche Pole oder Extreme eines Kontinuums zu fassen und das Pathologische als quantitative Abweichung vom Normalzustand zu begreifen (Canguilhem 1977: 16, 19-37; vgl. auch Hacking 2004: 160-169). Eine solche Definition ist Canguilhem zufolge nur durch die Bezugnahme auf eine Norm möglich (Canguilhem 1977: 72): Das biologisch Normale offenbare sich erst durch die Verletzung einer Norm und basiere damit auf einem Werturteil (ebd.: 77f.). Auch das Pathologische sei nicht einfach das (Ver-)Fehlen einer Norm, sondern »eine andere Norm« (ebd.: 96). Daher gebe es statt einer objektiven Krankheitslehre oder einer Wissenschaft vom Normalen (ebd.: 155) nur »eine Wissenschaft von den als normal geltenden biologischen Situationen und Bedingungen« (ebd.: 156, Hervorhebung im Original). Was darin als normal gilt, beziehe sich einerseits deskriptiv auf einen statistischen Durchschnitt, andererseits normativ auf ein therapeutisches Ideal (ebd.: 81). Gerade in dieser Kopplung von Beschreibung und Setzung liegt für den kanadischen Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking ›die Magie‹ des Wortes normal, das gleichzeitig auszudrücken vermag, wie Dinge sind und wie sie sein sollten (Hacking 2004: 163). In seiner historischen Analyse der Entwicklung

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statistischen Denkens und Argumentierens bezeichnet er das Wort normal deshalb als »one of the most powerful ideological tools of the twentieth century« (ebd.: 169). Da die Biomedizin wie das (hiesige) Alltagsverständnis vieler von einer Auffassung von Krankheit als Abweichung vom Gesunden – verstanden als dem biologisch Normalen – dominiert wird, ist stets zu klären, für wen oder was dies normal ist und wie dieses Normale gemessen wird (Lock 2000: 261). Wie und auf Grundlage welcher Konzepte des Normalen werden transplantierte Körper und ihre (Nicht-)Normalität in der Transplantations-Nachsorge beurteilt? Um dieser Frage nachgehen zu können, beginne ich mit einer gängigen Routine-Untersuchung. Der labormedizinische Blick ins Blut ist die in der Ambulanz am häufigsten genutzte Technik, um Abstoßungsreaktionen oder Einschränkungen der Transplantatsfunktion – trotz des Schweigens der Leber – zu bemerken und (Weiter-)Leben nach der Transplantation zu regulieren. Die Blutuntersuchung und die Quantifizierung von Körpern Die Blutuntersuchung gehört zum diagnostischen Standardrepertoire der Medizin und dient der Feststellung des allgemeinen Gesundheitszustands einer Person. Für Transplantierte ist sie bereits vor der Transplantation ein regelmäßiger Bestandteil ihrer Interaktion mit Medizinerinnen. Unmittelbar nach der Transplantation wird das Blut von Transplantierten mehrmals am Tag untersucht. Danach finden die Blutuntersuchungen zweimal wöchentlich, nach einem Vierteljahr einmal wöchentlich, nach etwa einem halben Jahr alle zwei bis drei Wochen und schließlich nach einem Jahr alle vier Wochen statt. Wenn alles gut läuft, das heißt Leberfunktion, Blutwerte und Medikamentenspiegel den Ärztinnen zufolge »in Ordnung« sind, werden die Abstände noch größer: Häufig betrugen sie nach zwei Jahren sechs bis acht Wochen. Bei länger Transplantierten mit stabilen Werten lag das Minimum nach etwa fünf bis sechs Jahren bei vier Blutkontrollen im Jahr. Vollständig verzichten können Transplantierte auf diese Untersuchung allerdings genauso wenig wie auf ihre Medikamente. Zudem kann das, was hier für den Idealfall als geradliniger Prozess abnehmender Kontrolle beschrieben ist, variieren: Je nach Leberzustand können sich Kontrollintervalle vergrößern oder verringern. Die Ergebnisse der Blutuntersuchung sind in der Transplantations-Nachsorge für Diagnostik wie Therapiekontrolle wesentlich. Mithilfe der aus dem Blut gewonnenen labormedizinischen Informationen über den Körper werden das Allgemeinbefinden Transplantierter, die Funktion der transplantierten Leber und die Einstellung der Immunsuppression kontrolliert. Geht es in der Ambulanz um das Transplantat, die Leber, geht es immer auch um Zahlen, um die Messergebnisse aus dem Labor. Damit die Labormedizin aus Körpern

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Zahlen generieren kann, müssen Transplantierte erst einmal das notwendige Körpermaterial zur Verfügung stellen und sich regelmäßig Blut abnehmen lassen. Je nach Vorliebe und Entfernung zum Transplantationszentrum begeben sie sich dazu entweder zu ihren Hausärztinnen oder in die Lebertransplantationsambulanz. In Letzterer wird die Blutabnahme jeden Vormittag von zwei Krankenschwestern durchgeführt: Venen werden gesucht, desinfiziert und punktiert – »im Akkord«, wie eine der Schwestern angesichts des Durchlaufs kommender und gehender Patientinnen halb scherzend, halb klagend meinte. Drei bis fünf Blutentnahme-Röhrchen, manchmal mehr, müssen in einer spezifischen Reihenfolge gefüllt werden. Ihre unterschiedlichen Deckelfarben markieren die Art ihrer Präparierung bzw. die jeweiligen BlutBestandteile und Eigenschaften, die im Labor chemisch analysiert und ausgewertet werden sollen. Die Daten, die für die Transplantations-Nachsorge ermittelt werden, sind umfangreich und umfassen unterschiedliche Leberwerte, das heißt die Konzentration des im Blut nachweisbaren Stoffwechselproduktes Bilirubin sowie diverse Enzymaktivitäten (Transaminasen und Cholestasewerte), welche die Stoffwechseltätigkeiten oder die Schädigung der Leber anzeigen. Hinzu kommen Nierenwerte, weiße Blutkörperchen, Blutplättchen, Blutgerinnungswert, Blutzuckerspiegel, Proteine und am Fettstoffwechsel beteiligte Enzyme. Schließlich wird der Spiegel oder die Stoffmengenkonzentration der Immunsuppressiva im Blut gemessen. Körper zu vermessen, heißt im Laborkontext, physiologische Zustände zu quantifizieren und in Zahlen zu übersetzen: Blut wird in seine Bestandteile zerlegt, auf bestimmte Eigenschaften getestet und in Messwerte transformiert. Diese Messwerte verlassen das Labor in Form einer einfachen Auflistung von Abkürzungen und Zahlen. Da viele Patientinnen für die Blutuntersuchung von externen Ärztinnen und Laboren betreut werden, gelangen die Laborergebnisse in der Regel per Fax in die Ambulanz. Dort sind sie Auslöser für verschiedene Bearbeitungspraktiken durch das Ambulanzpersonal.7 Zahlen, Kurven und labormedizinische Grenzwerte des Normalen Wenn die Krankenschwestern morgens ihren Dienst antreten, liegen bereits zahlreiche Dokumente im Faxgerät, das unterdessen weiter neue ausdruckt: Zahlenkolonnen aus dem Labor, die darauf warten, dokumentiert zu werden. Gerade für diese Arbeit wird gern auf personelle Unterstützung aus der allgemeinen chirurgischen Ambulanz zurückgegriffen. Die jeweiligen Akten der Patientinnen müssen herausgesucht, Laborwerte darin eingeklebt oder abgeheftet und vor allem Zahlen spezifisch aufberei-

7 | Wurde das Blut in der Ambulanz entnommen und demzufolge im Labor der Klinik analysiert, sind die Labormesswerte zusätzlich über das Computersystem der Klinik abrufbar.

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tet, nämlich in Kurven übertragen werden. Mein Erstaunen war groß, als sich herausstellte, dass das, was Kurve genannt wurde, das zentrale Artefakt im Arbeitsalltag der Ambulanz, gar keine Kurvenform aufwies. Stattdessen wurde mir eine Tabelle voller Laborwerte gezeigt, die die vom Begriff Kurve versprochene Übersichtlichkeit vermissen ließ. In den Tabellenfeldern dieses Kurvenblatts, das sich auf der ersten Seite jeder Akte befindet, werden transplantierte Körper auf der Basis der Messtechniken im Labor fein säuberlich in ihre Stoffwechselprodukte und Blutbestandteile zerlegt. Die erste Tabellenspalte gibt vor, welche Messwerte von Interesse sind. Mit jeder neuen Blutuntersuchung wird eine neue Tabellenspalte mit Zahlen gefüllt. Kurvenfähig werden die Zahlen erst in ihrer zeitlichen Anhäufung bzw. Aneinanderreihung. Beim Übertragen der Laborwerte wird die uneinheitliche, jeweils laborspezifische Auflistung der Zahlen, dem Schema des Kurvenblatts gemäß, neu geordnet. Warum die Laborparameter so und nicht anders angeordnet wurden, mit den Nieren- und nicht den Leberwerten begannen und hinsichtlich Umfang und Reihenfolge auch von derjenigen des Klinik-Labors abwichen, wusste in der Ambulanz niemand genau zu sagen. Die Reihenfolge hänge vom Labor ab, das Kurvenblatt sei eben »eine Auswahl«, die man seit langer Zeit benutze und daher »gewohnt [sei] zu lesen«: Sie enthalte all das, »was man auf einen Blick braucht«. Mit anderen Worten: Das Kurvenblatt dient der Erfassung und Visualisierung der relevanten ›Körperzahlen‹ und verdichtet die labortechnisch erzeugten Messdaten zu transplantierten Körpern in spezifischer Form für die weitere Verarbeitung der Zahlen (in der Ambulanz). Sind die Labormesswerte in das jeweilige Kurvenblatt übertragen, wechselt das mit den Zahlen hantierende Personal. Erst jetzt werden die Zahlen aus dem Labor für die zwei Ärztinnen sichtbar und zum Gegenstand der nächsten Bearbeitungspraxis, der Interpretation der Zahlen. Von der Sichtbarkeit der Messwerte spreche ich hier zunächst vor dem Hintergrund der ambulanzinternen Arbeitsteilung. Zu welchem Zeitpunkt und in welchem Zustand die Zahlen für wen eine Arbeitsaufgabe sind, lässt sich an den Orten der weitergereichten Aktenstapel ablesen: Akten werden aus dem Hängeregister der Aktenschränke genommen und in den Blutabnahme-Raum gelegt, wo die Voraussetzung für die Zahlenproduktion im Labor geschaffen wird, oder auf den Stapel zur Dokumentation der Laborergebnisse. Von dort gelangen sie, im Falle auffallender Werte, direkt auf den Schreibtisch einer der Ärztinnen oder zum generellen Stapel ärztlich durchzusehender Kurven. Von den Händen der Ärztinnen werden sie nach Durchsicht in der Schreibtischschublade verstaut und von dort schließlich zurück in den Aktenschrank getan. »Ein nicht endender Kreislauf«, wie ein Zahlen dokumentierender Zivildienstleistender lakonisch feststellte, bezogen auf seinen als eintönig empfunden Part in der Zahlenbearbeitungskette und die stete Zufuhr neuer Zahlen per Fax. Darüber hinaus werden die dokumentierten Zahlen für die Ärztinnen

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auf spezifische Weise sichtbar. Die Visualisierung auf dem Kurvenblatt ermöglicht ihnen Messwerte schnell, »auf einen Blick« einzusehen. Die Bedeutung dieser spezifischen Repräsentation der Zahlen wird deutlich, als mir eine Ärztin fluchend den Ausdruck eines Laborbefundes zeigt: »Schau, nur Zahlenkolonnen! Da fehlen die Striche [als Abgrenzung] zwischen den Zahlen, das ist viel schwieriger zu lesen.« Falls die Laborwerte im Computersystem der Klinik vorliegen, ließe sich die Entwicklung einzelner Werte per Mausklick grafisch als Kurve darstellen. Diese Funktion wird indes wenig genutzt. Zum einen, weil in der Ambulanz die umfangreiche Patientinnen-Akte in Papierform (noch) wichtiger ist als ihr digitales Pendant, das nur Befunde der Klinik enthält. Zum anderen, weil die Praxis der Zahlen-Interpretation überwiegend im Kopf der Ärztinnen stattfindet. Zum Lesen der Laborergebnisse lassen sie einen Finger, verlängert durch einen Kugelschreiber, über die Zeilen und Spalten der Tabelle gleiten, markieren gegebenenfalls einzelne Werte als bedenkenswert oder diskutieren sie mit der Kollegin oder dem Kollegen. In Laborwerten ausgedrückte Eigenschaften individueller Körper auf diese Art lesend zu deuten, heißt Zahlen zu vergleichen, zu kombinieren und ins Verhältnis zueinander zu setzen. Das Kurvenblatt ist hierbei das Instrument, mit dem sich Körper einsehen und ihre Funktionen ablesen lassen. Es ist als solches das Ergebnis historisch formierter Wissensordnungen und -praktiken. Erst durch die Vergleichs- und Deutungspraktiken lassen sich die Zahlen (Messwerte) einer Zeile zu einem Bild bzw. zu einer Kurve zusammenfügen. Die Kurve, die in der Praxis des Lesens der Messwerte als inneres Bild entsteht, ist zwar eine vorgestellte, hat als spezifische Form der Visualisierung im Krankenhaus jedoch Tradition. Der Medizinhistoriker Volker Hess verweist in seiner Geschichte des Fiebermessens darauf, dass die aus heutiger Sicht selbstverständlich erscheinende Repräsentation der zeitlichen Entwicklung physiologischer Messwerte in der Form einer Kurve erst im 19. Jahrhundert zur üblichen Abbildungspraxis wurde (Hess 2000: 124f.). Überdies entwickelte sich die aus der grafischen Methode entstehende Fieberkurve, wie Hess weiter zeigt, am Ende des 19. Jahrhunderts zur zentralen Form der Dokumentation von Krankengeschichten: Sie visualisierte nicht nur, sondern bildete sich als Informations- und Koordinationssystem im Krankenhaus heraus (ebd.: 231-233). Vor diesem Hintergrund kann die Kurve der Lebertransplantationsambulanz als eine modernisierte, für den Kontext der Ambulanz abgewandelte Version der auf den Krankenhaus-Stationen nach wie vor präsenten Fieberkurve verstanden werden: Sie visualisiert Post-Transplantationsverläufe und organisiert deren Management durch die Transplantations-Nachsorge. Darüber hinaus verweist das Beispiel des Kurvenblatts auf die konstitutive Rolle der Patientinnen-Akte für die Arbeit des Ambulanzpersonals (vgl. Berg 2008).

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Doch zurück zum Lesen von Kurvenblättern, bei dem Zahlen als körperliche Momentaufnahmen nicht allein in ihrem zeitlichen Verlauf als Kurve geordnet, sondern auch eingeordnet und bewertet werden müssen. Als Vergleichsmaßstab dienen die labormedizinisch für jede Messung definierten Normalwerte, die heute eher Referenzwerte genannt werden – eine Umbenennung, die deutlicher macht, dass es sich um Grenzwerte handelt und dass das medizinisch Normale uneindeutig definiert ist. Referenzwerte markieren die Grenzen des zur Interpretation der Laborzahlen herangezogenen Referenzbereichs, der Auskunft über den statistischen Schwankungsbereich eines Merkmals oder Messwertes gibt, in dem 95% der als gesund geltenden Bevölkerung liegen und der demzufolge als normal (häufig) gilt. Ein Referenzbereich erzeugt somit eine deskriptive Norm, die sich ausgehend von der Idee der statistischen Normalverteilung (Gauß’sche Glockenkurve) immer relativ zu einer spezifischen Population und deren biologischen wie soziokulturellen Eigenschaften verhält. Einerseits werden individuelle Körper vor der Folie kollektiver Körper- bzw. statistischer Bevölkerungsdaten interpretiert (vgl. Foucault 1999, 2002). Andererseits gilt, was in solchen Fällen normal (durchschnittlich) ist, nicht immer als gesund, weshalb Referenzbereiche mitunter eher durch Sollwerte als durch Durchschnittswerte bestimmt werden. Ein typisches Beispiel sind die Referenzwerte für Bluthochdruck und Cholesterin: Zunehmend häufiger vorkommende hohe Werte in der Bevölkerung führten nicht dazu, die Grenzwerte statistisch nach oben zu korrigieren. Da hohe Blutdruckund Cholesterin-Werte als Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen gelten, wurden die Referenzwerte stattdessen aus präventiven Gründen gesenkt – mit dem Resultat, dass immer mehr Menschen außerhalb der Referenzbereiche liegen (vgl. Westin/Heath 2005).8 Kurz, im Referenzbereich laufen statistische Durchschnittswerte und normative Soll-Werte zusammen. Was mit dem Rückgriff auf Referenzwerte als vermeintlich neutraler Vergleichsmaßstab herangezogen wird, ist eine Beurteilungsnorm. In der Zusammenschau der Zahlen über die verschiedenen Tabellenfelder, Messwerte (Zeilen) und Zeitpunkte (Spalten) hinweg, entfalten die Zahlen auf dem Kurvenblatt ihre Aussagekraft im Spiegel labormedizinischer Referenzbereiche. Im Abgleich mit ihnen werden Zahlen als »hoch« oder »niedrig«, »unproblematisch« oder »bedenklich« interpretiert und individuelle Körper biologisch und statistisch normalisiert (Lock/Nguyen 2010: 32). Darüber hinaus verweisen Referenzbereiche immer auch auf die im Labor eingesetzten Messmethoden. Besonders deutlich wurde dies,

8 | Westin und Heath beziehen sich auf Studien in Norwegen, denen zufolge 76% der erwachsenen Bevölkerung und 90% der über 50-Jährigen die Referenzwerte nicht erfüllen und somit als Risiko-Patientinnen und Kandidatinnen für blutdrucksenkende Medikamente gelten.

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wenn sich der Referenzbereich für einen Messwert infolge eines Methodenwechsels änderte und die neuen Zahlen alte Lesegewohnheiten in der Ambulanz kurz irritierten. Zahlen repräsentieren Körper nicht einfach, sondern kreieren spezifische Wahrheiten über sie (Rose 2009: 78). Die labormedizinische Vermessung und Deutung transplantierter Körper in der Ambulanz lässt sich in diesem Sinne als eine spezifische Herstellungsform von Normalität zusammenfassen: Normalität nach der Transplantation wird hier mittels labormedizinischer Mess- und statistischer Referenzwerte festgestellt und zugleich produziert. Laborzahlen und Tablettenzahlen – und ihre kontrollierende Wirkung Außer für die Überwachung der Transplantatsfunktion sind die Laborwerte für die Einstellung der lebenslangen immunsuppressiven Therapie relevant – für die Kontrolle der Effekte von Immunsuppressiva in transplantierten Körpern (drug monitoring) sowie für die schrittweise Absenkung der anfänglich starken Immunsuppression, im Zuge derer die passende Kombination und Dosis von Medikamenten ermittelt wird. Von Interesse sind hier primär die so genannten Leberwerte – fünf Laborwerte, die zur Einschätzung der Leberfunktion herangezogen werden – und die Medikamentenspiegel, welche Auskunft geben über die Wirkung einiger zentraler Immunsuppressiva. Der Blutspiegel des Medikaments wird kurz vor der erneuten Einnahme der nächsten Dosis gemessen. Der so ermittelte Talspiegel gilt als Bezugsgröße zur Einschätzung des Medikamentenspiegels, auf deren Basis dann die Medikamentendosis bestimmt wird. Ist der Medikamentenspiegel zu niedrig, wird die Dosis erhöht, da sonst die Immunantwort möglicherweise zu stark ausfällt und das Risiko einer Abstoßung besteht. Bei einer Abstoßung steigen häufig alle Leberwerte an. Erhöhte Leberwerte können aber auch die Folge einer notwendig gewordenen Senkung der Immunsuppression sein, damit z. B. bei einer akuten bakteriellen Infektion der »Körper mit der Krankheit umgehen kann« (Arzt zu einem Patienten). Eine zur Behandlung einer Abstoßungsepisode notwendige Erhöhung der Immunsuppression wiederum kann zum erneuten Aufflammen einer Hepatitis C führen, die sich dann ebenfalls in einem erhöhten Laborwert (Viruslast) äußert. Wird ein höherer Medikamentenspiegel in der ersten Zeit nach der Transplantation noch toleriert und zum Schutz des Transplantats in Kauf genommen, geht es später darum, ihn zu senken, um Nebenwirkungen zu vermeiden oder abzuschwächen. Wenn die Ärztinnen, wie sie selbst sagen, »die Kurven durchschauen«, geschieht das also im Hinblick auf eine mögliche Anpassung der Immunsuppression unter Berücksichtigung der Transplantatsfunktion. Was sie beobachten, ist das (Aufeinander-)Reagieren von Laborwerten.

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Was von den Ärztinnen als »Balance-Akt« der Immunsuppression benannt wird, bezeichnet dieses auf Patientin und Situation jeweils zugeschnittene Reagieren auf Laborwerte und Ins-Gleichgewicht-Bringen der Wirkungen von Medikamenten. Je nach Stand der Zahlen wird die Dosis der Immunsuppressiva modifiziert. Um Patientinnen solche Veränderungen mitzuteilen, werden diese in der Regel angerufen. Diese Telefonate, die auch »ein bisschen Small Talk nebenbei« erlauben (Ärztin), zählen in der Ambulanz, neben Gesprächen von Angesicht zu Angesicht, zu den typischen Kontakten zwischen Ärztinnen und Patientinnen. Im Laufe der Jahre, mit den steigenden Patientinnenzahlen in der Ambulanz hat sich diese Form der Interaktion jedoch verändert: »Früher, bei den ersten 400 [Transplantierten], hatten wir noch Zeit, die Leute einfach mal anzurufen und zu fragen, wie’s ihnen geht. Das fanden die natürlich toll: Sie konnten ein bisschen erzählen, ihre Wehwehchen loswerden etc. Das geht schon lange nicht mehr. Anrufe erfolgen nur noch nach Fakten.« (Dr. Seitz)

Mit Fakten sind die Kurven und Laborergebnisse gemeint. Die Messwerte werden ein weiteres Mal verarbeitet, indem sie kommuniziert werden. Dabei werden die quantifizierten Körperzustände wieder qualitativ: Die Leberwerte sind »fantastisch«, »besorgniserregend« oder »eiern«, der Medikamentenspiegel »zackelt« oder ist »schön regelmäßig«, die Synthese ist »gut« und die Leber »top«. Wurden Körper, um sie für die Medizin handhabbar zu machen, bei der Vermessung im Labor in Zahlen transformiert, wird diese Quantifizierung in der Beurteilung und Kommunikation wieder ins Qualitative zurückübersetzt. Zusätzlich werden Laborzahlen in eine Tablettenzahl übertragen – die ebenfalls in den Kurvenblättern vermerkt und, wenn eine Patientin nicht persönlich erreichbar ist, einfach auf deren Anrufbeantworter hinterlassen wird. Im medizinisch kontrollierten Balancieren von Organfunktion (Leberwerte) und Immunsuppression (Medikamentenspiegel) suggerieren die in Zahlen ausgedrückten Laborergebnisse Messgenauigkeit und Manipulierbarkeit: Leberwert als Signal im Informationssystem Körper, Medikament als Antwort. Der Effekt (Output) der Medikamentendosis (Input) wird dann erneut über die Leberwerte und Medikamentenspiegel kontrolliert. Nur was messbar und im Sinne quantifizierter, diskreter Einheiten vergleichbar ist, lässt in diesem spezifischen Wissenskontext Objekte (Zahlen) entstehen (vgl. Poovey 1998: 242-248) und macht damit transplantierte Körper, Immunsysteme und physiologische Zustände für die medizinische Praxis sichtbar, behandelbar und zu einem gewissen Grad kontrollierbar. Genauso wie die regelmäßigen Blutuntersuchungen für die Ärztinnen der Ambulanz das zentrale Instrument zur Kontrolle transplantierter Körper darstellen, zählen

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sie, neben den Immunsuppressiva, laut der eingangs dieser Arbeit erwähnten Lernsoftware für Transplantierte zu den »besten Waffe[n]« Transplantierter »gegen unbemerkte Abstoßungen« (OTIS, siehe Fn.4 S. 4). Daher soll in diesem Abschnitt ein kurzer Positionswechsel vorgenommen werden, weg von den Schreibtischen der Ärztinnen und hin zu den Patientinnen im Wartezimmer: Wenn diese mir versicherten, dass sie eine »starke«, »gesunde«, »normale« oder »gute« Leber bekommen hätten, fehlte der Verweis auf Labormesswerte genauso selten wie in ihren Aussagen darüber, ob es ihnen gerade »ausgesprochen gut« oder »eher mies« gehe. »Ich habe eine sehr gute Leber erwischt. Da scheint fast alles übereinzustimmen, ich habe diesbezüglich [bezüglich einer Abstoßungsreaktion] überhaupt keine Probleme. Meine Leberwerte sind mit Sicherheit teilweise tausendmal besser als bei normalen Menschen, also immer die niedrigsten Werte. Es ist zu beneiden, also direkt von der Leber her.« (Hasan Çelik)

Hasan Çelik ist 1997 mit 39 Jahren aufgrund einer durch Hepatitis B verursachten Leberzirrhose transplantiert worden. Wie fast alle Gesprächspartnerinnen betonte er, dass ihn die transplantierte Leber in die Lage versetzt habe, nicht nur weiterzuleben (er sei fast an Leberversagen gestorben), sondern normal zu leben. Diese Aussage untermauerte er mit dem Verweis auf das bisherige Ausbleiben einer Abstoßungsreaktion und vor allem auf seine normalen oder sogar »besser als normalen« Leberwerte. Die normative wie normalisierende Wirkung von Labormesswerten dient hier der Selbstvergewisserung: Nach oft mehreren Jahren mit einer unzureichend funktionierenden Leber und pathologischen Leberwerten im Vorfeld der Transplantation ist man wieder im Referenzbereich des Normalen angekommen. »Lebermäßig alles bestens«, war eine häufige Aussage, die ich in diesem Zusammenhang von Medizinerinnen wie Patientinnen zu hören bekam. Die typische Aussage von Ärztinnen, »Ihre Leberwerte sind toll – die Leber macht hervorragende Arbeit«, ist für Transplantierte eine Bescheinigung der Normalität ihres leibhaftigen Weiterlebens nach einer lebensbedrohlichen Lebererkrankung und einem nicht-alltäglichen medizinischen Eingriff. Gleichwohl wissen meine transplantierten Gesprächspartnerinnen aus eigener Erfahrung, wie schnell die Grenzen des Normalen überschritten werden können und wie wenig Einfluss sie darauf haben. Das erklärt, warum etliche von ihnen die wiederholten Blutuntersuchungen »beruhigend« fanden und diesen, selbst wenn sie mit schlechten Laborwerten konfrontiert wurden, eine kontrollierende Wirkung bescheinigten. So freute sich Pia Krüger nicht bloß darüber, dass es ihr »wirklich gut« ging: »Ich freue mich eigentlich, dass ich unter Kontrolle stehe, dass ich alle vier Wochen zur Blutabnahme gehe.« In solchen Bemerkungen wurde deutlich, dass die zitierte Aussage, »die Laborwerte sagen,

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ob es einem gut geht« (S. 137), nicht nur die Abhängigkeit Transplantierter vom ärztlichen Blick zum Ausdruck bringt. Kontrolle meint hier nicht allein machtvolle Überwachung durch die Medizin oder simple Übernahme ihrer Denkweise, sondern – wie noch deutlich werden wird – auch Ermächtigung für Patientinnen (siehe auch Nichter 2002: 98). Viele Transplantierte gewinnen der medizinischen Kontrolle ihrer Körper und der damit einhergehenden Möglichkeit, Wohlbefinden in einer messbaren Größe darzustellen, durchaus etwas Positives ab, da sie ihre Leberprobleme als Kontrollverlust von Körper und Alltag erlebt hatten. In einer Situation, in der die körperliche Selbstwahrnehmung (Abstoßung, Leberfunktion) versagt, geben die Laborwerte ihnen wieder ein gewisses Maß an Sicherheit. Etliche Transplantierte jonglierten während unserer Gespräche kompetent und selbstbewusst mit den Ergebnissen der Labordiagnostik, die ihnen teilweise bereits aus der Zeit vor ihrer Transplantation bekannt waren. Robert Jost beispielsweise berichtete, dass er sich, nachdem bei ihm eine Leberzirrhose diagnostiziert worden war, »ziemlich da reingearbeitet« habe. Er habe sich sogar einen kleinen Ratgeber besorgt, der diverse Parameter der Labormedizin erläutere. Die Zahlen und im Laborbericht mitgelieferten, auf die Referenzwerte bezogenen Plus- und Minuszeichen ermöglichen ihm Einsicht in seinen Körper und den Vergleich zu vorherigen Laborberichten, die bei ihm, wie etlichen anderen, säuberlich in einem Ordner abgeheftet werden. Er findet es wichtig, dass sich Transplantierte mit ihren Laborwerten beschäftigen, »dass man auch selbst sieht, was da los ist, und nicht immer erst die Berichte der Professoren und Doktoren abwartet«. Allerdings sind dieser Möglichkeit, ›selbst zu sehen‹, die eine gewisse Unabhängigkeit von Medizinerinnen verspricht, Grenzen gesetzt. Das »Muffensausen«, das Robert Jost in den ersten Monaten angesichts eines hin und wieder erhöhten Leberwerts überfiel, bedurfte der ärztlichen Beruhigung, bei der er lernte, dass es sich um »normale Ausreißer« handelte, pathologische Werte nicht zwangsläufig »Alarmzeichen« sein müssen und letztlich Zahlenkenntnis den ärztlichen, klinisch erfahrenen Blick nicht ersetzen kann. Nicht für alle waren die Laborwerte von so starkem Interesse wie für Robert Jost. Viele Transplantierte sagten zwar, dass sie »aufpassen« und die Entwicklung ihrer Laborwerte aufmerksam verfolgen, die Mehrheit beschrieb jedoch ein nachlassendes Interesse, je weiter ihre Transplantation in die Vergangenheit rückte. Pia Krüger schilderte, dass sie bereits nach den ersten Monaten dazu übergegangen sei, die Laborberichte nicht mehr zu lesen, und seitdem auf den kontrollierenden Blick der Ambulanz baue: »Denn ich will mich da auch nicht unnötig nervös machen, wenn mal ein Wert ein bisschen absackt.« Ebenso sah es der 60-jährige, seit zwei Jahren transplantierte Joachim Quaas. Die Werte zu beobachten, habe er sich und seiner Frau, einer Augenärztin, welche die Werte intensiver als er kontrolliert habe, nach dem ers-

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ten Jahr »abgewöhnt: Wenn was schief geht, melden die sich aus [der Ambulanz]. Da verlass ich mich drauf. Ich kann’s sowieso nicht beurteilen.« Selbst wenn Transplantierte lernen, welche Zahlen »gut« sind und welche nicht, obliegt die endgültige Deutungshoheit den Ärztinnen – ihr klinisches Erfahrungswissen geht, wie ich in den nächsten zwei Abschnitten zeigen werde, über das statistische Messwissen der Labormedizin hinaus. Festzuhalten bleibt, dass Labormesswerte im Referenzbereich auch für Transplantierte Normalität markieren. Sie ermöglichen ihnen zu sagen, dass ihre Leber wieder (fast) normal ist. Laborzahlen stellen Patientinnen zusätzliches Wissen über sich selbst bereit, machen doch die Messwerte sichtbar, was sie selbst nicht merken können. In Anlehnung an die Analyse des US-amerikanischen Wissenschaftshistorikers Theodore Porter, der ein »Vertrauen in Zahlen« (trust in numbers) und Quantifizierungen als wesentliches Merkmal moderner Gesellschaften beschreibt (vgl. Porter 1995), werden Ergebnisse quantifizierender Körpervermessungen hier mit Objektivität und intersubjektiver Wissensproduktion in Zusammenhang gebracht. Hinzu kommt das Vertrauen der meisten befragten Transplantierten ins medizinische System, in labormedizinische Diagnostik sowie ins Ambulanzpersonal und seine Interpretation der Laborzahlen. Das heißt nicht, dass die Zahlen aus dem Labor von Patientinnen ohne jeden Zwiespalt betrachtet wurden. Sie verwiesen durchaus auf die Grenzen medizinischer Beobachtung und Quantifizierung: Nicht alle Modi körperlichen Wohlbefindens können ›objektiv‹ gemessen werden. Zudem erzählen Zahlen zwar von der Syntheseleistung der Leber, jedoch nur bedingt davon, wie man sich fühlt oder Körper und Krankheit wahrnimmt. So beschwerte sich Hasan Çelik darüber, dass seine Vergesslichkeit – für ihn eine den Alltag belastende Folge der Transplantation – in der Ambulanz ignoriert und als unwichtig erachtet wurde: »Für die [Ambulanz-Ärztinnen] ist doch nur wichtig: Der Patient hat überlebt, dem geht’s gut, was sagen die Blutwerte? Vergesslichkeit ist nicht etwas, das man Schwarz auf Weiß hat, was man beweisen kann. Es ist auch nicht deren Problem. Wenn meine Blutwerte schlecht sind, dann haben sie ein Problem, aber nicht, wenn ich vergesslich bin.«

Im Vergleich zu den im Labor messbaren Blutwerten ist Vergesslichkeit eine höchst subjektive Erfahrung, die im Kontext der Transplantations-Nachsorge nicht als behandlungsrelevantes Problem anerkannt wird. Zwar stehen psychologische Testverfahren zur Verfügung, um bestimmte Erfahrungen, die außerhalb der medizinischen Wahrnehmung liegen, zu messen und somit zu einem objektivierbaren Fakt zu erheben – z. B. Verfahren zur Abgrenzung von Demenzerkrankungen und ›normalen‹ altersbedingten Formen der Vergesslichkeit. Diese würden aber mitunter etwas völlig

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anderes messen als das, was Hasan Çelik im Alltag belastet. Überdies wurde einigen Patientinnen im Vorfeld der Transplantation ihre reduzierte Merkfähigkeit als Symptom der Leberzirrhose und daraus resultierenden Ammoniakvergiftung erklärt. Vergesslichkeit wird daher von einigen auch als Signal dafür gelesen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Transplantierte und die sie behandelnden Medizinerinnen mögen einen gewissen Fokus auf das Transplantat teilen, das Beispiel von Hasan Çelik deutet jedoch auch an, dass die Idee, Normalität vorrangig medizinisch zu (ver-)messen, von Ambulanzpersonal und Transplantierten nur bedingt geteilt wird. In medizinischen Praktiken der Körpervermessung wie z. B. der laborchemischen Blutanalyse wird subjektives Krankheitserleben objektiviert oder, wenn es nicht messbar ist, ignoriert. Es ist die unzureichende Möglichkeit der Selbstbeobachtung von Patientinnen, die sie abhängig von den Mitteln medizinisch-technischer Beobachtung und Körpervermessung sowie deren spezifischen Logiken macht. Umgekehrt sind es die Logiken des medizinischen Wissenssystems, die Ärztinnen dazu veranlassen, sich nicht auf die unsicheren Beschreibungen ihrer Patientinnen zu verlassen. Transplantierte beherrschen die medizinischen Mittel der Körpervermessung zwar nicht, der quantifizierenden Fremdbeobachtung ausgeliefert fühlen sie sich aber auch nicht. Zahlen stellen ein Instrument bereit, das die Kommunikation zwischen Ärztinnen und Patientinnen ermöglicht und auf spezifische Weise prägt. In der Zahlensprache können Transplantierte ihr Befinden zudem nicht bloß gegenüber Medizinerinnen objektivieren, sondern sich auch gegenüber ihren Familien rechtfertigen. Es ist etwas anderes zu sagen, dass man sich schlapp fühlt, als dieses subjektive Gefühl der Schwäche mit einem niedrigen Blutwert untermauern zu können. Zahlen haben argumentative Durchschlagkraft. Entscheidend ist dabei nicht ihre Validität, im Sinne der Abbildung von Realität, sondern ihre gesellschaftliche Akzeptanz (vgl. ebd.). Die Blutuntersuchung wird gleichermaßen von Medizinerinnen wie Transplantierten als Technik der erweiterten Selbstbeobachtung etabliert. Normalität wird hier nicht nur medizinisch gemessen und ärztlich beurteilt, sondern in der sowohl konkreten als auch spezifischen Interaktion zwischen Ärztinnen und Patientinnen hergestellt und verhandelt. Viele Patientinnen der Ambulanz werden selbst zu Expertinnen, die medizinische Daten wie Laborwerte interpretieren und davon ableiten, in was für einer Verfassung ihre Leber ist und wie sie sich fühlen. Solche Effekte von Zahlen und Klassifikationen auf die Klassifizierten hat Ian Hacking als »Looping-Effekte« bezeichnet (Hacking 2002: 95, 165). Zahlen zum eigenen Wohlbefinden in Beziehung zu setzen, erfordert von Patientinnen einen bestimmten Modus der Reflexivität: Weil mein Leberwert X super ist, geht es mir gut. Diese Art der Rekursivität oder Rückbezüglichkeit kennen Patientinnen aus der Interaktion mit Medizinerinnen als spezifische Form des Nachdenkens über sich selbst. Als akzeptiertes Format einer

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Norm können Zahlen in dieser spezifischen Interaktion körperliche Zustände wahrnehmbar machen und erklären wie auch – im Fall von Hasan Çeliks Vergesslichkeit – normativ und disziplinierend wirken: Da er hervorragende Leberwerte hat, sollte es ihm auch gut gehen. Darauf, dass die über Leber Auskunft gebenden Zahlen auch jenseits dieser spezifischen Normativität für Transplantierte mit einem Zwiespalt behaftet sind und die kontrollierende Wirkung von Zahlen nicht nur positiv gesehen wird, komme ich in 4.3 zurück. Bevor ich zu den Praktiken der Ambulanz-Ärztinnen zurückkehre, sei ein anderes in Zahlen ausgedrücktes Argument meiner transplantierten Gesprächspartnerinnen erwähnt. Häufiger als Laborzahlen waren Tablettenzahlen ein beliebtes Gesprächsthema im Wartezimmer der Ambulanz. Hier wurde untereinander verglichen, stolz berichtet, wie wenig Tabletten bzw. Milligramm eines Wirkstoffs man nur noch nehmen müsse, und auf diesem Wege ›transplantierte Normalität‹ verhandelt. In der ersten Zeit nach der Transplantation müssen Transplantierte »Unmengen« von unterschiedlichen Immunsuppressiva nehmen: »Mit ’nem Schuhkarton [voller Medikamente] bist Du entlassen worden«, sagte der Mann von Erika Voss lachend zu ihr, »der Deckel ging geradeso rauf – das werde ich nie vergessen!« Aufgrund der nicht gerade magenfreundlichen Tablettenmenge erhielten viele anfangs zusätzlich ein Medikament zur Schonung des Magens. »Eine Tablette gegen die Tabletten«, scherzte ein Patient der Ambulanz. Er bezog sich dabei auf sämtliche Medikamente, die mit der Einnahme von Immunsuppressiva in Zusammenhang stehen und Nebenwirkungen wie z. B. körperliche Beschwerden vermindern sollen. Da das Transplantat wie das Blockieren der Immunantwort nicht mit einem spürbaren Symptom vergleichbar ist, bemerken Transplantierte weniger die Wirksamkeit von Immunsuppressiva als deren (Neben-)Wirkungen wie Magen-Darm-Beschwerden (Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) oder Händezittern (Tremor). Die Reduktion eines Immunsuppressivums oder sogar das Absetzen eines ganzen Wirkstoffes, z. B. eines von drei Immunsuppressiva, konnte somit dazu führen, dass Nebenwirkungen weniger stark ausfielen und weitere Medikamente ebenfalls nicht mehr benötigt wurden. Vor diesem Hintergrund wurde das Einpegeln der Laborwerte zusammen mit der daraus resultierenden Reduktion der Tablettenzahl von Ärztinnen wie Patientinnen als Zeichen der Normalisierung, als Bestätigung der Stabilisierung des Lebens nach der Transplantation gewertet. »Natürlich ist jede Tablette unnatürlich: Jede Tablette, die nicht genommen werden muss, ist ein Erfolg« (Arzt im Gespräch mit einem Patienten). Dass die täglich einzunehmende Dosis immunologischer Nicht-Normalität reduziert werden kann, gilt in der Ambulanz als etwas, zu dem sich gegenseitig beglückwünscht werden kann. Allerdings funktioniert die Aussage auch umgekehrt: Die notwendige Erhöhung der Tablettendosis konnte Patientinnen, trotz des Wissens, dass es zum

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Wohle des Transplantats geschah, enorm »beunruhigen«. Die Einstellung der Immunsuppression erleben zahlreiche Transplantierte als prinzipiell linearen Prozess der Tabletten-Reduzierung, an dessen Ende eine möglichst geringe Tablettenzahl steht. Dies ist jedoch weder für alle der Fall, noch ist das individuelle Optimum der Immunsuppression stabil. Damit kehre ich zurück zu den Zahlen und Kurven lesenden Ärztinnen der Ambulanz, ihrer Praxis der ›Zähmung‹ des Immunsystems sowie der damit verbundenen Etablierung der Normalität transplantierter Körper. Laborwerte sagen nicht alles Die Aussagekraft der Zahlen ist nicht nur für Patientinnen wie Hasan Çelik unzureichend. Das Plus- oder Minus-Zeichen, das im Laborbefund hinter einer Zahl gesetzt wird, verweist lediglich auf einen Bereich außerhalb des labormedizinisch Normalen. Eine aus dem Referenzbereich fallende Zahl kann »kritisch«, ein »einmaliger Ausreißer« oder »abwegig« und daher eine »Laborente«, das heißt ein Messfehler sein. Erhöhte Leberwerte können eine Abstoßungsreaktion anzeigen, ebenso gut aber aus einer Lebererkrankung oder Alkoholkonsum resultieren. Außerdem »spielen die Laborwerte in der ersten Zeit nach der Transplantation oft verrückt« und sind »höher als normal«, bevor sie sich nach einer gewissen Zeit »einpegeln und normalisieren« (Ärztinnen). Auch Medikamentenspiegel sind ein schwieriger Maßstab, da Medikamente unterschiedlich im Stoffwechsel aufgenommen und umgesetzt werden. »Eine einzelne Zahl sagt noch nicht viel aus« (Krankenschwester) und »nicht alle Werte sind gleich wichtig« (Arzt). Oder wie es Dr. Seitz gegenüber Patientinnen häufiger formulierte: »Die Laborwerte sagen vieles, aber nicht alles.« Sie müssen mit weiteren diagnostischen Zeichen (Symptome) und Blicken (Untersuchungen) in Beziehung gesetzt und in dem so entstehenden Kontext interpretiert werden. Um zu klären, was Zahlen möglicherweise (nicht) sagen, spielt bei erhöhten Leberwerten die Aussagekraft der pathologischen Untersuchung des Lebergewebes (Leberbiopsie) eine wichtige Rolle. Sie gehört im untersuchten Zentrum auch zum Check-up-Programm Transplantierter. Dementsprechend war sie fester Bestandteil der Arbeitsroutinen, die ich in der Ambulanz beobachten konnte. Zur Gewinnung des Lebergewebes (Leberpunktion) wird mit einer Hohlnadel direkt in die Leber gestochen. Die Punktionsstelle wird mit Hilfe eines Ultraschallgerätes ermittelt, markiert, desinfiziert und betäubt, die Haut wird mit einem Messer angeritzt und die Punktionsnadel zwischen den rechten unteren Rippen bis hin zur Leber, das heißt etwa ein bis zwei Zentimeter eingeführt. Dann wird bei angehaltenem Atem der Patientin innerhalb einer Sekunde ein winziger Gewebezylinder (Gewebefaden) aus der Leber gestanzt. Viele der Punktierten beschrieben die Betäubungsspritze als äußerst unan-

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genehm, während die Punktion eher einem »Stups« der Leber gleichkomme. Einige sagten hingegen, dass sich die Punktion anfühle, als ob »ein Blitzschlag durch den Körper« gehe (Pia Krüger). »Wenig angenehm« sei zudem, dass man anschließend zwei Stunden auf der rechten (punktierten) Körperseite liegen sowie zwei weitere Stunden im Bett verbringen müsse. Aus diesem Grund wird die Punktion am Ende des Untersuchungstages durchgeführt und ist der Check-up für Patientinnen mit einer Übernachtung im Krankenhaus verbunden. Das entnommene Gewebe wird in einem Reagenzglas in die Pathologie gebracht und dort von Leber-Pathologinnen aufbereitet und untersucht. Der mikroskopische Blick auf das Lebergewebe und dessen feingeweblichen Zustand soll dann für Klarheit sorgen: eine von den Zahlen angedeutete Diagnose absichern oder Ursache und Ausmaß eines Leberproblems abklären. Hinzu kommt, dass eine Biopsie, im Gegensatz zu Laborwerten, »vieles, was nicht in Ordnung ist, frühzeitig anzeigt. [. . . ] Biopsie heißt nachhaken, auf Nummer sicher gehen« (Dr. Seitz). Die regelmäßig ermittelten Labormesswerte dienen der Routine-Überwachung transplantierter Körper und geben Medizinerinnen wie Patientinnen mittels eines einfachen quantitativen Beurteilungsschemas eine wichtige Orientierung. Die Ergebnisse der Biopsie gelangen demgegenüber nicht als Zahlen, sondern als verbalisiertes Urteil von Kolleginnen in die Ambulanz. Im klinischen Kontext der Ambulanz repräsentieren Laborwerte einen Blick oder ein Zeichen unter mehreren und damit eine spezifische Art, transplantierte Körper zu sehen und ›zu wissen‹ und deren (Nicht-)Normalität zu vermessen und darzustellen. Annemarie Mol (2002) hat dies am Beispiel der Diagnose und Behandlung von Arteriosklerose in unterschiedlichen Fachabteilungen des Krankenhauses veranschaulicht, während die französische Sozialanthropologin Joëlle Vailly (2008) am Beispiel von Neugeborenen-Screenings gezeigt hat, dass Untersuchungstechniken, die auf unterschiedlichen Wissensformen basieren, jeweils eigene Definitionen des Normalen produzieren. Die Messwerte und die Beurteilungen transplantierter Körper müssen von den Ärztinnen der Ambulanz dann auf die spezifische Situation der jeweiligen Patientin, auf ihr aktuelles Befinden, ihre Grunderkrankung und ihren Post-Transplantationsverlauf bezogen werden. Zentral für diese Anwendung der Laborzahlen und der Ergebnisse der anderen Körpervermessung ist, was die Ambulanz-Ärztinnen mir gegenüber stets kurz und knapp »klinische Erfahrung« nannten. Diese Kurzformel dafür, es zu wissen, schien für die Ärztinnen Begründung genug zu sein, wenn ich danach fragte, warum in einer bestimmten Situation so und nicht anders verfahren wurde.

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Klinische Erfahrung und die Zähmung von Immunsystemen »Klinische Erfahrung« im praktischen Umgang mit Laborzahlen und anderen Befunden medizinischer Körpervermessung bezeichnet die Fähigkeit der Ärztinnen, diagnostische Körperinformationen auf die konkrete therapeutische Handhabung des betreffenden Körpers zu transferieren und zu übersetzen. Wie ich bisher gezeigt habe, helfen den Ärztinnen die herangezogenen diagnostischen Expertisen verschiedener medizinischer Fachgebiete, transplantierte Körper einzuschätzen. Für die Regulierung von Immunsystemen und das Management von Post-Transplantations-Verläufen reicht es nicht, sich auf verschiedene Techniken und Gerätschaften oder auf Urteile von Kolleginnen zu verlassen und diese zu addieren. Der Biopsie wird zwar eine größere Aussagekraft als Laborzahlen zugeschrieben, wenn es um den Zustand des Transplantats geht, für die Bewertung des Befundes in der Ambulanz spielt jedoch ebenso eine Rolle, welche Kollegin aus der Pathologie die Untersuchung durchgeführt und den Bericht verfasst hat. Dagegen wird eine Aussage, die in BiopsieBefunden selten fehlt, wenig ernst genommen: »Dass ein Rezidiv [erneutes Auftreten] der Grunderkrankung sich nicht ausschließen lässt«, würden die Pathologinnen »sicherheitshalber« immer schreiben. Dass die Ambulanz-Ärztinnen das »wissen« und sich in meinem Beisein darüber lustig machen, ist Ausdruck dessen, was sie klinische Erfahrung nennen. Teil dieser Erfahrung ist es, situationsspezifisch und flexibel zwischen unterschiedlich sicheren oder unsicheren Körperinformationen abzuwägen, eine therapeutische Entscheidung treffen zu müssen und deren unmittelbare wie mögliche spätere Konsequenzen für Transplantate und Transplantierte mitzudenken. Die Praxis der Transplantations-Nachsorge ist für die Ärztinnen deshalb stets mit dem Wissen um ihre eigenen Wissensgrenzen verbunden. Sie können kompensiert werden, indem andere Personen oder Wissensressourcen innerhalb und außerhalb der Ambulanz konsultiert werden. Sie sind zudem fachspezifisch und betreffen das, was die (Transplantations-)Medizin über transplantierte, immunsupprimierte Körper weiß oder nicht weiß und deshalb oder nichtsdestotrotz tut. Klinische Erfahrung beruht auf in der Praxis getestetem Wissen. Leberwerte und Medikamentenspiegel liefern Anhaltspunkte, geben jedoch keine ausreichende Auskunft über die Immunreaktion: »Es gibt bis heute keinen Laborparameter, mit dem sich der Grad der erreichten Immununterdrückung abschätzen lässt, die immunsuppressive Therapie basiert vielmehr auf empirischen Erfahrungswerten« (Homburg 2010: 53). Bei der Einstellung der Immunsuppression geht es daher laut den Ärztinnen nicht darum, sich »streng und eisern« an den Medikamentenspiegeln auszurichten: Diese bieten eine Orientierungsfunktion, im Mittelpunkt der ärztlichen

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Aufmerksamkeit stehen hingegen »die Effekte« der Medikamente, ihre Wirkungen und Nebenwirkungen. Die Immunsuppression ist »nichts klar Geregeltes – die Patienten wissen, dass wir damit spielen« (Ärztin). Immer wieder betonten die Ärztinnen, dass die Immunsuppression »für jeden Patienten sehr individuell« sei und es demzufolge kein Standardprotokoll für eine optimale Immunsuppression gebe. Etwa 60% der Ambulanz-Patientinnen seien nach der ersten Zeit »gut eingestellt« und bekämen über Jahre hinweg, im Gegensatz zur anfänglichen Kombination von zwei bis drei Wirkstoffen, nur noch ein Immunsuppressivum in niedriger Dosis. Bei ihnen müsse die Dosierung kaum bis gar nicht verändert werden, die Werte seien gut und es gebe keine größeren Probleme mit Nebenwirkungen. Bei den anderen 40% laufe es sehr unterschiedlich: »Da muss man die Dosierung ändern, da muss man [Medikamente] dazutun oder wegnehmen [. . . ], ein bisschen Cortison dazu, ein bisschen Cellcept oder Prograf ganz raus – das ist dann ziemlich heterogen. Man kann eben nicht sagen, jeder Patient kriegt jetzt so und so viel Milligramm im ersten Jahr und im zweiten Jahr weniger oder so.« (Dr. Seitz)

Manchmal spielt die Grunderkrankung einer Transplantierten eine Rolle, wobei es wenig bekannte und wissenschaftlich gesicherte Zusammenhänge gibt. »Am einfachsten zu immunsupprimieren« seien diejenigen, die aufgrund einer alkoholtoxischen Leberzirrhose transplantiert worden seien, »weil die ja nicht rezidivieren können – wenn der Patient vernünftig ist [und nicht wieder trinkt]« (Dr. Seitz). Demgegenüber gelten diejenigen mit einem höheren Risiko der Wiedererkrankung als »schwieriger einstellbar«. Die Ärztinnen der Ambulanz beschreiben Immunsuppression als einen Lernprozess, als etwas, das nicht sicher gewusst oder beherrscht und immer wieder neu ausprobiert und getestet wird. Das bedeutet nicht, dass kopflos in Immunsysteme interveniert wird und das ›Spielen‹ oder Experimentieren keinen Regeln folgt. Für die Zusammensetzung der Immunsuppression wie für ihre Dosierung greifen die Ärztinnen auf »etablierte Standards und Richtwerte« zurück. Etabliert bedeutet ihnen zufolge »praktisch erprobt« und bezieht sich auf kollektive, im LebertransplantationsBereich und insbesondere im lokalen Transplantationszentrum geltende »Erfahrungswerte«. Solche ›Werte‹ betreffen die Entscheidung, »wann man damit anfangen kann [Medikamente] zu reduzieren«, wie die Medikamenten-Kombination beim Auftreten einer bestimmten Nebenwirkung verändert werden kann, ohne den Immunschutz zu gefährden, oder ob erhöhte Laborwerte für jemanden, der gerade eine Abstoßungsbehandlung hinter sich hatte, »noch im Rahmen« sind. In der täglichen Handhabung von Immunsystemen werden solche Erfahrungswerte (ebenso wie

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Lehrbuchwissen) nicht einfach angewendet, sondern stets neu geprüft und mitunter revidiert. Dieser Experimentier-Erfahrung werden zwar generelle Prinzipien und Standards wie aktuelle Forschungsergebnisse zugrunde gelegt, vorrangig gründet sie aber in der steten Interaktion mit neuen Patientinnen, die hinsichtlich ihrer PostTransplantations-Verläufe miteinander verglichen und mit bisherigen Erfahrungen abgestimmt werden. Dr. Seitz bemerkte, dass ihre individuelle Erfahrung mit der Immunsuppression vor allem darauf basiere, dass sie selbst seit langer Zeit »dabei« sei. Sie habe unzählige Patientinnen begleitet und anhand jeder neuen Patientin, ihres Post-Transplantationsverlaufs und dessen spezifischer Komplikation neu dazugelernt. Aus demselben Grund würden die rotierenden Assistenzärztinnen die Langzeit-Immunsuppression (wann und wie reduziert wird) in erster Linie in der Ambulanz lernen. Umgekehrt brächten sie »neue Ideen« zum Umgang mit bestimmten Problemen und »neues Wissen mit«. Die Interpretations- und Entscheidungspraktiken der Ärztinnen deuten an, was Grundprinzip klinischer Arbeit ist: »[. . . ] to figure out what, in practice, all things considered, might work best in a persons’s specific situation« (Struhkamp u. a. 2009: 63). Daher bezieht sich das, was die Ärztinnen als klinische Erfahrung bezeichnen, vornehmlich auf fallbasiertem und situiertem Wissen. Es stellt ein pragmatisches wie ›kluges‹ Verlaufswissen dar, das zwar nicht theoretisch-abstrakt, aber durchaus Ergebnis von Abstraktion und Generalisierungen ist. Rita Struhkamp, Annemarie Mol und Tsjalling Swierstra sprechen in diesem Zusammenhang von einem spezifischen Wissens- und Praxismodus, der klinische Arbeit kennzeichne. Diesen Modus nennen sie »doctoring« und verstehen darunter kein dilettantisches ›Herumdoktorn‹, sondern ein von ihnen als positiv verstandenes ›Herumwerkeln‹ (tinkering) (ebd.: 57), bei dem das anhand früherer Fälle Erlernte stets aufs Neue mobilisiert und aktualisiert wird. Auf den situationsspezifischen und flexiblen Einsatz medizinischen Wissens – sei es im Hinblick auf die konkrete gesundheitliche Situation von Patientinnen, die diesbezüglich zur Verfügung stehenden, mitunter konkurrierenden Informations- und Wissensstände oder organisatorische Entscheidungfaktoren wie Zeitdruck und Personalkapazitäten – haben Studien aus dem Bereich der Social Science of Medicine ebenso am Beispiel von formalisierten Gebrauchsanleitungen der Wissensanwendung wie Standardprotokollen verwiesen (Casper/Berg 1995; Berg 1997; Timmermans/ Berg 2003). Meine Beobachtungen in der Ambulanz stehen im Einklang mit diesen Studien, die aus einer sozialkonstruktivistischen, an der Wissenschafts- und Technikforschung orientierten Perspektive auf die medizinische Arbeit blicken und den praktischen und sozialen Charakter medizinischen Wissens hervorheben: (1) Medizinisches Wissen ist praktisches Wissen, das heißt Wissen, das in medizinischer Praxis begründet ist und durch diese Praxis reproduziert wird (Lock 1988: 7). Es ist ein

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Wissen, das Praktiken und Entscheidungen nicht wie ein Fundament zugrunde liegt, sondern in der Praxis der Wissensanwendung permanent umgearbeitet wird (Lock/ Gordon 1988; Casper/Berg 1995). (2) Die Anwendung des kollektiv gespeicherten Wissens einer Profession ist ein sozialer, interaktiver Prozess, in dem Informationen von Patientinnen, Kolleginnen oder technischen Geräten z. B. hinsichtlich ihrer Verlässlichkeit permanent evaluiert und rekonstruiert werden (Berg 1997: 1083). Vor diesem Hintergrund lässt sich die klinische Erfahrung der Ambulanz-Ärztinnen als Resultat wie Ausdruck einer unabgeschlossenen Wissenspraxis beschreiben, als fortlaufende Praxis der Anwendung, Stabilisierung und Umwandlung ihrer spezifischen Art, transplantierte Körper praktisch zu wissen. Darüber hinaus besteht eine wichtige Wissensquelle für die Medizinerinnen darin, dass Transplantierte eine umfassend dokumentierte Patientinnen-Gruppe sind: Bis zu ihrem Lebensende wird jede Komplikation und Erkrankung erfasst, inklusive der Todesursache. Die medizinischen Aspekte ihres Lebens mit einem Lebertransplantat werden im Transplantationszentrum dokumentiert und archiviert, halbjährlich von Eurotransplant (siehe Fn.5 S. 16 und S. 21) abgefragt und in der umfangreichen Datenbank der European Liver Transplant Registry gesammelt.9 Gerade weil hinsichtlich der Immunsuppression noch viele Fragen offen sind, spielen klinische Studien in den universitären Transplantationszentren eine große Rolle. In der klinischen Forschung im Rahmen von Pharmaforschung werden neue Wirkstoffe sowie insbesondere unterschiedliche Kombinationen von Wirkstoffen getestet und verglichen und Langzeitverläufe beobachtet. Etliche der Ambulanz-Patientinnen und Assistenzärztinnen des Zentrums sind als Beforschte oder Forschende in klinische Studien involviert. Diese Studien – unabhängig davon, ob sie selbst durchgeführt oder in einschlägigen Fachpublikationen gelesen werden – stellen eine weitere Quelle des Wissens über transplantierte Körper und ihre Immunsuppression dar. Hier werden zentrumsspezifische Erfahrungswerte wieder in Zahlen ausgedrückt, denn die ›harte Währung‹, wenn es um die Anerkennung und Wahrnehmung von Forschungsergebnissen in der Transplantationsmedizin geht, sind quantitative, kontrollierte und randomisierte Multi-Center-Studien.10 Bisweilen können zentrumsspezifische Erfahrungswerte

9 | Dort sind Daten u.a. über die Indikation(en) zur Transplantation, BlutgruppenKompatibilität, Transplantatsversagen und Immunsuppression von etwa 88.000 Lebertransplantierten in Europa erfasst. Nahezu alle europäischen Lebertransplantationszentren partizipieren an der Datenbank und können die Daten, die von einer separaten Einrichtung aufbereitet und analysiert werden, für wissenschaftliche Zwecke nutzen (http://www.eltr.org/). 10 | Transplantationsmedizinische Hypothesen und Fragen zur Verbesserung chirurgischer Techniken oder der Immunsuppression werden, wie in der Medizin üblich, in klinischen Studi-

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so über die lokale Praxis hinaus zu Richtwerten oder zumindest Orientierungswerten werden. Dennoch greifen die Ärztinnen aufgrund der hochgradigen Individualität immunologischer Nicht-Normalität und ihrer Effekte primär auf die eigene klinische Erfahrung zurück. Diese bietet zwar im Gegensatz zu Laborwerten oder klinischen Studien keine quantitativ zertifizierte Vergleichsfolie des Normalen, habe sich jedoch im täglichen Geschäft der Regulierung von Immunsystemen Transplantierter »bewährt«. Indem ich die Erhebung, Bearbeitung und Interpretation der Laborwerte im Arbeitsalltag der Ambulanz en détail nachvollzogen habe, konnte ich deren prominente Stellung im Rahmen der immunologischen Regulierung transplantierter Körper und deren Herstellung als normale Körper aufzeigen. Dabei war zugleich auffällig, dass die Körper kontrollierenden Zahlen keineswegs als absolut begriffen werden. Messwerte werden zwar mit Referenzbereichen abgeglichen, sodass die Normalität transplantierter Körper auf der Basis dessen hergestellt wird, was statistisch und bezogen auf die gesund geltende Bevölkerung als normal gilt. Gleichzeitig werden beim Interpretieren der Kurven labormedizinische Fakten, Messwerte wie Referenzbereiche, mit klinischen Erfahrungswerten konfrontiert. Diese stellen somit eine weitere Bemessungsgrundlage für die Produktion der Normalität transplantierter Körper dar. Es ist die in der klinischen Erfahrung gespeicherte und stets neu mobilisierte Vielzahl individueller Fälle, die die entscheidende Vergleichsfolie für das Einordnen von Laborzahlen, Patientinnen und Nebenwirkungen liefert. Mit dieser Folie gilt dann all das als normal, was in der Ambulanz für Transplantierte, ihre Leber und ihren spezifischen immunologischen Status als mehr oder weniger typisch und gängig bekannt ist. Beurteilungsnorm ist der transplantierte Körper/das transplantierte Individuum in seinem Verhältnis zu anderen transplantierten Körpern/Individuen, aber auch im zeitlich sich verändernden Verhältnis zu sich selbst (Post-Transplantationsverlauf). Klinische Erfahrung stellt in diesem Sinne eine weitere Herstellungsform von Normalität nach der Transplantation dar.

en geklärt. Die Adjektive geben Auskunft über das Studiendesign: Sie stehen für verschiedene Verfahren, den Einfluss von bekannten und unbekannten Störfaktoren zu minimieren und sollen die Aussagekraft der Studie erhöhen. Als kontrolliert wird eine Studie bezeichnet, wenn das getestete Verfahren, Medikament o.ä. nicht allein an einer Patientinnengruppe überprüft wird, sondern diese Experimentalgruppe mit einer weitere (Kontroll-)Gruppe verglichen wird, deren Teilnehmerinnen auch transplantiert sind, aber z. B. mit einer alternativen Wirkstoffkombination behandelt werden. Wird zusätzlich per Zufallsgenerator entschieden, welche Studienteilnehmerinnen in welche Gruppe kommen, gilt die Studie als randomisiert. Findet sie zudem in mehreren Transplantationszentren statt, handelt es sich um eine Multi-Center-Studie.

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In der Ambulanz treffen die unterschiedlichen Wissenstraditionen von Labor und Klinik aufeinander (Struhkamp u. a. 2009), die nach Keating und Cambrosio (2003) seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Hybrid Bio-Medizin ausmachen. Damit treffen auch unterschiedliche Vermessungstechniken, Maßstäbe und Definitionen von Normalität aufeinander. Die Praxis der Transplantations-Nachsorge und ihr therapeutisches Ziel der optimalen Immunsuppression bei Transplantierten kommt einem Prozess des Austarierens von zwei Körperfunktionen gleich, der zum einen darauf zielt, eine labormedizinisch normale Leberfunktion herzustellen, zum anderen das normale Funktionieren des Immunsystems absichtlich blockiert. Ist dieses auf Zahlen und Kurvenblättern wie klinischen Erfahrungswerten basierende Austarieren erfolgreich, unterscheiden sich Transplantierte und Nicht-Transplantierte zwar hinsichtlich ihrer immunologischen Normalität, nicht jedoch hinsichtlich ihrer in Laborwerten ausgedrückten Normalität der Leber. In der Ambulanz als Kreuzungspunkt von Labor, Klinik und Transplantierten wird (Weiter-)Leben nach der Transplantation – auf der Basis von statistischen und erfahrungsbasierten Merkmalen, die für transplantierter Körper als typisch gelten – kontrolliert und nicht zuletzt normalisiert.

4.3 N ORMALITÄT

UND

T HERAPIE ( UN ) TREUE

IM

D IALOG

In meiner Darstellung dessen, was Ambulanz-Mitarbeiterinnen tun, um (Weiter-)Leben nach der Transplantation zu stabilisieren, habe ich die Transplantierten selbst bisher wenig und eher passiv als Bereitstellerinnen von zu vermessendem Körpermaterial oder Empfängerinnen einer Tablettenzahl, als transplantierte Körper oder medizinische Fälle berücksichtigt. Demgegenüber wird im folgenden Abschnitt das InvolviertSein der Patientinnen stärker in den Blick genommen. Genauso wie Zahlen, Kurvenblätter, klinische Erfahrungswerte oder Medikamenten-Studien sind sie an der ambulanten Praxis der Immunsuppression maßgeblich beteiligt. Im Therapieregime nach der Transplantation wird ihre Kooperation als wesentlicher Faktor vorausgesetzt. Die Stabilisierung von Leberfunktion und Immunantwort hängt von der kontinuierlichen ärztlichen Kontrolle wie von der Therapietreue der Patientinnen ab (Cook/McCarthy 2007). Patientinnen werden vom Ambulanzpersonal nicht nur untersucht, befragt, ermahnt und dazu aufgefordert, bestimmte Dinge (nicht) zu tun, sondern sie antworten, (hinter-)fragen, verhandeln und verhalten sich auf bestimmte Weise. Die Vermessung und Herstellung von Normalität findet in der Interaktion zwischen den Mitarbeiterinnen und den Patientinnen der Ambulanz statt. Normalität nach einer Transplantation ist das Ergebnis dieser Interaktion. Die labormedizinische und klinische Herstellung von Normalität kann zwar gleichermaßen als interaktiv verstanden werden, findet sie

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doch aus der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie in netzwerkartigen Zusammenhängen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren statt (Callon 1986; Latour 2005). Ich beziehe mich hier jedoch auf die charakteristische Ärztin-PatientinInteraktion, die dabei stattfindende Herstellung transplantierter Körper sowie die damit einhergehende Verhandlung des Therapieregimes. Stichwort Therapie(un)treue Therapie(un)treue von Patientinnen wird häufig als (non)compliance diskutiert, im englischsprachigen Kontext auch zunehmend als (non-)adherence. Der Begriff compliance klassifiziert das Verhalten von Patientinnen genauso wie das von Steuerzahlerinnen oder Unternehmen gemäß dem Ausmaß, in welchem diese Vorschriften und Regeln einhalten. Die Etablierung des Begriffs in der angloamerikanischen medizinischen Literatur in den 1960er und 70er Jahren fand in einer Zeit statt, die geprägt war von anti-medizinischen Kritiken wie der Medikalisierungskritik und Kämpfen um Patientinnen-Autonomie (Greene 2004b). Einerseits entmoralisierte die Bezeichnung noncompliant die Widerstände von Patientinnen und machte es in Bezug auf Therapie-Misserfolge möglich, danach zu fragen, welche Rolle die medizinische Praxis selbst dabei spielte. Andererseits stabilisierte die Klassifikation die Schuldfrage: Schuld an Misserfolgen blieben die nun bisweilen ›zu autonomen‹ Patientinnen (ebd.: 336f., 342). Medizinanthropologinnen und -soziologinnen haben beim Thema Therapietreue insbesondere die Rolle unterschiedlicher Bedeutungen von Krankheit betont (vgl. Kleinman 1981; Conrad 1985) sowie, im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeiten von Patientinnen und ihre Konformität mit den Behandlungsregeln, die Rolle ökonomischer Ressourcen (vgl. u.a. Farmer 2001; Greene 2004a). Infolge der antimedizinischen Kritiken hat sich die Rolle der Ärztinnen verändert: Ärztlicher Paternalismus ist, zumindest programmatisch, Ansätzen einer partnerschaftlicheren Beziehung zwischen Medizinerinnen und Patientinnen gewichen, und die WHO (2003) hat zusätzlich zu Patientinnen-bezogenen Faktoren der Therapieuntreue solche definiert, die sich auf Gesundheitssysteme, Krankheit, Therapie und die sozioökonomische Lage von Patientinnen beziehen. Trotzdem verweist jede in der klinischen Praxis zu hörende Aussage zur Therapieuntreue auf die Schuld oder Verantwortlichkeit von Patientinnen. Die Rede von compliance oder adherence ist als klinische Zuschreibung begrifflich mit Vorstellungen medizinischer Autorität und Kontrolle verbunden. In der Ambulanz wurde diese Zuschreibung negativ (»völlig uncompliant«) wie positiv (»sehr compliant«) verwendet, wenn das Personal untereinander darüber kommunizierte, ob Patientinnen regelmäßig ihre Tabletten nahmen, zu den Kontrolluntersuchungen erschienen oder sich an die Ernährungsregeln, vor allem das Alkoholver-

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bot, hielten – oder (phasenweise) eben nicht. Häufiger nutzten sie jedoch das Wort »auffällig«. Wer dabei warum als auffällig eingeordnet wurde, war uneindeutig und wurde, als ich nachfragte, als »schwierige Frage« bezeichnet. Im Wesentlichen ließen sich vier, teilweise zusammenhängende, Verwendungsweisen unterscheiden: Erstens fielen zunächst nur die Blutwerte von Patientinnen auf. Dies konnte zweitens damit einhergehen, dass »auffällig« als Anzeichen von oder sogar Synonym für Therapieuntreue wahrgenommen bzw. verwendet wurde. Wenn diese weitestgehend ausgeschlossen werden konnte und die Ursache eines Gesundheitsproblems nicht auf der Hand lag, galten Patientinnen drittens ebenfalls als »auffällig«. Viertens wurde ab und an die Persönlichkeit von Patientinnen oder ihre Art der Transplantationsbewältigung als »auffällig« charakterisiert, wobei sich dies ebenso auf Patientinnen beziehen konnte, die nach zehn größtenteils stabilen Jahren noch ängstlich mit zittrig-hauchender Stimme in der Ambulanz anriefen, um sich bestätigen zu lassen, dass wirklich alles in Ordnung sei, wie auf Patientinnen, die zwar die Regeln befolgten, aber in der Kommunikation mit dem Ambulanzpersonal als unfreundlich bis aggressiv galten. Die verschiedenen ›Auffälligkeiten‹ deuten auch darauf hin, dass in der Ambulanz nicht nur Personen mit verschiedenen Krankheits- und PostTransplantationsverläufen sowie verschiedenen Umgangsweisen mit diesen aufeinandertreffen, sondern auch »Leute aller sozialer Schichtungen« (Dr. Seitz). In allen vier Verwendungen stand die Kategorie »auffällig« quer zu sozialen Schichtzugehörigkeiten, korrelierte nicht mit diesen. Je nachdem, wie groß die soziale Nähe oder Distanz zwischen den jeweiligen Vertreterinnen des Ambulanzpersonals und den einzelnen Patientinnen war, waren unterschiedliche Formen von Kommunikations- und Beziehungsarbeit erforderlich. Im täglichen Sprachgebrauch der Mitarbeiterinnen des Transplantationszentrums wurde compliance im Sinne von Regelkonformität verwendet. Gleichzeitig unterstrich eine Mitarbeiterin des Transplantationsbüros, dass mit dem Begriff die Einsicht von Patientinnen in die Therapie, also ein Verständnis für die jeweiligen Maßnahmen und eine aktive Mitarbeit gemeint ist. Ihrer Meinung nach beruht Therapietreue auch auf der Kooperation oder »therapeutischen Allianz« von Transplantationszentrum und (potentiellen) Transplantierten. Insgesamt basieren die Informationsgespräche vor und nach der Transplantation und die dabei ausgehändigten Informationsbroschüren und Flyer auf der Annahme, dass Patientinnen nur gut genug informiert und motiviert werden müssen, um compliant zu sein. Ihre Therapietreue wird dann als ein Resultat geglückter Kommunikation angesehen. Demgegenüber wird in der sozialwissenschaftlichen Literatur die Überhöhung von Patientinnen als informierten Konsumentinnen sowie der »Mythos vom mündigen Patienten« kritisiert (Stollberg 2008). Ferner haben Linda Hunt und Kolleginnen gezeigt, dass Patientinnen sehr

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wohl wissen, was ihre Ärztinnen ihnen gesagt und erklärt haben, dies jedoch nicht bedeuten muss, dass sie den ärztlichen Rat befolgen (Hunt u. a. 1989: 324). Vielmehr hängt die Übernahme des Therapieregimes davon ab, wie gut dieses mit bisherigen Routinen und Lebensgewohnheiten kompatibel ist und inwieweit es Patientinnen erlaubt, ihre Symptome zu kontrollieren (ebd.: 325, 329f.). Nun berührt das Befolgen des Therapieregimes nach der Transplantation, insbesondere die regelmäßige Einnahme von Immunsuppressiva, unmittelbar die Frage des Weiterlebens Transplantierter: Therapieuntreue kann zu einer Abstoßungsreaktion und dem Verlust des transplantierten Organs führen, kurz, tödliche Folgen haben. Angesichts dieses Risikos ist die noncompliance-Rate Organtransplantierter, einem Übersichtsartikel zufolge, der quantitative Studien zu überwiegend Nieren- und Herztransplantierten zusammenfasst, im Vergleich zu anderen Patientinnengruppen überproportional hoch (Laederach-Hofmann/Bunzel 2000). Eine Ursache hierfür, die außer Nebenwirkungen häufiger angegeben wird, sind die Kosten der Medikamente – ein Punkt, der für den deutschen Kontext nicht relevant ist, da hier die Kosten der Transplantation wie der Immunsuppressiva und Transplantations-Nachsorge von den Krankenkassen übernommen werden, jedoch in anderen Ländern eine zentrale Rolle spielen kann. Laut Lesley Sharp symbolisieren die Kosten der Immunsuppressiva im US-amerikanischen Kontext ein »survival paradox« (Sharp 1999: 31) transplantierten Weiterlebens, da in den USA die Krankenversicherung vom Arbeitsverhältnis abhängt und eine volle Kostenübernahme selbst im Fall des Versichert-Seins nicht garantiert ist. Die Medizinanthropologin berichtet von den individuellen wie familiären ökonomischen Strapazen, lebenswichtige Medikamente zu bezahlen, und einer »underground economy«, in der Transplantierte ihre nicht genommenen Tabletten mit anderen teilen (ebd.: 32). Sharp und Laederach-Hoffmann/Bunzel verweisen wie schon Hunt und Kolleginnen darauf, dass die Informiertheit von Transplantierten ihre Therapietreue keineswegs garantiert. Generell konnten die Gründe für die Therapieuntreue Transplantierter in den meisten Fällen nicht identifiziert werden (LaederachHofmann/Bunzel 2000: 421). Das mag auch daran liegen, dass viele Studien aus einer klinischen Perspektive auf das Phänomen schauen und die Vorstellungen und das Erleben von Patientinnen außer Acht lassen. Die compliance-Rhetorik verkürzt, was als relevanter Kontext gilt (Martins 2005), und fokussiert nur auf den biologischen, durch medizinische Expertise und Technologien bestimmten wie objektivierten Körper (Cook/McCarthy 2007: 506-509). Medizinanthropologinnen wie -soziologinnen betonen daher die Bedeutung des soziokulturellen Kontexts, in dem Patientinnen in die Nutzung medizinischer Technologien wie in die Praxis der Therapietreue eingebunden sind (Hunt u. a. 1989; Lundin 1999; Martins 2005). Nicht zuletzt vernach-

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lässigt der Fokus auf noncompliance die compliance vieler Patientinnen und den ihr zugrunde liegenden Aufwand (McCoy 2009). Vor diesem Hintergrund und im Rekurs auf meine Frage, wie Transplantierte und Medizinerinnen (Weiter-)Leben nach der Transplantation stabilisieren, interessiert mich Therapie(un)treue als Phänomen und Klassifikation in der Ambulanz primär als Anlass für die dortige Verhandlung von Normalität und Kontrolle transplantierter Körper wie Alltage. Mir gegenüber erwähnten Transplantierte ihre (phasenweise) Therapieuntreue selten und eher im Zusammenhang mit Ernährungs- und Bewegungsregeln als mit Kontrolluntersuchungen, geschweige denn ihrer TablettenEinnahme. Interessanter als die Frage, inwiefern dies an meiner (unterschiedlich stark) mit der Ambulanz assoziierten Forschungsposition lag, war, was mir Transplantierte stattdessen erzählten. Ihre Berichte ließen erkennen, dass Therapietreue im Sinne einer Befolgung der Regeln auf der Grundlage einer Einbettung dieser Regeln in den Alltag mit verschiedenen Anstrengungen und Strategien verbunden und Ergebnis von Lernprozessen wie täglicher praktischer Arbeit ist. Deutlich wurde zudem, dass Therapietreue die Herstellung eines in ihren Augen normalen Alltags gleichzeitig unterstützen wie behindern kann. Wie sie das Post-Transplantationsregime praktisch bewältigen, leben und normalisieren, ist Gegenstand des Kapitels 5. Was zunächst im Vordergrund steht, ist die Verhandlung der Normalität transplantierter Körper wie des Therapieregimes – seitens der Ärztinnen wie der Patientinnen. Regelstrenge als Regulationsvoraussetzung Generell wird das Therapieregime von den Patientinnen größtenteils akzeptiert und den Ambulanz-Mitarbeiterinnen vertraut. Unannehmlichkeiten werden erwähnt, doch häufig als Pflicht hingenommen, oder wie es Margit Hagedorn ausdrückt: »ertragen«. Die Ingenieurin, Ende 60, hat einerseits ein positives Bild von der Medizin, in der vieles »zu reparieren geht«, beobachtet andererseits ihre zunehmende »Empfindlichkeit« gegenüber medizinischen Untersuchungen, von denen sie »einfach zu viele« gehabt habe und derer sie daher überdrüssig sei. Bei jeder Blutabnahme könnte sie »schreien«: »Klar, ich kann mich zusammennehmen, aber am liebsten würde ich sie [die Krankenschwestern] wegstoßen – ich will nicht mehr.« Kontrolluntersuchungen sind für Margit Hagedorn daher emotionale Herausforderungen. Dessen ungeachtet ist sie in der Ambulanz als zuverlässige Patientin bekannt, im Hinblick auf das Therapieregime »spielt« sie »mit«. Das tun nicht alle. Trotz der Kenntnis und allgemeinen Akzeptanz der Regeln sind (temporär) therapieuntreue oder »auffällige« Patientinnen in der Ambulanz kein Einzelfall. Wenn Transplantierte die Blutuntersuchung unregel-

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mäßig oder unzureichend durchführen ließen, schlugen die Ärztinnen der Ambulanz diesen säumigen Patientinnen gegenüber schon mal einen strengeren Ton an: »Wo Sie Ihre Werte ermitteln lassen, ist uns egal. Was Ihnen nicht egal sein sollte: Ihre Leberwerte und ihr Prograf-Spiegel [Medikamentenspiegel eines zentralen Immunsuppressivums] sind lebenswichtig für Sie als Transplantierten – bis an Ihr Lebensende!« (Dr. Seitz beim Telefonat mit einem Patienten)

Die Untersuchungen kontrollieren transplantierte Körper ebenso wie den Erfolg ihrer immunologischen Regulierung. Fehlen Blutwerte, weil Patientinnen aus dem Untersuchungsintervall aussteigen, befinden sich transplantierte Körper und ihre Immunsysteme für Ärztinnen außerhalb ihrer Kontrolle. Ein phasenweise aus den Kontrolluntersuchungen aussteigender Patient ist Nihat Yıldırım, obwohl er ›nur‹ viermal im Jahr zur Blutabnahme muss. Der Anfang 60-Jährige erzählte dem Assistenzarzt, der ihn noch nicht kannte, dass er für fünf bis sechs Monate in die Türkei fahren werde und daher ein Rezept benötige, das sicherstelle, dass er genügend Medikamente mitnehmen könne. Der Arzt war einverstanden: Nihat Yıldırım solle kurz vor seiner Abreise in sechs Wochen noch einmal in die Ambulanz kommen und daran denken, sich in der Türkei einen Arzt für die Blutabnahme zu suchen, um seinerseits sicherzustellen, dass die Ambulanz von ihm weiterhin Blutwerte erhalte. Nihat Yıldırım wollte jedoch die Ambulanz in sechs Wochen nicht erneut aufsuchen und beharrte auf seiner Bitte: Er wolle wie immer einmal im Jahr »nach Hause« und benötige dafür genügend Tabletten. Er lebte seit zehn Jahren mit einem Lebertransplantat und fand die ihm als engmaschig erscheinende Kontrolle angesichts seiner guten Verfassung übertrieben. Der Arzt reagierte ebenso unnachgiebig und führte das Kommunikationsproblem auf die begrenzten Deutschkenntnisse des Patienten zurück. Eine der Krankenschwestern erzählte im Nachhinein mit deutlicher Entrüstung, dass Nihat Yıldırım jedes Jahr im Sommer mit der gewünschten Menge Tabletten in die Türkei verschwinde und sich dort eben nicht um die Blutabnahme kümmere. »Das«, so auch die anderen anwesenden Krankenschwestern, »müsste doch Konsequenzen haben: Er unterläuft unser System!« Der Arzt konnte zwar die Verärgerung der Ambulanz-Schwestern angesichts des therapieuntreuen Patienten verstehen, aber die Diskussion hatte ihm zufolge keinen Sinn. Nihat Yıldırım gehe es gut, er sei seit vielen Jahren transplantiert und seine Immunsuppression stabil: »Was soll ich machen, dem Patienten keine Medikamente geben?« Wichtig sei aber, dass er vor der Abreise komme, sonst gebe es acht Monate keine Laborwerte von ihm.

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Waltraud Fornell unterlief »das System« zwar nicht, sorgte jedoch für verärgerte wie strenge Reaktionen des Ambulanzpersonals, als sie anlässlich ihres Check-ups drei Jahre nach ihrer zweiten Lebertransplantation »den Wunsch« äußerte, die Leberpunktion »mal auszusetzen«. Patientinnen müssen vor der Punktion zwar eine Zustimmungserklärung (informed consent) unterschreiben, nicht zuzustimmen war aber offenbar nicht vorgesehen. Schwester Britta, die für die Organisation und Koordination der Check-up-Untersuchungen zuständig ist, reagierte ungehalten, und zwar umso mehr, als Waltraud Fornell klarstellte, dass sie die Punktion nicht generell ablehne, sondern die Durchführung bei jedem Check-up neu verhandeln wolle: »So geht das nicht, schon aus organisatorischen Gründen nicht.« Als Dr. Seitz im späteren Gespräch deswegen nachhakte, betonte die seit insgesamt 19 Jahren Transplantierte, dass sie »nicht uneinsichtig« erscheinen wolle und man sich ja lange kenne, sie sich jedoch frage, »wie viel von all diesen Eingriffen notwendig ist«. Anlass war die Bemerkung einer Krankenschwester beim Röntgen, dass in der Klinik inzwischen 56 Röntgenaufnahmen von Waltraud Fornells Thorax existierten. Dr. Seitz reagierte auf Waltraud Fornells Frage, indem sie deren indirekten Verweis auf die Strahlenbelastung von Röntgenuntersuchungen aufnahm und scherzte, dass man laut neueren Studien bei einer Flugreise einer viel höheren Strahlendosis ausgesetzt sei, man also pro Röntgenbild nur einmal weniger fliegen müsse. Dann wurde sie jedoch so ernst wie streng: Die Biopsie sei für die Nachsorge als Kontrolle wichtig, nicht nur in Bezug auf Lebererkrankungen, die wieder auftreten könnten, sondern auch für das »Feintuning« der Immunsuppression. Am Ende einigten sich beide darauf, dass auf die Punktion dieses Mal verzichtet werde, sie aber beim nächsten, in zwei Jahre stattfindenden Check-up wieder stattfinden solle. Dass hier eine Patientin kurz nicht ›mitspielte‹, störte zunächst praktisch im Hinblick auf die von Schwester Britta angeführten klinischen Abläufe und deren Organisation. Entscheidender war, dass eine Patientin versuchte, das Therapie- bzw. medizinische Kontrollregime eigenmächtig zu gestalten. Zumal es sich hier nicht um die Auslegung einer Ernährungsvorschrift, sondern, wie schon in der Episode mit Nihat Yıldırım, um das explizit diagnostische und therapeutische Hoheitsgebiet der Transplantations-Nachsorge handelte. Wenn es um die Regelmäßigkeit von Blutuntersuchungen und Leberbiopsien oder um die Einnahme von Immunsuppressiva geht, ist das Ambulanzteam wenig kompromissbereit. Therapieuntreue berührt den Kern ihrer Arbeit. Ärztinnen wie Krankenschwestern fühlen sich für die Stabilisierung von Post-Transplantationsverläufen verantwortlich. Von den Patientinnen erwarten sie daher, dass sie, in ihrem eigenen Interesse, ihren Teil dazu beitragen und die Arbeit des Ambulanzpersonals nicht behindern. Therapieuntreue hat Konsequenzen für Patientinnen wie für die Arbeit des Personals. Bisweilen wurden daher Fälle von folgenreicher Therapieuntreue gegen-

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über anderen Patientinnen als Abschreckung erwähnt, insbesondere wenn es um die Bedeutung der regelmäßigen Einnahme der Immunsuppressiva ging. Eine dieser illustrierenden wie abschreckenden klinischen Narrative zur Erzeugung von Therapietreue lautete so: Ein Patient fuhr mit genügend Medikamenten ausgestattet für zwei Monate nach Asien, blieb dann jedoch, weil es ihm so gut gefiel, wesentlich länger dort. Irgendwann kam er wieder, hatte im Endeffekt drei Monate keine Tabletten genommen und war »ganz grün im Gesicht«.11 Die Ambulanz habe das wieder hinbekommen, heute gehe es dem Patienten wieder gut, aber »das war schwer wieder aufzuholen«.

Das Thema Nicht-Einnahme von Tabletten, der wohl typischste Fall von Therapieuntreue, führt zurück zu den den Körper kontrollierenden Blutuntersuchungen. Therapie(un)treue im Labortest (insbesondere bei Alkoholgenuss) Die Blutanalyse kann bezogen auf das Transplantat wie auch die Tabletten-Einnahme als Überwachungstechnologie verstanden werden: Sie liefert einen »biologischen Schnappschuss« (Greene 2004b: 335) von Patientinnen-Körpern, gibt als solcher Auskunft über die Medikamenten-Einnahme und ermöglicht Ärztinnen jenseits der potentiell unzuverlässigen Selbstauskünfte von Patientinnen ein zusätzliches Urteil (ebd.: 335).12 Laborwerte können Therapieuntreue anzeigen, umgekehrt durch diese aber auch verzerrt werden. Beispielsweise setzt die Messung und vergleichende Bewertung von Medikamentenspiegeln voraus, dass Patientinnen ihre Tabletten tatsächlich regelmäßig einnehmen und in einem bestimmten Zustand zur Blutabnahme erscheinen – nämlich, damit der Talspiegel ermittelt werden kann, ohne die übliche morgendliche Einnahme der Immunsuppressiva. Fragwürdige, sehr hohe Spiegel kamen häufiger zustande, weil Patientinnen aus Gewohnheit ihre morgendliche Dosis wie jeden Tag eingenommen hatten. Solche ›Messfehler‹ konnten durch Rückfragen

11 | Die Farbwahl ist interessant: Eigentlich verfärbt sich die Haut bei Leberproblemen gelb. Grün lässt eher an Übelkeit denken, daran, sich übergeben zu müssen, und soll hier womöglich an das Risiko einer Abstoßung erinnern. 12 | Greene erwähnt in seinem historischen Abriss des Zeitraums, in dem noncompliance zu einer etablierten Kategorie und zum Forschungsgegenstand wurde, sowohl die parallele Etablierung diverser Verfahren der Überprüfung der Tabletten-Einnahme als auch den Aufstieg randomisierter klinischer Forschungsverfahren, die ebenfalls darauf angewiesen waren, dass Studienteilnehmerinnen ihre Tabletten (Wirkstoff wie Placebo) korrekt einnahmen.

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schnell geklärt werden. Schwieriger war die Situation bei hohen Leberwerten, da diese eine Abstoßungsreaktion und damit indirekt eine nachlässige MedikamentenEinnahme, eine anders verursachte Einschränkung der Transplantatsfunktion oder Alkoholkonsum anzeigen konnten. Das absolute Alkoholverbot und dessen Nicht-Befolgung ist gerade im Bereich der Lebertransplantation ein sensibler Punkt: zum einen, weil die Leber das Alkohol abbauende Organ ist, zum anderen, weil übermäßiger Alkoholkonsum neben Hepatitiden die häufigste Ursache für eine Leberzirrhose ist. Die Rückfallquote von transplantierten Ex-Alkoholikerinnen13 wird in der Literatur unterschiedlich hoch angesetzt (Laederach-Hofmann/Bunzel 2000: 416). Die Ärztinnen der Ambulanz bezifferten sie mit etwa 30%. Insbesondere bei Patientinnen, die dieser Gruppe zugerechnet wurden, wurde angesichts »flatternder Leberwerte, ohne dass [seitens der Ambulanz] an der Medikation gedreht wurde« (Dr. Seitz), Therapieuntreue hinsichtlich des Alkoholverbots vermutet. Um die Werte einordnen zu können, versuchten die Ärztinnen dann in Gesprächen oder Telefonaten herauszubekommen, ob diese Patientinnen (wieder) regelmäßig trinken. Da Fragen nach dem Alkoholkonsum stets moralisch aufgeladen sind, à la »Trinken Sie denn noch von dem Verbotenen?« (Ärztin, ironisch), erinnerten mich diese Dialoge an eine Art Spiel, bei dem das Verhandlungsgeschick von Ärztinnen wie Patientinnen entscheidend sein konnte. Die Erfahrung des Ambulanzteams besagte, dass die Frage nach dem Alkohol am ehesten ehrlich beantwortet wird, wenn sie nebenbei eingestreut wird. Ein Assistenzarzt hatte diese Technik Dr. Seitz zufolge perfektioniert. Er redete und redete entspannt mit den Patientinnen am Telefon und fragte irgendwann beiläufig: »Und wann haben Sie das letzte Bier getrunken?« Bei ihm seien die Patientinnen immer drauf »reingefallen«. Alkohol-bezogene Therapieuntreue produzierte in der Ambulanz nicht nur Unverständnis moralischer Art – eine Lebertransplantation sei schließlich eine zweite Chance, nicht ein Angebot, eine weitere Leber kaputtzusaufen –, sondern bedeutete für die Ärztinnen auch zusätzliche Arbeit bei der Deutung der Laborwerte und der Regulierung der transplantierten Körper.

13 | Darunter fallen Alkoholikerinnen, die erst, um auf die Warteliste zu kommen, abstinent wurden; Personen, die bereits seit vielen Jahren ›trocken‹ waren; Personen, die in ihrem Leben (phasenweise) viel Alkohol konsumiert hatten, sozial nicht als Alkoholikerinnen galten und erst Jahre später mit den Folgen für ihre Leber konfrontiert wurden; schließlich Personen, bei denen andere Ursachen für die Zirrhose ausgeschlossen wurden, da kleinere, als unproblematisch geltende Alkoholmengen je nach Person, Körper und Leber auch zu verschieden starken Leberschäden führen können.

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Nicht immer wird Alkoholkonsum zugegeben, weshalb mitunter weitere Blutuntersuchungen veranlasst werden. Ein Laborwert, der nur »auf Verdacht« erhoben wird, ist der CDT-Wert (Carbohydrate-Deficient-Transferrin), ein nicht unumstrittener Marker zur Bewertung von Alkoholkonsum, der laut den Ambulanz-Ärztinnen jedoch bei Langzeit-Alkoholikerinnen »ganz gut reagiert« und »aussagekräftig« sei. Weiter werden ein bestimmter Anämiewert (MCV, mittleres Erythrozyteneinzelvolumen), eine spezifische Konstellation der Fettstoffwechsel- sowie Leberwerte und die Ergebnisse der Leberbiopsie herangezogen. Es sei betont, dass die erhobenen Leberwerte auf diverse Leberprobleme verweisen können. Der hohe Wert eines bestimmten Enzyms (Gamma-GT), der nicht auf die Leber spezialisierte Medizinerinnen durchaus veranlassen kann, von Alkoholismus auszugehen, kann ebenso auf Gallenwegsprobleme hindeuten.14 Gleichzeitig »gibt [es] Leute, die trinken wie verrückt, und man sieht das nicht [an ihren Werten]« (Dr. Seitz). Labormedizinische Messungen wie Leberwerte zeigen, dass die Leber nicht einwandfrei funktioniert, nicht aber, warum dem so ist. Darüber hinaus ist sich das Ambulanzpersonal darüber im Klaren, dass das absolute Alkoholverbot von einigen Transplantierten zeitweilig missachtet wird und sich nicht jeder Alkoholkonsum in den Leberwerten bemerkbar macht. Einige würden sich nach einigen disziplinierten Jahren zu Silvester einen Sekt genehmigen oder zu besonderen Anlässen ein Likör- oder Sherrygläschen Wein genießen. »Trotzdem sind wir [die Ambulanz] da rigoros und sagen: Das ist verboten, egal was für eine Indikation zur Lebertransplantation das vorher war. Dann haben die wenigstens immer mal ein schlechtes Gewissen, wenn sie ein bisschen Wein trinken« (Dr. Seitz). Schließlich erzählten mir mehrere Mitarbeiterinnen des Transplantationszentrums, dass sie durch die Konfrontation mit den (Leber-)Konsequenzen von Alkohol selbst ihren Konsum hin und wieder überprüfen würden. Sie wiesen auf die Funktion wie Integration von Alkohol in sozialen Interaktionen und Beziehungen hin, aufgrund derer sie die Schwierigkeiten einiger Patientinnen, nicht zu trinken, nachvollziehen könnten. Sie bekämen öfter zu hören, dass die sozialen Kontakte einiger Transplantierter das Alkoholverbot eher ironisierten, z. B. mit Sprüchen wie »Wieso? Du hast doch jetzt ’ne neue Leber!« Wenn dann eine Krankenschwester sagte, Lebertransplantierte hätten »eben nur eine neue Leber, kein neues soziales Umfeld und Leben«, oder eine weitere mir zusammen mit Dr. Seitz von der positiven Veränderung einer Patientin

14 | Unabhängig davon, ob sie eine alkoholtoxische Leberzirrhose hatten oder nicht, berichteten viele der Lebertransplantierten vom stigmatisierenden Effekt der Gamma-GT im Vorfeld ihrer Transplantation, gerade bevor sie mit Leberspezialistinnen oder dem Transplantationszentrum in Kontakt kamen.

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berichtete, die es geschafft habe, indem sie nach der Transplantation erneut einen Alkoholentzug absolviert und anschließend ihren trinkenden Ehemann verlassen habe, die also ihre Lebensverhältnisse geändert hatte, um ihren Lebensstil zu ändern, argumentieren die Medizinerinnen lebensweltlich bis sozialwissenschaftlich.15 Trotz des Wissens um diese sozial bedingten Problematiken liegt der Arbeitsfokus der Ambulanz auf dem medizinisch definierten Wohlbefinden von Lebertransplantierten, als dessen Basis normal funktionierende Lebertransplantate und gut ausbalancierte Immunsysteme gelten. Was ich für die Nicht-Einhaltung des Alkoholverbots dargestellt habe, gilt ähnlich für die unregelmäßige, unvollständige oder nicht stattfindende Einnahme der Immunsuppressiva. Ob alle regelmäßig in exakter Dosis ihre Medikamente nehmen, sei nicht »zweifelsfrei nachweisbar«, könnten sie also »nicht beweisen«, so die Ärztinnen. Schwankungen der Laborwerte gebe es immer wieder mal, ob einige Patientinnen zwischendurch Tabletten weglassen (drug holiday) und erst kurz vor ihrem nächsten Termin zur Blutabnahme wieder anfangen zu nehmen (white-coat-adherence), bleibt somit offen. »Ein Problem gibt es für uns, wenn es deshalb ein Problem gibt« (Arzt). Ein Problem ist es zum Beispiel, wenn Patientinnen eigenhändig ihre Medikation ändern und in der Folge mit »schrecklichen Werten«, Leberproblemen oder im schlimmsten Fall mit abstoßungsbedingtem Transplantatsversagen konfrontiert sind. Ob solche Patientinnen dann erneut auf die Warteliste dürfen, diesmal für eine Re-Transplantation, ist hochgradig umstritten und einerseits mit der im Vorwurf der Therapieuntreue mitschwingenden Schuldfrage, andererseits mit dem Vorwurf der »Ressourcen-Verschwendung« knapper Organe (verschiedene Mitarbeiterinnen des Transplantationszentrums) verbunden.16 Seitens der Patientinnen verweisen Verstöße gegen das Therapieregime nicht allein auf ihre ›informierte Uneinsichtigkeit‹ oder

15 | Zum Wissen des Ambulanzteams über die sozialen Kontexte von Patientinnen, die Rolle von Small Talk für dessen Generierung und den Stellenwert dieses Wissens in der Ambulanz siehe Amelang 2012. 16 | So hatte ein Patient, der als Jugendlicher aufgrund einer Leberentzündung mit ungeklärter Ursache transplantiert worden war, nach mehr als zehn Jahren aufgehört, seine Immunsuppressiva zu nehmen, weil er »keine Lust mehr« hatte. Daraufhin bekam er Leberprobleme, an der Gelbfärbung seiner Haut war deutlich sichtbar, dass »die Leber den Bach runterging« (Dr. Seitz). Mit ihm und über ihn wurde im Transplantationszentrum lange diskutiert, bevor grünes Licht für die Aufnahme auf die Warteliste gegeben wurde. Aufgrund des gehörigen Schreckens, den der Patient bekommen habe und der ›praktisch gewonnenen‹ Einsicht, was die Konsequenzen von Therapieuntreue sein könnten, galt er nun als »über-compliant«. Ob er es blieb und tatsächlich re-transplantiert wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.

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unterschiedlich nachvollziehbare Schwierigkeiten der Umsetzung, sondern ebenso auf dessen Hinterfragung. Weiter bedeutet die Therapietreue oder unauffällige Therapieuntreue der Mehrheit der Ambulanz-Patientinnen nicht, dass Regeln eins zu eins und ohne Diskussion befolgt werden. Zwiespältige Kontrollen und Regelmäßigkeiten Die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen können zwar nur schwer vom stets mitschwingenden Aspekt der Überwachung getrennt werden, doch ihre kontrollierende Wirkung variiert. So positiv und »beruhigend« sie auch zumeist von Patientinnen erlebt und bewertet werden (siehe S. 147), versichern sie Transplantierten keinesfalls immer, dass mit ihrer Leber alles in Ordnung und normal ist. Die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen können ebenso gut Nicht-Normalität anzeigen: Sie können subjektives Wohlbefinden, transplantiertes (Weiter-)Leben und vermeintliche Körperkontrolle infrage stellen und demzufolge ebenso beruhigen wie beunruhigen. Gewisse Schwankungen der Laborwerte lösen bei den Patientinnen in der Regel keine größere Besorgnis aus. Ein entgleister Wert, so ihre Erfahrung, kann durch medizinische Intervention, das heißt medikamentöse Re-Regulierung aufgefangen werden. Trotzdem kann jeder neue Untersuchungstermin auch mit einer schlechten Nachricht verbunden sein. Auch aus diesem Grund kann es daher erstrebenswert sein, möglichst wenig Untersuchungen zu haben. Eine Patientin berichtete am Ende ihres gerade absolvierten Drei-Jahres-Check-ups, dass sie »jedes Mal Angst vor der Punktion« habe und die am Tag zuvor stattgefundene »wieder« als »äußerst schlimm« erlebt habe. Sie fragte Dr. Seitz, ob der Eingriff denn in dieser Regelmäßigkeit sein müsse. Sie fühle sich sehr gut, was an ihren Laborwerten doch ablesbar sein müsste – dies bestätigte die Ärztin mit Blick auf die gesamten Check-up-Ergebnisse –, und sie habe gehört, dass die Leberbiopsie in einigen Transplantationszentren nur auf konkreten Verdacht hin durchgeführt werde. Während hier die dialogische Herstellung von Normalität im Abgleich von subjektivem Wohlbefinden und medizinischen Messergebnissen erfolgreich war, stellte die Patientin zugleich die Leberpunktion als Routineverfahren des Ambulanz-Check-ups in Frage. Dr. Seitz reagierte mit der gewohnten Strenge und unterstrich die Bedeutung der Biopsie sowie der lokalen Praxis, sie mindestens alle zwei bis drei Jahre durchzuführen: Gerade Transplantierte mit der Grunderkrankung dieser Patientin, einer Autoimmunerkrankung der Gallengänge, die zur Entzündung der Leber führt (PBC: Primär biliäre Cholangitis), »haben oft tolle Werte – endgültige Auskunft gibt aber nur die Biopsie«. Genau das, entgegnete die Patientin, sei ihre »Punktions-Angst«. Befangenheiten oder Befürchtungen gegenüber der Punktion wurden immer wieder angesprochen, auch von denjenigen, die

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den Eingriff »nicht sonderlich schlimm« fanden. Etliche der länger Transplantierten ironisierten in diesem Zusammenhang, dass sie sich zwar »längst an die Unannehmlichkeiten der Punktion gewöhnt« hätten, jedoch über die Jahre »empfindlicher« und »ängstlicher« geworden seien. Dabei war zuweilen unklar, ob sich ihre »Angst« auf den Eingriff, die Biopsie-Ergebnisse oder beides bezog. Wenn die Untersuchungen gut verlaufen und die Resultate Normalität anzeigen, sind Gefahren wie eine Abstoßungsreaktion oder das Wiederauftreten der Grunderkrankung für viele weniger präsent – erinnert sei hier an Nihat Yıldırım (S. 163). Im ungünstigen Fall, dass eine dieser Gefahren eintritt, kann das (Weiter-)Leben mit einem Transplantat allerdings so massiv gefährdet sein, dass Patientinnen sich für oder gegen eine Re-Transplantation entscheiden müssen. »Ich hätte nie gedacht, dass das nötig ist, weil ich einfach 14 Jahre ein tolles Leben geführt habe«, erzählte Waltraud Fornell, die 16 Jahre nach ihrer ersten Transplantation re-transplantiert wurde. Nach 14 Jahren, in denen es ihr »glänzend« ging, verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand zusehends: »Also, wir haben dann viel mit Immunsuppressionsänderungen probiert. Und dann bekam ich irgendwie auch einen hohen Blutdruck, die Niere wurde immer schlechter und, mmh. Aber eigentlich ging es der Leber schlecht und das wurde dann auch zunehmend sichtbar – weil ich gelb wurde. [. . . ] Und dann wurde es auf einmal schlimmer mit der Leber, der Niere, mit dem Blutdruck und die Immunsuppression war auch nicht mehr so gut zu handhaben. Und irgendwann, 2005 am Jahresanfang, wurde klar, dass ich erneut transplantiert werden muss. Und das habe ich mir auch zwei Monate nicht [ein]gestanden. Sondern ich habe immer gehofft, dass ich mich auf einem niedrigeren Niveau stabilisiere, damit ich diese Ochsentour nicht noch einmal, mmh, ja, durcharbeiten muss.« (Waltraud Fornell 2009)

Während Berit Lüdecke eine Woche nach ihrer Transplantation »aufwachte« und erfuhr, dass sie gleich zweimal transplantiert worden war, weil das erste Transplantat versagt hatte, traf es Waltraud Fornell gewissermaßen erneut »aus vollster Gesundheit heraus« (S. 73).17 Mit der wieder nötigen Ochsentour meint Waltraud Fornell

17 | Berit Lüdecke und Alexander Dahlen wurden, wie bei einem Versagen des Transplantats direkt nach der Transplantation üblich, mit der höchsten Dringlichkeitsstufe bei Eurotransplant gelistet und hatten Glück. Waltraud Fornell ging es vor der Re-Transplantation so schlecht, dass im Transplantationszentrum diskutiert wurde, ob es sich angesichts ihrer schlechten Prognose und knapper Organe, medizinisch »lohnen« würde, sie überhaupt für eine ReTransplantation auf die Warteliste zu setzen. Jenseits der persönlichen Schicksale und dem Ressourcen-Verschwendungsdiskurs ist hier die Rolle einer ›guten‹, für die Transplantationsmedizin positiven Statistik in vermeintlich rein medizinischen Entscheidungen angedeutet.

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»die Tatsache, dass man sich auf seinen Körper nicht mehr verlassen kann, das ist ja was Grausliches« und spricht die Zeit vor und Anfangszeit nach der Transplantation an. Auch für andere Patientinnen ist die Gefahr des Kontrollverlusts – dass die nach der Transplantation zurückgewonnene Verlässlichkeit des Körpers erneut verloren gehen kann – nicht nur im Fall einer Re-Transplantation ein Thema, das mit den regelmäßigen Untersuchungen stets wiederkehrt. Dass Waltraud Fornell in Wir-Form von der Handhabung der Immunsuppression spricht, mag daran liegen, dass sie selbst Medizinerin ist, verweist jedoch auch und gerade auf die lange kooperative Beziehung von Transplantationsambulanz und Transplantierten, in der die Immunsuppression eine gemeinsame Praxis wie eine Verhandlungssache darstellt. Da unklar war, warum Waltraud Fornells Lebertransplantat versagt hatte, mikroskopierte die Neuropathologin zusammen mit einer Kollegin das explantierte Organ. »Wider Erwarten« fanden sie dabei »keine einzige Thrombose«, die auf ihre Grunderkrankung hätte schließen lassen. Stattdessen »war [es] eine chronische Abstoßung – nach so langer Zeit!« Ihre Erwartung deutet auf eine Sorge vieler Transplantierter, die ich traf: Häufiger bezogen sich ihre Ängste weniger auf eine Abstoßung als auf das Wiederauftreten ihrer Grunderkrankung, hatten sie doch gehofft, diese mit der Transplantation hinter sich gelassen zu haben. Gerade Patientinnen, die aufgrund eines Lebertumors oder einer Hepatitis-C-bedingten Leberzirrhose transplantiert worden waren, erlebten ihr Leben nach der Transplantation manchmal als »Zitterpartie« (Patient, bei dem nach der Transplantation erneut ein Lebertumor gefunden wurde). Für einige meiner Gesprächspartnerinnen symbolisierten die Check-ups und Blutuntersuchungen deshalb ein ihre persönliche Routine und Normalität betreffendes Risiko. So »erinnerten« die regelmäßigen Kontrollen eine Mitte 40-Jährige, seit sechs Jahren transplantierte Patientin daran, »dass etwas nicht ganz in Ordnung ist«. Anders ausgedrückt: Ihre Regelmäßigkeit selbst kann de-normalisierend wirken. Die Notwendigkeit, sich regelmäßig von der Medizin durchchecken lassen zu müssen, lässt die Instabilität transplantierter Körper und die eigene Nicht-Normalität in den Vordergrund treten. Neben dem skizzierten Beunruhigungspotential ist es dieser Aspekt, der Kontrolluntersuchungen für viele der Transplantierten widersprüchlich erscheinen lässt. Im Verhältnis dazu wird das Gebot, die Termine zur Blutabnahme regelmäßig wahrnehmen und sich eine Vene punktieren lassen zu müssen, von vielen AmbulanzPatientinnen zwar als »lästiges, aber notwendiges Übel« empfunden, ist indes für die meisten »nicht der Rede wert«: Die Blutabnahme gehöre zum Alltag nach einer Transplantation dazu. Eine seit drei Jahren Transplantierte sagte in diesem Zusammenhang, »die Regelmäßigkeit habe [sie] im Blut«. Mit diesem sprachlichen Bild verweist sie sowohl auf das, was im Labor getestet wird, die im Abgleich mit ei-

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ner Norm vermessene ›Regelmäßigkeit‹ ihres Blutes, als auch die zur Gewohnheit gewordene Wiederkehr der Blutabnahme. Diese Gewohnheit ist Ergebnis einer durch die Kontrolltermine eingeforderten wie etablierten Routine. Sie ist eine »Pflicht«, wie einige sagten, der man nachzukommen hatte und an die man seit der Zeit auf der Warteliste gewohnt sei. Ein als Techniker arbeitender, Ende 50-jähriger, Patient verglich die Art der Verpflichtung mit einem Arbeitsverhältnis: Man habe nicht immer Lust hinzugehen, mache es aber. Einerseits ging die verpflichtende Routine der Untersuchungen für viele der Patientinnen mit einer Veralltäglichung der lebenslangen Kontrollbedürftigkeit ihres Lebens nach der Transplantation einher. Andererseits schwang in den Bemerkungen einiger von ihnen, trotz aller Routine, ein gewisser, Missmut mit, der ihre jeweils individuellen Normalisierungsprojekte betraf. Die nach eigener Aussage gern unter medizinischer Aufsicht stehende Pia Krüger war sehr wohl daran interessiert, dass ihr vierwöchiges Blutabnahme-Intervall möglichst schnell in ein fünfwöchiges oder noch längeres Intervall umgewandelt würde. Auch wenn sie dem Kontrollaspekt etwas Positives abgewinnen konnte, bedeuteten weniger Untersuchungen für sie, wie für viele andere, mehr Normalität. Schließlich sei für die Mehrheit der Bevölkerung normal, sich nicht ständig von Ärztinnen untersuchen lassen zu müssen. Meine Gesprächspartnerinnen lassen sich zwar auf die klinische Vermessung von Normalität ein, gleichwohl bleibt diese Art der Messung für sie unvollständig. Als Zeichen ihrer Nicht-Normalität bzw. der medizinischen Abhängigkeit ihres Lebens laufen die klinischen Normalitätsmessungen individuellen Vorstellungen von Normalität zuwider. Meine Gesprächspartnerinnen sind nicht an einer abstrakten Produktion von Normalität interessiert, sondern daran, dass ihr Körper wieder ›normal‹ funktioniert und sie ›normal‹ leben können. Zusammengefasst: Die Regelmäßigkeit der Kontrolluntersuchungen nach der Transplantation hat für Transplantierte einen normalisierenden Effekt – als Routine und als Stabilisierung transplantationsmedizinischer Normalität –, ebenso jedoch einen de-normalisierenden oder sogar stigmatisierenden Effekt. Der erste Effekt bezieht sich stärker auf die Normalität von Körpern, der zweite auf die Normalität des täglichen Lebens mit diesen Körpern. Insgesamt betreffen die widersprüchlichen Effekte von Kontrolluntersuchungen die Art und Weise, wie die Transplantierten diese als Teil ihres Post-Transplantations-Alltags auf ihre eigene Messung von Normalität beziehen. Sie spielen ferner in der Herstellung von Normalität zwischen Ärztinnen und Patientinnen eine Rolle, werden darin doch verschiedene Messungen von Normalität zum Verhandlungsgegenstand. Auf Grundlage welcher Vorstellungen des Normalen Transplantierte beurteilt werden, ist, wie ich gezeigt habe, bereits auf der medizinischen Seite keineswegs eindeutig. Noch unschärfer wird der Maßstab, wenn die Merkmale und Facetten des Normalen berücksichtigt werden, mit denen Transplantierte als Individuen und Gesellschaftsmitglieder in ihren

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verschiedenen sozialen Beziehungen konfrontiert werden und sich selbst beurteilen. Was an der widersprüchlichen Einschätzung der Kontrolluntersuchung deutlich wird, ist die Divergenz zwischen einem klinischen Projekt der Normalisierung transplantierter Körper und den individuellen Normalisierungsprojekten von Transplantierten.

4.4 FAZIT: N ORMALE L EBER -A LLTAGE Mit dem Einblick in die Lebertransplantationsambulanz wurde das Post-Transplantationsregime, dessen weitreichende Eingriffe in den Alltag von Transplantierten zuvor gezeigt worden ist, (vorerst) wieder enger gefasst und vor allem als Kombination aus Immunsuppression und Kontrolluntersuchungen analysiert. Medikamente, regelmäßige Blutanalysen und in Abständen erfolgende Check-ups sind in der Ambulanz die Ausgangsbasis dafür, wie die Normalität des (Weiter-)Lebens nach der Transplantation hergestellt wird: Normale transplantierte Körper sind in immunologischer Hinsicht nicht-normale Körper. Was dann ›transplantierte Normalität‹ genannt werden kann, bemisst sich an mehr als einer Norm. In diesem Zusammenhang habe ich insbesondere drei Formen der Vermessung und Herstellung normaler transplantierter Körper vorgestellt: erstens die auf labormedizinischen Messverfahren und statistischen Bevölkerungsdaten basierende Form; zweitens die auf klinischen Erfahrungswerten beruhende Form, deren Grundlage die lokale wie unabgeschlossen bleibende Praxis ist, transplantierte Körper in einer Vielzahl von spezifischen Fällen und konkreten Handhabungen zu kennen; und drittens die in der Interaktion zwischen Medizinerinnen und Patientinnen etablierte Form. Bei den ersten beiden, in der Ambulanz-Arbeit zentralen Formen wurde deutlich, dass das, was als normal gilt, bereits seitens der Medizin mehrdeutig ist. Normalität wird hier in einer Konkurrenz unterschiedlicher, sich ergänzender und zugleich hinterfragender Definitionen etabliert (z. B. Labor vs. Pathologie vs. klinische Erfahrung). Die dritte Form der Herstellung normaler transplantierter Körper beruht darauf, dass für Transplantierte weitere, ebenfalls heterogene Messungen der Normalität eine Rolle spielen. Diese Messungen gehen über den klinischen Fokus auf die Normalität transplantierter Körper hinaus und betreffen eher das tägliche Leben mit diesen Körpern. Das heißt nicht, dass die Transplantierten medizinische Definitionen verwerfen. Schließlich ermöglichen diese ihnen zu sagen, zumal mit einer anerkannten Autorität, dass sie zumindest hinsichtlich ihrer Laborwerte und Leberfunktion (wieder) ein normales Leben haben. Allerdings sind solche medizinisch fundierten Normalitätsmarker, wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde, für meine transplantierten Gesprächspartnerinnen nicht die einzige Begründungsinstanz.

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In diesem Kapitel habe ich die Lebertransplantationsambulanz zum einen als zentrale Instanz des klinischen Veralltäglichungs- und Normalisierungsprojekts transplantierten (Weiter-)Lebens beleuchtet, zum anderen als Ort der von Medizinerinnen und Transplantierten gemeinsamen Herstellung von Normalität nach einer Lebertransplantation. Diese Herstellung wie auch die ihr zugrunde liegende Verhandlung sind gleichermaßen ein Kennzeichen der temporären Stabilisierung transplantierter Körper wie, aufgrund deren Instabilität, ein unabgeschlossener, mal mehr, mal weniger erfolgreicher Prozess. Ich habe erläutert, wie Medizinerinnen zur Bewerkstelligung dieses Prozesses Körper handhaben, regulieren und kontrollieren und auf welche Weise in diese Praktiken Messergebnisse wie z. B. Leberwerte, Instrumente wie z. B. Kurvenblätter, Medikamente und nicht zuletzt Transplantierte selbst involviert sind. Dass die Immunsuppression kein allein ärztliches Projekt ist, veranschaulicht im Falle des Erfolgs das gegenseitige Beglückwünschen: So gratulierte ein Arzt einem Patienten anlässlich seines Check-ups und sagte: »17 Jahre, das ist eine große Leistung.« »Ihrerseits!«, antwortete der Patient, bezogen auf das erfolgreiche Ausbalancieren der Immunsuppression durch die Ambulanz. »Ihrerseits!«, entgegnete wiederum der Arzt, bezogen auf die disziplinierte Mitarbeit und Therapietreue des Patienten. Solche gemeinsamen Stabilisierungen von transplantierten Körpern machen einen zentralen Teil von Post-Transplantations-Alltag(en) aus, der mit banalen wie in ihren Effekten außergewöhnlichen Formen medizinischer Kontrolle des Lebens, Verhaltens und Alltags Transplantierter einhergeht. Die mal gemeinsamen, mal unterschiedlichen Ansätze von Medizinerinnen und Patientinnen, Körper unter Kontrolle zu bekommen, definieren dann, was als Standarduntersuchung und als normales (konformes) Patientinnenverhalten nach einer Transplantation gilt. Die einem Arbeitsbündnis ähnelnde Beziehung wird zwar partnerschaftlich verstanden und es wird immer wieder an die notwendige Eigenverantwortung der Transplantierten appelliert, trotzdem beansprucht die Klinik bzw. die Ambulanz die Entscheidungshoheit, wenn es um die lebenswichtigen Regeln und die Definitionen der Notwendigkeiten nach der Transplantation geht. Konterkariert wird diese Entscheidungshoheit durch die mitunter lebensgefährliche Therapieuntreue von Patientinnen. Therapieuntreue wurde hier überwiegend auf die Medikamenten-Einnahme und die Kontrolluntersuchungen bezogen. Was zusätzlich im Informationsgespräch mit Schwester Britta und in der Reha-Klinik einen großen Raum einnahm, die Alltage wie Lebensstile betreffenden Ernährungs- und Hygieneregeln (siehe Kapitel 3), war in der Ambulanz mit Ausnahme des Alkoholverbotes vergleichsweise selten Thema. Als problematisch und klinisch relevant galten für die Ärztinnen weniger äußere Keime oder Hygienegefahren als die Gefahren im menschlichen Körper (Viren, Bakterien, Tumorzellen), die erst durch die Immunsuppression zum Problem wurden

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und oft langwierige Behandlungen nach sich zogen. Bewegungsmangel und Übergewicht hatten zwar im Vergleich zur Tabletten-Einnahme eine geringe Priorität, konnten jedoch langfristig, vor allem im Zusammenspiel mit den Nebenwirkungen der Immunsuppressiva zu zusätzlichen Gesundheitsproblemen führen und dann durchaus klinische Priorität erlangen. Insgesamt hing es von der gesundheitlichen und immunologischen Verfassung des Körpers ab, wie stark das Verhalten einzelner Transplantierter für die ärztliche Regulierung dieses Körpers eine Rolle spielte und welches Verhalten noch als angemessen oder bereits als problematisch galt. Zur Verringerung von Risiken waren jene Regeln mitunter dann doch relevant und verlangten von den Transplantierten, ihr Transplantat und ihr geschwächtes Immunsystem nicht durch einen riskanten Lebensstil zu gefährden. Der Blick der Ambulanz auf die Körper ist ein doppelter: Zum einen richtet er sich stärker ins Körperinnere (siehe S. 127) und fokussiert dabei vor allem auf die Leber, zum anderen geht er mittels des Therapieregimes darüber hinaus. Die Ambulanz kontrolliert mit den Körpervermessungen nicht bloß Lebertransplantate, Immunsysteme und die Effekte medikamentöser Körperregulierung. Sie überwacht zugleich transplantierte Körper, Transplantierte und ihre Therapietreue. Was hier kontrolliert wird, ist das Umfeld oder die Umgebung des transplantierten Organs, das bzw. die ich als Organ-Alltag beschreibe. Der Organ-Alltag konstituiert sich durch die verschiedenen Praktiken von Medizinerinnen und Transplantierten, die ebenso auf das Wohlbefinden der Leber zielen wie auf die spezifische Regulierung von deren Umgebung. Diese den Alltag der transplantierten Leber ausmachenden Praktiken beziehen sich auf den Patientinnen-Körper in einem sehr weiten Sinne: Sie betreffen das Immunsystem, das daran gehindert werden muss, dem Transplantat zu schaden, Keime und Grunderkrankungen im Körper, die das Wohlbefinden von Transplantat wie Körper gefährden, Medikamente mit unterschiedlichen Effekten in den Körpern und schließlich das für Leber, Immunsystem und körperliches Befinden mehr oder weniger gefährliche Verhalten der Transplantierten. Es ist die von den Medizinerinnen und Transplantierten gemeinsam betriebene, punktuell oder vorübergehend erfolgreiche ›Einhegung‹ der physiologisch-sozialen Organ-Alltage, die medizinische wie alltägliche Formen transplantierter Normalität überhaupt ermöglichen. Im Fokus der medikamentösen wie verhaltensregulierenden Stabilisierung transplantierter Körper stehen innere Vorgänge (Immunsysteme, Körperfunktionen) und äußere Kontexte (Alltage allgemein), die allerdings dynamisch und nur bedingt kontrollierbar sind. An dieses Ergebnis schließt die Frage nach den Handlungspotentialen an, die Frage, wer hier eigentlich wen oder was kontrolliert. Emily Martin hat im Hinblick auf das Körper-Subjekt auf eine irritierende Folge des Denkens in Körper-Systemen hingewiesen: Das Selbst (›Ich‹) wird zur passiven Beobachterin innerer Körpervorgänge

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und der Handlungsfähigkeit, Flexibilität und Fitness von Körperkomponenten wie z. B. Immunzellen (Martin 1997: 547). Sich Körper als komplexes System vorzustellen, das in dynamischer Beziehung zu seiner Umwelt und damit anderen Systemen steht, führe, so spekuliert sie, zu einem Paradox »ermächtigter Machtlosigkeit«, nämlich »sich für alles verantwortlich zu fühlen und gleichzeitig machtlos zu sein« (Martin 2002: 39). Dieser Widerspruch lässt sich auf die Situation von Transplantierten übertragen: Einerseits können sie den Aktivitäten ihrer Immunsysteme und Ärztinnen nur zuschauen, andererseits sind sie in diese Aktivitäten durch ihre therapie(un)treue Alltagspraxis eingebunden. Mit den Regeln des Therapieregimes wird den Transplantierten der Eindruck vermittelt, dass sich das Immunsystem kontrollieren und beherrschen lässt. Dies wurde deutlich, als eine Patientin betonte, dass sie sich stets an die Regeln gehalten habe und nicht verstehe, wie es zu einer Abstoßung habe kommen können. Zwei der Krankenschwestern trösteten sie: Eine Abstoßung habe nichts damit zu tun, ob man sich an die Regeln halte. Vielmehr sei sie »eine Frage des Heiligen Geistes« oder »Schicksal« – »da kann man nichts machen«. Diese die geforderte Therapietreue sabotierende Aussage, relativierten sie später wieder: Regelkonformität garantiere zwar keinen Erfolg, sich nicht an die Regeln zu halten, mache Misserfolg allerdings wahrscheinlicher. Der gemeinsame Versuch, das stets ›im Hintergrund‹ reagierende Immunsystem unter Kontrolle zu halten, kann vom selbigen ständig durchkreuzt werden. Das gezähmte Immunsystem hat immer noch das letzte Wort. Scheitern gehört zum Arbeitsalltag der Ambulanz wie zu PostTransplantations-Alltagen. Das Leben nach der Transplantation ist, wie jedes Leben, endlich. Nichtsdestotrotz ist das medizinische Therapieregime eine machtvolle Intervention in die (Organ-)Alltage Transplantierter. Wie ich in diesem Kapitel bereits angedeutet habe, wird es als strukturierendes und Routinen vorgebendes Element von PostTransplantations-Alltagen selbst Gegenstand von Veralltäglichungs- und Normalisierungspraktiken. Wie meine transplantierten Gesprächspartnerinnen Post-Transplantations-Alltage lebten und normalisierten und welche Bewertungsmaßstäbe dabei jenseits der medizinischen Angebote eine Rolle für sie spielten, ist Thema des nächsten Kapitels.

5 Post-Transplantations-Alltage als normal herstellen und leben

In Kapitel 5 wird die Klinik als Ort verlassen und untersucht, wie Transplantierte ihr Leben jenseits von Klinik und Patientin-Sein bewältigen. Alltag wird von ihnen nach der Transplantation nicht nur neu hergestellt, sondern auch vorgefunden. Im Mittelpunkt steht die vielschichtige Fabrikation dessen, was meine Forschungsteilnehmerinnen als echtes oder normales Leben bezeichneten. Ausgehend von sechs Post-Transplantationsgeschichten (5.1) wird untersucht, wie Transplantierte das Therapieregime normalisieren und zu ihrem Alltag machen (5.2). Welche Bedingungen und Strategien kennzeichnen den Prozess der Veralltäglichung und Normalisierung? Welche praktischen Anstrengungen und Ressourcen sind gefordert? Und wie werden alte und neue Gewohnheiten in Einklang gebracht? Weiter wird die zentrale Rolle von Familien- und Erwerbsarbeits-Verhältnissen als zwei zentralen gesellschaftlichen Normalitätsmarkern beleuchtet (5.3). Schließlich wird das deutlich werdende Spannungsverhältnis zwischen individuellen und kollektiven Erwartungen in der Diskussion von Normalisierung und Normalität ›transplantierter Gesundheit‹ als einer Zwischenposition zwischen Gesundheit und Krankheit ausgelotet (5.4).

5.1 P OST-T RANSPLANTATIONSGESCHICHTEN – EINE AUSWAHL Vorher, »das war auf Leben und Tod«, das war eine Leberzirrhose im Endstadium. »Jetzt führe ich ein ganz normales Leben. [. . . ] Ich habe wieder ein normales Leben. [. . . ] Ich habe meinen alten Schwung wieder [. . . ], bin gesund und munter. [. . . ] Die Leute staunen immer, denn es ist ja wirklich nicht alltäglich.« Eine Veränderung gibt es »vom Charakter her«, dass »ich anderen

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gegenüber sage, wenn mir etwas nicht gefällt. [. . . ] Früher hätte ich aus Höflichkeit nichts gesagt. [. . . ] Ich nehme mich wichtiger«, denn das war »an der Schwelle zum Rübergehen, ich hab’s gemerkt.« »Als ich die Leber hatte – alles bestens!« (Pia Krüger)

Diese Darstellung des Lebens nach der Transplantation erinnert an diejenige, mit der ich die Arbeit begonnen und die ich als typische öffentliche Erzählung bezeichnet habe (siehe S. 3), auch wenn hier die »Charakterveränderung« prominenter ist. Der wesentliche Unterschied ist, dass Pia Krüger im Alter von 64 Jahren lebertransplantiert wurde und ihre Leberzirrhose auf eine Zeit in ihrem Leben zurückzuführen war, in der sie zu viel Alkohol trank. In Zeitungsberichten und Organspendekampagnen werden demgegenüber meist Transplantierte unter 50 und keine Ex-Alkoholikerinnen vorgestellt. Lebertransplantierte sind häufig mit dem Generalverdacht konfrontiert, Alkoholikerinnen und an ihrer Erkrankung selbst schuld gewesen zu sein.1 Mehr als das öffentliche Bild der Lebertransplantation oder der ›Säuferleber‹ interessiert mich allerdings, was Pia Krügers Erzählung mit den öffentlichen Darstellungen verbindet, was beide erzählen und nicht erzählen. Die Transplantation wird als nicht-alltägliche, aber unproblematische medizinische Intervention präsentiert und mit einer Rückkehr in oder Wiederherstellung von Normalität gleichgesetzt. In den vorangegangenen Kapiteln habe ich anhand der medizinisch-pharmazeutischen Abhängigkeit von Transplantierten und des damit verbundenen, stark in Alltag eingreifenden Therapieregimes verdeutlicht, dass diese Rückkehr auf einem Zusammenspiel umfangreicher Infrastrukturen sowie einem heterogenen Ensemble von Praktiken, darin involvierten Akteurinnen und Dingen basiert. Interessant ist, dass die spezifische klinische Rahmung des (Weiter-)Lebens nach einer Transplantation von der Mehrheit meiner Gesprächspartnerinnen kaum erwähnt oder relativiert wurde. Ob ihre Post-Transplantationsgeschichte der öffentlich erzählten Variante mehr oder weniger entsprach, spielte dabei keine Rolle. Selbst diejenigen, die ihre Erfahrungen explizit von den »mediale[n] Bilderbuchgeschichten« abgrenzten und klarstellten, »dass die Realität dann doch anders aussieht«, bezogen

1 | Die Transplantation von Personen mit alkoholtoxischer Leberzirrhose ist ein häufiger, aber keinesfalls der einzige Grund für eine Lebertransplantation. Zudem sei festgehalten, dass Alkoholismus als Krankheit gilt, Personen jeglichen sozialen Hintergrunds betrifft und den Missbrauch eines Stoffes, der weit verbreitet und gesellschaftlich bestens integriert ist. Die 70% der Lebertransplantierten, die aufgrund einer alkoholtoxischen Zirrhose transplantiert wurden und ihr ›zweites Leben‹ tatsächlich ohne Alkohol leben, haben transplantationsmedizinisch gesehen die besten Prognosen und könnten als Ex-Alkoholikerinnen und als Lebertransplantierte Erfolgsgeschichten erzählen.

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sich auf das Normalitäts-Narrativ als Vergleichsfolie für ihre Erzählung.2 Darüber hinaus schenkten die wenigsten von ihnen, im Hinblick auf die Frage, ob ihr Leben bzw. ihr Alltag als normal eingeschätzt werden könne, den Bedingungen und Abhängigkeiten ihres (neuen) Lebens größere Beachtung. Zum Einstieg in das Kapitel folgt eine Auswahl von Post-Transplantationsgeschichten. In ihnen kommen sechs der sieben Gesprächspartnerinnen, die bereits mit ihren Prä-Transplantationsgeschichten vorgestellt wurden, erneut zu Wort (für biografische Details siehe 3.2 S. 73-79 und 3.4 S. 109-111). Die in ihnen behandelten Themen, Sicht- und Darstellungsweisen sind bezogen auf die Vielfalt von Erfahrungen, von denen mir während meiner Forschung erzählt wurde, typisch. Ausgehend von einer Zusammenfassung der jeweiligen Kern-Erzählungen, widme ich mich der Frage, was von Transplantierten außerdem erwähnt wird bzw. mit (m)einem Blick auf Alltag und Normalität darüber hinaus erzählt werden kann. Überhaupt eine Zukunft (Alexander Dahlen) Das Transplantat versagte, kaum dass es in Alexander Dahlens Körper war. Für den zu dem Zeitpunkt 33-Jährigen hieß das: »langsam bewusst sterben«, »örtlich gefangen« (Intensivstation), »im Körper gefangen« und erneut auf der Warteliste – »Potenzierung des ultimativen Horrors«. Nach zehn Tagen wurde er erneut transplantiert. Diesmal erfolgreich. Kurze Zeit später war er mit einer bakteriellen Infektion konfrontiert, gefolgt von einer Zytomegalie.3 Er war »teil-resistent gegen den normalen AntivirusCocktail« und es folgten »aggressive Therapien«. Gleichzeitig musste er erst »alles

2 | In Erfahrungsberichten Transplantierter, die überwiegend (potentielle) Transplantierte adressieren und z. B. durch Broschüren von Selbsthilfe-Gruppen oder Webseiten verbreitet werden, ist das ähnlich: Einschränkungen oder Komplikationen werden genannt, während Lebensqualität betont wird. Die Botschaft lautet: Ein fast normales Leben nach der Transplantation ist trotzdem möglich. 3 | Der Zytomegalie-Virus (HZMV/CMV) ist weit verbreitet, etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung trägt ihn in sich. Oft bleibt die Infektion aufgrund der geringen und grippeähnlichen Symptome unbemerkt, Virus und Antikörper bleiben im Körper zurück. Was für Gesunde als harmlos gilt, kann für immunsupprimierte Transplantierte zum ernsthaften Gesundheitsproblem werden. Daher spielt ein gleicher CMV-Status von Spenderin und Empfängerin (Träger bzw. Antikörper ja/nein) auch bei der Organ-Zuteilung eine Rolle. Was für CMV gilt, betrifft auch andere Viren und Bakterien, die sich Transplantierte häufig nicht von außen zuziehen, sondern die sich innerhalb ihres Körpers befinden und durch die Immunsuppression reaktiviert oder problematisch werden.

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– bis auf vielleicht Gedächtnisinhalt abrufen – neu lernen [. . . ], also essen, trinken, normal sprechen, sitzen, stehen, laufen und so weiter«. Die Reha mit ihren Anforderungen stellte eine Überforderung dar. »Im ersten Jahr ist man eigentlich praktisch zu nicht viel zu gebrauchen«. Diese Zeit ist für ihn vier Jahre her. »Nachdem diese Rekonvaleszenz der Extrem-Einschränkung abgeschlossen war, bin ich ja, abgesehen von ’ner verkürzten sportlichen Kondition, wieder ziemlich auf dem Normalniveau angekommen – bis auf die Tatsache, dass ich halt halbtags arbeite und sportlich weniger leistungsfähig bin.«

Doch Alexander Dahlens Kernsatz lautet: »Es gibt überhaupt ’ne Zukunft«. Zuvor, das war ständige Todesangst, »’ne unsichtbare Fessel«, die ihn davon abhielt zu leben: »Ich war ja [vorher] im Wesentlichen tatsächlich mit Überleben beschäftigt, und nicht damit, mein Leben zu gestalten« (siehe S. 77). In der Konsequenz heißt das für ihn, dass er »erst mit über 30 realistischerweise irgendwas planen kann«, was »ein bisschen blöd« sei, »speziell dann, wenn man immer unterhalb seiner Möglichkeiten gelebt hat aufgrund dieser Krankheitssituation«. Alexander Dahlen sagte zu mir, dass er noch niemanden getroffen habe, »der so lange, so bewusst gestorben ist« wie er selbst. Doch die Formel ›Überleben statt Leben (Alltag)‹ ist mit Blick auf die Zeit vor der Transplantation für die Mehrheit der Lebertransplantierten durchaus zutreffend, selbst wenn sich die jeweiligen Leber- oder Gallengangsprobleme mit ihren lebensbedrohlichen Folgen unterschiedlich massiv bemerkbar machten. Ihnen allen ermöglichte die Lebertransplantation, eine Zukunft zu haben und Gegenwart weiterzuleben. Inwiefern dieses Weiterleben als radikale Veränderung erlebt wird oder nicht, variiert und stützt sich nicht allein auf medizinisch-körperliche Vermessungen von Leben. Alexander Dahlen sagte zwar, dass er »keine praktischen Einschränkungen« erfahre, deutete diese jedoch in Bezug auf seine verringerte Kondition an. Sein Weiterleben mit Zukunft ist zugleich von gewissen Kontinuitäten geprägt. Beispielsweise arbeitet er wie vor der Transplantation in einem Studio für Filmsynchronisation und -musik oder wird bei medizinischen Terminen weiterhin von seiner Mutter begleitet. Und: »Ein Schatten von dieser Angst bleibt natürlich trotzdem und wird ja nur partiell rausgeschnitten.« Zurück im alten Trott (Robert Jost) Robert Jost konnte die Intensivstation viereinhalb Tage nach der Transplantation und das Krankenhaus nach insgesamt drei Wochen verlassen. »War schön, wieder zu Hause zu sein«, zurück im Gewohnten, die über ihm schwebende Todesgefahr war

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gebannt. Nach der Reha fühlte sich der 63-Jährige »fit wie ein Turnschuh«, und es dauerte nicht lange, bis »alles wieder recht normal« war. »Ich habe ziemlich in meinen alten Trott und meinen alten Rhythmus gefunden.« Doch wenige Wochen später kämpfte er mit den Nebenwirkungen eines seiner Immunsuppressiva, in dessen Erforschung er als Teilnehmer einer klinischen Studie eingebunden war.4 Seine Beine wurden durch Wassereinlagerungen im Gewebe dick. Er »passte in keinen Schuh« und die Nordic-Walking-Touren mit seiner Frau wurden zunächst kürzer und fielen schließlich ganz aus. Zwischendurch die Vermutung einer Abstoßungsreaktion, kaum der Rede wert, er hatte es nicht bemerkt. Medikamente wurden umgestellt und die Laborwerte erholten sich. Richtig »wieder in der ganzen Situation zurückgeworfen« habe ihn ein Tumor, der in seiner »eigentlich ja normalen, gesunden Leber« sechs Monate nach der Transplantation beim Check-up festgestellt wurde. »Mental« hatte er sich auf die erste post-operative Zeit »an Schläuchen« vorbereitet, nicht jedoch mit einer neuen Tumor-Diagnose gerechnet. Auf die Entfernung des Tumors folgten, nicht unüblich für das Verfahren der Radiofrequenzablation, viele Wochen unter Schmerzen. Dann, zum Ein-Jahres-Check-up, bekam er nur gute Nachrichten, was seine Leber betraf. Auf ein emotional turbulentes Jahr zurückschauend meinte er: »Eigentlich hat sich nicht sehr viel geändert, im Prinzip genauso wie vorher. Ich hatte ja vorher auch schon ’ne Einschränkung.« Als er während unseres Treffens aufbrach, um seine Enkeltochter von der Schule abzuholen, zwei weitere Enkelkinder befanden sich bereits im Haus, fügte er lachend an: »Die Einschränkungen, die ich habe, sind im Augenblick familiärer Art, dadurch dass wir die [Enkel-]Kinder zu betreuen haben.« Robert Jost betont die Kontinuitäten seines Weiterlebens. Mit der Kenntnis seiner Eisenspeicherkrankheit und deren Folgen für seine Leber lebte er schon lange. Dramatisch wurde erst der Fund eines Tumors in seiner Leber. Da er aber nur zwei Monate auf ein Lebertransplantat warten musste, er transplantiert wurde, als es ihm verhältnismäßig gut ging, und er sich von der Transplantation schnell erholte, markiert er diese Zeit lediglich als nicht-alltägliche Unterbrechung. Einschränkungen erwähnt er, relativiert diese jedoch über eine Vorher-nachher-Bilanz. Sein Leben im Ruhestand zusammen mit seiner Frau, Nordic Walking, Canasta-Abende mit einem befreundeten Ehepaar und die Betreuung mehrerer Enkelkinder sind für ihn die entscheidenden Fixpunkte, wenn es um die Normalität seines Lebens geht. Dessen ungeachtet wird in seiner Erzählung, in der, wie so oft, Ängste und Emotionalitäten nur halb angesprochen in der Luft hängen oder in einem distanzierten, unpersönlicheren Modus

4 | Die Studie untersuchte die Effizienz eines Wirkstoffs und begleitete dafür Lebertransplantierte mehrerer Transplantationszentren über einen längeren Zeitraum.

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erzählt werden, deutlich, wie wichtig ihm Kontinuität ist. »Man hofft, dass es [der neue Tumor] ein Versehen war, sozusagen ein einmaliger Unfall, und dass sich das Ganze nicht wiederholen wird.« Seine Geschichte, die die Instabilität transplantierter Körper sichtbar werden lässt, ist auch eine der Hoffnung auf Kontinuität. Mit neuem Selbstbewusstsein (Waltraud Fornell) »Ich bin nicht nur zu dem gleichen Leben zurückgekehrt, sondern ich bin mit einem völlig neuen Selbstbewusstsein zurückgekehrt«, erzählt die 65-jährige Waltraud Fornell zwanzig Jahre nach ihrer ersten Transplantation. Sie setzte ihr Leben mit ihrem Mann und ihren vier Kindern fort und nahm vier Monate nach der Operation ihre Arbeit als Neuropathologin wieder auf. Habilitiert war sie da bereits und an ihrem Arbeitsplatz etabliert als »zuverlässige Qualitätsgarantie« für Diagnostik. Nur in den Sektionssaal durfte sie mit ihrem reduzierten Immunsystem nicht mehr. Sie fand das unproblematisch, da sie eher am Mikroskop mit formalin-fixiertem Gewebe arbeitete. Doch ihr Chef wollte sie lieber die »garantiert nicht infektiös[e]« Dia-Sammlung sortieren lassen. »Dafür habe ich nicht überlebt«, entgegnete sie ihm. »Das meine ich mit neuem Selbstbewusstsein«, hob sie mir gegenüber hervor und fügte hinzu, »meine Zeit war auch kostbarer geworden«. Durch die Transplantation habe sie gemerkt, »dass man’s in die eigenen Hände nehmen muss und [mit Nachdruck] es dann auch kann!« Mit diesem neuen Selbstbewusstsein baute sie ihre Karriere weiter aus und begann internationale Kongresse zu besuchen: »[. . . ] auch um zu zeigen, ich bin wieder da.« Nach drei Jahren wurde sie auf eine Professur berufen. »Nachteile« könne sie mir »einfach gar keine aufzählen«, sie habe »eigentlich keine echten Einschränkungen« erfahren. Ihre diversen beruflichen Reisen, unter anderem nach Asien und Südamerika, unternahm sie stets in Abstimmung mit dem Transplantationszentrum, inklusive dem Versprechen, nichts zu riskieren – für sie eine Selbstverständlichkeit. In Waltraud Fornells Erzählung rückt die Transplantation in den Hintergrund und ihr Leben, insbesondere, da sie »immer gern gearbeitet« hat, ihr Arbeitsleben, in den Vordergrund. Die Transplantation ermöglichte ihr, ihr Leben nach einem bedrohlichen »Unwetter« (siehe S. 73) weiterzuleben und dieses Leben mit neuer Selbstsicherheit anzugehen. Nach 16 Jahren wurde sie erneut transplantiert und musste noch einmal von vorn beginnen (siehe S. 170). Auch dieses Ereignis wird im Rückblick zu einer weiteren Episode der Unterbrechung mit glücklichem Ende. Wieder kehrte sie in ihr (Arbeits-)Leben zurück. Sie begreift die Transplantation als »Heilung« und Rückkehr in Normalität, zugleich als Kontinuität und Neuanfang.

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Der Virus ist noch da (Gudrun Nietschke) »Man hatte mir mal gesagt, Lebertransplantation drei Wochen [Krankenhaus]. Ich hab über drei Monate gebraucht«, witzelte die 62-jährige Gudrun Nietschke zwei Jahre nach ihrer Transplantation. »Solange ich im Krankenhaus war, war ich nicht ich selbst. [. . . ] hab mich da befummeln, bemachen, bemuttern lassen und hab immer brav gemacht, was die wollten [. . . ], hab mich da völlig integriert und untergeordnet. [. . . ] Nachdem ich dem allen entronnen war [. . . ]. Also als ich wieder zu Hause war, war ich richtig wie befreit. Und dann habe ich auch wieder angefangen und versucht, normal zu leben.«

Das wäre auch ganz gut gegangen. Nachdem das erste anstrengende Jahr samt einem Unfall beim Spazierengehen (Schädelbruch) überstanden war, war beim Checkup »so weit alles in Ordnung, also, wie das eben in Ordnung sein kann«. Es folgte »ein richtig tolles Jahr«. Doch Gudrun Nietschke wusste, »dieses Ding, der Virus, ist noch da«. Wie viele lebertransplantierte Hepatitis-C-Erkrankte begann sie mit der Interferon-Therapie (siehe Fn.10 S. 75). Sechs Wochen nach Therapie-Beginn traf ich sie blass und schlapp in der Ambulanz. Die Therapie hatte angeschlagen. Ihre Viruslast – die Anzahl der Viruspartikel pro Milliliter Blutplasma – war von drei Millionen auf 105.000 gesunken. Wegen der schlechten Verträglichkeit der Therapie, die beeinflusst, ob Patientinnen sie körperlich durchhalten, hatte sich Gudrun Nietschke wöchentlich nur zwei der drei vorgesehenen Dosen unter die Haut gespritzt. Bedenklich fand Dr. Seitz weniger die für die Therapie typischen niedrigen Blutwerte (weiße Blutkörperchen, Hämoglobin) als das Auftreten von Wasser im Bauchraum (Aszites) – eine Kontra-Indikation. Die Therapie wurde im gegenseitigen Einverständnis abgesetzt, auch wenn das bedeutete, dass die Viruslast wieder steigen würde.5 Als ich Gudrun Nietschke vier Monate später zu Hause besuchte, ging es ihr wesentlich

5 | Ein Dilemma, mit dem etliche transplantierte Hepatitis-C-Patientinnen konfrontiert sind. Den Ärztinnen zufolge reagieren Patientinnen sehr unterschiedlich auf die Therapie: Bei 40% sind danach keine Viren mehr nachweisbar, bei nicht-transplantierten Hepatitis-C-Erkrankten ist die Quote noch besser. Gudrun Nietschkes Partner fragte, ob man nicht nach einer Erholungspause wieder beginnen könnte, was von Dr. Seitz und Gudrun Nietschke aus unterschiedlichen Gründen verneint wurde: »Es bringt nichts, den Virus mal zu beschießen und mal nicht«, und wäre daher nur »eine Kostenverschwendung«, erklärte die Ärztin, während Gudrun Nietschke hervorhob, dass die Therapie eine körperliche Strapaze sei, die sie nur ungern wiederholen würde.

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besser. Vor der Interferon-Therapie habe sich das Leben »so schick angefühlt«, jetzt habe sie das »natürlich völlig zurückgeworfen«. Trotzdem sei sie optimistisch, sie habe ihren Alltag. Alltag umfasste für sie vor allem die Beziehung mit ihrem Lebensgefährten und ihr gemeinsames Leben in der Wohnung, in der sie aufgewachsen war, und dem 450 Kilometer entfernten Ort, in dem ihre Eltern und viele Bekannte wohnten. Am liebsten verbringe sie den Sommer im einen Ort und den Winter im anderen. Diese Aufteilung habe im Jahr zuvor wieder geklappt, sei durch die Koordination von Arzt-Besuchen und Krankenhausaufenthalten jedoch schwieriger geworden. Zwischendurch streichelte sie ihren Bauch und adressierte ihre Leber: »Du fühlst dich dadrin wohl, ne, und bleibst da auch schön!« Während andere Leute mit ihren Blumen reden würden, so scherzte sie, rede sie mit ihrer Leber. Insgesamt sei sie seit den Monaten kurz vor ihrer Transplantation »aus dem normalen Leben rausgeworfen [. . . ] – jetzt soll das doch bitte, bitte wieder in Ordnung gehen«. Aber: »Ich hab noch den Virus und damit ist die Lebenserwartung verkürzt, das ist schon mal klar.« Vielleicht, fügte sie an, finde die Hepatitis-C-Forschung ja doch noch etwas, das ihr helfen könne. Gudrun Nietschke erzählt all dies, wie viele meiner Gesprächspartnerinnen, recht trocken und nüchtern mit einem gewissen Mix aus Ironie, Galgenhumor und Optimismus. Die durch den Virus verursachte Zitterpartie ihres Weiterlebens stellt für sie ebenso eine Kontinuität dar wie ihr »reguläres Leben«. Normalität nach der Transplantation ist für sie auch ein Versprechen, dessen Einlösung sie in Teilen erlebt hat und auf dessen vollständige Realisierung sie weiter hofft. Nichts ist mehr so, wie es mal war (Erika Voss) In den Geschichten anderer Transplantierter finde sie sich nicht wieder, sagte die 60jährige Erika Voss, die ich sechs Jahre nach ihrer Transplantation kennen lernte. Wie Gudrun Nietschke ging es ihr erst gut, »und dann waren die Viren wieder da«. Seit zehn Monaten machte sie eine Interferon-Therapie. Sie beschrieb sich als körperlich »ausgelaugt«, aufgrund fehlender Muskelkraft »außer Haus neuerdings im Rollstuhl«, aber »optimistisch«, da ihre Viruslast von anfänglich 28 Millionen auf 973 gefallen war. Sie und insbesondere ihr Ehemann hofften, dass sie noch auf den Wert 400 kommen würde, bei der die so genannte Nicht-Nachweisbarkeitsgrenze liegt. Auch ihr Arzt ermutigte sie, noch zwei Monate durchzuhalten, allerdings führten

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diese nicht zum ersehnten Erfolg.6 Als ich Erika Voss einen Monat nach TherapieEnde zu Hause besuchte, seufzte sie: »Da ist keine Lebenskraft mehr drin, also die ganze Lebensfreude, das ist alles weg.« Der Virus vermehrte sich wieder. Was das für sie und ihre Leber hieß, wollte sie sich lieber nicht ausmalen. Zumal sie die Leber von ihrem Sohn bekommen hatte. Ihre »Depressionen sind immer noch da«. Es gab durchaus eine Zeit nach der Transplantation, da ging es ihr »richtig gut. Nicht, dass ich Kraft hatte arbeiten zu gehen, aber so ging’s mir relativ gut.« Doch diese Zeit – waren es ein, eineinhalb oder mehr Jahre? – verblasst für sie immer mehr. Für Erika Voss blieb ihr Weiterleben mit gesundheitlichen Problemen behaftet. Sie erzählt die Geschichte einer gescheiterten Rückkehr zur Normalität. Es ist eine Geschichte bleibender Nicht-Normalität, die die Instabilität des Lebens nach der Transplantation unterstreicht. Rückblickend ging es in ihrem Leben seit der DreifachDiagnose, die zur Transplantation führte (siehe S. 78), stetig bergab: »Nichts ist mehr so, wie’s mal war. Nichts! Man stößt überall an seine Grenzen [. . . ] und die Grenzen werden immer enger.« Die Transplantation bremste die Talfahrt, die unmittelbare Lebensgefahr. Sie bescherte ihr eine »Verschnaufpause« im »Leben mit dem Virus«. Erika Voss erzählt halb lachend, halb wehmütig von ihrem Alltag. Es ist ein Alltag, in dem es eben mehrere Stunden dauern kann, Fleischklößchen zuzubereiten, und in dem sie »das alles« nur »schafft«, wenn sie sich »das Gegenteil in den Kopf setz[t]«, das heißt froh darüber ist, was sie trotz alledem noch schafft: »Wenn du nur noch drei Sachen kannst statt 300, dann kannst du eben noch drei!« Eine verunsichernde Zwischensituation (Frank Olbert) Drei Operationen in vier Tagen: die Transplantation, eine nachbereitende Operation7 und eine weitere, weil bei einer Drainage unbemerkt eine Arterie verletzt worden war. Das hieß für Frank Olbert auch, dreimal aus der Narkose zu erwachen: die Geräusche und körperlichen Grenzüberschreitungen der Intensivmedizin, vermummtes Pflegepersonal und immer wieder dieselben Sätze beim Aufwachen. Das Gefühl, dem »geschlossenen System Intensivstation« ausgeliefert zu sein, vermischt sich mit Wahrnehmungsstörungen, die ein Effekt der starken Medikamente sind: »überall nur

6 | Der Arzt hatte das bereits befürchtet, dem Ehepaar, »um die Hoffnung nicht zu zerstören«, jedoch nicht mitgeteilt. Wenn Patientinnen nach fast einem Jahr Interferon-Therapie nicht negativ (ohne Viruslast) sind, »klappt das in der Regel auch nicht mehr« (Dr. Seitz). 7 | Aufgrund von Blutungen der Leber wurde diese bei der Transplantation in Tücher »eingepackt«, eine Vorsichtsmaßnahme. Diese Tücher im Bauchraum (packing) werden nach einem Tag wieder entfernt.

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Bedrohung« und »jedes Lachen hat eine irrsinnige Dimension«.8 Zehn Monate nach der Transplantation präsentiert der Theaterregisseur seine »Realität nach der OP« im Gespräch als Bühnenstück, ein Mix aus Krimi und Drogentrip. Seit der Transplantation, den »Tod direkt vor Augen«, habe er »viel mehr Angst vor dem Tod«. Vorher sei die Transplantation ein Ziel mit unklarem Ausgang gewesen, aber nichts, mit dessen Konsequenzen er sich beschäftigt habe, obwohl diese in der Broschüre der Transplantationszentrums aufgelistet gewesen seien: »Man liest das, aber es ist irgendwie [lacht], also ich hab das nicht realisiert, was das jetzt konkret bedeutet.« Was ihm »viel, viel mehr Probleme bereitet« als gedacht, ist das Neue, die »Unsicherheit«, die sein Post-Transplantations-Leben bestimmt. »Ich kann mich nicht auf mich verlassen, [mit] ›mich‹ mein ich jetzt, auf meinen Körper. Es ist immer so eine potentielle Gefahr im Hinterkopf. Und das ist ein mega-neuer Stress. [. . . ] Vorher, da war ich ganz klar orientiert: Das ist gut für mich, das ist nicht gut für mich [. . . ]. Das war [eine] so ganz klare Ausrichtung [die Verhaltensregeln zu Hepatitis und Leberzirrhose]. Und jetzt fehlt mir total der Parameter.«

Kurz vor der Transplantation habe er eine Zeit lang so gelebt, »als ob’s der letzte Tag ist [. . . ]. Jetzt weiß ich nicht, leb ich noch drei Jahre, leb ich noch 20 Jahre. Muss ich irgendwie auf Alter planen, muss ich Sicherheiten schaffen?« Einerseits steckte er zum Zeitpunkt unserer Gespräche in den Proben zu einem neuen Stück, kümmerte sich um die Finanzierung neuer Projekte und schaute sich nach einer neuen Wohnung um. Andererseits war bezogen auf seinen Kräftehaushalt klar, dass er Prioritäten setzen musste, was ihm schwer fiel. Seine Unsicherheit verstärkte sich, als ihn die Ambulanz eines Tages anrief: Er hatte erhöhte Laborwerte, weshalb eine Biopsie vorgeschlagen wurde. Gerade war er dabei, sich »zu grounden und irgendwie so langsam wieder zu orientieren«, und dann kam – »Tschak!« – wieder ein Moment, der ihm »die Füße weghaut[e]«. Frank Olberts Bilanz nach dem ersten Jahr: »Im Moment bin ich in so ’ner doofen Zwischensituation«. Frank Olbert empfindet seinen Körper nach der Transplantation weiter als instabil, jedoch auf eine neue Art, für die er bisher keinen Umgang gefunden hat. Normal ist das Leben nach der Transplantation für Frank Olbert noch nicht. Zukunft wieder

8 | Halluzinationen direkt nach der Transplantation sind laut den Ärztinnen als Folge der enorm hoch dosierten Immunsuppression nicht ungewöhnlich. Sie wurden von etlichen Transplantierten (bisweilen auch Angehörigen) erwähnt: im Nachhinein meist als lachend erzählte Anekdote zur überstandenen Zeit auf der Intensivstation, jedoch auch mit der Kritik, darauf nicht vorbereitet worden zu sein.

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denken zu können, ist für ihn ebenso neu wie das veränderte Koordinatensystem seines Therapieregimes. Seine freie Theaterarbeit stellt zwar eine Kontinuität dar, aber ebenfalls nichts Geregeltes, nichts, was einen Fixpunkt liefern könnte. Angesichts dessen betont seine Geschichte die Veränderungen und Unsicherheiten, die sein Weiterleben prägen. Die mögliche Veralltäglichung oder Normalisierung des Neuen ist für ihn (noch) mit einem Fragezeichen versehen. Alltag und Normalität in Post-Transplantationsgeschichten Viele dieser Post-Transplantationsgeschichten sind dem Außergewöhnlichen genauso verhaftet wie dem Alltäglichen und Normalen. Die Lebertransplantation wird als Lebensverlängerung erzählt und als Mittel der Normalisierung: Sie bietet die Möglichkeit, überhaupt eine Zukunft zu haben. Die präsentierten Erfahrungen geben verschiedene Einblicke in diese Zukunft und ihre Gestaltung. Sie fokussieren auf das Leben mit einem außergewöhnlichen Körper, dessen Zustand bestimmt, inwiefern und wie schnell oder langsam wieder am Alten angeknüpft oder ein Neuanfang gewagt werden kann. Der Körper wird zur Ausgangsbasis für die Herstellung von Normalität. Doch das (wieder-)erlangte Wohlergehen kann körperlich immer wieder (neu) verunsichert werden: durch eine Abstoßungsreaktion, das Wiederauftreten der eigentlich verbannt geglaubten Erkrankung oder die Nebenwirkungen eines Medikaments. Pia Krüger beunruhigte in diesem Zusammenhang »das Gerücht, dass das Transplantat höchstens fünf Jahre hält«. Dr. Seitz lachte hingegen über dieses Gerücht, das seit geraumer Zeit unter Lebertransplantierten zirkulierte. Ihr zufolge stammt die Aussage aus einem Zeitschriftenartikel, der sich auf eine Studie aus den USA berief. Der Artikel müsse ungefähr 1990 erschienen sein, als die Zahl der Lebertransplantation in Deutschland noch vergleichsweise gering gewesen sei. Damals seien scharenweise verunsicherte wie aufgebrachte Patientinnen mit der Zeitschrift unterm Arm in die Ambulanz gekommen: »Für nur fünf Jahre hätten sie es nicht gemacht.« Wie sie haben viele meiner Gesprächspartnerinnen jeglichen Alters ›beschlossen‹, nach der Transplantation »lange weiterzuleben«. Pia Krüger hat ihre Angst verloren, seit sie eine Frau getroffen hat, die seit 13 Jahren mit einem Lebertransplantat lebt. Die Ängste vor den Grenzen des (Weiter-)Lebens deuten auf den Wunsch hin, dass sich die medizinische Intervention bei allen Strapazen und Nebenwirkungen »lohnen« soll. Zudem entsprechen sie einer allgemeinen Unsicherheit: (Weiter-)Leben ist endlich und Zukunft unsicher – mit und ohne Transplantation. Im Gegensatz zu den Prä-Transplantationsberichten dominieren zwar nicht mehr die Erzählungen körperlich akuter Ausnahmezustände (siehe 3.2), und für etliche Transplantierte rückt ihr Körper nach einer Weile wieder mehr in den Hintergrund, doch der transplantierte

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Körper bleibt unsicher und erinnert immer wieder an die Unsicherheit des Lebens selbst. Das (gelebte) Leben als solches wird in den Geschichten Lebertransplantierter unterschiedlich thematisiert: Hauptmotive sind Familien- und Arbeitsleben, alte Gewohnheiten und neue Normalitäten. Die öffentliche Erzählung ist diesbezüglich in ihren Stichworten uneindeutig (siehe S. 3). Der Ausdruck »neues« oder »zweites Leben« suggeriert einen Neuanfang und Veränderung. »Rückkehr« und »Wiederherstellung« verweisen demgegenüber auf ein Wiederanschließen an das Alte. Nicht immer ist klar, was dabei das Neue und was das Alte ist und wie sie sich jeweils zu Alltag und Normalität verhalten. Meine Gesprächspartnerinnen erzählen von verschiedenen, unterschiedliche Lebensbereiche betreffenden Kontinuitäten und Diskontinuitäten ihres Weiterlebens. Alltag und Normalität werden dabei oft bekräftigt, können aber unterschiedliche Dinge umfassen. Gerade die von Transplantierten häufig angestellten Vorher-nachher-Vergleiche zeigen, dass ihr Leben nach der Transplantation mit alten (bekannten) und neuen (ungewöhnlichen) Normalitäten konfrontiert wird. Deshalb ist genauer zu klären, was Transplantierte in ihren Erzählungen als normalen Alltag bezeichnen. Der typische Satz »und dann habe ich versucht, einfach normal weiterzuleben« lohnt in diesem Zusammenhang eine genaue Betrachtung, auch weil er mitunter eher programmatisch formuliert wurde. Erstens markierte der Satz häufig einen Abschluss des Transplantations-›Dramas‹. Die aus dem Nicht-Funktionieren der Leber resultierenden körperlichen Ausnahmezustände wurden überwunden und der Ort, an dem der Nicht-Alltag erlebt wurde, das Krankenhaus, wurde verlassen. Die NichtAlltäglichkeit des Krankenhauses manifestiert sich in den Berichten über die Intensivstation, wenn meine Gesprächspartnerinnen vom Patientinnen-Sein im Krankenhaus, der notwendigen Anpassung an diese Rolle und die Abläufe des Systems Krankenhaus erzählten. Demgegenüber konnte dann mit der Rückkehr nach Hause auch in den Alltag zurückgekehrt werden. Zweitens folgten dem Satz oft Verweise auf den »banalen Alltag«, »den man eben so hat«: sei es zu arbeiten oder im Garten zu sitzen und Sudokus zu lösen, die Steuererklärung zu erledigen oder mit dem Hund spazieren zu gehen, Freundinnen an einem bestimmten Tag in der Woche zum Kegeln oder Kinobesuch zu treffen, den Haushalt zu erledigen oder (Enkel-)Kinder zu betreuen. In diesen Referenzen wurde Alltag als selbstverständlich vorhanden verstanden. Die Rückkehr zur jeweils individuell definierten Normalität wurde bekräftigt. Gleichwohl wurde angedeutet, dass diese Rückkehr in Normalität und Alltag unter Umständen doch nicht ganz einfach und selbstverständlich war. Drittens folgten dem Satz häufig Aussagen zu den Regeln des neuen Lebens mit einem transplantierten, immunsupprimierten Körper. Während das Ungewohnte oder Neue der Regeln in den Erzählungen

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derjenigen, die erst seit kurzem transplantiert worden waren, noch einen größeren Raum einnahm, wurde es von den meisten meiner Gesprächspartnerinnen eher in Nebensätzen erwähnt und zur Nebensächlichkeit erklärt. Trotzdem gab es auch bei ihnen Hinweise auf gewisse Einschränkungen des normalen Lebens durch das Therapieregime. Normalität wurde dann zu der Frage, wie gut einzelne Regeln und die verlangte Disziplin zum eigenen Alltag passte, wie schwer oder einfach sie demzufolge zu leben waren. Diese Punkte werde ich in 5.2 und 5.3 genauer beleuchten. Durch meine Fragen nach den Effekten der Transplantation und nach ihrer Alltagspraxis drängte ich meine Gesprächspartnerinnen, die oft nur in Randbemerkungen erwähnten Bedingungen ihrer Post-Transplantations-Alltage auszubuchstabieren. Etliche veranlasste das, ihren Alltag abschließend erneut als »Selbstverständlichkeit« und »Kleinigkeit« zu markieren. Andere entschuldigten sich und betonten, dass sie mir angesichts ihres »gewöhnlichen Alltags« »nichts Aufregendes« erzählen könnten oder ihr Post-Transplantationsverlauf vielleicht »nicht perfekt«, aber »alles in allem positiv« sei. Die Annahme, dass ich eher an »Problemen« oder »negativen Geschichten« interessiert sei, lässt sich auf das semi-öffentliche Setting der Gespräche mit mir als Forscherin ebenso wie auf die gesellschaftliche Rahmung ihrer Erfahrungen mit einem umstrittenen oder zumindest nicht-alltäglichen medizinischen Eingriff zurückführen. Öffentliche Transplantationsgeschichten geben eine (diskursiv mächtige) Struktur vor, individuelle Erfahrungen zu ordnen (vgl. für den zypriotischen Kontext Constantinou 2012). Zudem implizieren sie gesellschaftliche Erwartungen an Transplantierte: Wer transplantiert ist, dem oder der sollte es wieder gut gehen. Hinweise, die den Erfolg der in vielerlei Hinsicht aufwändigen Transplantation infrage stellen würden, würden in diesem Kontext mit kollektiven Erwartungen in Konflikt geraten (vgl. Mongoven 2003; Fox/Swazey 1992). Vor diesem Hintergrund lassen sich die Post-Transplantationsgeschichten als narrative, Bedeutung herstellende Praktiken interpretieren, in denen Kontinuität zwischen der Vergangenheit und der erwarteten oder erwünschten Zukunft etabliert wird (Jenkins u. a. 2005). Sie geben einen Einblick in die kulturellen Bedeutungen, die Erfahrung von Krankheit prägen (Kleinman 1988; Garro/Mattingly 2000). In der Konsequenz können die in den Gesprächen entstandenen Post-Transplantationsgeschichten als narrative Herstellung von (Nicht-)Alltag und (Nicht-)Normalität verstanden werden. Was sie verhandeln, sind individuelle wie kollektive Vorstellungen von Alltag und Normalität.

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5.2 N EUE N ORMALITÄTEN

UND

R EGELN

IM

P RAXISTEST

Zu Hause wartet auf Transplantierte nicht einfach nur ihr alter Alltag. Bei der Entlassung aus dem Krankenhaus wird ihnen eine Praxis-Anleitung für ihren PostTransplantations-Alltag mit auf den Weg gegeben: einen Alltag, der durch das Therapieregime nach der Transplantation strukturiert werden soll (siehe Kapitel 3). Es ist ein Ausdruck der erfolgreichen Veralltäglichung des Therapieregimes, dass die Tabletten, Kontrolluntersuchungen und Verhaltensregeln für Transplantierte oft »nicht der Rede wert« und in unseren Gesprächen eher eine Nebenerzählung waren. Die Geschichte von Frank Olbert zeigt demgegenüber, dass diese Veralltäglichung ein mühsamer Prozess ist. Er hebt das Neue, erst einmal Verunsichernde hervor und beschreibt die Schwierigkeit, sein altes, zur Gewohnheit gewordenes Therapieregime (das sich auf seine Hepatitis-Erkrankung und die daraus resultierende Leberzirrhose bezog) durch das neue, noch nicht selbstverständliche (nun auf die Transplantation und Immunsuppression bezogene) zu ersetzen. Das tägliche Leben so normal wie möglich zu leben und dabei Therapieregime zum Alltag zu machen bzw. in diesen einzupassen, ist Ergebnis von Lernprozessen, Routinen und täglicher praktischer Arbeit. Medizinsoziologische Untersuchungen betonen schon länger, dass es für chronisch Kranke (und ihre Familien) Arbeit ist, mit der jeweiligen Gesundheitssituation und den geforderten Therapiemaßnahmen umzugehen (vgl. Strauss u. a. 1984; Charmaz 2000). Um welche Arbeit es dabei geht und wie Transplantierte sie meistern, werde ich in diesem Unterkapitel beleuchten. Die Einnahme von Tabletten Die unzähligen Tabletten, die Transplantierte lebenslang nehmen müssen, werden von ihnen am ehesten erwähnt, wenn es um Veränderungen nach der Transplantation geht. Sie regelmäßig zu nehmen, ist Teil ihrer Arbeit, ihrer Anstrengungen sowie ihrer Kompetenz, ihre gesundheitliche Situation zu managen (vgl. Corbin/Strauss 1993), und wesentlicher Bestandteil dessen, was als ihre Therapietreue verhandelt wird (siehe 4.3). Tabletten zu nehmen und somit Therapietreue jeden Tag aufs Neue zu etablieren, erfordert Zeit-Arbeit und körperliche Arbeit (McCoy 2009). Allein das Schlucken von mehreren Tabletten von verschiedener Form und Größe – anfangs pro Tag 30 Stück und mehr – stellt eine körperliche, mitunter zeitintensive Aufgabe dar, wie Hasan Çelik erklärt: »Zu Beginn, wenn Sie noch nie Tabletten eingenommen haben, ist das schwierig. Sie nehmen jede einzeln, das nimmt nie ein Ende. Bis ich dann eine Frau gesehen habe, die alles auf einmal

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nahm [bewegt Hand zum Mund]. Ich dachte, ich kann das nicht, aber habe es versucht und konnte das auch. Seitdem ist es einfacher.«

Anfangs spielte zudem Hasan Çeliks Körper nicht mit: Immer wieder musste er sich direkt nach der Einnahme übergeben, die Tabletten erneut nehmen und bekam die Medikamente schließlich per Infusion. Irgendwann erhielt seine Frau von einer Bekannten, deren Mann ebenfalls transplantiert war, den Rat, jede Tablette zusammen mit einem Löffel Joghurt einzunehmen. »Das ging wunderbar. Da haben sich selbst die [Kranken-]Schwestern gefreut: ›Toll, wussten wir gar nicht‹ und so.« Auch andere Gesprächspartnerinnen berichteten von ihren anfänglichen Schwierigkeiten, »so richtig eine Handvoll« Tabletten zu schlucken. »Ich habe 25 Minuten gebraucht, um diese Morgen-Tabletten zu nehmen«, so Alexander Dahlen, zumal es nach der Operation generell schwierig war, »irgendetwas zu sich zu nehmen« und einfache Aktivitäten wie »mechanisch schlucken« zu bewältigen. Bei Gudrun Nietschke wurde die Tabletten-Einnahme zusätzlich erschwert, da sie wegen Nierenproblemen in den ersten Monaten eine Dialyse benötigte und daher nicht viel Flüssigkeit zu sich nehmen durfte. Sie musste sich das wenige Wasser pro Tablette sehr genau einteilen. Einmal, das schockt sie beim Erzählen immer noch, kam eine Pflegerin, »Schwester Rabiata«, und habe ihr die ganze Menge auf einmal »reingeschüttet«. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu schlucken, und sie schaffte es. Trotzdem bevorzugt sie es, ihre inzwischen geringere Tablettenmenge nicht auf einmal zu nehmen. Heute sortiert sie ihre Einnahmeportionen nach der Größe der Tabletten. Eine besondere Herausforderung sei immer noch die stäbchenförmige Variante, die mehr als 2 Zentimeter lang ist. Andere Gesprächspartnerinnen gaben hingegen an, dass die Tabletten-Einnahme für sie weder ein Problem war noch ist: »Man nimmt sie halt, zack, sind sie weg« (Ambulanz-Patient), »es ist eine automatische Bewegung« (Robert Jost), »das ist eine Sache von einer Minute« (Ambulanz-Patientin). Diese Transplantierten betonten, dass sie Tabletten schlucken können, und verwiesen zum Teil auf ihre diesbezüglich langjährige Übung. Die Tabletten-Einnahme wird zur körperlich erlernten Kompetenz. Für Frank Olbert ist diese Kompetenz mit einem Umdenken oder Umlernen verbunden: »27 Jahre keine Medikamente und dann plötzlich die Superblocker [. . . ]. Ich war 27 Jahre [darauf] trainiert, keine Medikamente zu nehmen [. . . ], um halt meine Leber nicht zu belasten. Und das ist so in mir drin.« Hinzu kommen für ihn die vielfältigen Auswirkungen der eingenommenen Tabletten. Diese Nebenwirkungen sind die Ursache dafür, dass Margit Hagedorn sagte: »[. . . ] die [Tabletten] ekeln einen zu guter Letzt an [. . . ], ich mag das schon nicht mehr schlucken«. Ekel zu überwinden, aufgrund der Menge oder der Wirkung von Tabletten, deutet auf die ver-

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nunftwidrige oder mentale Arbeit (vgl. McCoy 2009: 141f.) sowie die Disziplin, die ihre Einnahme erfordert. Wie um sich selbst Mut zuzusprechen, unterstrich Margit Hagedorn anschließend: »Wenn man leben will, muss man das machen. Da hilft alles nichts!« Die Abhängigkeit ihres Weiterlebens von den Tabletten ist allen Transplantierten klar: » [. . . ] das wurde vorher gesagt und war gebongt« (Gudrun Nietschke). Es mindert allerdings nicht die Schwierigkeit oder Arbeit, sie jeden Tag nehmen zu müssen. Das Problem, so die meisten, sei nicht die Menge der Tabletten bzw. Wirkstoffe, die mit der Zeit schrumpft,9 sondern »dran zu denken«. Dran zu denken heißt in der zweimal am Tag mit einem Abstand von 12 Stunden, egal wo man gerade ist. Wenn Alexander Dahlen sagte, er habe nie verstanden, warum das für Leute ein Problem ist, gleichzeitig jedoch zur regelmäßigen Tabletteneinnahme bemerkte, »Ich führe ja ein langweiliges und gesittetes Leben, in dem es auch möglich ist, das immer zu tun«, verwies er auf die Bedeutung eines regelmäßigen Tagesablaufs. Viele erwähnten solche Regelmäßigkeiten in ihrem Tagesablauf, die die Einnahme erleichtern. Gerade die morgendliche Dosis gilt als unproblematisch, setzt aber, wie einige anmerkten, auch voraus, dass man jeden Tag zur selben Zeit wach wird bzw. aufsteht. Da Alexander Dahlen bestimmte Tabletten im Abstand von drei Stunden nehmen musste, nutzte er während seiner Arbeitszeit – für ihn »eine andere Aufmerksamkeitssituation« – die Alarmfunktion seines Mobiltelefons. Andere Hilfen, die meine Gesprächspartnerinnen als Erinnerungsstützen verwendeten, sind Wecker oder auch Familienmitglieder. So erzählte beispielsweise Pia Krüger, dass sie morgens ihr Mann, ein Frühaufsteher, an die Tabletten erinnerte, abends nehme sie sie zur Tagesschau, und falls sie mal unterwegs sei, sogar ihre Freundinnen nachfragten. Viele unterstrichen, dass die regelmäßige Einnahme (auch ohne Hilfsmittel) nach und nach zum »Rand-Etwas« werde und ihnen »in Fleisch und Blut übergegangen« sei. Mit solchen Metaphern wird eine Veralltäglichung bzw. der körperliche Aspekt von Routine angesprochen. Routine generell kann gleichwohl zum Hindernis werden. Robert Jost, der einen extra Tabletten-Wecker nutzt, erzählte, dass es ihm, im Fall einer Unterbrechung der Einnahmeroutine z. B. durch einen Telefonanruf, schwerfalle sich zu erinnern, ob er die Tabletten bereits genommen habe. Die Unsicherheit, »hab ich’s genommen oder nicht«, beschrieb Waltraud Fornell als ihr größtes Problem. Sie verwendet deshalb eine Wochen-Tabletten-Box, um angesichts zu viel Routine den Überblick zu behalten. Die gewohnte Routine der regelmäßigen Tabletten-Einnahme erklärt auch, weshalb

9 | Die Reduktion der Immunsuppression äußert sich für Transplantierte in einer geringeren Anzahl von einzunehmenden Tabletten, aber auch einer verringerten Wirkstoffmenge pro Tablette.

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Patientinnen öfter ›vergessen‹, dass sie bei der Blutabnahme nüchtern, also ohne ihre morgendliche Dosis erscheinen müssen. Auch wenn sie betonten, die vorgegebenen Zeiten einzuhalten, sagten viele Gesprächspartnerinnen ebenso, dass sie die exakte Einnahmezeit nach einer Weile großzügiger interpretieren würden. Auch sie wissen, dass möglichst konstante Medikamentenspiegel ein Ziel sind, das gelegentliche Vergessen einer Dosis diese jedoch nicht grundsätzlich gefährdet. Wie ich gezeigt habe, ist das, was leicht aussieht und für Außenstehende nebenbei passiert, mit körperlichen Techniken und Übung, festen Einnahmeritualen und Hilfsmitteln sowie einer bestimmten Lebensführung verbunden. Mein Material bestätigt, was die kanadische Soziologin Liza McCoy am Beispiel der MedikamentenEinnahme von Personen mit HIV/AIDS beschreibt: Die zeitliche Synchronisation des eigenen Lebens mit den Zeiten des Medikamentenplans ist ebenso Arbeit wie die Organisation, Körper mit Tabletten und Wasser zusammenbringen (ebd.). Insgesamt erfordert die tägliche Arbeit der Tabletten-Einnahme ein gewisses Maß an Alltag, kreiert dieses aber auch: Ein geregelter Tagesablauf erleichtert die Einnahme, umgekehrt produziert die Wiederholung Alltag im Sinne von Regelmäßigkeiten und Routinen. Parallel ermöglichen die Tabletten, die in jede Hosentasche passen, zusammen mit der (neuen) Angewohnheit etlicher Transplantierter, stets eine kleine Flasche Wasser dabeizuhaben, ihnen auch Mobilität und Unabhängigkeit bezüglich dessen, wo sie die Einnahme realisieren. Waltraud Fornell erinnerte sich in diesem Zusammenhang lachend an die Zeit, als es Ciclosporin noch als »ölige Flüssigkeit« gab (Anfang der 1990er Jahre), die in warmer Milch eingenommen werde musste: »Das war also sehr wenig Restaurant-gängig.« Insgesamt ging es daher für meine Gesprächspartnerinnen einerseits darum, Alltag so zu koordinieren, dass er kompatibel mit einer regelmäßigen Tabletten-Einnahme war, andererseits darum, die Tabletten-Einnahme kompatibel mit ihrem jeweiligen Alltag zu machen. Zudem wurde deutlich, dass Routinisierung die praktische Bewältigung des Therapieregimes zwar unterstützt, die daraus resultierende Veralltäglichung und Normalisierung diese allerdings auch an bestimmten Punkten behindern kann. Ein letzter Punkt, den einige, insbesondere die jüngeren Gesprächspartnerinnen ansprachen, betrifft die Außenwirkung der Tabletten-Einnahme. Es mag für viele Transplantierte normal sein, ihre Tabletten zu nehmen, wo auch immer sie gerade sind. Je nach Situation und Umfeld ist eine Tabletten-Einnahme jedoch kein »neutrales Faktum« und kann irritieren: Wenn man dann im Kino, in der Nähe eines Schulhofes, auf der Arbeit oder in einem Club gefragt werde, ob man Drogen nehme, sei das »mehr oder weniger witzig« (Alexander Dahlen). Während einige Gesprächspartnerinnen sagten, dass sie auf solche Fragen auch nach vielen Jahren »empfindlich« bis »zickig« reagieren würden, schilderten andere, dass sie sich dafür »eine Art Panzer«

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zugelegt hätten, an dem solche Vorwürfe »abprallen«. Was privater Alltag und Normalität ist, kann im öffentlichen Setting sehr wohl Nicht-Normalität markieren, wenn nicht illegale Drogen, so doch Krankheit. Dies betrifft auch eine andere Außenwirkung der Tabletten, die der Nebenwirkungen der Medikamente. Händezittern kann stigmatisieren, es zu verbergen erfordert bestimmte Strategien des Umgangs. Übelkeit und Durchfälle sowie das Gefühl, »sofort eine Toilette zu benötigen«, schränken Lebensqualität ein und können, je nach Kontext, »auffallen«. Auch das öffentliche Management des Therapieregimes und seiner Wirkungen erfordert seitens der Transplantierten Arbeit. Einschränkungen durch und von Regeln Zum Therapieregime nach der Transplantation gehören, wie schon in Kapitel 3 gezeigt wurde, Verhaltensregeln, die erlernt und routinisiert werden müssen. Den Ernährungsregeln kommt dabei ein prominenter Stellenwert zu, denn sie rütteln oft an vertrauten Gewohnheiten. Deshalb wurden Verbote, die bestimmte Lebensmittel betrafen, als Einschränkungen wahrgenommen, deren Einhaltung bisweilen schwerfällt. Hinzu kommt, dass Essen für viele, nach ihrer oft appetitlosen Zeit vor der Transplantation, einen wiedergewonnenen Genuss, ein Zeichen der Rückkehr zu Normalität symbolisiert.10 Margit Hagedorn erzählte allerdings weniger von den Regeln als von ihren Schwierigkeiten mit Gebiss zu essen. Zur Infektionsvorbeugung wurden ihr vor der Transplantation mehrere Zähne entfernt, die neue Leber war wichtiger. Essen war für sie weiterhin nicht normal, ein Problem und »definitiv kein Genuss«. Alexander Dahlen führte an, dass sein Diätplan vor der Transplantation aufgrund der Darmentzündung wesentlich strenger war: »Im Vergleich [dazu] ist meine ›Diät‹ jetzt ja total normal.« Ansonsten gibt es »so dreieinhalb Sachen, die man sich merken sollte, die man tatsächlich nicht essen sollte. Der Rest? Auf den würde man auch kommen, wenn man sich aus ’ner Vernunftperspektive Gedanken macht.« Er sieht die Regeln nicht als Einschränkung, sondern als »gute Hilfestellung – für jeden Menschen«. In ähnlicher Weise relativierten auch andere die Regeln, insbesondere die allgemeinen Ernährungshinweise, die weniger das Immunsystem betreffen, als einer erneuten Verfettung der Leber oder Nebenwirkungen der Medikamente wie Bluthochdruck oder Diabetes vorbeugen sollen: Mit Zucker und Fett sparsam umzugehen, darauf müssten ab einem bestimmten Alter ja alle achten, so mehrere Gesprächspartnerinnen. Sima Vahanian, eine seit 1985 in Deutschland lebende Exil-Iranerin, die 2003

10 | Diesen Aspekt erwähnt ebenfalls Costas Constantinou in seiner Studie über zypriotische Nierentransplantierte (Constantinou 2012: 34).

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im Alter von 60 Jahren transplantiert wurde, amüsierte sich dagegen aus einer kulturvergleichenden Perspektive über die Ernährungsregeln. Belustigt erzählte sie von Lebertransplantierten, denen die Umstellung auf eine fettarme Ernährung schwerfalle: »Eier im Salat, Sahnesoßen, Butter, fettes Schweinefleisch, dies und das«, das sei »so deutsch«. Da liefere die persische Küche mit viel Reis, Gemüse und Olivenöl überhaupt keinen Anlass zum Verzicht. Wie schon in der Reha (siehe S. 92ff.) ging es letztlich immer darum, wie gut oder schlecht die Regeln zu den eigenen Vorlieben und Ernährungsgewohnheiten passten. Robert Josts Erzählung ist in diesem Sinne typisch. Generell handele es sich zwar um »keine allzu dramatischen Einschränkungen«, als »einschneidend« erlebte er jedoch das Verbot von Hackepeter-Brötchen, Erdbeeren und Blauschimmelkäse: »Sense, geht nicht mehr«. Demgegenüber war »Grapefruit-Saft nie seine Welt«. Am schwersten fiel nahezu allen Transplantierten, die ich traf, der Verzicht auf Erdbeeren: »Wer isst nicht gerne Erdbeeren?«, fragten etliche meiner Gesprächspartnerinnen. Enthaltsamkeit wird Transplantierten auch in anderen Bereichen abverlangt: So sollen sie zum Beispiel die Sonne meiden, weil die Immunsuppression das Hautkrebsrisiko drastisch erhöht. Ähnlich wie bei den Ernährungsregeln sagte Robert Jost, dass ihm das nichts ausmache, da er »kein ausgesprochener Sonnenfreak« sei. Allerdings störe ihn, dass er sich »bei jedem Fitzel Sonne ›schminken‹« müsse. Wie er bewerteten viele die Regeln danach, wie stark sie sie »tangierten«, also Veränderungen im Verhalten nötig machten. Mit anderen Worten: Relevant oder thematisiert wurden die Regeln hauptsächlich dann, wenn sie die Änderung gewohnter Alltagspraktiken erforderten. Darüber hinaus erinnerten sie die Transplantierten an »eine gewisse Grundvorsicht, dass man nicht übermütig wird« (Erika Voss). In den Interviews mit Transplantierten zeigte sich, dass die Regeln nicht einfach nur angewendet, veralltäglicht und zur neuen vorschriftsmäßigen Gewohnheit werden. Sie werden zum Teil auch großzügig interpretiert: sei es, dass sich bestimmte Ausnahmen »genehmigt«, einige Regeln nach einer Weile »lockerer gehandhabt« oder generell verworfen werden. Während Pia Krüger überzeugt davon war, dass vieles »nur im ersten Jahr« gelte, sagte Gudrun Nietschke, dass ihr mit den Regeln »nicht alles gelungen sei«. Sie suchte das Informationsblatt mit den Ernährungshinweisen aus der Ambulanz heraus und ging mit mir lachend die Liste durch, wobei ihre Praxis in Bezug auf verbotene Lebensmittel in einem Mix aus ›esse ich jeden Tag‹, ›esse ich inzwischen wieder‹ und ›esse ich immer noch nicht‹ bestand: »Man hat’s im Kopf, ne. Und denkt immer, das sollst du ja eigentlich gar nicht. Aber irgendwann ....« Irgendwann fühlte sie sich besser, war »wieder halbwegs auf’m Damm« und begann nach und nach Dinge, die sie mag »und zwangsweise eben [weg]gelassen« hatte, wieder zu essen. Ihre Beschreibung davon, wie sie »langsam hier und da was dazugenommen«

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hat, verweist auf einen Prozess, in dem das Aufweichen von Regeln getestet wird. In ihrer schrittweise erfolgenden Verflüssigung der Regeln achtete sie auf bemerkbare (Un-)Verträglichkeiten und auf die Messergebnisse aus der Ambulanz.11 Sie und viele andere argumentieren in diesem Zusammenhang auch mit »Lebensqualität« oder »Lebensfreude«. Nachdem Gudrun Nietschke Urlaub auf Fuerteventura gemacht hatte, hätten die Krankenschwestern in der Ambulanz anschließend »die Hände über’m Kopf zusammengeschlagen«, dass sie sich so viel Sonne ausgesetzt habe. »Aber das hat mir so gut getan und hat so einen Spaß gebracht. [Lacht:] Das hat so Lebensfreude gebracht!« Aus einem ähnlichen Grund setzte sich Waltraud Fornell von Anfang an über »einige Vorschriften« hinweg: »Ich kann und will nicht auf frisches Obst und Gemüse verzichten.« Anfangs recherchierte sie und fragte ihren Gemüsehändler, was »heutzutage« überhaupt Erdkontakt hat und wo und wie es erzeugt wird. »[Z]ur Hilfe gekommen« sei ihr dann, dass Transplantierte anderer Zentren, die sie in der Reha-Klinik traf, »dieses Verbot überhaupt nicht hatten«. Was in der Reha-Klinik als verunsichernder »Regelsalat« diskutiert wurde (siehe S. 95) und bereits die Unumstößlichkeit der Regeln infrage stellte, diente hier dazu, sie zu relativieren. Außerdem wissen etliche Transplantierte aus eigener Erfahrung, dass im Gegensatz zu Keimen in und auf Lebensmitteln die Keime, die sie sich womöglich im Krankenhaus zuziehen oder die im Inneren ihres Körpers lauern, unter Immunsuppression wesentlich problematischer für ihre Gesundheit sind. Joachim Quaas bekräftigte, dass er sich einfach an die Verbote gewöhnt habe. Er sei »nicht lockerer« geworden, selbst wenn er auf vieles, was er gerne gegessen habe, verzichten müsse. Er verstand das »[J]ammern« anderer Transplantierter nicht. Wer sich »nicht beherrschen kann« und Regeln missachte, habe vielleicht sogar Glück, doch: »Ich gehe das Risiko nicht ein – nicht freiwillig, warum? Man kann auch ohne leben.« Gleichzeitig scherzte er, dass er mehr Bier trinke als vorher: alkoholfreies, eine Sorte, die wirklich 0,0 Promille habe, das habe er sich von der Brauerei per Fax bestätigen lassen. Hin und wieder, »wenn es hoch kommt einmal im halben Jahr«, trinke er sogar »ein Gläschen Rotwein«, nicht mal ein halbes Glas, »eher so ein Schluck für den Geschmack«. Da er kein Problem mit Alkohol habe, passiere da auch nichts, das habe auch ein Arzt in der Reha gesagt. Interessant an all diesen Beispielen sind weniger die Inkonsistenz der Erzählung (keine Einschränkungen vs. Verzicht) oder der Widerspruch zwischen geäußerter Regeltreue und praktizierter Regeluntreue. Vielmehr sind sie, inklusive der typischen

11 | Ein anderes Beispiel für ein solches Austesten von Regeln lieferte eine Gesprächspartnerin, die nicht auf Erdbeeren verzichten wollte, beim Verzehr jedoch an ein strenges selbstentwickeltes Hygiene-Protokoll hielt (siehe Amelang u. a. 2011: 58f.).

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Praxis des Wegheftens und selektiven Erinnerns von Regeln, Ausdruck davon, wie Regeln und Gewohnheiten von Transplantierten aneinander angepasst und lebbar gemacht werden. Im Kontrast zum pädagogischen Therapie-Anspruch der Reha-Klinik, eine neue Lebensführung zu trainieren, sind die Umsetzungen und Einbettungen von Therapieregimen in Alltag(en) vielfältig. Der Versuch, Gewohnheiten zu verändern, indem man sich ungewohnte Regeln zu eigen macht, wird im Praxistest sowohl mit der ›Macht der Gewohnheiten‹ als auch mit einer flexiblen Anwendung der Regeln konfrontiert. In der Haupterzählung meiner Gesprächspartnerinnen wird der einschränkende Charakter vieler Regeln dennoch relativiert. Das hat mit ihrer Normalisierung ebenso wie mit der Wahrnehmung ihrer sozialen Reichweite zu tun. Vieles, gerade im Bereich Ernährung, betrifft meinen Gesprächspartnerinnen zufolge »persönliche« Praktiken, die man individuell oder in der Familie regeln kann. Doch der erfolgreichen Veralltäglichung und Normalisierung des Therapieregimes sowie des neuen Körpers sind Grenzen gesetzt. Wenn zum Beispiel Alexander Dahlen lachend angibt, dass er Alkohol vermisst, »alles andere wäre gelogen«, bezieht er sich weniger auf seine individuelle Praxis des Verzichts: »Aufgrund der sozialen Integration von Alkohol« ist man, wenn man nicht trinkt, »in vielen Situation einfach desintegriert« und muss zudem »haufenweise blöde Fragen« beantworten, »wozu man relativ wenig Lust hat nach einer Weile«. Sauberes Besteck abzuwischen, sich ständig die Hände zu waschen, nach dem Gesundheitszustand eingeladener Partygäste zu erkundigen oder von »rotznasigen Kindern« abzuwenden – diese Hygienemaßnahmen können außerhalb des Kreises der ›Eingeweihten‹ als außergewöhnlich pingelig oder schlicht unhöflich wahrgenommen werden. Ebenso kann die längs und quer über den Oberkörper verlaufende Narbe, Probleme bereiten. Sie wurde besonders von Frauen und denjenigen, die nicht in einer festen Beziehung lebten, thematisiert. Oder die häufiger von Männern erwähnte verminderte körperliche Leistungskraft und die, infolge der Immunsuppression, mitunter geringere sexuelle Lust und Leistungsfähigkeit wirken sich auf die Partnerschaft oder das Bild aus, welches man von sich selbst hat. Auch hierfür beschreiben meine Gesprächspartnerinnen spezifische Strategien der Normalisierung: wie den schon bei der Tabletten-Einnahme erwähnten ›Panzer‹ für bestimmte Situationen, die Relativierung, dass die Bikini-Zeit angesichts des eigenen Alters sowieso vorüber sei, oder das Überdenken von Selbst- und Geschlechterbildern. Die Normalisierung von Post-Transplantations-Alltagen geht über die unterschiedlich anstrengende Anpassung des Therapieregimes an individuelle Gewohnheiten hinaus und liegt nicht allein in den Händen der Transplantierten (vgl. Atkin/Ahmad 2001: 618, 625). Sie involviert auch die unterschiedlichen sozialen Beziehungen Transplantierter. Auf

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diesen Punkt werde ich in 5.3 näher eingehen. Zunächst geht es um die Frage, wie Transplantierte ihr Leben mit geschwächten Immunsystemen managen. Der Umgang mit immunologisch gefährlichen Umgebungen Viele der Regeln, die Transplantierten von medizinischer Seite auferlegt werden, beziehen sich auf das, was ich in Kapitel 4 Organ-Alltag genannt habe (siehe S. 175), konkreter auf die ›Einhegung‹ der für geschwächte Immunsysteme gefährlichen Umgebung. Diese potentielle Gefährlichkeit beschäftigt Transplantierte insbesondere in der Anfangszeit, wenn sie neu transplantiert sind und ihr Immunsystem massiv gehemmt wird. »Ich hatte ganz klare Verhaltensregeln, mit denen ich 20 Jahre sehr gut umgehen konnte – und jetzt plötzlich kommt so von überall, vor allem nach der OP, kommt ja von überall Gefahr. Jeder Händedruck ist gefährlich, jede Umarmung ist gefährlich, jeder Hautkontakt ist gefährlich. Wenn ich beim Essen nicht aufpasse, ist es gefährlich. Mein Immunsystem ist reduziert, plötzlich werden die Pflanzen gefährlich. Also so mein ganzes Umfeld ist gar nicht mehr verlässlich. Und das hat mich irrsinnig umgehauen.« (Frank Olbert)

Die Regeln gaben Frank Olbert »eine große Bandbreite an Orientierungsmöglichkeiten« mit auf den Weg. Sie halfen ihm jedoch nur begrenzt dabei, mit seinem transformierten Körper in einem unzuverlässigen Umfeld umzugehen. Viele Transplantierte berichteten von dieser Unsicherheit. Mundschutz und Handschuhe, als (Symbole für) Schutz vor dem gefährlichen Außen, wurden im Krankenhaus zurückgelassen. Mit den Regeln zu Zimmerpflanzen und Gartenarbeit, Küchenkräutern und Biomülltonnen, Katzenklos und Haustieren sollen und können die Gefahren in den eigenen vier Wänden reduziert werden. Doch sich in weniger vertrauten wie beherrschbaren Umgebungen zu bewegen, ist in der Anfangszeit für viele Transplantierte mit Angst verbunden. Einige trauten sich deshalb kaum aus dem Haus, viele beschrieben ihren ständig angstvollen wie kritisch musternden Blick, der jeden Kontakt mit Menschen wie Gegenständen auf Hygiene prüfte und insbesondere fokussierte, was die Hände tun oder wo die Hände vieler Menschen anfassen, z. B. in öffentlichen Verkehrsmitteln. Über die ›Gefahren‹ von Menschenmassen und die Erkältungssaison wurde so manches Mal geflucht. Mit der Zeit kehrte jedoch »mehr Gelassenheit« ein: »Man wird«, wie es ein Gesprächspartner ausdrückte, »wieder weniger ängstlich und reagiert weniger hysterisch«. Während die Tabletten-Einnahme und bestimmte Essensregeln lebenslang gelten, nimmt die Strenge der Hygienemaßnahmen mit der Reduktion der anfänglich massiven Immunsuppression und somit bereits mit dem Wechsel der Stationen im Krankenhaus ab.

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Gelassener zu werden, hängt nicht allein von der zuvor behandelten lockereren Auslegung der Hygienemaßnahmen ab. Vielmehr stand für die meisten Transplantierten die Stabilisierung ihres Immunsystems im Vordergrund. Viele sprachen in diesem Zusammenhang davon, wie »zuverlässig« sie ihr Immunsystem erlebten. Während einige erzählten, dass sie anfangs häufiger erkältet gewesen seien und, im Fall einer Infektion immer noch lange mit dieser »rumlaborieren« müssten, bemerkten andere »keinen großartigen Unterschied«. Erika Voss begründete das damit, dass sie seit ihrer Kindheit »ein schwaches Immunsystem« habe. Viele stimmten jedoch eher mit dieser Aussage überein: »Es ist ja nicht so, dass man gar kein Immunsystem hat. Man hat schon eins. Durch die Medikamente ist es halt gedämpft« (Ambulanz-Patientin). Die meisten bezogen sich auf ihre »erstaunlich guten« und spürbaren Erfahrungen mit ihrem Immunsystem – spürbar im Sinne einer Abwesenheit von Infekten. So sagte Pia Krüger: »Mein Immunsystem scheint ja trotz allem [der Immunsuppression] gut zu sein. Und trotzdem bleibt die Leber bei mir [. . . ], ich merke, dass der Körper sich doch offensichtlich dagegen [Infekte] wehrt.« Hasan Çelik war deshalb der Meinung, dass sowohl man selbst als auch der Körper lerne, die neue Situation zu bewältigen: »Ich glaube, der Körper lernt auch ein bisschen damit umzugehen, wird auch ein bisschen widerstandskräftiger mit den Jahren.« Wieder andere fügten an, dass man in einem bestimmten Ausmaß selbst verantwortlich sei: Man müsse in der Erkältungszeit nicht alle umarmen, und wenn man zu wenig trinkt, müsse man sich nicht über eine Blasenentzündung wundern. Das Thema Selbstverantwortlichkeit schließlich verweist wieder auf die Einhaltung der Regeln: Orte wie das Vogelhaus im Zoo, schimmlige Keller, eine Pilzzuchtstation oder Malaria-Gebiete bleiben für die meisten mit der Formel »man muss es nicht riskieren« tabu. Für einige meiner Gesprächspartnerinnen blieb das Thema Hygiene auch nach Jahren ein zentrales Thema für die Gestaltung ihres Alltages. Sie erläuterten detaillierte Tricks, wie sie bestimmte Handkontakte meiden, z. B. indem neben die Stelle greifen, an der Leute Türgriffe üblicherweise anfassen, oder wie sie dafür sorgen, sich nach dem aus Höflichkeitsgründen unvermeidbaren Händeschütteln zur Begrüßung sofort die Hände zu waschen. Wie bei anderen Teilen des Therapieregimes beschrieben sie ihr Hygiene-kompetentes Verhalten als neue Angewohnheit, über die sie nicht mehr nachdenken müssten. Andere betonten: »Es ist besser, man denkt gar nicht erst zu viel darüber nach.« Weniger nachdenken steht hier für weniger Angst. Diese Gesprächspartnerinnen sprachen von einem »prüfenden Blick« oder einem Gefahrenbewusstsein »im Hinterkopf«, der bzw. das je nach Situation und Umgebung Strategien der Vermeidung oder des Umgangs nach sich ziehe. Gelegentlich werden weiterreichende Maßnahmen ergriffen. So führte ein 67-jährige Mediziner, der seit 13 Jahren transplantiert und seit seiner Verrentung als ehrenamtlich arbeitender Arzt in

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Äthiopien tätig ist, hierzu aus: »Das geht schon, wichtig ist es, konsequent Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.« Erst habe er im Hotel gewohnt, dann ein Haus gekauft und dafür eine eigene Wasseraufbereitungsanlage mitgenommen. Lebensmittel kaufe er auf dem lokalen Markt. Bevor sie in seinen Kühlschrank kommen, lege er sie direkt im Eingangsbereich seines Hauses in eine Wanne mit Wasser und einem für Lebensmittel geeigneten Desinfektionsmittel. So seien die Sachen desinfiziert und die Verschleppung von Keimen im Haus sei gestoppt. Das alles erzählte er nebenbei, bei der Punktion im Rahmen seines Check-ups, und unterstrich, dass das Thema Hygiene für ihn auch in Äthiopien »keine große Sache« sei. Ob tägliche oder situationsabhängige Hygiene-Strategien: Die Beispiele verweisen erneut darauf, wie Transplantierte die Regeln des Therapieregimes zu ihrem Alltag (passend) machen und es schaffen, sie zu normalisieren. Frank Olbert nutzte zwar wieder den öffentlichen Nahverkehr, blieb jedoch unsicher, weil er sich auf seinen Körper (noch) nicht verlassen konnte. Ein Punkt seiner Unsicherheit bezog sich darauf, dass die Regeln zum Körper- und insbesondere Sexualkontakt auf monogame, heterosexuelle Beziehungen ausgelegt sind. So heißt es, dass, sobald man sich wohl fühlt bzw. etwa nach einem halben Jahr, sexuelle Aktivitäten in der Partnerschaft wieder aufgenommen werden könnten. Mitarbeiterinnen der Ambulanz erklärten Transplantierten weiter, dass sie beim Körperkontakt innerhalb der Familie bzw. des Haushalts weniger vorsichtig sein müssten, solange das Gegenüber keine Infekte habe. Mitglieder eines Haushaltes würden sich hinsichtlich ihres Viren-Bakterien-Haushaltes angleichen. Das Immunsystem Transplantierter sei die spezifische Keimbelastung des jeweiligen Bettes und Haushaltes demnach aus der Zeit vor der Transplantation »gewohnt« (Krankenschwester). Vorausgesetzt wird hier mindestens eine feste Partnerschaft. Die spezifischen Fragen, die Frank Olbert sich jenseits der Selbstverständlichkeit von Safer-Sex-Praktiken stellte, etwa zu schwulem Sex mit Hepatitis B/D oder zu einem gehemmten Immunsystem und wechselnden Partnern, blieben von Broschüren wie Ärztinnen unbeantwortet. Für den Sex jenseits heteronormativer Verhältnisse gibt es keine Regeln, er bleibt unberücksichtigt. Wechselnde Partnerschaften gelten aus medizinischer Perspektive als immunologisch riskantes Verhalten. Demgegenüber markieren monogame Partnerschaften einen weniger gefährlichen, Normalisierung begünstigenden Organ-Alltag. Inwiefern Partnerschaften oder generell Familien in den Veralltäglichungs- und Normalisierungsprojekten Transplantierter darüber hinaus eine Rolle spielen, ist Thema des nächsten Abschnittes.

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5.3 N ORMALISIERUNG DES A LLTAGS FAMILIE UND A RBEIT

DURCH

Post-Transplantationsgeschichten erzählen von einer medizinisch assistierten Rückkehr in Normalität, vor allem aber davon, was als normal verstanden wird. Fast immer berichten sie davon, ob bzw. inwiefern Transplantierte in der Lage sind, Arbeitsund Familienleben (mit oder ohne Kinder) fortzusetzen. Es ist kein Zufall, dass diese zwei Felder prominent sind, wenn in den Erzählungen und Gesprächen zum Weiterleben nach der Transplantation Alltag verhandelt und Normalität begründet wird. Beide Felder betreffen die Einbindung von Individuen in soziale Beziehungen, die Fähigkeit Transplantierter, wieder »produktiv« und »reproduktiv« (Crowley-Matoka 2005) am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Sie berühren kulturelle Normen und Erwartungen, soziale Rollen und Verpflichtungen, mit anderen Worten das, was als sozial akzeptables, normales Leben gilt. Familie und Arbeit markieren auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene Normalität. Zudem symbolisieren sie für viele meiner Gesprächspartnerinnen etwas, das ihren Alltag jenseits von Krankheit und Klinik ausmacht. Mehr noch, Arbeit und Familie können Alltag strukturieren und Ressourcen im (Weiter-)Leben Transplantierter sein, indem sie Regelmäßigkeiten schaffen oder unterstützen. Arbeitsverhältnisse und Familien sind an der Herstellung von Post-Transplantations-Alltagen beteiligt, können deren Normalität aber auch entgegenwirken. Wie Lebertransplantierte mit und ohne Familie und/oder Erwerbsarbeit normale Alltage nach der Transplantation leben und herstellen, wird auf den nächsten Seiten behandelt. Familiäre Selbstverständlichkeiten Diejenigen, die Transplantierten nahestehen, werden nicht nur aus dem unmittelbaren Familienkreis rekrutiert. Sima Vahanian beispielsweise wird von einem Freund unterstützt, den sie seit langem aus der lokalen exil-iranischen Community kennt. Früher haben sie zusammen Politik gemacht. Er stand ihr in der schwierigen Zeit vor und nach der Transplantation bei, hilft ihr bis heute bei Erledigungen und leistet ihr Gesellschaft – ein nicht unwesentlicher Punkt für Sima Vahanian, die nach eigener Aussage relativ isoliert lebt. Umso wichtiger war für sie eine »vertraute Person«, »ein Landsmann«, der wie sie christlich, Teil der exil-iranischen Opposition und ein, wie sie sagt, »Angehöriger unseres Kaisers« ist.12 Die Unterstützung, die in ihrer

12 | Gemeint ist Schah Reza Pahlavi (1919-1980) bzw. sein Sohn Reza Cyrus Pahlavi, der von den Schah-Anhängerinnen als legitimer Herrscher des Iran angesehen wird. Die Monarchistin-

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Freundschaft und der moralischen Verpflichtung, dass man sich im Exil »umeinander kümmert«, ihren Ausgangspunkt nahm, ist inzwischen finanziell über das Sozialamt institutionalisiert, das heißt, er ist ihr (zumindest für einige Stunden bezahlter) Helfer geworden. Generell habe ich von den unterschiedlichen Begleiterinnen Transplantierter zwar einiges zur Veralltäglichung und Normalisierung des Leben nach der Transplantation gelernt, trotzdem bleiben sie auch in meiner Erzählung im Hintergrund.13 Ich beschreibe ihre Rolle vornehmlich aus der Perspektive der Transplantierten: als Personen, die die Normalisierungsarbeit von Transplantierten unterstützen, zum Teil aber auch behindern, und deren Hilfe als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird. In der Ambulanz ist eine Wand im Blutabnahme-Raum mit unzähligen Fotos von Kindern verschiedenen Alters geschmückt: Fotos, die Patientinnen, glücklich darüber, nach ihrer Transplantation Eltern geworden zu sein, mitgebracht haben. Für diese Transplantierten bedeutete die Transplantation unter anderem, ihre Familienpläne umsetzen und Kinder bekommen zu können.14 Hier und da ist ein Bild von einem Hund oder einer Katze dabei, eins zeigt ein paar Ferkel. Letztere sind laut einer Krankenschwester von einem Landwirt, der froh war, wieder arbeiten und zu »seinen Kindern im Stall« zurückkehren zu können. Es sind Fotos, die das (biologische) Leben selbst symbolisieren. Kinder sind hier ein Zeichen dafür, dass das Leben weitergeht.15 Für viele meiner Gesprächspartnerinnen hieß Kontinuität nach der Transplantation, dass sie ihr familiäres Leben, ihre Partnerschaft, Eltern- oder Großelternrolle fortsetzen konnten. Auf wieder andere wartete zu Hause keine Familie, weil diese (1) nicht in der Nähe, manchmal sogar in einem anderen Land lebte, (2) im Leben keine zentrale Rolle einnahm oder (3) sich verabschiedet hatte. Im ersten Fall ging der Kontakt nach Hause, wie Sima Vahanian scherzte, mit »einer hohen

nen, die eines der vier exil-iranischen Oppositionslager bilden, haben keine einheitliche Auffassung zur Rolle der Monarchie, die größte Gruppe befürwortet eine konstitutionelle Monarchie. 13 | Auch wenn mein Fokus nicht auf den Angehörigen von Transplantierten, ihren Alltagen und Normalitäten lag, ergaben sich Gespräche mit ihnen, wenn ich sie als Begleiterinnen in der Ambulanz oder im Zuhause Transplantierter traf. In einigen Fällen waren sie an den Interviews aktiv beteiligt, manchmal hielten sie sich im Hintergrund, schlossen sich selbst aus (um sie gehe es nicht) oder wurden von meinen Gesprächspartnerinnen explizit ausgeladen. 14 | Eine Schwangerschaft ist nach etwa einem Jahr möglich, vorausgesetzt Leber- und Nierenfunktion sind in Ordnung, die Immunsuppressiva sind niedrig dosiert und es bestehen keine erhöhten Risiken durch zusätzliche Erkrankungen. 15 | Sarah Franklin beschreibt in Bezug auf die In-vitro-Fertilisation, dass Kinder und wissenschaftlicher Fortschritt die stärksten euro-amerikanischen Symbole für (die Möglichkeit von) Zukunft sind (Franklin 1997: 166).

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Telefonrechnung« einher. Ihre Schwester und ihr Sohn leben in den USA, ihre Mutter im Iran. Im zweiten Fall rückten Freundschaften als lokale soziale Familien in den Vordergrund. Der dritte Fall umfasste Trennungen vor und nach der Transplantation. Berit Lüdeckes Geschichte ist in diesem Zusammenhang extrem, aber kein Einzelfall: Nach ihrer Transplantation frohen Mutes, körperlich ein neues Leben zu beginnen, musste sie ungewollt noch einen weiteren Neuanfang machen: Nach der Operation rief ihr Ehemann sie im Krankenhaus an und teilte ihr mit, dass er seit einem Dreivierteljahr mit einer anderen Frau glücklich sei und die Scheidung einreichen werde: »Vorher hätte er aus Rücksicht auf meine Krankheit nichts gesagt.« Für Berit Lüdecke gestaltete sich ihr Neuanfang somit doppelt hart. Ihre körperliche Regeneration verlief aufgrund von Komplikationen langsam, Streitereien mit ihrem Mann um den 14-jährigen Sohn und Geld setzten ihr zu, und sie musste zunächst wieder in dem Pflegeheim wohnen, in dem sie bereits einige Monate vor der Transplantation gelebt hatte. Für sie wie für die Mehrheit der Transplantierten geht Normalität nach der Transplantation über eine Normalität des Körpers hinaus (vgl. Kapitel 4). Darüber hinaus steht Familie in den Post-Transplantationsgeschichten häufig für Alltag, selbst im Krankenhaus. »Man weiß, dass es kritisch ist, wenn alle von überall einfliegen«, meinte ein Mitte 50-jähriger Ambulanz-Patient als er über eine gesundheitliche Krise kurz nach der Transplantation sprach. Ihm zufolge bringen Angehörige jedoch »jenseits allen Dramas« auch »so Alltägliches« ins Krankenhaus mit: »Ihr Leben geht ja auch weiter.« Dieser Punkt wurde ebenfalls von Waltraud Fornell angesprochen. Ihre Familie schrieb während ihrer Zeit im Krankenhaus nach der zweiten Lebertransplantation eine Art Tagebuch. Da sie »überhaupt nichts mehr konnte« und »diese ganze Zeit ja überhaupt nicht miterlebt hat«, las ihr Mann ihr in dieser Zeit daraus vor. In diesem Tagebuch, so Waltraud Fornell lachend, wurde nicht nur das Emotionale dieser Zeit zwischen Leben und Tod festgehalten, sondern auch »blödsinnige Alltagssachen«, beispielsweise dass ihr Sohn nur mit kurzen Hosen angereist war und die ganze Zeit die Jogginghose ihres Mannes tragen musste. In einem Moment, wo das eigene Leben innehält, gerät ebenso häufig das Leben von Angehörigen aus der Bahn. Dessen ungeachtet verdeutlichen solche Erzählungen, dass das Familienleben weiterläuft – und sei es, weil es aufgrund diverser Alltagsverpflichtungen weiterlaufen muss. Diese Funktion von Familien, Alltag gleichzeitig zu symbolisieren wie festzuhalten, spielte für viele, sobald sie das Krankenhaus verlassen hatten, eine wichtige Rolle. Rückkehr ins Familienleben bedeutete, das eigene Weiterleben glücklich im Kreise der Familie zu feiern sowie in mehr oder weniger geregelte Tagesabläufe zurückzukehren: Partnerinnen mussten zur Arbeit gehen, Kinder abgeholt und der Kühlschrank gefüllt werden. Abhängig vom körperlichen Befinden gab es zwar mitunter »Schonfristen« (mehrere Transplantierte) hinsichtlich des Umfang ihrer fa-

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miliären Aufgaben, nichtsdestotrotz wurden Transplantierte auf diesem Wege in die spezifischen familiären Tagesabläufe »wieder eingeklinkt«. Die scheinbar nebensächlichen Randbemerkungen meiner Gesprächspartnerinnen zu diesem Eintakten sind Ausdruck der Selbstverständlichkeit eines Prozesses, in den sie gewissermaßen automatisch wieder eingebunden wurden. Diese Art der Alltags-Selbstverständlichkeit von Familie verstand ich erst nach Gesprächen mit Transplantierten, die alleine lebten. Von denen, die nicht alleine lebten, wurden Familie und Familienalltag am ehesten als Kontinuität thematisiert, das, was geblieben war oder weiterlief wie gewohnt. Doch mit der Rückkehr in den »gewohnten Alltagstrott« ist es nicht getan. Gesundheitsprobleme wie Therapieregime greifen auch in das Leben der Angehörigen massiv ein (vgl. Corbin/Strauss 1993; Gregory 2005), vor und nach der Transplantation. Diese sind emotional von Sorgen und Ängsten berührt, praktisch involviert in die tägliche Herausforderung, das Therapieregime zu managen, sozial davon betroffen, wenn Freundeskreise sich zurückziehen, und ökonomisch, wenn sich aufgrund der Erkrankung das gemeinsame Einkommen reduziert. Die mit diesem Involviert-Sein einhergehenden Arbeitenen und Anpassungsleistungen betreffen fast alle Lebensbereiche, die familiären Beziehungen selbst und variieren je nach PostTransplantationsverlauf (Corbin/Strauss 1993). Alexander Dahlen würdigte den Beitrag von Angehörigen, als er sagte, dass er »ohne familiäre Unterstützung auf jeden Fall nicht überlebt hätte«. Besonders Gesprächspartnerinnen, deren Weiterleben mit Komplikationen und einem sehr langsamen Erholungsprozess begann, unterstrichen die wichtige Rolle ihrer Begleiterinnen. Wenn Transplantierte zwar körperlich fit genug waren, das Krankenhaus zu verlassen, das Reha-Programm sie jedoch körperlich überforderte, stützten Angehörige sie ebenso wie das Klinikpersonal (siehe S. 91). Nicht selten setzte die Entlassung von Transplantierten aus der Obhut der Klinik, trotz aller wiedererlangter Selbstständigkeit, meist unausgesprochen die Obhut der Familie als einer funktionierenden Unterstützungsstruktur voraus. Während von Transplantierten im Krankenhaus die Schutzfunktion Angehöriger hervorgehoben wurde, den medizinischen Abläufen nicht allein ausgeliefert zu sein, dominierte später ihre Rolle als Beistand in der Umsetzung des Therapieregimes – sei es, dass sie die Transplantierten zu Kontrolluntersuchungen chauffierten und begleiteten, sie an ihre Tabletten erinnerten oder den familiären Speiseplan mit den Ernährungsregeln abstimmten. Gerade Maßnahmen im Bereich Ernährung und Hygiene tangierten, neben familiären Gewohnheiten, die familiäre Arbeitsteilung, konkret die reproduktiven, oftmals geschlechtlich kodierten Aufgaben wie Einkaufen oder Kochen. Die Abhängigkeit Transplantierter von der Kooperation ihrer Familien wird in einem Kommentar von Robert Jost deutlich:

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»Ich hatte die günstige Situation, dass meine Familie, auch der enge Bekanntenkreis, ›gebrieft‹ war. Sie wussten nicht nur, was Sache war, sondern auch worauf ich zu achten hatte. [. . . ] Topfpflanzen mit Erde, alles was damit zusammenhängt, die ganze Ernährung, usw. Das lief also alles prima ab. [. . . ] Es ist alles optimal geregelt und die spielten auch alle wunderbar mit.«

Das familiäre und freundschaftliche Umfeld von Robert Jost stellte für die Regeleinhaltung die Infrastruktur zur Verfügung. Alle wussten, worauf Robert Jost achten musste und was sie selbst zu tun oder zu unterlassen hatten, z. B. Topfpflanzen verbannen oder auf Hydrokultur umstellen, die Zusammensetzung eines Menüs vorher abklären, ihm bei einem Infekt nicht zu nahe kommen oder im Zweifelsfall ganz fern bleiben. Sie »spielten [. . . ] mit«.16 Das erklärt, warum viele Regeln des Therapieregimes von Robert Jost nicht als Einschränkung empfunden wurden. Sein Umfeld, das hier als wichtiger Bestandteil des Organ-Alltags interpretiert werden kann, hatte sich an die neuen Begebenheiten angepasst. In der Konsequenz erleichterte dies Robert Jost die Anpassung und damit die Normalisierung des Therapieregimes. Umgekehrt empfanden mehrere Transplantierte es als »ungünstig«, »wenn einen die Familie zu sehr hätschelt«. Stattdessen könne einen »ein verbaler Arschtritt« (Joachim Quaas) der Ehefrau schon mal »geraderücken« und motivieren, »das Leben wieder anzugehen«. Ansonsten duldeten weniger angepasste Familienmitglieder wie Kinder, die versorgt werden wollten, keinen Aufschub, selbst wenn man sich vielleicht gerade lieber »gehen lassen« wollte. In gleicher Weise wurden Haustiere wie Hunde genannt, die dafür sorgten, »dass man sich aufraffen und das Haus verlassen muss[te]«. In diesen Beispielen unterstützte gerade die geringere Anpassung des Umfeldes an die Befindlichkeiten Transplantierter die Bewältigung von Alltag. Alltag wurde hier durchaus mit gewissen Zumutungen verbunden, nicht nur bezogen auf das Therapieregime. Diesen Zumutungen müsse man sich jedoch nach der Transplantation wieder aussetzen. Die Herstellung von Alltag wie Normalität bezieht sich dann auf kollektive Maßstäbe dessen, was es heißt, ein normales Leben zu führen. Ferner gab es Gesprächspartnerinnen, die anführten, dass ihre Familien oder Begleiterinnen sich »zu sehr kümmern« würden. Sie hatten das Gefühl »in Watte gepackt«, »überbehütet« oder »nicht ernst genommen« zu werden. ›Kümmern‹ bezog sich zugleich auf unterstützen und versorgen sowie auf sich Sorgen machen. Über-

16 | Dass Robert Jost die Vergangenheitsform »spielten« verwendete, erinnert an die notwendige und besondere Vorsicht aller in der Anfangszeit. Es deutet ebenso auf Routinisierung: Die nach wie vor stattfindende Anpassungsleistung ist nach der überstandenen Anfangsphase nicht mehr der Rede wert.

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mäßiges Kümmern wurde dabei als Hindernis für eine erfolgreiche Normalisierung aufgefasst – z. B. von Pia Krüger: »Die sind nach wie vor alle um mich besorgt. Fürchterlich! Ich find’s schlimm. Ist zwar lieb gemeint, aber es geht mir auf die Nerven. Die halten mich alle für krank, immer noch. Sie sehen ja, ich darf nicht mal Staubsaugen. Gut, jetzt abgesehen von der Narbe. Aber ich darf hier nichts machen. Mein Mann nimmt mir alles ab! Ist ein ganz lieber, wirklich, und hat wirklich fürchterliche Angst um mich. Braucht er nicht, aber das kriege ich nicht rein. Und die anderen [Familie, Freundinnen] sind zum Teil auch so. [. . . ] Ich sage: Mir geht’s gut. Das nehmen sie mir nicht richtig ab. Die meinen, ich muss jetzt irgendwelche Schmerzen haben oder leiden oder sonst was. Also, das dauert noch, bis ich die alle so weit habe [lacht].«

Etwas mehr als ein Jahr nach ihrer Transplantation fand Pia Krüger die Sorgen, Nachfragen und Hilfen ihres Mannes und ihres persönlichen Umfeldes unangemessen. Für sie ist ihr persönliches Normalisierungsprojekt nach der Transplantation abgeschlossen. Mit dieser Perspektive eilt sie der Normalisierung ihres Gesundheitszustandes im familiären Umkreis voraus. Pia Krüger relativierte die Zeit vor der Transplantation, als sie aufgrund des Leberversagens mit einem erhöhten Ammoniakspiegel konfrontiert war, bereits wenige Wochen nach ihrer Transplantation, als sie aus der Klinik entlassen wurde: Sie war eben »vergesslich« und hat »Sachen doppelt erzählt«. Ihr Mann stellte jedoch klar: »Was heißt vergesslich, Ausfälle! Und auch aggressiv!«. Die ganze Familie habe sich Sorgen gemacht, sie sei »deutlich anders« und »nicht sie selbst« gewesen. Er und Angehörige anderer Transplantierter hatten die NichtNormalität ihrer Nächsten nicht vergessen und hatten teilweise auch nach einigen Jahren noch Angst, dass die »Ausfälle« ihrer Liebsten wiederkommen könnten. Vielen fiel es schwer, diese im Rückblick zu »bagatellisieren« (Angehörige). Der Partner von Gudrun Nietschke meinte, »Angehörige haben ein besseres Gedächtnis, wie es wirklich war«. Gudrun Nietschke entgegnete hingegen, sie »muss es besser wissen«, schließlich habe sie es »erlebt«, er »quatsche zu viel« und solle »sich nicht als [ihr] Beschützer aufspielen«. Meinungsverschiedenheiten wie diese äußerten sich auch, wenn in der Ambulanz zu Transplantierten gesagt wurde: »Sie haben jetzt wieder mehr Freiheiten«, und sich diese sofort an ihre Begleitung wendeten: »Hörst Du!« Die Kümmernden nehmen eine intime Zwischenposition ein, sie sind gleichzeitig Verbündete wie Störende, gewährleisten Normalität, erinnern aber auch an NichtNormalität. Manchmal führten Transplantierte an, dass weniger Involvierte sie »weniger schonen« würden und daher hilfreicher dabei seien, sich den Herausforderungen des normalen Lebens wieder zu stellen. Wenn einige jedoch zugleich erzählten, dass sie es »weniger gut« fanden, wenn Freundinnen oder Enkelkinder sie im Krankenhaus

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besuchten, weil sie von ihnen nicht »in so desolatem Zustand« gesehen werden wollten, deutet das umgekehrt darauf hin, dass Transplantierte ihr persönliches Umfeld ebenfalls teilweise schonen wollen. Diejenigen, die am dichtesten dran sind, haben es zwar nicht selbst erlebt, aber miterlebt. Ihnen wurden solche ›desolaten Zustände‹ zugemutet und es wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie damit umgehen und sich kümmern werden. Obwohl die zentrale Rolle der Angehörigen in den Gesprächen mit Transplantierten oft auf der Hand lag, wurde sie selten explizit ausgeführt und fand eher Erwähnung in Randbemerkungen. Einerseits mag das meinem methodologisch Individuums-zentrierten Fokus auf Transplantierte zuzuschreiben sein. Andererseits ist diese Auslassung oder Nicht-Adressierung des wesentlichen Beitrags der Angehörigen darauf zurückzuführen, dass die Verpflichtung, sich innerhalb der Familie umeinander zu kümmern, besonders in existentiellen Krisen als selbstverständlich betrachtet wird. Selbst diejenigen, die die Rolle ihrer Begleiterinnen und Unterstützerinnen würdigten, nahmen das, was diese taten, nicht unbedingt als Arbeit wahr. Diese Sicht spiegelt die gängige gesellschaftliche Sicht auf unbezahlte Reproduktionsarbeit in Familien wider. Im Falle Sima Vahanians ist es die Sozialgesetzgebung, die das Sich-Kümmern eines Freundes zumindest partiell als zu leistende und geleistete Arbeit anerkennt. In solchen Wahlverwandtschaften wird Sorge-Arbeit, anders als in der Familie im eng definierten Sinne, individuell und gesellschaftlich als weniger selbstverständlich vorausgesetzt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die von mir geführten Interviews auf unterschiedliche Facetten von Familie in Bezug auf Normalität und Alltag verweisen. Erstens markiert Familie Normalität und Teilhabe an dieser gesellschaftlich definierten Normalität. Zweitens unterstützt Familie die Normalisierung des Weiterlebens nach der Transplantation, insbesondere wenn bzw. indem sie das Therapieregime als Bedingung dieses Weiterlebens mitträgt. Normalisierung meint hier die Schaffung von Routinen, die Anpassung an neue Regeln und damit die Etablierung von PostTransplantations-Alltagen. Drittens steht Familie selbst für Alltag und dessen Selbstverständlichkeit und unterstützt so die Herstellung neuer wie alter Alltage in ihren Regelmäßigkeiten. Diese Selbstverständlichkeit oder Erwartung beinhaltet die Verpflichtung wie Annahme, dass die Angehörigen sich kümmern und es einem nicht überlassen, das Neue zu normalisieren. Wenn sich individuelle und familiäre Einschätzungen im Hinblick auf die Normalität von Transplantierten widersprechen, kann zu viel Kümmern allerdings auch die individuellen Normalisierungsprojekte von Transplantierten gefährden.

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Erwerbsarbeit als Normalitätsmarker Mehr noch als die Rückkehr ins Familienleben stellte für viele die Rückkehr ins Erwerbsleben einen wichtigen Gradmesser von Normalität dar. Ausnahme waren Transplantierte, die schon im Ruhestand oder dem regulären Rentenalter nahe waren: Für sie verwies ihr sozialer Status nach der Transplantation nicht auf NichtNormalität, sondern eine dem Alter entsprechende Normalität. Erwerbsarbeit ist ein gesellschaftlicher Normalitätsmarker, der gesellschaftliche Teilhabe und Integration abbildet, ökonomisch und sozial: Wer arbeitet, gilt als produktiver Teil der Gesellschaft. Erwerbsarbeit nach der Transplantation wieder aufzunehmen, ist nicht nur eine Erwartung, die zahlreiche Transplantierte an sich selbst haben. Eine Rückkehr ins Arbeitsleben wird von ihnen erwartet und spielt in der öffentlichen Bewertung des Erfolgs der Organtransplantation als Rehabilitationsmaßnahme eine Rolle. Diese Erwartungshaltung wurde auch in Kommentaren von Medizinerinnen deutlich. Häufiger wiesen sie mich, ungefragt, daraufhin, dass Herr X oder Frau Y wieder arbeite. Geradezu stolz wurde mir ein 48-jähriger Patient der Ambulanz präsentiert, der drei Jahre zuvor transplantiert worden war: Sechs Wochen nach der Transplantation war er wieder zu Hause, zwei weitere Wochen später stand er wieder am Hochofen. Sie räumten ein, dass es selten sei, dass Lebertransplantierte so schnell wieder arbeiteten. Generell würden etwa 60% nach der Transplantation ins Berufsleben zurückkehren.17 Ob Transplantierte dies schaffen, ist ihrer Meinung nach oft auch eine Frage der Einstellung: Wichtig und förderlich sei »eine Einstellung so zum Normalen« (Krankenschwester). Diese Position bestätigte der Patient aus der Stahlindustrie. Interessant war, bezogen auf das vorherige Kapitel, sein Verweis, dass ihm bei dieser ›Einstellung‹ seine Frau und seine zwei Söhne sehr geholfen hätten. Mit entscheidend war nicht zuletzt die ökonomische Bedeutung seines Einkommens für die Familie. Bereits in der Reha-Klinik ist die Wiederaufnahme einer Erwerbsarbeit mal mehr, mal weniger ein Thema (siehe S. 108). Laut der dort für Organtransplantierte zuständigen Psychologin Thea Salewski gebe es im Wesentlichen zwei Gruppen von Transplantierten: Einerseits diejenigen, die nicht mehr arbeiten wollen oder sich nicht vorstellen können, wieder zu arbeiten, und daher in (Erwerbsunfähigkeits-)Rente gehen, sich darum kümmern, dass sie in Rente verbleiben, und mitunter Angst haben,

17 | Ein Arzt führte an, dass die beruflichen Rehabilitationsraten von Transplantierten in einigen Ländern höher seien, was seiner Meinung nach mit Unterschieden sozialer Sicherungssysteme zu tun habe.

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dass ihnen die Verrentung doch irgendwann genommen wird.18 Andererseits diejenigen, für die Erwerbsarbeit zentral ist, die sofort wieder anfangen wollen und das auch tun, dabei jedoch nicht oder zu wenig auf ihre Grenzen achten. »Das ist etwas, was ich ganz oft beobachte«, so die Psychologin, »wenn Transplantierte in den Arbeitsprozess zurückfinden, dann finden sie oft nicht das Maß«. Wenn sie einige von ihnen nach zwei, drei Jahren in der Reha wiedertreffe, sei die Transplantation oft kein Thema mehr. Stattdessen gehe es dann um Stressbewältigung und Situationen beruflicher Überforderung. Was Thea Salewski in den zwei Patientinnengruppen als »Gegenpole individueller Unter- oder Überforderung« ansprach, interessiert mich primär im Hinblick auf die Verhandlung der individuellen und kollektiven Erwartungen von Normalität. Die Erwartungshaltung gegenüber Transplantierten wurde besonders deutlich, wenn Patientinnen die Erwartungen nicht erfüllten oder erfüllen wollten, ihre gesundheitliche Verfassung jedoch als gut und somit nicht als Hindernis eingeschätzt wurde. Die für eine Verlängerung der Erwerbsunfähigkeits-Rente von Patientinnen notwendigen ärztlichen Gutachten konnten in diesem Kontext zum Anlass dafür werden, dass aus Erwartungen Vorwürfe wurden. Ein Patient beschwerte sich telefonisch, dass im Gutachten stehe, dass es ihm gut gehe, was nicht stimme. Er habe zuweilen Durchfall, das gehe bei seinem Beruf gar nicht, denn er sei Koch. Dr. Seitz, sonst sehr freundlich, reagierte regelrecht sauer: »Ihre Leberwerte sind gut, ihr Allgemeinzustand auch, Sie sind 50 Jahre alt [. . . ]. Ziel der Transplantation ist es doch, dass Leute auch wieder arbeiten gehen können. Wenn Sie nicht wollen, hätten Sie sich ja nicht für die Transplantation entscheiden müssen. Dann hätte sich Ihr Zustand so weit verschlechtert, dass es mit dem Rentenantrag sicher geflutscht hätte.«

Nach dem Telefonat erzählte mir Dr. Seitz, wie »wütend« sie »so was« mache. Zur Erläuterung fielen Kommentare wie »Leben auf Kosten der Gesellschaft«, »unsolidarisches Verhalten« und »wenn schon so viel in jemanden investiert wird, muss sich das auch für die Gemeinschaft lohnen«. Dieser Argumentation liegt ein Verständnis der Organtransplantation als Ergebnis verschiedener Solidaritäten oder Verbundenheiten zugrunde, in dem abstrakte Verhältnisse individuell moralisiert werden: Erstens be-

18 | Die Bewilligung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung ist abhängig von der jeweiligen Leistungsfähigkeit in Bezug auf die Ausübung beruflicher Tätigkeiten und nach einer Transplantation in der Regel befristet. Nach diesem Zeitraum muss erneut mittels ärztlicher Gutachten nachgewiesen werden, dass eine Erwerbstätigkeit nicht bzw. nur eingeschränkt ausgeführt werden kann.

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ruht die Transplantation demnach auf der Solidarität einzelner Organspenderinnen (oder ihrer Angehörigen), die in Organspendekampagnen als Teil einer Gemeinschaft adressiert werden. Zweitens gründet sie sich auf den gemeinsamen Pool der gespendeten Organe bei Eurotransplant und damit einer Partnerschaft von diversen Kliniken und Ländern. Drittens stützt sich die Finanzierung der sechsstelligen Transplantationskosten auf die nach dem Prinzip der Solidargemeinschaft organisierten Krankenkassen. Wer nicht arbeiten geht und demzufolge keine Steuern und KrankenkassenBeiträge zahlt, untergräbt gemäß diesem Verständnis die gemeinschaftliche Solidarität, von der er oder sie profitiert hat.19 Ich kenne die Geschichte und Position jenes Patienten nicht, dessen Beschwerde Dr. Seitz abwies. Aber ich bekam das Ringen etlicher Transplantierter mit der statistisch häufigen Nebenwirkung Durchfall mit, die für sie persönlich keine Nebensächlichkeit darstellte und bisweilen als äußerst belastend erlebt wurde. Die Konsequenzen von Durchfall für Alltag und Arbeit wurden im Anruf des Patienten angedeutet, von Dr. Seitz indessen ebenso wenig berücksichtigt wie die Arbeitsmarktsituation für 50-jährige Köche. Stattdessen führte sie mir gegenüber an, dass es, im Gegensatz zu dem Patienten am Telefon, viele positive Beispiele gebe, und erzählte mir von einem Waldarbeiter. Obwohl von Garten- und Waldarbeit unter starker Immunsuppression im ersten Jahr abgeraten wird, habe dieser Patient immer wieder in der Ambulanz angerufen: Er müsse wieder arbeiten, der Wald fehle ihm, seine Arbeit habe ihm immer Spaß gemacht, und nicht zuletzt müsse er eine junge Familie versorgen – könne er nicht doch schon früher wieder arbeiten? Das erlaubte die Ambulanz zwar nicht, dafür stimmten hier gesellschaftliche Erwartungshaltung und individueller Arbeitsethos überein. Dies galt auch für manche lebertransplantierte Rentnerinnen unterschiedlichen Alters, die zwar nicht arbeiteten, aber sich in Ehrenämtern engagierten. Ob und wie deutlich die Erwartung, dass Transplantierte in die Erwerbsarbeit zurückkehren, von Dritten formuliert wurde, war unterschiedlich und hatte nicht allein mit ihrer körperlichen Verfassung zu tun. Der Hausfrau mit zwei Kindern, die nach der Transplantation an ihren Arbeitsplatz Zuhause zurückkehrte, wurde ebenso wenig ein Vorwurf gemacht wie Transplantierten, die anstelle von Vollzeit Teilzeit arbeiteten oder nicht arbeiten gingen, weil sie das offizielle Rentenalter fast erreicht hatten. Gleichzeitig räumte die Krankenschwester, die die Wichtigkeit einer ›normalen Einstellung‹ unterstrichen hatte, später ein, dass die Rückkehr zur Erwerbsarbeit nicht

19 | Eine ähnliche Argumentation brachten Mitarbeiterinnen des Transplantationszentrums vor, wenn sie mir erklärten, warum sie wenig Verständnis für lebertransplantierte Alkoholikerinnen hätten, die rückfällig würden, wobei hier noch der moralische Vorwurf hinzukam, auf gesundheitlicher Ebene eine »zweite Chance« zu verspielen.

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immer einfach sei, gerade für jüngere Transplantierte ohne Ausbildung. Auf einen weiteren Aspekt verwies ein 45-jähriger Informatiker: »Wer nimmt schon jemanden, der oft krank ist oder häufig zum Arzt muss?« Ohne sein Auto wäre er »aufgeschmissen«, sonst wäre er ja nur krank, allein durch die Fahrten im öffentlichen Nahverkehr. Auch erzählten einige Transplantierte, die erst wieder Arbeit suchen mussten, von ihrer schwierigen Position gegenüber (potentiellen) Arbeitgeberinnen. Diese würden ihnen oft von vorneherein ständige Fehlzeiten aufgrund von Krankheit unterstellen oder nicht bereit sein, sie für Kontrolluntersuchungen freizustellen. Hier rückt statt vermeintlich unsolidarischen Individuen die gesellschaftliche Organisation von Arbeit in den Blick, mithin die Bedingungen, unter denen potentiell eingeschränkte Arbeitskraft verkauft werden muss. Die Rückkehr zur Arbeit allein als eine Frage des individuellen Willens zu betrachten, blendet die mit ihr verbundenen, nicht vom Individuum zu beeinflussenden Abhängigkeiten aus. Ein jüngerer Gesprächspartner sagte in diesem Zusammenhang: »[. . . ] besser erwerbsunfähiger Rentner als LangzeitArbeitsloser«. Ihm ging es nicht um die Höhe des Einkommens, das in beiden Fällen ähnlich gering ist. Vielmehr meint »besser« hier weniger stigmatisierend und betrifft den möglichen Rechtfertigungsdruck, dem diejenigen, die nach der Transplantation nicht arbeiten, angesichts normativer gesellschaftlicher Erwartungen ausgesetzt sind. Ob meine Gesprächspartnerinnen die Rückkehr zur Erwerbsarbeit als Erwartung an sich selbst formulierten, hing von verschiedensten Faktoren ab. Ein 38-jähriger Lebertransplantierter, den ich in der Reha-Klinik kennen lernte, arbeitete vor der Transplantation als Anlagenfahrer auf dem Bau. Er würde gern wieder arbeiten, erzählte er. Doch die Ärztinnen hatten ihm schon gesagt, dass eine Rückkehr in seinen alten Job unwahrscheinlich war. Das fand er »tragisch«, auch wenn er es einsah. Er habe riesige Maschinen bedient, für die man ihm zufolge schon »fit sein« müsse, um überhaupt auf sie raufklettern zu können. Als der Arzt (Dr. Schönfeldt), halb zu ihm, halb zu mir, sagte, dass Computer-Arbeitsplätze für Transplantierte ideal seien, verdrehte der ehemalige Bauarbeiter die Augen. Am Computer zu arbeiten, sei nicht sein Ding. Computerarbeit stellte für ihn, der immer körperlich gearbeitet hatte, keine ›richtige‹ Arbeit dar. Gerade Lebertransplantierte, die ihre Berufe körperlich nicht mehr ausüben konnten, weil sie weniger leistungsfähig waren oder Nebenwirkungen der Immunsuppressiva wie z. B. Händezittern (Tremor) sie beeinträchtigten, thematisierten die Problematik, sich beruflich umorientieren zu müssen. Zwar kehrten auch Transplantierte, die in körperlich anstrengenden Berufen tätig waren, in diese zurück, dies war jedoch seltener der Fall als bei Transplantierten, deren Erwerbsarbeit

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überwiegend am Computer, Mikroskop oder Schreibtisch stattfand.20 Die Ausübung einer Erwerbsarbeit wurde zudem als (zu) anstrengend empfunden, wenn Arbeitszeiten sehr lang oder unregelmäßig waren. Berufsfelder wechseln oder Arbeitszeit reduzieren zu müssen, erforderte häufig eine Re-Definition individueller Vorstellungen von Arbeit und der mit Arbeit und Beruf verknüpften Selbstbilder. Dies konnte auch heißen, den möglichen Verlust ökonomischer Unabhängigkeit »erst mal mental [zu] verkraften«, wie eine 47-jährige Ambulanz-Patientin es zusammenfasste.21 Andere Gesprächspartnerinnen verspürten grundsätzlich keinen großen Wunsch, wieder zu arbeiten: weil sie ihre Stelle und/oder Kolleginnen »nicht besonders gemocht« hatten, das »allgemeine Arbeitsethos« ablehnten und/oder meinten, »es gibt Wichtigeres im Leben« – besonders dann, wenn man »dem Tod von der Schippe gesprungen« war. Auch diese Transplantierten reagieren mit ihren Aussagen auf gesellschaftliche Erwartungen oder Leitbilder. Ihre Darstellungen sind, wie die oben erwähnte Re-Definition von Selbstbildern, Ergebnis einer Normalisierung der jeweiligen Lebenssituation durch Praktiken des Neu-Erzählens und Neu-Konzipierens der eigenen (Arbeits-)Biografie. Wieder andere hatten aufgrund gesundheitlicher Probleme vor der Transplantation so lange nicht mehr gearbeitet, dass sie es schwierig fanden, sich ihre Rückkehr ins Arbeitsleben vorzustellen oder zuzutrauen. Daher fiel es ihnen leichter, sich mit der Kategorie ›erwerbsunfähige Rentnerin‹ zu arrangieren. Im jeweiligen Bemühen um einen erneuten Einstieg ins Erwerbsleben spielte dann der ökonomische Druck bzw. die Relevanz des Einkommens für einen selbst oder die Familie, die körperliche Verfassung oder die Einschätzung dessen, wie krank oder gesund man ist, die Möglichkeiten, wieder oder kürzer zu arbeiten, sowie zufällige Gelegenheiten eine Rolle. So schilderte ein 51-jähriger Gesprächspartner, der anfangs skeptisch war, ob er es »packen« würde wieder zu arbeiten, dass er in seinen derzeitigen Job »eher hineingestolpert« sei. Ein Bekannter, den er zufällig getroffen hatte, hatte ihm von der Stelle erzählt: »Meine Frau und Freunde sagen, seitdem bin ich

20 | Zwei Gesprächspartner, die in der industriellen Produktion gearbeitet hatten, sprachen außerdem an, dass man »wirklich fit sein« müsse, um in dem zunehmend von Leiharbeit geprägten Sektor zu bestehen. 21 | Der Zusammenhang von Erwerbsarbeit und ökonomischer Unabhängigkeit wurde von Männern wie Frauen angesprochen, vorrangig gegenüber Partnerinnen thematisiert, manchmal auch gegenüber »dem Staat« (wie einige es nannten) bzw. staatlich organisierten Sicherungssystemen. Je nach Familien- oder Partnerschafts-Modell spielten Geschlechterbilder und -verhältnisse eine kleinere oder größere Rolle. So war es gerade für einige ältere Männer ein Problem ihre Rolle als Hauptverdiener aufzugeben. Auch zuverdienende Ehefrauen diskutierten ihre Erwerbsarbeit als Grundlage ihrer gesellschaftlichen Teilhabe wie finanziellen Autonomie.

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wieder richtig aufgeblüht. Und das stimmt auch.« Mit diesem ›Aufblühen‹ sprach er die psychosoziale Bedeutung von Erwerbsarbeit an: »Man hat weniger Zeit zum Grübeln«, geht einer gesellschaftlich anerkannten Tätigkeit nach, hat mal wieder mit anderen Personen als Ärztinnen, Familienmitgliedern und Freundinnen zu tun und »kann sich wieder so ein bisschen austesten«. Mit besonderen Anstrengungen war die Rückkehr ins Arbeitsleben für diejenigen verbunden, die wie Frank Olbert beruflich selbstständig waren. »Wenn ich jetzt ein Angestelltenverhältnis hätte, so schön eingekastelt: Ah, ich weiß, ich muss jetzt wieder arbeiten, steige wieder ein und bekomme jeden Monat meinen Scheck – puh, schön. Scheißjob vielleicht, aber man ist da im System drin und muss da halt mehr oder weniger funktionieren. Bei mir ist es aber, ich muss das erst einmal stemmen. Und dann kommt die Problematik dazu: Ich stemme und ›tschak‹ [Fingerschnipsen], ich krieg eine rein ... [bezogen auf seinen Körper]. Und das ist total anstrengend.«

Als freier Theaterregisseur kann er, im Vergleich zu Angestellten, aber auch beruflich selbstständigen Transplantierten mit einem Betrieb, in kein System fester Strukturen zurückkehren, sondern muss sich diese erst mühsam erarbeiten. »Freie Arbeit heißt Mega-Kraft und halt, sich auf sich verlassen können. Und das ist im Moment gerade schwer.« Genauso wie er die Anforderungen von Therapieregime und Haushalt als Single vorwiegend allein managen muss, muss er allein neue Projekte entwickeln, sich um ihre Finanzierung kümmern, seine beruflichen Netzwerke reaktivieren und mit seinen ökonomisch begrenzten Ressourcen so umgehen, dass er seine monatlichen Kosten möglichst gering hält. Diese gleichzeitig zu meisternden Anforderungen werden angesichts seiner begrenzten Kraft und Konzentrationsfähigkeit zu einer enormen Herausforderung. Während der Proben eines Stücks habe er »nichts mehr geschafft«: »Ich habe nur noch Junkfood gegessen [. . . ], weil ich überhaupt nicht die Energie hatte zu kochen. Was dann auch wieder doof ist für meine Gesundheit. Also, das beißt sich alles in den Schwanz.« Für Frank Olbert dominiert die Unsicherheit seiner neuen Situation, die sich durch verschiedene Felder seines täglichen Lebens zieht. Ein Jahr nach der Transplantation war er von einem stabilen Alltag noch weit entfernt. Demgegenüber gab es zahlreiche Gesprächspartnerinnen, die nach der Transplantation beruflich »wieder loslegen« wollten und dies auch erfolgreich taten. Ähnlich wie beim Eintakten in den Familienalltag, beschrieben einige den Stellenwert der Regelmäßigkeit von Erwerbsarbeit, die dabei half, Alltag und Normalität nach der Transplantation (wieder) aufzubauen. Teilweise wurden Möglichkeiten der beruflichen Wiedereingliederung wie das Hamburger Modell genutzt, bei dem mit einer ge-

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ringen Arbeitszeit gestartet und diese dann schrittweise erhöht wird.22 Hasan Çelik, der in einer Verwaltung arbeitete, schlug diese Option aus: »Erstens kriegen Sie viel weniger, zweitens, was soll ich den ganzen Tag zu Hause. Mit einem vollen Gehalt würde ich mir eine Beschäftigung suchen, aber so?« Ein langjähriger Arbeitskollege unterstützte seine Entscheidung: »Ich werde dich entlasten, so gut ich kann, du musst dir keine Sorgen machen, kannst ruhig kommen.« Auf diese Weise verlief Hasan Çeliks Wiedereinstieg bestens. Er konnte in seine Vollzeitstelle und seinen Arbeitsalltag zurückkehren und an seine Normalität vor der Transplantation anknüpfen. Ein Problem sei jedoch bis heute seine Vergesslichkeit, eine Nebenwirkung der Medikamente: »Auf der Arbeit ist das für mich natürlich sehr gefährlich, das könnte für mich den Verlust der Arbeit bedeuten.« Später führte er aus: »Mein Schreibtisch ist voll mit gelben Zetteln [Haftnotizen zum Erinnern und Abarbeiten]! [. . . ] Ansonsten ist es nicht möglich, dass ich mir Termine merken kann.« Einige Gesprächspartnerinnen berichteten von Problemen mit ihrem beruflichen Wiedereinstieg oder über kurz oder lang auftretende, ihre Arbeit beeinträchtigende gesundheitliche Komplikationen ebenso wie von ihren jeweiligen Strategien, damit umzugehen. Nicht alle konnten dabei mit hilfsbereiten oder verständnisvollen Kolleginnen und Chefinnen rechnen, und Selbstständige wie Angestellte mussten mitunter schweren Herzens Arbeitszeiten und damit Einkommen reduzieren. Hin und wieder wurden Überforderungen thematisiert, das heißt Schwierigkeiten, Arbeitsanforderungen zu erfüllen oder Grenzen der eigenen Arbeitsfähigkeit zu akzeptieren. Nichtsdestotrotz vermittelten viele Erzählungen ein Bild von einer Rückkehr in den Arbeitsalltag, ›als ob nichts war‹. Mehrere Transplantierte berichteten, wie Waltraud Fornell, von einem »neuen Selbstbewusstsein« oder einer »neuen Entschlossenheit« mit der Erwerbsarbeit und Karriere fortgesetzt wurden. Alles in allem hing die Rückkehr der Transplantierten ins Erwerbsleben davon ab, wie alt sie waren und auf welche ökonomischen und sozialen Ressourcen sie zurückgreifen konnten, was sie vorher gearbeitet hatten und wie lange sie vor der Transplantation aus dem Job ausgestiegen waren und ob ein/ihr Arbeitsplatz auf sie wartete. Normalität spielte in erster Linie als gesellschaftliche Anforderung eine Rolle, die sich im Arbeitsethos vieler Transplantierter genauso wie in Konflikten, wenn sie diesem nicht gerecht werden konnten, niederschlug. Einigen gelang es das fortzuführen, was sie ihr normales Leben nannten. Für andere war die Herstellung ihres Post-Transplantations-Alltags mit der Etablierung und Akzeptanz neuer Normalitä-

22 | Das Hamburger Modell (§ 74 SGB V) bezeichnet die stufenweise Wiedereingliederung Beschäftigter nach einer Phase krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Während der Wiedereingliederung wird Kranken- oder Übergangsgeld gezahlt.

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ten in Bezug auf ihr Erwerbsarbeitsleben verbunden. Die Normalisierung des Lebens nach der Transplantation beinhaltete in diesen Fällen häufig die Notwendigkeit, Bilder von sich selbst und dem eigenen Leben zu re-definieren: z. B. ich als Rentnerin, Teilzeit-Beschäftigte, abhängig vom Gehalt meiner Frau, ich als Handwerker habe jetzt einen Job als »Sesselfurzer«. Diese Re-Definition von Identität umfasste vielfältige Aspekte von familiären Beziehungen über Geschlechterbilder bis hin zur Nicht-Berücksichtigung bei einer Beförderung. Bisweilen basierte die Normalisierung der jeweiligen Erwerbsarbeitssituation auf einer Verschiebung von Prioritäten: »[H]eute arbeite ich lieber weniger, auch wenn das weniger Geld bedeutet«, »heute ist mir meine Familie wichtiger als meine Arbeit«, »auch ohne Arbeit kann ich mich beschäftigen«. Die Aussagen mancher Gesprächspartnerinnen machten ferner deutlich, dass die Rückkehr wie Nicht-Rückkehr zur Erwerbsarbeit für Transplantierte ebenfalls Arbeit ist, und sei es Arbeit am Selbst und der eigenen Biografie. Und gerade wenn die Wiederaufnahme einer Erwerbsarbeit scheiterte, wurde ihr Stellenwert mitunter relativiert: »Das Wichtigste ist doch, das die Leber wieder funktioniert!« (52-jähriger Schlosser).

5.4 T RANSPLANTIERTE G ESUNDHEIT – A NTWORTEN AUF EINE UNFREUNDLICHE F RAGE Wenn in den Post-Transplantationsgeschichten, die in den Medien oder in Organspendekampagnen erzählt werden, die normalisierenden Erfolge der Transplantationsmedizin herausgestellt werden (siehe S. 3), taucht das Wort gesund in der Regel nicht als Kennzeichen des neuen, wieder normalen Lebens auf. Es wird höchstens erwähnt, dass Transplantierte einen gesunden Lebensstil pflegen und somit vorbildlich auf den Erhalt ihrer Gesundheit achten. Gesundheit als angenommener Normalzustand und Gegenstand medizinischer Bemühungen, als Ziel und Bewertungsmaßstab medizinischer Intervention wird im transplantationsmedizinischen Kontext offenbar nicht als Marker von Normalität verstanden. Dies mag daran liegen, dass ungeachtet aller Fortschritte, Ergebnis und Erfolg einer Lebertransplantation unsicher bleiben. Unabhängig davon, ob und inwiefern nach der Transplantation akute Gesundheitsprobleme auftauchen, bleibt bei Transplantierten eine körperliche Differenz zurück: wenn nicht als weiterhin bestehende oder neu auftretende Lebererkrankung, dann als immunologische Differenz, als erhöhtes, über das normale (durchschnittliche) Maß hinausgehendes Gesundheitsrisiko und als stete Erinnerung, dass die (wieder-)gewonnene Normalität jederzeit scheitern kann. Normalisierung nach der Transplantation beruht auf dem Umgang mit dieser Differenz oder Nicht-Normalität. Das normale Leben

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Transplantierter ist ein von Medizin und Medikamenten ebenso wie von individuellen Möglichkeiten und sozialen Bedingungen abhängiges und mit diversen Risiken behaftetes Weiterleben. Transplantierte bleiben Patientinnen, lebenslang. Normalität ist unter diesen Bedingungen zugleich ein Versprechen und eine Hoffnung, eine Erwartung und eine Aufgabe und nicht zuletzt eine Messlatte. Gesundheit ist nach der Transplantation, wenn überhaupt, in einer sehr spezifischen Form verfügbar – als »transplantierte ›Gesundheit‹« (Crowley-Matoka 2005). Für die mexikanischen Nierentransplantierten in Megan Crowley-Matokas Studie ist diese Form von Gesundheit durch einen »anhaltenden Schwellenzustand« (persistent liminality) gekennzeichnet: »Rather than re-emerging into a fully ›normal‹ life of health and (re)productivity, these transplant recipients often found themselves forced to continue living betwixt and between the states of ›health‹ and ›illness,‹ and ›patient‹ (who depends on others) and ›normal person‹ (who participates in and contributes to a family).« (ebd.: 827)

Ähnlich betont Vera Kalitzkus die Fragilität der durch eine Abstoßung bedrohten Normalität Transplantierter und spricht von einem »Leben unterm Damoklesschwert« (Kalitzkus 2003: 89). Leslie Sharp argumentiert, dass sich der uneindeutige Status Transplantierter zwischen Normalität, Abhängigkeit und Besonderheit (exceptionality) in der widersprüchlichen Wortwahl und (Selbst-)Bezeichnung Transplantierter niederschlägt: Es macht einen Unterschied, ob sie als normal oder als außergewöhnlich, als gesund oder als behindert, als Organempfängerin oder als Patientin bezeichnet werden (Sharp 1995: 373-375). Vor diesem Hintergrund interessierte mich ›transplantierte Gesundheit‹ als spezifische Normalität des Lebens Transplantierter. Alexander Dahlen lachte, als ich ihn fragte, ob Transplantierte gesund oder krank seien und warum, sagte aber zunächst, dass er die Frage »unfreundlich« finde. Er wisse zwar nicht genau warum, aber sie fühle sich »seltsam« an. Mir war bewusst, dass die Frage normativ aufgeladene Kategorien vorgibt, somit von Transplantierten verlangt, sich zu diesen zu positionieren, und letztlich wertend ist. Gesundheit und Krankheit sind weder eindeutig definiert noch sind Vorstellungen von Gesundund Krank-Sein einheitlich. Deshalb und weil Gesundheit (im allgemeinen Sprachgebrauch oft ein Synonym für Normalität) in meinem Feld ein präsenter Verhandlungspunkt war, entschied ich mich nach der ersten Forschungsphase dafür, meine Gegenüber – Medizinerinnen wie Transplantierte – mit der obigen Frage direkt zu konfrontieren. Während die Antwort für einige meiner Gesprächspartnerinnen auf der Hand lag, zögerten andere, doch Alexander Dahlen blieb der Einzige, der die Kategorien und die Notwendigkeit einer Positionierung selbst infrage stellte.

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Chronisch krank, aber mitunter ziemlich gesund (Medizinerinnen) Medizinerinnen bezeichneten die Frage zwar als schwierig, doch formal war die Einordnung Transplantierter für sie klar: Transplantierte gelten als chronisch krank, da sie dauerhaft Medikamente und medizinische Kontrolle benötigen.23 Damit wird das eingeschränkte Heilungspotential der Transplantationsmedizin angesprochen, die Lücke zwischen Versprechen und medizinischer Machbarkeit. Die aus dieser Lücke resultierende Chronizität bestimmt die lebenslange Beziehung zwischen Ambulanz und Transplantierten. Dennoch fügten viele Medizinerinnen an, dass Lebertransplantierte nach ihrer Transplantation »viel gesünder« sind als davor. Ein lebensbedrohliches, akutes Gesundheitsproblem wurde durch ein chronisches ersetzt. »Ich persönlich betrachte die schon im weitesten Sinne als gesund«, konstatierte Dr. Seitz, »wenn sie jetzt nicht tausende von Nebenwirkungen haben.« Allerdings sei ihr bei der Dokumentation der verschiedenen Diagnosen von Transplantierten für die Kostenabrechnung aufgefallen, »dass wahnsinnig viele irgendwie kardiovaskuläre Erkrankungen haben«, die die meisten erst unter der Immunsuppression bekommen hätten. Hierbei geht es vor allem um Bluthochdruck, selbst ein chronisches Problem und Risiko für weitere Erkrankungen. Demzufolge sind »nicht alle top gesund« (Dr. Seitz). Diese Einschränkung – »also richtig gesund sind sie nicht« – nahmen viele Medizinerinnen vor und bezogen sich dann auf die vielfältigen Nebenwirkungen der Immunsuppression. Die Transplantierten, die damit keine Probleme haben, sind für die meisten Ärztinnen jedoch »ziemlich gesund« oder »mehr oder weniger gesund«. Zur Begründung wurde angeführt vor allem, dass diese Patientinnen ein normales Leben führen, berufstätig und sportlich aktiv sein können. Ein Arzt erklärte indessen, dass Transplantierte auch »krank gemacht« würden. Er kritisierte, dass Patientinnen »wegen jedem kleinen Kram [in die Ambulanz kommen], bloß weil sie eine neue Leber haben«. Was er als Kleinkram bezeichnete, fiel für ihn in die Zuständigkeit der Allgemeinmedizin.24 Umgekehrt berichteten einige

23 | Generell bezieht sich die Klassifikation auf den Verlauf einer Krankheit und sagt aus, dass ein Gesundheitsproblem anhält und nicht beseitigt werden kann. Dabei kann sehr unterschiedlich sein, ob sich ein Gesundheitsproblem langsam oder schnell entwickelt, eher in Episoden auftritt oder sich der Gesundheitszustand graduell verschlechtert. Auch die vielfältigen Auswirkungen chronischer Gesundheitsprobleme sind für diejenigen, die mit ihnen leben (müssen), verschieden. 24 | Aus diesem Grund ist die Ambulanz-Zeit bei Assistenzärztinnen nicht sonderlich beliebt: Sie können in der Zeit nicht operieren und wollen als angehende, in Klinik und Forschung tätige Chirurginnen eben nicht »Hausarzt spielen«. Ihr Selbstverständnis als Klinikerin-

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Transplantierte, dass ihre Hausärztinnen sie im Zweifelsfall lieber einmal zu oft an die Ambulanz überwiesen, zumal diese ja die Behandlungshoheit in Sachen Leber und Immunsuppression beanspruchte. Während sie ihre Abhängigkeit von der Ambulanz und deren spezifischer Expertise betonten, argumentierte wiederum der Arzt, dass das ständige Kümmern und Kontrollieren durch die Ambulanz den Fokus der Patientinnen »zu sehr« auf (mögliche) Probleme lenke. Krank gemacht werden heißt demnach: Wer als krank bezeichnet und behandelt wird, fühlt und verhält sich auch krank. Mit anderen Worten: Die Kategorie chronisch konstituiert erst das Phänomen (Armstrong 1990) und Praktiken der Klassifikation haben Auswirkungen auf die Klassifizierten, die dann wieder auf die Klassifikation zurückwirken (Hacking 2006). Im Allgemeinen wird die Klassifikation chronisch krank als Bezeichnung in der Ambulanz nicht benutzt. Bei der Einteilung von Patientinnen(-gruppen) dominieren die Diagnosen jener Grunderkrankungen, die zur Lebertransplantation geführt hatten. Gleichwohl liegt die Klassifikation chronisch den vielfältigen Praktiken von Medizinerinnen zugrunde, mit denen sie Post-Transplantations-Verläufe managen, ebenso wie den Therapieregimen und den daraus abgeleiteten Praktiken von Transplantierten. Obwohl Organtransplantierte offiziell als krank gelten, wird in den Einschätzungen der Medizinerinnen die Kategorie gesund privilegiert: Transplantierte sind nicht krank, sondern »nicht ganz gesund«. Krank als negativ besetzte Kategorie wird vermieden. Letztlich, so die Medizinerinnen, hänge es von den Transplantierten, von ihrem Gesundheitszustand genauso wie von ihrer Persönlichkeit und Einstellung, ab, was sie aus ihrem uneindeutigen Status machen: Ob sie sagen: »Jetzt bin ich transplantiert und nur noch für die Krankheit da« (Krankenschwester), oder sich eher als gesund verstehen. Letzteres kann jedoch zum Problem werden, wenn Gesundheitsprobleme auftreten, Therapieregime nicht ernst genommen oder Einschränkungen ausgeblendet werden. Deshalb ist laut der Psychologin in der Reha-Klinik wichtig, dass Transplantierte »erkennen, dass sie nicht 100-prozentig gesund sind«. Was sagen die Transplantierten selbst? Von völlig gesund bis eindeutig krank (Transplantierte) In der Fortsetzung seiner Antwort auf meine »unfreundliche« Frage sagte Alexander Dahlen, dass er die Kategorien krank und gesund problematisch finde.

nen/Chirurginnen (inklusive der damit verbundenen Abgrenzungen) wurde auch deutlich, wenn sie sich über »klinisch Interessantes« freuten, mir begeistert und ausführlich verschiedene OPTechniken erklärten bzw. aufmalten oder OP-Personal ihnen gegenüber lästerte und sie fragte, ob sie jetzt »Telefonist« geworden seien.

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»Ich bin ja vorher krank gewesen – hat man mir gesagt –, ohne es zu merken. Und dann hat man mir gesagt, dass ich gesund werde. Aber ich habe mich krank gefühlt. Denn das einzige Mal, dass ich irgendwas nicht konnte, war ja nach der Transplantation und nicht vorher«.

Die Differenz zwischen medizinischer Klassifikation und subjektiver Erfahrung, die Alexander Dahlen hier anspricht, wird in der Medizinanthropologie mit den Begriffen disase als medizinischer bzw. pathologischer Kategorie und illness als Wahrnehmung und Erfahrung einer bestimmten Gesundheitssituation erfasst (vgl. Kleinman u. a. 1978). Krank-Sein war für Alexander Dahlen damit verbunden, etwas nicht zu können. Insbesondere den eigenen Alltag nicht (alleine) bewältigen zu können (Arbeit, Treppensteigen etc.), war für Transplantierte ein häufiger Maßstab, wenn es um die Einschätzung ihres Krank- oder Gesund-Seins ging. Für die meisten von ihnen kennzeichnete dieses Nicht-Können die Zeit vor der Transplantation, auch wenn nicht alle ihr Leberproblem bemerkt oder sich in dieser Zeit krank gefühlt hatten. Mittlerweile war Alexander Dahlen einerseits »irgendwie rekonstruiert funktional«, andererseits wusste er von den langfristigen Konsequenzen und Risiken des Lebens mit Transplantat und Immunsuppression. Seine aktuelle Situation sei daher »zweischneidig«: »Also ich fühle mich nicht krank. Auch wenn meine Kondition ein bisschen schlechter ist. Aber ich bin natürlich ein artifizielles Hybrid-Wesen. Das ist nicht krank und nicht gesund. Das ist ’ne separate Kategorie einfach. Also ich bin ja gewöhnt, misfit zu sein – gesellschaftlich und soziologisch. Das ist halt ’ne biologische Situation von outcast. Die muss ja nicht negativ sein. [. . . ] Hybrid-Wesen zu sein halte ich nicht für einen Makel.«

Nicht krank, aber Hybrid und Außenseiter. Anders-Sein wendete er auf der biografischen Ebene positiv: Sozial sah er sich bereits vor der Transplantation als anders, jetzt war er auch biologisch anders. Weder krank noch gesund zu sein, wurde von ihm zwar primär als unproblematisch, wenn auch mit medizinischen Risiken behaftet eingeordnet. Gleichwohl thematisierte er auch die sozialen Konsequenzen von Anders-Sein, das gesellschaftliche Ächtungspotential. Effekte der wie auch immer definierten Situation des Transplantiert-Seins, welche die eigene Sozialität betrafen, wurden von etlichen Gesprächspartnerinnen angesprochen – ohne dass dabei die Kategorie Gesundheit benutzt wurde. Entscheidender als gesund zu sein oder als gesund zu gelten, war für sie die Normalität ihres Weiterlebens. Unabhängig davon, wie sie sich selbst fühlten, sahen viele von ihnen Transplantierte in einer Zwischenposition: »halb krank, halb gesund«, »nicht mehr krank, aber nicht gesund«. Aufgrund der Medikamente und insbesondere deren Auswirkungen sind Transplantierte zwar »nicht ganz gesund«, »können aber immer wieder hochkommen, sich kräftigen, auch wenn’s länger dauert« (Margit Hagedorn). Diese Möglichkeit, so das häufige Argu-

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ment, gab es vor der Transplantation, meist eine Zeit der zunehmenden gesundheitlichen Verschlechterung, nicht: »Nach der Transplantation konnte es nur nach oben gehen« (52-jähriger Ambulanz-Patient). Sima Vahanian, die der Meinung war, dass Transplantierte gesund sind, argumentierte ähnlich. »Sehen sie mich an, ich habe kein Problem mehr und ich bin richtig glücklich! Ich bin okay!« Überhaupt weiterzuleben, war für sie Kennzeichen und Begründung von Gesundheit nach einer Transplantation. Die Ärztinnen hatten ihr am Ende nur noch eine Lebenserwartung von drei bis vier Monaten eingeräumt, bis sie »kurz vor Schluss« transplantiert wurde. Inzwischen lebte sie seit sechs Jahren mit einer Leber, die »okay [ist]« und einem Hepatitis-C-Virus, der »schläft«. »30 Jahre« habe sie seit der Transplantation vor sich, scherzte die mit 60 Jahren Transplantierte wiederholt. Diejenigen, die der Meinung sind, dass Transplantierte krank sind, weil sie Tabletten nehmen müssen, »sind bestimmt weniger als ein Jahr transplantiert«. Das ändere sich, sobald ihre Medikamente reduziert würden. Man müsse diszipliniert sein und sich an die Regeln halten, dann bleibe man gesund. Trotz ihrer positiven Bewertung des Lebens nach der Transplantation litt Sima Vahanian an Depression, klagte über Schlafstörungen und Vergesslichkeit. Im Gegensatz zu Transplantierten mit ähnlichen Problemen versicherte sie jedoch, dass an ihren »Problemen nicht die Leber oder Transplantation schuld ist«. Ihre Definition von Gesundheit war mit dem Zustand ihrer Leber verbunden, meinte eigentlich Leber-Gesundheit. Andere (gesundheitliche) Probleme waren davon abgetrennt und für sie durch ihr Leben im Exil verursacht: »Traurig bin ich wegen meinem Land [Iran]«. Die Gruppe derjenigen, die der Meinung waren, dass Transplantierte eindeutig krank oder eindeutig gesund sind, war in etwa so groß wie die Gruppe derjenigen, die Transplantierte in einer Zwischenposition sahen. Ohne Zögern antwortete beispielsweise Pia Krüger: »Gesund! Ja. Klar. Sofort gesund. [. . . ] Mir geht’s wirklich gut. Ich habe wieder meinen alten Schwung [. . . ]. Also, ich bin gesund und munter.« Für sie persönlich ist die Transplantation mit Genesung verbunden. Waltraud Fornell sah es ebenso: »Gesund, völlig gesund! Warum? Weil man geheilt ist! Die Krankheit ist ja rausoperiert und jetzt sind sie geheilt.« Im Gegensatz zu ihr können allerdings die wenigsten Lebertransplantierten behaupten, dass die Ursache ihrer Erkrankung zusammen mit ihrer Leber entfernt wurde. Darüber hinaus relativierte Waltraud Fornell ein Argument, das etliche andere anführten, wenn es um die Kennzeichen von Krank-Sein oder die Definition eingeschränkter Gesundheit ging, und für Medizinerinnen die Klassifikation chronisch krank begründete: »Die meisten Leute gehen doch sowieso regelmäßig zum Arzt und müssen Medikamente nehmen – also in meinem Alter. [. . . ] Da hat doch jeder seine Senioren-Pralinen zum Frühstück. Das gibt’s doch gar nicht anders!« Die Abhängigkeit von medizinischer Versorgung wird

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hier zum Merkmal ›normalen Alterns‹. Daher sei sie zumindest für ältere Transplantierte wie sie selbst nichts Außergewöhnliches. Später fügte sie an, dass Transplantierte letztlich »so gesund oder krank aus der Transplantation rauskommen, wie sie reingegangen sind«. Sie bezog sich damit auf den Umgang mit der eigenen Situation, aber auch den der Partnerinnen der Transplantierten. Sie habe beobachtet, dass einige lebertransplantierte Männer, die zu einer ähnlichen Zeit wie sie selbst transplantiert worden waren, schon vor der Transplantation von ihrer Frau ins Krankenhaus und zu Untersuchungen begleitet wurden. Nach der Transplantation »war die Situation ganz genau dieselbe«. Darüber könne sie nur den Kopf schütteln. »Also diese Rolle, die man schon als invalide Person in der Familie hat, wird beibehalten, obwohl sich durch die Transplantation alles geändert hat.« Es mag zwar Transplantierte geben, die nicht leistungsfähig seien, aber man müsse es wenigstens mal probieren. Einige bremsten sich ihrer Meinung nach selbst aus oder würden durch ihre »überversorgenden Ehefrauen« ausgebremst. Familie wird hier als Umfeld aufgefasst, das den Umgang mit Gesundheit oder Krankheit beeinflusst. Ferner hat man in dieser Lesart Gesundheit nicht einfach, sondern muss sie sich auch (wieder) aneignen und leben. Joachim Quaas hat eine Ehefrau, die Gesundheit nach der Transplantation als Selbstverständlichkeit ansieht. Sie kam gerade ins Zimmer als Joachim Quaas mir erzählte, dass er sich gesund fühlt, und rief sofort: »Das gehört sich ja auch so!« Mit dieser Erwartungshaltung ist sie kein Einzelfall. Transplantierte erzählten öfter, dass von Familienangehörigen, Arbeitskolleginnen, Freundinnen oder auch Bekannten, erwartet wurde, dass sie nach der Transplantation wieder gesund würden. Nicht alle konnten dieser Erwartung gerecht werden. Als Berit Lüdeckes Mann sie nach der Transplantation verließ und angab, dass er es vorher wegen ihrer Krankheit nicht getan habe, antwortete sie entrüstet: »Denkst Du, ich bin jetzt gesund?« Sie selbst sah sich jedenfalls nicht so. Joachim Quaas meinte, dass jeder selbst entscheiden müsse, ob er oder sie nach der Transplantation gesund oder krank sei. Er habe »keine großen«, aber doch »gewisse Probleme«, beispielsweise im Hinblick auf Beeinträchtigungen durch Nebenwirkungen der Medikamente. Was »wirkliche Probleme« seien, habe sich dagegen durch die Krankheitserfahrung vor der Transplantation relativiert: Im Vergleich »vergehen einem die Probleme«. Beim Krank- oder Gesund-Sein spielte seiner Meinung nach »die Psyche« eine große Rolle: »Ich bin Optimist. [. . . ] Ich hab mich nie unterkriegen lassen. Das muss ich mir immer wieder sagen, [dass] ich sehr stark überzeugt bin, dass es mir so gut geht.« Bei Joachim Quaas ist Gesundheit nicht allein eine Frage der Selbsteinschätzung, sondern ebenso eine der Überzeugung. Diese »Haltung« traut er offenbar nicht allen Transplantierten zu: »Viele sind wahrscheinlich krank« oder würden sich als krank bezeichnen. Auch er normalisierte die Abhängigkeit Transplantierter von Medikamenten durch einen Vergleich.

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Im Gegensatz zu Waltraud Fornells Vergleichsgruppe (Personen ihres Alters) verglich er Transplantierte mit Personen, die ebenfalls täglich Medikamente benötigen, z. B. Diabetikerinnen oder Leute mit Schilddrüsen-Problemen. Gewisse chronische Gesundheitsprobleme und eine gewisse Anzahl von Tabletten bestimmen seiner Meinung nach das Leben vieler Menschen und sind deshalb normal. Demgegenüber kontrastierte Erika Voss Transplantierte mit Gesunden. Sie gehörte zu denjenigen, die betonten, »gesund sind sie [Transplantierte] mit Sicherheit nicht« – wegen ihres »runtergedrosselten Immunsystems« und der »vielen Auflagen«. Was Transplantierte von Gesunden unterscheide, sei eine spezifische Position, die sie aufgrund ihrer körperlichen Situation einnehmen müssten. »Was einem Gesunden überhaupt nichts ausmacht, kann [unter Immunsuppression] sehr gefährlich sein.« Egal was man mache oder wieder könne, man müsse immer »aufpassen«, sich überlegen, »kann ich mir das erlauben oder kann ich das nicht«. Deshalb seien selbst Transplantierte, die im Gegensatz zu ihr Sport machten, arbeiten gingen und sich frei bewegen könnten, für sie nicht gesund: Wenn es Transplantierten »danach ordentlich geht, dann würde ich sagen, sie sind im guten Stand«. Aber auch sie seien »nicht ganz gesund: Es sind ja immer kleine Dinge, die doch den Alltag einschränken.« Berit Lüdecke vertrat eine ähnliche Position. Sie unterstrich, dass man auf viele Sachen achten und verzichten müsse: »Irgendwo ist das ja auch von der Psyche her so eine Sache [. . . ]. Du fängst ja wirklich im Prinzip von vorne an.« Dabei handle es sich jedoch um keinen sorglosen oder unbefangenen Neubeginn. Eine gewisse zum Leben gehörende Sorglosigkeit, die durch die eigene Krankheitserfahrung erschüttert worden sei, lasse sich durch die Transplantation nicht wiederherstellen, so auch Gudrun Nietschke. Stattdessen werde das ›neue Leben‹ von »Risiko-Empfindungen« geprägt: »Was könnte passieren? Was wäre wenn? Hab ich da [am Urlaubsort] die gute ärztliche Versorgung, die ich eventuell bräuchte? Kann ich mich dort gut ernähren ...?« Die Sicherheit, die es auch vorher nicht gab, die aber im Nachhinein auf die Zeit vor der Lebererkrankung projiziert wird, ist weg: »[D]ie Normalität [ist] nicht gegeben«. Der für Gudrun Nietschke entscheidende und von ihr zuerst genannte Faktor ist gleichwohl ein anderer: »Transplantierte? Sind krank. Ist doch klar. Der Körper ist nicht mehr original. Und dann ist man krank.« Sie war die Einzige, die mit einer solch holistischen Körpersicht argumentierte. Die Transplantation stand für sie für das Ende eines ganzheitlichen Körpers. Diese Sicht schloss für sie allerdings nicht aus, dass man sich »halbwegs gesund« fühlen und die fremde Leber problemlos integrieren und sein eigen nennen könne. Frank Olbert erwiderte auf meine Frage nach dem Krank- oder Gesund-Sein von Transplantierten hingegen, ihm fehle, wie so oft seit der Transplantation, der Maßstab. »Die Zeit vorher war schon irgendwie so ’ne Sonderzeit. Jetzt ist es wieder

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’ne Sonderzeit. Ich weiß nicht, wie ein normaler 52-Jähriger tickt. [Scherzend auf sich selbst bezogen:] Ein gesunder Mann im besten Alter, oder schon drüber?« Da Frank Olbert seit fast 30 Jahren gesundheitliche Probleme und das daraus resultierende Therapieregime in sein »Normal-Sein« integriert hatte (siehe S. 110), fiel ihm die Einschätzung seiner aktuellen gesundheitlichen Situation schwer. Einerseits hatte diese sich durch den neuen Körper, die neuen Regeln und neuen Unsicherheiten verändert, andererseits gestaltete sie sich ähnlich und damit erneut als Sonderzeit. Zudem sei ihm erst nach der Transplantation, nämlich aufgrund seiner Probleme mit der Operationsnarbe, »bewusst geworden«, dass er seine »Krankheit extrem versteckt« habe: »Ich konnte mich immer makellos präsentieren. Und jetzt kann ich das nicht mehr. Der ist direkt sichtbar, der Makel krank zu sein, der Makel nicht mehr fit zu sein, der Makel nicht mehr attraktiv zu sein.« Frank Olbert bezog sich hier auf den »wirklich großen Stellenwert« äußerlicher Attraktivität, »wenn man nicht in [einer] Beziehung ist«. Weiter berichtete er, dass in seinem Berufsfeld der freien Theaterarbeit Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und die körperliche Präsentation beider miteinander verkoppelt seien. Seine Hepatitis-Erkrankung habe er deshalb stets »unter den Teppich gekehrt«. »Ich bin völlig darauf programmiert, gesund zu sein, das nicht zu präsentieren. Ich konnte mich nie krank präsentieren. Und das kann ich auch heute irgendwie nicht.« Doch wie die Narbe können bestimmte gesundheitliche Probleme diesen Anspruch sabotieren. So könnte ihm sein beispielsweise beim Einschenken eines Getränks deutlich sichtbares Händezittern im beruflichen Kontext als Beweis extremer Unsicherheit ausgelegt werden. Würde er dann erzählen, das Händezittern sei eine Folge seiner Medikamente, wäre er jedoch »gleich geoutet: krank und unzuverlässig«. Er versuche in solchen Situationen, sein Händezittern »zu überspielen«, und hoffe eine »eigene Technik [zu] entwickeln«, die ihm dabei helfe. Frank Olbert thematisierte Gesundheit als eine (berufliche) Anforderung, etwas, das man nach außen verkörpern muss und möchte. Gesundheit war für ihn eine Frage der Präsentation und des Managements. Unabhängig davon, wie erfolgreich man Gesundheitsprobleme normalisieren kann oder wie gut man sich und sichtbare Zeichen von Krankheit im Griff hat, kann jedoch der transplantierte Körper zum potentiellen Saboteur werden. Was die verschiedenen Einschätzungen und Begründungen von transplantierter Gesundheit, Krankheit oder Hybridität verband, war die Art und Weise, wie meine Gegenüber die jeweilige Position herstellten. Ausgangspunkt war die eigene gesundheitliche Situation. Maßstab, anstelle von medizinischen Klassifikationen (disease), war, wie man die körperliche Situation in Bezug auf das eigene Leben wahrnahm und wie man sich fühlte (illness). Gesundheit, deren Definition für viele durchaus mit Werturteilen verbunden war, wurde in den Erklärungen meiner Gesprächspartnerin-

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nen zu einem Vergleichsgegenstand. Zentral war dabei weniger der Abgleich mit einer festen Norm (Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit) als das Herstellen von Ähnlichkeiten und Unterschieden, um gesundheitliche (Nicht-)Normalität zu markieren. Die eigene gesundheitliche Situation vor und nach der Transplantation wurde mit der von anderen Transplantierten oder der jeweiligen Alterskohorte verglichen, mit der Situation von Personen in einer ähnlichen medizinisch-pharmazeutischen Abhängigkeit und schließlich mit nicht näher bestimmten Gesunden. Im Gegensatz zur subjektiven Aussage »ich persönlich fühle mich gesund« erlauben solche Vergleiche, die eigene Position sowie mögliche Probleme transplantierter Gesundheit zu generalisieren oder zu spezifizieren, zu relativieren und zu normalisieren.25 Dafür, dass Transplantierte eher gesund sind, plädierten vor allem diejenigen, die ihr Weiterleben nach der Transplantation trotz und inklusive der Abstriche, die man bei einer spezifischen transplantierten Gesundheit machen muss, erfolgreich normalisieren konnten. Insgesamt wurde die Frage, ob Transplantierte gesund, krank, normal oder doch anders sind, so unterschiedlich wie uneindeutig beantwortet. Ob sie »völlig gesund«, »nicht mehr krank« oder »nicht ganz gesund« waren, entschieden meine Gesprächspartnerinnen in erster Linie anhand ihrer Alltagsfähigkeit. Hierfür zogen die Transplantierten Kriterien der eigenen Leistungsfähigkeit ebenso wie die Anforderungen heran, die ihre Alltage jeweils bestimmten. Gesund hieß für sie, den eigenen Alltag meistern zu können. Solche Kriterien normalen Lebens wurden auch von dem Arzt René Leriche in einer von der Definition der pathologischen Anatomie zu unterscheidenden Krankheitsdefinition aufgegriffen: »Krankheit [ist] dasjenige, was die Menschen in ihrer normalen Lebensführung und ihren Tätigkeiten hemmt und vor allem was sie leiden macht« (zit. n. Canguilhem 1977: 58). Dass Krankheitsdefinitionen von Medizinerinnen nicht unbedingt denen ihrer Patientinnen entsprechen, ist für die Medizinanthropologie nichts Neues und wurde oben bereits angedeutet (vgl. Kleinman 1981; Young 1982). Vielmehr sind Erfahrungen von Krankheit und Gesundheit in soziale Lebenswelten und Alltagspolitiken eingebettet (Kleinman/Seeman 2000). Sie werden von Ideen von Nicht-Normalität (mit)geprägt, die kulturell konstruiert und eng mit der jeweiligen sozialen, politischen und moralischen Ordnung verknüpft sind (Lock 2000: 259). Die spezifische Erfahrung transplantierter Gesundheit wird demnach vor der Folie individueller und gesellschaftlicher Vorstellungen des Normalen verhandelt.

25 | Zur Nutzung des Vergleichs durch Forschungsteilnehmerinnen als einer epistemischen Praxis, als eines Mittels, das ermöglicht, das persönliche, soziale und kulturelle Selbst zu definieren und zu positionieren, siehe Amelang/Beck 2010.

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Eine Zwischenposition und ihre Normalität Gesundheit ist nicht nur für Lebertransplantierte eine ambivalente Kategorie. Bereits Georges Canguilhem beendete sein Buch zum Normalen und zum Pathologischen mit einer »paradoxen Pathologie des normalen Menschen« (Canguilhem 1977: 200): Konstitutiv für die Gesundheit ist demzufolge ihre Bedrohung durch Krankheit (ebd.: 202). Medizinanthropologische Studien der letzten 20 Jahre machen darüber hinaus deutlich, dass Gesundheit nicht länger als bloße Abwesenheit von Krankheit verstanden wird (Lock/Nguyen 2010: 55) und mit der Entwicklung präventiver Medizin und genetischer Diagnostik sowie infolge der verbreiteten Verschreibung von Psychopharmaka eine gleichermaßen diffuse wie unsichere Kategorie geworden ist. Daher, so Alexander Dahlen am Ende seiner Diskussion meiner Frage, sei es »fast ironisch«, die Frage »von Gesundheit im Allgemeinen« zu stellen: Erstens sei man nur so lange gesund, bis man untersucht werde bzw. bis bei einer medizinischen Untersuchung etwas gefunden werde. Zweitens sei »das Leben, was wir führen, an sich schon ungesund«. Kurz: »Wir sind ja alle nicht mehr gesund.« Alexander Dahlens Aussage ähnelt medizinanthropologischen Gegenwartsdiagnosen. Zunehmend überwiege die Vorstellung »inhärent kranker« statt »inhärent gesunder« Körper (Dumit 2002: 124f.). Immer mehr werden Gesunde zu Risiko-Personen, die weder krank noch gesund sind, nicht mehr gesund, aber auch (noch) nicht krank sind. Zugleich ist Gesundheit in einen moralischen Diskurs eingebettet, in der biomedizinische Angebote von Kontrolle und Zukunft mit einer Auffassung von individueller Machbarkeit verknüpft werden (Maynard 2006). Gesundheit ist nichts Gegebenes mehr, das im Notfall ›repariert‹ werden kann, sondern eine dauernde Herstellungsleistung, eine Gestaltungsaufgabe sowie ein Leistungszwang, die in die individuelle Verantwortung fallen (Beck-Gernsheim 1994: 317-320). Auf sich selbst einzuwirken (»the mastery of self«) wird zur Voraussetzung von Gesundheit (Greco 1993: 361). Die daraus abgeleitete Forderung an die Individuen, Gesundheit mittels persönlicher Entscheidungen und Strategien eigenverantwortlich zu managen, korrespondiert mit gegenwärtigen Formen neoliberaler Subjektivität, die im Leitbild des »unternehmerischen Selbst« zugespitzt werden (Rose 1998; Novas/Rose 2000). Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass Gesundheit und Körper nicht als stabil angesehen werden, sondern als etwas, das unsicher ist und kontinuierlich reguliert werden muss – sei es durch Änderungen des Lebensstils oder durch gut dosierte Medikamente. Vor dieser Folie erscheinen die in meiner Arbeit vorgestellten Lebertransplantierten gesundheitlich als ziemlich normal. Mehr noch, ihr Beispiel ›lebertransplantierter Gesundheit‹ lässt sich als Prototyp zu managender Gesundheit verstehen. Bezogen auf das Therapieregime, das ihr Weiterleben nach der Transplantation bestimmt, habe ich Lebertransplantierte im Laufe der

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Arbeit als gleichermaßen geforderte wie erfahrene Managerinnen ihrer Gesundheit dargestellt. Trotzdem sind Transplantierte keine »patients-in-waiting« – ein Sammelbegriff, den Stefan Timmermans und Mara Buchbinder für Personen vorschlagen, die zwar keine Krankheitserfahrung haben, aber bei denen aufgrund ›unnormaler‹ Testergebnisse (z. B. bei einem genetischen Screening oder einer Sekundärprävention) unsicher ist, ob sie gesund sind (Timmermans/Buchbinder 2010: 417-419). Was Transplantierte mit »patients-in-waiting« verbindet, ist die Erfahrung, sich im Grenzbereich zwischen Gesundheit und Krankheit oder zwischen Pathologischem und Normalem zu befinden: Weiterleben ist mit diversen Fragezeichen, Risiken und nicht allein hypothetischen Unsicherheiten versehen. Doch im Gegensatz zu den »patients-in-waiting« bringen Transplantierte die Erfahrung von Krankheit bereits mit. Sie sind nicht Patientinnen in Wartestellung, sondern Langzeit-Patientinnen. Sie waren lebensbedrohlich krank, haben daher erfahren, was in der Zukunft erneut oder in anderer Form zum Problem werden kann, und wissen, dass auf den Körper und die Gesundheit nicht immer Verlass ist. In den Grenzbereich des Normalen gelangen sie nur durch vielfältige Interventionen zur Wiederherstellung von Normalität. Dazu gehören zum einen die Transplantation und die medizinisch-pharmazeutische Regulierung transplantierter Körper sowie die damit verbundene Arbeit Transplantierter. Zum anderen bedarf es der Veralltäglichung und Normalisierung des Therapieregimes sowie generell des Weiterlebens mit einem transplantierten, immunologisch manipulierten Körper. Vor diesem Hintergrund kann festgehalten werden, dass ›transplantierte Gesundheit‹ ein chronisches Gesundheitsproblem darstellt: Eine einfache Rückkehr zur Normalität, zu einem geheilten, unabhängigen Selbst nach einer temporären Auszeit, wie es Parsons’ Konzept der sick role vorsieht (Parsons 1951, 1964), ist unmöglich.26 Matthias Zick Varul hat gezeigt, dass Parsons’ Perspektive auf Rechte, Verpflichtungen und Reziprozitäten, kurz die moralischen Alltagsökonomien, die mit Krankheit und Gesundheit verbunden sind, dennoch hilfreich ist, um den normalisierenden Umgang mit chronischen Krankheiten zu verstehen (Varul 2010). Transplantierte sind wie chronisch Kranke damit konfrontiert, dass widersprüchliche Erwartungen an sie gerichtet werden: So sollen sie gleichzeitig die andauernde Rolle als Kranke (ongoing sick role) und ihre normale Alltagsrollen erfüllen (normal everyday roles) (ebd.: 81). Die Erwartung an Organtransplantierte, dass sie nach der Transplantation wenn nicht gesund sind, so doch wieder ein normales Leben führen können, verpflichtet

26 | Talcott Parsons erklärt mit diesem Modell oder Idealtyp die soziale Rolle von temporär Kranken, die im Hinblick auf bestimmte Normen und Verpflichtungen zu einer ›Auszeit‹ berechtigt und von ihren normalen Rollen freigestellt sind.

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sie dazu, sich nicht allein in eine Rolle als Kranke zu begeben. Zugleich beinhaltet die sick role die Verpflichtung, selbst zur gesundheitlichen Verbesserung beizutragen und dafür mit Medizinerinnen zu kooperieren. Gerade pharmazeutische Therapieregime verschieben die Therapie-Arbeit in Richtung der Patientinnen und kreieren eine aktive Selbstsorge als moderne Variante der ›Krankenrolle‹ (McCoy 2009: 129). Die gewissenhafte Ausübung der sick-role-Pflichten wird bei Transplantierten lebenslang vorausgesetzt. Von normalen Rollenerwartungen sind sie demnach nicht ausgenommen. Die im Verlauf dieses Kapitels vorgestellten Normalisierungspraktiken können als Strategie gelesen werden, mit diesen konkurrierenden Erwartungen und Verpflichtungen umzugehen. Gesundheit und Normalität sind die Orientierungswerte, auch wenn diese mitunter abgestuft werden müssen. Sie sind die Maßstäbe, die ins Verhältnis zur alltäglichen Lebensführung gesetzt werden.

5.5 FAZIT: FAST

NORMALE

A LLTAGE

In ihren Post-Transplantationsgeschichten stellen meine Gesprächspartnerinnen Alltag und Normalität nach der Lebertransplantation narrativ her. Dazu orientieren sie sich am Leitdiskurs der Geschichten, die in der Öffentlichkeit erzählt werden und die eine Organtransplantation als Rückkehr zur Normalität präsentieren. Die Transplantierten weichen aber auch von dieser dominanten Darstellung ab und schränken sie ein. Sie berichten von den Kontinuitäten und Diskontinuitäten ihres Weiterlebens – im Hinblick auf ihren transformierten Körper, ihre Abhängigkeit von der Medizin sowie ihre Familienverhältnisse und ihre Erwerbsarbeit. Inwiefern die Transplantation dabei als Rückkehr zum Gewohnten oder als Neuanfang dargestellt wird, variiert. Normalität ist in diesen Geschichten gleichermaßen eine Behauptung, eine individuelle wie kollektive Erwartungshaltung an einen medizinischen Eingriff und ein Ergebnis ganz praktischer (statt allein narrativer) Anstrengungen der Veralltäglichung und Normalisierung. Alltag wird als eine Selbstverständlichkeit angenommen, die aber im Fall meiner Gesprächspartnerinnen durch Krankheit verunsichert wurde, langsam oder schlagartig entglitt und nach der Transplantation erst (wieder) hergestellt werden musste. Unabhängig davon, ob meine Gesprächspartnerinnen in alte Selbstverständlichkeiten wie das Familien- und Arbeitsleben zurückkehren konnten oder nicht, mussten sie alle die medizinisch verordneten Maßgaben ihres Weiterlebens erlernen und implementieren sowie ein Verhältnis zu ihrem transformierten Körper aufbauen. Das beinhaltete auch zu lernen, mit dem Zustand immunologischer Nicht-Normalität und ihren Effekten umzugehen. Im Gegensatz zum transformierten Körper, der hinsicht-

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lich seiner Normalität und seiner Fähigkeit zur Bewältigung des Alltags unsicher blieb, lieferte das Therapieregime Stabilität in Form von klaren Routinen und Strukturen. Es forderte von Transplantierten eine Veralltäglichung der neuen Situation ein und unterstützte diese zugleich. Die Regeln für Post-Transplantations-Alltage werden dabei nicht einfach nach ein bisschen Übung in der Reha-Klinik gelebt, sondern hinsichtlich ihrer Alltagstauglichkeit geprüft und demgemäß übersetzt. Individuelle Alltage werden dabei genauso an ein generelles, überindividuelles Therapieregime angepasst wie umgekehrt das Therapieregime an spezifische Alltage. Alltag nach der Transplantation ist unter anderem das Ergebnis dieser situationsspezifischen Routinisierung von Klinik bzw. Therapieregime als Alltag und Klinik bzw. Therapieregime im Alltag – inklusive eines gleichzeitig disziplinierten wie den eigenen Bedürfnissen angepassten Umgangs mit den Regeln. Dass dieser Prozess eine Menge Arbeit erfordert, wurde in diesem Kapitel aus der Perspektive des Alltags von Transplantierten außerhalb der Klinik erzählt. Die Post-Transplantationserzählungen und -Alltage meiner Gesprächspartnerinnen werden aber nicht allein vom Therapieregime, sondern auch von mitunter konkurrierenden Gewohnheiten und Forderungen bestimmt. In diesem Zusammenhang habe ich die Rückkehr der Transplantierten in ihre – im weitesten Sinne – familiären Verhältnisse und die Wiederaufnahme einer Erwerbsarbeit als zwei zentrale Momente von Alltag und Normalität diskutiert. Ihre vordringliche Bedeutung liegt in ihrer gesellschaftlichen Dimension als Normalitätsmarker. Bezogen auf ihre Körper und das Therapieregime ist erst einmal normal, was für die jeweils transplantierte Erzählerin als selbstverständlich gilt oder als Selbstverständlichkeit etabliert wurde. Hingegen ermöglicht ihnen der Verweis auf eine ›erfolgreiche‹ Fortsetzung von Familien und Erwerbsarbeit eine darüber hinausgehende Normalisierung: Man nimmt wieder am sozialen Leben und an sozialen Beziehungen teil und erfüllt kollektive Erwartungen gesellschaftlicher Teilhabe – wie andere auch. Der zwiespältige Charakter des Normalitätsmarkers Erwerbsarbeit äußerte sich im Ringen mit dieser Anforderung – und auch darin, dass einige meiner Gesprächspartnerinnen an ihr scheiterten. In solchen Fällen erforderte eine Normalisierung des Weiterlebens zusätzliche (Normalisierungs-)Arbeit, z. B. die Umformulierung alter und Akzeptanz neuer Selbstbilder. Auch die Begleiterinnen von Transplantierten wurden manchmal zwiespältig bewertet: Zwar wurden diese als Unterstützerinnen der individuellen Normalisierungsprojekte geschätzt, aber zuweilen auch dafür kritisiert, dass sie die angestrebte Normalisierung sabotierten. Problematisiert habe ich in diesem Zusammenhang auch, dass meine Gesprächspartnerinnen die Fürsorge und reproduktiven Tätigkeiten ihrer Angehörigen, Freundinnen oder Kolleginnen meist als selbstverständlich

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voraussetzten und somit deren Beitrag an der Arbeit zur Herstellung von Alltag und Normalität ausblendeten. Genauso wie Medikamente, ihre Nebenwirkungen und Kontrolluntersuchungen in Kauf genommen werden müssen, schließen die Praktiken der Normalisierung und Veralltäglichung den Umgang mit den Risiken und Instabilitäten des transplantierten, immunsupprimierten Körpers mit ein. Hier kommen zwei weitere Praktiken der Normalisierung ins Spiel, die weniger auf Routinisierung als auf taktischem Ausblenden und Vergleichen basieren. Ausblenden heißt laut mehreren Gesprächspartnerinnen »sich nicht verrückt [zu] machen« oder nicht zu viel an die Risiken zu denken, diese »in die Ecke [zu] stellen« oder »nur im Hinterkopf« zu behalten sowie stattdessen das Leben zu genießen und das Positive zu betonen. Diese positive wie normalisierende Einstellung wurde häufig als persönliche Charaktereigenschaft dargestellt. Gleichwohl wurde so der normative Aufforderungscharakter dieser Einstellung negiert, genauer gesagt das darin implizierte kulturelle Modell, wie man mit instabiler Gesundheit ›gut‹ umgeht: Häufig gilt es sozial eher als angemessen ein chronisches Gesundheitsproblem aktiv anzugehen als dieses passiv zu erdulden (vgl. Hay 2010). Die Praxis des Ausblendens wird auch in den Erzählungen selbst offensichtlich, und zwar als Resultat von bzw. in Verbindung mit Routinisierung, z. B. wenn Transplantierte hinsichtlich der unzähligen Interventionen in ihren Alltag oder der mit dem Therapieregime verbundenen Einschränkungen abwinken und gegenüber diesen vermeintlichen Banalitäten die Normalität ihres Lebens unterstreichen: Das ist eben mein normaler Alltag, normal für mich. Normalisierung wird auch dadurch erlangt, dass Transplantierte sich und ihre Situation wie gezeigt mit anderen Gruppen vergleichen. In diesen Fällen wird dann über die Herstellung von Ähnlichkeiten normalisiert: normal in meiner Familie, normal für (Leber-)Transplantierte, normal für Personen in meinem Alter, für beruflich Selbstständige oder Rentnerinnen, das normale Risiko des Lebens. Es ist aber auch zu betonen, dass diese diversen Strategien der Normalisierung – also routinisieren, ausblenden und vergleichen – nicht von allen Transplantierten genutzt werden und ihre Grenzen haben. Was in der Erzählung oder in der Familie erfolgreich normalisiert wird, kann in einer anderen Situation als nicht-normal auffallen. Was für Außenstehende größtenteils unsichtbar ist, kann in manchen Situationen nicht kontrolliert oder sichtbare Nicht-Normalität werden. Schlechte Laborwerte können einem jederzeit »den Boden unter den Füßen weghauen« (Frank Olbert) und dem eigenen Normalisierungsprojekt zuwiderlaufen. Die anstrengende, disziplinierte wie disziplinierende Herstellung von Normalität und Alltag kann scheitern. Gesundheitlich bleiben sie in einer Zwischenposition, im Grenzbereich des Normalen.

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Insgesamt habe ich die Post-Transplantationsgeschichten meiner Gesprächspartnerinnen als Ergebnis eines komplexen Prozesses interpretiert, in dem individuelle und kollektive Erwartungen von Normalität abgeglichen und abgestimmt werden müssen. Welche Normen oder welche ›Kollektive‹ dabei als Vergleichsmaßstab dienen, kann sehr unterschiedlich sein. Deutlich wurde jedoch, dass die in Kapitel 4 herausgearbeiteten Messungen und Vorstellungen von Normalität innerhalb der Klinik hierbei nur eine untergeordnete Rolle spielen. Demgegenüber wurden die verschiedenen Lebensnormalitäten und Normen betont, die in Post-Transplantations-Alltagen sowie auch in sonstigen Alltagen aufeinandertreffen. Sie bilden das Spannungsfeld, in dem Transplantierte ihr Weiterleben als Alltag und Normalität situationsspezifisch managen müssen. Was meine Gesprächspartnerinnen im Gegensatz zur Ambulanz herstellen, sind demnach keine statistischen oder klinischen, sondern aus ihren spezifischen Alltagssituationen heraus persönlichen, in soziale Beziehungen eingebundenen und damit interaktiv hergestellten Versionen von Normalität.

6 Schluss: Transplantierte Alltage und (ihre) Normalitäten

Kulturanthropologische Studien zum Leben von Organtransplantierten haben die Darstellung der Organtransplantation als Rückkehr zur Normalität infrage gestellt (vgl. Sharp 1995; Kalitzkus 2003; Crowley-Matoka 2005; Constantinou 2012). Sie betonen die gravierenden ›Nebenwirkungen‹ der Transplantation, die es zwar ermöglicht, weiterzuleben, jedoch nur mit medizinischer Begleitung. Die lebenslange Abhängigkeit von Medikamenten mitsamt ihren zahlreichen Folgen, die permanente Bedrohung des Lebens durch die Möglichkeit einer immunologischen Abstoßungsreaktion des transplantierten Organs und die eingeschränkte Fähigkeit, gesellschaftlichen Rollenerwartungen in Beruf und Familie nachzukommen, weisen das Leben nach der Transplantation als ein auf Dauer verändertes Leben aus. Deshalb werde ›transplantierte Gesundheit‹ als »anhaltender Schwellenzustand« (persistent liminality) erlebt (Crowley-Matoka 2005: 827). Was Nierentransplantierte in Mexiko laut Crowley-Matoka allerdings als soziale Zwischenposition erfahren, bedeutet laut Constantinou für zypriotische Nierentransplantierte jedoch eine temporäre Phase, eine Durchgangsstation auf dem Weg zurück zu ihrem gesunden, normalen Selbst von vor der Transplantation (Constantinou 2012: 40). Für sie steht die Transplantation für eine soziale Wiedergeburt, für die Ermöglichung biografischer Kontinuität (ebd.: 35). Beide Studien umreißen ein Spannungsfeld unterschiedlicher Schwellenzustände, in dem sich auch die in dieser Arbeit vorgestellten Lebertransplantierten mit ihren Biografien und Alltagen bewegen. Der Wunsch, aber auch das Bemühen meiner lebertransplantierten Gesprächspartnerinnen war es, mit der Transplantation an Vertrautes und Gewohntes anknüpfen zu können und nach einer existentiellen Krise wieder ein ›normales‹ Leben zu führen. Doch den wenigsten von ihnen ist es gesundheitlich und sozial möglich, ungebrochen so weiterzuleben wie vor der Lebererkrankung. Ihre Position ist eine zwischen

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Krankheit und Gesundheit. Die Erfahrung dieser Zwischenposition dominiert in den Erzählungen erst seit kurzem Transplantierter bzw. in den Erzählungen zur Anfangszeit nach der Transplantation, findet sich aber auch über diesen Zeitraum hinaus. Die Zwischenposition ›transplantierter Gesundheit‹ wurde von ihnen jedoch selten als Sackgasse wahrgenommen. Stattdessen wurde sie als etwas thematisiert, mit dem man umgehen muss und kann. Mehr noch, meine Arbeit berichtet davon, wie das Dazwischen selbst zum normalen Alltag gemacht wird. Für die Lebertransplantierten, die ich traf, ist ihr Weiterleben nach der Transplantation gleichermaßen durch Beständigkeit und Veränderung geprägt. Dabei unterscheidet sich von Patientin zu Patientin, welche Phase ihres Lebens als Vergleichsmaßstab dient. Eine Beständigkeit stellt für sie die tägliche Relevanz der Medizin für ihr Leben dar: die Verschränkung ihrer Alltage mit der Klinik. Die Verschränkung von Klinik und Alltag Die drei empirischen Kapitel stellen die Verschränkung von Transplantationszentrum, Therapieregime und Alltag im Weiterleben Transplantierter in den Mittelpunkt und untersuchen sie an verschiedenen Orten und zeitlichen Stationen. In der ersten PostTransplantationsphase, die mit der Entlassung aus dem Krankenhaus und dem Aufenthalt in der Reha-Klinik abgeschlossen wird, ist das Leben nach der Transplantation weder normal, noch gilt das Leben mit einem Organtransplantat und dem dazugehörigen Therapieregime bereits als Alltag. Die Organisation von Alltag wird mit einer neuen Anleitung konfrontiert und Alltag befindet sich generell noch im Test. Das Transplantationszentrum bleibt mit der Transplantationsambulanz im Leben der Transplantierten präsent – in ihr (bzw. von ihr aus) werden transplantierte Körper durch die Transplantations-Nachsorge reguliert. Hier dominieren die klinischen Messungen von Normalität. Doch der Alltag der Transplantierten findet innerhalb und außerhalb der Klinik statt, mit dem verordneten Therapieregime und jenseits davon. Dieser Alltag hat sich für sie mehr oder weniger verändert und wird durch neue wie alte Routinen und Gewohnheiten bestimmt. Auf den ersten Blick ist das Weiterleben nach der Transplantation also Ergebnis eines Prozesses zunehmender Veralltäglichung und Normalisierung: weniger Klinik, mehr Alltag – die Kontrolle der Klinik nimmt ab und die Selbstverantwortlichkeit der Transplantierten zu. Umgekehrt erzählen die drei Kapitel aber auch von der Expansion der klinischen Intervention in Alltage. Diese Ausweitung des medizinischen Zugriffs ist für Transplantierte lebensnotwendig und Voraussetzung ihres Weiterlebens. Tabletten müssen regelmäßig eingenommen, transplantierte Körper in bestimmten Intervallen kontrolliert, Ernährungsverhalten umgestellt und Hygienemaßnahmen

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befolgt werden. Das Therapieregime greift ebenso weit in Körperfunktionen ein wie in Alltage und deren Organisation. Alltag und Normalität basieren für Transplantierte dann darauf, dass sie das Therapieregime implementieren und sich mit ihrer medizinisch angeleiteten wie begleiteten (Nicht-)Normalität arrangieren. Die Transplantationsambulanz und das Therapieregime sind aus ihrem Alltag nicht mehr wegzudenken: mehr Klinik im Alltag. Diese beiden Erzählungen oder Perspektiven – weniger Klinik, mehr Alltag vs. mehr Klinik im Alltag – weisen auf unterschiedliche Projekte der Veralltäglichung und Normalisierung seitens Medizinerinnen und Transplantierten hin. Beide Projekte sind eng miteinander verbunden und stehen zugleich im Spannungsverhältnis zueinander: Transplantierte Alltage und Normalitäten werden von Transplantierten und ihren Medizinerinnen miteinander und gegeneinander produziert. Die Ausweitung klinischer Intervention in den Alltag ist zwar eine wesentliche Bedingung eines erfolgreichen Post-Transplantations-Alltags, bedeutet allerdings nicht, dass ein medizinisches, allumfassendes Regime etabliert wird, das bis in die letzte Pore des transplantierten Körpers vordringt und noch den letzten Zipfel des Alltagslebens Transplantierter kolonialisiert. Weiter ist die Klinik hier keine abstrakte Akteurin. Vielmehr habe ich eine heterogene Gruppe von Medizinerinnen und Therapeutinnen in einem Transplantationszentrum und einer Reha-Klinik vorgestellt sowie ein spezifisches Therapieregime untersucht. Die expansiven Absichten dieses Therapieregimes werden erstens von seiner praktischen und situationsspezifischen Implementierung durch Transplantierte unterlaufen. Einerseits passen Transplantierte ihre Alltage an die neuen Regeln und Bedingungen an, andererseits modifizieren sie die Regeln damit diese zu ihren Alltagen und Bedürfnissen passen. Sie sind gleichermaßen hyper-diszipliniert und widerspenstig. Eigensinnig sind sie, wenn sie Teile des Therapieregimes infrage stellen oder flexibel auslegen. Sie sind aber auch in einem ›passiven‹ Sinne widerspenstig, im Festhalten an – aus Sicht des Therapieregimes mitunter riskanten – Gewohnheiten, die sich nicht so einfach verändern lassen. Zweitens verdeutlichen die lokal variierenden Therapieregime, dass Medizin uneinheitlich in Alltag expandiert: weniger mittels standardisierter Protokolle als mittels lokal etablierter Erfahrungswerte und Routinen. Die Transplantations-Nachsorge kennt ihre Wissenslücken und ihre eingeschränkte Reichweite, sowohl was die Regulierung von Immunsystemen als auch die Relevanz und Priorisierung verschiedener Präventionsregime betrifft. Die unterschiedlich erfolgreichen und mitunter zum Scheitern verurteilten Versuche, transplantierte Körper und ihre Immunsysteme vollständig zu kontrollieren und zu stabilisieren, habe ich daher mit Martin im Hinblick auf Transplantierte wie Medizinerinnen als Momente »ermächtigter Machtlosigkeit« (Martin 2002: 39) bezeichnet (siehe S. 176). Drittens wird der Alltag Transplantierter von mehr als allein klinischen Zwängen und Normen

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durchkreuzt und gefordert. Ebenso präsent, wenn nicht relevanter, sind die Konventionen und Erwartungen, die die sozialen Beziehungen und Positionen aller (gesunder wie kranker) Gesellschaftsmitglieder bestimmen. Diese drei Einschränkungen heben die Intervention von Transplantationszentrum und Therapieregime in Alltag nicht auf, verweisen aber darauf, dass die Grenzverschiebung zwischen Klinik/Medizin und Alltag uneinheitlich und instabil sowie Gegenstand von immer wieder neuen Aushandlungen ist. Zusammengenommen verdeutlichen die zwei hier präsentierten Erzählungen die dynamische Verschränkung von Klinik und Alltag im Weiterleben Transplantierter. Alle drei Kapitel erzählen von Alltag und Normalität innerhalb und außerhalb der Klinik. Sie berichten davon, wie Alltag unterschiedlich thematisiert, definiert und in den Blick genommen wird, und stellen die verschiedenen Versuche von Medizinerinnen und Transplantierten dar, ein normales Leben herzustellen – mit einem und trotz eines Organtransplantat(es). Transplantierte Körper Die Verschränkung von Klinik/Therapieregime und Alltag im (Weiter-)Leben nach der Transplantation manifestiert sich im transplantierten Körper. Körper wurde primär als Gegenstand und Ergebnis klinischer und alltäglicher Intervention untersucht – als etwas, das von der Medizin gestaltet wird, beobachtet und reguliert werden muss, aber auch als etwas, das so lernfreudig wie undiszipliniert ist, sich also nur begrenzt verändern lässt, unter anderem weil es habituell geprägt ist. Wenn die Körper von Transplantierten aufgrund ihrer Schweigsamkeit oder Instabilität in der Lebertransplantationsambulanz vermessen und stabilisiert werden, wird der transplantierte Körper – in Anlehnung an Mol (2002) und Foucault (2002) – mehrfach hergestellt. Was sind die Effekte der vielschichtigen medizinischen Einblicke und Eingriffe in transplantierte Körper für die Herstellung von Alltag und Normalität? Der Fokus der Transplantations-Nachsorge auf Körper ist stets ein doppelter: Die Nachsorge und das von ihr verordnete Therapieregime sind einerseits auf die transplantierte Leber und somit das Körperinnere ausgerichtet. Zum Wohle des Transplantats (einer guten Leberfunktion) muss das Immunsystem medikamentös unterdrückt werden. Der durch die Transplantation neu zusammengesetzte Körper ist immer auch ein in immunologischer Hinsicht nicht-normaler Körper. Andererseits gehen Transplantations-Nachsorge und Therapieregime über den Körper hinaus, indem versucht wird, die Umgebung von transplantierten Lebern und Körpern zu kontrollieren. Die stets Organ-bezogenen Praktiken der Transplantations-Nachsorge, konkreter das, was Transplantierte bezogen auf das Therapieregime und damit für ihr Wohlergehen

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bzw. das ihrer Leber tun, konstituieren das, was ich als Organ-Alltag bezeichnet habe (siehe S. 175). Das auf die Funktionen von Körpern ausgerichtete Therapieregime prägt neben den Organ-Alltagen von Transplantierten auch ihre Alltagspraxis. Wie andere chronisch Kranke müssen sie sich bzw. ihrem Körper regelmäßig Medikamente zuführen, ihren Körper beobachten (lassen) und oftmals ihren Alltag therapiekonform umbauen. Ein Unterschied zu chronisch Kranken ist jedoch, dass die tägliche Tablettendosis körperliche Funktionen nicht unterstützt, sondern schwächt. Sie führt zu körperlicher (immunologischer) Nicht-Normalität und verlangt von den Transplantierten ihre potentiell gefährliche Körper-Umgebung durch ein angemessenes Verhalten zu entschärfen, greift also massiv in die Alltagsgestaltung ein. Die von einer medizinischen Begleitung abhängige Normalität manifestiert sich in der körperlichen Verschaltung von Transplantierten mit der Klinik und dem Therapieregime. Ihr in diesem Sinne medizinisch-pharmazeutisches Selbst wurde von den Lebertransplantierten weniger als Problem gesehen, sondern vornehmlich als Bedingung ihres Weiterlebens akzeptiert. Selten thematisierten sie die vermeintliche Auflösung ihrer Körpergrenzen oder ›das fremde Organ‹. Stattdessen erörterten und demonstrierten sie, dass und wie mit diesem immunologisch nicht-normalen, von Medikamenten und medizinischen Kontrollen abhängigen, stets instabil bleibenden Körper im Alltag praktisch und pragmatisch umgegangen werden kann. Der Stellenwert ihres Körper bestimmte sich für meine Gesprächspartnerinnen im Wesentlichen über seine Alltagsfähigkeit. Vor ihrer Lebererkrankung hatten die meisten ihren Körper als selbstverständlich und funktionierend erlebt. Körper war in diesem Sinne für sie abwesend. Erst aufgrund ihres Nicht-Funktionierens rückten Körper und Leber in ihr Blickfeld, insbesondere weil sich dieses Nicht-Funktionieren für viele in einer eingeschränkten Alltagskompetenz äußerte, z. B. darin, dass es für sie immer schwieriger wurde, Alltagsaufgaben wie Treppensteigen zu bewältigen. Drew Leder hat dieses spezifische Erscheinen des Körpers als »dys-appearance« (Leder 1990: 69-101) bezeichnet: Der in der Alltagserfahrung meist abwesende oder verschwindende Körper (ebd.: 53-55) erscheint oder gerät eben aufgrund seines NichtFunktionierens in den Fokus der Aufmerksamkeit (ebd.: 84). Eine erfolgreiche Verschränkung von Klinik und Alltag bzw. Klinik und Körper erlaubte einigen Transplantierten, ihren Körper wieder aus dem Blickfeld oder wenigstens aus dem Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Organfunktionen normalisierten und stabilisierten sich mit der Zeit und die Regeln des Therapieregimes wurden zu Routinen. Bisweilen mussten dafür neue körperliche Kompetenzen wie das Schlucken einer großen Anzahl von Tabletten erlernt werden. Für andere Lebertransplantierte blieb oder wurde Körper nach der Transplantation (wieder) präsent – aufgrund neuer oder alter Leber-

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probleme, aufgrund einer Abstoßungsreaktion oder des Versagens des Transplantats oder aufgrund der Nebenwirkungen der Medikamente. Die häufig von Kulturanthropologinnen kritisierten Dichotomien von Körper und Geist (vgl. Scheper-Hughes/Lock 1987) sowie von Körper und Leib (vgl. HauserSchäublin u. a. 2001) waren nicht Gegenstand meiner Analyse und dennoch unterschwellig präsent. Sowohl meine klinischen als auch meine transplantierten Gesprächspartnerinnen privilegierten den Körper. Dass für Letztere die in der Forschungsliteratur ausgemachte Diskrepanz zwischen Körper und Leib kein besonders relevantes Thema war, mag gleichermaßen ihrer pragmatischen und für sie als Organempfängerinnen lebensnotwendigen Akzeptanz der medizinischen Sichtweise auf hirntote Körper und Spenderinnenorgane geschuldet sein wie dem Umstand, dass es hier um die symbolisch weniger als andere Organe aufgeladene und vor allem nicht spürbare Leber ging. Zwar trennten viele Transplantierte ihr Selbst bisweilen von ihrem Körper ab: Der Körper ist es, der Ärger macht und reguliert werden muss. Doch in der Darstellung ihrer Erlebnisse wechselten sie häufig zwischen dem Körper, den sie haben, und dem Körper (bzw. Leib), der sie sind. Für die Analyse der Herstellung von Alltag und Normalität nach einer Lebertransplantation war entscheidend, mittels welcher Praktiken transplantierte Körper ›getan‹ werden (vgl. Mol/Law 2004). Die Arbeit, die es macht, Alltag und Normalität zu produzieren Ausgehend von der Frage, wie das Weiterleben nach der Transplantation konstituiert, bewältigt und aufrechterhalten wird, habe ich geschildert, was Medizinerinnen und Transplantierte einzeln oder gemeinsam dafür tun (müssen). Die durch die Transplantation in Aussicht gestellte Rückkehr Transplantierter in individuelle und gesellschaftliche Normalität ist weder selbstverständlich und problemlos, noch passiert sie mühelos von selbst. Stattdessen erfordert sie eine Menge Arbeit von Transplantierten wie von Dritten, ist also ein Resultat der Anstrengungen vieler. So sind Familienmitglieder, Freundinnen, Arbeitskolleginnen oder (potentielle) Chefinnen ebenso an der Produktion von Alltag und Normalität beteiligt wie Medizinerinnen, Labormesswerte, Tablettenboxen oder Regeln zum Umgang mit Erdbeeren. Gerade aufgrund dieser Interaktivität oder Kollektivität ist die Herstellung von Alltag und Normalität ein spannungsgeladenes Unterfangen. Die vielfältigen Bemühungen zur Herstellung von Alltag und Normalität habe ich mit Rückgriff auf Susan Leigh Star und Anselm Strauss für die beteiligten menschlichen Akteurinnen als Arbeit charakterisiert, um sie als Aktivitäten, die erledigt werden müssen, sichtbar zu machen (Star/Strauss 1999). Das Sichtbarmachen und Anerkennen dieser, von Transplantierten wie innerhalb der Transplantationsmedizin, gewöhnlich ausgeblendeten oder banalisierten,

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letztlich reproduktiven Arbeit ist gesellschaftspolitisch meines Erachtens von großer Bedeutung. An der prominenten Stellung von Erwerbsarbeit und Arbeitsethos im Weiterleben Transplantierter wurde deutlich, dass die spezifische Organisation von Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen, inklusive der mangelnden Anerkennung von reproduktiver Arbeit, Vorstellungen von Alltag und Normalität entscheidend prägt. In diesem Zusammenhang ermöglicht die Nutzung des Arbeitsbegriffs, die als Arbeit bezeichneten Aktivitäten in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Eine Organtransplantation zielt auf die Rehabilitation der Transplantierten, auf ihre soziale und berufliche Re-Integration und gesellschaftliche Teilhabe. Bezogen auf die dafür notwendige Gesundheitsarbeit wird in erster Linie an die Selbstsorge Transplantierter appelliert. Indem sie sich um ihre Gesundheit kümmern, sich im Abgleich mit dem Therapieregime situationsangemessen verhalten und ihren Alltag umstrukturieren oder auf bestimmte Art und Weise (re-)produzieren, nehmen sie wieder am sozialen Leben teil. Sie integrieren sich selbst und sind für ihre Integration selbst verantwortlich. Es handelt sich allerdings um eine Arbeit, die analog zu ihrem chronischen Gesundheitsproblem nicht endet. Gesundheitsarbeit und Therapieregime fokussieren zwar auf das Individuum und die von diesem zu erbringenden Leistungen, betreffen aber ebenso die sozialen Beziehungen und Ressourcen von Individuen. Transplantierte arbeiten nicht allein, sondern sind Teil einer »Therapie-Management-Gruppe« (Nichter 2002). Neben professionellen, bezahlten Unterstützerinnen werden vorrangig Angehörige als Teil des Arbeitsteams mobilisiert. Im deutschen Kontext findet die ReIntegration ehemals oder chronisch Kranker zwar in einem durch Gesundheits- und Sozialsystem abgesicherten Rahmen statt. Trotzdem setzt dieser Rahmen stets voraus, dass Familien sich kümmern, wenn Angehörige im Krankenhaus sind, und erst recht, wenn sie dieses wieder verlassen. Die Chancen von Transplantierten, ihr Weiterleben – mit einem neuen Organ, aber auch mit einem chronischen Gesundheitsproblem – zu veralltäglichen und zu normalisieren oder auch einfach nur zu bewältigen, werden entscheidend davon beeinflusst, dass und wie Familienmitglieder oder Freundinnen bereit sind, sich an der Umsetzung des Therapieregimes zu beteiligen und Sorgearbeit zu leisten. Neben der gesellschaftlichen und geschlechterpolitischen Bedeutung von Sorgearbeit oder reproduktiver Arbeit zur Unterstützung der Alltags(herstellungs)arbeit und Normalitätsarbeit von Menschen mit einem chronischen Gesundheitsproblem ließe sich genereller nach dem Zusammenhang von Alltag und reproduktiver Arbeit fragen. Zumindest was die Organisation menschlicher Grundbedürfnisse und den so genannten häuslichen Alltag betrifft, decken sich Alltag und reproduktive Arbeit zu einem gewissen Ausmaß – räumlich sowie hinsichtlich ihrer repetitiven, häufig als

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monoton wahrgenommenen Tätigkeiten. Im Alltag reproduzieren sich Gewohnheiten und Konventionen ebenso wie gesellschaftliche Verhältnisse, werden dort aber auch herausgefordert und verändert. Individuelle und kollektive Selbstverständlichkeiten Georges Canguilhem versteht Gesundheit als eine »Form der Existenzbewältigung« (Canguilhem 1977: 146), als »bestimmte Toleranz gegenüber der Unverläßlichkeit der Umwelt« (ebd.: 133) oder »Sicherheitsreserve an Reaktionsmöglichkeiten« (ebd.: 134). Die in diesem Sinne durch eine Lebererkrankung reduzierte Toleranzbreite meiner Gesprächspartnerinnen gegenüber ihrer Umgebung wurde durch die Transplantation in der Regel wieder erhöht. Doch für sie bezeichnet Gesund-Werden entsprechend Canguilhem nicht allein die Wiederherstellung einer physiologischen Ordnung oder die Rückkehr zur alten Lebensordnung, sondern die Fähigkeit, Konstanten – durchaus bezogen auf eine neue Lebensordnung – herstellen zu können (ebd.: 131). Für sie geht es also darum, ihr neues Leben (nicht mehr krank, aber anders gesund) in Form eines normalen Alltags bewältigen zu können. Konstanten herzustellen heißt, Alltag herzustellen. Das Beharren vieler Lebertransplantierter auf einem mehr oder weniger normalen Alltag betrifft immer auch ihre Einbindung in soziale Beziehungen. Die Erfahrung transplantierter Gesundheit und Normalität wird vor der Folie individueller und gesellschaftlicher Vorstellungen des Normalen verhandelt – und im Dialog mit Klinikpersonal, Verwandten, Nachbarinnen etc. immer wieder neu produziert. Doch Alltag wird nicht einfach individuell unter Mitwirkung diverser Beteiligter erschaffen. Er ist eine Gemeinsamkeit, etwas das bindet und verbindet. Die ihn ausmachenden Selbstverständlichkeiten sind stets Ausdruck gesellschaftlicher Normen, Konventionen und Zwänge. In der Beschreibung und Bewertung ihrer Alltagsnormalität(en) verwiesen meine Gesprächspartnerinnen zwar auf kollektive Normen, welches Kollektiv als Vergleichsgröße diente, konnte gleichwohl sehr unterschiedlich sein. In ihrer Nutzung des offensiven Vergleichs mit anderen hoben meine Gesprächspartnerinnen Ähnlichkeiten hervor und setzten sich mit der vorgenommenen individuellen Positionierung und Normalisierung so stets in Beziehung zu anderen: ›Mein Alltag ist so wie der anderer Leute auch.‹ Ihre Argumente und Bewertungsmaßstäbe geben Aufschluss darüber, welche Alltage oder Gewohnheiten für sie persönlich normal sind und von ihnen als normal erachtet werden. Es sind solche zugleich individuellen wie kollektiven Selbstverständlichkeiten, die den genauen Blick auf das Weiterleben nach der Transplantation für Kulturanthropologinnen interessant machen – eben weil sie eine Perspektive auf Alltag(e) bieten.

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Anknüpfungspunkte für eine Alltagswissenschaft Welche Erkenntnisse und Anknüpfungspunkte bieten die Einsichten in Post-Transplantations-Alltage einer Alltagsforscherin bzw. einer Alltagswissenschaft? 1 Um die Produktion von Alltag und Normalität zu fassen zu bekommen, diente das (Weiter-)Leben nach einer Lebertransplantation als kontrastiver Fall, als Beispiel eines in die Krise geratenen wie krisenhaft bleibenden Alltags, eines Alltags unter ›extremen‹ Bedingungen. Die Gegenüberstellung von Alltag und Krise zur Erhellung jeweils einer Seite des angenommenen Gegensatzes zu nutzen, liegt in der Kultur- und Sozialanthropologie nahe. Auch die Gewissheiten des Alltags erscheinen (›dys-appear‹) vornehmlich dann im Blickfeld, wenn sie nicht (mehr) funktionieren – ein Umstand, der sich aus historischer und aus kulturvergleichender Perspektive nutzen lässt und die Krise heuristisch produktiv macht (vgl. Beck/Knecht 2012: 68– 70). Nichtsdestotrotz entzieht sich Alltag als Untersuchungsgegenstand ebenso einer eindeutigen Definition wie einer widerspruchsfreien Erforschung. »The everyday is always going to exceed the ability to register it« (Highmore 2001: 3). Jede Erforschung von Alltag gibt immer nur einen spezifischen Einblick in das, was ihn ausmacht, ja ausmachen könnte. Alltag konstituiert kein Feld, sondern ein »para-field« oder »meta-field«, ein »field of doubt« (ebd.: 4). Der Begriff von Alltag wurde daher als heuristische Folie in der Analyse bewusst offengehalten – war z. B. einmal das Ergebnis von disziplinierter Therapietreue, ein andermal potentiell gefährliche Körperumgebung –, um die ganz unterschiedlichen Thematisierungen, Dimensionen und Produktionen von Alltag im Transplantationskontext empirisch ausbuchstabieren zu können. Statt den Unschärfen des Alltagsbegriffs begegnete ich so dem im Zitat von Highmore erwähnten Dilemma der Alltagsforschung. Unbezweifelt bleibt, dass eine Blickrichtung auf, mit und durch Alltag Erkenntnispotential hat. Die Hinwendung zu den schweigsamen, unsichtbaren oder als unaufregend geltenden Seiten des Sozialen gibt einen Einblick darein, wie soziale Beziehungen und Differenzen in alltäglichen Selbstverständlichkeiten und Routinen überhaupt als das Normale und Gegebene etabliert werden. 2 Wie gelingt es Menschen nach einer Organtransplantation einen als normal charakterisierten Alltag zurückzugewinnen? Diese Frage nach der Herstellung von PostTransplantations-Alltagen lenkt den Blick auf die Prozesse der Veralltäglichung und Normalisierung, die wegen und trotz der Krisenhaftigkeit des Lebens vor und nach einer Transplantation stattfinden und demzufolge unabgeschlossen bleiben. Deutlich geworden ist dabei, dass Alltag nicht nur im Moment seiner Verunsicherung und De-

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Stabilisierung (Normalisierungs-)Arbeit erfordert und gewissermaßen diese Arbeit ist. Alltag ist nicht einfach das, was im Hintergrund stattfindet oder übrig bleibt, wenn gerade nichts Besonderes passiert. Alltag ist als Geflecht von Selbstverständlichkeiten und Wiederholungen kein unproblematisch Gegebenes, sondern muss stets neu erarbeitet werden. Auch unscheinbare Gewohnheiten müssen immer wieder neu produziert und stabilisiert werden. Mit dieser Perspektive wird die Verschränkung und Spannung zwischen alten und neuen Routinen erkennbar, zwischen Beständigem und Verworfenem. 3 Entgegen dem üblichen (phänomenologisch geprägten) Verständnis von Alltag als unproblematisch Gegebenem oder unhinterfragter Routine stellt der Alltag im Transplantationskontext zuallererst ein Problem dar: ein Problem, das tagtäglich kollektiv und interaktiv bearbeitet und gemanagt werden muss und dem strategisch begegnet werden muss; ein Problem, dessen Bearbeitung auf der dynamischen, unterschiedlich intensiven, aber unauflöslichen Verschränkung von Klinik/Medizin und Alltag basiert; ein Problem, dessen kontinuierliche Bearbeitung durch verschiedene Instabilitäten gekennzeichnet ist – weder Körper und Gesundheit noch Alltag oder Normalität können hier als stabil angenommen werden. Alltag nach einer Lebertransplantation wurde als andauernde wie notwendige Herstellungsleistung analysiert, als mühevolle Arbeit der (versuchten) Stabilisierung und Normalisierung. Erst durch seine Problematisierung und strategische Bearbeitung kann Alltag nach einer Organtransplantation wieder als unproblematische Selbstverständlichkeit oder unhinterfragte Routine produziert werden. Nimmt man diesen Befund ernst, wäre zu diskutieren, inwiefern die in der Studie ausgemachte und Alltag ausmachende Normalitätsarbeit auf andere Kontexte übertragen werden kann. Ein Schritt in Richtung Systematisierung könnte das Hinzuziehen ähnlicher wie unähnlicher Fälle sein, der Vergleich mit anderen Krisen oder Ausnahmezuständen. Zu denken wäre hier nicht allein an weitere Gesundheitskrisen oder medizinisch angeleitete Fälle, sondern gerade auch nicht-medizinische Beispiele für akute wie andauernde Phasen der Infragestellung von Alltag. 4 Es sind gewöhnlich die negativen Aspekte von Alltag als öder Routine und banaler Wiederholung, als lästiger Pflicht und qualvoller Disziplin, die in Alltagsgesprächen über den Alltag ein Thema sind: Über den Trott des Alltags wird gestöhnt, man möchte ihm zumindest temporär entfliehen. Charakterisiert man Alltag in diesem Sinne als etwas, aus dem die meisten Leute ständig ›rauswollen‹, erscheinen meine transplantierten Gesprächspartnerinnen als außergewöhnliche Zeitgenossinnen, wollen sie doch gerade in den Alltag ›rein‹. Die Post-Transplantationserzählungen han-

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deln von dem Ringen darum, Alltag und Normalität zurückzugewinnen, nicht davon, das Leben zu intensivieren und den (eigenen) Alltag umzukrempeln. Es sind Erzählungen vom Weiterleben. Bisweilen werden Verschiebungen von Prioriäten erwähnt, nicht jedoch radikale (selbst verursachte) Änderungen in dem Sinne, dass etwas Neues ausprobiert und um die Welt gesegelt wird. Wer aufgrund eines Verlustes körperlicher Alltagskompetenz aus dem Alltag ausgeschlossen war oder ist, weiß die Banalitäten und Wiederholungen des Alltags offenbar mehr zu schätzen. Aus der Perspektive meiner Gesprächspartnerinnen muss man Alltag erst einmal meistern können, bevor man seine Grenzen bewusst überschreiten kann. In diesem Zusammenhang fällt an den Post-Transplantationsgeschichten der in dieser Arbeit vorgestellten Lebertransplantierten auf, dass die Referenzpunkte der Normalisierung und Veralltäglichung des Weiterlebens nach der Transplantation meist recht konventionell sind: Ehe, Familie, Beruf, fester Arbeitsplatz, geregelter Tagesablauf, gemäßigtes Leben. Dies sind zugleich die Eckpfeiler erfolgreicher Normalisierung bzw. die Selbstverständlichkeiten, auf denen das Therapieregime implizit beruht. Das zeigen gerade die Beispiele derjenigen Gesprächspartnerinnen, die aus diesen Selbstverständlichkeiten der (Re-)Produktion von Alltag herausfielen, weil sie diese spezifischen Normalitäten nicht aufweisen konnten oder wollten. Die Normalisierung und Veralltäglichung des Lebens nach der Transplantation ist für sie schwieriger. 5 Der detaillierte Blick auf die Herstellung und die spezifischen Bedingungen des Weiterlebens nach der Transplantation betont eher die ungewöhnlichen Aspekte von Post-Transplantations-Alltagen. Die Lebertransplantierten und ihre Alltagsnormalitäten sind zugleich besonders außergewöhnlich und ungewöhnlich normal. Zahlenmäßig sind die Transplantierten eine sehr kleine Gruppe, sozial und demografisch betrachtet jedoch halbwegs repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Die spezifische Verschränkung ihres Alltags mit der Klinik und die Abhängigkeit ihrer Normalität von der Medizin gilt auch für andere Menschen mit einem chronischen Gesundheitsproblem. Ein Unterschied ist vielleicht, dass die strategische Normalitätsarbeit der Transplantierten ein Risiko berücksichtigen muss, das zwar nur potentiell besteht, für sie aber nicht bloß abstrakt ist: Was Leberversagen heißt, haben sie erlebt und überlebt. Etliche Vorgaben ihres Therapieregimes zu Ernährung und Bewegung zielen zudem auf das, was allgemein als gesunde Lebensweise angesehen wird. Auch darüber hinaus dürften viele der beschriebenen Sichtweisen und Praktiken NichtTransplantierten durchaus bekannt und normal vorkommen – z. B. das Erleben von Alltag als Herausforderung oder als Kreuzungspunkt unzähliger Regeln, Interventionen und Übungen in Selbst-Disziplin, die damit verbundenen Strategien des SelbstManagements, aber auch die präventive Beobachtung des Körpers oder die Zustim-

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mung zum oder Ablehnung vom ›bürgerlichen Normalzustand‹ als Maßstab dafür, wie ein normaler Alltag auszusehen hat. Alltag muss nicht nur von Transplantierten oder chronisch Kranken beständig gemanagt und bearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund wäre zu diskutieren, inwiefern ein Post-Transplantations-Alltag überhaupt einen Extremfall oder – etwa mit Blick auf die eigenverantwortlich zu managende Gesundheit (siehe 5.4) – eher einen Prototyp darstellt und als Beispiel herangezogen werden kann, um die kulturellen und historischen Umstände zu erhellen, in die dieser Alltag eingebettet ist. 6 Im Hinblick auf die spezifische Situiertheit von Alltag wie auch von Theoriebildung lässt sich fragen, inwiefern Wiederholung, Routine, Stabilität, Gewohnheit, Borniertheit oder Trott das heutigen Alltags(er)leben noch angemessen beschreiben. Bereits zur Hochzeit der Theoretisierung von Alltag in den 1970er Jahren wurde festgestellt, dass der Alltag wissenschaftlich entdeckt wurde als (und weil) er problematisch also ungewohnt geworden war (Jeggle 1999: 81-83). Gegenüber diesem (spät-)fordistischen Alltag wird heute offenbar weniger an der Monotonie des Alltags gelitten als an seiner Unzuverlässigkeit und Ungewissheit (vgl. Sälzer 2000: 114). Krise wäre dann kein Gegensatz zum Alltag, sondern dessen Bestandteil und stete Herausforderung. Angesichts der unzähligen kleinen und großen Dinge, die alltägliche Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten erschüttern (können), ist die Konfrontation mit einer lebensbedrohlichen Krankheit dann nur ein Beispiel, wenn auch ein extremes: Hier wird Alltag/Normalität begreifbar, weil er/sie aufgrund der Erkrankung bzw. Transplantation zeitweise außer Kraft gesetzt wurde. Meine Arbeit zeigt, dass und wie solche krisenhaften Zustände veralltäglicht werden und wieder gewöhnlich gemacht werden – durch die Überprüfung alter Gewohnheiten, das Erlernen neuer Routinen oder die Akzeptanz von Veränderungen, aber auch durch Aussitzen und Verhandlung, vor allem jedoch durch die Einbettung des Außergewöhnlichen im Gewöhnlichen und dessen dabei stattfindende Umarbeitung. Alltag lässt sich so als zwischen Altem und Neuem vermittelnde, auf Kontinuität und Stabilität zielende Herstellungsleistung begreifen. Um noch einmal Ben Highmore zu zitieren: »Everyday life is the managed disruption of tradition and the incorporation of both the new and the traditional within constantly changing social arrangements. It is a process of managing change but also of refusing it, altering it and becoming overrun by it.« (Highmore 2012: 3)

Dies machen Post-Transplantations-Alltage besonders deutlich: Alltag ist das Mittel, das es (uns) ermöglicht, mit der Krisenhaftigkeit wie Endlichkeit unseres Lebens umzugehen.

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Dank

Mein besonderer Dank gilt all denen, die durch ihre keineswegs selbstverständliche Forschungsteilnahme an der Entstehung dieser Arbeit mitgewirkt haben und die hier ebenso anonymisiert wurden wie das Transplantationszentrum und die RehaKlinik, in dem bzw. in der ich sie kennen lernte und ein Stück begleiten durfte. Weiter danke ich: Stefan Beck Sven Bergmann Silvy Chakkalakal Forschungsverbund »Präventives Selbst«, HU Berlin Freund_innen & Mila-Sitterinnen Petra Ilyes Janina Kehr Anika Keinz Martina Klausner Michi Knecht Labor Sozialanthropologische Wissenschafts- und Technikforschung LaTex-Community Mitstreiter_innen am Institut für Europäische Ethnologie, HU Berlin Jörg Niewöhner Sabine Reif Thomas Scheffer Franka Schneider Julia Verse Ann-Katrin Zöckler

VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Gabriele Gramelsberger, Peter Bexte, Werner Kogge (Hg.) Synthesis Zur Konjunktur eines philosophischen Begriffs in Wissenschaft und Technik 2013, 242 Seiten, kart., 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2239-3

Christoph Kehl Zwischen Geist und Gehirn Das Gedächtnis als Objekt der Lebenswissenschaften 2012, 352 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2113-6

Martin Lengwiler, Jeannette Madarász (Hg.) Das präventive Selbst Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik 2010, 390 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1454-1

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VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Jörg Niewöhner, Christoph Kehl, Stefan Beck (Hg.) Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft 2008, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-926-8

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Willy Viehöver, Peter Wehling (Hg.) Entgrenzung der Medizin Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? 2011, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1319-3

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Stefan Beck, Jörg Niewöhner, Estrid Sörensen Science and Technology Studies Eine sozialanthropologische Einführung 2012, 364 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2106-8

Thomas Mathar Der digitale Patient Zu den Konsequenzen eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems 2010, 284 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1529-6

Jörg Niewöhner, Janina Kehr, Joëlle Vailly (Hg.) Leben in Gesellschaft Biomedizin – Politik – Sozialwissenschaften 2011, 366 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1744-3

Sascha Dickel, Martina Franzen, Christoph Kehl (Hg.) Herausforderung Biomedizin Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis

Sonja Palfner Gen-Passagen Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen. Wissen – Technologie – Diagnostik

2011, 368 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1946-1

2009, 390 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1214-1

Michalis Kontopodis, Jörg Niewöhner (Hg.) Das Selbst als Netzwerk Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag 2010, 228 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1599-9

Katharina Liebsch, Ulrike Manz (Hg.) Leben mit den Lebenswissenschaften Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt? 2010, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1425-1

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