Gärten. Von der Naturbeherrschung zur gesellschaftlichen Utopie [1. ed.] 9783835352711, 9783835349308


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German Pages 295 [297] Year 2022

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Inhalt
Alexander Thumfart/Bettina Hollstein/Sandra Tänzer: Einleitung
Dorothee Kimmich: Epikurs Kepos. Der Garten als philosophisches Konzept
Norbert Clemens Baumgart: Zu Garten und Park in der Bibel auf altorientalischem Hintergrund
Sara Keller: Der frühe südasiatische Garten. Sinnlichkeit und Spiritualität rund um die Stadt
Stefan Schweizer: Der Barockgarten als frühneuzeitlicher Versuch der Naturbeherrschung
Alexander Thumfart: Der Garten als gesellschaftspolitische Utopie. William Morris, Ernest Callenbach, Samuel Alexander
Susanne Frank: »Stadtnatur« als Medium sozialräumlicher Transformation. Haussmanns Neuordnung von Paris und Dortmunds Phoenix-Projekt
Stefan Brunzel/Jens Jetzkowitz: Der Einfluss menschlicher Lebensstile auf die Pflanzenvielfalt in Gärten und auf Freiflächen
Sara Burkhardt: Das Loch im Zaun. Ein kunstpädagogischer Blick auf den Garten
Katy Wenzel: Schulgarten als Lernort und Unterrichtsfach für Kinder
Caterina Paetzelt: Schrebergärten – einst und jetzt
Martin Hußmann/Dieter Franz Obermaier: Lernort Gartenschau
Autor*innenverzeichnis
Impressum
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Gärten. Von der Naturbeherrschung zur gesellschaftlichen Utopie [1. ed.]
 9783835352711, 9783835349308

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Gärten

GÄ RTEN Von der Naturbeherrschung zur gesellschaftlichen Utopie

HER AUSGEGEBEN VON ALEXANDER THUMFART,

BETTINA HOLLSTEIN UND SANDR A TÄNZER

WALLSTEIN VERLAG

Prof. Dr. Alexander Thumfart (1959-2022) Foto: Uni Erfurt

Für Alexander

Inhalt

Alexander Thumfart / Bettina Hollstein / Sandra Tänzer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dorothee Kimmich Epikurs Kepos. Der Garten als philosophisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Norbert Clemens Baumgart

Zu Garten und Park in der Bibel auf altorientalischem Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Sara Keller Der frühe südasiatische Garten. Sinnlichkeit und Spiritualität rund um die Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Stefan Schweizer Der Barockgarten als frühneuzeitlicher Versuch der Naturbeherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Alexander Thumfart Der Garten als gesellschaftspolitische Utopie. William Morris, Ernest Callenbach, Samuel Alexander . . . . . . . 123 Susanne Frank »Stadtnatur« als Medium sozialräumlicher Transformation. Haussmanns Neuordnung von Paris und Dortmunds Phoenix-Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Stefan BrunzeL / Jens Jetzkowitz Der Einfluss menschlicher Lebensstile auf die Pflanzenvielfalt in Gärten und auf Freiflächen . . . . . . . . . . . . 175 Sara Burkhardt Das Loch im Zaun. Ein kunstpädagogischer Blick auf den Garten . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Katy Wenzel Schulgarten als Lernort und Unterrichtsfach für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Caterina Paetzelt Schrebergärten – einst und jetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Hußmann / Dieter Franz Obermaier Lernort Gartenschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autor*innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Alexander Thumfart / Bettina Hollstein / Sandra Tänzer

Eine Geschichte des »Gartens« schreiben zu wollen, erwiese sich als ein wohl endloses und damit aussichtsloses Unterfangen. Denn »den Garten« gab und gibt es in nahezu allen Kulturen dieser Welt, es gab und gibt ihn in den unterschiedlichsten Ausprägungen und Formen, mit unterschiedlichsten Funktionen, in vielfältigen sozialen, rechtlichen und politischen Rahmungen, mit divergierenden symbolischen Aufladungen und Erwartungen, um von den botanischen Variationen noch gar nicht zu reden. Zugleich werden die realen, historischen Gartengestalten durchzogen und durchdrungen von literarischen, philosophischen, religiösen, theologischen Bildern, Deutungen und Erinnerungsgeschichten, die ihrerseits den weltlichen Garten modellieren. Vor diesem Hintergrund erscheint der Begriff, das singulare tantum »des« Gartens, als ein fast schon hilfloser Versuch, der empirisch-kulturellen, historisch-spirituellen Diversität von Gärten »Herr« zu werden. Genau dieses »Herrwerden« erweist sich weiterhin gerade mit Blick auf »den Garten« als eine fast schon abgründige Illusion und offenbart eine weitere Erfahrungsdimension, die mit dem Garten unweigerlich verbunden zu sein scheint. Denn die planende Arbeit im Garten, deren Systematik, Zielgerichtetheit und Effizienz sich in der Ordnung und Kontrolle des Gestalteten zeigt, schlägt um in die Unterwerfung unter eine Opulenz der Natur, deren wucherndes Wachstum gerade nie zum Stillstand gebracht werden kann. Diese Dialektik von Herrschaft und Unterwerfung, von Dominanz und Selbstverlust gerade im Garten hat jüngst noch einmal der Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah zum Ausdruck gebracht. In seinem grandiosen Roman Das verlorene Paradies, dessen Titel schon den Verweis auf »den« Garten enthält, wird Jusuf, der Protagonist des Romans, von seinem Freund, Bruder, Mentor, Leidensgenossen Khalil mit den Worten ermahnt und gewarnt: »›Der Garten ! Du denkst an nichts anderes mehr als an diesen Garten ! Du verlierst noch den Verstand‹«.1 Das im Mem des »Paradieses« gegebene Versprechen von Frieden, Ordnung, Wachstum, Bildung, Erlösung und Schönheit droht immer auch in Be­ sessenheit, Schrecken und Wahnsinn umzuschlagen. 1 Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies. Aus dem Englischen von Inge Leipold, Frankfurt a. M. 2021, S. 260. Das eng­lische Original wurde 1994 unter dem Titel P­aradise in London publiziert.

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Alexander Thumfart / Bettina Hollstein / Sandra Tänzer

Dass mit dem raubend-aussaugenden Garten bei Gurnah auch eine spezifische Gesellschaftsformation gemeint ist, deren soziale Verästelungen Personen umschlingen und zu optionslosen Objekten degradieren, eröffnet eine weitere Schicht »des« Gartens als Symbol einer die Menschen letztlich in die Verzweiflung treibenden Gesellschaft und sei nur der guten Ordnung halber erwähnt. Der Garten scheint sich dem Begriff gerade zu entziehen und verwandelt sich bei genauerem Hinsehen in ein zersplittertes Mosaik, wie bereits Michel de Certeau in seiner Analyse des Gartens der Lüste von Hieronymus Bosch vorgeführt hat.2 Dessen eingedenk kann dieser Sammelband nur eine Sammlung jener Bilder und Splitter sein, in denen das, was »Garten« alles sein könnte und wohl auch war, lediglich in verschiedenen Gestalten vorgestellt und sichtbar gemacht werden kann. Denn klar ist natürlich auch: Seit Jahren erlebt der Garten eine Renaissance. Gerade junge Leute wenden sich verstärkt der Gartenarbeit zu, sei es in Gemeinschaftsgärten, beim Guerilla-Gardening zwischen Brachen und Stadtautobahnen, im Bauerngarten hinterm Eigenheim oder auf der gepachteten Parzelle im Kleingartenverein. Unter den Bedingungen der Corona-Pandemie hat sich der Trend zum Garten nochmals deutlich verstärkt. Doch der Garten ist weit mehr als ein Produktions- oder Rückzugsort. Er ist ein Ort, an dem sich gesellschaftliches Zusammenleben – nicht zuletzt unter den Herausforderungen des Klimawandels und armuts­ bedingter Migration – exemplarisch manifestiert und bündelt, ein Ort, an dem Menschen einen Raum gestalten, sich auch politisch (re)präsentieren, träumen und lernen. Gärten gibt es deshalb auch in der Gegenwart eigentlich immer nur im Plural. Der vorliegende Band will ein paar dieser Gartengestalten sichtbar werden lassen, vom antiken Kepos über den indischen Garten bis zu den Gartenutopien, in denen radikale Gesellschaftskritik allegorisiert / versinnbildlicht wird. Und auch Bildungspotenziale des Gartens werden anhand konkreter Beispiele – etwa im Schulgarten – beleuchtet. Hervorgegangen sind die Texte aus Vorträgen einer Ringvorlesung, die anlässlich der Bundesgartenschau 2021 in Erfurt unter dem Titel »Gärten: Geschichte, Kulturen, Gestalten« von uns Herausgeber*innen organisiert und durchgeführt wurde. »Erfurt, die Gartenstadt, deren Erzeugnisse schon 2 »Doch indem der Garten sich den Ausführungen und Arbeiten […] entzieht, wird er zu etwas Fremdem gegenüber ihren Orten und ihrer Zeit, wird er ein Nicht-Ort und eine Nicht-Zeit, differenziert er sich mehr und mehr gegenüber dem, was er erzeugt«; Michel de Certeau: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Michael Lauble, Berlin 2010, S. 85.

Einleitung

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im 12. Jahrhundert berühmt waren, ist neuerdings in der Gärtnerei geworden, was Leipzig für den Buchhandel ist.« So stand es in der Illus­trirten Zeitung vom 11. März 1865.3 1865 fand auch die erste internationale Garten­ bauausstellung in Erfurt statt. Mit der ersten Internationalen Gartenschau der sozialistischen Länder im Jahr 1961 und vielen weiteren Ausstellungen bestätigte Erfurt auch im 20. Jahrhundert den Ruf als Gartenstadt. An dieses Erbe wollten auch die Organisator*innen der Bundesgartenschau 2021 anknüpfen und haben mit der BUGA 2021 mit Erfolg auch Stadt­ entwicklung betrieben. Dabei sind die Grenzen zwischen Garten und NichtGarten fließend. Die Geraaue – ein Stadtentwicklungsprojekt im Rahmen der BUGA – verknüpft Radweg, Spielplätze, Park­anlagen und Gärten zu einer hochwertigen grünen Infrastruktur. Daher finden sich in diesem Band auch Beiträge zur Bedeutung menschlichen Handelns in Gärten sowie im Rahmen von Gartenschauen für ein nachhaltiges Leben auf unserem Planeten. Die einzelnen Beiträge werden im Folgenden kurz vorgestellt: Dorothee Kimmich wirft in ihrem Eröffnungsbeitrag einen Blick auf die Gartenphilosophie Epikurs. Der Garten wird in der epikureischen Philosophie gerade nicht als ein Bereich begriffen, der spezifische Funktionen übernimmt, die sich von vielen alltäglichen Handlungen unterscheiden lassen. Im Gegenteil markiert und umfasst der Garten eine gesamte ­Lebensform. Werden so Praktiken des guten Lebens mit einer umgrenzten Räumlichkeit verbunden, lässt sich diese philosophische Verortung mit Michel Foucault als Heterotopos und Utopie beschreiben. Man kann sich, so Dorothee Kimmich in ihrem Beitrag, »Epikureer als hartnäckige Bewohner des Raumes, ihres Gartens vorstellen«. Dabei ist es nicht nur der Garten selbst, der auf die materielle und letztlich atomistisch-physikalische Basis von Epikurs Philosophie verweist. Das zunächst utilitaristische Glücks­ kalkül der Selbstsorgepraxis wird gerade im gemeinsam bewohnten Garten durch die Freundschaft auf die Sozialität der Eudaimonie hin überschritten und bereichert. Das gelingende Leben findet nicht auf dem Marktplatz oder der Agora, sondern nur im Kepos, dem Garten statt. Vorstellungen des gelingenden Lebens werden nicht nur in der Philosophie verhandelt, sondern sind auch Themen für die Religionen. Die Bibel, die für Christentum und Judentum zentrale Texte versammelt, kennt unterschiedliche Gärten, die ihre Vorbilder in altorientalischen Gärten des Vorderen Orients haben. Norbert Clemens Baumgart führt in seinem Beitrag »Zu Garten und Park in der Bibel auf altorientalischem Hintergrund« 3 o.  V.: Eine deutsche Gärtnerstadt, Beilage zur Illustrirten Zeitung Bd. 44, Nr. 1132, Leipzig 11. 03. 1865, S. 169 f.; http://www.varnhagen.info/gartenstadt.html (Zugriff am 7. 6. 2022).

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Alexander Thumfart / Bettina Hollstein / Sandra Tänzer

in diese Gartenwelt ein. Das sich darin manifestierende Wechselverhältnis von Kultur und Natur prägt bis heute unsere Vorstellungen davon, wie wir uns in die Welt gestellt sehen und wie wir mit ihr interagieren. Von der Wonne im Paradiesgarten, der durch Wasser, Vegetation und Mensch geprägt ist und Gott als hegenden Gärtner vorstellt, welcher die zerstörerischen Menschen aus dem Garten verweist, berichtet die Bibel – aber auch von der Utopie des Friedens unter Weinreben und Feigen­ bäumen in einer Zeit, wo Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet werden und Lanzen zu Winzermessern. Im Hohelied schließlich treffen sich ­Liebende nicht nur im Garten: Der Garten wird zur Metapher für die Liebenden selbst, die selbstbewusst ihre Liebe als eine »Rückkehr in den paradiesischen Garten« zelebrieren. Sinnlichkeit und Spiritualität sind auch das Thema des frühen südasiatischen Gartens, den Sara Keller in ihrem Beitrag in den Fokus nimmt. Während in der früheren Forschung die ehrgeizigen mogulischen Gartenprojekte des 16. bis 18. Jahrhunderts häufig als die einzige nennenswerte indische Gartentradition interpretiert wurden, zeigt die Autorin in ihrem Beitrag, dass schon vor der Mogulzeit die Verflechtung von Spiritualität und Sinnlichkeit die Gartenatmosphäre südasiatischer Gärten prägte. Diese verbinden über die Jahrhunderte hinweg und unabhängig von der Religionszugehörigkeit den sinnlichen Genuss, als höchste körperliche Erfahrung, mit dem Erlebnis des Übernatürlichen, als Einblick in die höchste geistliche Erfahrung. Dabei geht Sara Keller sowohl auf die Quellen der Sinneseindrücke ein als auch auf die Arbeit und Mühe, die die Schaffung des Gartens erfordert. »Der Ārāma war kein unberührter natürlicher Ort, sondern ein künstlicher, der stark mit kulturellen Bedeutungen verbunden ist. Grüne Landschaft, Anthropogenisierung und Unwirtschaftlichkeit können am besten diesen ›Garten‹ definieren.« Barockgärten, so formuliert Stefan Schweizer programmatisch, haben mehr mit unserer Gegenwart zu tun, als wir zunächst vermuten. Denn sie sind jenen massiven Eingriffen in die Natur verwandt, die auch unsere zum Teil monströsen Infrastrukturmaßnahmen der Gegenwart kennzeichnen. Wie in jenen spricht sich auch in diesen der Wunsch nach Natur­ beherrschung aus und erweist sich vielleicht ähnlich als Illusion. Deshalb sei es unbedingt nötig, den Barockgarten in den Kontext der Naturveränderung und des Klimawandels zu stellen, um seine Signifikanz sichtbar werden zu lassen. Stefan Schweizer rekonstruiert die langsame Genese des Barockgartens, die Erfindung seiner einzelnen Elemente und seine politischen Dimensionen daher auch vor dem Hintergrund der »Kleinen Eiszeit«, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts spürbar wird und bis Ende des 18. Jahrhunderts anhält. Parallel dazu wird der Barockgarten zum

Einleitung

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Anwendungsfall, Demonstrationsobjekt und Inszenierungsort geometrisch-­ naturwissenschaftlicher Forschung und Praxis. »Im Garten als einem Ort der Naturbeherrschung wurden mithin die Verfahren der wissenschaft­ lichen Naturbeherrschung in Szene gesetzt.« War dies im Grunde wohl der schieren Notwendigkeit des Überlebens geschuldet, wird darin doch auch die Fragilität aller Beherrschung zumindest erahnbar. Das Bild eines Gartens enthält aber auch ein utopisches Potenzial. ­Ale­xander Thumfart macht an drei Beispielen aus drei Jahrhunderten deutlich, welche sprengende und radikal-kritische Kraft in Garten-Utopien steckt. William Morris’ Kunde von Nirgendwo aus dem Jahre 1890 entwirft ein radikales Gegenmodell zur Industriemoderne. Der kapitalistischen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und der maschinellen Zer­störung der Natur wird ein postrevolutionäres England entgegen­ gestellt, das sich als Garten aus Gärten beschreiben lässt, in dem Demokratie, Menschlichkeit und Solidarität Wirklichkeit geworden sind. Ernest Callen­bachs 1975 erschienener Roman Ecotopia zeichnet eine komplett dekarbonisierte, eigentumslose, selbstbestimmte Gesellschaft freier Menschen, die sich im postsezessionistischen Kalifornien und Oregon einen Garten-Staat geschaffen haben. Samuel Alexanders aktuelle Konzepte am Sim­plicity Institute Melbourne schließlich lassen sich lesen als postapokalyptische Überlebensinseln, auf denen die Überlebenden zu Gärtner*innen geworden sind. Keine dieser Utopien versteht sich als Blaupause ihrer Verwirklichung. Vielmehr wollen sie radikale Alternativen zur Gegenwart offenhalten, um sie überwinden zu können. Gärten sind gerade sozialpolitisch alles andere als harmlos. Dass Natur in der Stadt gut und mehr Natur in der Stadt besser sei, erweist sich als eine der Maximen der modernen Stadtplanung. Susanne Frank fragt in ihrem Beitrag deshalb nach, von welcher Natur denn hier die Rede sei, um welche Planungen und Planziele es konkret gehe und wer die Planer*innen seien, die urbane Stadtnatur so ins Zentrum stellen. An ihrem ersten Beispiel, dem tiefgreifenden Umbau von Paris durch Baron Haussmann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, legt Susanne Frank die unterschwelligen Codierungen der planmäßig eingesetzten Stadtnatur frei. Wird von vielen Zeitgenossen die rasante Urbanisierung als Rückkehr einer ungezähmten Natur in die Stadt empfunden, die sich auch in der (imaginierten) Auflösung von Geschlechtergrenzen in einem revoltierenden Proletariat manifestiert, wird die Haussmannisierung von Paris zum Projekt einer planerischen Disziplinierung eines miasmatischen Untergrunds und der Re-Konstruktion gesellschaftlicher Hierarchien entlang von ­projektierten Geschlechtergrenzen im Medium einer Domestizierung von Natur. Nur eine kontrollierte, funktional eingehegte Natur ist eine

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Alexander Thumfart / Bettina Hollstein / Sandra Tänzer

»gute« Natur, der eine anständige Gesellschaft korrespondiert. Eine ganz ähnliche Haltung bestimmt das stadtentwicklungspolitische Aushängeschild des Dortmunder Strukturwandels: die (vermeintliche) Re-Naturierung der Emscher im Phoenix-See. Hier werde, so Frank, ein »idealisiertes Naturund Landschaftsbild« inszeniert, das »nicht durch unpassende Bewohner*in­ nen gestört« werden soll. Die »gute« Stadtnatur der Stadt­planung muss deshalb immer auch als »politisierte« Natur verstanden werden. Um den Einfluss menschlicher Lebensstile auf die Pflanzendiversität in Gärten und auf Freiflächen in Siedlungen zu klären, haben Stefan Brunzel und Jens Jetzkowitz den Einfluss standortbezogener und sozioökonomischer Faktoren auf die Anzahl der Arten von drei Pflanzengruppen, nämlich einheimische Arten, Archäophyten (Alt-Einwanderer) und Neophyten (Neu-Einwanderer, nach 1492 eingewandert), entlang eines Stadt-LandGefälles in Siedlungen in der Wetterau in Hessen untersucht. Das Ergebnis dieser Untersuchung war, dass sich viele Neophyten über einen Zeitraum von 25 Jahren ausgebreitet haben, ohne dass dies generell mit einem Rückgang von Archäophyten und einheimischen Arten verbunden war. Die Artenzusammensetzung variierte hauptsächlich entlang eines urbanruralen Gefälles von der Stadt zum Land. Dieses wird durch Unterschiede in den Standortbedingungen und sozioökonomischen Faktoren von Siedlungen bestimmt, wie etwa der Verbindung zur Großstadt Frankfurt am Main oder bestimmten Gartenstilen und -praktiken. Insgesamt zeigen diese Untersuchungsergebnisse, welchen Einfluss menschliches Handeln – etwa traditionelle Gartenpraktiken – auf die Biodiversität hat. »Der Garten ist in Bewegung, seine Grenzen sind durchlässig geworden«, schreibt Sara Burkhardt in ihrem Beitrag, der uns zu ästhetischen Betrachtungen des Gartens einlädt. Bezug nehmend auf die Überlegungen des fran­ zösischen Landschaftsarchitekten Gilles Clément, versteht sie den Garten als Prinzip, das sich in alle Lebensbereiche ausdehnt, in Bewegung ist. Was den Garten zum Garten macht, sind sechs Gestaltungselemente (Vegetation, Wasser, Umgrenzung, Choreographie, Metapher und Schwelle), die in der Kunst und der Kunstpädagogik zu vielgestaltigen (auch virtuellen) Ausdrucks­ formen führ(t)en. In ihrem Beitrag lässt Sara Burkhardt einige von ihnen plastisch werden. In anschließenden kunstpädagogisch-konzeptionellen Über­legungen wird eindrucksvoll deutlich, welche große Bedeutung der Kunstunterricht im Zusammenspiel sinnlicher Erfahrungen, künstlerischer Praxis und ästhetischer Reflexion und Beurteilung für die Entwicklung eines achtsamen Umgangs mit der Natur in ihrer Mannig­faltigkeit zu leisten vermag. Katy Wenzel erweitert den Blick auf die Vielfalt von Gärten durch den Bezug zum Schulgarten als einem Ort für Lern-und Bildungsgelegenheiten

Einleitung

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verschiedener Schulfächer und – im Bundesland Thüringen – als eigenes Unterrichtsfach. In ihrem Beitrag entfaltet sie, anknüpfend an his­torische Entwicklungslinien des Gärtnerns im pädagogischen Kontext, das Bildungs­ potenzial des Schulgartens vor dem Hintergrund aktueller Vorgaben in Lehr- und Bildungsplänen wie auch aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen in den Beziehungen des Menschen zur Natur. Urban-GardeningProjekte lassen sich ebenso wie Initiativen solidarischer Landwirtschaft mit zeitgemäßer Schulgartenarbeit verknüpfen. Anschaulich-konkret werden grundlegende Gestaltungselemente zeitgemäßer Schul­gartenarbeit erläutert und pädagogische und organisatorische Herausforderungen des Gärtnerns im Kontext Schule angedeutet. Ihr Beitrag mündet in einer Sensibilisierung für kindliche Perspektiven auf den Garten und das Gärtnern, die in ihrer Differenz zur Erwachsenensicht nicht nur für und in Schule bedeutsam sind. Historische Entwicklungslinien des deutschen Kleingartenwesens zeichnet Caterina Paetzelt in ihrem Beitrag nach. Dabei sind Kleingärten keines­wegs, so die Leiterin des Deutschen Kleingärtnermuseums Leipzig, ausschließlich auf die bekannten Schrebergärten zurückzuführen, wie sie auch heute noch im Museum auf dem denkmalgeschützten Gelände des ersten Schrebervereins in Leipzig bildreich erkundet werden können. In ihrem Beitrag nimmt uns Caterina Paetzelt mit auf eine Zeitreise bis in die Gegenwart, um die politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verflechtungen des Kleingartenwesens und die verschiedenen Funktionen eines Kleingartens quellenbasiert aufzuzeigen und zu verdeutlichen: Kleingärten sind seit ihren Ursprüngen notwendig, geschätzt und begehrt; sie sind es heute mehr denn je. Ausgehend von ihren reichhaltigen Erfahrungen mit Gartenschauen – Martin Hußmann verantwortete als Bürgermeister 2018 die Hessische Landesgartenschau in Bad Schwalbach und Dieter Franz Obermaier gründete als Wissenschaftler der Agrar- und Gartenbauwissenschaften das bundesweite Netzwerk »Gartenschauen als Lernorte für Nachhaltigkeit« – unterstreichen die beiden Autoren in ihrem Beitrag das große Bildungs­ potenzial von Gartenschauen für Erwachsene, Kinder und Jugendliche in Bildungsbereichen wie der Agrar- und Umweltbildung sowie der Bildung für nachhaltige Entwicklung, ohne dabei außer Acht zu lassen, dass ein solches Großereignis auch Spannungsverhältnissen unterliegt, die u. a. aus unterschiedlichen Erwartungen ihrer Besucher*innen erwachsen. Ein kon­ kretes Beispiel, der IGA-Campus der Internationalen Gartenausstellung (IGA) Berlin im Jahr 2017, führt die Themenvielfalt und den Ertrag des Lern-und Bildungsortes Gartenschau anschaulich vor Augen. Der Beitrag schließt mit der Vorstellung des Netzwerks »Gartenschauen als Lernorte für Nachhaltigkeit«.

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Alexander Thumfart / Bettina Hollstein / Sandra Tänzer

Wir möchten an dieser Stelle allen Autor*innen herzlich für die fruchtbare Zusammenarbeit und Mitwirkung an diesem Buch danken. Unser Dank geht ebenfalls an Konstanze Fürst für die ausgesprochen sorgfältige Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts sowie an Ina Lorenz für die engagierte Beratung seitens des Wallstein Verlages. Danken möchten wir auch ganz herzlich dem Präsidium der Universität Erfurt, namentlich ihrem Präsidenten Wolfgang Bauer-Wabnegg, und der Landeshauptstadt Erfurt und ihrem Oberbürgermeister Andreas Bausewein, ohne deren unkomplizierte und großzügige Unterstützung diese Publikation nicht möglich gewesen wäre. Wir bedanken uns bei Susanne Rau und Jörg Rüpke für die Unterstützung der Publikation mit Mitteln der DFG-finanzierten Kollegforschungsgruppe »Religion and Urbanity. Reciprocal Formations« sowie bei Hartmut Rosa für die Unterstützung mit Mitteln des Projekts »Dinge verfügbar machen. Eigentum als spezifische Form der Weltbeziehung« im SFB »Strukturwandel des Eigentums«. Unser Anliegen war und ist es, vielfältige und intensive Diskurse über den Garten aus unterschiedlichen Fachdisziplinen und praxisnahen Handlungsfeldern aufzugreifen, und wir hoffen, dass auch die vorliegende ­Publikation ihren Beitrag dazu leistet, einen lebendigen Dialog über den Garten zu fördern. Alexander Thumfart, Bettina Hollstein, Sandra Tänzer Kurz vor Drucklegung dieses Buches ist unser Freund und Kollege Alexander Thumfart verstorben. Fassungslos und traurig halten wir sein letztes Buch in den Händen, lesen darin seinen letzten Text, der so viel über ihn gewahr werden lässt: seine Verbundenheit mit der Natur, sein Engagement für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, seine Liebe zur Literatur und seine große Belesenheit, seine Klugheit und Unmissverständlichkeit, Probleme und Missstände beim Namen zu nennen und ihnen Visionen eines besseren gesellschaftlichen Zusammenlebens entgegenzusetzen. Wir haben von ihm und mit ihm viel gelernt, was uns Vermächtnis und Verpflichtung ist. In diesem Sinne widmen wir Alexander Thumfart dieses Buch. Bettina Hollstein & Sandra Tänzer Literatur Certeau, Michel de: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert, Berlin 2010. Gurnah, Abdulkrazak: Das verlorene Paradies. Aus dem Englischen von Inge Leipold, Frankfurt a. M. 2021. o. V.: Eine deutsche Gärtnerstadt, Beilage zur Illustrirten Zeitung Bd. 44, Nr. 1132, Leipzig, 11. 3. 1865; http://www.varnhagen.info/gartenstadt.html.

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Epikurs Kepos Der Garten als philosophisches Konzept Dorothee Kimmich

1. Einleitung: Philosophie im Garten

Ein Garten ist heute ein Ort, an dem man Gemüse pflanzt, Obst erntet, eine Hängematte aufhängt oder einen Grill anfeuert. Ein solcher Garten ist meist Privateigentum, er hat eine Grenze, eine Hecke, einen Zaun oder eine Mauer, die ihn von anderen Grundstücken trennt. Nicht jede und ­jeder hat Zutritt zu diesem Garten, nicht alle sind willkommen. Manche Gärten kann man zwar gegen ein Entgelt besichtigen, einige kann man sogar unentgeltlich betreten und sich dort aufhalten, sich erholen oder sich unterhalten. Selten sind Gärten oder Parks aber als Lebensräume gedacht. Exemplarisch für einen solchen Garten, der als Lebensraum geplant war, dürfte das christliche Paradies sein, in dem zwei Menschen, ein Gott, Tiere und Pflanzen zusammenlebten. Der Name »Paradies« für den christlichen Garten Eden stammt aus dem Altawestischen – pairi-daeza – und bedeutet ursprünglich »umgrenzter Bereich«, auch im Altgriechischen war später ein παрάδεισος (parádeisos) noch ein eingefriedeter Tiergarten oder Park.1 Die Vorstellung eines mit Mauern umgebenen, geschützten Raumes, in dem Tiere und Pflanzen eines großen Reiches gehalten und gezeigt wurden – wie bei den Achämeniden –, war in der antiken Welt weit verbreitet. Diese Orte sollten der Geselligkeit und der Erholung dienen oder auch Spiegel- und Sinnbild der Weltordung sein, wie es etwa die persisch-zoroastrischen Gärten waren. Schon im ältesten Epos, das wir heute kennen, dem Gilgamesch-Epos, wird von den Gärten in Uruk berichtet, die Repräsentationszwecken und der Erholung dienten.2 Offenbar verbreiteten sich diese »Paradiese« aus dem Vorderen über den Mittleren Orient in den Mittelmeerraum.3 1 Hannes D. Galter / Lutz Käppel: Paradeisos, in: Der Neue Pauly, Bd. 9, hg. von Hubert Cancik / Helmuth Schneider, Stuttgart 2000, Sp. 306. 2 Vgl. Raoul Schrott et al.: Gilgamesh. Epos, Darmstadt 2001. 3 »Unter Alexander d. Gr. verstärkte sich der Kontakt Griechenlands mit Ägypt. und dem Orient. Beeinflußt von östl. Traditionen, ließen die hell. Könige in ihren Residenzstädten große Paläste (βασίλεια, basíleia) errichten, die herrschaftliche Wohnund Repräsentationsbauten, kulturelle Einrichtungen, Heiligtümer und Gymnasien einschlossen und ganze Viertel der Stadt dominierten. Im Palastbezirk von Alexandreia

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Dorothee Kimmich

Eine Philosophie, die sich explizit einen Garten als Ort der Zusammenkunft, Konversation und Reflexion sucht, knüpft damit an eine lange und verbreitete asiatisch-mediterrane Tradition an. Die Philosophie Epikurs wird ausdrücklich als eine Gartenphilosophie bezeichnet und damit gegenüber der Philosophie der Stoa oder der platonischen Akademie als eine spezifische Lebensform gekennzeichnet. Als Stoa, nach der die Schule der Stoiker benannt wurde, bezeichnete man einen Gebäudetyp mit einer Säulenhalle, die sich auf einen Platz hin öffnet. Die Hinwendung zur städtischen Öffentlichkeit ist damit programmatisch in der Architektur umgesetzt: Stoiker waren nicht nur Teil einer städtischen Gemeinschaft, sondern verstanden und verstehen ihre philosophische Reflexion und ihren Lebensstil als eine dem Staat und der Gesellschaft verpflichtete Aufgabe. Die platonische Akademie dagegen lag außerhalb der Stadt Athen in einem Olivenhain, der als Grablege des Heros Hekademos galt. Sie war nach dem Vorbild der italischen Pythagoreer-Gemeinschaften als eine Lebens- und Lehrgemeinschaft konzipiert, zu der auch Frauen und jüngere Mitglieder gehörten.4 Auch Aristoteles gehörte lange der platonischen Akademie an, verließ sie dann, wurde Erzieher Alexanders des Großen und kehrte erst später wieder nach Athen zurück, wo er – ebenfalls außerhalb der Stadtmauern – eine eigene Schule gründete, die wiederum nach ihrem Ort – dem Peripatos, einem Spazierweg – benannt ist. Akademie, Peripatos, Stoa und Epikurs Kepos: Die prägenden Schulen der antiken griechischen Philosophie tragen alle die Namen ihrer (stadtgeographischen) Lage, und offenbar verbindet sich mit dem jeweiligen Ort auch ein Programm. »Programm« versteht sich dabei nicht nur als philosophisches Lehr­ gebäude, sondern vielmehr als Kombination von Lehre und Leben. Philoso­ phieren bedeutet keine rein theoretische Auseinandersetzung mit spezifischen Themen und Thesen, sondern meint immer auch die Beschäftigung mit den Fragen nach dem guten, dem richtigen Leben. Die Wahl des Lebensraumes ist nicht zufällig, sondern markiert die Ausgestaltung des guten Lebens. beispielsweise lagen Haine, in denen sich auch die ptolem. Königsgräber, das Museion und Heiligtümer befanden, die traditionell mit Pflanzungen versehen waren (Strab. 17,1,8 f.). Diese Grünzone hatte gewiß einen repräsentativen Charakter und erinnerte auch an die altägypt. G. der pharaonischen Paläste. Königliche Baum-G. (παрάδεισος, parádeisos) für die Jagd und zeremonielle Handlungen wurden in Anlehnung an ­persische Hofsitten bes. im Seleukidenreich unterhalten (Plut. Demetrios 50, 7 ff.).«; ­Johannes Renger et al.: Garten, in: Der Neue Pauly, Bd. 4, hg. von Hubert Cancik / Helmuth Schneider, Stuttgart 1998, Sp. 786-793, hier Sp. 787 f. 4 Hans Joachim Krämer: Die Ältere Akademie, in: Grundriss der Geschichte der Philo­ sophie. Die Philosophie der Antike, Bd. 3: Ältere Akademie – Aristoteles – Peripatos, 2. Aufl., hg. von Hellmut Flashar, Basel 2004, S. 1-165.

Epikurs Kepos

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2. Philosophie und Räume – Philosophie im Raum

Anders als die Theorie der Zeit hat eine Theorie des Raums in der west­ lichen Philosophie nie einen prominenten Platz beansprucht. Während »Zeit« mit »Geist« assoziiert wurde, wurde »Raum« mit »Dingen« und »Körpern« in Zusammenhang gebracht. »Zeit« steht dabei auch für Geschichte, Fortschritt und Entwicklung, während »Raum« mit Statik assoziiert wird. »Während die Zeit für das Mobile, Dynamische und Pro­ gressive, für Veränderung, Wandel und Geschichte steht, steht der Raum für Immobilität, Stagnation und das Reaktionäre, für Stillstand, Starre, Festigkeit.«5 Erst die Beschäftigung mit »Räumen«, die ein empirisches Verständnis voraussetzt, kann die Auffassung von »Raum« als Apriori der Wahrnehmung ergänzen und kritisieren. Es handelt sich um einen Ansatz, den man vor allem bei modernen Soziologen wie Émile Durkheim, Georg Simmel oder Siegfried Kracauer findet und den Peter Sloterdijk als »RaumVielheitentheorie« bezeichnet,6 der aber auch eine phänomenologische Tradition von Heidegger7 über Maurice Merleau-Ponty8 bis Gernot Böhme9 vorzuweisen hat. Zu den wichtigen kulturphiloso­phischen Raumtheorien der Moderne zählen neben Michail Bachtins Chronotopos-­Begriff 10 auch Hans Blumenbergs Höhlenausgänge.11 Blumenberg hat in seiner monumen­ talen Untersuchung zu Höhlenausgängen die Schwelle, also den Ein- und Ausgang der Höhle, als denjenigen Ort i­dentifiziert, an dem Kultur entsteht. Die Vermittlungsfunktion des ­Höhlenausgangs markiere weniger die Differenz als den Übergang von Natur und Kultur. Ausgehend von der großen Höhlenerzählung der abend­ländischen Kulturgeschichte, von Platons Höhlengleichnis, ent­ ­ wickelt Blumenberg eine Geschichte der Raum­metapher Höhle, die als eine Geschichte der menschlichen Selbst­ ermächtigung und modernen Neugier gelesen wird.12 Damit schließt Blumenberg an ein antikes Gleichnis an und weist darauf hin, dass das Nachdenken über spezifische Räume und ihre kulturelle Bedeutung keine (post-)moderne Innovation ist, obwohl dies zuweilen 5 Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt a. M. 2006, S. 21. 6 Peter Sloterdijk: Sphären. Plurale Sphärologie, Bd. 3: Schäume, Frankfurt a. M. 2004, S. 293. 7 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Halle 1927. 8 Maurice Merleau-Ponty: Phénomenologie de la perception, Paris 1945. 9 Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, München / Paderborn 2006. 10 Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russichen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank / Kirsten Mahlke, Frankfurt a. M. 2008 [1975]. 11 Hans Blumenberg: Höhlenausgänge, Frankfurt a. M. 1989. 12 Blumenberg: Höhlenausgänge (Anm. 11), S. 663-818.

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so scheinen mag. Denn gegen Ende des letzten Jahrhunderts und zu Beginn des neuen setzte eine Art Boom in der Raumtheorie ein. Der His­ toriker Jürgen Osterhammel konstatierte 1998 eine »Wiederkehr des Raumes«, was er zwar beschreibend und nicht programmatisch meinte, womit er den Vertreter*innen des spatial turn jedoch ein inzwischen oft zitiertes Schlagwort vorgab.13 Vielbeachtete Plädoyers für eine solche Wiederkehr des Raumes – die eher eine Wiederentdeckung von »Räumen« ist – innerhalb der Sozial- und Geschichtswissenschaften lieferten einige Jahre später Martina Löw sowie Karl Schlögel.14 Einen topographical turn beobachtete gleichzeitig die Literaturwissenschaftlerin Sigrid W ­ eigel.15 Mittlerweile sind diesen turns zahlreiche weitere gefolgt, und doch forderte auch kürzlich noch Urszula Pawlicka-Deger ein Nachdenken über die »architecture of the humanities«, da – wie sie formuliert – »place matters«.16 Zu den kanonischen Vordenkern der räumlichen Wende gehört Michel Foucault, der 1967 im Auftrag einer Gruppe von Architekten in Paris Gedanken zum Thema »Raum« präsentierte. Hierbei, so stellte er ein­ leitend fest, handele es sich offenkundig um ein spezifisches Anliegen seiner Gegenwart. Während das 19. Jahrhundert nämlich noch ganz im Zeichen der Geschichte gestanden habe, ließe sich »[u]nsere Zeit […] eher als Zeitalter des Raumes begreifen«.17 Dementsprechend fügt Foucault an dieser Stelle in seinem Vortrag einen zweiten, wissenschaftshistorischen Befund an: Die »ideologischen Konflikte« innerhalb der zeitgenössischen akademischen Debatten könnten als eine Konfrontation »zwischen den frommen Abkömmlingen der Zeit und den hartnäckigen Bewohnern des 13 Jürgen Osterhammel: Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 43 (3), 1998, S. 374-397. 14 Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001; Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München / Wien 2003. 15 Sigrid Weigel: Zum ›topographical Turn‹. Kartographie, Topographie und Raum­ konzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2 (2), 2002, S. 151-165; Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. 16 Urszula Pawlicka-Deger: Place Matters. Thinking About Spaces for Humanities Practices, in: Arts and Humanities in Higher Education 20 (3), 2021, S. 320-338, hier S. 321. 17 Der Vortrag »Des espaces autres« wurde am 14. März 1967 im Pariser Cercle d’études architecturales gehalten. Nachdem Foucault das unbearbeitete Manuskript kurz vor seinem Tod zur Publikation freigegeben hatte, erschien es posthum in der Zeitschrift Architecture, Mouvement, Continuité: Michel Foucault: Des espaces autres, in: Architecture, Mouvement, Continuité 5, 1984, S. 46-49. Der dt. Text folgt Michel ­Foucault: Von anderen Räumen, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et écrits, Bd. 4, hg. von Daniel Defert / François Ewald, aus dem Franzöischen von Michael Bischoff u. a., Frankfurt a. M. 2005, S. 931-942, hier S. 931.

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Raumes«18 verstanden werden, das heißt als das Aufeinanderprallen zweier Episteme an einer Epochenschwelle. Aus dem Vortrag über espaces autres stammt auch der mittlerweile inflationär gebrauchte Begriff des Heterotopos, den er als einen gesellschaftlichen Gegenort bestimmt: Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kul­ tur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese Orte völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde ich sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichnen.19 Foucault nennt insgesamt sechs Aspekte, die Heterotopien ausmachen (können). Sie können Krisenorte markieren, Rand- und Durchgangszonen etablieren, Zeit und andere Orte akkumulieren, haben besondere Zugangsund Schließungsregelungen und markieren das Gegenteil des Alltäglichen. Die Konzeption ist also so weit gefasst, dass sich fast jeder irgendwie de­ finierte Raum als Heterotopos verstehen lässt: Auch Epikurs Garten wäre also sicherlich ein solcher gewesen und könnte den Anspruch auf so etwas wie eine realisierte Utopie wohl mit einer gewissen Berechtigung erheben. Man könnte sich die Epikureer gut als hartnäckige Bewohner des Raumes, ihres Gartens, vorstellen. Im Bewusstsein, dass der Garten nicht nur ein be­ liebiger Ort ist, sondern dass er die Lebensführung prägt und strukturiert, wird er auch als eine Art Gegenort zur städtischen Öffentlichkeit proklamiert. »Man muß sich aus dem Gefängnis der üblen Geschäfte und der Politik befreien«,20 rät Epikur und spricht von einem Leben im Verborgenen: »Lathe biosas« (λάθε βιώσας)21 lautet die Anweisung, also: Ziehe dich aus der Öffentlichkeit, so weit es geht, zurück. Auf diese Weise soll am besten die Ataraxia, also eine stille Gelassenheit, eine weitgehende Unabhängigkeit von billiger Anerkennung und wohlfeilem Lob, garantiert werden können. 18 Foucault (Anm. 17), S. 931. 19 Foucault (Anm. 17), S. 935. 20 Epikur: Wege zum Glück, Griechisch-lateinisch-deutsch, hg. und übers. von Rainer Nickel, 3. überarb. Aufl., Mannheim 2011, Gnomologium Vaticanum 58, S. 271. 21 Plutarch: Ei kalōs eirētai to lathe biōsas = Ist »lebe im Verborgenen« eine gute Lebensregel?, eingeleitet, übers. und mit interpretierenden Essays vers. von Ulrich Berner u. a., Darmstadt 2000.

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So überzeugend diese Anweisungen auf den ersten Blick sein mögen, so problematisch können sie werden. Viele Anhänger Epikurs, gerade auch solche aus der Zeit der römischen Republik und des Kaiserreiches, setzten sich mit diesen Ratschlägen kritisch auseinander, denn der quietistische Rückzug in ein Gartenparadies kann schließlich kein Modell für alle Mitglieder einer Gesellschaft sein und hat somit durchaus auch elitäre Züge. Römische Epikureer wie Cicero, Seneca und vor allem Plutarch versuchten daher, politische Tätigkeit zu kombinieren mit Epikurs Rat, sich Unabhängigkeit von öffentlicher Meinung zu bewahren. Wie streng Epikur selbst diese Regeln durchsetzte, ist nicht genau bekannt. Jedenfalls darf man sich den Garten Epikurs nicht als gated community vorstellen: Fremdling, hier wirst du wohl weilen, hier ist das höchste Gut die Lust, dann steht dieser Bleibe Hüter schon bereit, gastfreundlich und mild, bewirtet dich mit Gerstengraupen, kredenzt dir auch reichlich Wasser und fragt: »Na, hat man dich gut aufgenommen?« – »Gärtchen wie dieses«, sagt er, »reizen den Appetit nicht, sondern stillen den Hunger, sie vermehren den Durst nicht gerade durch die Getränke, sondern löschen ihn mit einem natürlichen, kostenlosen und heilsamen Mittel«.22 Epikurs Regeln lassen sich zudem auch so lesen, dass selbst dort, wo ein Garten nicht zur Verfügung steht, man sich eine Art individuellen Schutzraum schaffen sollte, der Handlungsfreiheit bewahren kann. Allerdings würden dazu dann auch die entsprechenden »asketischen« Praktiken ge­ hören: eine Einübung in Autonomie, Unabhängigkeit von Lob und ­öffentlicher Meinung. So konkret der historische Kepos außerhalb der Stadtmauern Athens also war, hat er doch auch eine symbolische, eine meta­phorische Seite. Die Unabhängigkeit von billigem Lob und banalem Applaus lässt sich durch eine Art mentaler Gartenpflege des Selbstwert­ gefühls antrainieren. Das Leben im philosophischen Garten hat zudem nicht nur aus-, sondern auch einschließende Funktionen: auf der einen Seite ein Leben jenseits öffentlicher Ämter und Anerkennung, was zudem eine gewisse Distanz selbst zu familialen Bindungen voraussetzt, auf der anderen Seite eine Einbindung in eine Gemeinschaft, die auf freundschaftlicher Basis Verbindlichkeit ebenso verlangt wie garantiert.

22 Seneca: Epistuale morales ad Lucilium. Briefe an Lucilius, Lateinisch-deutsch, Bd. 1, hg. und übers. von Gerhard Fink, Düsseldorf 2007, 21,10, S. 119-121.

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3. Epikurs Gartenphilosophie

Epikurs Philosophie ausschließlich auf eine Philosophie des Räumlichen, der Hortikultur, zu reduzieren, wäre zweifellos ungerechtfertigt, und doch verweist das Nachdenken über den Ort des Philosophierens auch auf die Art des Philosophierens, wird der Ort eben mit Konkretem, Sinnlichem, Körperlichem in Verbindung gebracht, also mit den Dingen und Angelegenheiten des Lebens, mit dem Leiblichen und Alltäglichen des menschlichen Daseins, und speziell für diese Fragen hat sich Epikur als Experte angeboten. Epikur (Έπίкουрος) wurde 341 v. Chr. auf Samos geboren und starb 271 oder 270 v. Chr. in Athen. Angeblich war er als 14-jähriger Schüler auf Samos mit seinem Lehrer, dem nicht weiter bekannten Platoniker Pamphilos, nicht zufrieden, weil dieser ihm den Hesiod’schen Begriff des Chaos nicht plausibel erklären konnte.23 Befriedigender und von längerer Dauer war der Unterricht des Demokriteers Nausiphanes in der kleinasiatischen Stadt Teos. Hier lernte Epikur spätestens die ionische Naturphilosophie und vor allem den demokriteischen Atomismus kennen, was seine eigenen Vorstellungen deutlich prägen sollte. Nach seiner Ausbildung zog er nach Athen und versammelte dort in seinem Kepos Anhänger*innen, Schüler*in­ nen und Freund*innen unter dem Zeichen einer philosophischen Praxis. Im Gegensatz zu den damals herrschenden Sitten nahm er auch Frauen und Unfreie auf. Nach Cicero befand sich dieses Grundstück außerhalb der Stadtmauern, nicht allzu weit entfernt von der Platonischen Akademie.24 Es wird häufig und durchaus zu Recht darauf hingewiesen, dass in der hellenistischen Philosophie die Ethik eine zentrale Rolle spielt; es sollte dabei allerdings nicht übersehen werden, dass die oft schlechte Quellenlage ein verzerrtes Bild entstehen lassen kann. Immerhin ist bekannt, dass Epikur 37 Bücher »Über die Natur« geschrieben hat, von denen uns heute nur noch verkohlte Fragmente auf den Papyri von Herkulaneum erhalten sind.25 Ihre Entzifferung ist erst durch neueste technische Entwicklungen möglich geworden.26 23 Cicero: De natura deorum libri III, Lateinisch-deutsch, hg. übers. und erläutert von Wolfgang Gerlach / Karl Bayer, München 1978, 1, 72 f. 24 Cicero: De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut und das schlimmste Übel, Lateinisch-deutsch, hg. von Alexander Kabza, München 1960, 5,1,1-3. 25 Vgl. Diogenes Laertius: De vitis philosophorum X . Epikur, Griechisch-deutsch, hg. von Klaus Reich / Hans Günter Zekl, üebrs. von Otto Apelt, Hamburg 1968, 10,7 und 10,27. 26 Vgl. dazu Ulf von Rauchhaupt: Verkohlte Wörter, in: FAZ Wissen, 11. 2. 2021; ­https://www.faz.net/-gwz-a87vj (Zugriff am 4. 11. 2021); vgl. auch Kilian Fleischer: Die Papyri Herkulaneums im Digitalen Zeitalter. Neue Texte durch neue

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Naturphilosophie bzw. Atomismus sind keine Nebenschauplätze des epikureischen Denkens, sondern bilden die Basis der hedonistischen Argu­ mentation. Atomistische Axiome sind die Grundlage einer Weltsicht, die man heute als skeptisch, kritisch oder sogar konstruktivistisch bezeichnen würde, weil sie nur einen eingeschränkten Zugang zur Erkenntnis der Wirklichkeit postuliert. Der Atomismus als Lehre von der bewegten ­Materie impliziert notwendiges bzw. automatisches Entstehen und Ver­ gehen der Formen, der Materie und des Lebens, schließt daher  Teleologie und Providenz aus. In einer solchermaßen mehr oder weniger ausschließlich von der Notwendigkeit regierten Natur ist auch der Mensch weder Grund noch Zweck des Universums, weder Geschöpf noch Krone der Schöpfung. Zudem ist der Mensch nur graduell von anderen Lebewesen unterschieden, kein Herrscher über die Welt und auch kein Ebenbild Gottes. Eine atomistische Welterklärung hat also offensichtlich weit­ reichende weltanschauliche Folgen im Bereich der Theologie, der Metaphysik, der Psychologie und der Ethik. Aus dem atomistischen Weltmodell ergibt sich, dass Vorstellungen von Gut und Böse oder andere normative Aussagen aus der Natur selbst nicht gewonnen werden können. »Nature is ›necessity‹, not ›justice‹; neither good nor evil in itself; not intelligent, though intelligible […]. The good is not given to man; it is not ›chance‹. It must be created by man; it is art‹.«27 So lässt sich auch nachvollziehen, was der junge Karl Marx in seiner Dissertation behauptete: »Es ist erst jetzt die Zeit gekommen, in der man die Systeme der Epikureer, Stoiker und Skeptiker verstehen wird. Es sind die Philosophen des Selbstbewußtseins.«28 Was Marx 1841 als Selbst­ bewusstsein bezeichnete, würde man seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eher Selbstwirksamkeitserwartung oder Self-efficacy 29 ­nennen ken – eine Kurzeinführung, Berlin 2021; Kilian Fleischer: Dionysios von Alexandria. De natura (πεрì φύσεως). Übersetzung, Kommentar und Würdigung, mit einer Einleitung zur Geschichte des Epikureismus in Alexandria, Turnhout 2016. 27 Gregory Vlastos: Ethics and Physics in Democritus, in: Studies in Presocratic Philosophy, Bd. 2, hg. von Reginald E. Allen / David J. Furley, London 1975, S. 381-408, hier S. 397 f.; vgl. allgemein: Gisela Striker / Malcolm Schofield (Hg.): The Norms of ­Nature. Studies in Hellenistic Ethics, Cambridge 1986; Michael Erler: Epicurus. An Introduction to his Practical Ethics and Politics, Basel 2020; vgl. auch Dorothee ­Kimmich: Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge, Darmstadt 1991. 28 Karl Marx: Die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, in: ders., Friedrich Engels: Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Kommunismus beim ZK der SED (MEW ), Ergänzungsbd. 1, Berlin 1968, S. 257-373, hier S. 309. 29 Albert Bandura: Self-efficacy, in: Encyclopedia of Human Behavior, Bd. 4, hg. von Vilayanur Subramanian Ramachandran, San Diego 1994, S. 71-81.

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und damit die Einstellung und das Verhalten von Personen meinen, die davon ausgehen, dass ihre Handlungen nicht vom Zufall dominiert oder von heteronomen Mächten kontrolliert werden, sondern vielmehr eigener Handlungsmacht entspringen bzw. entspringen müssen. Entsprechend wird im Atomismus bzw. von Epikur den Göttern auch eine marginale Rolle im Leben der Menschen zugewiesen. »Es ist sinnlos, von den Göttern zu erbitten, was man sich selbst beschaffen kann.«30 Die Götter anzurufen und um Intervention zu bitten, ist sinnlos, da sie sich nicht für die Schicksale der Menschen interessieren, verantwortlich ist alleine der Mensch selbst. »[H]abeo […] non habeor«,31 also die Vorstellung, dass man sich selbst »hat« (habeo) und von nichts und niemandem »gehabt«, besessen werden kann (habeor), ist die Grundvoraussetzung einer selbst­bestimmten Lebensweise, die sich Wohlbefinden, Heiterkeit, Gelassenheit und Aus­ geglichenheit zum Ziel setzt. Wie alle griechische Ethik ist auch die hellenistische nicht in erster Linie eine Theorie der Moral, die die Frage, wie der Mensch sich richtig verhalten soll, zu beantworten sucht, sondern sie ist vielmehr eine Theorie des Glücks im Hinblick auf praktische Umsetzung. Eudaimonia ist und bleibt das selbstverständliche und darum manchmal nicht einmal mehr explizit genannte Ziel aller ethischen Diskussion. Eudaimonie, was sich nur un­ zureichend mit Glück, Glückseligkeit oder gelingendes Leben umschreiben lässt, wird negativ als Abwesenheit von inneren und äußeren Störungen der subjektiven Befindlichkeit und Freiheit von Zwang, d. h. als eine angenehme Art des physischen und psychischen Gleichgewichts, beschrieben. Für das Konzept der Eudaimonie existieren viele verschiedene Begriffe – neben Euthymie und Athambie ebenso Ataraxie –, die jeweils verschiedene Aspekte des gelungenen Lebens betonen. Die lange und komplexe Debatte um die Begriffe und Konzepte des guten Lebens wurde nicht erst im Hellenismus aufgenommen, sondern beginnt sehr viel früher mit Aristipp 30 Epikur: Wege zum Glück (Anm. 20), Gnomologium Vaticanum 65, S. 273. 31 Vgl. Cicero in einem Brief an Paestus, Cicero: An seine Freunde / Ad familiares, ­Lateinisch-deutsch, hg. und übers. von Helmuth Kasten, 6. Aufl., Düsseldorf / Zürich 2004, 9, 22(26), 2. Cicero paraphrasiert dabei das griechische (»Graece hoc melius«, ebd.) έχω όυк έχομαι. Den Brief Ciceros hat Wieland im Rahmen seiner Übertragung der »Ad familiares« übersetzt und kommentiert, und auch in seinem Roman »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen« spielt Wieland darauf an: »Dies, Freund Aristipp, war ungefähr das Verhältnis, worin ich mit der schönen Lais stand, bis sie Milet zu ihrem Aufenthalt wählte, und dort mit dem vornehmen Perser bekannt wurde, der, (wenn ich nicht irre) nach dir selbst der erste war, der sich ihres Besitzes rühmen konnte; mit dem kleinen Unterschied, daß du Sie besaßest, Er hingegen von Ihr besessen war.«; Christoph Martin Wieland: Werke, Bd. 4: Aristipp und einige seiner Zeit­ genossen, hg. von Klaus Manger, Frankfurt a. M. 1988, Buch 2, Brief 32, S. 626.

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von Kyrene und Eudoxos von Knidos; auch Platon und Aristoteles befassen sich ausführlich mit hedonistischen Argumenten. Zudem darf man davon ausgehen, dass nicht nur die Paradiese und Parkanlagen ein Import aus dem Nahen Osten und Nordindien waren, sondern auch philosophische Ideen von dort ans Mittelmeer gelangten. Griechisch-indischer Kulturkontakt ist seit den Feldzügen Alexanders des Großen keine Seltenheit. Zahlreiche Statuen, Münzen, Tempelarchitektur und Stadtanlagen im heutigen Pakistan und Afghanistan verweisen auf die vielfältigen Kontakte, die vor allem seit der griechisch-baktrischen Reichsgründung bestanden. Von den Reisen griechischer Philosophen und den Begegnungen zwischen griechischen und indischen Weisen berichten unter anderem Biographien, wie sie Diogenes Laertios verfasst hat.32 Der Skeptiker Pyrrhon von Elis etwa soll Alexander den Großen begleitet und sich mit indischen Philosophen, den sogenannten Gymnosophisten, ausgetauscht haben. Auch von einem Brief Alexanders des Großen an Aristoteles wird berichtet.33 Ob sich die Ähnlichkeiten, die zwischen buddhis­ tischen und hellenistischen Weisheitslehren zu konstatieren sind, auf historische Kontakte zurückführen lassen oder ob es sich eher um »anthro­ pologische« Konstanten hedonistischen und asketischen Denkens handelt, ist umstritten. Zeitgenössische Theorien und Praktiken der Achtsamkeit jedenfalls können sich mit Recht auf beide Traditionen berufen.34 Epikureischer Hedonismus ist also sicherlich nur im Rahmen einer geographisch und historisch breiten Debatte zu verstehen, und der Lüstling Epikur war keineswegs ein spektakulärer Außenseiter. Die entscheidende Wende allerdings, die Epikur der Frage nach der Lust, der Hedone, gibt, liegt nicht so sehr in einer Innovation begrifflicher oder systematischer Momente, sondern in der Neubestimmung der Funktion des Lustbegriffes hin auf eine praktische Verwertbarkeit im Rahmen subjektiver und individueller Lebensgestaltung. Konstant wiedererkennbar sind dabei die ­polemisch-aufklärerische, antireligiöse Haltung und der strikte Vorrang individualethischer Morallehre vor gesellschaftlich orientierter Pflicht­ ethik.35 Besonders profiliert ist die I­ndividualethik im epikureischen 32 Miroslav Marcovich / Hans Gärtner (Hg.): Diogenis Laertii vitae philosophorum, 3  Bde., Stuttgart / Leipzig 1999 /2002. 33 Vgl. Christopher I. Beckwith: Greek Buddha. Pyrrho’s Encounter with Early Buddhism in Central Asia, Princeton / Oxford 2015; Irmgard Männlein-Robert: Griechische Philosophen in Indien? Reisewege zur Weisheit, in: Gymnasium 116, 2009, S. 331-357. 34 Halko Weiss / Michael E. Harrer: Achtsamkeit in der Psychotherapie. Verändern durch »Nicht-Verändern-Wollen« – ein Paradigmenwechsel?, in: Psychotherapeutenjournal 9(1), 2010, S. 14-24. 35 Vgl. Hans Joachim Krämer: Platonismus und hellenistische Philosophie, Berlin 1971, S. 219.

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Konzept der Selbstsorge (epimeleia heautou). Die epikureische Philosophie hat hier eine interessante und – oft unter an­deren Namen – bis in die Moderne sehr wirksame Lehre entwickelt. Die Wendung vom Spekulativen zum Praktischen zeigt sich auch in der Form der philosophischen Texte selbst. Die Texte sind Teil einer Lebenspraxis, die neben dem Zusammenleben im Garten auch eine konti­ nuierliche Selbstreflexion beinhaltet. Von Epikur sind drei Briefe, ­Spruchsammlungen und Fragmente erhalten.36 Der praktische Aspekt der Seelenführung ist darin so deutlich, dass seine Korrespondenz z. B. mit neutestamentlicher Briefliteratur verglichen wurde. Die erhaltenen Lehrsätze und Sprüche sind Zusammen­stellungen praktischer Lebensweis­ heiten, die durch ständiges Memorieren prä­sent sein sollen und durch gemeinsame Einübung (Askesis) möglichst in Anwesenheit und unter Aufsicht des Meisters die Lebensführung bestimmen. Es finden sich bei Epikur zahlreiche Stellen, wo auf die Notwendigkeit des Einübens und Memorierens der Grundsätze hingewiesen wird,37 besonders die vier Hauptlehren des sogenannten Tetra­pharmakos sind ständig griff­bereit zu halten: »Immer u[nd] überall soll der Tetraph[armakos] zur Hand sein: Vor Gott braucht man sich nicht zu fürchten; dem Tod soll man nicht mit argwöhnischer Angst gegenüberstehen; das Gute ist leicht zu beschaffen, das Schlimme jedoch leicht zu ertragen.«38 Auch eine Art Beicht- oder Gesprächspraxis scheint, nach den Zeugnissen des Philodem, eine wichtige Rolle gespielt zu haben. »Das für die epikureische Techne der Seelsorge aus Philodem zu gewinnende Material zeigt, daß E[pikur] jene Äußerungen einer umfassenden Seelenbeichte in seinem Kreise geradezu be­ günstigte«.39 Askesis, Einüben und Memorieren, Gesprächspraxis und die damit verbundene Therapie des Suchenden sind als Training für die Seele oder diätetische Lebensform zu verstehen. Die Parallelisierung von Philosophie 36 Der erste Brief »An Herodot« referiert Epikurs Naturlehre, derjenige »An Phytocles« – dessen Echtheit bezweifelt wird – behandelt die Astronomie und die Lehre von den Meteoren und der dritte Brief »An Menoikeus« ist eine Darstellung der epikureischen Ethik. Darüber hinaus findet sich im 10. Buch des Diogenes Laertius eine Sammlung von »Hauptlehren«, und eine weitere Sammlung von Sprüchen und Sentenzen wurde im vergangenen Jahrhundert in einer vatikanischen Handschrift entdeckt. Zu weiteren Quellen und Quellenkritik vgl. Wolfgang Schmid: Epikur, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. V, hg. von Theodor Klauser u. a., Stuttgart 1962, Sp. 681-819. 37 Vgl. Diogenes Laertius: De vitis philosophorum X . Epikur (Anm. 25), 10,35 f., 10,116, 10,135. 38 Schmid (Anm. 36), Sp. 744. 39 In dieser Formulierung sind die ersten vier Regeln der »Hauptlehren« (Kyriai doxai) zusammengefasst, vgl. Schmid (Anm. 36), Sp. 744 f.

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und Medizin, die Epikur so schätzte, wird gerade in diesen Praktiken besonders augenfällig: Anleitung zu Selbstsorge und Lebensglück als philosophische Therapie. »[D]ie Gemeinsamkeit der den Hellenismus prägenden Idee von Philosophie, die sich als ihre therapeutische Auffassung bezeichnen läßt«,40 sieht Hans Blumenberg als Technik zur Beseitigung der Hindernisse des Lebensglücks.41 Wer jung ist, soll nicht zögern zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh und für keinen zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern […]. Wir müssen uns also kümmern um das, was die Glückseligkeit schafft: wenn sie da ist, so besitzen wir alles, wenn sie aber nicht da ist, dann tun wir alles, um sie zu besitzen.42 Von besonderer Bedeutung ist nun die Frage, inwieweit die individuelle Sorge für das eigene Wohlbefinden sich mit den Belangen einer Gemeinschaft oder auch einer Gesellschaft vereinbaren lässt. Epikurs Maxime »Vom Leben im Verborgenen«43 zielt zwar nicht auf eine radikale Absonderung der Epikureer oder gar auf eine sektenartige Antihaltung zum ­politischen Gemeinwesen, schließlich handelt es sich beim Garten Epikurs wahrlich nicht um ein Kloster. Trotzdem ist hier ohne Frage eine deutliche Interessenverschiebung seit Sokrates, Platon und Aristoteles zu sehen. Das Individuum als Bürger ist für den Epikureer uninteressant. Nicht zuletzt deshalb war es Epikur möglich, in seinen Garten auch Sklaven und Frauen aufzunehmen. Der (Stadt-)Staat ist für Epikur kein Wert an sich, das ­Politische dient nur dem Zweck, die Unversehrtheit des Individuums zu garantieren, hat aber keinen Einfluss auf die Ausbildung einer irgendwie gearteten sozialen Identität. Diese entsteht ausschließlich im Umgang mit sich selbst und den Freunden im Kepos. Es ist also weniger wichtig zu fragen, ob politische Tätigkeit erlaubt ist, als festzustellen, dass sie nicht notwendig ist für das gute Leben des Philosophen. Genau dies besagt die These von einer Abkoppelung der Sorge um sich von der Sorge um andere. Autarkia, als hellenistisches Schlagwort, bedeutet Unabhängigkeit von allem, was man nicht selbst bestimmen kann, und dazu gehört auch der Andere, Gemeinschaft, Politik und sogar die Familie. 40 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966, S. 244. 41 Vgl. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit (Anm. 40), S. 246 f. 42 Diogenes Laertius: De vitis philosophorum X . Epikur (Anm. 25), 10,122 (Brief an Menoikeus). 43 Diognes Laertius: De vitis philosophorum X . Epikur (Anm. 25), 10,120; Hermann Usener (Hg.): Epicurea, Leipzig 1887, Fragment 551.

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Eine Sonderstellung im Rahmen des utilitaristischen Kalküls der Lebens­ kunst im Sinne einer auf Eudaimonie zielenden Selbstsorgepraxis nimmt die Freundschaft ein. Freundschaften sollen und müssen im Hinblick auf ihre Nützlichkeit geschlossen werden, können aber auch ein Ziel in sich selbst sein. Dies geht so weit, dass sogar die Möglichkeit des Opfertodes für den Freund miteinbezogen wird.44 An diesem einen Punkt wird der rigorose Individualismus der Epikureer aufgebrochen und die familienähnliche Atmosphäre des Kepos nimmt der sonst doch sehr asketischen Lehre ihre Strenge.45 »Von allem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des ganzen Lebens bereitstellt, ist der Gewinn der Freundschaft das bei weitem Wichtigste.«46 Die Ethik Epikurs zielte also, anders als seine Kritiker und Feinde dies glauben machen wollen, aber auch anders, als seine Anhänger es manchmal formulierten, nicht auf das wohlige Leben eines kleinen, gut genährten Schweinchens. Horaz nannte sich zwar ein »Schweinchen aus der Herde Epikurs«, meinte damit aber eigentlich nur, dass er die zu ihm passende Lebensphilosophie gefunden habe. Schließlich beginnt das Gedicht sehr ernsthaft mit den Worten: inter spem curamque, timores inter et iras omnem crede diem tibi diluxisse supremum; grata superveniet quae non sperabitur hora47 und der Mahnung, man solle jeden Tag so schätzen, als sei er der letzte. Die Gartenkommune Epikurs ist für heutige Liebhaber der Hortikultur sicherlich nicht in jeder Hinsicht anschlussfähig, denn schließlich spielen Pflanzen und Landschaften, Bäume, Blumen, Insekten, Teiche und Fischlein keine Rolle. Im Kepos geht es nur um Menschen und um ihr Glück. Dafür allerdings sind Epikureer Experten: »Nichts genügt demjenigen, dem das, was genügt, zu wenig ist.«48 44 Diogenes Laertius: De vitis philosophorum X . Epikur (Anm. 25), 10,120-121. 45 Vgl. Hans Joachim Krämer: Epikur und die hedonistische Tradition, in: Gymnasium 87, 1980, S. 294-326, hier S. 300; vgl. Diogenes Laertius: De vitis philosophorum X . Epikur (Anm. 25), 10,17-22 (Testament des Epikur). 46 Epikur: Wege zum Glück (Anm. 20), Kyriai doxai XXVII, S. 249. 47 Horaz: Sämtliche Werke, Lateinisch-deutsch, hg. und übers. von Niklas Holzberg, Berlin / Boston 2018, Epistulae 1,4, S. 462. Dt.: »Zwischen Hoffnung und Sorge, zwischen Ängsten und Zorn glaube, jeder Tag, der dir leuchtet, sei dein letzter: Die Stunde, auf die du nicht hoffen wirst, wird dann zusätzlich kommen, und überdies willkommen.«; vgl. Ebd., S. 461-463. 48 Epikur: Wege zum Glück (Anm. 20), Gnomologium Vaticanum 68, S. 275.

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Zu Garten und Park in der Bibel 1 auf altorientalischem Hintergrund Norbert Clemens Baumgart

1. Hinführung

Als Einstimmung auf diesen Beitrag zur Bibel ist eine Abbildung zu sehen.2 Was sie wiedergibt, hatten vor fast dreitausend Jahren im Alten Orient kunstfertige Hände geschaffen.

Abb. 1: Neuassyrische Gartenanlage

Die Abbildung gibt ein Relief wieder, das im antiken Ninive im Palast des Königs Assurbanipals gefunden wurde. Die Ausgrabungsstätte liegt im heutigen Irak. Assurbanipal war im 7. Jahrhundert v.Chr. Regent des ­assyrischen Reiches gewesen. Das Relief ist 1,32 m breit und 92 cm hoch. 1 Der Vortragsstil wurde in diesem Beitrag weitgehend beibehalten. 2 Aus: Othmar Keel: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, 5. Aufl., Göttingen 1996, Abb. 202. Die Abbildungen in diesem Beitrag sind diesem Band entnommen; zu den Abbildungen sind die Ausführungen von Keel sehr hilfreich. Nur die Abbildung einer Weinlaube (zu 1 Kön 5,5) ist einem anderen Band entnommen, s. u. Punkt 3.

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Norbert Clemens Baumgart

Das Relief zeigt eine Gartenanlage:3 eine stattliche Anlage, in der Bäume und andere Gewächse gedeihen. Denn der Garten wird künstlich bewässert. Rechts oben ist ein Aquädukt zu sehen, ein Bauwerk zum Heran­ führen von Wasser. Dieses Wasser verteilt sich in Läufen, in einer Art Kanälen über den Garten. Im Garten sind Wege angelegt und es gibt ein weiteres Gebäude. In der Mitte des Gartens, mitten durchs Relief, verläuft eine via sacra, eine heilige Straße. Auf der Straße ist ein Altar, ein heiliger Tisch, zu sehen. Die Straße führt hinauf zu einem Pavillon oder einem Tempel. In diesem befindet sich eine Statue des Königs (Sanherib). So weit zu dieser Abbildung. Im Alten Orient wurden Gärten auch als sichtbare Zeichen für Ideen und für grundlegende Auffassungen an­ gelegt.4 Beispielsweise als Zeichen für die Welt als wohlgeordneten Kosmos oder für eine besondere, erfreuliche Gottesnähe. Dieser Beitrag wird nur auf einige Gärten und Pflanzungen in der Bibel eingehen. Um auf alles, was sich dazu in der Bibel findet, einzugehen, wären etliche Darstellungen vonnöten. Mein Beitrag behandelt daher nur drei Beispiele von Texten aus dem ersten Teil der Bibel, dem Alten Testament: Gottes Park »Wonne«, Weinreben und Feigenbäume sowie den Garten der Liebe. Das Alte Testament handhabt oft recht originell die Gartenthematik. Zugleich fließen in diese alttestamentliche Thematik auch Züge und Motive ein, die im Alten Orient vorgeprägt waren. Das verwundert nicht, denn im Kontext des Alten Orients ist das Alte Testament entstanden. Wo es bei den Textbeispielen angebracht erscheint, werden, wie in dieser Einführung, altorientalische Funde gezeigt. 2. Der Ursprung der Menschheit: Gottes Park »Wonne« (Gen 2-3)

Für die Bibel steht am Anfang der Menschheit ein »Garten«. Ihr erstes Buch, die Genesis, erzählt von diesem Garten (Gen 2,4-3,24). In dieser Erzählung erschuf der biblische Gott den Menschen. Als Erstes sorgt dieser Gott dafür, dass es für den Menschen einen Garten gibt: 8Dann pflanzte Gott, der HERR , in Eden, im Osten, einen Garten und

setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. 9Gott, der HERR , ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzu­ sehen und köstlich zu essen, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. (Gen 2,8-9)

3 Hierzu auch Henrik Pfeiffer: Art. Paradies / Paradieserzählung; https://www.bibelwis senschaft.de/wibilex/ (Zugriff am 12. 8. 2021). 4 Vgl. hierzu Pfeiffer: Paradies (Anm. 3).

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Die biblische Erzählung zeichnet ihren Gott auch als Gärtner. Er »pflanzt« einen Garten. »Gärtner / Pflanzer« ist kein seltenes Gottesbild im Alten Testament (Ex 15,17; Num 24,6).5 Die Erzählung stellt diesen Garten wie einen Park, wie eine Parkanlage dar.6 In diesem Park sprießen »alle Bäume« (Gen 2,9) und in ihm kann man (Gott) sich ergehen (vgl. Gen 3,8). Angelegt ist der Park »in Eden« (Gen 2,8). Mit Eden ist nicht nur an ein Territorium gedacht. Im Bibelhebräischen hört man beim Wort Eden zugleich »Wonne / Lust« mit. Entsprechend diesem Wortsinn Park »Wonne« (Gen 2,5; 3,23.24)7 werden seine Bäume beschrieben (Gen 2,9). Die Bäume erfreuen zwei Sinne: das Sehen und das Schmecken. Die Bäume im Garten sind eine Augenweide und halten parat, was dem Gaumen guttut und bekömmlich ist. Die erste Übersetzung dieser antiken Erzählung erfolgte ins Altgriechische. Für »Eden« wählten die Übersetzenden das Wort παрάδεισος (parádeisos). Das griechisch παрάδεισος war seinerseits ein Lehnwort aus dem Persischen gewesen: pairidaēza. Das persische Wort bedeutete »umfriedeter Park« und konnte auch die Gartenanlage der persischen Groß­könige bezeichnen (vgl. Neh 2,8; Koh 2,5).8 Unsere heutige Redensart von einem »Paradies« geht auf dieses alte Wort für Garten und Park ­zurück. Die »Gartenanlage« fällt in der Erzählung deshalb so üppig und prächtig aus, weil sie optimal bewässert und melioriert ist: 10Ein

Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen. 11Der Name des ersten ist Pischon; er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt. 12Das Gold jenes Landes ist gut; dort gibt es Bdelliumharz und Karneolsteine. 13Der Name des zweiten Stromes ist Gihon; er ist es, der das ganze Land Kusch umfließt. 14Der Name des dritten Stromes ist Tigris; er ist es, der östlich an Assur vorbeifließt. Der vierte Strom ist der Eufrat. (Gen 2,10-14; vgl. Gen 2,6) »Aus Eden« entspringt »ein Fluss«, der den Garten – so wörtlich – »tränkt«, also bewässert (Gen 2,10). Sogleich werden weitere Bewässerungen beschrieben (Gen 2,11-14). Durch sie erscheinen nun Eden und damit sein 5 6 7 8

Vgl. Georg Fischer, Genesis 1-11 (HT hK-AT ), Freiburg / Basel / Wien 2018, S.  187. Fischer: Genesis (Anm. 5), S. 188. Fischer, Genesis (Anm. 5), S. 173-221. Pfeiffer: Paradies (Anm. 3).

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Abb. 2: Vier Ströme entquellen dem Gefäß des Berggottes

Garten als Mittelpunkt der Welt.9 Der Fluss aus Eden verzweigt sich zu vier Strömen und diese durchfließen Länder und Gegenden. Nach unserer Erfahrung erweitert sich ein Fluss erst durch die Zuläufe anderer Gewässer. Dieser Erfahrungswert lag auch während der Entstehung der biblischen Erzählung vor. Trotzdem hält sich die Erzählung nicht an die Erfahrung:10 Der Fluss aus Eden entlässt so reichlich Wasser, dass dieses für weitere Flüsse ausreicht (zu deren »Häuptern« wird). Die Erzählung hält sich an ein altes Motiv. Das Motiv liegt in unterschiedlichen Ausformungen vor. Dazu konnte beispielsweise gehören, dass eine Quelle aus einem Tempel sprudelt, dann anschwillt, weitläufig wird und ihren Anrainern Leben spendet (Ez 47,1-12; Joël 4,18). Zentral in diesem Motiv ist, dass es eine Quelle göttlichen Ursprungs ist. Zum biblischen Text passt eine Ab­ bildung, in der eine Variante des Motivs auftaucht. Die Abbildung gibt eine Elfenbeineinlage wieder, die um 1500 v.Chr. entstand und aus einem Palast in der Stadt Assur (heutiger Irak) stammt.11 Abgebildet ist ein Berggott. Sein Oberkörper erscheint über stilisierten Bergen. In seinen Händen hält der Berggott ein Gefäß. Aus diesem quellen vier Ströme hervor, die sich x-förmig in verschiedene Richtungen über die Welt ausbreiten. Ein Gefäß – vier Flüsse. 9 Vgl. Jan Christian Gertz: Das erste Buch Mose Genesis. Die Urgeschichte Gen 1-11 (ATD 1), Göttingen 2018, S. 116. 10 Fischer: Genesis (Anm. 5), S. 194 f. 11 Zu einer neueren, etwas veränderten Rekonstruktion der Elfenbeinreste im Berliner Pergamonmuseum vgl. Pfeiffer: Paradies (Anm. 3).

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Die biblische Erzählung kennzeichnet ihren Gott nicht als Berggott und erwähnt auch kein Gefäß. Dafür redet sie von Eden und über den von Gott angelegten Garten. Sie zeichnet ein wunderbares und vom biblischen Gott bewirktes Ermöglichen von Flusslandschaften.12 Der Bibeltext (Gen 2,10-14) verknüpft bei den Flusslandschaften Tatsächliches und Symbolisches miteinander. Der dritte Fluss heißt Tigris, der vierte Euphrat (Gen 2,14). Beide durchziehen das Zweistromland, das alte Mesopotamien, in dem eine der ersten Hochkulturen entstand. Heute macht das Hauptgebiet des alten Mesopotamiens der Irak aus. Zum Fluss Tigris heißt es im Text, dass an ihm die damals allseits bekannte Stadt Assur13 liegt. Die Schilderung wollte hier den zeitgenössischen Leser*innen eine ihnen bekannte Kulturlandschaft wachrufen. Anders nimmt sich das bei den ersten zwei Flüssen aus: bei Pischon und Gihon (Gen 2,11-13). Zu ihnen werden vermutlich bewusst keine tatsächlichen Landschaften wachgerufen.14 Nur die Namen sind klangvoll und die erwähnten Kostbarkeiten regen die Phantasie an. Zum Gebiet, das der Pischon umfließt, heißt es: In ihm gibt es Gold, wertvolles Harz und Edelsteine. Die angerissenen Räume haben auch einen »symbolisch-literarischen Charakter«.15 Vor einigen Jahrzehnten hatte Othmar Keel eine grund­ legende Einsicht formuliert: Im Alten Orient und auch im Alten Testament – so Keel – »findet eine ständige Osmose zwischen Tatsächlichem und Symbolischem, und umgekehrt auch zwischen Symbolischem und Tatsächlichem statt.«16 Im Sinne solch einer Osmose zeichnet der biblische Text den Garten »Wonne« als Mittelpunkt der Welt. Ströme, die der Welt Fruchtbarkeit bringen, entspringen diesem außerordentlichen Garten. »8Dann pflanzte Gott, der HERR , in Eden, im Osten, einen Garten und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte.« (Gen 2,8) Im Bibeltext hat Gott den Garten »in der Vorzeit« angelegt. Im Bibelhebräischen konnte die Richtung »Osten« für ein zeitliches »Einst / Früher« stehen.17 Wenn es heißt, Gott legte den Garten »im Osten« an, zeigt das sogar eine »mythische Urzeit« an.

12 Vgl. Benno Jacob: Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934, Reprint: Stuttgart 2000, S. 87; Fischer: Genesis (Anm. 5), S. 194. 13 Vgl. Fischer: Genesis (Anm. 5), S. 199. 14 Vgl. Fischer: Genesis (Anm. 5), S. 198. 15 Gertz: Genesis (Anm. 9), S. 116. 16 Keel: Bildsymbolik (Anm. 2), S. 47. 17 Vgl. Gertz: Genesis (Anm. 9), S. 116.

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Im Alten Orient gab es eine Form, auf eine Urzeit einzugehen und sie dazustellen. Zu Anfang der Darstellungen wurde weggedacht, was es ­gegenwärtig gibt oder was momentan gilt. Z. B. beginnt das ältere alt­ orientalische, babylonische Epos Enuma Eliš mit den Worten:18 »Als droben der Himmel noch nicht bestand und drunten die Erde noch keine Gestalt hatte.« (Ee I 1-2) Die biblische Erzählung setzt mit den Worten ein: [Es gab] auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen noch keine Feldpflanzen, denn Gott, der HERR , hatte es auf die Erde noch nicht regnen lassen und es gab noch keinen Menschen, der den Erdboden bearbeitete. (Gen 2,5) Was in der biblischen Aufzählung noch fehlt, ist bezeichnend für eine alt­ israelitische, agrarisch geprägte Perspektive. Das fehlende Dreierlei fügt sich in dieser Perspektive wie Puzzleteile zu einem Bild zusammen: Wasser, Vegetation und Mensch. In einer mythischen Urzeit entstand und zeigte sich dann, was bleibend vorliege und immer gelte.19 Während die Neuzeit danach fragt, wie sich etwas historisch in Etappen entwickelt hat, nimmt eine mythische Urzeit be­ reits Aktuelles in den Blick und deutet Bleibendes. Die biblische Erzählung geht jedenfalls auf urzeitliche und bleibende Konstellationen ein, die sie für relevant erachtet: u. a. auf die Konstellationen Gott-Mensch, MenschTier, Mensch-Arbeit, Frau-Mann und andere mehr. Diese Erzählung geht nun auch dem Geflecht Gott-Mensch und Mensch-Garten nach. Zunächst heißt es in ihr zum prächtigen Garten, zum Mittelpunkt der Welt (Gen 2,8): Gott »setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte.« Sofort ist deutlich gemacht, dass der von Gott geschaffene Mensch und der Garten gut zueinander passen.20 Der Garten ist auch für den Menschen konzipiert und der Mensch für den Garten. Nach den Beschreibungen der Flussläufe wird dieser Faden aufgegriffen und weiter ausgestaltet: »15Gott, der HERR , nahm den Menschen und gab ihm seinen Wohnsitz im Garten von Eden, damit er ihn bearbeite und hüte« (Gen 2,15). Der Akzent lieg nun darauf, wie sich das Verweilen im Garten gestaltet.21 Gott »lässt« den Menschen im Garten »ruhen«. Doch der Mensch ist keines­wegs zum Nichtstun abgestellt. Ruhenlassen besagt hier, dass der 18 Hierzu Andreas Schüle: Prolog der hebräischen Bibel. Der literar- und theologie­ geschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Gen 1-11) (AThANT 86), Zürich 2006, S. 71. 19 Vgl. Gertz: Genesis (Anm. 9), S. 90 f. 20 Vgl. Jacob: Genesis (Anm. 12), S. 86. 21 Vgl. Fischer: Genesis (Anm. 5), S. 202.

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Mensch ungestört seiner Bestimmung und Tätigkeit nachgehen kann. Als die Erzählung zum ersten Mal auf den Menschen, auf den Adam eingeht, hat sie den Menschen programmatisch als Bearbeiter »des Erdbodens«, der Adama eingeführt (Gen 2,5). Seit alters her gehöre zum Menschen als ein Kennzeichen – so die Erzählung – »Arbeiten«. Ins Auge sticht aber in der Erzählung, dass zunächst als sein Arbeitsfeld der Garten vorgesehen ist.22 Der Mensch soll diesen Garten bearbeiten, ihn »bedienen«. Auf welches Ziel dieses Arbeiten angelegt ist, wird umgehend deutlich: Durch den ­arbeitenden Menschen soll der Garten bewahrt und behütet werden. Zu­ getraut wird dem Menschen, dass er den prächtigen Garten mit nach­ haltiger Achtsamkeit und Planung pflegen kann.23 Wie gesehen, zeichnet die Erzählung Gott auch als Gärtner. Und Gott als Gärtner bestellt den Menschen zum Gärtner. Die Bestellung geschieht in Eden. Dieser Name des urzeitlichen Ortes betont, dass der Mensch im Wortsinn mit Wonne und Lust im Garten tätig sein sollte. Bekanntlich endet diese biblische Erzählung damit, dass es gegenwärtig nicht mehr paradiesisch, nicht mehr nur wonne- und lustvoll zugeht. Die Erzählung versucht an der weiteren Handlung zu erklären, wie es in der Urzeit zu all jenen Ambivalenzen gekommen ist, welche sie im Leben und seinen unterschiedlichen Konstellationen ausmacht.24 So geht sie beispiels­ weise darauf ein, dass Arbeiten nun zwiespältig erfahren werden kann. Arbeiten ernährt zwar den Menschen, aber exemplarisch beschreibt die Erzählung, dass das Arbeiten auf kargem Acker­boden hart und äußerst mühsam ausfällt (Gen 3,17-19). All die Details zu Ambivalenzen können hier nicht entfaltet werden. Zu erwähnen ist aber, dass die Erzählung inzwischen herausgekehrt hat, woran beim Begriff »Mensch« zu denken ist: an SIE und ER , an Frau und Mann. Einzugehen ist auf den Schluss der Urzeiterzählung (Gen 3,22-24). Mann und Frau müssen den Wonnegarten Eden verlassen. Das Verlassen des Gartens erweist sich als literarischer Chronotopos.25 Der Wechsel des Ortes – Topos – markiert hier den narrativ-fiktionalen26 Schritt in eine Gegenwart – Chronos. 22 Gertz: Genesis (Anm. 9), S. 81 mit Anm. 7. 23 Vgl. Fischer: Genesis (Anm. 5), S. 202 f. 24 Mit Hermann Spieckermann: Ambivalenzen. Ermöglichte und verwirklichte Schöpfung in Genesis 2 f., in: ders., Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments (FAT 33), Tübingen 2001, S. 49-61. 25 Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen der historischen Poetik, Frankfurt a. M. 1989, S. 7 f. 26 Vgl. zur Terminologie Hubert Irsigler: Zur Interdependenz von Gottes- und Menschenbildern im Kontext alttestamentlicher Anthropologien, in: Biblische

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9Gott,

der HERR , ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und köstlich zu essen, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. (Gen 2,9) In der ersten Beschreibung des Gartens wurde zuvor erwähnt, dass in ihm noch zwei besondere Bäume stehen (Gen 2,9). Beide sind keine gewöhnlichen Bäume, sondern versinnbildlichende Bäume: der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.27 Im Garten hatte Gott dem Menschen alle Bäume zur Nahrung frei­ gegeben und ihm nur untersagt, vom Baum der Erkenntnis zu essen (Gen 2,16-17). Doch Frau und Mann aßen von diesem Baum (Gen 3,6). Das Essen der sinnbildlichen Speise ist dahingehend zu verstehen, dass Frau und Mann mit ihr eine »intellektuelle und sittliche Reife« erlangten.28 Rainer Kessler veranschaulicht, worum es beim Baum der Erkenntnis geht, mit einem neuzeitlichen Begriff. Man kann sagen: Er sei ein »Baum der Aufklärung«.29 Zur agrarischen Perspektive in der Erzählung kommen sogenannte weisheitliche Aspekte und geistige Fertigkeiten des Menschen hinzu. 22Dann

sprach Gott, der HERR : Siehe, der Mensch ist wie einer von uns geworden, dass er Gut und Böse erkennt. Aber jetzt soll er nicht seine Hand ausstrecken, um auch noch vom Baum des Lebens zu nehmen, davon zu essen und ewig zu leben. 23Da schickte Gott, der HERR , ihn aus dem Garten Eden weg, damit er den Erdboden be­ arbeite, von dem er genommen war. 24Er vertrieb den Menschen und ließ östlich vom Garten Eden die Kerubim wohnen und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten. (Gen 3,22-24) So hält der Schluss der Erzählung die Fähigkeit der Frau und des Mannes fest, »Gutes und Böses« erkennen und unterscheiden zu können (Gen 3,22). pologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament (QD 237), hg. von Christian Frevel, Freiburg 2010, S. 350-389. 27 Der Baum der Erkenntnis kommt nur in dieser Erzählung vor; in der weiteren Bibel taucht dieser Baum nicht mehr auf und auch nicht im Alten Orient; vgl. Fischer: Genesis (Anm. 5), S. 191. 28 Rainer Kessler: Der königliche Garten. Biblische Vorstellungen von Paradies, in: Das Paradies in Bibel und bildender Kunst, hg. von Marian Zachow u. a., Marburg 2014, S. 17-45, 30 f. 29 Kessler: Der königliche Garten (Anm. 28), S. 32, 36, 38.

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Ihre Fähigkeit ist zugleich konfrontiert mit Entfremdungen und Widerspenstigem. Exemplarisch erwähnt der Schluss das Arbeiten des Menschen (Gen 3,23). Die Erzählung hat – wie bereits angedeutet – herausgestellt: Außerhalb des Gartens auf kargem Erdboden ist das Arbeiten schweiß­ treibend und beschwerlich (vgl. Gen 3,17-19). Man merkt, wie die Erzählung anhand des Gartens zwei Szenarien einander gegenüberstellt. Im Garten war es für Frau und Mann irgendwie gut – nun, außerhalb, ist es für sie nicht nur gut. Im Garten Eden wächst auch der Baum des Lebens. Dieser Baum war Frau und Mann nicht vorenthalten worden. Hätten sie von ihm gegessen, würden sie ewig leben. Im Garten Wonne, im Zustand des Glücks drängte sie nichts, nach dem Baum des Lebens zu greifen. Außerhalb des Gartens erfahren sich Frau und Mann als sterblich. Außerhalb steht aber kein Baum des Lebens. Frau und Mann waren im Garten zu dessen Hüter*in und Wächter*in bestellt. Diese Aufgabe ist ihnen entzogen und wird nun von Kerubim30 ausgeführt (Gen 3,24). Die Kerubim bewachen den Zugang zum Garten Eden und zum Baum des Lebens. Drei Abbildungen veranschaulichen sie (vgl. Abbildungen 3-5). Die erste zeigt typische Wächtergestalten.

Abb. 3: Steinerne Wächterlöwen

Abgebildet sind zwei steinerne Wächterlöwen vom Tell Achmar in der Nähe von Bagdad. Datiert werden die Wächter Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. Sie bewachten einst den Eingang eines Tempels. Die nächste Abbildung zeigt zwei Kerubim. Abgebildet ist ein Elfenbeintäfelchen aus Nimrud (nördlicher Irak), das ins 9. /8. Jahrhundert v. Chr. datiert wird. Rechts sind zwei Kerubim zu sehen. Wie bisweilen im Alten Testament angedeutet (2 Sam 22,11; 1 Kön 6,23-28; Ez 41,18-19), 30 Zur Erklärung s. Abbildung 4.

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Abb. 4: Rechts zwei Kerubim

­ aben die Kerubim Löwengestalt, Flügel und Menschengesicht. In der h Symbolik vereinen Kerubim damit die Kraft der Raubkatze, die Beweglichkeit der Greifvögel und den menschlichen Verstand. Beide Kerubim flankieren einen Lebensbaum. Kerubim kommen im Alten Testament auch im Jerusalemer Tempel vor. Im Hintergrund der biblischen Erzählung kann man den Tempel vermuten, den man damals als Mittelpunkt und Nabel der Welt ansah. Auch dazu eine erhellende Abbildung.

Abb. 5: Tempelanlage

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Abgebildet ist eine Wandmalerei aus Mari (Syrien), die 2,5 m mal 1,75 m einnimmt. Datiert wird die Malerei um 1700 v. Chr. Auf der Darstellung umrahmt eine Art Hof zwei übereinanderliegende Rechtecke und Gebäude­ teile. Im oberen Rechteck steht eine im Alten Orient prominente Göttin (Ischtar). Die Göttin stemmt ihren Fuß einem Löwen auf und überreicht dem König die Insignien Ring und Stab. Als Baum der Göttin galt die Palme und als ihr Vogel die Taube. Die Palme sieht man rechts und in ihrer Krone schwebt eine übergroße Taube. Auch diese Abbildung ist für die biblische Erzählung aufschlussreich. Was bisher genannt wurde, lässt sich auf der Malerei wiedererkennen. Im unteren Rechteck sind zwei göttliche Gestalten zu sehen. Jede hält ein Gefäß, aus dem ein vierarmiger Fluss entspringt. Über den Gefäßen finden sich stilisierte Pflanzen und an den Flüssen wimmeln Fische. Die Rechtecke werden flankiert von zwei Bäumen (oder baumähnlichen Emblemen), vor denen in Registern u. a. vier Kerubim stehen. Diese Darstellung gibt eine altorientalische Tempelanlage wieder. Kommen wir zur biblischen Erzählung zurück und ziehen ein kleines Fazit. Der Name für ihren Garten Eden – »Wonne« (Gen 2,8) – ruft alte Erfahrungen wach und vielleicht auch immer wieder neue: In Gärten ist gut sein.31 Die Erzählung macht den Garten zum ersten Ort des Menschen und legt auch diesen Ort ihrem Nachsinnen über den Menschen32 zugrunde. Am Schluss der Erzählung weilen Frau und Mann nicht mehr an ihrem Ursprungsort und der Garten erscheint verloren und verschlossen. Für die Urzeitdarstellung steckt im geschilderten Ursprung aber nicht nur die Dimension eines Verlustes, sondern auch die eines bleibenden Zieles. Jürgen Ebach sprach deshalb vom »Ursprung und Ziel«.33 Das Ziel, das gut Sein wie in einem Garten, kann bisweilen erreicht werden, oder das Er­ 31 Vgl. Kessler: Der königliche Garten (Anm. 28), S. 35. 32 Die Schilderung des Gartens ist in anthropologische Reflexionen eingebettet. Psalm 8 liefert zu solchen Reflexionen gleichsam eine Fragestellung: »Was ist der Mensch?« (Ps 8,5). Zu diesem Psalm s. Bernd Janowski: Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen, Kontexte, Themenfelder, mit einem Quellenanhang und zahlreichen Abbildungen, Tübingen 2019, S. 1 f., 13-17. Die Anthropologie in der Erzählung ­steuert u. a. eine Antwort zu dieser Frage bei: Menschen und Garten passen zuein­ ander. Zwar müssen die Reflexionen im Text auch auf Verhältnisse eingehen, die für Mann und Frau nicht positiv ausfallen. Aber die Erzählung lässt den einstigen Aufenthalt des Menschen in ihrem Garten nicht von den negativen Bedingungen und Verhältnissen überschattet sein. 33 Jürgen Ebach: Ursprung und Ziel. Erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit. Biblische Exegesen – Reflexionen – Geschichten, Neukirchen-Vluyn 1986; vgl. auch Jürgen Ebach / Magdalene L. Frettlöh: Zur Einführung, in: »Schau an der schönen

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reichen des Zieles kann auch noch ausstehen. So hat Frank Crüsemann herausgearbeitet: Der Garten am Anfang der Bibel ist zu verstehen als »grundlegende und bleibende Möglichkeit des menschlichen Lebens. Man kann sie entdecken.«34 In der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte wurde der Garten in dieser Erzählung zum prominentesten Garten der Bibel. Zum Paradies, zum Ort der Sehnsucht und der religiösen Hoffnung (vgl. Lk 23,43). Kommen wir zum nächsten Beispiel. 3. Glückliche Zeiten: »Unter Weinreben und Feigenbäumen« (1 Kön 5,5)

Zum Garten als Ort der Sehnsucht passt auch das zweite Beispiel. Dabei geht es nicht um Gärten im urgeschichtlichen Sinne, sondern zunächst um Gärten in geschichtlichen Konstruktionen. Der erste Text imaginiert einen glücklichen Zustand. »5Juda und Israel lebten in Sicherheit von Dan bis Beerscheba; ein jeder saß unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum, solange Salomo lebte.« (1 Kön 5,5) Zwar kommt im Text das Wort »Garten« nicht vor, dafür aber Pflanzen, unter denen man sitzt: unter Weinstock und Feigenbaum. Es handelt sich um ein Gartensujet. Zum biblischen Sitzen unter einem Weinstock passt folgender altorientalischer Fund (vgl. Abbildung 6). Die Abbildung35 gibt ein Relief aus dem 7. Jahrhundert v.Chr. wieder. Das ganze Relief misst ca. 58 cm mal 1,39 m und wurde in Ninive ge­ funden. Zu sehen ist der schon erwähnte assyrische Regent Assurbanipal. Nachdem er triumphiert hatte (über die Elamiter), ließ er sich zur Feier auf einem Prunkbett nieder. Ihm gegenüber sitzt seine Gattin auf einem Gärten Zier …«. Über irdische und himmlische Paradiese. Zu Theologie und Kulturgeschichte des Gartens (Jabboq 7), hg. von ders. u. a., Gütersloh 2007, S. 7-24, 11-14. 34 Frank Crüsemann / Marlene Crüsemann: Die Gegenwart des Verlorenen. Zur Interpretation der biblischen Vorstellungen vom »Paradies«, in: »Schau an der schönen Gärten Zier …«. Über irdische und himmlische Paradiese. Zu Theologie und Kulturgeschichte des Gartens (Jabboq 7), hg. von Jürgen Ebach u. a., Gütersloh 2007, S. 25-68, 44. 35 Nachzeichnung von Anne Horrenberger, entnommen aus: Jean-Claude Margueron: Die Gärten im Vorderen Orient, in: Der Garten von der Antike bis zum Mittelalter, hg. von Maureen Carroll-Spillecke, Mainz 1992, S. 45-80, hier S. 49. Erläuterungen zur Abbildung in Werner Berg: Israels Land, der Garten Gottes. Der Garten als Bild des Heiles im Alten Testament, in: Biblische Zeitschrift 32, 1988, S. 35-51, hier 43 f., und in Ute Neumann-Gorsolke / Peter Riede: Motive und Materialien. 5 Fruchtbäume des Landes, in: dies.: Das Kleid der Erde. Pflanzen in der Lebenswelt des alten Israel, Stuttgart 2002, S. 132-137, hier S. 136 f.

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Abb. 6: Erholung unter der Weinlaube

Lehnsessel. Beide halten vor dem Mund Trinkschalen. Zu achten ist auf die zwei Weingewächse, die sich über ihnen ausspannen. Beide sitzen unter einer »Weinlaube« (1 Kön 5,5). Der biblische Vers gehört zur Darstellung des Königs Salomo im ersten Buch der Könige (Kap. 1-11). Dieses Buch zeigt unterschiedliche Seiten auf, die einst zu König Salomo gehört hätten, und beschreibt, wie es währenddessen im biblischen Volk zugegangen sei.36 Im Vergleich zu Darstellungen anderer biblischer Könige fällt in der zu Salomo auf, dass er keine Kriege angestrebt hat. Auf militärischen Triumph war Salomo nicht an­gewiesen (vgl. aber u. a. 1 Kön 1-2; 5,1; 11,14-25). Der biblische Text benennt das Gebiet des biblischen Volkes. Es bestand aus zwei Teilen: »Juda« und »Israel«. Nördlichster Punkt des einen Ge­ bietes war die Ortschaft »Dan«, südlichster die Ortschaft »Beerscheba« (vgl. Ri 20,1). Solange König Salomo lebte und regierte, waren Land und Leute in Sicherheit (vgl. Lev 25,18-19). Jeder und jede profitierte von ­diesem Friedenszustand (vgl. 1 Kön 5,4). Das veranschaulicht die plastische Formulierung: Alle im biblischen Volk verfügten über eigene Weinstöcke und Feigenbäume und saßen zufrieden unter diesen. Die Formulierung wählt unter allen möglichen Gewächsen zwei aus – anscheinend mit Blick auf ihre faszinierenden Früchte: Trauben und Feigen. Dieser Friedenszustand wurde in Salomos Ära eingetragen, um in der eigenen – biblischen – Geschichte an ein Goldenes Zeitalter erinnern zu können. Das Alte Testament verwendet die Redeweise von Obstgärten mit Trauben und Feigen einige Male. Damit erreicht es einen Wiedererkennungseffekt. Die Ära Salomos liegt geraume Zeit zurück, als im zweiten 36 Vgl. Martin Nitsche: Art. Salomo; https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/ (Zugriff am 12. 8. 2021).

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Buch der Könige solche Obstgärten erneut zur Sprache kommen. Diesmal mitten in einem Kriegszustand: 31Hört nicht auf Hiskija ! Denn so spricht der König von Assur: Schließt

mit mir Frieden, kommt zu mir heraus und esst – jeder von seinem Weinstock und jeder von seinem Feigenbaum – und trinkt – jeder das Wasser seiner Zisterne – (2 Kön 18,31; vgl. Jes 36,16)

Dieser biblische Vers ist der Darstellung entnommen, welche die Belagerung der Stadt Jerusalem schildert (2 Kön 18-20; vgl. Jes 36-39): Der ­assyrische Regent Sanherib hatte durch seine Militärs die Stadt in die Zange nehmen lassen. Der Regent macht in diesem Vers den eingeschlossenen Bewohner*innen von Jerusalem ein verlockendes Angebot. Wenn sie aufgeben und sich ihm unterwerfen, können sie ihre Obstgärten wieder ­nutzen. Die biblische Szene ist für die Lesenden so gestaltet, dass es bei diesen Worten spannungsvoll knistert: Entweder auf eigene prächtige Gärten verzichten oder einem diktatorischen Scheinfrieden zustimmen? Der Preis für die in Aussicht gestellte pax assyrica 37 wäre die Unterwerfung gewesen (vgl. 1 Kön 5,1). Doch die Bewohner*innen von Jerusalem hatten damals Glück im Unglück: Aufgrund anderer Entwicklungen und Umstände mussten die Assyrer unverrichteter Dinge von Jerusalem abziehen. Diese Darstellung im zweiten Buch der Könige hat verhalten eine Frage angerissen und in den Raum gestellt: Wie verhält es sich mit Gärten als Orten der Sehnsucht, wenn Erpressung und Schrecken die Oberhand ­haben? Auf dem Hintergrund dieser Frage lässt sich das biblische Buch Micha lesen: 3Er

wird Recht schaffen zwischen vielen Völkern und mächtige Natio­ nen zurechtweisen bis in die Ferne. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Lanzen zu Winzermessern. Sie erheben nicht mehr das Schwert, Nation gegen Nation, und sie erlernen nicht mehr den Krieg. 4Und ein jeder sitzt unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum und niemand schreckt ihn auf. Ja, der Mund des HERRN der Heerscharen hat gesprochen. (Mi 4,3-4) Das Buch Micha verknüpft die Trauben- und Feigengärten mit einer ­ ision von einem zukünftigen Frieden. Leitgedanke in der Vision ist, was V 37 Rainer Kessler: Micha (HT hK-AT ), Freiburg im Br. 1999, S. 186.

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in »fernen Tagen« (Mi 4,1) möglich werden wird und wozu dieser Zukunfts­ entwurf jetzt schon anzuregen vermag. Zwei Waffen sind genannt, die exemplarisch für Krieg stehen: Schwerter und Lanzen. In jener Zukunft, die avisiert ist, werden diese Waffen zu landwirtschaftlichen Geräten und zur friedlichen Nutzung umgear­beitet: Man schmiedet sie zu Pflugscharen und Winzermessern um. Weil damit dann »die Grundlage für kriegerische Auseinandersetzungen« fehlt, wird man auch nicht mehr »das Kriegshandwerk« erlernen.38 Dieser Frieden erfreut nicht mehr nur wie bei Salomo das eine biblische Volk »Juda-Israel« (1 Kön 5,5; vgl. Sach 3,10; 1 Makk 14,11-12). Im Buch Micha wird das Ensemble der Völker im Frieden leben.39 In dieser universalen Perspektive bekommt das eine Wort »jeder« in der Redeweise von den Gärten eine ganz neue Bedeutung: Jeder und jede in der Völkerwelt werden über eigenen Weinstock und Feigenbaum verfügen und unter diesen sitzen. Diesmal stehen diese Obstgärten für einen ganzheitlichen Heilszustand allerorten.40 Gärten als Orte der Sehnsucht korrelieren mit einer Sehnsucht nach universellem Frieden. Das Buch Micha entwirft eine Utopie,41 einen Gegenentwurf zu Re­ alitäten damals und heute. Das Kontrafaktische und Wünschenswerte, Gärten im universellen Frieden, wird im Buch Micha erst der biblische Gott ermöglichen können (Mi 4,1-3). Gleichwohl legt das Buch die Utopie als Anregung für seine Leser*innen dar: Was können sie dazu beisteuern, dass ein Verweilen in einem schönen Garten und Park nicht durch Krieg, Erpressung und Schrecken überschattet wird? Ähnlich gelagert ist das nächste Beispiel. 4. Garten und zwei Liebende: das Hohelied 12Ein

verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlos­ sener Born, ein versiegelter Quell. 13An deinen Wasserrinnen – ein Granat­apfelhain mit köstlichen Früchten, Hennadolden samt Nardenblüten, 14Narde, Krokus, Gewürzrohr und Zimt, alle Weihrauchbäume, M ­ yrrhe und Aloe, allerbester Balsam. 38 39 40 41

Kessler: Micha (Anm. 37), S. 187. Hierzu Kessler: Micha (Anm. 37), S. 186. Berg: Israels Land (Anm. 35), S. 43 f. Vgl. Kessler: Micha (Anm. 37), S. 176-190.

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15Die

Quelle des Gartens bist du, ein Brunnen lebendigen Wassers, das vom Libanon fließt. 16Nordwind, erwache! Südwind, herbei ! Durchweht meinen Garten, lasst strömen die Balsamdüfte ! Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von seinen köstlichen Früchten ! 1Ich komme in meinen Garten, meine Schwester Braut, ich pflücke meine Myrrhe samt meinem Balsam, ich esse meine Wabe samt ­meinem Honig, ich trinke meinen Wein samt meiner Milch. Esst, Freunde, trinkt, berauscht euch an der Liebe! (Hld 4,12-5,1) Mit Garten und Sehnsucht hat auch das dritte Beispiel zu tun. Diesmal treibt aber Anderes die Sehnsucht an: Es handelt sich um die Liebe. Eine junge Frau und ein junger Mann lieben sich. Das Beispiel gibt ihre kurzen Reden wieder.42 Beide verwenden Worte für Garten im übertragenen Sinn und ­reden in Metaphern. Ihre »metaphorische Sprache« gibt poetisch ihre »Erotik« wieder.43 Die Metaphorik gleitet aber auch in eine sogenannte Realität über.44 Lesende können die Frau im Garten wähnen und den Mann zunächst außerhalb des Gartens. Lesende können und dürfen beide derart verorten.45 Das Beispiel ist dem biblischen Buch Hohelied entnommen. Der bibelhebräische Titel dieses Buches lautet ‫( שיר ﬣשיﬧיﬦ‬šir haširim) und dieser Titel bedeutet superlativisch »Lied der Lieder«. Das Buch Hohelied enthält 27 einzelne Lieder46 und unser Beispiel ist eines von diesen Liedern. Die einzelnen Texte im Hohelied werden durch die Protagonistin, eine ­Liebende, und den Protagonisten, ihren Geliebten, als eine Einheit zu­ sammengehalten. Im ganzen Buch werden 52,6 % der Verse von der Frau gesprochen, 28,6 % vom Mann. Ihr Redeanteil liegt im Buch also höher als sein Anteil.47 In diesem Ausschnitt kommt aber er breiter zum Zuge. In den meisten Gesprächen des Buches Hohelied hat die Frau das letzte Wort. Dieser Ausschnitt endet mit einer Äußerung des Mannes.48 42 Abgrenzungen und Identifizierungen nach Yair Zakovitch: Das Hohelied (HThK-AT), Freiburg 2004, S. 198 f.; für andere Identifizierungen spricht sich Yvonne Sophie Thöne aus; Yvonne Sophie Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld. Raum und Geschlecht im Hohelied, Münster 2012, S. 275-287. 43 Hierzu Jürgen Ebach: Im Garten der Sinne: Pardes und PaRDeS – das Paradies und der vierfache Schriftsinn, in: ders. u. a.: »Schau an der schönen Gärten Zier …«. Über irdische und himmlische Paradiese. Zu Theologie und Kulturgeschichte des Gartens (Jabboq 7), Gütersloh 2007, S. 242-285, 274. 44 Vgl. Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 82 f. 45 Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 45. 46 So Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 31. 47 Die Statistik nach Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 46. 48 Hierzu Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 46.

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Die kurzen Anmerkungen zu diesem Lied verzichten auf Abbildungen altorientalischer Funde. Passende Funde gäbe es zwar.49 Doch diesmal wird es bei einem Hinweis auf das alte Ägypten bleiben. Die Lyrik des Liedes wirkt im Vorstellungsvermögen ihrer Leser*innen und Hörer*innen. Diese Wirkung soll auch jetzt im Vordergrund stehen. Das Lied beginnt mit einer Rede des Mannes: 12Ein

verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlos­ sener Born, ein versiegelter Quell. 13An deinen Wasserrinnen – ein Granatapfelhain mit köstlichen Früchten, Hennadolden samt Narden­ blüten. (Hld 4,12-13) Er nennt seine Braut »meine Schwester«. Solch eine Bezeichnung ist nicht ungewöhnlich (Hld 4,9.10; 5,1-2). In altägyptischen Liebesdichtungen redeten sich Liebende häufig als Bruder und Schwester an und bekundeten so untereinander ihre enge Beziehung.50 Für uns ist wichtiger, dass der Mann die Geliebte mit einem Garten identifiziert.51 Er vergleicht sie nicht nur mit einem Garten. Ein ver­ gleichendes Wie benutzt er nicht.52 Für ihn ist sie ein prächtiger Garten. So entfaltet der Mann, was diesen Garten ausmacht. Der Garten ist be­ wässert. Zu ihm gehören Born bzw. »Teich«,53 Quelle und Wasserrinnen. In diesem Garten sprießt es: Er ist ein Park (pardes) mit Granat­apfelBäumen. Die zwei weiteren Gewächse, die er erwähnt, sind Duft­kräuter: Henna (Hld 1,14; 4,13) und Narden (vgl. Hld 1,12; 4,13.14). Der Garten – poetisch für die Geliebte stehend – riecht angenehm und anziehend. Die Rede des Mannes eröffnet das Lied zugleich mit einer Art Ent­ täuschung. Er weiß zwar offensichtlich Einiges über den herrlichen Garten, aber ein Zutritt zu diesem ist nicht möglich. Der Garten ist verschlossen. Das wird anscheinend noch gesteigert: Der Quell ist versiegelt. Ein Schloss lässt sich vielleicht noch unbemerkt öffnen, aber das Öffnen eines Siegels bleibe wahrscheinlich nicht verborgen.54 Die Frau fällt gleichsam in die Rede des Mannes ein: »14Narde, Krokus, Gewürzrohr und Zimt, alle Weihrauchbäume, Myrrhe und Aloe, aller­ bester Balsam.« (Hld 4,14) 49 Dazu Beispiele in Othmar Keel: Das Hohelied (ZBK-AT 18), 2. Aufl., Zürich 1992, S. 156-173. 50 Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 63, 193 f. 51 Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld (Anm. 42), S. 277. 52 Vgl. Ebach: Im Garten der Sinne (Anm. 43), S. 278 f. 53 Hierzu Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 200 f. 54 Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 201.

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Der Geliebte hatte gerade mit »Nardenblüten« geendet. Die Geliebte setzt mit »Narde« ein und zählt weitere Wunderdinge auf, die der Garten birgt. Zu den Wunderdingen gehört wieder Duftendes wie »Gewürzrohr«. Ihre Aufzählung steigert den Eindruck, dass der Garten etwas Exotisches hat: So wächst bspw. die von ihr erwähnte »Myrrhe« in »Somalia und Südarabien«.55 Wie der Geliebte Verlangen nach der Geliebten hat, so scheint sie ihn darin mit ihren Worten bestärken zu wollen. Der Liebende bezieht sich danach nicht direkt auf ihre verführerischen Worte: »15Die Quelle des Gartens bist du, ein Brunnen lebendigen ­Wassers, das vom Libanon fließt.« (Hld 4,15) Der Mann kehrt zu einem Thema seiner ersten Rede zurück: zu den Wassern des Gartens. Gleichwohl scheinen die Worte der Liebenden bei ihm Spuren hinterlassen zu haben. Denn im Unterschied zu seiner ersten Rede ist in seiner zweiten Rede der Quell nicht mehr versiegelt. Und auch der Garten mutet nicht mehr hermetisch verschlossen an. Das Wasser kommt von weit her: vom Libanon. Das Wasser vom Libanon galt im antiken Israel als besonders gut (vgl. 2 Kön 19,23-24; Jer 18,14). In ihrer letzten Rede im Lied lässt die Liebende Andeutungen und Worte des Geliebten widerhallen:56 »16Nordwind, erwache! Südwind, ­herbei ! Durchweht meinen Garten, lasst strömen die Balsamdüfte! Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von seinen köstlichen ­Früchten!« (Hld 4,16) Sie redet zuerst vom »Nordwind«, was räumlich den »Libanon« aufgreift, mit dem gerade der Geliebte geendet hat. Sie endet in ihrer Rede mit den »köstlichen Früchten«, mit einem Stichwort, das anfangs ihr Geliebter aufgebracht hat (Hld 4,13). Die Liebende hat dem Liebenden anscheinend achtsam zugehört. Die liebende Frau führt den Dialog aber auch recht originell fort. Dem Nordwind gesellt sie den Südwind hinzu und kreiert so eine Raumachse. Sie bringt mit den Winden eine neue Dynamik ins Spiel. Sowohl von Nord als auch von Süd her soll ihr Garten durchweht werden und so seine Düfte, wie die Balsamdüfte, entfalten. Die Liebende ist es nun, die das Neue auf den Punkt bringt. Tatsächlich ist für den Geliebten der Garten nicht mehr verschlossen. Der Garten ist zugänglich. Anscheinend ist der Garten einzig dem Geliebten zugänglich. Sie fordert ihren Geliebten auf, in den Garten zu kommen und von seinen köstlichen Früchten zu essen. Beide Handlungen, Kommen und Essen,

55 Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 130. 56 Details bei Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 205 f.

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dienen im Bibelhebräischen als Chiffre:57 Sie lädt ihren Geliebten zur ­intimen Vereinigung ein. Die Liebende spricht zuerst von ihrem Garten: »mein Garten«. Danach erklärt sie diesen Garten zum Garten des Geliebten: »sein Garten.« Yvonne Sophie Thöne hielt zu dieser Rede der Frau fest: »Sie präsentiert sich in ihrer Rede als selbstbewusst und bestimmt, fordert sie doch die Winde sowie ihren Geliebten zum Handeln auf.«58 In seiner anschließenden Rede bekundet der Geliebte zunächst, dass er ihren und seinen Wunsch erfüllt:59 1Ich

komme in meinen Garten, meine Schwester Braut, ich pflücke meine Myrrhe samt meinem Balsam, ich esse meine Wabe samt ­meinem Honig, ich trinke meinen Wein samt meiner Milch. Esst, Freunde, trinkt, berauscht euch an der Liebe! (Hld 5,1) Der Geliebte spricht nicht nur wie sie davon, dass er in den Garten kommt und isst. Er redet zudem auch davon, dass er pflückt und trinkt.60 Zum Schluss bricht er etwas abrupt die Atmosphäre des Zwiegesprächs ab. Der Mann versetzt die Leser*innen in eine Situation, in der er »Freunde« anredet:61 Wahrscheinlich fordert er seine Gefährten dazu auf, es ihm gleich­ zutun. Sie sollen sich in ihrem geschützten Garten-Raum, sich mit ihrer »Schwester Braut« der Liebe hingeben: »berauscht euch an der Liebe!« Für etliche Forscher*innen gehört zu diesem Lied von Garten und Liebe innerhalb des Alten Testamentes ein Subtext. Mit Subtext ist ein Text gemeint, der mitgehört wird. Dieser Subtext ist in diesem Falle die GartenEden-Erzählung (Gen 2,4-3,24) und damit unser erstes Beispiel aus dem Genesis-Buch.62 Worte und Motive verknüpfen intertextuell das Lied im 57 Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld (Anm. 42), S. 285. 58 Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld (Anm. 42), S. 286. 59 Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 206. Zur ganzen Rede des Mannes s. Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), S. 206-208. 60 Zur Diskussion der hebräischen Zeitformen in Hld 5,1, »ich komme« oder »ich kam« usw., Ebach: Im Garten der Sinne (Anm. 43), S. 273 mit Anm. 101. 61 Zu anderen Lesarten der letzten Zeile in Hld 5,1 vgl. Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld (Anm. 42), S. 285 f. Thöne selbst favorisiert mit Jo Cheryl Exum, dass hier die Töchter Jerusalems, die im Buch der Protagonistin zugordnet sind (Hld 2,7; 3,5; 8,4), zu Wort kommen; Jo Cheryl Exum: Song of songs. A commentary (OTL), Louisville 2005, S. 182 f. 62 Vgl. Zakovitch: Hohelied (Anm. 42), u. a. S. 199 f., 209. Zu Liebeslyrik im Hohelied und den ersten Kap. der Genesis s. die Literaturangaben bei Ebach: Im Garten der Sinne (Anm. 43), S. 276 mit Anm. 107-111 und bei Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld (Anm. 42), S. 81-83.

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Hohelied-Buch mit der Erzählung im Buch Genesis.63 Anders gesagt: Beide Texte führen vor den Lesenden, die sich darauf einlassen, ein Gespräch. Das Lied im Hohelied-Buch präsentiert einen Gegenentwurf zur Erzählung im Buch Genesis und bei diesem Entwurf spielt der Garten eine zentrale Rolle. Das sei kurz angedeutet: Beide Male erscheinen die Gärten bewässert und in ihnen sprießen beeindruckende Pflanzen. Aus dem Garten Eden in der Genesis wurden Frau und Mann vertrieben, weil sie Verbotenes gegessen haben. Der Garten Eden, der Wonne-Garten in der Genesis-Erzählung war am Ende für Frau und Mann verschlossen. Im Lied des Hohelied-Buches ist der Garten nur zu Anfang verschlossen. Der Garten im Lied bleibt nicht verschlossen, wird zugänglich und betreten. Im Hohelied-Buch wird vom Garten ge­ gessen, was den intimen Liebesvollzug andeutet. Zur Story in der Garten-Eden-Erzählung der Genesis bietet das Liebeslied im Hohelied-Buch also eine Gegenstory. Die Gegenstory ist ins­ besondere her-story.64 Denn sie, die Geliebte, ist – wie gesehen – der Garten und sie weilt zugleich im Garten. Sie ist es zudem, die ihren ­Geliebten zum Eintritt in den Garten auffordert. Die veränderte Konstellation, in welcher die Liebenden im HoheliedBuch stehen, wird in einem weiteren, ebenso deutlichen Echo des Hohelied-Buches auf die Eden-Erzählung in der Genesis deutlich: »16Zur Frau sprach er: Viel Mühsal bereite ich dir und häufig wirst du schwanger werden. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Nach deinem Mann hast du Verlangen und er wird über dich herrschen.« (Gen 3,16) – »11Ich gehöre meinem Geliebten und ihn verlangt nach mir.« (Hld 7,11) Gott hatte in der Genesis-Erzählung den Menschen die ambivalenten Realitäten außerhalb des Gartens Eden vor Augen geführt. Für die Frau gehört zunächst – nur – dazu, dass sie »Verlangen nach ihrem Mann« haben wird. Doch vom Mann wird dieses Verlangen nicht gleichartig beantwortet werden. Stattdessen wird der Mann seine Frau beherrschen (Gen 3,16). Das Hohelied-Buch greift das auffällige65 Motiv Verlangen auf, tauscht aber Frau und Mann und redet nun vom Verlangen des Mannes nach der Frau (Hld 7,11). Entscheidend ist im Hohelied-Buch, dass die Herrschaft des Mannes über die Frau gebrochen ist und dass ein solches Herrschen beim Miteinander der beiden nicht infrage kommt. In der Liebe, welche das Hohelied-Buch vor Augen führt, ist die Lust der Frau nicht der männ63 Vgl. die Tabelle zu lexikalischen Übereinstimmungen zwischen dem Buch Hld und Gen 2,4-3,24 in Thöne: Liebe zwischen Stadt und Feld (Anm. 42), S. 313. 64 So Ebach: Im Garten der Sinne (Anm. 43), S. 277. 65 Zu den Details Ebach: Im Garten der Sinne (Anm. 43), S. 277 f.

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lichen Herrschaft unterworfen und anscheinend deshalb bleibt im be­ sprochenen Lied des Hohelied-Buches der Garten nicht verschlossen.66 Im ganzen Hohelied-Buch durchleben die Liebenden unterschiedliche Situationen. Sie sind eng zusammen, verlieren einander, finden sich wieder und erleben unterschiedliche Situationen.67 Nur eine einseitige Herrschaft-­ Dominanz kommt in diesen Situationen der Liebenden nicht vor. Das besprochene Lied handelt zwar in »verhüllter«, aber nicht auf »verstellte Weise« von Liebe.68 Diese Liebe liest sich vor dem Hintergrund der Genesis-Erzählung als eine Rückkehr in den paradiesischen Garten. Und in gesamtbiblischer Perspektive kann sie auch als ein Vorgeschmack auf einen zukünftigen Garten gelesen werden – auf einen zukünftigen Zustand, in dem gut sein ist. Beide Texte, die Erzählung und das Lied, variieren vielfältig Aspekte am und zum Garten: Garten mal als abgegrenzter Ort, mal als Mittelpunkt der Welt, mal als Stätte der Sehnsucht, mal verbunden mit Verlust, mal mit Gewinn und nicht zuletzt als personifizierte Liebende. Ein Garten ist nicht nur ein Garten. Die Realien Gärten können nicht nur in der Bibel ganze Metaphern- und Bedeutungswelten entlassen. Gertrude Stein (*1874, †1946) prägte den Satz: »Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.« Würde ihr berühmter Satz nur dyadisch lauten »Eine Rose ist eine Rose«, ließe er sich eventuell als bloße Tautologie abtun. Das Diktum von Gertrude Stein schreitet aber weiter: »Rose is a rose is a rose is a rose.« Endlos, ad infinitum, lässt sich über eine Rose nachsinnen und über das, wofür sie stehen kann. Jürgen Ebach hat Gertrude Steins Vorlage für das Zusammenspiel zwischen dem Lied im Hohelied-Buch und der Genesis-Erzählung aufgegriffen. Ebach formuliert zum Garten am Anfang von Frau und Mann und zum Garten der Liebenden im Hohelied-Buch:69 »Ein Garten ist ein Garten ist ein Garten.«

66 Ebach: Im Garten der Sinne (Anm. 43), S. 277. 67 Hierzu die Studie von meiner Promovendin Sarah Fischer: »Der Liebe Raum schaffen«. Raum-anthropologische Untersuchungen zum Hohelied in kanonisch-inter­ textueller Perspektive zu Spr 7 (ET hSt), Würzburg 2022. 68 Ebach: Im Garten der Sinne (Anm. 43), S. 280. 69 Ebach: Im Garten der Sinne (Anm. 43), S. 272-275; die Ausführungen hierzu Ebach: Im Garten der Sinne (Anm. 43), S. 279 mit Anm. 117.

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5. Schlussreflexionen

Dieser Beitrag hat bezüglich des Gartens in der Bibel nur Weniges behandelt. Es gäbe noch eine Fülle an Interessantem zu nennen. So reflektiert die Bibel über historische Umbrüche auch anhand von Garten-Sprachbildern: Im Buch Ezechiel nimmt sich der Niedergang einer stolzen Metropole (Tyrus in Ez 28,11-19)70 oder Großmacht (Assur [und Ägypten] in Ez 31,1-18)71 so aus, als hätten diese ihren Platz in einem Garten verloren. Texte in der Bibel laden ihre Leser*innen ein, Bilder der Hoffnung in ihrer kritischen Lage zu erträumen: So gestaltet im Buch Jesaja Gott aus Trümmerstätte, Wüste und Steppe ein Eden-Wonne-Gebiet und einen Gottesgarten (Jes 51,3).72 Von einer hellen Zukunft geht das Buch Ezechiel aus – von einer noch kommenden Zeit, in der eine Quelle aus dem Tempel die buchstäblich kärgste Gegend für Menschen in eine üppige Landschaft verwandeln wird (Ez 47,1-12).73 Im Neuen Testament verortet das Johannesevangelium Stationen der Passion, der Leidens­ geschichte Jesu in oder bei einem Garten (Joh 18,1.26; 19,41) und diese Garten-Topologie ermöglicht in diesem neutestamentlichen Buch eines der produktivsten Missverständnisse: Maria Magdalena hält den Überwinder des Todes, den auferstandenen Jesus (Joh 20,11-17), für den »Gärtner« (20,15), der sich dann als ihr »Lehrer« (20,16) entpuppt.74 Keineswegs stellt die Bibel ein Handbuch zum Garten dar. Allerdings spielt in mehreren Zusammenhängen der Bibel der Garten eine zentrale Rolle zusammen mit dem, wofür Gärten stehen können. Gärten in der Bibel sind Teil eines kulturgeschichtlichen Phänomens. Die Bibel spiegelt in kleinen Ausschnitten die kulturgeschichtliche Relevanz von Gärten und Parkanlangen wider. Wer daneben die Bibel als – wie Erich Zenger sie nannte – »Lern- und Lebensbuch«75 ansieht oder sie als Glaubensbuch liest, für den und für die können seine Gärten und Gartenbilder auch Dimensionen der biblischen Religionen eröffnen. 70 Hierzu Crüsemann / Crüsemann: Die Gegenwart des Verlorenen (Anm. 34), S. 29 f.; Franz Sedlmeier: Das Buch Ezechiel. Kapitel 25-48 (NSK-AT 21 /2), Stuttgart 2013, S. 58-65. 71 Hierzu Crüsemann / Crüsemann: Die Gegenwart des Verlorenen (Anm. 34), S. 30-32; Sedlmeier: Ezechiel (Anm. 70), S. 97-112. 72 Hierzu Crüsemann / Crüsemann: Die Gegenwart des Verlorenen (Anm. 34), S. 38 f. 73 Hierzu Sedlmeier: Ezechiel (Anm. 70), S. 319-327. 74 Hierzu Magdalene L. Frettlöh: Christus als Gärtner. Biblisch- und systematischtheologische, ikonographische und literarische Notizen zu einer messianischen Aufgabe, in: »Schau an der schönen Gärten Zier …«. Über irdische und himmlische Paradiese. Zu Theologie und Kulturgeschichte des Gartens (Jabboq 7), hg. von Jürgen Ebach u. a., Gütersloh 2007, S. 161-203. 75 S. den Sammelband Erich Zenger: Mit Gott ums Leben kämpfen. Das Erste Testament als Lern- und Lebensbuch, hg. von Paul Deselaers / Christoph Dohmen, Freiburg  i. Br. / Basel / Wien, 2020.

Zu Garten und Park in der Bibel

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Abbildungen Abb. 1: Keel, Othmar: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, 5. Aufl., Göttingen 1996, Abb. 202. Abb. 2: Keel, Othmar: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, 5. Aufl., Göttingen 1996, Abb. 153a. Abb. 3: Keel, Othmar: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, 5. Aufl., Göttingen 1996, Abb. 165. Abb. 4: Keel, Othmar: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, 5. Aufl., Göttingen 1996, Abb. 189. Abb. 5: Keel, Othmar: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, 5. Aufl., Göttingen 1996, Abb. 191. Abb. 6: Zeichnung von Anne Horrenberger, entnommen aus: Jean-Claude Margueron: Die Gärten im Vorderen Orient, in: Der Garten von der Antike bis zum Mittelalter, hg. von Maureen Carroll-Spillecke, Mainz 1992, S. 45-80, hier S. 49.

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Der frühe südasiatische Garten Sinnlichkeit und Spiritualität rund um die Stadt1 Sara Keller

Da einer der großen Mängel Hindustans der Mangel an fließendem Wasser ist, kam mir immer wieder der Gedanke, dass man das Wasser mit Hilfe von Brunnen zum Fließen bringen sollte, […] und dass das Gelände in geordneter und geometrischer Weise angelegt werden sollte.2 (Bāburnāma) Diese Bemerkung des Großmoguls Babur (reg. 1526-1530) veranlasste britische Historiker des 19. Jahrhunderts dazu, die ehrgeizigen mogulischen Gartenprojekte des 16. bis 18. Jahrhunderts (s. Abbildung 1) als die einzige nennenswerte indische Gartentradition zu interpretieren. Dieser Interpretation folgend, hat die moderne Kunstgeschichte den Mogulgarten lange Zeit als ein hochentwickeltes landschaftsgestalterisches Objekt betrachtet, das ohne nennenswerte lokale Vorgeschichte entstand.3 »Gärten in früheren Perioden waren einfach nicht existent.«4 Diese Behauptung ist so überraschend wie falsch. Aufgrund dieser Fehlinterpretation erfreute sich der Garten der Moguln eines großen Interesses und war Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Untersuchungen. Im 20. Jh. »löste [er] weiterhin große Begeisterung aus und inspirierte sowohl zu spezifischen Studien als auch zu synthetischen Übersichten«.5 Besonders bemerkenswert sind die Forschungen des Architekten James Wescoat und der Kunsthistorikerin Ebba Koch.6 Mein Beitrag 1 Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (FOR 2779). 2 Annette Susannah Beveridge: Bāburnāma. The Babur-Nama in English (Memoirs of Babur), Vol. 2, London 1922. Alle Übersetzungen aus der englischen Fachliteratur in diesem Beitrag stammen von der Autorin Sara Keller. 3 Ali und Flatt stellen fest, dass »das Thema unserer Konferenz mit verwirrter Skepsis und Ungläubigkeit von einigen Experten betrachtet wurde, die es als ›kurzlebig‹ und – mit einem Hauch von Sarkasmus – als ›faszinierend‹ bezeichneten«; Daud Ali / Emma J. Flatt (Hg.): Garden and Landscape Practices in Pre-colonial India. Histories from the Deccan, London / New York / Delhi 2012, S.  3. 4 Aus Sicht der Sekundärliteratur: Ali / Flatt (Anm. 3), S. 3. 5 Ali / Flatt (Anm.  3), S.  2. 6 James L. Wescoat Jr. / Joachim Wolschke-Bulmahn (Hg.): Mughal Gardens. Sources, Places, Representations, and Prospects. Washington, D. C. 1996; James L. Wescoat Jr.:

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Abb. 1: Die Taj Mahal-Anlage in Agra (1790-1810)

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zielt nicht darauf ab, diese reichhaltige Diskussion zusammenzufassen, sondern vielmehr die Unsichtbarkeit des vormogulischen Gartens zu er­ örtern.7 Ist diese Unsichtbarkeit gerechtfertigt und wie können wir das Wesen des frühen und mittelalterlichen südasiatischen Gartens erfassen? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich die bahnbrechenden Publika­ tionen des Historikers Daud Ali über den frühen indischen Garten heranziehen.8 Seine Arbeit eröffnete völlig neue Perspektiven und zeigte das immense Potenzial von Literaturwissenschaft, Epigraphik und Archäologie für die Erforschung des frühen indischen Gartens. Sein Sammelband mit Emma Flatt über Garden and Landscape Practices in Pre-colonial India versucht, »die scheinbare Sackgasse zu überwinden, in der sich die Diskussion über südasiatische Gärten in nicht-mogulischen Kontexten befand«.9 Alis Erkenntnisse werden vorteilhaft ergänzt durch die archäologische Forschung zu den Gärten Sri Lankas von Bandaranayake,10 die historischen und kunsthistorischen Aufsätze zu buddhistischen Anlagen von Landscapes of Conquest and Transformation. Lessons from the Earliest Mughal ­Gardens in India, 1526-1530, in: Landscape Journal 10(2), 1991, S. 105-114; James L. Wescoat Jr.: The Changing Cultural Space of Mughal Gardens, in: A Companion to Asian Art and Architecture, hg. von Rebecca M. Brown / Deborah S. Hutton, Chicester 2011, doi:10.1002 /9781444396355.ch9, S. 201-229; Ebba Koch: Mughal Palace Gardens from Babur to Shah Jahan (1526-1648), in: Muqarnas 14, 1997, S. 143-165; Ebba Koch: The Complete Taj Mahal and the Riverfront Gardens of Agra, London 2006; auch Mahmood Husain et al. (Hg.): The Mughal Garden. Interpretation, Conservation, Implications, Lahore 1996; Attilio Petruccioli (Hg.): Gardens in the Time of the Great Muslim Empires, Leiden 1997. 7 Mein Beitrag betrachtet den Vor-Mogul-Garten in einer größeren historischen Perspektive und ist nicht auf die unmittelbare Vor-Mogul-Zeit beschränkt. Zu den Gärten der Sultanate siehe Yves Porter: Jardins pré-moghols, in: Jardins d’Orient 3, Res Orientales Bd. 3, hg. von Rika Gyselen, Paris 1991, S. 37-53; Ronald Inden: Paradise on Earth. The Deccan Sultanates, in: Garden and Landscape Practices in Precolonial India. Histories from the Deccan, hg. von Daud Ali / Emma J. Flatt, London / New York / Delhi 2012, S. 74-97; Klaus Rötzer / Pushkar Sohoni: Nature, Dams, Wells, and Gardens. The Route of Water in and around Bidar, in: Garden and Landscape Practices in Pre-colonial India. Histories from the Deccan, hg. von Daud Ali /Emma J. Flatt. London, New York, Delhi 2012, S. 54-73. 8 Daud Ali: Gardens in Early Indian Court Life, in: Studies in History 19(2), 2003, doi:10.1177 /025764300301900204, S. 221-252; Daud Ali: Botanical Technology and Garden Culture in Someśvara’s Mānasollāsa, in: Garden and Landscape Practices in Pre-colonial India. Histories from the Deccan, hg. von Daud Ali / Emma J. Flatt, London / New York / Delhi 2012, S. 39-53; Daud Ali: Bhoja’s Mechanical Garden: Translating Wonder across the Indian Ocean, circa 800-1100 CE , in: History of ­Religions 55(4), 2016, S. 460-493; Ali / Flatt (Anm. 3). 9 Ali / Flatt (Anm.  3), S.  5. 10 Senake Bandaranayake: Amongst Asia’s Earliest Surviving Gardens. The Royal and Monastic Gardens at Sigiriya and Anuradhapura, in: Historic Gardens and Sites, hg.

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Schopen11 und Shimada,12 die Publikation über frühe Einsiedeleien von Sinha13 und die Beschreibung der Gartenphantasien von Dasgupta.14 ­Neben dieser Sekundärliteratur werden wir uns die Hinweise auf Gärten in der frühen religiösen und wissenschaftlichen Sanskrit-Literatur an­ sehen. Obwohl wir keine Belege für eine Abhandlung spezifisch über Gartengestaltung haben, können verschiedene frühe Texte über Botanik, Hausbau und erotische Kunst interessante Einblicke in die Form, die ­Bedeutung und die Pflege früher Gärten geben. Diese Quellen machen deutlich, dass wir es mit einer großen Vielfalt regionaler Stile, historischer Entwicklungen und funktionaler Fluk­ tuation zu tun haben. Über diese Vielfalt hinaus verweisen sie auch auf die Verflechtung von Spiritualität und Sinnlicheit als herausragenden ­roten Faden der Gartenatmosphäre früher südasiatischer Gärten. Diese verbinden den sinnlichen Genuss, als höchste körperliche Erfahrung, mit dem Erlebnis des Übernatürlichen, als Einblick in die höchste geistliche Erfahrung. Sinnliches Erleben und Bewundern sind über Jahrhunderte hinweg und unabhängig von der Religionszugehörigkeit die zentralen Stichwörter für die Beschreibung des frühen indischen Gartens.15 Dies macht ihn heute zu einem besonders interessanten Studienobjekt im Z ­ usammenhang mit der steigenden Virtualisierung von Aktivitäten und menschlichen Inter­ aktionen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften zeigen, dass sensorische Stimuli eine Weltbeziehung schaffen, die Ver­bundenheit, Freude und von Sri Lanka Committee of ICOMOS, Colombo 1993; Senake Bandaranayake: ­Sigiriya. City, Palace and Royal Gardens, Issue 270, Colombo 1999. 11 Gregory Schopen: The Buddhist »Monastery« and the Indian Garden. Aesthetics, Assimilations, and the Siting of Monastic Establishments, in: Journal of the American Oriental Society 126(4), 2006, S. 487-505. 12 Akira Shimada: The Use of Garden Imagery in Early Indian Buddhism, in: Garden and Landscape Practices in Pre-colonial India. Histories from the Deccan, hg. von Daud Ali / Emma J. Flatt, London / New York / Delhi 2012. 13 Kanad Sinha: Envisioning a No-Man’s Land. Hermitage as a Site of Exemption in Ancient and Early Medieval Indian Literature, in: Medieval worlds 6, 2017, S. 20-39. 14 Nupur Dasgupta: Gardens in Ancient India. Concepts, Practices and Imaginations, in: Puravritta Journal of the Directorate of Archaeology & Museums 1, 2016, S. 133-151. 15 Für eine Rekonstruktion der Sinneserfahrung im Mogulgarten siehe die Ausstellung »Bagh-e Hind: Resurrected Scentscapes of 17th & 18th Century India« (Anjana Premchand: Stop and Smell the Roses Virtually, in: Marg Magazine, 18. 12. 2021; https:// marg-art.org/blog/stop-and-smell-roses-virtually [Zugriff am 20. 4. 2022]); Bharti Lalwani: Bagh-e Hind. Resurrected Scentscapes of 17th & 18th Century India, Bagh-e-­ Hind Exhibition, 10. 8. 2021, https://www.baghehind.com/post/bagh-e-hind) (Zugriff am 20. 4. 2022).

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Aufregung sowie das Gefühl der Zugehörigkeit er­zeugen.16 In diesem Zusammenhang wurde das Konzept des »senso­rischen Designs« in der Architektur und im Objektdesign seit den 1990er Jahren konzipiert und erforscht. Solche praktischen Erkundungen erkennen als Ausgangspunkt die Tyrannei des Auges oder die Theorie des »Okularzentrismus« der westlichen Tradition an, wonach das Auge Wissen und Erleuchtung symbolisiert.17 Die visuelle Beobachtung ist die Grundlage der modernen Wissenschaft, und (sym­metrische oder naturähnliche) visuelle Perspektiven sind eine wieder­kehrende Leitlinie in der Architektur und Garten­ gestaltung. Der Augenzentrismus entwickelte sich auf Kosten einer um­ fassenden, multisensorischen Erfahrung, die die Konzentration aktiviert und eine ausgewogene Be­ziehung zur Umwelt fördert. Neuere Theorien und Experimente zum »sensorischen Design« tendieren dazu, multisensorische Stimuli zu ­f ördern, um Verbindungen und Kohärenz zu schaffen.18 In diesem Zusammenhang könnte das Studium des frühen südasiatischen Gartens eine Inspiration für unsere heutige Suche nach Sinnes­ eindrücken sein. Allerdings konzentriert sich dieser Aufsatz auf die Beschaffenheit des frühen südasiatischen Gartens, also auf die Quellen der Sinneseindrücke.19 Wie sah ein indischer Garten vor der Mogulzeit aus? Ist das Wort »Garten« geeignet, um die Realität der anthropogenisierten Landschaften in der Frühzeit Südasiens zu beschreiben? Was waren seine 16 Siehe die Werke des französischen Philosophen Merleau-Ponty und anderer Phäno­ menologen (Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris 1976; Juhani Pallasmaa: The eye of the skin, Chicester 1996). Siehe auch die Werke des Soziologen Hartmut Rosa über Leib, Sinne und Weltbeziehung (Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschafts­ kritik, Berlin 2012, Teil 1, Paragraph 3). 17 Ellen Lupton / Andrea Lipps: Why sensory design?, 2018; https://www.cooperhewitt. org/2018/04/03/why-sensory-design/ (Zugriff am 20. 4. 2022). Zum Okkularzentrismus siehe Pionierarbeit von Pallasmaa: The eye of the skin (Anm. 16), S. 15-22, siehe auch Katarina Rukavina: »Ocularcentrism« or the Privilege of Sight in Western Culture. The Analysis of the Concept in Ancient, Modern, and Postmodern Thought, in: Filozofska Istrazivanja 32(3), 2013, S. 539-556; Hannah Macpherson: Landscape’s Ocular Centrism – and beyond?, in: Proceedings of the Frontis Workshop. From Landscape Research to Landscape Planning. Aspects of Integration, Education and Application, hg. von Gunther Tres u. a., Dordrecht 2005, S. 95-104. 18 Macpherson: Ocular Centrism (Anm. 17). 19 Eine ausführliche räumliche Studie über den Garten und die Stadt im frühen und mittelalterlichen Südasien findet sich demnächst bei Sara Keller: Alternative Urbanities. Mapping gardens and reservoirs in pre-modern Indian citites (the case of ­Vadnagar), in: Religion and Urbanity Online, im Erscheinen. An dieser Stelle möchte ich insbesondere der Denkmalpflegerin Meera Dass für unseren anregenden Austausch danken. Auch den fruchtbaren Diskussionen mit Jens-Uwe Hartmann verdankt dieses Papier viel.

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Bestandteile? Wir werden auch die binäre Dimension des Raums hinterfragen, wobei eine räumliche Einheit nicht auf ihre Materialität reduziert werden kann, sondern auch ein bedeutendes immaterielles Leben hat. In Anlehnung an den theoretischen Rahmen von Lefebvre zur »Production of space«20 und Foucault über Heterotopia21 werden wir uns mit dem Imaginären und den ontologischen Archetypen des südasiatischen Gartens beschäftigen. Der Beitrag behandelt diese Themen in drei Hauptpunkten: Zunächst wird die Frage der Existenz des vormogulischen Gartens erörtert. Warum ist der frühe südindische Garten unsichtbar und welches Werkzeug können wir nutzen, um ihn zu beleuchten? Dann werde ich Elemente vorschlagen, die zu einer vorläufigen Rekonstruktion beitragen könnten. Schließlich werde ich mich mit den religiösen, kulturellen und sozialen Bedeutungen des Gartens befassen und untersuchen, wie diese Vorstellungen an der »Produktion« des Gartens beteiligt waren. 1. Der unsichtbare südasiatische Garten Unsichtbarkeit im Garten

Mehrere Aspekte tragen dazu bei, dass der vormogulische Garten in der Literatur unsichtbar geblieben ist. Der offensichtlichste Grund dafür ist das Fehlen materieller Zeugnisse. Abgesehen von einigen kürzlich ent­ deckten Anlagen wie Sigiriya22 besteht die historische Gartenlandschaft Südasiens aus den Errungenschaften der Sultanate und Moguln in Nordindien. Dies lässt sich durch den ephemeren Charakter der botanischen Anlagen und die Unbeständigkeit der Gärten erklären. Gärten sind fragiler als Baudenkmäler, und so werden die Zeugnisse seltener, je weiter wir in der Zeit zurückgehen. Die häufige Verwendung von Holz und Ziegeln in der frühen indischen säkularen und lokalen Architektur trug ebenfalls zum Verschwinden der architektonischen Zeugnisse aus der vormogulischen Zeit bei (in Ahmedabad z. B., der historischen Hauptstadt von Gujarat, wurden die ältesten aufgezeichneten havelī-s, oder bürgerliche Wohn­ häuser, von dem Ahmedabad Heritage Cell auf das 17. Jahrhundert datiert). Darüber hinaus scheinen die architektonischen und landschaftlichen Projekte der Moguln sowohl räumlich (die frühen Gärten verschwanden im 20 Henri Lefebvre: La production de l’espace, in: L’Homme et la société Année 31-32, 1974, S. 15-32. 21 Michel Foucault: Des espaces autres, in: Empan 54(2), 2004, doi:10.3917/ empa.054.0012, S. 12-19. 22 Und benachbarte Anlage in Sri Lanka; Bandaranayake: Surviving Gardens (Anm. 10); Bandaranayake: Sigiriya (Anm. 10).

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Zuge der Urbanisierung und der Erweiterung der Paläste) als auch konzeptionell (die vormogulischen Gärten wurden entsprechend der zeitgenössischen Landschaftstrends umgestaltet) die früheren Grünanlagen verdrängt zu haben. Der Mangel an archäologischen Zeugnissen früher Gärten wirkt sich heute ebenfalls negativ auf die Entwicklung der Erforschung des ­Gegenstands aus: Leider sind wir noch nicht hinreichend gerüstet, um einen frühen Garten vor Ort zu erkennen. In der Tat könnte unsere ­Unkenntnis zur Zerstörung von Gartenfunden bei Ausgrabungen und ­Ge­ländeprojekten beitragen.23 Die britischen Archäologen des 19. Jahrhunderts setzten dieser scheinbaren Abwesenheit des frühen indischen Gartens die architektonischen Errungenschaften der zeitgenössischen Epochen entgegen. Monumentale, freistehende Bauten waren für sie die primäre Referenz für die historische Substanz. Mit anderen Worten: Eine Grünfläche ohne Ordnung und dauerhafte Landmarken wurde nicht als Garten anerkannt. Im Rahmen der Entwicklung einer neuen Gartenästhetik in England vermittelte der Raum die Illusion einer unberührten Landschaft. Es handelte sich jedoch um eine »zweite Natur«, die von Menschenhand kontrolliert und geprägt und der Materialität untergeordnet wurde. Auf den Fußspuren der britischen Archäologen entwickelten moderne Historiker*innen eine große Begeisterung für symmetrische Mogulgärten, die durch monumentale Gräber und großartige Wasserspiele bereichert wurden.24 Die Visualisierung und Rekonstruktion von Baburs Gartenprojekten (und anderer Mogulgärten) wird nicht nur durch archäologische Spuren und Denkmäler erleichtert, sondern auch durch eine reichhaltige Produktion von Miniaturmalereien, Reiseberichten und anderen visuellen oder textlichen Beschreibungen. Im Gegensatz dazu ist der frühe indische Garten nur spärlich ausgestattet, und es fehlt an solchen beschreibenden Dokumenten. Besonders problematisch ist, dass die Literatur zum Vāstu śāstra (Architektur),25 die ansonsten äußerst produktiv in Bezug auf zahlreiche architektonische Themen ist, fast völlig schweigt, wenn es um Gärten geht. Im Gegensatz etwa zu Japan, das ein gartentheoretisches Werk, das Sakuteiki (oder »Buch des Gartens«, geschrieben von Tachibana23 Ali / Flatt (Anm.  3), S.  3. 24 Constance Mary Villiers-Stuart: Gardens of the Great Mughals. London 1913; Sylvia Crowe / Sheila Haywood: The Gardens of Mughul India. A History and a Guide, London 1972; Ram Nath: History of Mughal Architecture, New Delhi 1982; Elizabeth B. Moynihan: Paradise as a garden. In Persia and Mughal India, London 1979; siehe auch Wescoat: Landscapes (Anm. 6), S. 105. 25 Sara Keller: Vāstu śāstra as Cosmological Guides to South Asian Urbanity (5th-15th Century and beyond), in: Religion and Urbanity Online, im Erscheinen.

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no-Toshitsuna [1028-1094])26 hervorgebracht hat, gibt es in Südasien bisher keine Belege für Fachtexte, die sich spezifisch mit Garten- und Landschaftsgestaltung befassen. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass ein solches Werk in der Zukunft auftaucht, aber die bescheidenen Hinweise auf den Garten in anderen Abhandlungen und der Purāṇa-Literatur deuten eher darauf hin, dass in Südasien keine einflussreichen Gartengestalter wirkten, während es mächtige sthapati (Architekten)-Linien gab.27 Das Fehlen eines Gartengestaltungs-Genres und von Gartengestalternamen in Inschriften (während sthapati-s regelmäßig erwähnt werden) spricht eher für das Nichtvorhandensein einer unabhängigen Gartengelehrtenkultur. Das Anlegen und Pflegen von Gärten könnte die Aufgabe von Feld­ arbeitern wie Gärtnern, Girlandenmachern, Betelnuss-Spezialisten und anderen spezialisierten Stämmen und Zünften gewesen sein. Da Blumen ein wesentlicher Bestandteil religiöser Rituale sind, gibt es besonders viele epigraphische Hinweise auf Blumenspezialisten, die als »Girlanden­macher« oder mālākāra-s bezeichnet werden.28 Die Paschimbhāg-Kupferplatte von Śrīcandra aus dem 10. Jahrhundert n.Chr. erwähnt z. B. vier Floristen, die im Tempelbezirk arbeiten.29 Die mittelalterliche Jain-Abhandlung Jambūdvīpaprajñapti führt die Girlandenmacher als eine der 18 aufgelisteten Zünfte an.30 Heute sind die Phul-māli, Sasia-māli und andere »-māli«Gemeinschaften (von mālā für Girlande)31 Kastengruppen, die traditionell für eine bestimmte gärtnerische Aufgabe zuständig sind, wie das Mähen von Gras, das Dreschen von Reis, den Anbau von Gemüse oder den Anbau und die Herstellung von Blumenkränzen für Tempel.32 Gemeinschaften, die für Betel (Tambolia), eine medizinisch, sozial und religiös bedeutsame Pflanze, zuständig sind, werden ebenfalls erwähnt.33 Das Kāmasūtra von Vātsyāyana (2.-3. Jh.) erklärt, dass der Garten unter der Verantwortung und Obhut der Hausherrin steht.34 Im königlichen Kontext und unter den 26 Dennis A. Winters: Buddhist Meditation Gardens, in: The Tibet Journal 12(2), 1987, S. 41-52. 27 Der einzige Hinweis auf Gartengestalter, als Arāmādhipati bezeichnet, kommt in der botanischen Abhandlung Upavāna Vinoda vor; Girija Prasanna Majumdar: Upavāna Vinoda. Upavana-Vinoda. A Sanskrit Treatise on Arbori-Horticulture, Calcutta 1935, S. 2. 28 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 249, Majumdar: Upavana-Vinoda (Anm. 27), S. 2. 29 Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 145. 30 Asoke Kumar Majumdar: Chaulukyas of Gujarat. A Survey of the History and Culture of Gujarat from the Middle of the Tenth to the End of the Thirteenth Century, Bombay 1956. 31 Bagban / Bagwan (von persisch »Baghban«) sind ebenfalls Gärtnergemeinschaften. 32 Kumar Suresh Singh: People of India, Calcutta 1992, S. 265 f., 931-933. 33 Majumdar: Chaulukyas (Anm. 30), S. 264, 328, 358. 34 Majumdar: Upavana-Vinoda (Anm. 27), S. 17.

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Eliten war an der Gestaltung eines Gartens wahrscheinlich eine große Gruppe von Fachleuten beteiligt, darunter der mit dem Gesamtprojekt beauftragte Architekt,35 Gärtner und botanische/gartenbauliche Fachleute sowie Zimmerleute und andere spezialisierte Handwerker für die Ver­ zierung.36 Auch wenn die Gartengestaltung nicht als eigenständige Dis­ ziplin angesehen wird, fehlte es dem Garten keineswegs an Fachleuten und Mitwirkenden. Jenseits der Unsichtbarkeit

Die oben genannten frühen Hinweise auf die mālākāra-s (Girlanden­ macher) sind ein ermutigender Ausgangspunkt für unsere Erforschung des indischen Gartens vor der Mogulzeit. Auch wenn der Garten selbst verschwunden ist, hat er doch bedeutende Hinweise hinterlassen, die uns helfen können, ihn zu rekonstruieren. Solche Hinweise lassen sich aus steinernen und kupfernen epigraphischen Dokumenten gewinnen, in denen Land- und Tempelzuwendungen erwähnt werden,37 sowie aus praśasti-s, oder lobenden Inschriften, die sich auf königliche Spenden beziehen.­ ­Obwohl diese Dokumente keine ausführlichen Beschreibungen enthalten, macht die Häufigkeit der Erwähnung von Gärten deutlich, dass es sich dabei um ein weit verbreitetes Landschaftsmerkmal handelte, das in der Regel mit anderen Schenkungen wie Wasserbauten (Brunnen, Seen und Reservoirs) und religiösen Bauten (Tempel, Schreine, stūpa-s oder buddhis­ tische Kultbauten, vihāra-s oder buddhistische Klosteranlage usw.) verbunden war. Das reiche epigraphische Vokabular im Zusammenhang mit Gärten, Obstgärten und Blumengärten trägt ebenfalls dazu bei,38 eine erste Vorstellung von der Vielfalt grüner Landschaften und der Verbreitung von Gartentypen im frühmittelalterlichen Südasien zu bekommen. Der am häufigsten verwendete Begriff, der auch in der Epigraphik und in der klassischen Sanskrit-Literatur zu finden ist, ist ārāma – von Sanskrit »Wonne« 35 Dazu gehören, wie wir es aus der Architektur kennen, priesterliche und technische Funktionen (Geomantie für die Bodenauswahl, religiöse Autorität für Weiherituale, sthapati für die Planung und Baugemeinschaften für die Ausführung; siehe Stella Kramrisch: The Hindu Temple. Delhi 1976; Sara Keller: Les mètres et le vers des monuments muzaffarides. Réflexion sur le rôle et les outils de l’architecte dans le Gujarat du sultanat [Inde, XVe-XVIe siècle], in: Arts Asiatiques 72, 2017, S. 3-16). 36 Majumdar: Upavana-Vinoda (Anm. 27), S. 18; Sara Keller: Genesis of an Indian City. Urbanism and Architectural Knowledge in Ahmedabad, Ahmedabad 2022, S. 54. 37 Dasgupta: Gardens (Anm. 14); Prasanna Kumar Acharya (Übers.): Architecture of Manasara, London u. a. 1933, S. 61 f.; Ali: Court Life (Anm. 8), S. 222, 232; Sinha: No-Man’s Land (Anm. 13). 38 Oder »floral spaces«; Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 133.

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oder »Vergnügen«. Ārāma, so führt Schopen aus, war ein »Ort des Ver­ gnügens, ein Garten, und für eine städtische Bevölkerung von Rang und Namen im klassischen Indien wurden beide Begriffe (Vihāra und Ārāma) mit Gärten asso­ziiert, in denen Blumen und blühende Obstbäume üppig wuchsen, die vom Gesang der Vögel, dem Geschrei der Pfauen und dem Geräusch der Bienen erfüllt waren und die eine starke ästhetische Erotik aus­strahlten«.39 Die­ ­Bezeichnungen Ārāma, Saṃgharāma oder Vihāra, die für buddhistische Klöster verwendet werden, zeigen, dass es sich um begrünte Bereiche handelt, die mit Vergnügen und Exkursion assoziiert ­wurden.40 Der Ārāma bezeichnet auch den Tempelgarten, der sich um ­Jain- und brahmanische Strukturen entwickelte, die Śiva, Śakti-Gottheiten (Śāradādevī), Kṛṣṇa (Ananta, Vāsudeva), Viṣṇu und anderen Gottheiten ­gewidmet waren.41 Das epigraphische Vokabular und die literarischen Beschreibungen ermöglichen auch die Unterscheidung zwischen Hausgärten (rechtlich und räumlich mit dem Herrenhaus verbundener privater Garten)42 und an­ deren gestalteten Landschaften mit einem breiteren Zugang.43 Es gibt auch eine klare Unterscheidung zwischen landwirtschaftlichen Flächen und anderen, nicht einkommensorientierten Grundstücken.44 Agrahāra, Grund­ stücke, die religiösen Funktionsträgern (wie den Brahmanen) oder Institutionen (wie Klöstern und Tempeln) gewährt wurden, waren von der Steuer befreit.45 Im Gegensatz zum einkommensgenerierenden Bereich war der Ārāma, ob er nun einem weltlichen oder einem religiösen Eigentümer gehörte, eine Grünfläche, die gemeinnützigen oder nicht-weltlichen Bestrebungen gewidmet war. Das Vorhandensein früher Gärten lässt sich auch in anderen histo­ rischen Texten wie Chroniken, wissenschaftlichen Abhandlungen und religiösen Kodizes nachweisen.46 Architektonische Abhandlungen wie das Mānasāra aus dem 5. bis 6. Jahrhundert. oder die Bṛhatsaṃhitā aus dem 39 Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11), S. 487; Dasgupta definiert ārāma-s als »Gärten oder Parks zum Flanieren«; Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 135. 40 Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11), S. 487. 41 Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 136, 145-147. 42 Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 137. 43 Ich würde jedoch zögern, sie als »öffentliche Gärten« zu bezeichnen, da ihr Zugang wahrscheinlich auf eine bestimmte Elite beschränkt war. Blumen- und Obstgärten, die an gewöhnliche Stadtviertel angrenzen, werden im Arthaśāstra als »Puṣpaphalavātān« bezeichnet; Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 135. Mehr über die Sanskrit-Garten­ terminologie in Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 138. 44 Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 145. 45 Sinha: No-Man’s Land (Anm. 13), S. 24. 46 Patrick Bowe: Ancient Hindu Garden Design, in: Garden History 44(2), 2016, S. 272.

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6. Jahrhundert enthalten kurze,47 aber wiederkehrende Verweise auf den Garten.48 Schopen und Shimada haben in diesem Zusammenhang das reiche ­Potenzial der frühbuddhistischen Texte wie des Klosterrechtskodex Mūlasarvāstivāda-vinaya aufgezeigt.49 Darüber hinaus beschreiben Abhand­ lungen über die »Künste der lustvollen Anziehung«,50 insbesondere das Kāmasūtra von Vātsyāyana aus dem 2. und 3. Jahrhundert, ausführlich die Elemente und die Pflege des Gartens durch die Herrin des Hauses.51 Dies scheint in der Tat bis heute eine der ausführlichsten Gartenbeschreibungen in der frühen Abhandlungsliteratur zu sein. Interessante Informationen finden wir auch in botanischen Bänden wie dem Upavāna Vinoda, einer Sanskrit-Abhandlung über Baumzucht und Gartenbau aus dem 13. Jahrhundert, oder dem landwirtschaftlichen Traktat Vṛkṣāyurveda von Surapāla aus dem 10. Jahrhundert. Ein weiterer Nachklang der frühen Gärten ist die Wirkung, die sie auf die Zeitgenossen hatten, und deren literarische, oft poetischen Äußerungen, in denen sie ihre Gartenerfahrung reflektierten. Dieses Korpus könnte als das »Nachleben« des Gartens bezeichnet werden, um sich auf John Dixon Hunts Arbeit zu beziehen, »die die unzähligen Arten untersucht, wie Gärten von denjenigen, die sie besuchen, erfahren wurden«.52 Weiter losgelöst von der Materialität des Gartens geben solche Quellen lyrische Beschreibungen, die sich auf die durch einen Gartenbesuch ausgelösten Eindrücke und Emotionen konzentrieren. Poesie, volkstümliche Geschichten und Theaterstücke (kathā) bemühen sich, die »magische Schönheit«53 des Gartens wiederzugeben (wie Bhojas Geschichtenbuch Śṛṅgāramañjarīkathā aus dem 11. Jahrhundert oder das Theaterstück Pārijātamañjarī aus dem 13. Jahrhundert).54 Natürlich beschreiben solche Quellen nicht die Realität, sondern einen idealisierten Topos, der problematisiert werden soll. Jedoch hat der Historiker Daud Ali das große Potenzial solcher Quellen aufgezeigt, sowohl bei der Rekonstruktion wesentlicher Elemente der Gärten (Bänke, Pavillons, Perspektiven, wunderbare Objekte usw.) als auch beim Erfassen der mit dem Garten verbundenen 47 48 49 50 51 52 53 54

Acharya: Architecture of Manasara (Anm. 37), S. 61 f. Keller: Vāstu śāstra (Anm. 25). Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11); Shimada (Anm. 12). Anne Hardgrove: The Kama Sutra and Ananga Ranga, übers. von Sir Richard Francis Burton, New York 2006, S. 13. Majumdar: Upavana-Vinoda (Anm. 27), S. 17 f.; Bowe: Hindu Garden (Anm. 46), S. 272; The Hindoo Kama Shastra Society (Übers.): Kāmasūtra. The Kama Sutra of Vatsyayana, Benares / New York 1925, S. 91. Ali / Flatt (Anm.  3), S.  5. Ali: Mechanical Garden (Anm. 8), S. 2. Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 139 f.

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Bedeutungen und Vorstellungen.55 Letztere gehen eindeutig über den jeweiligen Raum und die jeweilige Religion hinaus, da die Begriffe und formelhaften Ausdrücke unterschiedlichsten Gattungen gemeinsam sind, von der klassischen Sanskrit-Literatur bis hin zu Inschriften und wissenschaftlichen Texten.56 Dieser kurze Überblick über die Quellen macht zwei Punkte deutlich. Erstens ist der Begriff »Garten« problematisch, da es um eine Vielfalt von Landschaften geht.57 Von Hausgärten zu Klosterparks, über verschiedene Zeiten und Regionen hinweg, gibt es viele verschiedenen Landschafts­ formen, die kaum mit dem Wort »Garten« zusammengefasst werden können. Von daher werden manchmal andere Begriffe wie »floral spaces«,58 »manipulated natural environments«,59 »garden culture«60 oder die »institution of garden«61 hervorgehoben. Zweitens war der frühe südasiatische »Garten«, trotz vielfältiger Formen, eine bestimmte Art des Raums, die sich von anderen Landschaften abhebt. Von daher, und der Einfachheit und Lesbarkeit halber, werde ich hier weiterhin den Begriff »Garten« verwenden. Er war keineswegs, wie es die frühe Architekturgeschichte ver­ muten ließ, ein ungepflegter Naturraum. Im Gegenteil, Gärten waren »hochgradig manipulierte und verzierte Orte«,62 die Aufmerksamkeit, Arbeit und Kapital erforderten. Der Ārāma war kein unberührter natür­ licher Ort, sondern ein künstlicher, der stark mit kulturellen Bedeutungen verbunden ist. Grüne Landschaft, Anthropogenisierung und Unwirtschaftlichkeit können am besten diesen »Garten« definieren. Der Garten in mehreren Dimensionen

Als künstlicher Raum sind »Gärten [nicht nur] physische Orte«,63 sondern vielmehr Räume mit einem starken immateriellen Leben. Neben den ­charakteristischen physischen Merkmalen wird der Garten auch durch die Absichten, Bestrebungen und Vorstellungen seines Gründers, seines ­Gestalters und seiner Besucher geschaffen. Es ist diese Fülle von nicht55 Ali: Court Life (Anm. 8); Ali: Mechanical Garden (Anm. 8). 56 Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11); Sinha: No-Man’s Land (Anm. 13); Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 137. 57 siehe Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 138 mit Bezug auf die Auflistung anderer Sanskrit-Begriffe wie Udyāna, Ākriḋa, Gṛhārāma, usw. 58 Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 133. 59 Ali / Flatt (Anm.  3). 60 Ali / Flatt (Anm.  3). 61 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 240. 62 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 233. 63 Ali / Flatt (Anm.  3), S.  6.

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physischen Schemata, die den Garten kulturell produziert haben. Er kann in der Tat als ein »produzierter« Ort im Sinne der modernen Sozial- und Kulturgeographie verstanden werden. Für Lefebvre und andere Raum­ theoretiker wird ein Raum eher durch die von seinen Nutzer*innen zu­ geschriebenen Bedeutungen als durch seine Materialität bestimmt.64 Es ist der Experimentator bzw. das Auge des Beobachters, der einen Raum erschafft, indem er ihm bestimmte Bedeutungen gibt. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Foucaults Konzept der Heterotopia, bei dem ein physischer Raum Zugang zu einem nicht greif baren »Anderen« ermöglicht (ein Theater beispielsweise verbindet sich mit den Welten der auf­ geführten Mythen).65 Indem er ein Imaginäres beherbergt, verbindet sich der physische Raum mit einer subtileren Dimension, die aus kulturellen Referenzen, Topoi und Idealen besteht. Beide Räume unterliegen unterschiedlichen Regeln – die Zeit zum Beispiel verläuft in jeder Dimension anders. Die von Ali, Schopen, Shimada oder Dasgupta angeführten Quellen u ­ nterstreichen die Notwendigkeit, sich dem frühen Garten in dieser doppelten Perspektive zu nähern, in der seine Materialität mit lebendigem Imaginärem koexistiert: Der Lustgarten ist ein »Ort, der im Gegensatz zu den zeitlichen Rhythmen, der räumlichen Organisation und den botanischen Normen der landwirtschaftlichen Welt steht«.66 Tatsächlich verbindet sich der Garten nicht nur mit einem Garten­ archetyp, sondern mit »einem Netzwerk von verwandten und kontras­ tierenden Topoi«.67 Besonders deutlich wird dies in Hinweisen auf Gartenräume, die von verschiedenen Personengruppen mit unterschiedlichen Intentionen und verschiedenen ethnischen, kulturellen und religiösen Hintergründen besucht werden.68 Der Garten war gleichzeitig mit einer Vielzahl von verflochtenen Bedeutungen und Vorstellungen verbunden. Der Raum ist also nicht nur eine Heterotopia, sondern auch »co-spatial« in der Perspektive der Lévy’schen Theorie der Cospatiality.69 Zwei oder mehr Bedeutungen sind mit einem bestimmten und physisch bestimmten Raum 64 Lefebvre: La production (Anm. 20). 65 Michel Foucault: Les Hétérotopies, in: France-Culture, Heure de culture française – Les utopies réelles ou lieux et autres lieux, par Michel Foucault (1ère diffusion: 7 /12 /1966), 4. 6. 2017; https://www.franceculture.fr/emissions/les-nuits-de-france-culture/heure-de-culture-francaise-les-utopies-reelles-ou-lieux-et (Zugriff am 26. 4. 2022). 66 Ali / Flatt (Anm.  3), S.  14. 67 Ali / Flatt (Anm. 3), S. 7 (Herv. i. O.). 68 Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11), S. 496; Ali: Court Life (Anm. 8), S. 235. 69 Jacques Lévy: Au-delà du dis/continu, in: Espaces Temps 82(1), Continu / Discontinu. Puissances et impuissances d’un couple, 2003, S. 12-16; siehe auch die Sammlung von Beiträgen zur Cospatialität in Religion and Urbanity Online; Walter de Gruyter GmbH: Religion and Urbanity Online – Suchergebnisse für Co-Spatiality, seit 2020; https://

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verbunden. Der Ort wird also von verschiedenen Gruppen unterschiedlich imaginiert oder interpretiert. Mehr noch als die physischen Merkmale des frühen Gartens verdeutlichen diese vielfältigen immateriellen Dimensionen, dass der frühe indische Garten ein komplexes und hochentwickeltes kulturelles Phänomen ist. Mit Hilfe der Heterotopia- und der Cospatialität-Konzepte will der vorliegende Beitrag die Unsichtbarkeit des frühen indischen Gartens er­ örtern und sie als Ermutigung betrachten, seine nicht sichtbare, nicht greif bare Bedeutung zu betonen. 2. Die Materialität des südasiatischen Gartens Lage

Der frühe südasiatische Garten hat sich im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Stadt entwickelt.70 Während der zweiten Urbanisierungsphase (Eisenzeit) boten Gärten der neuen urbanen Elite eine Flucht­ möglichkeit aus engen städtischen Gebieten oder geschlossenen Räumen, die dem Protokoll unterlagen.71 Hausgärten waren üblich in der Innenstadt, und Lustgärten und Parks wurden direkt um die Stadt herum für »Gesundheit, Erholung und Vergnügen« der städtische Elite (Nāgaraka-s)72 angelegt. Gleichzeitig organisierten sich die Einsiedler und Asketen in Gruppen und Institutionen, die von der Nähe zu den dynamischen städtischen Zentren profitierten.73 Das wird auch in der Arthaśāstra-Literatur beschrieben (s. Abbildung 2). www.degruyter.com/database/urbrel/search?query=%28%28Co-Spatiality%29%29& ­startItem=0&keywordTypesAndValues=&matchAnyTerm=false (Zugriff am 26. 4. 2022). 70 Für eine vollständige Studie über die Stadt und die Lage und Typen von frühen südasiatischen Gärten siehe meinen Beitrag über »Alternative Urbanities«; Keller: Alternative Urbanities (Anm. 19). 71 Balkrishna Govind Gokhale: Early Buddhism and the Urban Revolution, in: The Journal of the International Association of Buddhist Studies 5(2), 1982, S. 7-22; Keller: Vāstu śāstra (Anm. 25). 72 Über Nāgaraka: Jens-Uwe Hartmann: Das Leben des kultivierten Städters im frühen Indien: Alltag oder Ideal?, in: Über den Alltag hinaus. Festschrift für Thomas O. Höllmann zum 65. Geburstag, hg. von Shing Müller / Armin Selbitschka, Wiesbaden 2017, S. 289-296. 73 Über Urbanisierung und Buddhismus siehe Gokhale: Early Buddhism (Anm. 70); Julia Shaw: Stūpas, Monasteries, and Relics in the Landscape Typological, Spatial, and Temporal Patterns in the Sanchi, in: Buddhist Stupas in South Asia: Recent ­Archaeological, Art-Historical, and Historical Perspectives, hg. von Jason Hawkes / Akira Shimada, Delhi / Oxford 2009, S. 114-145; Julia Shaw: Archaeologies of

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Abb. 2: Die Stadt und ihre Umgebung nach den Leitlinien der ArthaśāstraLiteratur. Der urbane Komplex besteht aus einem befestigten Bereich mit meist quadratischem Grundriss und Randbesetzungen wie einem Krematorium für hohe Kasten, Heiligtümern (»sanctuaries«), Hainen (»grove«) und Belegungsraum und Durchgangsbereich von Asketen, Außenseitern, unteren Kasten-Mitgliedern (»heretics chandalas«).

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Abb. 3: Āśrama des Weisen Markandeya im Wald (C. 1780-1790)

In einem Auszug aus der kanonischen Literatur zur Errichtung eines Klosters heißt es: Nicht zu weit von der Stadt entfernt und nicht zu nahe, bequem zum Gehen und zum Kommen, leicht zugänglich für alle, die es besuchen wollen, am Tag nicht zu überfüllt, in der Nacht nicht zu viel Lärm und Alarm ausgesetzt. (Cūḷavagga VI, 4,8; 3,10)74 Die Varṣāvāsa-s, die ursprünglich saisonale Rückzugsorte für die Regenzeit waren, wurden allmählich zu festen Wohnsitzen in der Nähe der Städte. Aus ihnen entwickelten sich buddhistische Klöster, Āśrama-s (s. Abbildung 3) und andere Einsiedeleien im peri-urbanen Gebiet, als Gegen­ system zu dem nach den Regeln der brahmanischen Tradition organisierten und von den Brahmanen (Gṛhastha-s oder Hausherren) bewohnten Siedlungen und den Räumen intra muros. Die extra-urbanen Institutio­ dhist Propagation in Ancient India – »Ritual« and »Practical« Models of Religious Change, in: World Archaeology 45(1), 2013, doi: 10.1080/00438243.2013.778132, S. 88 f.; Amitabha Ghosh: The City in Early Historical India, Simla 1973; Ranabir Chakravarti: Economic Life. Agrarian and Non-Agrarian Pursuits, in: History of Bangladesh. Early Bengal in Regional Perspectives (up to C. 1200 CE), Vol. 2, 2018, S. 109-196. 74 Acharya: Architecture of Manasara (Anm. 37), S. 61.

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nen, die nach dem Vorbild des Lustgartens entwickelt wurden, boten somit eine alternative Urbanität, die frei von der Gewalt des städtischen brahmanischen Systems war. Nach diesem Modell des peri-urbanen Einsiedlergartens entwickelten sich zahlreiche gestaltete Landschaften, die dem Genuss der Sinne und der Spiritualität gewidmet waren (Elitegärten, Tempelgärten usw.). Die frühe und mittelalterliche südasiatische Stadt muss daher als ein komplexes Gebilde aus bewohnten Teilen und Grünlandschaften verstanden werden. In den Außenbezirken setzten zahlreiche Einrichtungen mit Gärten dieses Programm der anthropogenisierten Naturräume fort. Wie Schopen auf­ gezeigt hat, waren manche Elemente, wie eine spektakuläre Aussicht und die Nähe eines Gewässers, für die Wahl des Standorts von solchen Gärten besonders wichtig.75 3. Die Gartenkomponenten Symmetrie

Baburs Bemerkungen über den Mangel an Ordnung und Symmetrie führten dazu, dass wir uns den vormogulischen Garten als einen organisch und nicht symmetrisch oder geometrisch angelegten Raum vorstellen. Die archäologische Dokumentation, insbesondere die Ausgrabungen in Sigiriya (5. Jahrhundert) und anderen frühen srilankischen Stätten, liefert jedoch Gegenbeweise für diese Hypothese.76 Die Gärten in und bei Sigiriya und Anuradhapura sind umschlossen und strukturiert. Die Gartenanlagen wie die »Central Water Gardens« von Sigiriya sind symmetrisch angeordnet, hier in einer viereckigen Form, die an das sassanidische Gartenmodell erinnert.77 Die Anlage wird durch gerade Wasserwege strukturiert. Außerdem zeigt die Anordnung der verschiedenen Einheiten deutlich den Sinn für ein architektonisches Ensemble und eine allgemeine Vision für den ge­ samten Stadt- und Gartenraum. Die felsigen Gipfel tragen vorteilhaft zur architektonischen Komposition bei, wie in Sigiriya, wo sie die weltliche Stadt im Osten und die städtischen Gärten im Westen gliedern (s. Abbildung 4). In ähnlicher Weise beherbergt der Berg in Mihintale die Kloster­ 75 Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11), S. 498, 501. 76 Bandaranayake: Surviving Gardens (Anm. 10). 77 Man erkennt insbesondere den viergeteilten Garten, aus dem der persischer Čahārbāḡ entstand. Jamsheed K. Choksy: Sailors, Soldiers, Priests, and Merchants. Reappraising Iran’s Early Connections to Ceylon, in: Iranica Antiqua 48, 2013, doi:10.2143/ IA .48. 0. 2184705, S. 363-391, hier S. 375; Osmund Bopearachchi: The Pleasure Gardens of Sigiriya. A New Approach, Colombo 2006.

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Abb. 4: Sigiriya: Stadt und Gärten

anlage. Die gut geplanten frühen königlichen und klösterlichen Gärten (3. Jahrhundert v. Chr. bis 13. Jahrhundert n. Chr.) Sri Lankas sprechen für fortschrittliche Gartenressourcen, sowohl in Bezug auf das architektonische Wissen als auch auf die politische Agenda. Die auffällige Übermacht des Gartenteils im Westen gegenüber dem bebauten Teil im Osten unterstreicht die Bedeutung des Gartens im Gestaltungsprozess der Stadt.78 Den­ noch bleiben solche Gärten architektonisch der Stadtplanung untergeordnet. Darüber hinaus sind in den Hügeln um Sigiriya buddhistische Klöster, Felsunterstände, Höhlen und andere Einsiedeleien zu finden. Die Stadt war von einer grünen Landschaft umgeben, die wahrscheinlich aus verschiedenen Gartenformen bestand. Das Beispiel von Sigiriya veranschaulicht einen geografisch und historisch definierten Stil, der spezifisch für Sri Lanka ist und möglicherweise mit der strikt südindischen Stadtplanungstradition verbunden ist – die vielleicht, wie von Choksy und Bopearachchi vorgeschlagen, im Rahmen der überseeischen Verbindungen mit der frühen persischen Welt zu verstehen ist. Wie bedeutsam ist dieses Beispiel für Südasien und wie weit kann es übertragen werden? Die Gärten anderer Regionen Südasiens, die aufgrund fehlender archäologischer Zeugnisse nicht greifbar sind, erscheinen 78 Bandaranayake: Surviving Gardens (Anm. 10), S. 7.

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uns heute organischer. Ali und Flatt stellen fest, dass in Nordindien die Betonung eher auf dem Vorhandensein bestimmter Komponenten, wie Gewässern, blütentragenden Bäumen usw., als auf ihrer Anordnung gelegen zu haben scheint.79 Neuere städtebauliche Studien über frühe indische Städte wie Sisupalgarh in Odisha80 und westindische Städte81 offenbaren jedoch eine vergessene frühe nordindische Stadtplanungstradition, die auch geplante Gärten umfasst haben könnte.82 Neue städtische Studien werden hoffentlich einige Antworten auf die regionalen Unterschiede liefern. Der Baum

Das Hauptmerkmal des südasiatischen Gartens ist sicherlich sein schattiger und bewaldeter Charakter.83 Roberts stellt in ihrer Studie über die ­britischen Gärten in Indien fest: Die Schaffung […] eines englischen Gartens […] war eine der Möglichkeiten, mit denen die Briten das Leben in Indien bewältigten. Der Garten bildete einen Kontrast zu der manchmal rauen und überwäl­ tigenden Landschaft und bot einen Raum, der wiedererkannt und verstanden wurde und in dem soziale und kulturelle Rituale durch­ geführt wurden.84 Während der Kolonialzeit wurden historische indische Gärten umgestaltet, um offene Lichtungen und aufgeräumte Rasenflächen zu schaffen, die der zeitgenössischen Ästhetik des Englischen Gartens entsprachen, oft auf Kosten von Schatten, Sträuchern und Lauben. Dieser  Trend hat die Garten­ landschaft der Moguln tiefgreifend verändert, und bis heute bedarf es einer gewissen Vorstellungskraft, um die Atmosphäre der vorkolonialen (Mogulischen) bewaldeten Gärten mental wiederherzustellen (s. Abbildung 1). Auch 79 Ali / Flatt (Anm.  3), S.  14. 80 Monica L. Smith / Rabindra Kumar Mohanty: Archaeology at Sisupalgarh. The chronology of an Early Historic urban centre in eastern India, in: South Asian Archaeology and Art 2012 2, hg. von Vincent Lefèvre u. a., Turnhout 2016, S. 683-695. 81 Keller: Alternative Urbanities (Anm. 19). 82 Der Vṛkṣāyurveda von Surapāla beschreibt in Vers 934 »acht verschiedene Arten oder Stile, einen Garten zu bepflanzen […]. Sie lassen sich unterteilen in solche, die geometrisch sind, und solche, die nicht-geometrisch sind oder die man als ›naturalistisch‹ bezeichnen kann«; Bowe: Hindu Garden (Anm. 46), S. 274. 83 Und dies stellt ein Element der Kontinuität dar. Wie wir oben gesehen haben, waren der vormogulische und der mogulische Garten sehr unterschiedlich, dennoch waren beide bewaldet. 84 Judith Roberts: English Gardens in India, in: Garden History 26(2), 1998, S. 132.

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die frühe Literatur betont den bewaldeten Charakter des Gartens im ­Gegensatz zur anstrengenden »herbless desert« (Mahābhārata LXX, 101).85 Bäume bieten eine kühle und angenehme Atmosphäre und stehen für ­Leben und Fülle im Gegensatz zu dem trockenen Land. Das botanische Werk Upavāna Vinoda beginnt mit zwei Kapiteln, die den Bäumen gewidmet sind (bzw. »Glory of trees« und »Good and evil omens relating to ­residence near trees«).86 Blüten- und fruchttragende Bäume sind besonders wertvoll, da sie durch ihre bezaubernden Farben, ihren Geruch und Geschmack das sensorische Erlebnis des Gartens bereichern.87 Bäume, Schling­ pflanzen und Lauben wurden besonders als intime grüne Räume für private Gespräche und romantische Begegnungen geschätzt.88 Heilige Bäume und Haine waren Anziehungspunkte, und ganz allgemein wurden Bäume während des Frühlingsfestes besonders verehrt.89 Die Bedeutung, die den Bäumen und den hölzernen Bereichen, aber auch den Höhlen und Grotten beigemessen wurde, bestärkt uns darin, eine Gartenästhetik zu rekonstruieren, die auf der Atmosphäre eines sicheren Refugiums basiert. Die Plattform

Das führt uns zum Maṇḍapa oder Maṇḍapa nikuñja, der schattigen Plattform, als dem strukturellen Höhepunkt geplanter und organisch angelegter Gärten.90 Es handelt sich dabei nicht um eine klar definierte architektonische Struktur, sondern um einen weit gefassten Begriff, der sich auf einen abgeschiedenen Raum bezieht, in dem man die Gartenumgebung genießen kann. Er besteht aus zwei Hauptelementen: einer Plattform und einem Unterstand. Die Plattform markiert den Ort und grenzt einen sicheren und sauberen Raum ab, während der Unterstand Schutz vor Sonnenlicht bietet und eine intime Umgebung schafft. Wie im Kṣudrakavastu des Mūlasarvāstivāda Vinaya beschrieben, bestand die erste Aufgabe bei der Vorbereitung der Śrāvastī-Gärten darin, den Platz »zu reinigen […] und die […] Kieselsteine wegzunehmen«.91 Die Säuberung und Reinigung des 85 Pratap Chandra Roy (Übers.): The Mahabharata of Krishna-Dwaipayana Vyasa, Calcutta 1884, S. 207 f. 86 Majumdar: Upavana-Vinoda (Anm. 27), S. 2, 6. 87 Phyllis Granoff: Coloring the World: Some Thoughts from Jain and Buddhist Narratives, in: Religions 11(9), 2019, doi:10.3390/rel11010009, S. 1-20. 88 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 232, 237; für eine Beschreibung der häufig verwendeten Bäume siehe Bowe: Hindu Garden (Anm. 46), S. 275. 89 Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 141. 90 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 232. 91 Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11), S. 490.

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Platzes war die erste notwendige Maßnahme zur Schaffung eines Gartens. Wir können uns vorstellen, dass die einfachste Form von Maṇḍapa aus Lauben mit Kriechpflanzen und einer geräumten, vielleicht mit Kuhdung92 geschützten Plattform bestand. Sehr einfache (und vergängliche) Mittel genügten, um eine angenehme und sichere Umgebung zu schaffen. Im buddhistischen Kontext werden Steinbänke als erhöhte Plattformen und Aussichtspunkte zum Genießen des Gartens genannt.93 In reichen Gärten wurden Maṇḍapa als aufwendig gebaute Pavillons mit kostbaren Intarsienböden, Sitzen, Juwelen, Schaukeln und einer Fülle von Einrichtungs­ gegenständen für Spiele und Liebesspiele eingerichtet.94 In seiner komplexesten Form konnte das Maṇḍapa als reiches Gartenhaus oder als kleiner Palast geplant werden.95 Blumen und Erotik

Duftende und bunte Blumen sind ein weiteres Schlüsselelement des Gartens. Blumen galten als das Juwel der Pflanzenwelt und damit als ihre Apotheose. Ein Garten zeichnete sich durch die Dichte seiner blüten- und fruchttragenden Bäume aus. In der Tat schmückten Blumen und Früchte die grüne Kulisse und bereicherten sie mit wertvollen sensorischen Elementen.96 Blumen und blühende Bäume sind zusammen mit singenden Vögeln, summenden Bienen und lieblichen Frauen wiederkehrende Elemente der Gartenbeschreibungen in Inschriften und in der klassischen Sanskrit-Literatur.97 Tatsächlich sind Blumen so zentral für die frühen und mittelalterlichen Gartenerzählungen, dass Dasgupta den Ausdruck »floral world« bevorzugt.98 Die Gartenblumen werden allgemein und formelhaft als »mit berauschendem Duft« (gandha) beschrieben, was auf ihre starke sinnliche Wirkung hinweist. Die Blumen schaffen eine unwiderstehlich sinnliche Atmosphäre, die zum erotischen Charakter des Gartens beiträgt. 92 Kuhdung ist ein häufig für einheimische Konstruktionen verwendetes Beschichtungs­ material, das für seine antibakteriellen und insektenabweisenden Eigenschaften bekannt ist. 93 Schopen interpretiert udgatamañcapīṭha als »erhöhte Bänke auf Plattformen«; Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11), S. 502. 94 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 232. 95 Für eine Erwähnung anderer Gartenelemente siehe Bowe: Hindu Garden (Anm. 46), S. 277. 96 Granoff: Coloring the World (Anm. 86). 97 Ali: Court Life (Anm. 8); Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11), S. 487; Dasgupta: Gardens (Anm. 14). 98 Dasgupta: Gardens (Anm. 14).

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Interessanterweise ist die erotische Ästhetik von Gärten weit verbreitet und reicht über die Sphäre der profanen Literatur hinaus. Insbesondere buddhistische Texte beschreiben die Vihāra-s und Ārāma-s mit ähnlichen Begriffen und Ausdrücken, mit denen der Garten in der klassischen Sanskrit-Literatur geschildert wird.99 Sowohl Schopen als auch Shimada beobachten und kommentieren diese literarische Vertrautheit:100 Die Schönheit des Vihāra wird »in einer sehr weltlichen, ästhetischen und erotischen Sprache« ausgedrückt. Die fragile, vergängliche und doch so kraftvolle Blume kristallisiert die Sinnlichkeit des Gartens und die anziehende Kraft der Natur. Blumen und blühende Bäume sind umso wertvoller, als sie als gärtnerische Wunderwerke gegen das trockene Klima Nordindiens (der Kernraum der zweiten Urbanisierungsphase) verstanden werden können. Unter ihnen sind die folgenden farbenfrohen und / oder süß duftenden Gattungen besonders hervorzuheben:101 kṣīracampaka oder śvetacampaka (plumeria), punnāga (calophyllum inophyllum), madhuka (madhuca longifolia), kimśuka (butea monosperma), śirīṣa (albizia lebbeck) und mehrere Arten von Jasmin­ blüten.102 Die Pflege eines Gartens mit ausgewachsenen Bäumen und wertvollen botanischen Arten setzt den Einsatz wichtiger Ressourcen voraus, nicht zuletzt im Hinblick auf die Wasserwirtschaft. Die Arbeit von Bandaranayake veranschaulicht deutlich die komplexen technologischen Fähigkeiten, die für die Instandhaltung von Gärten sowie für die Versorgung mit künstlichen Teichen und Seen eingesetzt werden.103 Wasser­ körper und Wasserstrukturen dienten nicht nur pragmatischen Zwecken, sondern spielten auch eine bedeutende Rolle in der Gartenästhetik. Teiche, Pools, Kanäle und Springbrunnen waren lebendige Orte, die nicht nur zu sehen waren, sondern auch erlebt werden konnten.104 Blumen und blühende Bäume widersetzen sich dem natürlichen Zyklus des Klimas und der landwirtschaftlichen Produktion und tragen so zum 99 Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11), S. 493; siehe auch Shimada (Anm. 12), S. 19. 100 »[D]ie buddhistischen Mönche, die das Mūlasarvāstivāda-vinaya verfassten, waren mit den ästhetischen Werten und erotischen Obertönen, die mit dem Garten im Frühling verbunden sind, bestens vertraut«; Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11), S. 491. 101 Der Vṛkṣāyurveda von Surapāla erwähnt 170 Pflanzenarten, darunter Bäume, Sträucher und einige Kräuter. 102 Siehe Pandanus-Datenbank; Seminar of Indian Studies / Institute of South and Central Asia / Faculty of Arts / Charles University: Pandanus Database of Plants, 19982009; http://iu.ff.cuni.cz/pandanus/database/ (Zugriff am 20. 4. 2022). 103 Bandaranayake: Surviving Gardens (Anm. 10), S. 12-17. 104 Zu Wasserspielen siehe Ali: Court Life (Anm. 8), S. 236.

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saṃvega, dem »ästhetischen Schock« bei.105 Als botanische Wunderwerke und zarte Naturschätze waren sie ein Schlüsselelement für das Staunen und die erotische Atmosphäre des Gartens. Kunstwerk und Staunen

Wenn echte Blumen und Früchte nicht ausreichten, konnten sie auch künstlich hergestellt werden.106 Nicht nur künstliche pflanzliche Elemente bereicherten die natürliche Szenerie, sondern auch verschiedene Kunsthandwerke trugen zur Verschönerung und Veredelung des Gartens bei. Gemälde und Fresken, Wandbehänge und Juwelen wurden im Überfluss verwendet.107 Gärten wurden also nicht nur botanisch angelegt, sondern auch künstlerisch ausgestattet. Dies bedeutet auch, dass ein breites Spek­ trum an Medien und Fertigkeiten zur Gestaltung eines Gartens beitrug: Wand- / Felsmalerei, Tischlerei, Textilhandwerk, Schmuck, Intarsienarbeiten und sogar mechanische Objekte. Die Studie von Daud Ali über den mechanischen Garten von Bhoja zeigt die Rolle des Künstlichen und Mechanischen im Verschönerungs­ programm des frühen Gartens.108 Automaten und unbelebte Objekte trugen zur Materialisierung und Technologisierung des Wunderbaren bei. Die enthusiastischen Beschreibungen von unerwarteten Objekten, verblüffenden Juwelen und faszinierenden Automaten zeigen, dass der Garten ein aktiver Teil einer »Kultur des Staunens« war.109 Während die Literatur und die mündliche Überlieferung eine Vielzahl von Geschichten verbreiteten, die von unerklärlichen Phänomenen und übernatürlichen Wesen und Objekten lebten, bot der Garten einen Erfahrungsraum, der dieses faszinierende »Andere« verkörperte. In einem Garten konnte man eine zauberhafte Natur, fliegende Objekte oder sprechende (künstliche) Tiere sehen. Alles, von botanischen Wundern bis hin zu künstlerischen Kreationen und mechanischen Kunstgriffen, widersetzt sich der natür­ lichen Ordnung und macht den Garten zu einem Ort der Magie – in der Tat nicht weit vom mythischen Material entfernt. Der Garten strahlte eine Aura der Verzauberung aus, die von Ungewissheit und Geheimhaltung

105 Ananda K. Coomaraswamy: Samvega – Aesthetic Shock, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 7, 1943, S. 174-179. 106 Keller: Genesis (Anm. 36), S. 254. 107 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 233; Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11), S. 496 f. 108 Ali: Mechanical Garden (Anm. 8). 109 Ali: Mechanical Garden (Anm. 8), S. 2.

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getragen wurde und somit stark mit dem Magischen und Übernatürlichen in Verbindung stand.110 Diese Anziehungskraft des Staunens zeigt nicht nur den Wunsch nach Unterhaltung einer wachsenden städtischen Elite. Sie spiegelt auch ihre Verbundenheit mit der Macht der Magie in einer Gesellschaft wider, in der Magiekundige eine wichtige Rolle in politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten spielten.111 Die Begeisterung für mechanische Geräte im Mittelalter könnte auch als tiefe Sehnsucht nach einer imaginären magischen Vergangenheit verstanden werden, in der das Wunder allgegen­ wärtig und das Übernatürliche alltäglich gewesen wäre. Das Anlegen von Wundergärten kann somit als Legitimation verstanden werden, mit der eine Verbindung zur mythischen vedischen Vergangenheit hergestellt wurde. 3. Der immaterielle Garten Der archetypische Baum

Sicherlich war der physische Garten mit einer Vielzahl kultureller Referenzen und Vorstellungen verbunden. Ich möchte mich hier auf zwei wichtige Archetypen konzentrieren, den Baum und die Einsiedelei, die die Gestaltung südasiatischer Gartenräume maßgeblich beeinflusst haben. Der Baum ist nicht nur ein zentraler Bestandteil des frühindischen Gartens, er ist auch ein bedeutendes Motiv der indischen Kunst im Allgemeinen und der frühbuddhistischen Monumente im Besonderen.112 Zwei pflanzliche Haupt­motive sind Schlüsselmerkmale der buddhistischen, jainistischen und ­brah­manischen Architektur: der Lotus und die wunscherfüllende Schlingpflanze bzw. der wunscherfüllende Baum (s. Abbildung 5). Diese Motive gehen auf das vedische Material zurück und tragen wichtige spirituelle und symbolische Bedeutungen für die asketische Tradition (kaula und später tantrische und yogische Traditionen).113 Der Padmā oder Lotus, Symbol der Reinheit, ist ein Bild für das Bewusstsein, das aus den dunklen Wassern der leidverursachenden Materie aufsteigt und über ihnen erblüht. Der wunscherfüllende Baum (Kalpavṛkṡa) oder die wunscherfüllende Schlingpflanze ist ein Versprechen der Glückseligkeit und, ähnlich wie der Lotus, ein Versprechen der Kapāla mukti oder Befreiung durch die Schädeldecke 110 Ali: Mechanical Garden (Anm. 8), S. 19; Ali: Court Life (Anm. 8), S. 238. 111 Geoffrey Samuel: The Origins of Yoga and Tantra, Cambridge 2008, S. 235. 112 Siehe Odette Viennot: Le culte de l’arbre dans l’Inde ancienne, Paris 1954; Shimada (Anm. 12) und über den Bodhibaum: Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 142. 113 Samuel: Origins of Yoga (Anm. 110); Viennot: Le culte de l’arbre (Anm. 111).

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Abb. 5: an der Ostfassade Kalpav•rksa • der Jumā Masjid in Ahmedabad (1424)

in frühen kaula- und späteren tantrischen, yogischen und KuṇḍalinīPraktiken.114 In frühen Gärten war es ratsam, nicht nur geschnitzte und gemalte Darstellungen zu haben, sondern auch kostbare und mit Juwelen angereicherte Wunschbäume zu errichten.115 Der Baum wird im Allgemeinen mit den vorvedischen Fruchtbarkeitskulten in Verbindung gebracht und somit als Fortsetzung oder Wieder­ aufleben des frühen religiösen Wissens verstanden. Neuere Studien legen jedoch nahe, diese vereinfachende Theorie zu dekonstruieren.116 Es geht nicht darum, die Realität und Bedeutung früher Fruchtbarkeits- bzw. ­archaischer Baumkulte in Südasien zu leugnen, sondern vielmehr darum, die Prominenz pflanzlicher Motive in der frühbuddhistischen Produktion zu hinterfragen. Lässt sich die Fülle von Lotusblumen, Weinreben, Bäumen und Vögeln auf den stūpa-s dadurch erklären, dass sich der Bau selbst in einem Garten befindet? Dies ist die von Shimada vertretene Hypothese.117 Um diese Diskussion fortzusetzen, können wir sagen, dass die Pflanzenwelt (die lebendige des Gartens und die unsterbliche auf dem stūpa) eng 114 115 116 117

Samuel: Origins of Yoga (Anm. 110), S. 255. Ali: Court Life (Anm. 8), S. 248. Shimada (Anm. 12), S. 30; Ali: Court Life (Anm. 8), S. 240. Shimada (Anm. 12), S. 31.

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mit dem Buddhismus als einem lebendigen Symbol spiritueller und re­ ligiöser Praktiken verbunden ist. Doch so nahe sie auch anderen tantrischen Ausdrucksformen, einschließlich sexueller Praktiken, stehen mögen, sind »die in normativen Texten beschriebenen buddhistischen Paradies­ gärten […] hochgradig sinnliche, aber bemerkenswert entsexualisierte Orte«.118 Wie Ali feststellt, wird das sinnliche Vergnügen im buddhistischen Kontext »enterotisiert«119 und als Überleitung zum himmlischen »erhabenen und nicht-weltlichen Vergnügen«120 dargestellt. Die langsame und ruhige Pflanzenwelt scheint eine geeignetere Metapher für diese sinnliche Vision des spirituellen Pfades zu sein. Sie erkennt eine sinnliche Ästhetik an und beschwört die »frischen, glatten und leicht gespannten« Körper junger Männer und Frauen und ihr immenses sexuelles Potenzial.121 Es überrascht nicht, dass die weibliche Schönheit in frühen Abhandlungen und Gedichten oft mit Begriffen aus dem semantischen Feld der Pflanzenwelt, insbesondere der Blumen, beschrieben wird. Das Pflanzenreich hat die Fähigkeit, die Sinnlichkeit der Welt zu evozieren, ohne deren aggressiven Ausdruck122 einzuschließen. Die Pflanzen symbolisierten im Idealfall den befriedeten Aspekt der sexuellen Lebenskraft, befreit von der Dimension der Gewalt. Die Verwendung von Pflanzen als symbolischer Hauptreferenz ist offensichtlich eine starke Position gegen das etablierte brahmanische ­ ­Opfersystem.123 Hier wird »die symbolische Bedeutung von Gartenpflanzen in einer neuen, nicht-agonistischen sozialen Ordnung [dargestellt]«.124 Die buddhistischen und jainistischen Bewegungen traten für eine religiöse Praxis ein, die allen zugänglich war, ohne die Fürsprache des Brahmanen, des damals einzigen zertifizierten Spezialisten für die Durchführung von Yajña-s oder Opfern. Die Errichtung buddhistischer Zentren in nicht­ städtischen Gärten kann in ähnlicher Weise verstanden werden: Die buddhistischen Klöster verließen den von den Vāstu geordneten Raum (die dem brahmanischen System untergeordneten Häuser und Siedlungen) 118 Shimada (Anm. 12), S. 24; für eine Diskussion über die Ambiguität zwischen Mönch­ tum und Erotik im Buddhismus siehe Ali: Court Life (Anm. 8), S. 245 und Shimada (Anm. 12), S. 33. 119 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 245. 120 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 247. 121 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 243. 122 Der aggressive Ausdruck der Welt wird eher mit der Tierwelt verbunden. 123 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 224; Das Brahman-System, das dem Hinduismus vorausgeht, beruht auf der religiösen Expertise der Brahmanen, die als einzige berechtigt sind, das Opferritual durchzuführen, das den Kern der gesamten religiösen Praxis bildet. 124 Shimada (Anm. 12), S. 20 f.

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und etablierten sich in einem Raum, der bis dahin von den Entsagenden und nicht-etablierten, asketischen, Brahmanen besetzt war. Diese Bewegung trug dazu bei, das Bild der Wildnis neu zu erfinden: Der Wald ist nicht nur ein Gegenstück zum Vāstu, sondern ein weiterer respektierter, idealisierter, befriedeter, ja sogar sakralisierter Raum. In buddhistischen Erzählungen wird das städtische Leben als gewalttätig dargestellt, zunächst aufgrund der Abholzung, die für die Schaffung eines städtischen Raums notwendig ist,125 und als moralisch und spirituell korrumpierend (oder Duḥkha-Leiden durch Krankheit, soziale Unruhen und Armut erzeu­ gend).126 Die Jagdtätigkeit wurde auch als »Ersatzüberfall auf die Natur«127 wahrgenommen, und es bestand die Notwendigkeit, die Beziehung zur Natur neu zu erfinden. Diese Texte sind in einen breiteren Kontext der Auseinandersetzung mit dem brahmanischen System einzuordnen, in dem andere Entsagende, Spezialist*innen des Übernatürlichen und spirituelle Bewegungen an Sichtbarkeit gewannen. Die Entwicklung von Sa ṃgha-, Āśrama- und Einsiedelei-Gärten kann somit als Gegen­ bewegung zur ­damaligen Idealisierung eines reichen und mondänen Stadtlebens ver­ standen werden. Als alternative Urbanität wird ein neues Modell eines »verfeinerten, anmutigen und gewaltfreien urbanen Lebensstils« vor­ geschlagen.128 Der archetypische Tapovana

Interessanterweise können wir in der gleichen Zeit das Aufkommen einer Literatur beobachten, die den hedonistischen und befriedeten heiligen Garten idealisiert. Ein wichtiger Text in dieser Hinsicht ist die ŚakuntalāDuṣyanta-Begegnung im Mahābhārata (Mbh). Die lange und lyrische Beschreibung der Kaṇva-Einsiedelei, in der sich die Szene abspielt, erscheint als Archetyp des Tapovana (Askesehain oder spiritueller Rückzugsort im Wald, s. Abbildung 6) und als Kristallisation zeitgenössischer und zukünftiger Gartenerzählungen.129 Das Kapitel 70 des Mahābhārata, eines der beiden großen SanskritEpen (verfasst zwischen dem 4. Jahrhundert v. Chr. und dem 3. Jahrhundert n. Chr.) erzählt von der Ankunft des Königs Duṣyanta in der Ein­ 125 126 127 128 129

Sinha: No-Man’s Land (Anm. 13). Samuel: Origins of Yoga (Anm. 110), S. 249; Shaw: Archaeologies (Anm. 72), S. 89. Sinha: No-Man’s Land (Anm. 13), S. 23. Shimada (Anm. 12), S. 21. Es handelt sich also um einen interessanten Text, um die Erzählung von der Ein­ siedelei aus einer historischen Perspektive zu betrachten (und nicht als vedische und zeitlose Referenz südasiatischer Traditionen).

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Abb. 6: Rehe im Bandhavgarh Park

siedelei des Weisen Kaṇva. Das Kapitel enthält eine ausführliche und lyrische Beschreibung der Einsiedelei. Der König und seine Männer hatten gerade eine »kahle Wüste« durchquert, die sie »vor Hunger und Durst ermüdete« (Mahābhārata LXX, 101). Im Gegensatz zu dieser trostlosen Beschreibung steht die üppige und frische Einsiedelei als Symbol für Frieden und Fruchtbarkeit. Die Verse beschreiben die frische Brise und das ­fließende Wasser, die üppige Vegetation, den Duft der Blumen und die pulsierende Präsenz der Bienen. Der Text gibt keinen Hinweis auf die Topographie oder die Anordnung der Anlage, sondern betont die sinnliche Erfahrung, die durch eine außergewöhnliche Atmosphäre hervorgerufen wird. Die Wälder bieten einen grünen und frischen Schutzschild, das Auge wird von Schönheit und Farben überwältigt, die Gerüche sind be­rauschend, die Haut wird durch Frische und Feuchtigkeit befriedigt, der Geschmack wird durch saftige Früchte angesprochen und Vögel und Bienen130 er­ zeugen einen angenehmen vibrierenden Klang. Der wilde Charakter der Natur ist völlig besänftigt worden, was durch die Ruhe der sonst wilden und grimmigen Tiere wie Elefanten, Tiger und Schlangen symbolisiert wird. Der zweite Teil des Textes (Mbh-Verse 20 bis 26) beschreibt die frommen Brahmanen, Schüler des Weisen Kaṇva, welche die spirituellen Aktivitäten und Entbehrungen wie das Rezitieren von Mantras und die Durchführung von Opferriten (japa und homa, Mbh-Vers 47) durchführen. Der Autor betont die Orthoepie und Prosodie, was die Beherrschung des vedischen Wissens demonstriert. Die Brahmanen sind von wesentlicher Bedeutung für die Szenerie, da es ihre Anwesenheit und ihre Aktivitäten sind, die den Ort befrieden und ihn zu einem heiligen Tapovana machen. Ohne ihr vedisches Wissen wäre der Wald nur ein wilder Ort (Araṇya). 130 Zu Vogelstimmen und Musik in frühen Gärten siehe Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11), S. 490.

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Der dritte Teil des Textes schildert die Begegnung des Königs Duṣyanta mit Śakuntalā (Mbh ab Vers 27). Die schöne Jungfrau wird mit ähnlichen Begriffen wie die Blumen des Gartens beschrieben. In der Tat stellt sie die Apotheose des Gartens dar. Die sinnlich-romantische Begegnung von Duṣyanta und Śakuntalā ist ganz und gar Teil der hedonistischen Erfahrung des Gartens. In der Tat dient der Garten als Hintergrund für die sinnliche Erfahrung der romantischen Begegnung von Duṣyanta und Śakuntalā, dem idealisierten Mann und der idealisierten Frau. Durch ihre Umgebung beruhigt, können sie eine »totale« sinnliche Erfahrung der Gegenwart machen. Die romantische Vereinigung von Duṣyanta und Śakuntalā stellt den Höhepunkt dieser Reise dar. Spiritualität und Erotik sind eng miteinander verwoben. Die Komponenten und Ausdrücke dieser Mahābhārata-Passage sind charakteristisch für den gesellschaftlichen Wandel infolge der Urbanisierung im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr., die Infragestellung des brahmanischen Systems und die Entwicklung religiöser peri-urbaner Räume.131 Sie veranschaulichen ein literarisches Material, das mit der Entwicklung von Klöstern und Einsiedeleien außerhalb des städtischen Raums auftaucht. Wahrscheinlich im Kontext der frühen asketischen Orden (Śrama ṇa) entstanden, findet diese Literatur ein Echo im brahmanischen Kontext (wie im Mahābhārata und außerhalb Nordindiens) und bildet somit ein gemeinsames literarisches Material, das die Entwicklung der »Garten­ institution«132 unterstützte. In den mittelalterlichen Quellen wurde dieser Śakuntalā-Garten-Archetypus weitergegeben:133 Nicht nur die ŚakuntalāGeschichte wurde zu einem beliebten Thema der Poesie und des Dramas (wie Kālidāsas Śakuntalā im 4. Jahrhundert n. Chr.), sondern die Beschreibung der Einsiedelei wurde auch zu einem Modell für die Gartenbeschreibung. Wie Busch bemerkt, legten indische Literaturtheoretiker genaue Regeln dafür fest, wie ein Dichter mit Beschreibungen schöner Landschaften umgehen sollte. Keshavdas134 zum Beispiel schlug vor: »Ein Garten sollte verlockend sein. Erwähnen Sie die hängenden Reben, die schönen Bäume und Blumen, das süße Gurren der Kuckucke und Pfauen, die Bienen, die überall herumschwirren.«135 Folglich finden sich die formelhaften Ausdrücke im Zusammenhang mit dem Garten in unterschiedlichsten Gattungen und religiösen Kon­ 131 132 133 134 135

Keller: Alternative Urbanities (Anm. 19). Ali: Court Life (Anm. 8), S. 239. Allerdings müsste die Vorgeschichte dieser Passage geklärt werden. Keshavdas Mishra (1555-1617). Allison Busch: Poetry of Kings. The Classical Hindi Literature of Mughal India, Oxford 2011, S. 72.

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texten.136 Sinnlichkeit, Spiritualität und befriedete Natur wurden zu gemeinsamen rhetorischen Elementen von Gartenbeschreibungen. In der höfischen Lite­ratur wurde die Gartenkulisse (Blume, Musik, Brise) in­ szeniert und verstärkt, um überwältigende Emotionen im Zusammenhang mit der Liebe wie Begehren und Trennung auszudrücken.137 Diese formelhaften Ausdrücke und literarischen Techniken wurden von den mystischen Braj-Dichtern aufgegriffen und hielten so den frühen Gartenarchetypus bis in die Mogul­zeit am Leben. Die literarische und bildkünstlerische Produktion der Mo­guln (z. B. die indische Adaption der persischen Geschichte von Layla und Majnun oder die yogische Abhandlung der Sufis) hätte in diesem Zusammen­hang sicherlich eine Revision verdient: Der Garten der Moguln könnte der südasiatischen Gartentradition mehr verdanken als zunächst angenommen. 4. Fazit

Unser imaginärer Spaziergang durch frühmittelalterliche Gärten wurde durch eine breite Palette von Quellen bereichert. Schließlich haben sich Poesie, Volksgeschichten und Dramen, āgam-ische, purāṇ-ische, buddhistische Kodexe und andere kanonische Texte sowie Epigraphik und Archäologie bei der Rekonstruktion der Realität des frühen südasiatischen Gartens als aussagekräftig erwiesen. Damit haben die neuesten historischen und kunsthistorischen Studien den Schleier der Unsichtbarkeit gelüftet und die Bedeutung der vormogulischen Gartenkultur aufgezeigt. Hoffentlich werden weitere multidisziplinäre Studien, die historische und archäologische Daten kombinieren, diese Bemühungen fortsetzen. Der aktuelle Stand der Forschung verdeutlicht, dass frühe südasiatische Gärten nicht einfach wilde Orte waren, sondern vielmehr anthropogenisierte natürliche Umgebungen. Ein genauerer Blick auf historische, regionale und religiöse Variationen zeigt, dass solche gestalteten Landschaften viele Formen annahmen, vom minimalistisch temperierten Ort eines asketischen Rückzugs bis hin zu genau geplanten und strukturierten könig­ lichen Gärten. Der Begriff »Garten« oder gar »Ārāma« reflektiert kaum die enormen Unterschiede zwischen städtischen elitären Lustgärten und ­peri-urbanen Parklandschaften, einschließlich buddhistischer und nicht-­ buddhistischer Ārāma-s, Āśrama-s, Tempelgärten, Varṣāvāsa-s und anderer Einsiedeleien. Diese unterschiedlichen Landschaften haben jedoch ge136 Schopen: Buddhist »Monastery« (Anm. 11); Sinha: No-Man’s Land (Anm. 13); Dasgupta: Gardens (Anm. 14), S. 137. 137 Busch: Poetry of Kings (Anm. 134), S. 74.

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meinsame Merkmale, die es uns erlauben, sie als ein Ensemble zu verstehen, das aus der »Entstehung des Gartens als Institution« hervorgeht.138 Das erste Merkmal des frühen südasiatischen Gartens ist seine Verbindung mit der Stadt. Der Garten als Institution ist eng verbunden mit der zweiten Urbanisierungsphase, der Entwicklung dichter städtischer Zen­ tren und dem Bedürfnis, eine sichere und zugängliche »zweite Natur« zu schaffen. In den Entsagungsbewegungen, insbesondere im Buddhismus, diente der peri-urbane Garten als Allegorie der grünen Einsiedelei und als Gegenmodell zum städtischen Hausherrsystem (System des Gṛhastha-s). Aus diesen religiösen Diskursen ging das Gartenmodell als eine anthro­ pogenisierte Landschaft hervor, in der die Natur befriedet und nicht gewaltsam beherrscht wurde. Auf der Grundlage dieses neuen Archetyps ist der frühe und mittelalterliche Garten ein spannender Ort, der die sinnliche Erfahrung der Materialität mit den Verheißungen himmlischer Wonnen verbindet. Vor allem die mittelalterlichen Elitegärten sind raffinierte und verschönerte Orte, die an die magische Dimension des mythischen Eremiten­ gartens erinnern sollen. Dieser Topos, der in der Śakuntalā-Erzählung des Mahābhārata ausführlich beschrieben wird, fasst den mythischen indischen Garten am besten zusammen. Er ist ein mächtiger Archetyp, der die Entstehung von Gärten in Südasien geprägt hat – und bis heute prägt. Sinnlichkeit und Spiritualität bringen die indische Vision des locus amoenus am besten auf den Punkt. Letztendlich würden die Gärten des Sultanats und der Moguln davon profitieren, in diesem archetypischen Rahmen neu betrachtet zu werden: Wir würden dann sicherlich feststellen, dass Baburs kritische Ansichten eher ein Legitimationsbestreben gegenüber seinem unmittelbar konkurrierenden Modell, nämlich dem indischen Sultanat, betraf und sich nicht auf die Frühzeit bezieht. Eine erneute Lektüre der Mogulgärten im Lichte der jüngsten Studien über frühe und mittelalterliche Gärten Südasiens könnte zur Beantwortung dieser Frage beitragen. Vielleicht verdankt der Mogulgarten der langen Tradition der indischen Lustgärten mehr, als man denkt, da die Welt der südasiatischen Gärten durch ihre starke hetero­ topische Dimension immer noch lebendig ist.

138 Ali: Court Life (Anm. 8), S. 239.

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Abbildungen Abb. 1: Smithsonian’s National Museum of Asian Art, Freer Gallery of Art and Arthur M. Sackler Gallery, Sammlung, Objekt-Nummer: S2001.6. Abb. 2: Rangarajan, L. N. (Übers.): Arthashastra by Kautilya, New Delhi / New York 1992 [1987], Chap. IV. Abb. 3:Mehrangarh Museum Trust. Abb. 4: Prakhar Vidyarthi (auf der Grundlage der Arbeit von Bandaranayake 1993). Abb. 5:Keller, Sara: Genesis of an Indian City. Urbanism and Architectural Knowledge in Ahmedabad. Ahmedabad 2022, S. 188. Abb. 6: Kay Tiwari (Fotografin und Team-Mitglied des Bandhavgarh National Parks).

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Der Barockgarten als frühneuzeitlicher Versuch der Naturbeherrschung Stefan Schweizer

Gärten als Infrastrukturen

Barockgärten erwecken heute vielfach zwiespältige Gefühle: Sie erscheinen uns einerseits als eintönig und, gemessen an zahlreichen jüngeren Gartenanlagen, als unnatürlich. Auf der anderen Seite könnten uns barocke Garten­anlagen vertraut vorkommen, denn die ihnen zugrunde liegenden, zum Teil gigantischen Eingriffe in die Natur sind uns von monumentalen Infrastrukturen aus dem täglichen Leben durchaus bekannt.1 So wie ba­ rocke Gärten einst eine landschaftsverändernde Wirkung besaßen, sind heute aus der Verlegung von Flüssen und dem Bau von Kanälen, der Anlage neuer Verkehrswege, den riesigen Infrastrukturen der Energiegewinnung und -verteilung sowie der Entsorgung menschengemachte Land­ schaften entstanden. In ihrer Großräumigkeit und in ihrer landschaft­lichen Dimension, in ihrer infrastrukturellen Komplexität und ihrer viel­fachen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Verfahren stellen Barock­ gärten durchaus Vorläufer moderner Infrastrukturen dar.2 Dies als These vorangestellt, soll der Typus des europäischen Barock­gartens, der in Landschaftsarchitektur und Städtebau des 19. und 20. Jahrhunderts global ­adaptiert wurde, in diesem Beitrag einer partiellen Neukontextualisierung unterzogen werden. Dabei geht es nicht um einzelne Gärten, konkrete Auftraggeber-Künstler-Beziehungen oder um lokale Ikonographien. Der Beitrag argumentiert typologisch und damit aus einer erheblichen Distanz zu einzelnen Gärten, um im Sinne einer Typologie sonst weitgehend ausgeblendete Beziehungen zu diskutieren. Angesichts der skizzierten Verwandtschaft mit modernen Infrastrukturen können Barockgärten ohne Weiteres in die Tradition der bis heute anhaltenden dauerhaften Einschreibung des Menschen in die Natur be1 Zur Geschichte von Infrastrukturen neuerdings: Dirk van Laak: Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2018. 2 Politische wie landschaftliche territoriale Dimensionen diskutiert Chandra Mukerji: Territorial Ambitions and the Gardens of Versailles, Cambridge /Massachusetts 1997; auch der Begriff der Residenzlandschaft verweist auf die Funktion von Landschlössern und Gärten, Territorium sichtbar zu machen; Ines Elsner: Friedrich III. / I. von Branden­ burg-Preußen (1688-1713) und die Berliner Residenzlandschaft: Studien zu einem früh­ neuzeitlichen Hof auf Reisen – Ein Residenzhandbuch, Berlin 2013.

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griffen werden. Diese Einschätzung verlangt, den Blick auf Barockgärten zu verändern und ihnen als spezifischem Typus neue Aktualität abzu­ gewinnen. Der Titel dieses Beitrags ist daher mit dem Terminus Natur­ beherrschung bewusst an ein uns bekanntes Konzept angelehnt.3 Wie wir seit einigen Jahren verstärkt am eigenen Leib erfahren haben, ist Natur­ beherrschung sowohl Notwendigkeit als auch Illusion und trägt paradoxer­ weise sowohl zur Bewahrung der Natur als auch zu ihrer Vernichtung bei. Die weit­gehend rücksichtslose Art und Weise der menschlichen Ein­ schreibung in die Natur generiert Effekte, die in den nächsten Jahrzehnten das menschliche Leben bestimmen werden: Klimawandel, Artensterben, Wald­sterben, Mikroplastikmüll, Extremwetterereignisse und Pandemien.4 Mit diesen krisenhaften Phänomenen geraten traditionelle Natur-MenschKonzepte in Bedrängnis.5 Dass viele Fragen aus diesem Kontext mehr, als wir vielleicht zunächst annehmen, mit Barockgärten zu tun haben, soll in diesem Beitrag demonstriert werden. Zu einigen Ausstattungsmerkmalen

Mitteleuropäische Barockgärten standen und stehen exemplarisch für den Zwang, der von Menschen gegenüber der Natur ausgeübt wurde, und die Liste dementsprechend negativer Stellungnahmen ist lang. Kritische Stimmen wurden bereits im 17. Jahrhundert laut und vermehrten sich un­ mittelbar nach dem Tod Ludwigs XIV.6 Mit dem Siegeszug des Landschaftsgartens etablierte sich die Ablehnung als Topos des aufgeklärten 3 Zur Naturbeherrschung im Kontext der Umweltgeschichte: Daniel R. Headrick: Macht euch die Erde untertan. Die Umweltgeschichte des Anthropozäns, Darmstadt 2021 sowie Frank Uekötter: Im Strudel. Eine Umweltgeschichte der modernen Welt, Frankfurt  a. M. / New York 2020. 4 Zur Frage, wie Pflanzen- und Tiergemeinschaften auf die klimatischen Veränderungen reagieren: Bernhard Kegel: Die Natur der Zukunft. Tier- und Pflanzenwelten in ­Zeiten des Klimawandels, Köln 2021. 5 Jane Bennet: Lebhafte Materie. Eine politische Ökonomie der Dinge, Berlin 2020; Birgit Recki: Natur und Technik. Eine Komplikation, De Natura VIII, Berlin 2021; Lorrain Daston: Gegen die Natur, De Natura V, Berlin 2018. 6 Zur Kritik am Barockgarten: Stefan Schweizer: L’identité par l’alterité. Modèles d’évaluation de l’art du jardin »français« entre stéréotypes nationaux et représentations historiques scientifiques au xixe siècle en allemagne, in: Gartenkultur du XIX e au XXIe siècle. À la recherche du jardin allemand, hg. von Hildegard Haberl / Anne-Marie Pailhès, Paris 2014, S. 17-31; des Weiteren Reinhard Zimmermann: Freiheit gegen Unfreiheit, Natur gegen Kunst? Der Gegensatz des formalen Gartens und des Landschaftsgartens als Denkfigur, in: Revolution in Arkadien, hg. von Berthold Heinecke / Harald Blanke, Hundisburg 2007, S. 59-82.

Der Barockgarten

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Bürgertums, für die stellvertretend eine Aussage Arthur Schopenhauers zitiert sei: In den Französischen Gärten hingegen spiegelt sich nur der Wille des Besitzers, welcher die Natur unterjocht hat, so daß sie, statt ihrer Ideen, die ihm entsprechenden, ihr aufgezwungenen Formen, als Ab­zeichen ihrer Sklaverei, trägt: geschorene Hecken, in allerhand Gestalten geschnittene Bäume, gerade Alleen, Bogengänge u. s. w.7 Das Zitat steht beispielhaft für den Topos, dass Formschnitt und Axialität per se gewaltsame Eingriffe in die Natur darstellen würden. Heute könnten daneben auch ein Mangel an Originalität, Biodiversität und Abwechslung zu einem Reputationsverlust barocker Gärten beitragen, vor dem sie aber ihr Denkmalstatus, ihr historischer Zeugniswert und ihr Alter bewahrt. Die meisten barocken Garten- und Parkanlagen bilden gleich­ wohl Rekonstruktionen des 20. Jahrhunderts, wenn auch seit den 1970er und 1980er Jahren in denkmalpflegerischer Perspektive.8 Ihre räumliche Ausdehnung und ihre Grundform mögen jeweils überdauert haben, sowohl die Wege- und Versorgungsinfrastruktur als auch der Vegetations­ bestand mussten aber überwiegend neu geschaffen werden. Nur selten können barocke Gartenanlagen jenseits der Gehölze in den Bosketts, wald­artigen Partien oder Alleen daher mit einem alten Pflanzenbestand auf­warten. Wenn den Barockgärten in ihrer ursprünglichen Ausstattung nicht Stürme, Überschwemmungen, Regentschaftswechsel oder Kriege den Garaus bereitet hatten, dann führte spätestens der radikale stilistische Wandel hin zum Landschaftsgarten ab den 1720er Jahren zu einer fast 7 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung II, in: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Band 4, Zürich 1977, S. 477. 8 Die Diskussion um die Rekonstruktionen von Gärten, insbesondere Barockgärten, verlief zum Teil zeitversetzt, zur Wiederherstellung von Het Loo (1977-1984) siehe etwa: Robert de Jong: Het Loo, Vorbild der niederländischen Gartendenkmalpflege?, in: Die Gartenkunst des Barock, Hefte des Deutschen Nationalkomitees 28, München 1998; zu den (privatwirtschaftlichen) Versuchen, den Heidelberger Barockgarten zu rekonstruieren: Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutsch­ land / Arbeitsgruppe Gartendenkmalpflege (Hg.): Noch »... eine neue Heidelberger Debatte anfangen«? Rekonstruktion und Gartendenkmalpflege. Dokumentation des Symposiums in Heidelberg am 17. April 2008, gemeinsam veranstaltet von der Arbeitsgruppe Gartendenkmalpflege der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundes­ republik Deutschland mit dem Institut für Europäische Kunstgeschichte der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Petersberg 2008; des Weiteren Geza Hajós / Joachim Wolschke-Bulmahn (Hg.): Gartendenkmalpflege zwischen Konservieren und Rekonstruieren, CGL -Studies 9, München 2011.

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flächendeckenden Vernichtung der älteren barocken Strukturen. Erst gegen 1800 wurden Konzepte etabliert, nicht selten erzwungen, die auf eine Ko­ existenz von Barockgarten und landschaftlichen Elementen hinausliefen.9 Der Begriff Barockgarten, dies muss zunächst betont werden, ist wie der kunsthistoriographische Barock-Begriff eine terminologische Hilfskonstruk­ tion.10 Er bezieht sich ganz überwiegend auf eine mehr oder weniger­ ­homogene Epoche, deren vorgebliche Einheit in einem europäischen Kontext fraglich ist. Grundlegend handelt es sich beim Barockgarten jedoch um einen Typus der europäischen Gartenkunst, dessen Formen- und Ausstattungsrepertoire durch formale Homogenität und eine internationale Verbreitung charakterisiert wird.11 Im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt seiner Verbreitung, wurden Gartenanlagen von Lissabon bis Moskau und von Stockholm bis Neapel in einem Stil angelegt, dem ein nahezu einheitliches motivisches Vokabular, eine ähnliche bau­ liche und skulpturale Ausstattung und eine spezifische Funktionalität zugrunde lag. Diese stilistische Dominanz kann im Übrigen für den profanen wie den sakralen Raum beobachtet werden, ebenso auf allen Ebenen der sozialen Rangordnung: Von Königen und Fürsten über den Adel bis zum kaufmännischen Bürgertum. Diese ungewöhnliche Dominanz eines Stils verdankt sich in einem erheblichen Maße dem Ansehen des Schlossgartens von Versailles und anderen royalen Maisons in der Île de France. Mit der Transformation von Versailles zum Residenzschloss, mitsamt einer eigenen Stadt sowie den Landschlössern der französischen Hocharistokratie, wurden Kristallisationspunkte von großer Wirkung geschaffen. Sie dienten in ganz Europa als Blaupause für die gärtnerische Einbettung von Residenzbauten, Lusthäusern und landschaftsarchitektonischen Strukturen der Stadtplanung. Als gestalterisches und funktionales Modell war der Barockgarten mit seinen geometrischen Grundrissen, seiner großräumigen Axialität und der Architektonik seiner Pflanzungen zeit seiner Existenz europaweites Vor9 Man denke insbesondere an Schwetzingen, Nymphenburg, Kassel-Wilhelmshöhe, Sanssouci. 10 Grundlegend, wenn auch aus der Perspektive der Architektur: Stephan Hoppe: Was ist Barock? Architektur und Städtebau Europas 1580-1770, Darmstadt 2003. 11 Für eine Übersicht: Wilfried Hansmann: Barocke Gartenparadiese. Meisterleistungen der Gartenarchitektur, Köln 1996; o. V.: Die Gartenkunst des Barock, Hefte des Deutschen Nationalkomitees 28, München 1998; Michel Conan (Hg.): Baroque Gardens. Emulation, Sublimation, and Transgression, Studies in Landscape Architecture XXV, Washington D. C. 2005; Iris Lauterbach: Der französische Garten am Ende des Ancien Régime: »Schöne Ordnung« und »geschmackvolles Ebenmaß«, Worms 1987; Stefan Schweizer: André Le Nôtre und die Erfindung der französischen Gartenkunst, Berlin 2013.

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Abb. 1: Kaskade im Garten des Palacio Real La Granja de San Ildefonso, bei Segovia

bild, wenn sich auch geographische Schwerpunkte beobachten lassen. So fiel die Adaption barocker Gartenmodelle im Mittelmeerraum aufgrund der klimatischen Bedingungen und der damit einhergehenden Vegetations­ spezifik etwas zurückhaltender aus bzw. wandelte Formen ab.12 Dass man gleichwohl die Vorbilder in der Île de France auch am Fuß der zentral­ spanischen Hochebene adaptieren konnte, weil es aus politisch-dynastischen Gründen angemessen erschien, belegen Gestaltung und Ausstattung des königlichen Schlossgartens von La Granja de San Ildefonso.13 Die barocke Gartenkunst wurde in einer mehrere Jahrzehnte andauernden Transformation evolutionär entwickelt. Der stilistische Wandel nahm seinen Ausgang in Frankreich, wo Gartenkunst um 1600 unter König Heinrich IV. und später unter seinem Sohn Ludwig XIII. als höfische Herausforderung betrachtet und entsprechend gefördert und auch codiert wurde. Die Herausforderung bestand auch darin, den französischen ­Königshof als europäisches Zentrum der Gartenkultur und der Agrikultur zu etablieren, was der Agronom Olivier de Serres in einem 1600 erschienenen Agronomie-Traktat in folgende Worte kleidete: 12 Zur Versailles- und Le-Nôtre-Rezeption siehe die Beiträge in Kapitel III in: Patricia Buchenot-Déchin / Georges Farhat (Hg.): André Le Nôtre en perspective, Ausst.-Kat. Versailles 2013, Paris 2013, S. 295-383. 13 Für Basisinformationen und weiterführende Literatur: José Luis Sancho / Juan Ramón Aparicio: Real Sitio de La Granja de San Ildefonso and Riofrío, Madrid 2019.

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Es ist nicht notwendig, nach Italien oder anderswohin zu reisen, um die schönen Anordnungen der Gartengestaltung zu sehen [= belle ordonnance des jardinages, S. S.], denn unser Frankreich riss den Preis über alle Nationen an sich, seien diese gering oder groß.14 In Italien war im 16. Jahrhundert eine neue Gartenkunst entstanden, die auf den Hauptflächen voluminöse Heckenparterres über regelmäßigen ­ornamentalen Grundrissen in Szene setzte.15 Die Grundelemente können an dieser Stelle nur skizzenhaft erwähnt werden: Die einzelnen Garten­ bereiche waren räumlich aufeinander bezogen, aber zumeist additiv gruppiert, manchmal mit und manchmal ohne axiale Verbindung zum Wohnhaus. Nicht selten dominierten Wasseranimationen in jeder erdenklichen Art: Wassertheater, Wand- und Schalenbrunnen, Kaskaden, Wassertreppen, Wasserketten, Springstrahlen einzeln oder als Ergänzung von Skulpturen. Laubengänge, Grotten und künstliche Berge sowie Skulpturen ergänzten das Ausstattungsprogramm. Die ersten Pflanzen aus Übersee stellte man in Kübeln zur Schau. Berühmte Beispiele wie der Boboli-Garten in Florenz, die Gärten der Villa Medicea in Castello bei Florenz, der Villa d’Este in Tivoli oder der Villa Lante in Bagnaia und gegen 1600 der Hanggarten der Villa Aldobrandini in Frascati dürfen als die gartenkünstlerischen ­Höhepunkte dieses Stils gelten.16 Ideologisch fußen sie auf dem Konzept der römisch-antiken Villa, deren Verklärung des Landlebens durch Horaz oder Plinius den Jüngeren entsprechend geschildert wurde und in der ­bukolischen Dichtung eines Vergil ihren poetischen Ausdruck fand. Insofern, als man diese antike Überlieferung wieder zur Grundlage der eigenen Kunst- und Lebenspraxis machte, verkörpert die Gartenkunst des 16. Jahrhunderts eine Renaissance der Antike. Daran wurde grundsätzlich auch im 17. Jahrhundert festgehalten. Der Ausgangspunkt der barocken Gartenentwicklung lässt sich grob zwischen das erste und zweite Viertel des 17. Jahrhunderts datieren. Bereits am Hof König Heinrichs IV. war ein erheblicher Aufschwung der 14 Olivier de Serres: Le Théâtre d’agriculture et mesnage des champs, Paris 1600, S. 895. Übersetzung von Stefan Schweizer; hierzu: Stefan Schweizer: Die Erfindung der Gartenkunst. Gattungsautonomie – Diskursgeschichte – Kunstwerkanspruch, München 2013, S. 164-171. 15 Für die Grundprinzipien sei als Standardwerk nach wie vor verwiesen auf: Claudia Lazzaro: The Italian Renaissance Garden. From the Conventions of Planting, Design, and Ornament to the Grand Gardens of Sixteenth-Century Central Italy, New Haven 1990. 16 Margherita Azzi Visentini: Die italienische Villa. Bauten des 15. und 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1997.

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Botanik zu verzeichnen. In Montpellier und Paris entstanden botanische Gärten.17 Als königlicher Hofgärtner fungierte Jean Robin (1550-1629), ein Botaniker von internationalem Rang, dessen Pflanzensammlung 1608 vom königlichen Kupferstecher Pierre Vallet in Form eines illustrierten Blumen­ buchs dem französischen König gewidmet wurde.18 Bereits 1601 hatte Robin eine Übersicht über die von ihm kultivierten Pflanzen veröffentlicht.19 Das Beispiel Robin verweist auf zwei Aspekte am Übergang vom Renaissance- zum Barockgarten: Zum einen wird der Wandel auch von einer wissenschaftlichen Perspektive bestimmt, zum anderen tritt der fran­ zösische Königshof als ein zentraler Ort der Innovationen in Erscheinung, was sich unter Ludwig XIII. und Ludwig XIV. nahtlos fortsetzen sollte. Gleichwohl wird der stilistische Übergang von der noch bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts andauernden Koexistenz unterschiedlicher Modelle geprägt. Ungeachtet neuer Entwicklungen am französischen Königshof orientierten sich Fürsten und begüterte Bürger in Mitteleuropa noch lange an italienischen Gärten, was nicht nur auf den Reisezielen der ade­ligen Grand Tour, sondern auch auf einer von Böhmen bis Frankreich reichenden Migration italienischer Künstler und Gärtner beruhte. Als unangefochtene europäische Kunstzentren behaupteten sich nach wie vor Florenz, Venedig und in erster Linie Rom. Auch die wichtigsten in Frankreich tätigen königlichen Hofgärtner und Brunnenmeister, wie etwa Tomaso und Alessandro Francini (frz. Francine) stammen aus Mittel­ italien.20 Rom behauptete diese Position gegenüber Paris auch im 17. Jahrhundert.21 Begrifflich schlug sich die Orientierung und das Festhalten an italienischen Vorbildern in der Bezeichnung all’italiana oder in italienischer Art nieder. Peter Paul Rubens ließ seinen in den frühen 1990er Jahren rekonstruierten Antwerpener Stadtgarten ab 1616 à la Romaine anlegen, 17 Zum europäischen Kontext: Lucia Tongiorgi Tomasi: Gardens of Knowledge and the République des Gens de Sciences, in: Baroque Gardens Culture. Emulation, Sublimation, Subversion, hg. von Michel Conan, Dumbarton Oaks Colloquium on the History of Landscape Architecture 25, Washington 2005, S. 85-129. 18 Pierre Vallet: Le jardin du roy très chrestien Henry IV, Roy de France et de Navarre, Paris 1608; zum Kontext Karl Mägdefrau: Geschichte der Botanik. Leben und Leistung großer Forscher, Stuttgart u. a. 1992, S. 43-60; ohne Berücksichtigung von ­Robin. 19 Jean Robin: Catalogus stirpium tam indigenarum quam exoticarum quæ Lutetiæ coluntur, Paris 1601. 20 Emmanuel Lurin: Tommaso Francini, ingénieur et fontainier du roi. Sa fortune à la cour de Louis  XIII et ses principales réalisations en France, in: Bulletin monumental 175, 4, 2017, S. 307-316. 21 Dietrich Erben: Paris und Rom. Die staatlich gelenkten Kunstbeziehungen unter Ludwig  XIV, Studien aus dem Warburg-Haus 9, Berlin 2004.

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d. h. nach dem Vorbild römisch/italienischer Gärten.22 Das wichtigste Ausstattungselement bildet ein von Rubens selbst entworfener Grotten­ pavillon mit Springwassern. Es dominieren Heckenparterres und Kübelpflanzen. Noch 1628 hält Joseph Furttenbach eine Gartengrotte »auff die italienische Manier« für modern genug, um sie seinen Leser*innen zu empfehlen.23 Was in Ulm, wo Furttenbach seinerzeit lebte, noch angezeigt schien, musste in Paris und Umgebung in dieser Zeit bereits als obsolet gelten. Hier etablierte sich der neue Stil in Form neuer ornamentaler Beetstrukturen, in Form des Parterres de Broderie. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts fand es in Mittel- und Nordeuropa Ver­ breitung.24 Broderien

Der französische Hofgärtner Claude Mollet verfasste in den 1620er Jahren ein Traktat, eine Unterweisung, wie Gärten anzulegen seien, der erst postum 1652 gedruckt wurde. Zu den Neuerungen rechnete er jene Parterres de Broderie, also Zierbeete, deren Ornamente nach Art von Stickereien gefertigt sind.25 Schmale, akkurat und kurz geschnittene Buchshecken bilden ein auf graphische Wirkung ausgerichtetes Gestaltungselement über einfarbigem mineralischen Grund. Parterres dieser Art erklärt Mollet zum Hauptornament eines Gartens. Frühe Beispiele haben sich nicht erhalten, sodass wir auf Graphiken angewiesen sind, etwa solche aus Mollets Traktat, aber auch auf Gartenveduten.26 Bildliche Zeugnisse für frühe Broderie-Parterres finden sich etwa in Ansichten des königlichen Gartens zu Saint-Germain-en-Lay westlich von Paris an der Seine. Hier belegt ein Stich Michel Lasnes, dass die mit den Broderien erzielten Bildeffekte der Broderie-Parterres auch eine ikonogra22 Zum Rubensgarten Ursula Härting: Ruben’s Garten in Antwerpen, in: dies.: Gärten und Höfe der Rubenszeit im Spiegel der Malerfamilie Brueghel und der Künstler um Peter Paul Rubens, Ausst.-Kat., Hamm / München 2000, S. 59-66, hier S. 64. 23 Joseph Furttenbach: Architectura civilis, Ulm 1628, S. 33; auf den folgenden Seiten beschreibt Furttenbach Grottenbauwerke und verweist auf ihren italienischen Ursprung, wie auch weitere Begriffe wie Cortile oder die von ihm vorgeschlagenen Pflanzen, etwa Zypressen, das Vorbild Italien nicht verhehlen. 24 Grundlegend: Wilfried Hansmann: Das Gartenparterre. Gestaltung und Sinngehalt nach Ansichten, Plänen und Schriften aus sechs Jahrhunderten, Worms 2009. 25 Claude Mollet: Théâtre des plans et jardinages, Paris 1652, Kapitel 30-33; hierzu: Stefan Schweizer: Die Erfindung der Gartenkunst. Gattungsautonomie – Diskurs­ geschichte – Kunstwerkanspruch, München 2013, S. 238-246. 26 Zur Geschichte der Broderie: Clemens Alexander Wimmer: Die Broderie der Gärten, in: Barockberichte 46 /47, 2007, S. 61-78.

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Abb. 2: Jacques Mollet: ­Parterrefeld aus vier zentrierten ­Kompartimenten

phische Funktion übernehmen konnten, indem etwa die Initialen eines Fürsten oder Königs, hoheitliche oder heraldische Motive dargestellt wurden. In der Hauptsache wurden die Motive aus arabesken Ranken­ ornamenten geformt, wie man sie aus der Textilkunst oder von Wand- und Deckenvertäfelungen, nicht zuletzt aber von Ornamentstichen kannte. Der mineralische Grund – Kies, später auch Schlacke, Marmor- und Ziegelschlag – wurde in der Regel durch Blumenrabatten begrenzt, die aus möglichst flach blühenden Blumen bestand. Claude Mollet schlägt Hyazinthen, Anemonen, Kamille, Gänseblümchen und Margeriten vor.27 Ein frühes Beispiel im deutschsprachigen Raum stellt der Heidelberger Schlossgarten, der Hortus Palatinus dar, den Salomon de Caus ab 1615 anlegte, der aber kriegsbedingt ein Fragment blieb und bald zerstört ­wurde.28 Der Begriff Broderie wird von de Caus erstmals eingedeutscht und mit Laubwerk (»vff die art eines Laubwercks zugerichtet«29) übersetzt, womit der Autor beschreibt, dass das Ornament mit den Blättern der Buchsbäume gebildet wird. Seit ca. 1600 entwickelten sich Broderien für etwa 150 Jahre zum prominentesten Ausstattungsmerkmal barocker G ­ ärten 27 Mollet: Théâtre des plans et jardinages (Anm. 25), S. 190. 28 Salomon de Caus: Hortvs Palatinvs: A Friderico Rege Boemiae Electore Palatino Heidelbergae Exstructus, Frankfurt a. M. 1620, Tafel 5, 14; Stiftung Schloss und Park Benrath / Stefan Schweizer (Hg.): Wunder und Wissenschaft. Salomon de Caus und die Automatentechnik in Gärten um 1600, Ausstellungskatalog Stiftung Schloss und Park Benrath, Düsseldorf 2008, S. 180-195. 29 de Caus: Hortvs Palatinvs (Anm. 28), Textseite 2 (unpaginiert).

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und veranschaulichten eine Ordnung der Natur, die das ästhetische Bedürfnis einer gänzlich unterworfenen Natur ikonisch verdichtete. Die gestalterische Souveränität, auch die Natur, den Freiraum des Gartens einem solchen Ornamentsystem unterwerfen zu können, dürfte den durchschlagenden und langanhaltenden Erfolg der Broderien begründet haben. Als Ordnungsmodell veranschaulichte das Broderie-Parterre eine Illusion, die nur so lang aufrechterhalten werden konnte, wie man Gärtner zu bezahlen in der Lage war.30 Broderien machten zudem nur dort Sinn, wo Möglichkeiten bestanden, sie aus erhöhter Position zu betrachten. Dass sie sehr früh in Terrassenanlagen wie in Saint-Germain-en-Lay oder Heidelberg zum Einsatz kamen, ist mithin kein Zufall. Einen weiteren Entwicklungsschritt bedeutete es, die Gartenordnung mit der architektonischen Ordnung zu verknüpfen, Gartenraum und ­Architektur aufeinander zu beziehen. Dies geschieht in den 1630er Jahren in einem Gartentraktat Jacques Boyceaus, seines Zeichens königlicher Gärtner, der erstmals den Entwurf eines ornamentalen Beetsystems auf den Grundriss eines Hauses bezog.31 Innerhalb der Broderie-Ornamente lassen sich erhebliche stilistische Veränderungen beobachten. Ihre Ornamente werden komplizierter, die vierteilige Anordnung um einen Brunnen im Zentrum eines Wegekreuzes wird aufgegeben zugunsten von wegebegleitenden Parterreflächen. Zu­ nehmend spielt Rasen eine größere Rolle, nicht zuletzt, um den Pflege­ aufwand zu begrenzen. Bis ins frühe 18. Jahrhundert entstehen unzählige Kombinationsmöglichkeiten, auch reine Blumenparterres und solche mit halbhohen Gehölzen.32 Gesäumt bzw. flankiert wurden Parterres in der Regel von Hecken, Spalieren, Alleen und regelmäßigen Gehölzpflanzungen, den waldartigen Bosketts. Auch sie stellen entgegen ihrem italienischen Ursprung im Wort bosco weitgehend ein Ausstattungsmerkmal des Barockgartens dar. Es wird darauf zurückzukommen sein. Festzuhalten bleibt bis hierher, dass sich das Broderie-Beet als eine Art Signum des ­Barockgartens etablieren konnte und seine Erfindung gerade vor einem klimahistorischen Horizont eine bemerkenswerte Dimension besitzt.

30 Zur Frage der ökonomischen Dimension von Errichtung und Unterhalt von Gärten neuerdings Roderick Floud: An Economic History of the English Garden, London 2019. 31 Jacques Boyceau de la Barauderie: Traité du Iardinage selon les raisons de la nature et de l’art. Réimpression de l’Édition originale Paris 1638 presentée par Iris Lauterbach, Nördlingen 1997, Architecture recreationis 3, S. 82, Planche 4. 32 Zur Vielfalt und partiell zur Entwicklung siehe Hansmann: Das Gartenparterre (Anm. 24).

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Kleine Eiszeit – große Krise

Die in ganz Europa neu erwachende Leidenschaft für Gärten im 14. und 15. Jahrhundert fällt klimahistorisch zunächst in die Spätphase eines ­klimatischen Optimums.33 Umso interessanter ist die kaum einmal auf­ geworfene Frage, wie die sukzessive einsetzenden Klimaveränderungen nach 1500 und besonders nach 1600 die Gartenkunst von Renaissance und Barock beeinflussten. Für den klimabegünstigten Mittelmeerraum wird man kaum Daten analysieren können, doch konnten für Mittel- und Westeuropa zahlreiche Beobachtungen gemacht werden, mit denen man die Verschlechterung von Lebensbedingungen klimahistorisch begründen kann. Nachweisen lassen sich ab 1550 ein massives Gletscherwachstum sowie eine erhebliche vulkanische Aktivität. Die Staub- und Aschewolken blockierten die Sonneneinstrahlung und führten zu Abkühlungseffekten. Der Abfall der Temperaturen ging in Mitteleuropa mit abnorm langen Wintern, erheblich vergrößerten Niederschlagsmengen, Überflutungen und schlussendlich mit Missernten und dramatischen Hungerkrisen einher. 1620 /21 fror der Bosporus zu, ein Ereignis, das exemplarisch steht für eine Zeit kältester Winter in ganz Europa, an die sich nasse Sommer und Phasen des Wechsels von Regen und Dürre in den späten 1620er und frühen 1630er Jahren anschlossen.34 Selbst die Biodiversität Mitteleuropas ging für den Menschen spürbar zurück, indem sich die Anbaugrenzen einzelner Agrarkulturen gezwungenermaßen nach Süden verschoben. Dies betraf im Alten Reich u. a. den Anbau von Weizen und Wein. In Nordeuropa mussten zahlreiche Siedlungen aufgegeben werden, weil sich die Lebensbedingungen binnen zweier Generationen dramatisch verschärft hatten. Neben der verstärkten vulkanischen Aktivität wurde die seit den 1930er Jahren sogenannte Kleine Eiszeit, die im Kern zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert datiert wird, höchstwahrscheinlich durch einen leichten Rückgang der Sonnenaktivität ausgelöst, der zum Absinken der Temperaturen um durchschnittlich bis zu 1,5°C führte. Phasen der Minimierung 33 Ich orientiere mich in diesem Abschnitt an: Stefan Rahmstorf  / Hans Joachim Schellnhuber: Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie, München 2019; Franz Mauelshagen: Klimageschichte der Neuzeit (1500-1900), Darmstadt 2010; Wolfgang Behringer: Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2016; Wolfgang Behringer et al. (Hg.): Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit«, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212, Göttingen 2005. 34 Headrick: Macht Euch die Erde untertan (Anm. 3), S. 214.

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Abb. 3: Globale Temperaturveränderungen in den vergangenen 2000 Jahren mit mittelalterlicher Warm-Phase und Kleiner Eiszeit

der Sonnenflecken hatte es immer wieder gegeben, doch das MaundersMinimum, die uns interessierende Zeit, benannt nach dem britischen Astronomen Edward Walter Maunder, veränderte die Existenzbedingungen in Mitteleuropa für Flora und Fauna erheblich. Die durch diesen Klimawandel ausgelöste, weit verbreitete Not gilt heute unbestritten als ein entscheidender Faktor für den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. Der Beginn und die Etablierungsphase der barocken Gartenkunst fällt damit, es ist überfällig, diese Relation einmal zu verdeutlichen, in eine äußerst krisenhafte Zeit, wobei die Veränderung des Klimas dabei nur einen Krisenaspekt darstellt.35 In der Folge verschlechterter klimatischer Bedingungen war die Bevölkerung wesentlich leichter anfällig für Pandemien wie die Pest und selbst ein zentraler Messfaktor für Wohlstand, die durchschnittliche Körpergröße, sank markant: Soldaten mit Geburts­ datum in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren 2,5 bis 3,8 cm kleiner als solche, die nach 1700 geboren wurden.36 Wendet man sich vor diesem Hintergrund noch einmal den BroderieFlächen barocker Gärten zu, dann wächst womöglich unser Verständnis für ihre pflanzliche Kargheit, die sich nun auch mit den klimatischen Bedingungen im frühen 17. Jahrhundert erklären ließen. Gegenüber ihren Vorgängern, massiven, architektonisch wirkenden Hainbuchen- oder ­Taxushecken, wurden sie erheblich abgeflacht und eigneten sich dadurch 35 Siehe hierzu: Manfred Jakubowski-Tiessen (Hg.): Krisen des 17. Jahrhunderts. Interdisziplinäre Perspektiven, Göttingen 1999. 36 Headrick: Macht Euch die Erde untertan (Anm. 3), S. 220.

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Abb. 4: Schloss Augustusburg, Brühl, Blick auf das von Dominique Girard ­entworfene Broderie-Parterre

für feingliedrige Ornamente aller Art. Zugleich waren sie damit weniger anfällig für Wetterschäden und wären damit als eine Anpassung an die Erfahrungen mit häufigen Wetterextremen und sinkenden Temperaturen zu betrachten. Ihre pflanzliche Grundausstattung, Buxus sempervirens, lässt sich leicht schneiden und durch Bleibänder in Form halten. Der mineralische Grund vertrug auch hohe Niederschlagsmengen, kühle Sommer, lange Winter und Wetterextreme wie Starkregen und Stürme. Natürlich sollte man die Erfindung und Verbreitung der Broderien nicht als eine zielgerichtete Reaktion auf die Anhäufung von Wetter­ extremen betrachten. Kein Zeitgenosse war auch nur ansatzweise in der Lage, den langwierigen, sukzessiven klimatischen Wandel des 17. Jahrhunderts in einen klimageschichtlichen Zusammenhang zu stellen, zumal die moderne Klimahistoriographie dazu selbst erst seit einigen Jahrzehnten fähig ist. Ohne eine Abhängigkeit der barockzeitlichen Gärten von spürbaren Klimaveränderungen im 17. und 18. Jahrhundert überzustrapazieren, bleibt jedoch festzuhalten, dass ihr zentrales Ausstattungselement, die Broderie-Fläche, eine mehr oder weniger unverwüstliche Fläche darstellte, die selbst unter kälteren und niederschlagsreicheren klimatischen Bedingungen vergleichsweise leicht einzurichten und zu pflegen war. Daran, dass Gartenkunst im 17. Jahrhundert die Aufgabe zukam, das Leben in der Natur überhaupt zu ermöglichen und daher zum Nutzen des Menschen erheblich in die Natur einzugreifen, besteht kein Zweifel. In

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seinem Lob des Landlebens, das er seinem 1669 publizierten Gartentraktat voranstellte, betont der niederländische Gärtner Jan van der Groen die Aufgabe der Gartenkunst, die Natur zu verbessern. Der Natur wohne zwar mit der Saison- und Vegetationsabfolge ein Prinzip inne, das für Wachstum und Gedeih der Pflanzen sorge, doch sei es aus Sicht des Menschen verbesserungsbedürftig: Jedoch / ob gleich all diese Dinge / die Natur selbst zu rechter Zeit wirket / so können und müssen sie doch (wo man den rechten Gebrauch und Nutzen wil haben) durch Kunst geholffen und verbessert werden. Dan durch Kunst kann die Erde / die an vielen Oertern von Natur unfruchtbar / fruchtbar gemacht werden. Durch Kunst kan man die wilde/ harte / ungeschmackte Früchte durch pfropfen / tüngen / saubern / und warten / heimisch / lieblich / eßbar / und schmackhafft machen. Diese und mehr andere find gemein / und auch nöhtig. Aber auf unser vornehmen zu kommen / sagen wir, daß die Natur / die sich manchmahl ungeschicklich erzeigt / durch Kunst kann auffgerichtet / geleitet und in Ordnung gebracht werden. Darüber siehet man vielmahls Berge und Hügel schleiffen und schlichten / und die Thäler erhöhen / man machet das Wasser zu Land / und Land zu Wasser / etc. Allee diese Dinge werden in den Luftgärten beobachtet / da man alles richtscheydig / oder zu beyden seiten gleichförmig machet.37 Es erscheint bemerkenswert, welch umfassenden Gestaltungsanspruch van der Groen vertritt. Er plädiert nicht nur für gartenbauliche Veredelungstechniken wie das Pfropfen, sondern betont geradezu den landschafts­ verändernden Charakter der Gartenkunst. Dies leitet zu weiteren Besonderheiten der barocken Gartenkunst über. Garten und Landschaft

Zwei weitere charakteristische Merkmale unterscheiden den Barockgarten von seinen Vorgängern. Das erste ist die pure Vergrößerung der für G ­ arten und Park beanspruchten Fläche, die schiere räumliche Monumentalität, in der sich die neuen Gärten von ihren Vorbildern in Italien oder andernorts 37 Jan van der Groen: Le jardinier hollandois: = Der Niederländische Gärtner, das ist eine Beschreibung allerhand Fürstlicher Herren Höfen und Lustgärten […] nebest einem Anhange von 200 Modellen der Blumenfelder, Irrgängen, Lauben und Sonnenweisern, Amsterdam 1669, Einleitung, nach Tafel 6 (unpaginiert).

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Abb. 5: Schlosspark Sceaux, Blick in die Hauptachse Richtung Süden – Garten und Landschaft verschmelzen miteinander

unterschieden. Die Maßstabsveränderung setzte zunächst entsprechenden Grundbesitz voraus und erhob Gartenkunst dadurch partiell in den Rang einer Luxusgattung. Mit der Monumentalisierung geht ein weiteres Charakteristikum einher: der gestalterische Einbezug der Landschaft in den Garten und vice versa des Gartens in die Landschaft. Gärten der Renaissance tendierten dazu, sich aus der Natur auszugrenzen, wenn auch ihre Lage an Hängen und auf Hügeln die Umgebung in Form von Panoramen ins Blickfeld rückte. Immer entschiedener trat nach 1600 die Landschaft als gestalteter Bezugsraum hinzu, was sicher auch auf der infrastrukturellen Verknüpfung herrschaftlichen Grundbesitzes beruhte. Alleen, Straßen und Kanäle verbanden die Residenzen mit den Landschlössern und die Landschlösser untereinander, Infrastruktur wurde zum Symbol herrschaftlicher Einschreibung in die Landschaft. Um eine visuelle Verknüpfung von Garten und Landschaft zu gewährleisten, verzichtete man zumindest in den Blickachsen auf Mauern oder Gitter und schuf stattdessen durch vertiefte Futtermauern gebildete Gräben, die das Einbrechen von Wild- und das Ausbrechen von Nutztieren verhinderten. Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville, Autor des wichtigsten Traktats in der Hochphase der barocken Gartenkunst, bezeichnete die aus der Ferne unsichtbaren Begrenzungsgräben 1709 als »Ah, ah-Graben«. Er beschreibt diese unsichtbare Begrenzung eines Parks wie folgt:

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Man kann »ah, ah« genannte Durchsichten präsentieren, Maueröffnungen ohne Gitter auf der Höhe der Allee, mit einem breiten und sich plötzlich vertiefenden Graben, der an beiden Seiten verkleidet ist […]. Dies überrascht den Blick beim Herannahen, sodass man ah ah ausruft, woher sie ihren Namen haben.38 Schwärmerische Landschaftsschilderungen kennen wir bereits aus der Renaissance, doch die Landschaft als Anschauungsobjekt für das Schöne erfuhr im 17. Jahrhundert in Dichtung und Malerei eine neue Bedeutung, man denke etwa an die Landschaftsansichten Claude Lorrains. Dezallier d’Argenville, ein Kunstkenner und Sammler von Rang, stellt die Bedeutung der schönen Landschaft für den Garten in seinem Traktat heraus und macht sie damit zu einem Thema der Gartenkunst: Ich finde nichts unterhaltsamer und nichts angenehmer in einem Garten als eine schöne Aussicht und den Anblick eines schönen L ­ andes. Die Freude, das Stück einer Allee oder die Anlage einer Terrasse, rundherum vier oder fünf Orte, zu entdecken, eine Vielzahl von Städten, von Wäldern, Flüssen, Hügeln, Wiesen und tausend andere Mannigfaltigkeiten, die eine schöne Landschaft ausmachen, übertrifft alles, was ich hier beschreiben könnte; es sind Dinge, die man sehen muss, um über ihre Schönheit zu urteilen.39 Gartenkunst erscheint hier als ein Modus der Landschaftsaneignung – aus Lust an der Schönheit, zur Veranschaulichung und zur Symbolisierung von Herrschaft. Die infrastrukturellen Verbindungen von Residenz und Landschloss oder die zwischen verschiedenen Landschlössern modellierten Residenzlandschaften, wie wir sie aus der Île de France, aus dem Umland von Turin, Dresden, München, London, Sankt Petersburg, Potsdam usw. kennen.40 Von Gärten ging dabei zumeist ein entscheidender Impuls für die Raumordnung aus, indem die Gartenachsen in das Umland verlängert, gebündelt wurden, etwa in Form dreistrahliger Patte d’oie 41 oder als lineare mehrspurige Allee. 38 Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville: La Théorie et pratique du jardinage, Paris 1709, S. 74; Übersetzung von Stefan Schweizer. 39 Dezallier d’Argenville: La Théorie et pratique du jardinage (Anm. 38), S. 13; Übersetzung von Stefan Schweizer. 40 Ines Elsner: Friedrich III./I. von Brandenburg-Preußen und die Berliner Residenzlandschaft (Anm. 2). 41 Als Patte d’oie – französisch für Gänsefuß – wurde seit dem 17. Jahrhundert ein von einem Punkt ausgehendes, zumeist dreistrahliges Achsensystem bezeichnet, das für Wege- und Blickachsen in Gärten, aber auch im Städtebau Anwendung fand.

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Solche Versuche raumgreifender infrastruktureller Markierungen und Verknüpfungen eines Herrschaftsgebiets lassen sich bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Kleve beobachten, wo der preußische Statthalter Johann Moritz von Nassau-Siegen durch seinen Architekten Jacob van Campen eine Gartenlandschaft anlegen ließ, deren zahlreiche Blick- und Wegeachsen das Statthalterschloss mit anderen wichtigen Bezugspunkten verband.42 Hier wird die Landschaft gleichsam zum Garten und formuliert ein Paradigma, an das zahlreiche Landschaftsgärten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder anknüpfen werden. Auch das Klever Beispiel verdankt sich einem herrschaftlichen Ordnungsgedanken, der sich zugleich für die Allgemeinheit mit infrastrukturellen Neuerungen verband. Dies lässt sich auch in Paris beobachten, wo André Le Nôtre die Neu­ gestaltung des Tuileriengartens zum Anlass nahm, das westlich daran angrenzende Waldgebiet, die Champs-Élysées, mit einer Allee zu erschließen, die den Verlauf der Gartenachse ins Umland verlängerte.43 Wald

Wer in Versailles von der Schlossterrasse nach Westen schaut, blickt auf Wälder bzw. waldartige Partien. Ein Großteil des Schlossparks besteht aus Gehölzpflanzungen – in den Bosketts durch meterhohe Hecken begrenzte Buchenwäldchen mit regelmäßigen Wegesystemen und Plätzen. Wald, in welcher Form auch immer, war eine der wichtigsten Ressourcen der ­Frühen Neuzeit. Ihre maßlose Ausbeutung hatte im Hochmittelalter zu einem flächendeckenden und nachhaltigen Waldverlust beigetragen, der in zahlreichen europäischen Regionen bis heute nachwirkt. Bereits im 14. Jahrhundert wurden Verbote von Rodungen erlassen, Waldschutzmaßnahmen ein­ geleitet und Aufforstungen in Gang gesetzt.44 Bedenkt man die in der Frühen Neuzeit rasant ansteigende Entwaldung Europas, dann entpuppt sich der Barockgarten als ein Impuls für die Forst­ wirtschaft und Forstwissenschaft. Mit John Evelyn hatte einer der führenden Gartentheoretiker und -entwerfer Großbritanniens einen mehrfach

42 Wilhelm A. Diedenhofen (Hg.): Klevische Gartenlust. Gartenkunst und Badebauten in Kleve, Ausst.-Kat., Kleve 1994. 43 Stefan Schweizer / Christof Baier (Hg.): Illusion und Imagination. André Le Nôtres Gärten im Spiegel barocker Druckgraphik, Ausst.-Kat. Stiftung Schloss und Park Benrath, Düsseldorf 2013, S. 76-81. 44 Hansjörg Küster: Die Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, München 2013, S. 129.

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Abb. 6: Schlosspark Versailles, Blick in die Allée royale; an die waldartigen ­Bosketts schließt sich der Grand Parc mit seinem alten Baumbestand an

aufgelegten Traktat zur Forstwissenschaft verfasst.45 Zumeist wurden Gartenanlagen auf ödem Brachland errichtet, was durch Bild­dokumente belegt wird. Auf Israel Silvestres Ansicht von der nahezu fertig­gestellten Gartenanlage in Vaux-Le-Vicomte liegt die Parterrefläche in einer nur spärlich bepflanzten Ödnis. Während man für die seitlichen Bosketts ­offenbar bereits bestehende Gehölzpartien verwenden konnte, dauerte es Jahrzehnte, bis der sich südlich anschließende Jagdpark auf­geforstet war.46 Das Beispiel kann verallgemeinert werden: Barockparke sind Orte zielgerichteter Aufforstungen, nicht zuletzt um den beliebtesten Zeit­ vertreib des Adels, die Jagd, in den Wäldern nahe der Landschlösser zu ermöglichen.47 Erst im 18. Jahrhundert erkannten auch Fürsten und staatliche Administratoren, dass es einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung bedurfte, die der flächendeckenden Waldzerstörung Einhalt gebot. Wenn auch nur ein einziges Mal angeführt, so verdankt sich der Begriff nach­ haltig dem sächsischen Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz, der 45 John Evelyn: Sylva, or Discourse on Forest Trees, London 1664. 46 Israel Silvestre: Vue et Perspective du Jardin de Vaux Le Vicomte, 1660; Schweizer / Baier: Illusion und Imagination (Anm. 43), S. 114. 47 Grundlegend: Werner Rösener: Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit, Düsseldorf 2004, S. 278-321.

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in seiner Sylvicultura oeconomica 1713 tatsächlich neue, dendrologisch ­basierte Bewirt­schaftungsformen des Waldes forderte. Carlowitz reagierte mit seinem  Trak­tat auf den, wie es im Titel heißt, »allenthalben und insgemein einreisenden großen Holz-Mangel« und formulierte erstmals forstwirtschaftliche Prinzipien der Nachhaltigkeit. Wie Jan van der Groen ein Dreivierteljahrhundert zuvor interpretiert auch Carlowitz den menschlichen Eingriff in die Natur als Verbesserung derselben, wenn er anlässlich der Diskussion über Baumsaaten auf Schlagflächen davon spricht, »Wieder­ wuchs durch Aussaat wilder Bäume zu fördern und der Natur auf diese Weise Beistand zu leiste[n].«48 Die Liegenschaft eines Landschlosses mit Garten und Park ging oft nahtlos in Wälder über oder war mit Wäldern verknüpft. Die Re-Etablierung der Jagd als höfisches und adeliges Vergnügen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwang jedoch landesherrliche Forstbeamte oft dazu, den Wald für die Jagd herzurichten und weniger im Sinne nachhaltiger Forstwirtschaft zu agieren. Dies erklärt auch die oft in angrenzende Wälder verlängerten Wegschneisen, die der Jagd dienten. Wissenschaft im 17. Jahrhundert in den Gärten

Wenden wir uns abschließend einer Dimension barocker Garten- und Parkanlagen zu, die mittlerweile recht gut untersucht ist,49 aber jenseits der Gartenforschung noch immer unterschätzt wird: der engen Beziehung zu den angewandten Naturwissenschaften. In der Abhängigkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen manifestiert sich einmal mehr das Paradigma des Barockgartens als Medium und Modell der Naturbeherrschung. Das 17. Jahrhundert markiert allen Krisen zum Trotz bzw. als ­Reaktion auf diese ein Zeitalter des wissenschaftlichen Auf bruchs. Galileo Galilei, Francis Bacon, Johannes Kepler, Christiaan Huygens, John Boyle, René Descartes, Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz stehen stell­ vertretend für die wissenschaftliche Revolution des Barockzeitalters.50 Im 48 Hans Carl von Carlowitz: Sylvicultura oeconomica. Transkription in das Deutsch der Gegenwart, übers. von Harald Tomasius / Bernd Bendix, Remagen 2013, S. 141; zum größeren Kontext: Karl Hasel / Ekkehard Schwatz: Forstgeschichte. Ein Grundriss für Studium und Praxis, Remagen 2006. 49 Hier ist insbesondere zu nennen: Hubertus Fischer et al. (Hg.): Gardens, Knowledge and the Sciences in the Early Modern Period, Basel 2016; sowie mit Abstrichen: ­Michael Eckert: Physik im Schlosspark. Der Lustgarten als Schauplatz neuer Technik. Schloss Nymphenburg, Versailles, Sanssouci, München 2020. 50 Ich stütze mich auf Stephen Mason: Geschichte der Naturwissenschaften in Entwicklungen und ihren Denkweisen, Bassum 1997, S. 166-320.

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Abb. 7: Sebastien Leclerc, König Ludwig XIV. besucht die Académie des sciences in Paris

17. Jahrhundert wurden Teleskop, Mikroskop, Quecksilberbarometer und Thermometer erfunden sowie die ersten wissenschaftlichen Akademien gegründet: in London 1660 die Royal Society, in Paris 1666 die Académie des sciences. Die enge Verbindung von Wissenschaft und Gartenkunst setzt ein Kupferstich Sebastien Leclercs 1671 geradezu emblematisch ins Bild. Die Darstellung zeigt den imaginären Besuch König Ludwigs XIV. bei der Akademie der Wissenschaften in Paris. Der König wird von hochkarätiger Entourage begleitet – von links nach rechts reihen sich auf: der prince de Condé, der Herzog von Orléans, Bruder des Königs, sowie rechts von Ludwig XIV. Finanz- und Bau­ intendant Jean-Baptiste Colbert. In der zweiten Reihe wurde zwischen dem prince de Condé und dem Herzog von Orléans der Mathematiker und Astronom Giovanni Domenico Cassini, der erste Direktor des Pariser Observatoriums, platziert. Der Architekt dieses epochalen Wissenschaftsbauwerks, Claude Perrault, steht in der zweiten Reihe zwischen dem König und Colbert. Der Stich ist programmatisch zu verstehen und daher als imaginär zu betrachten. Der König wird als Förderer der Wissenschaften in Szene gesetzt. Den merkantilistischen Anwendungsbezug der Naturwissenschaften veranschaulichen eine Landkarte, ein Globus, ein Festungsplan sowie ein

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Teleskop. Andere Instrumente und Modelle wie Armillarsphäre, Helioscop (Hohlspiegel), anatomische und zoologische Präparate oder gläserne Utensilien für chemische Experimente stehen Pars pro Toto für die Vielfalt wissenschaftlicher Methoden und Disziplinen. Der Hauptaussage der Darstellung ordnet sich ihr Realitätscharakter unter. Zwar existierten Räume am Jardin du Roi, dem Botanischen Garten in Paris, in dem ­Naturwissenschaftler arbeiten konnten, die Académie des sciences nutzt in ihrer Anfangszeit allerdings Räumlichkeiten in der Privatbibliothek des Königs in der Rue Vivienne.51 Ob es sich bei dem Garten vor den Fenstern um den Jardin du Roi handelt, wie gelegentlich behauptet, ist unklar, zumal die prominent ins Bild gerückte Baustelle des königlichen Observatoriums ebenfalls ein ­visuelles Versatzstück darstellt.52 Alle drei Orte, die Bibliothek, der Jardin du Roi und die nahe des Palais du Luxembourg von Claude Perrault errichtete Sternwarte liegen in verschiedenen Quartieren von Paris. Wenn Leclerc das Observatorium auf einem Hügel ins Bild rückt, dann ist auch das programmatisch zu verstehen. Die Akademisierung der Wissenschaften fand mit diesem Bauwerk für Jahrzehnte ihren wichtigsten architektonischen Ausdruck. Unmittelbar vor den Fenstern des imaginären Akademieraums, der so 1671 nicht existiert hat, erstreckt sich ein Parterregarten mit Broderien, dessen Wege Leclerc zur perfekten perspektivischen Verkürzung des Raums auf seinem Stich nutzen kann. Er demonstriert damit, wie man optische Gesetze zur Darstellung, aber auch für die Planung von Gärten einsetzt. Auch das kann nicht als Zufall betrachtet werden, denn Leclerc selbst hatte 1669 ein Handbuch der praktischen Geometrie ver­ öffentlicht, das in der Folge mehrfach aufgelegt wurde.53 Ganz unabhängig von topographischen Gegebenheiten ist für die ­Ansicht des Gartens bemerkenswert, dass Leclerc ihn als einen Ort wissenschaftlicher Forschung codierte, worauf auch der Quadrant zur astrolo­ gischen Beobachtung verweist. Den Garten sowohl als Ort der wissenschaftlichen Forschung zu nutzen als ihn zugleich auch als Ort der Anwendung und Präsentation wissenschaftlicher und technischer Neue51 Roger Hahn: The Anatomy of a Scientific Institution: The Paris Academy of Sciences, 1666-1803, Berkeley u. a. 1971, S. 4. 52 Michael Petzet: The Observatory of the Sun King and Classical Astronomy, in: Cultural Heritage of Astronomical Observatories – From Classical Astronomy to Modern Astrophysics. Proceedings of the International ICOMOS Symposium in Hamburg, October 2008, Monuments and Sites XVIII, hg. von Gudrun Wolfschmidt, Berlin 2009, S. 24-34; Tongiorgi Tomasi: Gardens of Knowledge and the République des Gens de Sciences (Anm. 17), S. 114 f. 53 Sébastien Leclerc: Pratique de la Géométrie sur le papier et sur le terrain, Paris 1669.

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rungen zu inszenieren, entspricht der Praxis im 17. Jahrhundert. Im Garten als einem Ort der Naturbeherrschung wurden mithin die Verfahren der wissenschaftlichen Naturbeherrschung in Szene gesetzt. Von Galilei ­wissen wir, dass er seine Beobachtung der Sonnenflecken 1611 im päpstlichen Quirinalsgarten präsentierte.54 Seine Sonnenbeobachtungen mittels eines Helioscops demonstrierte er wiederum im angrenzenden Garten des ­Kardinals Ottavio Bandini. Und selbst für seine Experimente zum Verhältnis von Masse und Fallgeschwindigkeit nutzte er den Quirinalsgarten. Der Barockgarten war unzweifelhaft der Ort und die Bühne wissenschaftlicher Praxis. Die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts nutzt ihn als Schauplatz und Anwendungsfeld. Wissenschaftliche Fähigkeiten, die auf der umfänglichen Beobachtung der Natur beruhten, wurden hier in eine neue, menschengemachte Ordnung der Natur überführt. Gärten boten Platz, bildeten öffentliche bzw. teilöffentliche Räume für Publikumsinszenierungen und verlangten geradezu nach der zielgerichteten Anwendung von Wissen. Wer sich die Praxis eines Gartenentwurfs veranschaulicht, stellt fest, dass Kenntnisse aus den unterschiedlichsten Disziplinen notwendig waren: Es begann beim Vermessen und Nivellieren des Geländes, ging über die Analyse der Bodenbeschaffenheit, den ­maßstabsgerechten Entwurf bis hin zu Fragen der Wasserversorgung, der Standortgerechtigkeit von Pflanzen und vielen weiteren botanischen Grund­fragen.55 Die vielfältigen Parallelen zwischen Gartenkunst und Natur­wissenschaft werden wiederholt auf Titelblättern wissenschaftlicher Publikationen thematisiert, wie der Wissenschaftshistoriker Volker R. Remmert dargelegt hat. Auch bei den Veranschaulichungen wissenschaftlicher Problemstellungen greifen Autoren auf Illustrationen zurück, die sie im Garten ansiedeln: Der bereits erwähnte Sébastien Leclerc verortet in seinem 1669 publizierten Geometrietraktat mehrfach Fallbeispiele in zeitgenössische Schlossgärten.56 Diese populäre Veranschaulichungspraxis erscheint ihm als vielversprechend, weil er geometrisches Wissen vorzugsweise für Architekten und Künstler auf bereiten wollte. Wenn er geometrische Diskussionen, etwa über Kreissegmente, in einen herrschaftlichen Garten verlegt, geschah dies 54 Denis Ribouillaut: Sundials in the Quirinal: Astronomy and the Early Modern Garden, in: Gardens, Knowledge and the Sciences in the Early Modern Period, hg. von Hubertus Fischer u. a., Basel 2016, S. 103-134.; hier: S. 113 f., auch für das Folgende. 55 Etwa für Kaspar Schott: Cursus mathematicus, Würzburg 1661; Volker R. Remmert: The Art of Garden and Landscape Design and the Mathematical Sciences in the Early Modern Period, in: Gardens, Knowledge and the Sciences in the Early Modern ­Period, hg. von Hubertus Fischer u. a., Basel 2016, S. 9-28. 56 Leclerc: Pratique de la Géométrie sur le papier et sur le terrain (Anm. 53).

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Abb. 8: Instrumente und geometrische Probleme mit Darstellung des Apollo-­Bassins und des Grand Canal in Versailles

sicher auch, um die königliche Verwaltung auf sich aufmerksam zu ­machen. Bei Leclerc mündet das 1672 in seiner Berufung zum Professor für Perspektive an der Académie Royale de Peinture et de Sculpture.57 Einige Jahre später folgte Allain Manesson-Mallet in seiner Geometrie Pratique Leclercs Beispiel.58 Wie Leclerc war auch Manesson-Mallet als Militäringenieur, Geograph und Mathematikprofessor für den französischen Königshof tätig. Dies erklärt vermutlich auch hier die Koexistenz von wissenschaftlichem Fallbeispiel und Gartenansicht. Doch auf der Ebene des*der unbeteiligten Leserers*Leserin wurde auf diese Weise der Schlossgarten von Versailles ostentativ als das Ergebnis einer wissenschaftlicher Raum- und Natur­ ordnung c­ odiert. Wissenschaftler sahen hier ihre Leistungen gewürdigt. Auf einer anderen Ebene veranschaulichte der Garten damit die Fähig­ 57 Christof Baier: »graver en taille douce«. Die Gartenkunst André Le Nôtres im ­Medium der Druckgraphik, in: Illusion und Imagination. André Le Nôtres Gärten im Spiegel barocker Druckgraphik, hg. von Stefan Schweizer / Christof Baier, Ausst.Kat. Stiftung Schloss und Park Benrath, Düsseldorf 2013, S. 17-26, hier S. 22, sowie Schweizer / Baier (Anm. 43), Kat.-Nr. 13, S. 60-63. 58 Schweizer / Baier (Anm. 43), Kat.-Nr. 12, S. 58 f.

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keiten des Königs zur Naturbeherrschung, zur Ordnung der Natur nach wissenschaftlichen Kriterien. Zu den namhaftesten Wissenschaftlern, die an den Planungen für den Schlosspark zu Versailles mitwirkten, zählte Jean Picard, seines Zeichens Astronom und Geodät – überhaupt: der Begründer der Geodäsie. In Versailles wurde er wiederholt für die Lösung des Problems der Wasser­ versorgung zurate gezogen.59 Versailles liegt hydrologisch ungünstig auf einem Hügel. Die ambitionierte Wasserversorgung bedurfte der Errichtung künstlicher Wasserbecken, Wassertürme, Pumpenhäuser mit Pferdegöpeln und Windmühlen. Der betriebene Aufwand war ungeheuer, doch das Ergebnis blieb unbefriedigend. Das Wasser stand über Winter in Behältern und stank, wenn man es für die Wasserspiele im Schlosspark nutzte. 1674 kam von dem Ingenieur Pierre-Paul Riquet der Vorschlag, zur Wasserversorgung einen Kanal von der 150 Kilometer entfernten Loire nach Versailles zu errichten. Riquet konnte dafür auf den von ihm konstruierten und in Bau befindlichen Canal du Midi verweisen (1681). Doch Jean ­Picard, der immerhin einen Meridianbogen zwischen zwei Breitengraden vermessen und damit den Radius der Erde in unbekannter Genauigkeit neu berechnet hatte, kam bei seiner Nivellierung des Geländes zu einem negativen Ergebnis. Versailles ist also auch das beste Beispiel dafür, dass Pläne scheitern konnten, wenn sie keine wissenschaftliche Basis be­saßen. Ohne Wissenschaft oder die Verfahren, die wir ihr heute zurechnen – Experiment, Beobachtung, Befund, Bewertung, Ableitung –, wäre der Barockgarten in Ausstattung, Größe und Verbindung zur umgebenden Landschaft unmöglich gewesen und die Zeitgenossen versprachen sich aus jeweils eigenen Gründen, diese Wissenschaftlichkeit herauszustellen. Man­ ches mag zunächst Geste gewesen sein, aber die einzelnen Aufgaben­ stellungen verlangten nach wissenschaftlicher Problemlösung. Als Landgraf Karl von Hessen-Kassel um 1700 den Karlsberg plante, erwog sein Hofmathematiker Denis Papin den Einsatz einer Vakuumpumpe. Papin wandte sich an keinen Geringeren als Isaac Newton, seinerzeit Präsident der Royal Society.60 Mit dem Wasserpumpensystem von Herrenhausen beschäftigte sich kein Geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz in den 59 Informationen zu diesem Beispiel bei Eckert: Physik im Schlosspark (Anm. 49), S. 35-47; die Kapitelüberschrift »Größenwahn in Versailles« verkennt den historischen Kontext vollends. 60 Karsten Gaulke: Experimentelle Naturlehre und Gartenkunst. Was haben Vakuumpumpen und Dampfmaschinen mit den Wasserkünsten zu tun, in: Hortus Ex ­Machina. Der Bergpark Wilhelmshöhe im Dreiklang von Kunst, Natur und Technik, Arbeitshefte des Landesamtes für Denkmalpflege 16, Stuttgart 2010, S. 156-166, hier S. 164 f.

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1690er Jahren und für die Fontäne zu Sanssouci griff Friedrich II. auf ­eigens angefertigte Studien des Mathematikers Leonard Euler zurück – auch in diesem Fall ohne Erfolg.61 Als Schlüsselaugenblick der persönlichen Beziehungen zwischen Garten­ künstlern und Wissenschaftlern darf eine Begegnung von André Le Nôtre, seines Zeichens königlicher Intendant der königlichen Gärten und Bauten Ludwigs XIV., mit Christiaan Huygens im Jahr 1661 betrachtet werden. Huygens bezeichnete Le Nôtre in einem Brief, der von diesem Treffen berichtet, als den großen Erfinder der Gärten.62 Dem 1666 zum ersten Direktor der Académie des sciences in Paris berufenen Huygens verdanken wir entscheidende Vorarbeiten für die Infinitesimalrechnung, die Wahrscheinlichkeitsrechnung und ganz praktische Beiträge zu den Verfahren der Zeitmessung (Pendeluhr, Spiralfeder, Unruh). Wir wüssten zu gerne, was Le Nôtre und Huygens besprachen. Doch selbst in Unkenntnis des Gesprächsinhalts können wir davon ausgehen, dass beide der Natur in ähnlicher Absicht begegneten: Erkennen, Verbessern, Verschönern. Wenn dies heute mit einem negativen Unterton als Naturbeherrschung beschrieben wird, dann wird leicht vergessen, dass dies im 17. Jahrhundert keine Rhetorik war, sondern eine Lebensnotwendigkeit. Literatur Azzi Visentini, Margherita: Die italienische Villa. Bauten des 15. und 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1997. Baier, Christof: »graver en taille douce«. Die Gartenkunst André Le Nôtres im ­Medium der Druckgraphik, in: Illusion und Imagination. André Le Nôtres Gärten im Spiegel barocker Druckgraphik, hg. von Stefan Schweizer / Christof Baier, Ausst.-Kat. Stiftung Schloss und Park Benrath, Düsseldorf 2013, S. 17-26. Behringer, Wolfgang: Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2016. Behringer, Wolfgang et al. (Hg.): Kulturelle Konsequenzen der »Kleinen Eiszeit«, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212, Göttingen 2005. Berliner Residenzlandschaft: Studien zu einem frühneuzeitlichen Hof auf Reisen – Ein Residenzhandbuch, Berlin 2013. Bennet, Jane: Lebhafte Materie. Eine politische Ökonomie der Dinge, Berlin 2020. 61 Im Einzelnen hierzu Eckert: Physik im Schlosspark (Anm. 49), S. 61-80. 62 Eric de Jong: Of Plants and Gardeners, Prints and Books: Reception and Exchange in Northern European Garden Culture 1648-1725, in: Baroque Garden Cultures. Emulation, Sublimation, Subversion, hg. von Michel Conan, Washington D. C. 2005, S. 37-84, hier S. 41.

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Abbildungen Abb. 1: Eigenes Foto, Stefan Schweizer. Abb. 2: Mollet, Claude: Théâtre des plans et jardinages, Paris 1652, Planche 3. Abb. 3: Ed Hawkins, CC BY-SA 4.0. Abb. 4-6: Eigenes Foto, Stefan Schweizer. Abb. 7: Metropolitan Museum of Art, New York. Abb. 8: Manesson-Mallet, Alain: La Geometrie Pratique, Buch 3 La Planimétrie, Paris 1702, S. 47.

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Der Garten als gesellschaftspolitische Utopie William Morris, Ernest Callenbach, Samuel Alexander Alexander Thumfart

1. Was unter Utopie verstanden werden soll

Utopien sind radikale Überschreitungen des Gegebenen, ein unbändiges Ausbrechen. Gleichwohl haben Utopien einen sehr konkreten Sitz im ­Leben. Denn das Hier und Jetzt fungiert als Anlass und Ausgangspunkt für den hohen Flug darüber hinaus. Bevor ich mich den drei gesellschaftspolitischen Gartenutopien zuwende, möchte ich deshalb mein Verständnis von Utopie explizieren. Denn kaum ein Begriff ist so schillernd wie dieser, und kaum einer wandert durch so viele Disziplinen von der Allgemeinen Literaturwissenschaft bis zur Soziologie1 und (politischen) Philosophie.2 Der Philosoph Martin Seel hat eine programmatische Beschreibung utopischen Denkens geliefert. Utopisches Denken verzerrt und verzeichnet den Spielraum, der dem pragmatischen Handeln in der jeweiligen Gegenwart gegeben ist. Es zeichnet ihm Möglichkeiten ein, mit denen dort nicht gerechnet werden kann. […] Es versucht, absehbar zu machen, was nicht absehbar ist. Utopien sind unmögliche Möglichkeiten, die mögliche Möglichkeiten sichtbar werden lassen.3 Die radikale Überschreitung, die inszenierte Negation des normal Erwartbaren verliert sich aber nicht in den Weiten des banal Unendlichen und daher Gleich­gültigen. Vielmehr wendet sich die Utopie kritisch zurück und konfrontiert ihre Gegenwart mit der abgründigen, gleichwohl im 1 Siehe auch Gregory Claeys / Lyman Tower Sargent (Hg.): The Utopia Reader, New York 1999; Frank Manuel / Fritzi P. Manuel: Utopian Thoughts in the Western World, Cambridge / Massachusetts 1979; und natürlich Wilhelm Voßkamp: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1985. 2 Nahezu unweigerlich taucht an dieser Stelle der Verweis auf Ernst Bloch und den »Geist der Utopie« auf. Ich finde aber Ernst Blochs prophetisch-marxistische Onto­ logie des Noch-Nicht viel zu anspruchsvoll, um sie hier auch nur einigermaßen an­ gemessen würdigen oder gar operationalisieren zu können. Siehe Ernst Bloch: Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, Frankfurt a. M. 1975. 3 Martin Seel: Drei Regeln für Utopisten, in: Merkur, Sonderheft 2001 (Heft 629 /30), S. 747-755, hier S. 747.

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Menschlichen verwurzelten Alterität.4 Dabei geht es nicht darum, ein ­Modell zu liefern, dessen Realisierung Stück für Stück vorangetrieben wird oder voranzu­treiben sei. Utopien sind keine Blaupausen zum Umbau der Gesellschaft, und Reformismus ist ihnen fremd. Utopien verweigern sich ihrer simplen Realisierbarkeit. Aber genau dadurch stacheln sie an, im Heute anders zu denken und zu handeln.5 Utopien sind Unruhestifter, ­Irritationen, Dornen im Arbeitsschuh, die Zappelphilippine im Klassenzimmer. Sie alle nerven unheimlich, man weiß nicht genau, wie man mit ihnen umgehen soll, warum man das verdient hat, und ohne eine Antwort zu finden, ist man schon hinübergeglitten in das Denken in Alternativen und Möglich­keiten. Dass Utopien als hellsichtige Provokateure immer politisch sind, macht Richard Saage deutlich: »Utopische Zielprojektion zeichnet sich durch eine präzise Kritik bestehender Institutionen und sozio-politischer Verhältnisse aus, der [sic] sie eine durchdachte und rational nachvollziehbare Alter­native gegenüberstellt«.6 Es geht in Utopien unweigerlich ums Ganze, ums Ganze von Gesellschaft und Natur, das ohne Politik nicht zu haben ist. Denn Politik rahmt Gesellschaften und formiert ihr Verhältnis zur Natur. Deshalb sind Utopien als radikale Gesellschaftskritik unhintergehbar politisch, aber ohne ein politisches Transformationsprogramm zu formulieren oder gar eine Ideologie. Genauso ablehnend verhalten sich Utopien gegenüber Mythen vom Goldenen Zeitalter, magischen Schlaraffen­ ländern oder einem himmlischen Jerusalem. Politische Utopien inten­ dieren weder eine Wiederkunft des Ehemals noch eine Erlösung, sondern bleiben bei allem radikalen Überschuss doch rein innerweltlich. 2. Gartenutopien, ihre konkreten Hintergründe und eine Verschiebung

Utopische Entwürfe des Überschreitens sind, so lässt sich folglich sagen, tief und meist schmerzlich eingelassen in die Zeit, gegen die sie sich wenden. Das ist auch bei jenen drei Utopien so, die den Garten oder die Gärten als ihr Zentrum präsentieren. Weil utopische Entwürfe eingebettet 4 Oder in den Worten von Jörn Rüsen: »Aus der erfahrungsenthobenen Utopie wird eine erfahrungsgesättigte Alterität«; Jörn Rüsen: Utopie und Geschichte, in: Utopieforschung, Bd. 1, hg. von Wilhelm Voßkamp, Frankfurt a. M. 1985, S. 356-374, hier S. 365. 5 »Utopia erkundet den Raum zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen […] Ohne ihn [den Raum Utopias, A. T.] hätte die Menschheit nie weiter um eine Verbesserung ihres Lebens gekämpft«; Gregory Claeys: Ideale Welten. Die Geschichte der Utopie, Darmstadt 2011, S. 15. 6 Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit, Bochum 2000, S. 48.

Der Garten als gesellschaftspolitische Utopie

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sind in die zeitlichen Kontexte ihrer Entstehung, möchte ich zumindest bei der ersten Utopie jenen Hintergrundraum skizzenhaft aufrufen, aus dem heraus der Garten als gesellschaftspolitische Utopie formuliert und imaginiert wird. Auf ähnliche Weise ist dieser Anlasskontext bei den anderen beiden Garten-Utopien ebenfalls präsent. Der konkrete Hintergrund soll skizziert werden mit zwei Zitaten aus Texten, die schnell zu Klassikern europäischen sozialkritischen Denkens geworden sind. Es war eine Stadt aus roten Ziegeln, oder aus Ziegeln, die rot gewesen wären, wenn es Rauch und Ruß erlaubt hätten. […] Es war eine Stadt der Maschinen und der hohen Schornsteine, aus denen sich endlose Rauchschlangen beständig emporwanden, ohne je müde zu werden. Es besaß einen schwarzen Kanal und einen Fluß, der rot war von übel­ riechender Farbe, und lange, vierstöckige Gebäude mit zahllosen Fenstern, wo es den ganzen Tag rasselte und zitterte und wo der Kolben der Dampfmaschine auf und nieder ging wie der Kopf eines von trübem Wahn befallenen Elefanten.7 So beschreibt Charles Dickens in seinen Household Worlds von 1854 jene erfundene Stadt Coketown, die natürlich das reale Manchester und den Manchester-Kapitalismus repräsentiert und portraitiert. Aus fast demselben Jahr stammt die folgende Beschreibung einer Stadtlandschaft, deren »abscheulichster Fleck […] Klein-Irland (Little Ireland)« heißt: Die Cottages sind alt, schmutzig und von der kleinsten Sorte, die Straßen uneben, holperig und zum Teil ungepflastert und ohne Abflüsse; eine Unmasse Unrat, Abfall und ekelhafter Kot liegt zwischen stehenden Lachen überall herum, die Atmosphäre ist […] durch den Rauch von einem Dutzend Fabrikschornsteinen verfinstert […] – eine Menge zerlumpter Kinder und Weiber treibt sich umher, ebenso schmutzig wie die Schweine, die sich auf den Aschehaufen und in den Pfützen wohl sein lassen.8 In durchaus zynischer Verkehrung mutiert in der Beschreibung, die Friedrich Engels 1845 vom abschreckenden Teil Manchesters liefert, die grüne 7 Charles Dickens: Harte Zeiten, München 1964, S. 506 f. [London 1854]. 8 Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, hg. von V. Adoratskij im Auftrag des Marx-Engels-Instituts Moskau, Wien / Berlin 1932, S. 63-64. Siehe zu beidem auch Vittorio Magnano Lampugnani: Malerisch Wohnen im Grünen. Von der Fabriksiedlung zur Gartenstadt und zur Linearen Stadt, in: ders.: Die Stadt im 20. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin 2010, S. 11-41.

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irische Insel zu einer apokalyptischen, stinkenden industriellen Abraumhalde. Vor dem Hintergrund dieser Abfallgrube ist der Name Little Ireland natürlich der pure Hohn und zugleich eine Markierung schrecklicher ­Armut. In den Industrie-Agglomerationen aus Stein, Kohle, Stahl, Maschinen und Rauch hat die Natur ihre Natürlichkeit verloren, die Flüsse sind rot oder schwarz oder diffus grau. Selbst Elefanten entpuppen sich als riesige Energiemaschinen, die einen wahnsinnigen Takt schlagen, während Schlangen nur als giftiger Rauch existieren. Parallel dazu scheint auch die Gestalt der Menschen von der Gestalt der Tiere kaum mehr unterscheidbar zu sein. Dreckig und heruntergekommen, leben beide im Unrat. Denatura­ lisierung und Dehumanisierung gehen hier offensichtlich Hand in Hand. Die Treiber dieser Transformationen, ja Deformationen von Mensch und Natur sind die klassischen Elemente der europäischen Moderne: Urbanisierung, Technisierung, Enttraditionalisierung, Industrialisierung, Mobi­ lisierung und Kapitalismus. Mögen die Produkte der Moderne durch die Weltmeere pflügen, Kontinente erobern und Warenhäuser in Tempel des Konsums für die Hautevolee verwandeln, so erschaffen sie damit zugleich die windigen Hütten der Armut, der Krankheit, Gewalt, Unbildung und gnadenlosen Ausbeutung in einer Umgebung, die der Vorhölle gleicht. Grün, auch das der Hoffnung, sucht man hier vergebens. So gelesen, entpuppen sich Utopien, die Gärten ins Zentrum stellen, unweigerlich als prägnante, scharfe Gegenbilder zur Moderne insgesamt, als Projekte, die sich gegen das Selbstverständnis, die Handlungslogiken, Strukturen, Ideologien und Lebenswelten einer ganzen Epoche stellen. Die Idee, das Symbol, das Leitmotiv des Gartens oder der Gärten sind gerade sozial alles andere als harmlos. Eine kleine Modifikation muss angebracht, auf eine Verschiebung muss gleichwohl hingewiesen werden. Es ist nämlich unübersehbar, dass im Lauf der Zeit gerade die gesellschaftlichen Garten-Utopien ihren Charakter der radikal-kritischen Gegenwelt ohne Realisierungsintention zum Teil verlieren. In den etwa 130 Jahren, die zwischen William Morris, Ernest Callenbach und Samuel Alexander, zwischen London, Los Angeles und Melbourne liegen, rückt die Utopie nämlich immer näher an uns heran, oder wir an sie. Was Ende des 19. Jahrhunderts als ganz unmöglich erschien, wird im 21. Jahrhundert immer realistischer, ohne die Provokation des Unwahrscheinlichen zu verlieren. Gerade in Gestalt und Metapher des Gartens erleben wir, dass Utopien auch sehr praktisch werden können. Öffnen wir also die Pforte und treten ein in den utopischen Gesellschaftsgarten.

Der Garten als gesellschaftspolitische Utopie

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3. William Morris: Kunde von Nirgendwo oder Ein Zeitalter der Ruhe

Als William Morris seine utopische Erzählung News from Nowhere or An Epoch of Rest als Fortsetzungsroman in der sozialistischen Zeitschrift The Commonweal 1890 in London publizierte, ist er bereits ein bekannter, einflussreicher und vor allem politisch tätiger Mann von knapp 60 Jahren.9 Quasi aus der Not heraus, bei schwindendem Vermögen seine Familie ernähren zu müssen, hat Morris 1859 begonnen, Dinge des täglichen Gebrauchs selber zu entwerfen, und zusammen mit Künstlern aus dem Kreis der Präraphaeliten gründet er 1861 die Firma »Fine Art Workmen in ­Painting, Carving, Furniture and the Metals«. Das ist die Geburtsstunde der Arts-and-Crafts-Bewegung, die auf Kunsthandwerk, Handarbeit, feine Materialien und überlegtes Design setzt.10 Schmuck, Innendekorationen, Gläser, Möbel, Tischgeschirr, Teppiche, Porzellan sind nur einige der Produkte, die sehr schnell reißenden Absatz finden und bis heute produziert werden.11 Hier ist nicht der Ort, die komplizierten Entwicklungen zu rekonstruieren, die Morris ab Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts zum Arbeitersozialismus und schließlich zu einem sozialistischen Anarchismus führen. Die Betonung von Handwerk, Kooperation, Selbstständigkeit, Güterteilung, die Ablehnung von Massenproduktion, Naturzerstörung und Verelendung sowie die Bekanntschaft mit Friedrich Engels und Petr Kropotkin dürften alle ihren Teil dazu beigetragen haben.12 Man geht aber ganz bestimmt nicht fehl, in Morris’ utopischer Erzählung von 1890 all die diversen Erfahrungen, politischen Theorieschulen, Praktiken und Reflexio­ nen zusammenlaufen zu sehen.13 Es dauert nur 3 Jahre, bis die erste deutsche Übersetzung in der Zeitschrift Die Neue Zeit erscheint, besorgt von 9 Zur Biographie siehe vor allem Fiona MacCarthy: William Morris. A Life for Our Time, New York 1995. 10 Ausgezeichnete Beispiele dieser Handwerkskunst finden sich abgebildet und ein­ gebaut in biographische Informationen zu Morris in dem Band von Charlotte Fiell / Peter Fiell: William Morris 1834-1896. Ein Leben für die Kunst, Köln 2019. 11 Morris war ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann mit einem feinen Gespür für den Markt und die Kund:innen, siehe dazu Charles Harvey et al.: Business in the Creative Life of William Morris, in: The Routledge Companion to William Morris, hg. von Florence S. Boos, New York / London 2021, S. 40-57. 12 Siehe dazu Owen Holland: William Morris’ Utopianism. Propaganda, Politics, and Prefiguration, Basingstoke 2017, S. 51-103; https://williammorristexte.com/category/ texte-uber-william-morris (Zugriff am 21. 12. 2021). 13 Siehe dazu Elizabeth Carolyn Miller: William Morris and the Literature and Socialism of the Commonweal, in: The Routledge Companion to William Morris, hg. von Florence S. Boos, New York / London 2021, S. 422-441, hier S. 432-435.

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Natalie Liebknecht, der Mutter von Karl Liebknecht, und Clara Steinitz. 1900 liegt die Übersetzung als Buchveröffentlichung vor. Im Folgenden beziehe ich mich auf den Text, der in der Übersetzung durch Carmen Janetzki 1991 erschienen ist.14 Morris inszeniert seine Utopie als Bericht eines namenlosen Freundes. Den Bericht möchte er, Morris, schlicht wiedergeben und der »allge­ meinen Öffentlichkeit mitteilen«.15 Morris wiederholt mit der Struktur einer Erzählung aus zweiter Hand ganz bewusst die Erzählsituation von Thomas Morus’ Utopia von 1516. Auch dort wird der Bericht über die Insel Utopia als Nacherzählung einer Unterhaltung ausgeflaggt, in der jene Seereise erstmals präsentiert worden war. Der Kunstgriff einer inszenierten Differenz zwischen einem Ich-Erzähler und dem niederschreibenden Autor eröffnet den Leser:innen die Möglichkeit, die Utopie sowohl als unterhaltsame Geschichte als auch als ernst gemeinte kritische Konfrontation zu lesen.16 Ästhetik und politische Ethik, kritischer Ernst und intellektuelles Spiel gehen beabsichtigt und durchaus programmatisch eine Verbindung ein. Im London des späten 19. Jahrhunderts trifft sich, so beginnt es nun, an einem unfreundlichen Winterabend eine Gruppe politscher Akteure, um darüber zu reden, wie es nach der Revolution aussehen könnte. Vor allem die vier Vertreter unterschiedlicher anarchistischer Gruppen haben sich so ereifert, dass unser Ich-Erzähler auf der Heimfahrt in der überfüllten, stinkenden und von matten Menschen besetzten Untergrundbahn sich nichts sehnlicher wünscht, als wenigstens für einen Tag in dieser Zukunft zu leben. Müde und stimuliert zugleich fällt er ins Bett, um am nächsten Morgen bei strahlendem Sonnenschein und mehr als freundlichen Temperaturen zu erwachen. Seinen gewohnten Gang zur Themse hinunter unternimmt er wie in Trance, stellt aber überrascht fest, dass der breite Strom ungewohnt klares Wasser führt. Ein Fährmann nimmt ihn mit, den Fluss hinunter. Sie passieren Fangnetze für Lachse und erreichen eine Stelle im Strom, an der früher eine durch Ruß völlig geschwärzte Eisenbahn­ brücke gestanden hat, gesäumt von einer »Seifensiederei mit ihrem qual14 William Morris: Kunde von Nirgendwo oder Ein Zeitalter der Ruhe. Einige Kapitel aus einer utopischen Romanze, Deutsch von Carmen Janetzki, Berlin 1991. 15 Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 7. 16 Auf diese vielfältigen Lektüremöglichkeiten und ihre Bedeutung für die Funktion von Literatur hat Michael Holzman in einem wegweisenden Aufsatz hingewiesen; Michael Holzman: Anarchism and Utopia. William Morris’ News from Nowhere, in: English Literary History 53(3), 1984, S. 589-603; siehe jüngst auch David Leopold: William Morris. News from Nowhere and the Function of Utopia, in: The Journal of William Morris Studies XXII(1), 2016, S. 18-41, hier S. 20, 34-37.

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menden Schornstein« und einer »Maschinenfabrik«, in der »Niethämmer« tobten. Nichts mehr davon ist jetzt vorhanden. Anstelle der Insignien der Industrie stehen »drollige, phantasievolle Häuschen, geschmückt mit bunten und vergoldeten Wetterfahnen und Spitztürmchen«.17 Auf Nachfrage erfährt er vom Fährmann, dass die schöne, strahlende, farbenfrohe Brücke, die plötzlich in Sichtweite kommt, vor nicht allzu langer Zeit im Jahr 2003 gebaut worden war. Unserem Protagonisten fährt der Schreck in die Glieder, und er beschließt, sich als Fremder auszugeben, um so seine Unkenntnis der Lage zu erklären und sich selbst nicht erklären zu müssen. Der Ungeheuerlichkeiten ist aber kein Ende. Denn der Fährmann weigert sich, für seine Dienste Geld anzunehmen. Es sei, so meint er, seine Arbeit, die ihm Spaß mache, und natürlich würde er den Fremden gerne weiter die Themse abwärts bringen, denn so könne er einen Freund besuchen, den er schon Jahre nicht mehr gesehen habe. Mit Geld sei hier nichts anzufangen, so lautet die über­raschende Botschaft. Sie landen bei einem Gästehaus an, in dem unser Reisender ein opulentes Frühstück kostenlos serviert bekommt. Spätestens hier ist dem Besucher klar, dass er tatsächlich und wie ersehnt einen Sprung in eine nachrevolutionäre Zeit gemacht hat, die sich in ihrem ganzen Wesen radikal von seiner eigenen unterscheidet. Dinge stehen allen kostenlos zur Verfügung, Privateigentum scheint gänzlich unbekannt zu sein, Arbeit ist nicht mehr entfremdete Lohnplackerei, sondern tatsächlich Berufung und entspannte Freude und das Industriezeitalter ist zur fernen, sagenhaften Erinnerung geworden. Alle weiteren Begegnungen und Gespräche, die sich zwanglos ergeben und entspannt im Sonnenschein geführt werden, verstärken, verdichten und vertiefen diesen Eindruck. Ausgestattet mit neuer Kleidung und beschenkt mit einer schönen Pfeife samt Tabak und Beutel, folgt ein Gang durch die inner city of London, die der Erzähler kaum mehr erkennt. Sie stoßen auf einen »weiträumigen offenen Platz, […] dessen Sonnenseite man für das Anlegen eines Obstgartens […] genutzt hatte«, von dem eine »lange Straße« ihren ­Anfang nimmt, die »von großen alten Birnbäumen« beschattet wird.18 Geblendet von der Sonne, die »auf diese schönen Gärten strahlte«, schließt er die Augen, und in seine Gedanken schieben sich Bilder von großen hässlichen Häusern, einer mindestens ebenso scheußlichen Kirche und einer Fahrbahn, »gedrängt voll mit einer brodelnden und erregten Menge«, und er ruft so entsetzt wie überwältigt aus: der »Trafalgar Square«.19 Einer 17 Alle Zitate Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 11. 18 Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 46. 19 Alle Zitate Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 46.

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der zentralen, von Verkehr und Menschenmassen durchströmten, hek­ tischen und abweisenden Plätze des alten London hat sich in eine grüne, entschleunigte Idylle verwandelt, in eine Ansammlung von Obstgärten, in denen neben Birnen sogar Aprikosen gedeihen. An die Stelle der reißenden Ströme von Menschen, Waren und Geld ist das langsame Wachstum einer sorgsam gehegten Natur getreten, die Stelle der Verherrlichung militärischer Gewalt hat ein Ort zur Versorgung des Lebens eingenommen.20 Wer möchte hier nicht an die aktuellen Pläne der (links-grünen) Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, denken, die Champs Élysées in eine park­ artige Oase zu verwandeln.21 Die Ersetzung des steinernen Herzens der Stadt durch eine grüne Kraftquelle ist nur der Auftakt zu einer sehr viel weitreichenderen Transformation des ganzen Landes. Wie die anschließende dreitägige Reise die Themse hinab detailreich sichtbar werden lässt, sind alle sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Verhältnisse grundlegend verändert. Wie es zu dem Umbau gekommen ist, berichtet eine lange Erzählung in der Mitte des gesamten Romans.22 Für unsere Thematik ist die sozialwissenschaftliche und politisch-ideologisch geprägte Umsturzgeschichte23 nur in einer Hinsicht relevant. Der 150-jährige Urgroßvater des ThemseRuderers berichtet von ehemals stetig wachsenden Demonstrationen, zunehmenden Aufständen und der langsamen, unaufhaltsamen Polari­sierung der Gesellschaft in Reiche und Arme, Ausbeuter und Ausgebeutete. Die über Jahre sich hinziehende Zuspitzung des Klassenkonflikts etwa Mitte des 20. Jahrhunderts, die stetige Selbstorganisation der Arbeiter*innen und Angestellten, die Entlarvung der parlamentarischen Regierung als eines geschäftsführenden Ausschusses der Kapitalist*innen, der offene Einsatz gewaltsamer Repressionen und die (im Gegensatz dazu stehende) ethische Haltung einiger (konservativer) Massenmedien erzeugen schließlich eine revolutionäre Situation, in der die organisierten Arbeiter*innen 20 Hier ist die Nähe zu Petr Kropotkins Feldern in London mit Händen zu greifen, siehe Petr Kropotkin: Fields, Factories, and Workshops, or Industry Combined with Agriculture, and Brain Work with Manual Work, London 1912, S. 79-240. 21 Unter anderem der Österreichische Rundfunk hat darüber berichtet unter der (quasi idealen) Überschrift »Paris verwandelt Prachtstraße in ›Garten‹«; ORF: Paris ver­ wandelt Prachtstraße in »Garten«, 2021; https://orf.at/stories/3196870 (Zugriff am 21. 2. 2022). 22 Siehe Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 113-147. 23 Man kann die Erzählung der Revolution der Verhältnisse durchaus als eine von Morris in die Zukunft projizierte Gegenwartsgeschichte seiner Zeit lesen; siehe dazu: Helen Kingstone: Imaginary Hindsight. Contemporary History in William Morris and H. G. Wells, in: Utopias & Dystopias in the Fiction of H. G. Wells and William Morris, hg. von Emelyne Godfrey, London 2016, S. 43-56.

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die Macht übernehmen und Regierung wie Wirtschaftssystem stürzen. Jahre der Entbehrungen, der Armut und des Hungers folgen. Zugleich treibt der Zusammenbruch nahezu aller ökonomischen und administrativen Institutionen die Menschen aufs Land, auf dem sie beginnen, sich selber zu ­versorgen. In den Dörfern werden die Stadtmenschen zu Landleuten, die ihrerseits zu Vorbildern der verbliebenen Städter*innen werden und deren Lebensform verändern. Der »Unterschied zwischen Stadt und Land [wurde] immer geringer«, ließ die Dörfer städtischer werden und die Städte dörflicher. Aus der Fusion aus Stadt und Land ging, so der Bericht des Urgroßvaters, nach Irrungen und vielen Fehlschlägen schließlich »jenes glückliche und gemächliche, doch tätige Leben« hervor, von »dem Sie«, lieber Reisender, »bereits einen ersten Vorgeschmack bekommen haben«.24 Doch nicht nur die Lebensformen haben sich gewandelt. Die gesamte humane Lebenswelt wird transformiert und völlig neu eingebettet. Das macht eine knappe Geschichte des Mensch-Natur-Verhältnisses schlagend deutlich, die der Urgroßvater abschließend präsentiert: So steht es um uns. England war einst ein Land der Lichtungen zwischen Wäldern und Wildnis, durchsetzt mit ein paar Städten […]. Dann wurde es ein Land riesiger und abscheulicher Werkstätten und noch abscheulicherer Spekulationshöhlen, umgeben von schlecht verwalteter, dürftiger Landwirtschaft, die von den Herren der Werkstätten geplündert wurde. Jetzt ist es ein Garten, wo nichts verwüstet und verdorben ist, ein Garten mit Wohnhäusern, Ställen und Werkstätten, die man braucht und die über das ganze Land verstreut sind, und alles ist ordentlich, gepflegt und hübsch. Denn wir würden uns in der Tat vor uns selber zu sehr schämen, ließen wir zu, dass die Herstellung von Waren oder gar ihre Massenproduktion auch nur den Anschein von Öde und Trostlosigkeit mit sich brächte.25 Das nachrevolutionäre England ist ein einziger von Menschen geschaffener und bestellter Garten. Die große Gartenlandschaft aus Tausenden von Gärten ist eine postindustrielle, posturbane, postmoderne Lebensform, weit jenseits globaler Mobilität, kapitalistischer Ungleichheit und technologischer Daueroptimierung. »Verstehen Sie, Gast«, heißt es viel später im Text,

24 Alle Zitate Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 79. 25 Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 79 f.

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wir leben nicht in einem Zeitalter der Erfindungen. Die vergangene Epoche hat das alles für uns besorgt, und wir geben uns nun damit zu­frieden, die Erfindungen anzuwenden, die wir für nützlich h ­ alten, und die beiseite zu lassen, die wir nicht wollen.26 An die Stelle kapitalistischer Konkurrenz mit ihrem Zwang zum immer Neuen, zur end- wie grenzenlosen produktiven Zerstörung ist eine Urteilskraft getreten, die das Bestehende klug bewahren will und ein Äquilibrium zwischen Wachstum und Vergehen als ihre Aufgabe sieht. Man kann das als eine steady-state-economy bezeichnen, als ein Fließgleichgewicht zwischen Abfluss und Zufluss, in dem es die Gärtner*innen sind, die die Stoffströme regulieren und fein austarieren.27 Der Garten ist das Gegenteil der sich überbietenden Fortschrittsmoderne, und der:die Gärtner:in das ­Gegenmodell zum Menschen der kapitalistischen Gesellschaft. Ob es zwischen großen Gartenlandschaften Wildnis gibt, ob Teile Schottlands oder von Wales keine Gärten sind oder sein können, bleibt offen. Zumindest vorstellen können wir uns, dass nicht jede Landschaft ein Garten sein, sondern auch Wildnis bleiben kann. Natürlich ist die Gesellschaft der Bescheidung ein kollektives Kunstwerk, das nur existiert, weil die Gesellschaftsmitglieder wollen, dass sie genauso existiert. Deshalb ist die Gesellschaft gerade hinsichtlich ihrer Konstanz extrem voraussetzungsreich. Denn ständig muss von jeder Einzelnen, jedem Einzelnen das Verhältnis zwischen eigenem Können, Be­ gehren, Wünschen in Beziehung gesetzt werden zum kollektiven Wohl­ ergehen. Ist das, was ich will, tue, möchte, vorschlage, tatsächlich verträglich mit dem, was man das (hypothetisch angenommene) All­ gemeine Wohl (res publica) nennen könnte? Können alle anderen mit den Konsequenzen meiner Handlungen leben? Diese Überlegungen können an niemanden delegiert werden, sondern müssen vor Ort von allen gemeinsam und immer wieder neu diskursiv ausgehandelt werden.28 Parlamentarische Stellvertretung ist deshalb ebenso undenkbar wie lokales Nichtengagement. Die Antwort auf die Frage nach einer gemeinsamen politisch-sozialen Ordnung kann daher nur in einer nationalen Basis-­ demokratie bestehen, die lokal praktiziert wird. Die Menschen im Land 26 Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 184; siehe auch S. 144 f. 27 Siehe zu dieser Verbindung von Ökologie und Sozialismus, eher Anarchosyndikalismus bei Morris auch Patrick O’Sullivan: Desire and Necessity. William Morris and Nature, in: The Routledge Companion to William Morris, hg. von Florence S. Boos, New York / London 2021, S. 442-464, speziell S. 454-456. 28 Das wird am Beispiel der Entscheidung, eine neue Brücke vor Ort zu bauen, durchgespielt; siehe Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 98 f.

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regieren sich selbst, indem sie auf lokaler Ebene je für sich in Nachbarschaftsversammlungen ihre Angelegenheiten gemeinsam entscheiden. An anderer Stelle folgt eine recht ausführlich Beschreibung »der regulären Versammlung der Nachbarn oder dem Thing« in einer »Gemeinde«, einem »Distrikt« oder »Kirchspiel«.29 Dort wird wie im antiken Athen debattiert, argumentiert und mit Mehrheit entschieden, wobei Beschlüsse mit knapper Mehrheit gleich wieder kassiert werden, um Polarisierungen zu vermeiden. Erstaunt und angenehm überrascht bemerkt daraufhin der Ich-Erzähler: »Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren […], daß an all dem etwas ist, was der Demokratie sehr ähnelt? Und ich dachte, daß man die Demokratie schon vor vielen, vielen Jahren als dem Tode geweiht betrachtete«.30 Nicht nur feiert die totgeweihte Demokratie nach der Revolution offensichtlich mehr als fröhliche Urständ, der erzählende »Urgroßvater« zögert nicht, sie mit »Kommunismus« in eins zu setzen.31 Gärtner*innen bestellen also nicht nur Feld und Flur, erschaffen nicht nur eine Landschaft der Nachhaltigkeit und Schönheit, sondern vereinen in sich Demokratie und Kommunismus, lokale Selbstregierung und Besitz­ losigkeit, den Kantischen kategorischen Imperativ und die anarchistischsyndikalistische Konzeption umfassender Selbstorganisation ohne Re­ präsentation und einer von Parteien getragenen Politik.32 Es ist, als hörte man in Morris’ Gesellschaftsutopie Rosa Luxemburg sprechen, während sie Voltaires Candide auf seinem Weg in den Garten begleitet. Dann, in einer Welt nach und jenseits der Moderne, trüge »(Little) Irland« seinen Namen zu Recht, wäre wirklich ergrünt und zugleich ein glücklicher, freier und gerechter Weltgarten geworden. Wir wissen, dass dieser Entwurf keine Bauanleitung für einen Gesellschaftsumbau darstellt, und wir wissen, dass es so nicht gekommen ist. Darum aber geht es gar nicht. Morris’ Kunde von Nirgendwo ist die permanente Aufforderung, sich mit der schlechten Gegenwart nicht zufriedenzugeben, hinter den glänzenden Fassaden der westlichen, nordatlantischen Hochmoderne das globale Elend, die globalen Ungleichheiten und wachsenden Ungerechtigkeiten zu sehen und sich aufzumachen, das zu än29 30 31 32

Alle Zitate Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 96. Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 97. Morris: Kunde von Nirgendwo (Anm. 14), S. 99. Die Ausblendung der radikal politischen Dimension der News from Nowhere wurde zur Obsession in den ersten Besprechungen von Morris’ Utopie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Durch die Metapher der Pastorale und die Über­ betonung des Idyllischen sollte das syndikalistisch Demokratische übermalt, verdrängt, ausgeblendet werden; siehe dazu Holland: William Morris’ Utopianism (Anm. 12), S. 110-120.

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dern.33 Man muss dieses Bild nicht teilen und die Gegenwartsdiagnosen auch nicht. Aber: Der Garten ist das streitbare und provokante utopische Bild einer menschlich-nachhaltigen, verträglichen Gesellschaft, wie sie nach den Deformationen der Moderne sein könnte. Braucht es keine große Phantasie, um in Morris’ News from Nowhere Tolkiens Auenland samt ihren Bewohner:innen, den Hobbits, zu sehen, so hat John Plotz jüngst auch in der 1974 erschienenen Science-FictionUtopie The Dispossed von Ursula LeGuin den prägenden Einfluss von Morris ausgemacht. Überraschenderweise ist übersehen worden, dass Morris’ Botschaft sehr viel direkter fortlebt bei einem Autor, der Teil jenes intellektuellen Zirkels war, dem auch Ursula LeGuin angehörte.34 Die Rede ist von Ernest Callenbach. 4. Ernest Callenbach: Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999

Ernest Callenbach, geboren 1928, wächst in einer ländlichen Gegend ­Pennsylvanias auf, studiert im Industrie- und Bankenzentrum Chicago und geht wie viele andere Ostküsten-Amerikaner*innen dann nach Kalifornien. Ab 1955 arbeitet Callenbach für die University of California Press in Berkeley, unterrichtet u. a. Geschichte des Films und erreicht ein viel ­größeres Publikum durch seine Tätigkeit als Herausgeber der Zeitschrift Film Quaterly. Zusammen mit der schon genannten Ursula Le Guin, dem Architekten Peter Calthorpe, dem Schriftsteller Stuart Brand, dem ­Herausgeber Kevin Kelly, dem Biologen John Todd und dem Industriedesigner James T. Baldwin bildet er eine Gruppe kritischer WestküstenIntellektueller, die als Teil einer »counterculture« einen Wandel im verschwenderischen Lebensstil der amerikanischen Gesellschaft anstreben.35 Vor diesem Hintergrund und natürlich im Gefolge des Club-of-Rome-­ Berichts »Limits to Growth« erscheint 1975 Callenbachs Roman Ecotopia (Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999). Da zunächst kein Verlag am Text interessiert ist, publiziert ihn ­Callenbach im Selbstverlag. Schnell wird der utopische Roman jedoch zu 33 Ganz aktuell dazu etwa Thomas Piketty: Kapital und Ideologie, München 2020, speziell S. 1185-1271. 34 Siehe John Plotz: Windy, Tangible, Resonant Worlds. The Nonhuman Phantasy of William Morris, in: The Routledge Companion to William Morris, hg. von Florence S. Boos, New York / London 2021, S. 368-384, hier S. 378. 35 Siehe dazu das überaus spannende Buch von Andrew G. Kirk: Counterculture Green. The Whole Earth Catalog and American Environmentalism, Kansas 2007, speziell S. 43-73, 143-148, 156-169.

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»einem Kultbuch der Ökologiebewegung«,36 und in kurzer Zeit gibt es Übersetzungen in viele Sprachen. 1978 erscheint der Roman bei Rotbuch in Berlin. 2009 wird Callenbach von der Philologischen Fakultät der Stadt Freiburg im Breisgau die Ehrendoktorwürde verliehen. Wieder ist die Sprech- und Berichtssituation signifikant. Der literarisch nicht anspruchsvolle Roman präsentiert sich als Bericht des New Yorker Journalisten William Weston, der in offiziellen Zeitungsberichten und persönlichen Notizen die Eindrücke seiner Reise durch das Land Ökotopia im Jahr 1999 für die Zeitung Times-Post festhält. Wie wir am Ende des Buches erfahren, hat sich die Chefredaktion der Times-Post in New York entschieden, diese Kombination aus privatem Tagebuch und journalistischer Recherche zu veröffentlichen, nachdem Weston mitgeteilt habe, er werde in Ökotopia bleiben und nicht mehr nach New York zurückkehren. Wieder ist es diese Inszenierung einer indirekten Berichtssituation, die es dem Publikum erlaubt, die Geschichte auf mehreren Ebenen zu lesen: als kritische Gegenwartsreflexion, politisches Programm oder Träumerei und schöne Unterhaltung. Von Beginn an ist das Setting ähnlich politisch wie bei Morris. Wir befinden uns als Leser*innen nämlich in einer Nachkriegssituation. ­Kalifornien, Teile von Oregon und Washington haben sich Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts vom Rest der USA abgespalten und den neuen souveränen Staat Ökotopia gegründet.37 Die gewaltsame Sezession wendet sich gegen eine in jeder Hinsicht ruinöse, klassisch moderne nordatlantische Lebensweise und setzt an ihre Stelle eine umfassende Bio-­ Politik der Nachhaltigkeit. Im Grunde gibt es keinen Bereich in der ­utopischen Gesellschaft, der von dem Leitgedanken einer nachhaltigen Bio-Politik, eines »stabilen Gleichgewichts« oder »stabilen Fließgleich­ gewichts« ausgenommen ist.38 Die Energie und die Stoffe, die aufgewendet 36 Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie. Eine Einführung, 2. überarb. Aufl., Köln 2017, S. 140. Man muss aber hinzufügen, dass die heterogene grüne Bewegung in den USA wohl erst mit den frühen 1980er Jahren beginnt. Insofern ist die Aussage von Kassman, neben Ferguson (Aquarian Conspiracy) und Bookchin (Post-Scarcity Anarchism) müsse auch Callenbachs Ecotopia dem »proto-Green thought« zugerechnet werden, nicht ganz falsch; Kenn Kassman: Envisioning Ecotopia. The U. S. Green Movement and the Politics of Radical Social Change, Westport / London 1997, S. 121. 37 Ernest Callenbach: Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999, Aus dem Amerikanischen von Ursula Clemeur / Reinhard Merker, 3. Aufl., Berlin 1995, S. 8 f. 38 Alle Zitate Callenbach: Ökotopia (Anm. 37), S. 30 f. An anderer Stelle heißt es de­ zidiert, Ziel der »ökotopianischen Wirtschaftsgesetzgebung« sei es, »sämtliche landwirtschaftlichen und industriellen Betriebe dem Prinzip des Recycling und des sta­ bilen Gleichgewichts unterzuordnen« (S. 116).

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werden müssen, um Produkte zu erzeugen, sollen im System weitestgehend erhalten bleiben, um wiederverwendet werden zu können. Völlig rea­lisiert, wäre dieses cradle-to-cradle-System natürlich ein Perpetuum mobile und unmöglich. Aber als Limes-Begriff dient es der Orientierung. So habe, wie der Reporter Weston den Staatssekretär für Landwirtschaft sagen lässt, »unsere Landwirtschaft ein fast völlig stabiles Gleichgewicht erreicht; mehr als 99 % der Abfälle werden rückgeschleust. Kurz gesagt, wir haben ein Ernährungssystem aufgebaut, das unbegrenzt lebensfähig ist«.39 Ist die Landwirtschaft nicht auf permanente Zufuhr von Düngemitteln bis ­Pestiziden abhängig und verschmutzt und schädigt zudem nicht die Natur, hat sie auch die Gedanken von Wachstumszwang und Mehrproduktion verabschiedet. Dies gilt auch für die Herstellung von Waren und Gütern des täglichen Gebrauchs, inklusive technischer Großprodukte wie etwa Züge oder Elektrobusse. All die Artefakte werden so konstruiert und gebaut, dass die Teile kaum verschleißen oder repariert werden, wieder­ verwendet oder anderen Stoffkreisläufen zugeführt werden können.40 Deshalb läuft die Produktion aller Güter und Dienstleistungen auch meist in kleinen genossenschaftlich organisierten Kollektiven, und natürlich muss nicht mehr als 20 Stunden in der Woche gearbeitet werden.41 Da es keine Überproduktion, keine sinkenden Profitraten und kapitalistischen Steigerungsimperative gibt, reicht die Arbeitszeit, um den gesamten Status quo aufrechtzuerhalten. Vergaß ich hinzuzufügen, dass es nahezu kein Privateigentum mehr gibt? Die ökonomische Dezentralisierung setzt sich fort in einer Umgestaltung der Städte und Dörfer. Ähnlich wie bei Morris verwandeln sich die großen Städte mit ihren Betonwüsten und Wolkenkratzern nach radikalem Rückbau in fast schon idyllische Viertel, wie der Gang durch »die ländliche Atmosphäre des neuen San Francisco« zeigt.42 So muss Weston überrascht feststellen, daß sich die Market Street – einst eine belebte Geschäftsstraße […] – in eine Promenade mit Tausenden von Bäumen verwandelt hat. Die »Straße« selbst, auf der elektrische Taxis […] und Lieferwagen entlangsummen, ist zu einer zweispurigen Winzigkeit zusammengeschrumpft. Den verbleibenden riesigen Raum nehmen Radfahrwege, Brunnen, […] Kioske und kuriose, mit Bänken umstellte Gärtchen ein.43 39 40 41 42 43

Callenbach: Ökotopia (Anm. 37), S. 30. Siehe Callenbach: Ökotopia (Anm. 37), S. 56 f. Siehe Callenbach: Ökotopia (Anm. 37), S. 28. Callenbach: Ökotopia (Anm. 37), S. 19. Callenbach: Ökotopia (Anm. 37), S. 18.

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Umgekehrt gewinnen die Dörfer etwas Städtisches samt urbanen Fabriken: »Es gibt dort Restaurants, eine Bücherei, Bäckereien, einen ›Grundbedarfs­ laden‹ für Lebensmittel und Kleidung, kleine Geschäfte, ja sogar Fabriken und Betriebe – im bunten Wechsel mit Wohnhäusern«, wie man sie »aus dem alten Paris kennt«, die »hübsche kleine Balkons, Dachgärten und ­Veranden« haben.44 Selbstverständlich und erwartbar organisiert sich die politische Entscheidungsfindung ebenfalls dezentral nachbarschaftlich. Zwar gibt es Parteien, aber im Grunde haben wir eine mit Hingabe disku­ tierende Bevölkerung vor uns, die ohne großartige Institutionalisierungen kommunikativ und direkt gemeinsame Entscheidungen trifft. Auch dadurch hat sich nach der Phase einer starken rechtlich-politischen S­ teuerung des ­gesellschaftlichen Lebens durch nationale Bio-Politik die alltäg­liche Selbstverständlichkeit eines biosphärenverträglichen Lebens etabliert.45 Die Bürger:in­nen Ökotopias denken und handeln ganz selbstverständlich nach­ haltig. Die nationale Ebene kann sich deshalb mit Eingriffen zurückhalten und wird medial einer gesellschaftlichen Transparenz ausgesetzt, in der ein Lobbyregister zur Minimalausstattung gehört. Nationale Politik ist eher Moderation als Interessenarena.46 Lassen wir es dabei bewenden, wobei es über Erziehung, Universitäten, Presse, Militär, auswärtige Politik, Jurisprudenz, Gendergerechtigkeit, Smart Technology und die nachhaltige Bewirtschaftung des Waldes und die sehr entspannte, nicht-familiare Lebensweise noch genug zu sagen gäbe. Kommen wir auf den Garten, dem wir hier und da ja schon begegnet sind. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich nach den bisherigen Hin­ weisen eine Szenerie vorzustellen, in der Gesellschaft und Natur so in­ einandergefügt sind, dass daraus eine gartenartige Landschaftsstruktur entsteht. Die Menschen sind – durchaus in Resonanz zu Lebensweisen der American First Nations – Teil einer Biosphäre, ohne sie zu belasten, zu beeinträchtigen und zu gefährden.47 Inwieweit diese gartenartige soziale Landschaft auch Wildnis enthält, mag ähnlich wie bei Morris offen­ bleiben. Viel spricht dafür, dass es so ist, etwa an den Grenzen oder in den Wäldern. Das Ziel aber eines planetaren Überlebens ist in Ökotopia 44 Alle Zitate Callenbach: Ökotopia (Anm. 37), S. 35. 45 Siehe Callenbach: Ökotopia (Anm. 37), S. 115 f. 46 Siehe dazu auch Richard Saage: Utopia als ökologischer Imperativ. Zu Ernest Callenbachs Ökotopia, in: ders., Utopische Profile: Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts, 2. Aufl., Münster 2009, S. 191-210, hier S. 202-205. 47 Callenbach selbst hat auf »indianische Kulturen« als Inspirationsquellen seiner ­»ökologischen Idee« hingewiesen; Ernest Callenbach: Erfahrungen in Ökotopia, in: Pläne für eine menschliche Zukunft, hg. von Rüdiger Lutz, Weinheim / Basel 1988, S. 95-100, hier S. 96.

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nahe­zu verwirklicht. Wir würden das heute vollständige Dekarbonisierung und Nullemissionsgesellschaft nennen. Ein kleines Etwas fehlt noch. Die Energiebilanz ist weder ausgeglichen noch stabil. Jede Produktion verläuft gegen die kosmische Bewegung hin zur Entropie. Das gilt in besonderem Maße für die Erzeugung von Artefakten. Wenn es gelänge, eine Energiequelle zu finden, deren Emissionen genutzt werden könnten, Energie zu erzeugen, könnte der Prozess der Entropiezunahme massiv verzögert werden. Diese Quelle liegt in der Sonnenenergie. Das Medium, in dem die Energie aufgefangen, gespeichert und in elektrische Energie umgewandelt werden könnte, ist – nun ja – die Pflanze, der Garten. Ein Überblick über die ökotopianischen Entwicklungen auf dem Energie­sektor wäre unvollständig ohne den Hinweis auf ein kühnes Projekt, das wahrhaft revolutionär wäre – wenn es funktioniert. Die im Blattgrün ablaufende Fotosynthese gestattet es der Pflanze bekanntermaßen, Sonnenenergie aufzunehmen […]. Ökotopianische Wissenschaft­ ler meinen nun eine Technik entwickelt zu haben, mit der die elektrische Energie dieses Prozesses innerhalb eigens gezüchteter Pflanzen unmittel­ bar abgeleitet werden kann. Ein solch unglaublich wirkungsvolles System wäre aus ökotopianischer Sicht nahezu perfekt: der eigene Garten könnte dann nicht nur Abwässer und Abfall zurückschleusen und Nahrung liefern, sondern das Haus auch noch mit Strom versorgen!48 Sollte dieses kühne Projekt gelingen, wäre das gesamte Staatsgebiet Ökotopias mit seinen Pflanzen, Baumreihen, Feldern und merkwürdigen Stadtund Dachgärten selber ein einziger großer Energiegarten, der das noch Milliarden Jahre strahlende Licht der Sonne aufnimmt und in eine utopische Gesellschaftsenergie verwandelt. Es ist der Garten, der den (utopischen) Staat erhält und es ist der bio-politische Staat, eine subsidiäre, dezentrale politische Selbstorganisation, die den Energie-Garten pflegt. Callenbachs utopischer Grenzbegriff einer sich selbst, die Biosphäre und den Planeten erhaltenden Gesellschaft ist die Vision und Praxis des nachhaltigen, regenerativen Welt-Gartens, aus dem alles andere erwächst.49 So etwa könnte es aussehen in München, Hanoi, Buenos Aires, Addis Abeba oder Dakar. 48 Callenbach: Ökotopia (Anm. 37), S. 142 (Herv. i. O.). 49 Den Begriff des planetaren Gartens hat Gilles Clément ins Spiel gebracht: »Der Begriff des planetaren Gartens repräsentiert den Planeten als Garten. Das Gespür für die Endlichkeit der ökologischen Ressourcen zeigt uns die Grenzen der Biosphäre als Einzäunung des Lebenden.«; Gilles Clément: Manifest der Dritten Landschaft, Berlin 2010, S. 8. Vielleicht finden wir ihn als Grenzbegriff auch bei Callenbach.

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Abb. 1: The Fifth Sacred Thing by Jessica Perlstein

Man muss dabei nicht gleich an das Paradies denken oder an eine Rückkehr dahin. Denn der Welt-Garten wird von Menschen geschaffen. Wenn wir genauer hinsehen, gibt es zumindest schon im Alltag prak­ tizierte Gartenelemente in unserer heutigen Welt da draußen.50 Städte setzen verstärkt auf das Fahrrad, regenerative Energien steigern ihren ­Anteil an der Energieproduktion bis hin zu Balkonkraftwerken, Kleidung wird aus Holz oder Hanf hergestellt. Die ersten Hochhäuser aus Holz und Stahl entstehen, Urban Gardening gibt es hundertfach, grüne Hoch­ hausarchitekturen, sogenannte Hortitekturen, werden ganz aktuell in Megastädten gebaut51 und das Umweltbundesamt und die Europäische Kommission haben Konzepte für eine Kreislaufstadt und Kreislauf­ ökonomie entwickelt.52 Gemeinwohlökonomien distanzieren Wachstumsideologien, Reparatur- und Tausch-Cafés gründen sich und der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat Leit­linien für die Transformation der Städte dieser Welt 50 Siehe dazu gerade mit Blick auf das sozial-utopische Element aktueller Nachhaltigkeitsdiskurse und konkreter -praktiken und Projekte: Benjamin Görgen / Björn Wendt (Hg.): Sozial-ökologische Utopien. Diesseits oder jenseits von Wachstum und Kapita­ lismus?, München 2020; speziell die Kapitel III-V. 51 Siehe dazu etwa mit Beispielen aus Mailand, Paris, Amsterdam, Singapur, Fukuoka: Frank Maier-Solgk: Von den hängenden Gärten zur zeitgenössischen Hortitecture, in: Stefan Schweizer: Die Hängenden Gärten von Babylon. Vom Weltwunder zur grünen Architektur, 2. Aufl., Berlin 2021, S. 161-191. 52 Siehe dazu Europäische Kommission: Änderung unserer Produktions- und Verbrauchsmuster: neuer Aktionsplan für Kreislaufwirtschaft ebnet Weg zu klima­ neutraler und wettbewerbsfähiger Wirtschaft mit mündigen Verbrauchern, Brüssel 2020; https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_420 (Zugriff am 20. 4. 2022); generell dazu: European Commission: First circular economy action plan, 2019; https://ec.europa.eu/environment/circular-economy/ (Zugriff am 12. 4. 2022).

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vorgelegt,53 um vom globalen Netzwerken der nachhaltigen Städte selbst erst gar nicht zu reden.54 Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie der Bundes­regierung 2021 listet Maßnahmen zur Dämpfung und Minderung des Klimawandels in nahezu allen Bereichen auf, die bei Morris und ­Callenbach erzählerisch thematisiert werden: vom Bildungssystem bis zur Verkehrswende.55 All das ist hochumstritten und insgesamt noch viel zu wenig, um den Klima­wandel auch nur zu dämpfen.56 Nicht zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe dieses deutliche Defizit moniert und einstimmig in einem bahnbrechenden Beschluss im Frühjahr 2021 eine sehr viel striktere Nachhaltigkeitspolitik eingefordert.57 Denn die ist mehr als nötig, um uns die Hoffnung zu geben auf eine Milderung der Katastrophen, die uns mit großer Sicherheit drohen.58 Aber nicht allen Bürger*innen dieser Welt droht die Katastrophe gleicher­maßen. Die Leidtragenden der hochmodernen Lebensweise sind diejenigen, die am wenigsten davon profitieren und am wenigsten zum anthropogenen Klimawandel beitragen.59 Die Vision eines Welt-Gartens muss diese Ungleichheiten und massiven Ungerechtigkeiten und rechtlich 53 Siehe Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU ) (Hg.): Hauptgutachten: Der Umzug der Menschheit. Die transformative Kraft der Städte, Berlin 2016. 54 Siehe ICLEI – Local Governments for Sustainability, 2021; https://www.iclei.org (Zugriff am 6. 4. 2022). Das Netzwerk verbindet Städte auf allen Kontinenten, die sich einer kommunalen Nachhaltigkeitspolitik in praxi verpflichtet fühlen, und ­liefert zudem Ressourcen und Beispiele für gelingende Klimaanpassungspolitik. 55 Siehe Die Bundesregierung (Hg.): Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Weiterentwick­ lung 2021, Berlin 2021. 56 Siehe etwa United Nations Environment Programme (Hg.): The Emissions GAP Report 2018, Nairobi 2018; IPCC (Hg.): The Ocean and the Cryosphere in a Changing Climate. Summary for Policymakers, Cambridge / New York 2019. Der 6. Sachstandsbericht des IPCC dokumentiert die dramatische Beschleunigung des Klimawandels und stellt eindringlich heraus, dass die aktuell von allen Staaten zugesagten Policy-Maßnahmen bei Weitem nicht ausreichen, um das vereinbarte 1,5°C-Ziel von Paris zu erreichen; siehe IPCC (Hg.): Climate Change 2022. Mitigation of Climate Change. Summary for Policymakers, Cambridge / New York 2022; https://www.ipcc. ch/report/ar6/wg3/ (Zugriff am 12. 4. 2022). 57 Siehe BVerfG: Beschluss des 1. Senats vom 24. März 2021; darin vor allem Abschnitt C: Begründetheit (Absatz 142-166). 58 Sehr pessimistische, aber leider auf der Basis der IPCC -Modelle realitätshaltige Prognosen über extrem wahrscheinliche Katastrophenszenarien werden formuliert u. a. von Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Das Ausmaß der Klimakrise, Berlin 2020. 59 Siehe etwa Jean-Frederic Morin et al.: Global Environmental Politics, Oxford 2020, S. 80-85; Julie Rozenberg / Stéphane Hallegatte: Poor People on the Front Line. The Impacts of Climate Change on Poverty in 2030, in: Climate Justice. Integrating Economics and Philosophy, hg. von Ravi Kanbur / Henry Shue, Oxford 2019, S. 24-42.

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flankierten Ausbeutungsmechanismen des Globalen Nordens gegenüber den Ländern und Bürger*innen des Globalen Südens reflektieren, be­ nennen und beheben.60 Deshalb hat Ashok Khosla, ehemaliger Leiter des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, völlig recht, wenn er fordert: »Das Herz der Bioökonomie muss Gerechtigkeit sein«.61 Dass wir im globalen Norden deshalb simultan zu den Unterstützungen des globalen Südens unseren hochmodernen, hyperkapitalistischen Lebensstil globaler Produktion und Konsumption massiv reduzieren müssen, haben beide Gartenutopien ja mehr als deutlich gemacht. Warum dieser Ausflug in unsere Gegenwart und Zukunft? Weil spätestens mit Callenbachs Ökotopia zahlreiche Elemente der Gesellschaftsutopie Garten zu teilweise realisierten Wirklichkeiten geworden sind. Aus einigen unmöglichen Möglichkeiten bei Morris sind erfahrbare Wirklichkeiten des Alltags geworden. Das ist der Hintergrund der Eingangsthese, dass in den etwa 130 Jahren seit den News from Nowhere die Utopie näher an uns herangerückt ist – und wir an sie. Sie meint jene Bewegungen der Teilimplementation von ehemals utopischen Gartenelementen in unsere Gegenwartswelt. Wir sollten deshalb zum Abschluss einen Blick werfen auf eine nicht mehr so ganz utopische Garten-Gesellschaft. Gemeint ist Samuel Alexander, der aus dem Globalen Süden einen Blick auf die Welt wirft, wenngleich aus einem westlich-modernen Industrie- und Wohlstandsland, nämlich Australien. 5. Samuel Alexander und das Simplicity Institute Melbourne

Samuel Alexander ist Gründer und einer der führenden Köpfe des ­Simplicity Institute und des Melbourne Sustainable Society Institute der ­University of Melbourne. Beide Institute erstellen wissenschaftliche Gutachten und entwerfen Szenarien, die eine Umsteuerung der globalisierten Industriegesellschaft denkbar und realisierbar machen. Genauer gesagt, geht es um weit mehr. Es geht um eine radikale Transformation, nämlich die Verabschiedung des Kapitalismus tout court. Das kennen wir von Morris und auch Callenbach schon. Alexander und diverse Mitautor:innen begründen, propagieren und plausibilisieren die Revolution in verschie­ denen klassisch wissenschaftlichen Artikeln, aber auch in Erzählungen. Eigentlich lassen sich beide Formen der Reflexion gar nicht trennen. Da wir Menschen Lebewesen sind, die Geschichten lieben und brauchen, um 60 Siehe etwa Branko Milanović: Die ungleiche Welt. Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, Berlin 2016; Bhupinder Chimni: International Law and World Order. A Critique of Contemporary Approaches, Cambridge 2017. 61 Zitiert nach Christiane Grefe: Global Gardening. Bioökonomie – Neuer Raubbau oder Wirtschaftsform der Zukunft?, München 2016, S. 301.

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ihre Welt zu ordnen und zu begreifen, müssen wir fundierte Erzählungen von einem gelingenden, einem nachhaltigen Leben erzählen. Die Geschichten dienen als wirklichkeitsbasierte Zukunftsorientierung, Horizont und Motivation, um im Hier und Jetzt revolutionär zu handeln.62 Ausgangspunkt der erzählenden Analysen ist eine doppelte Beobachtung. In einer endlichen Welt mit endlichen Ressourcen ist ein unend­ liches Wachstum nicht möglich. Aus der Begrenzung wird uns auch nicht die Hoffnung auf bahnbrechende technische Erfindungen herausführen.63 Alexander zieht aus beiden Paradigmen den radikalen Schluss: Wir müssen aus einer Lebensweise, die auf Wachstum der Produktion und der Konsumption setzt, komplett aussteigen, um die Erde nicht in einen für uns und viele andere Lebewesen feindlichen Ort zu verwandeln.64 Die Botschaft formuliert Alexander in unterschiedlichen Vorschlägen und Formen. Eine davon ist die Imagination einer postrevolutionären Zukunft. So ent­wickelt er 2018 »a back-casting narrative in which we position ourselves in the year 2038 […] and reflect on the changes that have transpired in the proceeding of two decades, focusing primarily on Australia albeit it in global context«.65 Der Entwurf sei gerade keine »utopian fantasy«, sondern eine Extrapolation real möglicher Zukünfte.66 Der Weg in diese Zu­kunft beginnt allerdings wenig hoffnungsfroh. Dies sollte uns anspornen, zügig und geplant mit dem radikalen Wandel hier, jetzt und heute zu beginnen. Startpunkt der Erzählung bilden die Krisenerfahrungen, die wir Anfang der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts durchlebt haben werden. Die Arktis ist im 62 Siehe Ted Trainer / Samuel Alexander: The simpler way. Envisioning a sustainable society in the age of  limits, in: real world economics review 87, 2019, S. 247-260, hier S. 249. 63 Siehe Samuel Alexander / Jonathan Rutherford: A critique of techno-optimism. Efficiency without sufficiency is lost, in: Routledge Handbook of Global Sustainability Governance, hg. von Agni Kalfagianni u. a., London 2020, S. 231-241. 64 Auch eine mit starken Umweltauflagen versehene kapitalistische Produktion wird zwar weniger, aber immer noch steigenden Ressourcendurchfluss benötigen; d. h. strengere Umweltgesetze allein werden das 1,5°C-Ziel von Paris im liberalen Wirtschaftssystem nicht erreichen helfen; siehe dazu Steffen Lange: Beyond a-growth. Sustainable zero growth, in: Routledge Handbook of Global Sustainability Governance, hg. von Agni Kalfagianni u. a., London 2020, S. 322-333. 65 Samuel Alexander / Brendan Gleeson: Degrowth in the Suburbs. A radical urban ­imaginery, Singapore 2019, S. 145. 66 Alexander / Gleeson: Degrowth in the Suburbs (Anm. 65), S. 146. Wir sollten das »non utopian« nicht als Absage an die Utopie verstehen, sondern vielmehr als Absage an ein Verständnis, das »utopisch« als »illusionär« disqualifiziert. An anderer Stelle erklärt Alexander kategorisch: »We are all utopians and always have been«; Samuel Alexander: A prosperous decent. Telling new stories as the old book closes, in: ders.: Bronwyn Adcock, Imagining the Future. Notes from the frontier, Griffith Review 52, Melbourne 2016, S. 4-24, hier S. 6.

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Sommer komplett eisfrei, Wirbelstürme und Fluten haben riesige Schäden angerichtet, Millionen Menschen getötet, die rasant steigenden Ölpreise haben die kapitalistische Konkurrenzökonomie massiv erschüttert und globale Umweltbewegungen ein weltweites Bewusstsein für eine andere Politik erzeugt. Multiple Krisenerfahrungen bringen ca. 10 % der Bevölkerung kapitalistischer Staaten dazu, aus dem Konsumparadigma auszusteigen, was eine Abwärts­ spirale in der globalen Ökonomie auslöst und zu massiven Firmen- und Bankenzusammenbrüchen geführt hat. Schließlich werden Gewalt, Kriege und Bürgerkriege Staaten (etwa am Persischen Golf ) destabilisieren und ­nationale wie internationale Sicherheitsstrukturen schwächen oder auflösen. Die Not wird steigen, unweigerlich. Und das ist – leider – keine Fiktion.67 In Australien bringen die Schockwellen eine Re-Lokalisierung mit sich. In den Städten und vor allem den Vorstädten bilden sich Nachbarschaften, die beginnen, sich selber zu versorgen. So bauen die Bewohner:innen »household gardening and urban agriculture« zur Lebensmittelselbst­ versorgung auf. Ganz im Stile der britischen Victory Gardens oder der Buen-Vivir-Bewegung in Lateinamerika bilden diese Gärten das Rückgrat der zukünftigen Lebensweise.68 Denn die Gärten machen zügig unabhängig von einer globalen Produktions- und Wertschöpfungskette, über­ winden die Idee des Privateigentums, reduzieren Mobilität, lassen den CO2-Ausstoß rapide sinken, schaffen Kooperativen, andere Wohnverhältnisse, Solidarität und eine landwirtschaftliche Arbeitswelt mit »urban community farms«, die am Ende des Tages die Menschen zufrieden sein lässt. Ja, das Leben ist ein deutlich anderes, besteht aus lokalen Bindungen, Einfachheit, Arbeit, basisdemokratischer Selbstregierung und Bescheidenheit. Ob sich Medizin und Bildung, globale kulturelle Kommunikation, Experiment und jedwede Form des Austausches aufrecht erhalten lassen, bleibt unweigerlich vage und zu hoffen.69 Wissen können wir es nicht. Festzuhalten aber bleibt für das Jahr 2038: 67 Deshalb sind die Aussagen, die Samuel Alexander und Rupert Read in einem bemerkenswerten Gespräch 2019 treffen, auch sehr viel düsterer. Letztlich wird es, so ihre Überzeugung, darum gehen, im gewaltsamen, bellizistischen Zusammenbruch globalisierter Gesellschaften »Inseln« zu organisieren, die die Basis bilden könnten für eine völlig unbestimmte Gesellschaft der Zukunft; siehe Rupert Read / Samuel Alexander: Diese Zivilisation ist gescheitert. Gespräche über die Klimakrise und die Chance eines Neuanfangs, Hamburg 2020. 68 In anderen Texten haben das Simplicity Institute und das Sustainability Institute der Universität Melbourne die Vorstellung konzentrischer lokaler Mittelstädte ent­ wickelt, in deren Zentrum Gärten, Obstgärten, Kräutergärten, Weiden, Fischteiche liegen; siehe Trainer / Alexander: The simpler way (Anm. 62), S. 251 ff. 69 Die Betonung des Lokalen im de-growth-Paradigma darf nicht zu Borniertheit, ­Lokalismus und den, wie Michael Walzer sagen würde, vielen »kleinen Festungen«

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Huge structural and lifestyle changes were required to manage economic contraction, adapt to climate change, and support our transition to a low-carbon society. We have become a nation of radical recyclers, menders, makers, salvagers, gardeners, and retrofitters.70 Wir können es auch anders formulieren: Um im globalen Kollaps überhaupt noch eine Chance auf ein Fortbestehen humaner Kultur zu er­ öffnen, müssen wir alle schnell, zügig, sofort und komplett Gärtner*innen werden. Das ist die utopische Leitidee, eine »clear vision where we need to end up«.71 Dieses Leitbild umfasst jeden Aspekt des sozialen Lebens – von Essen und Trinken über Wohnen, Arbeiten, Mobilität, Bildung, nach­ haltige Produktion bis zur politischen Entscheidung – und soll uns eine Heuristik an die Hand geben, wie wir hier, jetzt und heute denken, planen, handeln und entscheiden sollten, um eine mögliche Zukunft jenseits der Destruktion zu ermöglichen.72 Wenn Sie wollen, bleibt diese Vision weiter­hin ein Ausgriff auf radikal Anderes und in diesem Sinn eine Utopie. Zugleich fungiert sie als pragmatische Zielgestalt, im Hier und Jetzt realistisch und transformativ zu agieren. Es wird Sie nicht wundern, dass Alexander dafür plädiert, Marx und Kropotkin, Sozialismus und Anarchismus zu verbinden. So schließt sich ein Kreis zurück zu Morris: Was als News from Nowhere klassisch utopisch begann, wird zu gangbaren »radical ways to survive global break down«, ohne das utopische Potenzial zu verlieren. There will be no deliberate transition beyond capitalism – whether eco-socialist, eco-anarchist, or another other way – until more people see that other worlds are possible […] The real problem, I contend, is figuring out how to open up people’s imaginations to the very possibility of alternative modes of existence.73

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führen. Die »planetary connectivity«, die wir in der Globalisierung hergestellt haben, muss als globales Verantwortungsbewusstsein auch im Post-Wachstum-Garten erhalten bleiben; siehe Karen Litfin: Localism, sharing, and care, in: Routledge Handbook of Global Sustainability Governance, hg. von Agni Kalfagianni u. a., Abingdon / New York 2020, S. 361-371, hier S. 369. Eine genaue Vorstellung, wie diese Verbindung aussehen könnte, haben wir aber noch nicht. Alexander / Gleeson: Degrowth in the Suburbs (Anm. 65), S. 171. Trainer / Alexander: The simpler way (Anm. 62), S. 249. Siehe dazu auch Samuel Alexander / Joshua Floyd: Das Ende der Kohlenstoffzivilisation. Wie wir mit weniger Energie leben können, München 2020, speziell S. 117-132. Samuel Alexander: Wild democracy. A biodiversity of resistance and renewal, Simplicity Institute Report 16a, Melbourne 2016, S. 15 (Herv. i. O.).

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5. Fazit (natürlich vorläufig und auffordernd)

Gärten und Gärtner*innen sind zumindest als Protagonist*innen sozialutopischer Entwürfe nicht harmlos: In ihnen verkörpert sich eine ge­ sellschaftliche und politische Utopie. Spätestens seit Morris’ View from Nowhere – und das heißt: seit etwa 130 Jahren – firmiert der Garten als ­sozialpolitisches Gegenbild zur klassischen westlichen, nordatlantischen, kapitalistischen Moderne in all ihren Facetten. Gärtner*innen sozial-politi­ scher Utopien sind genügsam, frugal, achtsam, schonend, pflegend, basisdemokratisch, antikapitalistisch, dezentral, überlegt, klug, gemeinwohlorientiert, solidarisch, verantwortungsbewusst, nachhaltig und gehen – im eigentlichen Wortsinne – an die Wurzel, sind radikal. Das Leben im ­Garten ist revolutionär, es achtet die globalen Kreisläufe, baut sich in die Biosphäre ein, ohne sie dominieren und ausbeuten zu wollen, verbraucht nie mehr, als es selbst bedarf. In der Tat, verglichen mit unseren westlichen organisierten, kapitalistischen, expansionistischen Abenteuern, den viaggi organizzati von tui-Reisen und Backpackern, und einem hyperkonsumistischen Lebensstil mag dieses Leben im Garten langweilig sein. Aber im Ernst: Was könnte der glamouröseste Ball, die schönste Party, der spektakulärste Event, die angesagteste Fashion für einen Reiz haben – wenn man auf der Titanic eingecheckt hat? Literatur Alexander, Samuel: A prosperous decent. Telling new stories as the old book closes, in: Imagining the Future. Notes from the frontier, Griffith Review 52, 2016, S. 4-24. – Wild democracy. A biodiversity of resistance and renewal, Simplicity Institute Report 16a, Melbourne 2016. Alexander, Samuel / Joshua Floyd: Das Ende der Kohlenstoffzivilisation. Wie wir mit weniger Energie leben können, München 2020. Alexander, Samuel / Brendan Gleeson: Degrowth in the Suburbs. A radical urban imaginery, Singapore 2019. Alexander, Samuel / Jonathan Rutherford: A critique of techno-optimism. Efficiency without sufficiency is lost, in: Routledge Handbook of Global Sustainability Governance, hg. von Agni Kalfagianni u. a., London 2020, S. 231-241. Bloch, Ernst: Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, Frankfurt a. M. 1975. Bundesregierung (Hg.): Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Weiterentwicklung 2021, Berlin 2021. BVerfG: Beschluss des 1. Senats vom 24. März 2021. Callenbach, Ernest: Erfahrungen in Ökotopia, in: Pläne für eine menschliche Zukunft, hg. von Rüdiger Lutz, Weinheim / Basel 1988, S. 95-100.

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Abbildungen Abb. 1: Perlstein, Jessica: The Fifth Sacred Thing, abgedruckt in: Isaijah Johnson: »Solarpunk« & the Pedagogical Value of Utopia, in: The Journal of Sustainability Education 23, 2020, S. 1-16, hier S. 1; http://www.susted.com/wordpress/content/ solarpunk-the-pedagogical-value-of-utopia_2020_05/ (Zugriff am 12. 4. 2022).

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»Stadtnatur« als Medium sozialräumlicher Transformation Haussmanns Neuordnung von Paris und Dortmunds Phoenix-Projekt Susanne Frank

1. Urbane Natur als »Wunderschlüssel«

»Mehr Grün in die Stadt !« – Dieser Ruf war schon vor Corona deutlich zu vernehmen; die Pandemie-Erfahrung lässt ihn nur noch lauter ertönen.1 Liest man aktuelle Studien und Erklärungen, so scheint es, als würden der »urbanen Natur« in ihren vielfältigen Formen geradezu magische Fähigkeiten zugeschrieben, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen (nicht nur) die städtisch geprägten westlichen Gesellschaften heute stehen.2 Stadtgrün und Stadtblau, so heißt es, verbessern das Stadtklima und wirken dem Klimawandel entgegen. Sie tragen zum Natur- und Artenschutz bei und erhalten die biologische Vielfalt. Eine entwickelte urbane Agrikultur sichere die Versorgung und erhöhe die Resilienz von Städten im Krisenfall. Als Orte der Bewegung und Erholung schützen und fördern Grünräume die individuelle und die kollektive Gesundheit. »Grüne Städte« haben einen klaren Standortvorteil in der globalen Konkurrenz um Unternehmen und Bürger*innen. Ein gepflegtes grünes Umfeld steigere den Wert von Grundstücken und Immobilien. Als Orte der Begegnung unterschiedlicher Generationen, Schichten und Milieus stärken Grün1 Z. B. BGL (= Bundesverband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau e. V.): Urbanes Grün ist »Sehnsuchtsort« für Bürger und Chance für »sterbende« Innenstädte, 2020; https://www.gruen-in-die-stadt.de/informieren/vorteile-von-stadtgruen/urbanesgruen-ist-sehnsuchtsort-fuer-buerger-und-chance-fuer-sterbende-innenstaedte (Zugriff am 7. 4. 2022); Lena Karuss: Die Innenstädte müssen grüner werden!, in: WAZ , 29. 6. 2021. 2 Vgl. BMU (= Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit): Grün in der Stadt – Für eine lebenswerte Zukunft, Grünbuch Stadtgrün, Berlin 2015; BMU: Was Stadtgrün für Mensch und Umwelt leistet, in: Umwelt im Unterricht. Aktuelle Bildungsmaterialien, 2017; https://www.umwelt-im-unterricht.de/hintergrund/­ was-stadtgruen-fuer-mensch-und-umwelt-leistet/ (Zugriff am 7. 4. 2022); BMU: Weiß­ buch Stadtgrün. Grün in der Stadt – Für eine lebenswerte Zukunft, Berlin 2018; BMU (= Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit): Masterplan Stadtnatur, Berlin 2019.

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räume den gesellschaftlichen Zusammenhalt; insbesondere erleichtern sie »die Integration sozialer Randgruppen«.3 »Mehr Grün« gilt inzwischen auch als Schlüssel zur Rettung der nicht erst seit Corona kriselnden Innenstädte: Begrünung soll den Aufenthalt im urbanen Raum angenehmer machen und das Shoppingerlebnis bereichern. Gerade die online-affinen jüngeren Menschen würden durch Stadtgrün wieder stärker in die Innenstädte strömen. Hieraus entstünden konkrete Vorteile für Kultur und Wirtschaft.4 Die Auflistung der segensreichen Wirkungen, die »urbaner Natur« zugeschrieben werden, ließe sich fortsetzen. In aktuellen Dokumenten werden mannigfache ökonomische, ökologische, soziale, politische, demographische und psychologische Argumente für eine multifunktionale und integrierte grüne und blaue Stadtentwicklung angeführt. Offenkundig halten zentrale Akteur*innen in Politik und Planung Stadtnatur für eine Art »Wunderschlüssel« zur Lösung beinahe aller (stadt‑)gesellschaftlichen Probleme. Dabei können sie sich der Unterstützung von Wissenschaft und Wirtschaft, zahlreicher zivilgesellschaftlicher Gruppierungen und vor ­allem auch der Bürger*innen gewiss sein. Und warum auch nicht? Wer wollte denn Einwände gegen »mehr Grün« oder »mehr Blau« in der Stadt erheben? »Mehr Natur« ist doch immer begrüßenswert – oder?

3 BfN (= Bundesamt für Naturschutz): Natur in der Stadt, 2021; https://natgesis.bfn.de/­ gesund-mit-der-natur/erholungsort-natur/natur-in-der-stadt.html (Zugriff am 7. 4. 2022). 4 BGL: Urbanes Grün Sehnsuchtsort (Anm. 1); BMU: Grün in der Stadt (Anm. 2); BfN: Natur in der Stadt (Anm. 3); Der Begriff »Stadtgrün« umfasst eine große Vielfalt an Formen. In der Definition des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit gehören dazu »alle Formen grüner Freiräume und begrünter Gebäude. Zu den Grünflächen zählen Parkanlagen, Friedhöfe, Kleingärten, Brach­ flächen, Spielbereiche und Spielplätze, Sportflächen, Straßengrün und Straßenbäume, Siedlungsgrün, Grünflächen an öffentlichen Gebäuden, Naturschutzflächen, Wald und weitere Freiräume, die zur Gliederung und Gestaltung der Stadt entwickelt, erhalten und gepflegt werden müssen. Auch private Gärten und landwirtschaftliche Nutzflächen sind ein wesentlicher Teil des Grüns in den Städten. Auch das Bauwerksgrün mit Fassaden- und Dachgrün, Innenraumbegrünung sowie Pflanzen an und auf Infrastruktureinrichtungen gehören dazu. Alle diese Formen des städtischen Grüns werden auch als ›Grüne Infrastruktur‹ bezeichnet, da sie – vergleichbar mit der ›grauen Infrastruktur‹ – zahlreiche wirtschaftliche, soziale und ökologische Leistungen erbringen.«; BMU: Grün in der Stadt (Anm. 2), S. 7.

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2. Natur als Medium des Sozialen

Wie die amerikanische Stadtsoziologin Hillary Angelo in einer beein­ druckenden Studie gezeigt hat, gilt in der modernen Stadtplanung kein Glaubenssatz so unangefochten wie der, dass urbane Natur »gut« und »mehr Natur« besser ist. »Stadtnatur« ist normativ so positiv aufgeladen, dass Politik und Planung sicher davon ausgehen können, dass jedwedes Entwicklungsvorhaben, das »Natur« als öffentliches Gut involviert und profiliert, nahezu unhinterfragt begrüßt werden wird.5 Wie ich im Folgenden an zwei Beispielen demonstrieren möchte, gilt dies insbesondere für städtebauliche Großvorhaben, die in der Regel zugleich auch gesellschaftliche Restrukturierungsprojekte sind. Politiker*in­ nen und Planer*innen, die die Entwicklung der Stadt bzw. das städtische Gefüge von Grund auf neu ausrichten möchten, machen sich die Un­ angreifbarkeit von »urbaner Natur« zunutze, indem sie dieser in ihren Erneuerungsvorhaben materiell und symbolisch zentralen Stellenwert zuweisen. Umfassende und tiefe Eingriffe in die gebaute und soziale Umwelt werden mit »mehr Natur« verbunden und so als nutzbringende Inves­ titionen in das Gemeinwohl gerechtfertigt.6 Wie ich meine, lässt sich diese normative und legitimatorische Indienstnahme von Natur7 im Rahmen von Stadtentwicklung und Stadterneuerung besonders gut an Epochenschwellen beobachten, in denen es darum geht, urbane Gesellschaften sozial und räumlich den Erfordernissen einer neuen Zeit anzupassen. Die Selbstverständlichkeit, mit der »Natur« oder »mehr Natur« in der Stadtplanung gutgeheißen wird, täuscht dabei häufig darüber hinweg, dass es »die Natur« natürlich nicht gibt. Wie eine Gesellschaft sich auf Natur bezieht, ist stets von kulturellen Vorstellungen geleitet: »Natur gewinnt für uns überhaupt nur in symbolisch vermittelter Form Relevanz«.8 Der jeweilige »Sinn« von Natur muss daher immer erst konstruiert werden. Meine These lautet, dass diese gesellschaftliche Konstruktion einer »guten«, d. h. schönen, wohltuenden, der angestrebten neuen Gesellschaft zuträglichen und deshalb zu fördernden Stadtnatur in aller Regel vor dem Hintergrund 5 Hillary Angelo: How Green Became Good. Urbanized Nature and the Making of Cities and Citizens, Chicago 2020, S. 200. 6 Angelo: How Green Became Good (Anm. 5), S. 23. 7 Vgl. Bernhard Gill: Paradoxe Natur. Zur Vieldeutigkeit der Unterscheidung von Natur und Gesellschaft, in: Soziologie und Natur. Theoretische Perspektiven, Reihe »Soziologie und Ökologie«, Bd. 2., hg. von Karl-Werner Brand, Opladen 1998, S. 223-248. 8 Karl Werner Brand: Soziologie und Natur – eine schwierige Beziehung. Zur Einführung, in: ders.: Soziologie und Natur, Reihe »Soziologie und Ökologie«, Bd. 2, Wiesbaden 1998, S. 9-29, hier S. 9.

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von parallel hervorgebrachten Vorstellungen einer hässlichen, schädlichen, un- oder nicht mehr passenden und daher zu bekämpfenden »schlechten« Natur erfolgt. Aus dieser dichotomischen moralischen Bewertung leiten Politik und Planung dann eine unmittelbare Handlungsaufforderung ab, denn das Gute muss ja durchgesetzt und das Schlechte bekämpft werden.9 Dabei werden die Bilder von guter und schlechter Natur auf das Engste mit Bildern von guter oder schlechter sozialer Ordnung bzw. von guter oder schlechter gesellschaftlicher Entwicklung verbunden. Bilder- bzw. Sinnproduktion und politische und planerische Praxis greifen damit engstens ineinander. So wird »Natur« zum Vehikel, um (stadt-)gesellschaftliche Ordnungs- und Entwicklungsvorstellungen durchzusetzen, mithin zum Medium des Sozialen. Diese Zusammenhänge möchte ich im Folgenden zunächst an der Entstehung der modernen Stadtplanung im 19. Jahrhundert und dann an zwei Großprojekten des Stadtumbaus veranschaulichen. Dabei handelt es sich um die Haussmann’sche Transformation des mittelalterlichen Paris zur »Hauptstadt der Moderne« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1853-1870) und um das Phoenix-Projekt im Dortmunder Stadtteil Hörde, das als Leuchtturm-Vorhaben für die Restrukturierung der Stadt von der Industriekapitale zum Dienstleistungsstandort steht (seit 2000). 3. Die Entstehung der modernen Stadtplanung

Mit vielen anderen Stadtforscher*innen teile ich die Auffassung, dass die Geschichte der modernen Stadtplanung mit ihrer »Mission«, die städtische Gesellschaft neu zu formieren,10 ihren Ausgang in der radikalen Neu­ ordnung von Paris durch Napoleon III. und seinen berühmten Präfekten Baron Haussmann nimmt. Wie ich kurz darlegen möchte, entsteht die moderne Stadtplanung als Antwort auf die vielfältigen Probleme, mit ­denen sich die rasch wachsenden Städte in der Zeit der rapiden industriekapitalistischen Urbanisierung konfrontiert sehen.11 Als Ausgangspunkt wähle ich den kollektiven Schock, den das Schleifen der Stadtmauern verursachte. Mit diesem ging, so das verbreitete Empfinden der Zeit, materiell und symbolisch alles verloren, was die städtische 9 Vgl. Gill (Anm. 7), S. 10. 10 Philip Kasinitz: Introduction, in: ders., Metropolis. Center and Symbol of Our Times, Houndmills et al. 1995, S. 85-97, hier S. 90. 11 Peter Hall: Cities of Tomorrow. An Intellectual History of Urban Planning and Design in the Twentieth Century, Oxford 1993.

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Ordnung bis dahin ausgemacht und garantiert hatte.12 Über Jahrhunderte hatte die Stadtmauer die Stadt als abgeschlossene, kontrollierte »Enklave der Zivi­lisation« markiert und von der umgebenden wilden, ungebändigten, regellosen Natur abgegrenzt.13 Mit dem Fall der Mauern verschwand die eindeutige Grenze von Innen und Außen. Das rasante Wachstum der Städte wurde als unkontrollier­ bares, unaufhaltsames »Wuchern« oder »Ausufern« ins Umland beschrieben.14 Bezeichnenderweise wurden dafür häufig Metaphern von Natur­ katastrophen verwendet. So hieß es etwa bei Paul Schultze-Naumburg: »Unsere Großstädte sind wie riesenhafte Feuerstätten, die durch ihre Glut meilenweit im Umkreis das freie grüne Land gleichsam verbrennen und versengen«, sie sind »wie Vulkane, die nach außen ihre Lavaschlacken vor sich herschieben«.15 Vielen erschien es, als erobere sich »die wilde Natur« die Stadt zurück.16 Ebenso verblassten die vertrauten Orientierungsmarken im Innern; die Stadt verlor ihre bisherige Gliederung und Lesbarkeit. Die wahrgenommene Rückkehr der wilden Natur ins Innere der Stadt drückte sich auch hier in der Bildersprache aus: Das städtische Gepräge erschien den Zeit­ genossen als undurchdringlicher Dschungel, Urwald, Wildnis, Dickicht, als Sumpf oder Labyrinth.17 Hierzu trug maßgeblich auch das neue Phänomen der anonymen und amorphen, Unterschiede auflösenden städtischen Menschenmassen bei, das viele Stadtbürger mit »Angst, Widerwillen und Grauen« erfüllte.18 Diese Gefühle hatten eine starke klassenpolitische Unterseite: Bei den massenhaft in die Stadt Strömenden handelte es sich überwiegend um proletarisierte Industriearbeiter. Revolutionsfurcht breitete sich im Bürger­ tum aus.19 Die Industriestädte wurden zu Orten extremer Gegensätze: Einerseits führende ökonomische, politische und kulturelle Zentren und Schaufenster 12 Jürgen Reulecke: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1985, S. 15. 13 Susanne Frank: Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen 2003, S. 47 f. 14 Sigrid Weigel: Zur Weiblichkeit imaginärer Städte, in: Mythos Metropole, hg. von Gotthard Fuchs u. a., Frankfurt a. M. 1995, S. 35-45, hier S. 40. 15 Paul Schultze-Naumburg: Kulturarbeiten. Band IV: Städtebau, 2. verm. Aufl., München 1909, S. 12. 16 Frank: Stadtplanung (Anm. 13). 17 Weigel (Anm. 14), S. 40. 18 Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt a. M. 1977, hier S. 207. 19 Frank: Stadtplanung (Anm. 13), S. 41 f.

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von ungeheurem Reichtum und Luxus, waren sie andererseits und zugleich aber auch Orte harscher Klassengegensätze und krisenhafte sozia­le Brennpunkte, gekennzeichnet von katastrophalen sanitären und hygienischen Zuständen, Armut, Elend und Krankheit. Zentraler Bestandteil des Unbehagens vor allem der Bürger (aber auch vieler Bürgerinnen) an der aufkommenden Industriestadt war nicht z­ uletzt auch die beobachtete Auflösung der »natürlichen Geschlechterordnung«. Viele Frauen wurden durch Erwerbstätigkeit unabhängiger; sinkende Heirats- und Geburtenziffern sprachen diesbezüglich eine alarmierend deutliche Sprache. Zugleich war die rasante Verbreitung der Straßen­ prostitution das Thema der Zeit.20 Viele Bürger, Reformer, Politiker, Hygieniker, Ingenieure, Schriftsteller, Journalisten, Administratoren u. a.m. teilten die leidenschaftliche Ablehnung der dunklen, schmutzigen, kranken, übervölkerten Städte ihrer Zeit, die als bedrohlich, chaotisch und »unzivilisiert« gebrandmarkt wurden. Einerseits beklagten sie dies als Beschlagnahme der Städte durch die wilde Natur, die diese in einen gefährlichen Dschungel verwandele. Andererseits bedauerten sie die wachsende Entfernung von den als gesund, wohltuend und heilend empfundenen Kräften der guten, richtigen, reinen Natur.21 Wie die meisten Sozial- und Gesundheitsreformer jener Zeit waren auch die ersten Stadtplaner zutiefst davon überzeugt, dass zur Verbesserung und Entspannung der sozialen und politischen Situation eine radikale Erneuerung der städtischen Umwelt vorzunehmen wäre. Sie glaubten fest, dass gesündere, d. h. grünere, sauberere, rational und effizient gebaute und organisierte Städte auch eine bessere Gesellschaft hervorbringen würden. Und nichts Geringeres, als diese neue, bessere Sozial-, Geschlechter- und Gesellschaftsordnung zu entwerfen, machten sie sich zu ihrer Aufgabe. 4. Haussmanns Transformation von Paris

Im Folgenden möchte ich nun also zeigen, dass und wie diese Vorstellungen praktisch werden. Dabei beziehe ich mich auf den ersten umfassend geplanten und konsequent durchgeführten Stadtumbau des Industrie­ zeitalters: die Haussmann’sche »Neuerschaffung von Paris«.22 Die Hauptstadt, wie Haussmann sie vorfand, war ein politisch und sozial instabiles, von Krankheiten zerrüttetes, dichtes und enges, klein­ 20 Frank: Stadtplanung (Anm. 13), S. 47 ff. 21 Frank: Stadtplanung (Anm. 13). 22 David Jordan: Die Neuerschaffung von Paris. Baron Haussmann und seine Stadt, Frankfurt a. M. 1996.

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Abb. 1: Bange Erwartung

räumig differenziertes und völlig dysfunktional gewordenes Patchwork aus mittelalterlichen, vorindustriellen und durch spontane Industrialisierung entstandenen Strukturen. Sein Ziel ist deshalb nicht weniger, als die Hauptstadt zu einem ein­ heitlichen, kohärenten, organischen Ganzen zu modernisieren, das den ­modernen Produktionsverhältnissen gerecht wird. Die runderneuerte Stadt sollte sich zum einen als funktionierende Industriemetropole mit den konkurrierenden Kapitalen der Welt messen können und zum anderen den Ansprüchen der Bourgeoisie auf politische Herrschaft, innere Sicherheit sowie kulturelle Hegemonie und Repräsentativität genügen. Um diese Ziele zu erreichen, ließ Haussmann den ersten exakten ­Gesamtplan der Stadt erstellen. Über ein Jahr lang wurde das Stadtgebiet planimetrisch und topographisch kartiert. Wie Karikaturen zeigen, wurden die als Triangulationspunkte errichteten Vermessungsgerüste von der Pariser Bevölkerung als Vorboten drastischer und einschneidender Ver­ änderungen wahrgenommen.23 Sie illustrierten aber auch, dass die Stadtwahrnehmung und auch die Umgestaltung der Stadt zutiefst geschlechtlich codiert wurden. Die Stadt Paris wurde als eine Frau dargestellt, die 23 Rosemarie Gerken: »Transformation« und »Embellissement« von Paris in der Karikatur. Zur Umwandlung der französischen Hauptstadt im Zweiten Kaiserreich durch den Baron Haussmann, Hildesheim / Zürich / New York 1997.

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Abb. 2: Die Disziplinierung des weiblichen Stadtkörpers

einen schmerzhaften operativen Eingriff in ihren Körper zu befürchten hatte. Dies war kein Zufall: Die wilde, gefährliche Natur wurde in dieser Zeit mit ungebändigter Weiblichkeit gleichgesetzt. Daher ging es Haussmann und vielen anderen Zeitgenossen ausdrücklich auch darum, dem als chaotisch-weiblich gebrandmarkten Stadtkörper eine als männlich de­ finierte Ordnung aufzuerlegen. Letztere wurde zuallererst verkörpert durch die Geometrie. Wie viele andere Zeitgenossen schätzte Haussmann die geometrische Ordnung reiner Formen als formalen und inhaltlichen Ausdruck praktizierter ­ männlicher Vernunft und so als geeignetes Mittel, um die Stadt in sozialer und räumlicher, politischer und moralischer Hinsicht disziplinieren und kontrollieren zu können.24 Diese Anmerkung soll nur einen kurzen Hinweis darauf geben, dass die Planer im 19. und 20. Jahrhundert völlig selbstverständlich davon ausgingen, mit der Neuordnung der Stadt auch die »natürlichen« bürgerlichen Geschlechterverhältnisse real und symbolisch wiederherstellen zu können.25 Im Folgenden werde ich kurz die vier Kernbestandteile der disziplinatorischen Neuordnung des Pariser Stadtkörpers durch Baron Haussmann vorstellen.

24 Frank: Stadtplanung (Anm. 13), S. 187 ff. 25 Frank: Stadtplanung (Anm. 13).

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4.1 Kanalisation: Die Disziplinierung des Untergrunds

Nicht zufällig waren die unterirdischen Abzugskanäle, die Kloaken, das erste Experimentier- und Wirkungsfeld der städtebaulichen Zivilisationsarbeit. Die Schaffung eines funktionierenden Kanalisationssystems war aus zwei Gründen ein vordringliches Ziel. Zum einen ging es darum, die katastrophale sanitäre und hygienische Situation der Stadt zu verbessern. Zum anderen galt der städtische Untergrund nicht nur im Pariser Imaginären als ein Ort des Schreckens, laut Victor Hugo als »große Höhle des Bösen«26 – als Heim- und Brutstätte aller Gefahren, die die gesellschaftliche Ordnung gleichsam von unten her zersetzten: Prostitution, Krankheit, Verbrechen, Revolution, Tod. Dort vegetierte »ein wilder, animalischer Menschenschlag«, »häßliche Pilze vom Untergrund der Zivilisation«,27 geboren aus dem »sickernden Abwasser der Gesellschaft«,28 selber Teil der Materie, des vergifteten Schlamms. Wesentlicher Bestandteil von Haussmanns Projekt war daher die radikale Neu-Ordnung des Untergrunds. Dazu ließ er das undurchschaubare unterirdische Labyrinth zunächst ebenfalls gründlich vermessen und reini­ gen. Begradigung und Beleuchtung ließen irrationale Krümmungen, unbekannte Winkel und vor allem auch die »dunklen Gestalten« verschwinden. Jede Alt-Pariser Straße erhielt ihre eigene Abwasserleitung. Alte und neue Tunnel wurden zu einer effizienten Gesamtanlage zusammengefasst. Wasserspülung und Belüftung vertrieben fauligen Schlamm und mias­ matischen Gestank. Unter dem Stadtgebiet wurden diagonal verlaufende Sammelkanäle (collecteurs) gebaut, die die Pariser Abwässer außerhalb der Stadt in die Seine einleiteten. Im Zuge dieser Maßnahmen entstand unter der Erde ein planerisch geordnetes, berechenbares, gleichmäßiges, gesundheitlich unbedenkliches und überdies auch ästhetischen Ansprüchen genügendes, in einem Wort: ein vorbildliches Universum. Das neu entstandene Pariser Kanalisationsnetz war im internationalen Vergleich beispiellos und erregte weltweites Interesse – nicht nur bei Fachleuten. Führungen durch den Untergrund wurden seit 1867 angeboten, wo sie eine der herausragenden Attraktionen der Weltausstellung darstellen. Der erste Triumph der planerischen Ordnung über das Chaos war damit unterirdisch angesiedelt.

26 Victor Hugo: Die Elenden. Roman in fünf  Teilen und drei Bänden, Aus dem Französischen von Paul Wiegier / Wolfgang Günther, Berlin 1983 [Paris 1862], S. 159. 27 Hugo: Die Elenden (Anm. 26), S. 164. 28 Hugo: Die Elenden (Anm. 26), S. 165.

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Abb. 3: Damen der Oberschicht in der nunmehr respektabi­lisierten Kana­lisation

Nichts konnte den Erfolg der Disziplinierung des Untergrunds und den damit verbundenen Bedeutungswandel in der bürgerlichen Wahrnehmung besser veranschaulichen als die im In- und Ausland vielfach ge­priesene Tatsache, dass nach allgemeiner Auffassung selbst die »anstän­ digen« ­Damen der bürgerlichen Oberschichten ohne Gefahr für ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden einen Besuch wagen konnten. Auch dies ist in einer Vielzahl von Bildern festgehalten worden. Mit ihrer Unterwerfung unter die rationale geometrische Ordnung war aus der chaotischen Kloake also die gepflegte, respektable und damit sogar damentaugliche Kanalisation geworden. 4.2 Boulevards: »Kanalisierung« der urbanen Massen

Die erfolgreiche geometrische Disziplinierung des Untergrunds galt als Vorbild für die oberirdische Umgestaltung der Stadt. In diesem Sinne schlug Haussmann (in Napoleons Auftrag) schnurgerade, klare Schneisen in das undurchdringliche Straßen- und Häusergewirr des alten Stadtkerns. Während seiner Amtszeit entstanden insgesamt mehr als 90 km neuer Boulevards, die er mit den bereits vorhandenen zu einem einheitlichen Straßennetz, dem »arteriellen System« der Stadt, verband. Darüber hinaus wurde die Kernstadt durch einen doppelten Ring von Boulevards ein­ gefasst, die einerseits die Achsenendpunkte miteinander verbinden und andererseits die Stadt gegen die Banlieue abgrenzten. Hier entstand quasi eine neue Mauer.

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Abb. 4: Schneisen, Begrünung und visuelle Fokussierung

Damit die neue Mitte entstehen konnte, muss der alte, labyrinthische, dschungelhafte Kern verschwinden. Haussmann selbst kleidete diese Zerstörung der alten, historisch gewachsenen Strukturen in das drastische Bild der »Ausweidung« des alten Paris. In seinen Memoiren heißt es: Man schlitzte dem alten Paris, dem Quartier der Aufstände und der Barrikaden, mittels einer großen, zentralen Schneise den Bauch auf, indem man Stück für Stück dieses fast unpassierbare Gewirr von ­Gassen durchbrach und Querverbindungen anlegte […].29 So wie die unterirdischen Abwasserkanäle den Schmutz der Stadt ins Umland verbrachten, so sollten die oberirdischen Boulevards die classes dan­ gereuses vom Zentrum an die Peripherie ableiten. Ganze Viertel wurden abgerissen, Zehntausende von Einwohner*innen in die Petite Banlieue zwangsevakuiert. Für Haussmann war die Vertreibung der Bewohner*innen ein unerlässlicher Beitrag zur städtischen Hygiene: »Auch menschliches Ungeziefer war auszurotten.«30 Die neuen Achsen waren erforderlich, um einen zeitgemäßen städtischen Verkehr zu ermöglichen. Sie dienten als »Kanäle«, um den reißenden 29 Zitiert nach Johannes Willms: Paris. Hauptstadt Europas 1789-1914, München 1988, S. 354 f. 30 Jordan: Neuerschaffung Paris (Anm. 22), S. 218.

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Strom chaotisch wimmelnder Menschen und Fahrzeuge in geordnete Bahnen zu lenken; zugleich waren sie auch Breschen, um die Geschlossenheit schmutziger, kranker, ansteckender Viertel aufzusprengen. Ihre Breite sollte den revolutionären Barrikadenbau erschweren und die polizeiliche Überwachung erleichtern. 4.3 Funktionale Zonierung und Uniformierung

Haussmann strebte eine einfache, klare Gliederung des Stadtraumes an: Jedes Viertel sollte funktional und visuell auf große Plätze und / oder bedeutende öffentliche Bauwerke bezogen sein. Darüber hinaus führte der Baron eine homogene Formensprache ein. So verfügte er, dass die Fassaden aller an wichtigen Plätzen und Straßen gelegenen Häuser von der Geschosszahl bis zum Balkongitter einheitlich zu gestalten waren. Variationen im Detail waren erwünscht, dafür gab es Kataloge.31 Kennzeichen der Haussmannisierung waren geometrische Strenge, symmetrische Muster und standardisierte Bauformen. Alles Individuelle, Einmalige oder Un­ regelmäßige musste weichen, umgebaut oder gar abgerissen werden. Trotz der wiederkehrenden Gestaltungselemente sollte aber auch die hierarchische Gliederung des Stadtraums deutlich werden. So wurden z. B. die öffentlichen Grünanlagen mit Zäunen und Toren umschlossen. Die Portale des eleganten Parc Monceaus wurden vergoldet, während die Stadtteilplätze der einfachen Viertel mit schmucklosen Eisengittern auskommen mussten. Vor allem aber bezweckte die klare, eindeutige, systematische Ordnung des Stadtraumes, den Stadtbewohner*innen (wieder) das Gefühl jederzeitiger Orientierung zu vermitteln und damit Verhaltenssicherheit und Selbstvertrauen zu stärken: Auch »architektonische Analphabeten« sollten »die Gebäude und Straßen der Stadt […] mühelos lesen«,32 sich überall problem- und gefahrlos zurechtfinden können. 4.4 Grünanlagen: Renaturierung der Stadt

Das letzte Kernstück der Haussmannisierung war die »Renaturierung« der Stadt durch systematisch und planvoll über die ganze Stadt verteilte Grünanlagen bzw. Grünelemente. Haussmann glaubte fest an die vorbeugende und heilende Wirkung von Natur, Sonne und frischer Luft in Bezug auf ansteckende Krankheiten. Deshalb forcierte er die Einrichtung eines stadtweiten »Grünsystems« im 31 Benoît Jallon et al. (Hg.): Paris Haussmann. Modèle de ville, Paris 2017. 32 Jordan: Neuerschaffung Paris (Anm. 22), S. 181.

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Abb. 5: Bois de Boulogne, Grande Cascade (zwischen 1858 und 1862)

Namen der öffentlichen Gesundheit. Während des Second Empire entstanden zwei Erholungswälder – die »grünen Lungen« des städtischen Organismus –, drei Stadtparks, zwei öffentliche Gärten und 24 begrünte Platzanlagen (squares). Zentrale Aufgabe der Naturelemente im Stadtraum war dessen Strukturierung. Unzählige Straßen und Kreuzungen wurden systematisch mit mehr als 50.000 Bäumen und mit Sträuchern oder Blumen bepflanzt. So ließ Haussmann die Boulevards durch majestätische, repräsentative, zum Teil sogar doppelte Kastanienreihen säumen, die »die geraden Linien betonen und die Perspektive unterstreichen«.33 Kleinere Grünräume dagegen sollten durch unregelmäßige Bepflanzung möglichst »natürlich« anmuten. Auf diese Weise sollte ein Kontrast zur Uniformität und Regelmäßigkeit der umliegenden Häuserfronten hergestellt werden;34 dieser sollte die städtische Ordnung zugleich aber auch herausstreichen und betonen. Wenn Haussmann also erklärtermaßen die Natur in die Stadt zurückholen wollte, dann nur in ihrer »guten«, also domestizierten, kontrollierten Gestalt. Wie in den anderen Bereichen galt auch hier: Wo sie sich wild gebärdete, war sie zu bändigen und zu ordnen. So ließ der Baron den an 33 Jordan: Neuerschaffung Paris (Anm. 22), S. 297. 34 François Loyer: Paris. Nineteenth Century. Architecture and Urbanism, New York 1988, S. 317.

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den großbürgerlichen Westen grenzenden Bois de Boulogne, den er als »verwahrlosten, wuchernden Urwald« vorfand,35 zu einem naturbelassen und wild-romantisch erscheinenden, in Wirklichkeit aber landschafts­ gärtnerisch bis ins Detail durchgeplanten und verwalteten Naherholungs­ gebiet kultivieren. In diesem Sinne wurden die Wege gezielt mit denselben einheitlichen Gestaltungselementen ausgestattet, die auch die Plätze und Boulevards des Stadtraumes zierten: industriell und in Serie hergestellte wurzelschonende Bodengitter, Metallgehäuse für gerades Baumwachstum, Pavillons für Bekanntmachungen, Sitzbänke, Gaslaternen, Müllbehälter u. v.m. Es wurden also aus dem urbanen Raum bekannte Gestaltungs­ elemente gezielt in den Naherholungsgebieten eingesetzt, um gerade auch den Naturraum als »zivilisiert« zu markieren – mithin, um die zentrale Botschaft auszusenden: Paris ist eine durchgängig zivilisierte Stadtlandschaft. Hier gibt es keine wilde Natur, sondern nur Natur unter Kontrolle; so wie der gesamte Stadtraum unter Kontrolle ist und damit auch die gesamte Gesellschaft. Die unter- und oberirdische radikale Rationalisierung und Geometrisierung des Stadtraumes, die Ästhetik gleichförmiger Re­ präsentativität und die uniforme Möblierung der öffentlichen Räume waren deshalb auch als eindeutige Manifestationen bürgerlichen Herrschafts- und Kontrollwillens, als Rückeroberung von Kontrolle über die städtischen Prozesse und als triumphierende Affirmation zurückgewonnener Souveränität und Autorität zu verstehen – durch Stadtplanung. 5. Die Neuerfindung von Natur und Landschaft im Ruhrgebiet

Für das zweite Beispiel machen wir nun einen großen Sprung vom Beginn der Industrialisierung an ihr Ende – dorthin, wo Letzteres besonders schmerz­lich erfahren wird: ins Ruhrgebiet und nach Dortmund. Zu zeigen ist, dass auch die Stadt Dortmund die angestrebte Transformation von der Industrie- zur Dienstleistungsstadt gezielt mit Vorstellungen von »guter« und »schlechter« bzw. »passender« und »unpassender« Natur unterlegt. Auch hier betrachten wir zunächst den größeren Kontext des Umbauvorhabens. Der Ausgangspunkt ist bekannt: Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie hatten das Ruhrgebiet zur bedeutendsten Montanregion Europas gemacht. Die Kohlekrise ab 1958 läutete das Ende dieser Ära ein; seither kämpft die einstmals monostrukturierte Region um eine neue, tragfähige ökonomische Basis. Im Ruhrgebiet ist die für die industrielle Epoche charakteristische rücksichtslose Indienstnahme und Nutzbarmachung der Naturressourcen 35 Jordan: Neuerschaffung Paris (Anm. 22), S. 300.

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Abb. 6: Landschaftspark Duisburg-Nord mit Industriekultur und Kunst

in besonderer Weise zu beobachten. Letztere werden den Anforderungen und Bedürfnissen des Montankomplexes restlos unterworfen – mit gra­ vierenden und unumkehrbaren Folgen für die Gewässer und Böden, Flora und Fauna, Topografie und Ästhetik der Region. Lange Zeit galt gerade die Emscherzone mit ihren vergifteten, stinkenden, betonierten Wasserläufen, den sterbenden Wäldern, der verpesteten Luft und den nachhaltig belasteten Böden als Inbegriff von Naturzerstörung. Das Bild der Region als schmutzig, staubig, hässlich, ungesund und arm hat sich tief eingeprägt und hält sich bis heute hartnäckig.36 So nimmt es nicht wunder, dass die Politik des Struktur- und Imagewandels maßgeblich an Natur und Landschaft ansetzte. Namentlich die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park (1989-1999) gab den Anstoß zur bis heute verfolgten Strategie, neuartige Grün- und Wasserstrukturen zu kreieren und diese zu Markenzeichen der Region zu erheben. Der Clou: Die altindustrielle Prägung von Natur und Kultur wurde dabei gerade nicht verleugnet, sondern sogar hervorgehoben. In diesem Sinne wurden regionale Grünzüge ausgebaut und zu einem »Landschaftspark neuen Typs« verbunden. Charakteristische industrielle Strukturen 36 Michael Schwarze-Rodrian: Ruhr Region Case Study, in: Remaking Post-Industrial Cities. Lessons from North America and Europe, hg. von Donald K. Carter, London 2016, S. 187-210, hier S. 204.

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Abb. 7: Halde Rheinelbe mit Skulptur Himmelstreppe von Herman Prigann

wie Zechenanlagen, Gasometer, Halden und Gleise wurden erhalten und u ­nter dem Stichwort »Industriekultur« durch Umnutzung mit neuen Bedeutungen aufgeladen. Dabei wurden der Erhalt und die Ent­ faltung der »Industrie-Natur« unterstützt. Damit gemeint sind spezifische, montan­industriell geprägte Strukturen von Flora und Fauna wie etwa ­besondere, teils seltene Pflanzen, die auf den trockenen, nährstoffarmen, von Abraum, Asche, Kalk, Erz oder Kohle veränderten Böden gedeihen können und in dieser Artenzusammensetzung nirgendwo anders zu finden sind. Oder Bergsenkungsseen, entstanden durch den Einsturz ausge­ räumter Kohleflöze, die sich für viele Tier- und Pflanzenarten zu »Bio­ topen aus zweiter Hand« entwickeln (wie z. B. die Hallerey in Dortmund). Natürliche ­Sukzession hat auf Brachen Wildnisräume »zwischen Rost und Schlacke«37 sowie mittlerweile der Landesforstverwaltung unterstellte so­ genannte Industriewälder hervorgebracht. Parkanlagen neuen Typs entstanden an stillgelegten Industriestätten (z. B. Landschaftspark Duisburg Nord, Gleispark Frintrop). Die besondere Faszination entspringt hier der Gleich­zeitigkeit von Verfall, verkörpert durch die Relikte der 37 Jürgen Heuser: Industrienatur als Wildnis für Kinder, in: Kinder und Natur in der Stadt. Spielraum Natur: Ein Handbuch für Kommunalpolitik und Planung sowie Eltern und Agenda-21-Initiativen, hg. von Hans-Joachim Schemel / Torsten Wilke, Berlin 2008, S. 247-255.

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I­ ndustriearchitektur, und augenscheinlich unbändiger Naturkraft, geprägt durch wild sprießende Birken, Goldrute, Königskerzen und Sommer­ flieder.38 Die von der IBA initiierten zahlreichen Kunstwerke, die als Land­ marken auf zahlreichen Halden, also den künstlichen Bergen aus Abraum und Müll, weit sichtbare Zeichen setzen, sollen ebenfalls dazu beitragen, ein neues, wiedererkennbares, emotional positiv besetztes Bild einer einzigartigen postindustriellen Landschaft hervorzubringen. Die »Relikte der industriegeschichtlichen Vergangenheit« werden heute somit »nicht mehr als imageschädlich (begriffen), sondern als touristisch vermarktbare Allein­ stellungsmerkmale«.39 Diese Umdeutung ist offenkundig von Erfolg gekrönt: Die Stationen der vom Regionalverband Ruhr betreuten Touristikrouten »Industrienatur« und »Industriekultur« werden von Einheimischen wie Auswärtigen stark frequentiert. 6. Dortmunds Aufbruch zu »neuen Ufern« 6.1 Der Phoenix-See und »das neue Dortmund«

Die IBA-Strategie für das nördliche Ruhrgebiet sieht also vor, an die industrielle Vergangenheit anzuknüpfen, um die Zukunft zu gestalten. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, wählt die an der IBA beteiligte Stadt Dortmund für sich selber an entscheidender Stelle aber gezielt den ent­ gegengesetzten Weg, nämlich den radikalen Bruch mit der industriellen Prägung der Stadtlandschaft. Gemeint ist hier das Projekt »Phoenix-See« und damit das stadtentwicklungspolitische Aushängeschild des Dortmunder Strukturwandels. Auf insgesamt über 200 Hektar Entwicklungsfläche ist in Dortmund auf den Flächen des ehemaligen Hochofen- und Stahlwerkgeländes »Phoenix« (von Hoesch bzw. später Thyssen-Krupp) ein ganz neues Stadtgebiet entstanden: Auf der einen Seite das Technologie- und Dienstleistungszentrum Phoenix West, entwickelt als Standort für Unternehmen aus »Zukunftsbranchen« wie Mikro-, Nano- und Produktionstechno­ logien. Auf der anderen Seite Phoenix Ost als Quartier für hochwertiges bis luxuriöses Wohnen und Arbeiten rund um den künstlich angelegten Phoenix-See, umgeben von attraktiven, öffentlich zugänglichen Grün38 Susanne Frank: Rückkehr der Natur. Die Neuerfindung von Natur und Landschaft in der Emscherzone, 2010; http://www.emscherplayer.de/main.yum?mainAction= magazin&id=49786 (letzter Zugriff 15. 8. 2022). 39 Heuser (Anm. 37), S. 247.

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Abb. 8: Blick vom Nordufer des Phoenix-Sees nach Süden / Imagebroschüre; Visualisierung: 3dpixel company Berlin / PHOENIX See Entwicklungsgesellschaft

und Freiflächen. Namentlich am See sollten Stadtgrün und Stadtblau den »Auf bruch« Dortmunds »zu neuen Ufern« im wörtlichen wie im über­ tragenen Sinne sinnfällig und erlebbar machen. Nicht zufällig heißt das Leitbild der Stadtentwicklung, als dessen »Krönung« der Phoenix-See gilt, »Das neue Dortmund«.40 Um die materiell und symbolisch herausragende Bedeutung des Phoenix-Projekts für die Dortmunder Stadtentwicklung zu erfassen,41 ist es wichtig zu wissen, dass der Stadtteil Hörde sowohl Wiege als auch Sterbebett der Dortmunder Schwerindustrie war. Hier wurde 1841 das erste Stahlwerk errichtet und 2001 das letzte stillgelegt. In der Folge ist der ­Arbeiterstadtteil, der lange zu den ökologisch am stärksten devastierten Orten in Deutschland zählte, bis heute in besonderem Maße von Arbeitslosigkeit und Armut gekennzeichnet. Das Phoenix-Projekt sollte deshalb auch dazu beitragen, den Niedergang des Stadtteils aufzuhalten. Vor allem aber sollte das spektakuläre Konversionsprojekt die Transformation Dortmunds in eine innovative Hightech- und Dienstleistungsstadt mit Lebensund Umweltqualität weithin sichtbar machen und so maßgeblich zum 40 Pascal Ledune: PHOENIX Dortmund. Einmal »Seekante« und zurück. Eine Vision wird Wirklichkeit, Pressemitteilung der Wirtschaftsförderung Dortmund vom 30. 8. 2011, Dortmund 2011; www.wirtschaftsfoerderung-dortmund.de/de/services/ news/news_detail.jsp?cid=1010340119179 (letzter Zugriff im Jahr 2012). 41 Susanne Frank / Ulla Greiwe: Phoenix aus der Asche. Das »neue Dortmund« baut sich seine »erste Adresse«, in: Informationen zur Raumentwicklung 11 /12, 2012, S. 575-578.

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ersehnten Imagewandel beitragen. Der Oberbürgermeister hat diese Bedeutung pointiert auf den Punkt gebracht. »Wir standen vor der strategischen Frage: Wie geben wir Dortmund eine neue Story?«42 Phoenix, das »Musterprojekt des Strukturwandels«, war die Antwort.43 Und diese »neue Story« sollte nach dem erklärten Willen der Stadtspitze unbedingt ohne Bezug auf die montanindustrielle Prägung, also ohne ­Industriekultur und Industrienatur, erzählt werden. Mit dem Phoenix-See sollte ein Ort entstehen, der frei von den in Stadt und Region ansonsten so allgegenwärtigen Zeichen des industriellen Erbes ist. Zwei Gründe wurden hierfür angeführt: Zum einen sind Erhalt und Unterhaltung von Industrienatur und Industriekultur kostspielig. Das ist in den hoch verschuldeten Ruhrgebietskommunen ein gewichtiges Argument.44 Zum anderen wurde befürchtet, dass deren Hervorhebung das Klischee einer industriell geprägten, strukturschwachen, problembehafteten Arbeiterstadt nicht verändern, sondern nur weiter verfestigen werde.45 Dortmunds »neue Story« sollte also nicht schon wieder die Besonderheit der ehemaligen Hauptstadt von Kohle, Stahl und Bier hervorheben, sondern von der erfolgreichen Transformation zu einem ganz normalen konkurrenz­ fähigen Wissens- und Technologiestandort auf der Höhe der Zeit kün­ den,46 der auch in den Bereichen Wohnen bzw. Grün- und Freiräume den gehobenen Ansprüchen der umworbenen oberen Mittelschichten genügt.47 6.2 »Urbanes Naturidyll« als Bruch mit der industriellen Vergangenheit

Welche Natur wird nun also als passend erachtet, um diese radikale Neuausrichtung der Stadtentwicklung zu stützen? Gewählt wird ein »natürlich« anmutendes Landschaftsbild, das sowohl die Geschichte des Ortes als auch den zu seiner Schaffung erforderlichen ingenieurstechnischen Aufwand verbirgt.48 Die künstliche Anlage des Sees 42 Zitiert nach Dieter Nellen / Franziska Zibell: Stadtentwicklung und politische Führung. Interview mit Oberbürgermeister Ullrich Sierau und Vorgänger Gerhard Lange­meyer, in: Phoenix – eine neue Stadtlandschaft in Dortmund, hg. von Dieter Nellen u. a., Berlin 2016, S. 56-61, hier S. 56. 43 Vgl. auch Angelo: How Green Became Good (Anm. 5), S. 180. 44 Deshalb wurden für die auf Phoenix West sehr wohl erhaltenen Relikte des Hochofenwerks auch private Investoren bzw. Träger gesucht. 45 Angelo: How Green Became Good (Anm. 5), S. 180. 46 Angelo: How Green Became Good (Anm. 5), S. 180 ff. 47 Dortmund-Project: Das neue Dortmund, Broschüre, Dortmund 2004; Cornelia Irle / Stefan Röllinghoff: Dortmund – eine Stadt im Aufbruch, in: Informationen zur Raumentwicklung 9 /10, 2008, S. 639-650. 48 Angelo: How Green Became Good (Anm. 5), S. 182.

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Abb. 9: »Renaturierte« Emscheraue und Phoenix-See

wird durch weiche Kanten, kurvige Formen und handelsübliche Ufer­ vegetation kaschiert. Die aus ihrer unterirdischen Verrohrung befreite Emscher wird in ein malerisch mäandrierendes Bett oberhalb des Sees gelegt. Was hier gerne als »Renaturierung« vermarktet wird, hat mit den Strukturen der ursprünglichen Flusslandschaft aber rein gar nichts zu tun. Durch Bergsenkungen sind große Teile des Reviers, auch Dortmund, zu Poldergebieten geworden, die Tag und Nacht durch Pumpwerke ent­ wässert werden müssen, um überhaupt bewohnbar zu sein. Die Regelung des Wasserabflusses, Hochwasserschutz und die Abwasserableitung sind deshalb zentrale Aufgaben der Wasserwirtschaft.49 Auch der Phoenix-See fungiert als Hochwasserrückhaltebecken für die Emscher und hat einen Stöpsel, über den Wasser im Bedarfsfall abgelassen werden kann. Dies sind nur einige Hinweise darauf, in welchem Maße das Neue Emschertal (wie die meisten Bergbaufolgelandschaften) als ein wissenschaftlich-technisch konstruierter und regulierter »Naturraum« entsteht. Anders als andernorts entlang der Emscher soll von alldem am PhoenixSee aber möglichst wenig, am besten nichts zu sehen sein. Seine Gestaltung knüpft an ein tradiertes, idealisiertes Natur- und Landschaftsbild an, das Angelo als »Simulacrum erster Natur« bezeichnet: »[I]nstead of promoting 49 EGLV (= Emschergenossenschaft und Lippeverband): Pumpwerke. Schrittmacher der Wasserwirtschaft, Essen 2017; https://www.eglv.de/app/uploads/2019 /02/BS_ Pumpwerke_230517-mail.pdf (Zugriff am 7. 4. 2022).

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Abb. 10: Blick auf die Südseite des Sees mit Großsiedlung Clarenberg, 2013

the industrial and ecological history of the site, city officials deliberately designed the lake to look natural and dehistoricized«.50 Zuziehende oder Gäste sollen am See leben oder um den See laufen können, ohne ständig mit der industriellen Vergangenheit des Ortes konfrontiert zu werden.51 Deshalb werden auch deren bauliche Zeichen rigoros entfernt, teilweise gegen den Widerstand der Bevölkerung. Nach jahrelangen Kämpfen mit der Stadt hat der lokale Geschichtsverein die Aufstellung einer »ThomasBirne« am Seeufer erwirken können, um wenigstens ein sicht- und greifbares Geschichts- und Identitätszeichen zu erhalten. Bezeichnend: Die Stadt hatte vorgeschlagen, die Birne als Symbol der untergegangenen ­Industrie im See zu versenken.52 Die Vorstellung eines Lebens im urbanen Naturidyll soll auch nicht durch unpassende Bewohner*innen gestört werden: In den Vermarktungs­ unterlagen gibt es eine Serie großformatiger Hochglanzbilder, in denen vom Balkon einer noblen Stadtvilla über viel Grün und Blau nach Süden geblickt wird (s. Abbildung 8). Was hier allerdings fehlt, sind die Umrisse der unweit des Südufers liegenden siebzehn Hochhäuser der Großwohnsiedlung Clarenberg, die aus der gewählten Perspektive klar und deutlich 50 Angelo: How Green Became Good (Anm. 5), S. 182. 51 Angelo: How Green Became Good (Anm. 5), S. 183. 52 Ulrike Franke / Michael Loeken: Göttliche Lage. Eine Stadt erfindet sich neu, Witten 2014.

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zu sehen sein müssten. Diese absichtsvolle Auslassung legt nahe: Die Verlierer*innen des Strukturwandels haben buchstäblich keinen Platz in den Visionen vom »neuen Dortmund«.53 Stadtgrün und Stadtblau werden hier also gezielt als Marker einer neuen Lebens- und Umweltqualität eingesetzt, die vor allem die oberen Mittelschichten adressiert. Zugleich aber werden die grundpositiven Konnota­ tionen von Natur auch gezielt in Anschlag gebracht, um die Alteingesessenen und die Stadtöffentlichkeit für das gewagte Projekt der Errichtung einer Insel des Wohlstands mitten im verarmten Arbeiterstadtteil zu gewinnen. Argumentiert wird, dass Dortmund eine neue, schicke, vorzeigbare erste Adresse für seine internationale Neupositionierung dringend benötige. Die Exklusivität des Wohnens und Arbeitens am See sei die Voraussetzung, um die Seegrundstücke teuer vermarkten zu können – was wiederum erforderlich sei, um mit den so erzielten Mitteln die dringend benötigten öffentlich zugänglichen Grünräume zu schaffen. Damit diene die Exklusivität also letztlich dem Allgemeinwohl. Und der Kniff »Grün für alle« zeigt tatsächlich die gewünschte Wirkung, obwohl die öffentlich zugänglichen Flächen im Vergleich recht klein ausfallen und auch nur eingeschränkt nutzbar sind – so sind Ballspielen, Grillen, Shisha rauchen, Baden u. a.m. verboten. Wie Angelo zeigt, drehen sich auch die kritischen Auseinandersetzungen irgendwann nur noch darum, ob auch tatsächlich alle Alt-Hörder*innen Zugang zum See mit seinen Angeboten und Annehmlichkeiten finden, und nicht um die ökonomische und soziale Dimension des Phoenix-Projekts. »Greening«, re­ sümiert Angelo deshalb, »becomes a very powerful way of organizing social life because nature’s normative associations make projects that involve it appear to stand outside the terrain of civic negotiation.«54 Auch unsere Langzeitbeobachtung der Entwicklungen im Stadtteil55 bestätigt: Viele Alteingesessene hegen sehr ambivalente Gefühle in Bezug auf das PhoenixProjekt – aber die Grün- und Freiflächen werden durchweg von der Kritik ausgenommen und als gelungene Aufwertung des Stadtteils begrüßt.

53 Frank / Greiwe (Anm.  41), S.  582. 54 Angelo: How Green Became Good (Anm. 5), S. 200. 55 Frank, Susanne et al.: Mixed-Methods Monitoring of Large-Scale Urban Development Projects. The Case of Lake Phoenix in Dortmund-Hörde, in: Metro­politan Research. Methods and Approaches, hg. von Jens Gurr / Dennis Hardt / Rolf Parr, Bielefeld 2022, S. 367-382.

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7. Fazit

Wie ich hoffe, mit meinen Beispielen gezeigt zu haben, wird »Stadtnatur« in der modernen Stadtentwicklung als bedeutendes Mittel eingesetzt, um ganze Regionen, Städte oder Stadtteile von Grund auf neu zu gestalten und so an die wahrgenommenen Anforderungen einer neuen Zeit anzupassen. Hausmanns Transformation von Paris, aber auch der Umbau der Emscher­ zone und das Dortmunder Leuchtturmprojekt Phoenix sind eindrückliche Beispiele dafür, dass und wie »urbane Natur« mit technologischen und ­gestalterischen Mitteln materiell und symbolisch jeweils neu definiert, produziert und inszeniert wird. Dabei steht Natur gerade nicht für sich, sondern wird, meist binär codiert, als zentraler Bedeutungsträger eingebunden in Visionen einer besseren Zukunft, in die die angestrebte Transformation führen soll. (Stadt-)Natur wird damit zum Medium des Sozialen. Politik und Planung machen sich dabei die im kollektiven Imaginären tief verankerte Vorstellung zunutze, dass Natur immer »gut« und mehr ­Natur immer auch »besser« ist. So werden die vermeintlich unpolitischen Vehikel Stadtgrün und Stadtblau eingesetzt, um den gewünschten Wandel voranzutreiben und seine Akzeptanz zu sichern. Damit wird es leichter, auch schmerzhafte Einschnitte in das bestehende sozialräumliche Gefüge als im öffentlichen Interesse stehend bzw. dem Allgemeinwohl zuträglich zu legitimieren. Dahinter verschwinden oftmals die mit diesen Interventionen verbundenen Steuerungs- und Machtinteressen. Wie eingangs gezeigt, wird »urbane Natur« in der aktuellen Stadt­ entwicklung gerade wieder zu einem Fluchtpunkt, in dem ganz unterschiedliche Diskussionslinien zu gesellschaftlichem Erneuerungs- oder Veränderungsbedarf zusammenlaufen. Wenn »urbane Natur« heute beinahe einhellig als »Allzweckwaffe« zur Lösung der tiefen sozialen und öko­logischen Krisen unserer Zeit propagiert wird, dann sollten wir also genauer hinschauen und fragen, welche Vorstellungen von »guter« und »schlechter« Natur uns in diesen Diskursen präsentiert werden, welche Gesellschaftsbilder sie transportieren, mit welchen sozioökonomischen Norm- und Ordnungsvorstellungen sie verknüpft, mit welchen Ein- und Ausschlüssen sie verbunden werden, von welchen gesellschaftlichen ­Dominanzverhältnissen sie künden und wessen Machtinteressen sie be­ dienen. Denn Stadtpolitik und -planung schreiben ihre Vorstellungen darüber, wie gesellschaftliches Zusammenleben geordnet sein soll, nachhaltig und wirkmächtig in den Raum ein. Indem Gebäude, Straßen, Schienen, Wasser- und Grünflächen u. v.a.m. gebaut oder angelegt werden, werden diese Vorstellungen quasi materialisiert. Sie werden mit Steinen gebaut, in

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Beton gegossen, in die Erde gepflanzt oder in das Erdreich vergraben. Raumordnung und Stadtplanung sind damit, ähnlich wie das Recht, »Formen angewandter Gesellschaftsgestaltung«.56 Als deren zentrale Bestandteile sind Freiraum- und Grünplanung in diesem Sinne immer auch Politik: Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Verkehrspolitik, Umweltpolitik usw., in einem Wort: Gesellschaftspolitik. Sie sind »Politik mit Stein und Mörtel«,57 aber eben maßgeblich auch mit Wasser, Pflanzen, Tieren etc. Und das gilt auch dann, wenn den Planenden vorgeblich nur ästhetische, ökologische oder soziale Ziele vor Augen stehen.58 Wie zu zeigen war, sind raumplanerische Maßnahmen also niemals »nur räumlich«. Ein Abwasserkanal ist niemals nur ein Abwasserkanal, eine Straße niemals nur eine Straße, eine Gebäudefassade niemals nur eine Gebäudefassade, eine Grünanlage niemals nur eine Grünanlage, ein Baum niemals nur ein Baum, ein See niemals nur ein See. Literatur Angelo, Hillary: How Green Became Good. Urbanized Nature and the Making of Cities and Citizens, Chicago 2020. Beck, Ulrich: Die offene Stadt, in: ders.: Die feindlose Demokratie. Ausgewählte Aufsätze, Stuttgart 1995, S. 121-130. Benjamin, Walter: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt a. M. 1977. BfN (= Bundesamt für Naturschutz): Natur in der Stadt, 2021; https://natgesis.bfn. de/gesund-mit-der-natur/erholungsort-natur/natur-in-der-stadt.html. BGL (= Bundesverband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau e. V.): Urbanes Grün ist »Sehnsuchtsort« für Bürger und Chance für »sterbende« Innenstädte, 2020; https://www.gruen-in-die-stadt.de/informieren/vorteile-von-stadtgruen/ur banes-gruen-ist-sehnsuchtsort-fuer-buerger-und-chance-fuer-sterbende-innen ­staedte. BMU (= Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit): Grün in der Stadt – Für eine lebenswerte Zukunft, Grünbuch Stadtgrün, Berlin 2015. – Was Stadtgrün für Mensch und Umwelt leistet, in: Umwelt im Unterricht. Aktuelle Bildungsmaterialien, 2017; https://www.umwelt-im-unterricht.de/hinter grund/was-stadtgruen-fuer-mensch-und-umwelt-leistet/. – Weißbuch Stadtgrün. Grün in der Stadt – Für eine lebenswerte Zukunft, Berlin 2018.

56 Ulrich Beck: Die offene Stadt, in: ders.: Die feindlose Demokratie. Ausgewählte Aufsätze, Stuttgart 1995, S. 121-130, hier S. 121. 57 Beck (Anm. 56). 58 Beck (Anm. 56).

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– Masterplan Stadtnatur, Berlin 2019. Brand, Karl Werner: Soziologie und Natur – eine schwierige Beziehung. Zur Einführung, in: ders.: Soziologie und Natur, Reihe »Soziologie und Ökologie«, Bd. 2, Wiesbaden 1998, S. 9-29. Dortmund-Project: Das neue Dortmund, Broschüre, Dortmund 2004. EGLV (= Emschergenossenschaft und Lippeverband): Pumpwerke. Schrittmacher der Wasserwirtschaft, Essen 2017; https://www.eglv.de/app/uploads/2019/02/ BS_Pumpwerke_230517-mail.pdf. Frank, Susanne: Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen 2003. – Rückkehr der Natur. Die Neuerfindung von Natur und Landschaft in der ­Emscherzone, 2010; http://www.emscherplayer.de/magazin/ID_49786_rueckkehr­_ der_natur_emscherplayer.pdf. Frank, Susanne / Ulla Greiwe: Phoenix aus der Asche. Das »neue Dortmund« baut sich seine »erste Adresse«, in: Informationen zur Raumentwicklung 11 /12, 2012, S. 575-578. Frank, Susanne et al.: Mixed-Methods Monitoring of Large-Scale Urban Development Projects. The Case of Lake Phoenix in Dortmund-Hörde, in: Metropolitan Research. Methods and Approaches, hg. von Jens Gurr / Dennis Hardt / Rolf Parr, Bielefeld 2022, S. 367-382. Franke, Ulrike / Michael Loeken: Göttliche Lage. Eine Stadt erfindet sich neu, Witten 2014. Gerken, Rosemarie: »Transformation« und »Embellissement« von Paris in der Karikatur. Zur Umwandlung der französischen Hauptstadt im Zweiten Kaiserreich durch den Baron Haussmann, Hildesheim / Zürich / New York 1997. Gill, Bernhard: Paradoxe Natur. Zur Vieldeutigkeit der Unterscheidung von Natur und Gesellschaft, in: Soziologie und Natur. Theoretische Perspektiven, Reihe »Soziologie und Ökologie«, Bd. 2., hg. von Karl-Werner Brand, Opladen 1998, S. 223-248. Hall, Peter: Cities of Tomorrow. An Intellectual History of Urban Planning and Design in the Twentieth Century, Oxford 1993. Heuser, Jürgen: Industrienatur als Wildnis für Kinder, in: Kinder und Natur in der Stadt. Spielraum Natur: Ein Handbuch für Kommunalpolitik und Planung sowie Eltern und Agenda-21-Initiativen, hg. von Hans-Joachim Schemel / Torsten Wilke, Berlin 2008, S. 247-255. Hugo, Victor: Die Elenden. Roman in fünf Teilen und drei Bänden, Aus dem Französischen von Paul Wiegier / Wolfgang Günther, Berlin 1983 [Paris 1862]. Irle, Cornelia / Stefan Röllinghoff: Dortmund – eine Stadt im Aufbruch, in: Informationen zur Raumentwicklung 9 /10, 2008, S. 639-650. Jallon, Benoît et al. (Hg.): Paris Haussmann. Modèle de ville, Paris 2017. Jordan, David: Die Neuerschaffung von Paris. Baron Haussmann und seine Stadt, Frankfurt a. M. 1996. Karuss, Lena: Die Innenstädte müssen grüner werden !, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 29. 6. 2021.

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Kasinitz, Philip: Introduction, in: ders.: Metropolis. Center and Symbol of Our Times, Houndmills et al. 1995, S. 85-97. Ledune, Pascal: PHOENIX Dortmund. Einmal »Seekante« und zurück. Eine Vision wird Wirklichkeit. Pressemitteilung der Wirtschaftsförderung Dortmund vom 30. 8. 2011, Dortmund 2011; www.wirtschaftsfoerderung-dortmund.de/de/services/­ news/news_detail.jsp?cid=1010340119179. Loyer, François: Paris. Nineteenth Century. Architecture and Urbanism, New York 1988. Nellen, Dieter / Franziska Zibell: Stadtentwicklung und politische Führung. Interview mit Oberbürgermeister Ullrich Sierau und Vorgänger Gerhard Langemeyer, in: Phoenix – eine neue Stadtlandschaft in Dortmund, hg. von Dieter Nellen u. a., Berlin 2016, S. 56-61. Reulecke, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a. M. 1985. Schultze-Naumburg, Paul: Kulturarbeiten. Band IV: Städtebau. 2. verm. Aufl., München 1909. Schwarze-Rodrian, Michael: Ruhr Region Case Study, in: Remaking Post-Industrial Cities. Lessons from North America and Europe, hg. von Donald K. Carter. London 2016, S. 187-210. Weigel, Sigrid: Zur Weiblichkeit imaginärer Städte, in: Mythos Metropole, hg. von Gotthard Fuchs u. a., Frankfurt a. M. 1995, S. 35-45. Willms, Johannes: Paris. Hauptstadt Europas 1789-1914, München 1988.

Abbildungen Abb. 1: Gerken, Rosemarie: »Transformation« und »Embellissement« von Paris in der Karikatur. Zur Umwandlung der französischen Hauptstadt im Zweiten Kaiserreich durch den Baron Haussmann, Hildesheim / Zürich / New York 1997, S. 36. Abb. 2: Des Cars, Jean / Pierre Pinon (Hg.): Paris – Haussmann. Le Pari d’Haussmann, Paris 1993, S. 125. Abb. 3: Moncan, Patrice de / Christian Mahout: Le Paris du Baron Haussmann. Paris sous le Second Empire, Centenaire du Baron Haussmann 1891-1991. Les Memoires, Paris 1991, S. 71. Abb. 4: Foto: Can Stock Photo / jovannig. Abb. 5: Charles Marville, Musée Carnavalet, Paris. Abb. 6: Foto: DerHexer – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikime dia.org/w/index.php?curid=11333617 (Zugriff am 18. 8. 2022). Abb. 7: Foto: Uwe Grützner, Fakultät Raumplanung, TU Dortmund, 2008. Abb. 8: o. V.: THIS-Magazin, 6. 7. 2009; www.this-magazin.de (Zugriff am 16. 5. 2022). Abb. 9: Foto: Uwe Grützner, Fakultät Raumplanung, TU Dortmund. Abb. 10: Foto: Christian Lamker, 2013.

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Der Einfluss menschlicher Lebensstile auf die Pflanzenvielfalt in Gärten und auf Freiflächen Stefan Brunzel / Jens Jetzkowitz

Einführung

Die wachsende Bevölkerung und der ständig steigende Bedarf an Wohnraum, Transportmitteln und der dazugehörigen Infrastruktur haben zu einer dramatischen Veränderung der Landschaften geführt.1 Durch mensch­ liche Nutzungen gehen natürliche und naturnahe Landschaften zwar immer weiter zurück, gleichzeitig werden dadurch aber auch neue Lebensräume wie zum Beispiel Gärten geschaffen, die in Siedlungen von der Größe kleiner Dörfer bis hin zu der von Megastädten vorhanden sind.2 Aufgrund der wachsenden Siedlungsfläche und den damit verbundenen Veränderungen in der Landschaft gewinnen Lebensräume innerhalb von Siedlungen für die Biodiversität immer größere Bedeutung. Obwohl diese z. T. neu entstandenen Lebensräume (z. B. »novel ecosystems«)3 vollständig von menschlichen Aktivitäten dominiert werden,4 bieten sie neue Aus­ 1 Peter M. Vitousek et al.: Human Domination of Earth’s Ecosystems, in: Science 277 (5325), 1997, S. 494-499; D. B. Roy et al.: Effects of urban land cover on the local species pool in Britain, in: Ecography 22(5), 1999, S. 507-515; M. O. Hill et al.: ­Hemeroby, urbanity and ruderality. Bioindicators of disturbance and human impact, in: Journal of Applied Ecology 39(5), 2002, doi: 10.1046/j.1365-2664.2002.00746.x, S. 708-720; Jianguo Liu et al.: Effects of household dynamics on resource consumption and biodiversity, in: Nature 421, 2003, S. 530-533; Jane A. Catford et al.: Predicting Novel Riparian Ecosystems in a Changing Climate, in: Ecosystems 16, 2013, doi: 10.1007/s10021-012-9566-7, S. 382-400; Stefan Brunzel et al.: Energy crop production in an urban area. A comparison of habitat types and land use forms targeting economic benefits and impact on species diversity, in: Urban Ecosystems 21, 2018, doi: 10.1007/ s11252-018-0754, S. 615-623. 2 United States Census Bureau: Statistical Abstract of the United States, Washington DC 2001; Marina Alberti: The Effects of Urban Patterns on Ecosystem Function, in: International Regional Science Review 28(2), 2005, doi: 10.1177 /0160017605275160, S. 168-192. 3 Unter »novel ecosystems« versteht man Lebensräume, die in ihren Charakteristiken, z. B. ihrer Artenzusammensetzung, nur durch menschlichen Einfluss entstehen konnten. So prägen z. B. auf ehemaligen Industriestandorten in urbanen Räumen Gehölze die Vegetation, in denen Arten aus unterschiedlichen Erdteilen zusammenwachsen oder neue Arten durch Hybridisierung entstanden sind, wie dies ohne den Einfluss des Menschen nicht möglich gewesen wäre. 4 Larry Stuart Bourne / J. W. Simmons: Defining the area of interest. Definition of the city, metropolitan areas and extended urban regions, in: Internal structure of the city.

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breitungsmöglichkeiten für zahlreiche Pflanzen- und Tierarten, deren ­Populationen in Städten im Vergleich zu anderen Lebensräumen wie der intensiv genutzten Agrarlandschaft häufig sogar zunehmen.5 Es ist daher notwendig, die zentralen Variablen zu identifizieren, die die Artenzahl und die Zu­sammensetzung von Pflanzen- und Tiergemeinschaften in menschlichen Siedlungen beeinflussen. Mehrere Studien haben gezeigt, dass städtische Räume mehr Arten beherbergen als ländliche Gebiete ähnlicher Größe.6 Die überraschende Pflanzenvielfalt in urbanisierten Räumen wird oft auf die Zunahme von Neophyten (Arten, die nach 1492 eingewandert sind) z­ urückgeführt, die die Zahl der einheimischen Arten und Archäophyten (Arten, die vor 1492 eingewandert sind), die aufgrund mensch­ licher Aktivitäten zurückgehen, übersteigen kann.7 Es wird angenommen, dass die Häufigkeit von Neophyten in urbanisierten Räumen mit der Rolle Readings on urban form, growth, and policy, hg. von Larry Stuart Bourne, New York 1982, S. 57-72; Hans Gebhardt et al.: Geographie. Physische Geographie und Humangeographie, Heidelberg 2006; Catford et al.: Predicting Novel Riparian Ecosystems (Anm. 1). 5 Roger L. H. Dennis / Peter B. Hardy: Loss rates of butterfly species with urban development. A test of atlas data and sampling artefacts at a fine scale, in: Biodiversity & Conservation 10, 2001, S. 1831-1837; John M. Marzluff: Worldwide urbanization and its effects on birds, in: Avian Ecology and Conservation in an Urbanizing World, hg. von ders. u. a., Norwell (MA) 2001, S. 19-47; Michael L. McKinney: Urbanization, Biodiversity and Conservation, in: BioScience 52(10), 2002, S. 883-890; Ingolf Kühn et al.: The flora of German cities is naturally species rich, in: Evolutionary Ecology Research 6, 2004, S. 749-764; Penny G. Angold et al.: Biodiversity in urban habitat patches, in: Science of the Total Environment 360, 2005, S. 196-204; Laura CelestiGrapow et al.: Determinants of native and alien species richness in the urban flora of Rome, in: Diversity and Distributions 12, 2006, doi: 10.1111/j.1366-9516.2006.00282.x, S. 490-501; Brunzel et al.: Energy crop production (Anm. 1). 6 Petr Pyšek: Factors Affecting the Diversity of Flora and Vegetation in Central European Settlements, in: Vegetatio 106(1), 1993, S. 89-100; Marzluff (Anm. 5); Diane Hope et al.: Socioeconomics drive urban plant diversity, in: Proceedings of the ­National Academy of Science 100(15), 2003, doi: 10.1073/pnas.1537557100, S. 87888792; Kühn et al.: The flora of German cities (Anm. 5); siehe aber auch Ingo Kowarik: On the role of alien species in urban flora and vegetation, in: Plant Invasions. General Aspects and Special Problems, hg. von Petr Pyšek u. a., Den Haag 1995, S. 85-103; McKinney: Urbanization, Biodiversity and Conservation (Anm. 5); Kirstin Deuschewitz et al.: Native and alien plant species richness in relation to spatial heterogeneity on a regional scale in Germany, in: Global Ecology and Biogeography 12, 2003, doi: 10.1046/j.1466-822X.2003.00025.x, S. 299-311. 7 Roy et al.: Effects of urban land cover (Anm. 1); Hill et al.: Hemeroby, urbanity and ruderality (Anm. 1); Zdena Chocholoušková / Petr Pyšek: Changes in composition and structure of urban flora over 120 years. A case study of the city of Plzeň, in: Flora 198, 2003, S. 366-376; Ken Thompson et al.: Urban domestic gardens (I). Putting smallscale plant diversity in context, in: Journal of Vegetation Science 14, 2003, S. 71-78.

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der Städte als Hotspots für die Ankunft und Etablierung dieser Arten zu­ sammenhängt.8 Andere Autoren und Autorinnen betonen die Rolle des besonderen Klimas von Städten9 oder die Existenz charakteristischer »Stadt­ lebensräume«.10 Der Rückgang einheimischer Arten und Archäo­phyten in Stadtzentren ist normalerweise mit dem Verlust natürlicher und spezieller, an landwirtschaftliche Nutzungen gekoppelter Habitate (z. B. Mis­thaufen) verbunden. Dies wird möglicherweise durch einen »menschlichen Ordnungswahn« noch verstärkt.11

8 Ingo Kowarik: Some responses of flora and vegetation to urbanization in Central Europe, in: Urban Ecology. Plants and Plant Communities in Urban Environments, hg. von Herbert Sukopp / Slavomil Hejný, Den Haag 1990, S. 45-75; Petr Pyšek: Alien and Native Species in Central European Urban Floras. A Quantitative Comparison, in: Journal of Biogeography 25(1), 1998, S. 155-163; Petr Pyšek et al.: Czech Alien Flora and the Historical Pattern of Its Formation. What Came First to Central Europe?, in: Oecologia 135(1), 2003, S. 122-130; Indra Ottich: Der Australische Gänsefuß (Chenopodium pumilio) in Südhessen, in: Botanik und Naturschutz in Hessen 17, 2004, S. 7-22. 9 z. B. der »Heat-Island«-Effekt; McKinney: Urbanization, Biodiversity and Conservation (Anm. 5); Steward T. A. Pickett et al.: Urban Ecological Systems. Linking Terrestrial, Ecological, Physical and Socioeconomic Components of Metropolitan Areas, in: Annual Review of Ecology and Systematics 32, 2001, S. 127-157; Robert L. Wilby / George L. W. Perry: Climate change, biodiversity and the urban environment. A critical review based on London, UK , in: Progress in Physical Geography: Earth and Environment 30(1), 2006, doi: 10.1191 /0309133306pp470ra, S. 131-137. 10 Kowarik (Anm. 6); Mark J. McDonnel et al.: Ecosystems processes along an urbanto-rural gradient, in: Urban Ecosystems 1, 1997, S. 21-36; Pyšek: Factors Affecting the Diversity of Flora and Vegetation (Anm. 6). 11 Herbert Sukopp: Die Bedeutung der Freilichtmuseen für den Arten- und Biotopschutz, in: Aus Liebe zur Natur, Schriftenreihe Stiftung zum Schutze gefährdeter Pflanzen 3, 1983, S. 34-48; Wolfgang Ludwig: Über die »Dorfpflanze« Leonurus cardiaca L. s.lat. (Lamiaceae) und ihr Vorkommen in Hessen, in: Jahresberichte der Wetter­auischen Gesellschaft für die gesamte Naturkunde 138 /139, 1987, S. 17-29; Wolfgang Ludwig: Über den Krähenfuß Coronopus squamatus (Forssk.) Aschers. (Brassicaceae), besonders in Hessen, in: Jahresberichte der Wetterauischen Gesellschaft für die gesamte Naturkunde, 142 /143, 1991, S. 17-30; Hans-Jürgen Dechent: Wandel der Dorfflora. Gezeigt am Beispiel einiger Dörfer Rheinhessens, in: ­K TBL -Schrift 326, hg. von Kuratorium für Technik und Bauwesen in der Land­ wirtschaft e. V. (KTBL), Münster-Hiltrup 1988; Annette Otte: Möglichkeiten und Grenzen für die Erhaltung dörflicher Ruderalvegetation, in: Bayerisches Landwirtschaftliches Jahrbuch 65, 1988, S. 281-286; Dietmar Brandes / Detlef Griese (Hg.): Siedlungs- und Ruderalvegetation von Niedersachsen. Eine kritische Übersicht, Braunschweiger Geobotanische Arbeiten 1, Braunschweig 1991; Wiebke Züghart: Die Spontanflora nordwestdeutscher Dörfer. Eine floristisch-populationsökologische Untersuchung der dörflichen Spontanflora im Bremer Raum, in: Dissertationes ­Botanicae 362, Stuttgart / Berlin 2002.

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Abb. 1: Genutzter »Bauerngarten« mit typischer Einfassung der Gemüsebeete durch eine Buchsbaum­ hecke.

Abb. 2: Ehemaliger Garten, der vermutlich aus »ökologischen« Gründen (»Natur Natur sein lassen«) nicht mehr genutzt wird.

Sicherlich haben in den letzten drei Jahrzehnten steigende Einkommen und Freizeit den Menschen die Möglichkeit gegeben, mehr Zeit in Gartenund Grundstückspflege zu investieren.12 Daher spielen sozioökonomische Faktoren für die Zusammensetzung der Pflanzengemeinschaften in Siedlungen eine große Rolle.13 Im Zusammenspiel mit diesen sozioökonomi12 J. Morgan Grove et al.: Characterization of Households and its Implications for the Vegetation of Urban Ecosystems, in: Ecosystems 9(4), 2006, doi: 10.1007/s10021006-0116-z, S. 578-597; J. Morgan Grove et al.: Data and Methods Comparing Social Structure and Vegetation Structure of Urban Neighborhoods in Baltimore, Maryland, in: Society & Natural Resources 19, 2006, doi: 10.1080/08941920500394501, S. 117-136; Hope et al.: Socioeconomics drive urban plant diversity (Anm. 6). 13 Marina Alberti et al.: Integrating Humans into Ecology. Opportunities and Challenges for Studying Urban Ecosystems, in: BioScience 53(12), 2003, S. 1169-1179; Grove et al.: Characterization of Households (Anm. 12); Grove et al.: Data and Methods Comparing Social Structure and Vegetation Structure (Anm. 6); Pyšek et al.: Czech Alien Flora (Anm. 8); Frank A. La Sorte / Michael L. McKinney: Compositional similarity and the distribution of geographical range size for assemblages of

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schen Faktoren ermöglicht daher die Berücksichtigung von Lebensstrategien von Pflanzenarten die Vorhersage von »Gewinnern« und »Verlierern« in den Pflanzengemeinschaften von Siedlungen.14 Sozioökonomische Faktoren und unter diesen vor allem der Einfluss menschlicher Lebensstile und deren Veränderungen bewirkten augenscheinliche Unterschiede in Nutzungsmustern von Flächen und damit der Ausprägung der dort wachsenden Pflanzengemeinschaften (vgl. Abbildungen 1 und 2). Um die Ursachen hinter den Unterschieden der Pflanzen­ gemeinschaften auf den Abbildungen zu verstehen, müssen die Veränderungen der Pflanzengemeinschaften (z. B. die Rückgänge von einheimischen Arten, Zunahmen von Neophyten) analysiert werden und mithilfe der Ökologie der Arten erklärt werden. Deshalb analysieren wir in der vorliegenden Studie15 die unterschied­ liche Reaktion der Gruppen der einheimischen Arten ( Einheimische, z. B. Guter Heinrich), der Alt-Einwanderer ( Archäophyten, z. B. Sophien­ rauke) und der Neu-Einwanderer ( Neophyten, z. B. Herkules-Bärenklau) auf standortbezogene und sozioökonomische Faktoren in Siedlungen mit zunehmender Entfernung von Frankfurt am Main. Hierbei handelt es sich um einen Gradienten abnehmender Urbanisierung, verursacht durch den Fußabdruck des Ballungsraums.16 Wir gehen dabei auf folgende drei ­Fragen ein: ‒ Gibt es Unterschiede in der Verteilung von Einheimischen, Archäophyten und Neophyten entlang des Stadt-Land-Gefälles? ‒ Welche ökologischen und sozioökonomischen Variablen beeinflussen die Artenzahl von Einheimischen, Archäophyten und Neophyten innerhalb dieser Siedlungen? ‒ Welche ökologischen und sozioökonomischen Variablen beeinflussen die Zusammensetzung der Pflanzengesellschaften in den Siedlungen entlang des Stadt-Land-Gefälles?

native and non-native species in urban floras, in: Diversity and Distribuitions 12(6), 2006, doi: 10.1111/j.1472-4642.2006.00276.x, S. 679-686. 14 Chocholoušková  /  Pyšek: Changes in composition and structure of urban flora (Anm. 7). 15 Wir danken der VolkswagenStiftung für die Förderung dieser Studie im Rahmen des Programms »Nachwuchsförderung in der fächerübergreifenden Umweltforschung« und Herrn Dr. W. Ludwig für die Bereitstellung seiner wertvollen Daten aus den Jahren 1974 bis 1981. 16 Andres Duany et al.: Suburban Nation. The Rise of Sprawl and the Decline of the American Dream, New York 2000.

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Methoden und Untersuchungsregion

Die Untersuchungen wurden in der Region der Wetterau nördlich von Frankfurt a. M. in Hessen durchgeführt (vgl. Abbildung 3). Das Unter­ suchungsgebiet ist geprägt von Landwirtschaft auf Lössböden. Die Region ist durch ein dichtes Netz von Autobahnen und öffentlichen Verkehrs­ mitteln mit Frankfurt a. M. verbunden. Die meisten Menschen, die in den Siedlungen der Wetterau leben, pendeln zur Arbeit nach Frankfurt am Main. Erfassung der Pflanzenarten

Zwischen Ende Juli und September 2003 haben wir die Häufigkeit von Pflanzenarten entlang einer festgelegten Beobachtungsstrecke (Transekt) innerhalb jeder der ausgewählten Siedlungen erfasst. Die Transekte wurden von Dr. Wolfgang Ludwig (Philipps-Universität Marburg) zwischen 1974 und 1981 nach folgenden drei Kriterien (Ludwig; pers. Mitteilung) erstellt: Transekte sollten das Siedlungszentrum durchqueren; Transekte sollten wichtige Siedlungsstrukturen durchdringen, z. B. den Bahnhof oder Industriegebiete; Transekte sollten alle charakteristischen Wohn­gebiete der Siedlung durchqueren. Insgesamt stellten diese Kriterien eine repräsentative Stichprobe der wichtigsten innerhalb einer Siedlung vorkommenden Lebensräume sicher. Insbesondere die Erfassung der Artenzahl hängt von der Stichprobenintensität ab, in unserem Fall von der Transektlänge. Deshalb haben wir zehn Siedlungstransekte in Segmente von 200 m unterteilt und die kumulative Artenzahl gegen die kumulative Transektlänge auf­ getragen. Wir fanden heraus, dass 1500 m eine angemessene Transektlänge darstellt, um die meisten in einer Siedlung vorkommenden Arten zu erfassen.17 Entlang jedes Transekts schätzten wir die Artenhäufigkeit innerhalb eines 10-m-Korridors, indem wir die Anzahl der Bestände / Individuen ­jeder Art zählten, die mindestens 10 m voneinander entfernt ­waren. Ein großer Bestand einer einzelnen Pflanzenart wurde somit als ein Vorkommen gewertet. Alle Arten, die wir im Freiland nicht eindeutig identifi­ zieren konnten, z. B. einige Arten von Klette (Arctium), Weidenröschen (Epilobium) und Storchschnabel (Geranium), wurden von den nachfolgenden Analysen ausgeschlossen. Ebenso konnten einige frühblühende Arten wie z. B. Mastkraut (Sagina procumbens), Steinbrech (Saxifraga tridactylites) 17 Vgl. Stefan Brunzel et al.: Neo- and archaeophytes respond more strongly than natives to socio-economic mobility and disturbance patterns along an urban-rural gradient, in: Journal of Biogeography 36, 2009, S. 835-844.

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Abb. 3: Lage der 66 untersuchten ­Siedlungen im Untersuchungs­ gebiet Wetterau (A 5 und A 45 sind Autobahnen)

und Taubnessel-Arten (Lamium ssp.) aufgrund des späten Erfassungszeitraumes nicht berücksichtigt werden. Die nachgewiesenen Arten wurden gemäß der D ­ atenbank BiolFlor18 als Neophyten, Archäophyten oder als Einheimische19 klassifiziert. Siedlungscharakteristika

Um die Transekte zu charakterisieren, haben wir fünf Variablen erhoben, die die Größe und Struktur der Siedlung sowie ihre Verbindungen zu Frankfurt a. M. angeben. Diese Variablen waren:20 1) Einwohnendenzahl; 2) der oder die Einwohnende in den letzten 30 Jahren; 3) Anzahl von­ ­Freiland-Tierhaltungssystemen (Pferde, Rinder, Schafe / Ziegen, Geflügel); 4) Anbindung an Frankfurt a. M. (Fahrzeit gut: < 40 Minuten; mittel: 40-60 Min., schlecht: > 60 Min.) und 5) Entfernung zur Stadtgrenze Frank­ 18 Stefan Klotz et al.: BIOLFLOR – Eine Datenbank mit biologisch-ökologischen Merkmalen zur Flora von Deutschland, in: Schriftenreihe für Vegetationskunde 38, hg. von Bundesamt für Naturschutz, Bonn / Bad Godesberg 2002. 19 Siehe Pyšek: Alien and Native Species (Anm. 8); Pyšek et al.: Czech Alien Flora (Anm. 8) 20 Vgl. auch Brunzel et al.: Neo- and archaeophytes (Anm. 17).

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furt am Main (in Kilometern). Die Geologie des Untersuchungsgebietes haben wir in sechs Klassen eingeteilt: Kalkstein, Sandstein, Schiefer, Basalt, Löss und alluviale Sedimente (Ton, Sand, Kies etc.). Als Surrogat für die geologische Vielfalt wurde die Anzahl der Klassen innerhalb der je­ weiligen Siedlung verwendet, die anhand von geologischen Karten im Maßstab 1:25.000 geschätzt wurde. Außerdem haben wir die »Größe geeigneter Habitate (m²)« und die »Anzahl abgestorbener Pflanzenbestände durch Herbizid- oder Salzausbringung« gemessen. Geeignete Habitate wur­den anhand des Vorkommens von für Siedlungen charakteristischen Pflanzen definiert.21 Diese Variable quantifiziert also die Fläche, die nicht von Asphalt, Rasen oder Wald bedeckt ist. Bei der Variable »Ausbringung von Herbiziden« wurde nicht zwischen der Art der Substanz unterschieden (z. B. Herbizide wie Roundup® [Monsanto Company, St. Louis, MO, USA] oder eher traditionelle Methoden wie die Ausbringung von Salz [NaCl]). Einziges Kriterium war, dass die Bestände eindeutig als tot klassifiziert werden konnten (braunes oder gelbes Aussehen). Sozioökonomische Lebensstile

Wir haben Typen menschlicher Lebensstile, Gartenstile und Mobilitätsmuster der Bewohnerinnen und Bewohner innerhalb einer Siedlung klassifiziert und analysiert, um deren Einfluss auf die Artenzahl abzuschätzen. Diese sozioökonomischen Stile wurden aus 1359 standardisierten, frage­ bogengestützten Interviews von Haushalten erstellt, die an denselben Tran­ sektrouten zur Erfassung der Pflanzen in den jeweiligen Siedlungen lagen (vgl. Abbildung 4). Jeder Fragebogen bestand aus drei Komponenten: ein Teil enthielt Fragen zum allgemeinen Lebensstil des Haushalts, der zweite betraf Fragen zu Garten- und Grundstückspflegepraktiken und der letzte Teil stellte Fragen zu Mobilitätsmustern (vgl. Tabelle 1).22 Wir haben multi­ variate statistische Methoden verwendet, um aus den Rohdaten des ­Fragebogens eine Typologie von Lebensstilen, Gartenstilen und Mobi­ litätsmustern konsistent mit Anette Spellerberg und Anke Wahl zu kon­ 21 Nach Heinz Ellenberg: Vegetation Mitteleuropas mit den Alpen in ökologischer, dyna­mischer und historischer Sicht, 5. stark veränd. und verb. Aufl., Stuttgart 1996; Erich Oberdorfer: Süddeutsche Pflanzengesellschaften Teil III, 2. stark bearb. Aufl., Stuttgart 1983; siehe auch Pyšek et al.: Czech Alien Flora (Anm. 8) sowie Brunzel et al.: Neo- and archaeophytes (Anm. 17). 22 S. auch Jens Jetzkowitz et al.: Suburbanisation, Mobility and the »Good Life in the Country«. A Lifestyle Approach to the Sociology of Urban Sprawl in Germany, in: Sociologia Ruralis 47(2), doi: 10.1111/j.1467-9523.2007.00431.x, S. 148-171.

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Abb. 4: Die 1359 standardisierten, fragebogengestützten Interviews von Haushalten wurden an den gleichen Transektrouten durch Siedlungen ausgeführt, entlang derer auch die Pflanzen erfasst wurden. Hieraus wurden dann unterschiedliche sozio-ökonomische Stile (Lebens- Garten und Mobilitätsstile) der Haushalte (unterschiedliche Blautöne) statistisch klassifiziert.

struieren.23 Jeder Haushalt wurde jeweils einem der Lebensstile, Gartenstile oder Mobilitätsmuster zugeordnet. Schließlich haben wir die Anzahl der Lebensstile, Gartenstile und Mobilitätsmuster gezählt, die in jeder Siedlung vorkommen.24 Für die vorliegende Arbeit haben wir die Summe der sozioökonomischen Stile als Maß für deren Vielfalt verwendet. Darüber hinaus haben wir die relativen Häufigkeiten sozioökonomischer Stile verwendet, um die Zusammensetzung der Pflanzengemeinschaften sowie die Artenzahl vorherzusagen (vgl. Tabelle 1).25 Um einen möglichen Einfluss der früheren Artenzusammensetzung auf die gegenwärtigen Artenzahlen in einzelnen Siedlungen zu erkennen (zeitliche Autokorrelation), haben wir die in den Erhebungen von W. Ludwig vor 25 Jahren festgestellte Artenzahl von Einheimischen, Archäophyten und Neophyten berücksichtigt.26

23 Anette Spellerberg: Soziale Differenzierung durch Lebensstile. Eine empirische Unter­suchung zur Lebensqualität in West- und Ostdeutschland, Berlin 1996; Anke Wahl: Die Veränderung von Lebensstilen. Generationenfolge, Lebenslauf und sozialer Wandel, Frankfurt a. M. / New York 2003. 24 Vgl. Brunzel et al.: Neo- and archaeophytes (Anm. 17). 25 Vgl. Brunzel et al.: Neo- and archaeophytes (Anm. 17). 26 Unveröffentlichte Daten von W. Ludwig.

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Statistische Analysen

Um die Veränderung der Verbreitung von Einheimischen, Archäophyten und Neophyten zu testen, haben wir mit Hilfe einer Korrelationsanalyse die Anzahl der Siedlungen, die im Zeitraum 1974-1981 von der jeweiligen Art besiedelt waren, mit denen im Jahr 2003 verglichen. Für die Analyse der Artenzusammensetzung der Pflanzengemeinschaften haben wir verschiedene Ordinationstechniken verwendet, um die Hauptvariationsachsen aus der Häufigkeitsmatrix (Anzahl der Bestände entlang eines Transekts) im Vergleich zum Vorkommen der Arten zu extrahieren. Anschließend wurde eine Korrespondenzanalyse mit Hilfe des Pakets Vegan in der ­Statistik-Software R27 durchgeführt, um die Muster der relativen Häufigkeiten der Arten zu analysieren.28 In einem weiteren Schritt wurden ortsbezogene und sozioökonomische Variablen, die sich als signifikant er­ wiesen haben, in diese Analyse eingepasst.29 Um diejenigen standortbezogenen und sozioökonomischen Variablen zu identifizieren, die die Artenzahl von Einheimischen, Archäophyten und Neophyten am stärksten beeinflussen, berechneten wir deren statistisch voneinander unabhängige Beiträge.30 Ergebnisse

Insgesamt wurden 128 Pflanzenarten festgestellt, darunter fünf Neophyten­ arten, die bei der Erhebung von 1974-1981 nicht gefunden wurden: Das Kreuzkraut (Senecio inaequidens), Purpur-Storchschnabel (Geranium purpureum), Australischer Gänsefuß (Chenopodium pumilio), der Sauerklee (Oxalis dilenii) und die Beifußblättrige Ambrosie (Ambrosia ­artemisifolia). Dagegen konnte eine einheimische Art, das große Flohkraut (Pulicaria vulgaris) und drei Archäophyten (Bilsenkraut, Hyoscyamus niger, Gefleckter Schierling, Conium maculatum, und Katzenminze, Nepeta cataria) gegen­über den früheren Erhebungen nicht mehr nach­gewiesen werden. 27 Jari Oksanen et al.: vegan. Community Ecology Package version 1.8-6, 2007; http:// cran.r-project.org (Zugriff am 11. 5. 2022). 28 Vgl. Brunzel et al.: Neo- and archaeophytes (Anm. 17). 29 Vgl. Gerry P. Quinn / Michael J. Keough: Experimental Design and Data Analysis for Biologists, Cambridge 2002. 30 Vgl. Ralph Mac Nally: Hierarchical partitioning as an interpretative tool in multivariate inference, in: Australian Journal of Ecology 21(2), 1996, doi: 10.1111/­j.14429993.1996.tb00602.x, S. 224-228; Ralph Mac Nally: Regression and model-building in conservation biology, biogeography and ecology. The distinction between – and reconciliation of – ›predictive‹ and ›explanatory‹ models, in: Biodiversity & Conservation 9, 2000, S. 655-671; vgl. Brunzel et al.: Neo- and archaeophytes (Anm. 17).

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Abb. 5: Anzahl der besetzten Siedlungen für 132 Arten (Einheimische Arten: weiß, Archäophyten: schwarz und Neophyten: grau) 1974-1981 und 2003. Die Teilgrafik links zeigt den Zusammenhang zwischen den Daten­sätzen (Punkte) und der hypothetischen Linie, wenn sich die Häufigkeit der Arten zwischen den beiden Erfassungen nicht verändert hätte. Die Grafik verdeutlicht, dass sich mit einer Ausnahme alle Neophyten oberhalb dieser Linie befinden.

Die meisten Neophyten traten 2003 in einer größeren Anzahl von Siedlungen auf als in der Erhebung von 1974-1981, während die Anzahl der von Einheimischen und Archäophyten besetzten Siedlungen in beiden Erfassungen ähnlich blieb (vgl. Abbildung 5). Die Abbildung 6b zeigt, dass von den zehn standortbezogenen und sozioökonomischen Variablen sechs unser Signifikanzkriterium (p = 0,05 /10 = 0,005) erfüllten. Diese sechs Variablen sind mehr oder weniger an der ersten Achse ausgerichtet (vgl. Abbildung 6b). Entlang der ersten Achse nahm die Siedlungsgröße gemessen an der Einwohnenden­

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Abb. 6: (a) Darstellung der Artenhäufigkeit durch ein statis­ tisches Analyseverfahren (Ordination, Hauptkomponenten­ analyse). Die drei »Umschläge« symbolisieren einheimische Arten (weiße Kreise), Archäophyten (schwarze Kreise) und Neophyten (graue Kreise). Ab­kürzungen der im Haupttext genannten Arten: Buva = Buddleja variabilis (Schmetterlingsstrauch), Cosq = C ­ oronopus squamatus (Krähenfuß), Deso = Descurainia sophia (Sophienrauke), Soca = Solidago canadensis ­(Kanadische Goldrute). (b) Vektoren (Berechnete Richtung, in die der jeweilige Einflussfaktor [= erklärende Variable] wirkt) von standort­bezogenen und sozioökonomischen Variablen, die in die Ordination eingepasst wurden (Beschreibung der Variablen siehe Tabelle 1). (c) Vektoren von sozioökonomischen Stilen, die in die Ordination eingepasst wurden (Beschreibung siehe Tabelle 1). Für beide Graphen haben wir nur signifikante Variablen aufgetragen.

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Abb. 7: Einflussfaktoren (»Erklärende Variablen«) und ihre prozentualen Beiträge zur Artenzahl von Einheimischen, Archäophyten und Neophyten. Statistisch signifikante Beiträge sind in Schwarz. Dreiecke geben an, ob der Zusammenhang positiv oder negativ ist. Die Einflussfaktoren sind gruppiert worden (von oben): sozioökonomische Variablen, Variablen im Zusammenhang mit der Entfernung zu Frankfurt a. M., standortbezogene Variablen und Kontrollvariablen.

zahl ab, ebenso die Zahl der sozioökonomischen Stile und die Anbindung an Frankfurt am Main. Umgekehrt nahm die Entfernung nach Frankfurt am Main und die an landwirtschaftliche Betriebe gekoppelten Nutzungen zu (gemessen an einer hohen Zahl freilaufender Tierhaltungssysteme und einem häufigeren Einsatz von Herbiziden). Daher kann die erste Achse als Gefälle von urbanen (links) zu ländlichen Siedlungen (rechts) charakterisiert werden. Von den 26 individuellen sozioökonomischen Stilen ent­ sprachen ebenfalls sechs dem Signifikanzkriterium (p = 0,05 /26 = 0,0019). Auch diese sind als rein sozialwissenschaftlicher Parameter genauso wie die Standortfaktoren an der ersten Achse ausgerichtet (vgl. Abbildung 6c). Die Beschreibung dieser Stile (vgl. Tabelle 1) unterstützt die Interpretation der ersten Achse der Ordination als Gefälle von städtischen zu ländlichen Siedlungen. Die Werte für die Artenhäufigkeiten von Einheimischen, Archäophyten und Neophyten unterschieden sich signifikant entlang der ersten Achse (ANOVA : F2,125 = 19,4, p ab 1875 Liefergärten für den naturwissenschaftlichen Unterricht > ab 1920 Schülerarbeitsgärten > ab 1980 ökologische Arbeitsgärten und Biotope.16 Diesen drei Etappen ist unbedingt hinzuzufügen, dass sich das Gärtnern auch im Zuge weiterer – meist reformpädagogischer – Strömungen auf unterschiedlichste Weise in Bildungs- und Schulkonzepten niederschlug. So gründete Friedrich Fröbel (1782-1852) – als berühmtester Schüler Pestalozzis – den ersten deutschen Kindergarten, welcher auf dem Außengelände bereits eine Fläche mit von den Kindern zu betreuenden Beeten enthielt.17 Georg Kerschensteiner (1854-1932) begründete sogenannte Arbeits­schulen, welche neben Werkstätten auch Gärten als Praxis-Lernorte bereithielten. Diese gelten als Vorstufe zu den heutigen Berufsschulen.18 Maria Montessori (1870-1952), eine italienische Pädagogin, entwickelte den so­genannten Erd­ kinderplan als Erziehungskonzept für ältere Kinder und ­Jugendliche, welcher u. a. auch das Gärtnern bzw. Arbeiten in der Landwirtschaft vorsieht.19 Rudolf Steiner (1861-1925) fügte in der von ihm entwickelten Waldorfpädagogik das Unterrichtsfach »Gartenbau« obligatorisch in die Stundentafel der 6. bis 10. Jahrgangsstufe ein, welches bis heute in der Oberstufe an Waldorfschulen praktiziert wird.20 All diese Ideen und Umsetzungen stellten und stellen einen wichtigen Impuls zur Entwicklung und Weiterentwicklung des Gärtnerns in der Päda­ gogik (nicht nur) an Schulen dar. Hierbei spielen Zeitgeist, Menschenbild und Erziehungsideale eine besondere Rolle und ziehen jeweils eine unterschiedliche Betonung der einzelnen Schulgartenfunktionen nach sich. Besonders gut lässt sich dies auch an den Entwicklungen in der Zeit des Nationalsozialismus und der deutschen Teilung nach Kriegsende aufzeigen. 16 Ausführlich ist dies nachzulesen in Kleber / Kleber: Handbuch Schulgarten (Anm. 13), S. 39 ff. und in Gerhard Winkel: Das Schulgartenhandbuch, Seelze 1997, S. 9 ff. 17 Vgl. Friedrich-Fröbel-Museum: Friedrich-Fröbel-Museum, 2022; https://froebel-mu­ seum.de/pages/de/startseite.php (Zugriff am 7. 10. 2021). 18 Vgl. Ludwig Englert: Kerschensteiner, Georg, in: Neue Deutsche Biographie 11, 1977, S. 534-536; https://www.deutsche-biographie.de/sfz40650.html (Zugriff am 7. 10. 2021). 19 Vgl. Ela Eckert: Erdkinderplan. Maria Montessoris Erziehungs- und Bildungs­ konzept für Jugendliche, Freiburg / Basel / Wien 2020, S. 74. 20 Vgl. Tobias Richter: Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele. Vom Lehrplan der Waldorfschule, Stuttgart 2019, S. 668 ff.

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Im Nationalsozialismus erfuhr der Schulgarten, wie alle Bildungs­ bereiche, eine Ideologisierung und Instrumentalisierung im Sinne der völkischen Schulreform und wurde auf einen reinen Arbeitsgarten reduziert, verbunden mit Erziehungszielen der körperlichen Ertüchtigung und Heimatverbundenheit – für die Jungen v. a. im Sinne staatsdienerischer landwirtschaftlicher Produktion und für die Mädchen v. a. im Sinne der Förderung pflegerischer Fähigkeiten.21 Nach dem 2. Weltkrieg nutzte man die wenigen erhaltenen Schulgärten hauptsächlich zur Belieferung der Schulküchen. Später blieben in der BRD nur wenige Schulgärten erhalten, welche zumeist für den Biologieunterricht genutzt wurden.22 In der DDR war Schulgartenunterricht ob­ ligatorischer Bestandteil der polytechnischen Bildung und sollte erzieherisch und auch berufsorientierend auf eine sozialistische landwirtschaftliche Produktionsweise vorbereiten.23 Ab 1963 war er als Unterrichtsfach für die Klassenstufen 1 bis 6 und ab 1968 nur noch für die Unterstufe im Lehrplan vorgesehen.24 In beiden Teilen Deutschlands entwickelte sich Schulgarten während der allgemeinen Ökologiebewegung in den 1980er Jahren zunehmend zu einem Umweltbildungsort bzw. -fach. Es wurden Biotope angelegt und eine biologisch-organische Lebensmittelerzeugung rückte in den Mittelpunkt.25 Nach der Wiedervereinigung hielt allein der Freistaat Thüringen bis heute am Unterrichtsfach Schulgarten im Fächerkanon der Grundschule fest. Mit der Abschaffung des Faches in den neuen Bundesländern stand auch der Lernort in Frage. Über Sachsen-Anhalt ist bekannt, dass aktuell trotzdem erfreulicherweise noch ca. 200 Schulgärten im Rahmen des Biologie- und Sachunterrichtes betrieben werden. Und auch in anderen Bundesländern wird bis heute an entsprechenden Lernorten eine lebendige Schulgartenarbeit umgesetzt, u. a. in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Berlin.26 21 Vgl. Fernande Walder: Der Schulgarten in seiner Bedeutung für Unterricht und Erziehung. Deutsche Schulgartenbestrebungen vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus, Rieden 2002, S. 356 ff. 22 Vgl. Kleber / Kleber: Handbuch Schulgarten (Anm. 13), S. 45. 23 Vgl. Akademie der pädagogischen Wissenschaften der DDR : Schulgartenunterricht. Methodische Empfehlungen, Berlin 1987, S. 9 ff. 24 Vgl. Ministerrat der DDR / Ministerium für Volksbildung: Lehrplan Schulgarten. Klasse 1 bis 4, Berlin 1988, S. 3-6. 25 Vgl. Kleber / Kleber: Handbuch Schulgarten (Anm. 13), S. 45. 26 Siehe Länderseiten der BAG -Schulgarten-Homepage: Bundesarbeitsgemeinschaft Schulgarten e. V.: Bundesländer, 2022; https://www.bag-schulgarten.de/de/laender (Zu­ griff am 8. 10. 2021).

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Schulgarten als Lernort und Unterrichtsfach bezüglich seines gesellschaftlichen Stellenwertes und der intendierten pädagogischen Ziele im Laufe der Geschichte einem starken Wandel unterlag. Aktuell und hoffentlich auch in Zukunft gibt es immer wieder politisches, zivilgesellschaftliches und pädagogisches Engagement für die Stärkung des Schulgartens als Fach und Lernort. Bildungspotenziale und Verortung von Schulgarten im aktuellen Bildungskanon

Dem Gärtnern und allem, was damit zusammenhängt, wird ein großes Bildungspotenzial im elementaren, primaren sowie expansiven Bereich zugeschrieben. Schulgarten kann und sollte also bereits im Kindergarten starten und möglichst bis in die Sekundarstufe 2 reichen. Kinder und Jugendliche erhalten so langfristig einen Nahrungsbezug (Radieschen wachsen nicht im Bund, Äpfel kommen nicht aus dem Supermarkt und Samen entstehen nicht in Tüten u. Ä.) und schulen ihre Sinneswahrnehmung ­sowie ihre Sensomotorik (Durchhaltevermögen und Krafteinsatz, Fein­ motorik). Sie lernen Arbeit zu schätzen, machen Naturerfahrungen und erweitern ihre biologischen (v. a. ökologischen) Kenntnisse durch Tier­ beobachtungen, Artenkenntniserwerb und das Erlernen und Praktizieren der Grundsätze des naturnahen Gärtnerns. Ihre physische Gesundheit wird gefördert, insbesondere durch regelmäßige Bewegung an der frischen Luft und gesundes Essen. Auch die psychische Gesundheit profitiert durch sinnstiftendes Tun, Stolz auf die eigene Arbeit und Entschleunigung. Sie lernen zudem, Misserfolge zu verkraften, und erweitern ihre Selbst- und Sozialkompetenz. Schulgärten sind per se inklusive Lernorte und für ­intergenerative und interkulturelle Zusammenarbeit sowie sonderpädagogische Förderung hervorragend geeignet. Nachhaltigkeit, mit ihren drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziokulturelles, wird im Schulgarten direkt gelebt: Die Kinder und Jugendlichen planen, recyceln, er­ zeugen, verwerten, konservieren, verkaufen und lösen nebenbei immer wieder Interessenskonflikte sowohl im gemeinsamen Miteinander als auch mit der Natur. Zum Beispiel könnte das Auf blühen und Aussamen von Wildkräutern auf einer Blumenwiese bei Nachbar*innen für Ärger sorgen, da diese daraus resultierend einen vermehrten Unkrautbewuchs in ihrem Garten befürchten. Hierbei kann man ökologisch argumentieren und Kompromisse schließen lernen. Da ein Schulgarten ein Gemeinschafts­ projekt ist, gilt es immer wieder, Absprachen im Konsens aller Beteiligten zu treffen, und man lernt, ökologische und ökonomische Aspekte in Einklang zu bringen. Zudem können gärtnerische Erfahrungen auch eine

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s­pätere Berufsorientierung und Hobbyfindung unterstützen. Auch zur Förderung der Medien- und Lesekompetenz leistet Schulgartenunterricht einen wichtigen Beitrag, zum Beispiel durch die Nutzung von Pflanzen­ bestimmungs-Apps oder Kochrezepten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Schulgarten e. V., ein bundesweiter ­Interessenverbund zur Förderung von Schulgartenarbeit, statuiert: »Jedes Kind hat ein Recht auf Schulgarten.« Um Politik, Medien und Öffent­ lichkeit für die Bedeutung des Schulgartens zu sensibilisieren und dessen Qualität zu sichern, verabschiedetet die BAG Schulgarten 2015 den ­»Cottbuser Appell«.27 Cottbuser Appell der BAG Schulgarten 1. Nachhaltiges Handeln und Wirtschaften entscheiden über unsere Zukunftsfähigkeit. Natur- und Umweltbildung sind deshalb über­ lebenswichtig und müssen bereits in jungen Jahren zum Alltag ge­ hören. Die Entfremdung von der Natur muss gestoppt werden! 2. Natur- und Umweltbildung verlangen Lernorte, die die Begegnung mit der Natur erlebbar machen und praktische Kompetenzen vermitteln. Der Schulgarten ist ein solcher Lernort; er ist pädagogisch und didaktisch hervorragend geeignet, Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zu fördern und praktische Fähigkeiten im Umgang mit der natürlichen Umwelt zu vermitteln. 3. Auch der Kita-Garten ist für eine erste Begegnung mit dem natür­ lichen Umfeld von unschätzbarem Wert. Kenntnisse und Fertig­ keiten im Umgang mit der Natur in frühester Jugend prägen später die Einstellung zur lebendigen Umwelt. 4. Schul- und Kita-Gärten sollen nicht Umweltinseln auf dem Gelände ihrer Einrichtungen sein, sondern sind vielmehr einzubetten in ein »grünes Kleid«, das alle Bereiche erfasst, insbesondere die Spiel­ flächen und Schulhöfe. Das fördert und stärkt zugleich die Biodiversität und ihre Erlebbarkeit. 5. Natur- und Umweltbildung in Schul- und Kita-Gärten sollen sich darüber hinaus auf ein Netzwerk von weiteren Einrichtungen und der in ihnen tätigen Fachkräfte stützen können: z. B. SchulbiologieZentren, Naturschutzverbände und -stationen, Kleingartenanlagen, Obst- und Gartenbauvereine, Botanische Gärten. Durch Zusammen­ 27 Cottbuser Appell vom 28. 9. 2015, siehe Bundesarbeitsgemeinschaft Schulgarten e. V.: Cottbuser Appell, 2015; https://www.bag-schulgarten.de/de/aktuelles/c-appell (Zugriff am 29. 9. 2021).

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wirken von Eltern, Lehrern und Schülern ist ein positives Klima der Kreativität und Hilfsbereitschaft anzustreben. 6. Schul- und Kita-Gärten leisten für die Bildung junger Menschen weit mehr als nur Kenntnisse und Fertigkeiten in Sachen Natur und Umwelt. Sie sind vielmehr multifunktionale Lernorte. Schulgartenarbeit fördert nachweislich gesunde Ernährung und motorische Entwicklung. 7. Die Arbeit in Schul- und Kita-Gärten unterstützt die Integration von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung – an­ gesichts steigender Zuwanderung besonders dringlich – und fördert die Inklusion von Kindern und jungen Menschen mit besonderem Förderbedarf. Sie unterstützt auch solche Kompetenzen, die im ­Leben junger Menschen und für unsere Gesellschaft immer wichtiger werden, wie z. B. Verantwortung übernehmen und Kreativität ent­ wickeln. 8. Schulgartenarbeit erfordert pädagogische und fachdidaktische Betreuung sowie deren Einbindung in die Schulorganisation. Dies verlangt eine qualifizierte Aus-, Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte. Ziel ist die Verankerung des Schulgartenunterrichts in allen Lehrbzw. Bildungsplänen und die Ausstattung der Schulen und Kitas mit entsprechendem Personal, Sachmitteln und Geld. 9. Vorhandene Schul- und Kita-Gärten sind zu sichern und zu re­ aktivieren. Dazu eignen sich z. B. Schulgarteninitiativen und Wett­ bewerbe, die gemeinsame Anstrengungen der Schul- und Kita-­ Gemeinschaft unterstützen. Neue Schul- und Kita-Gärten sind möglichst auf dem Gelände im Zusammenhang mit einer ökologischen Umgestaltung anzulegen. Partnerschaften mit Gärten in der Nachbarschaft oder Kleingartenanlagen sind geeignete Wege. 10. Die außerordentlich positiven Effekte und Erfolge der Arbeit in Schul- und Kita-Gärten verdienen öffentliche Anerkennung. Die Arbeit wird gegenwärtig durch große Leistungsbereitschaft der Lehrkräfte und ErzieherInnen erbracht und ist auch dem ehrenamtlichen Engagement der Eltern zu verdanken. Das wird den großen bildungspolitischen Herausforderungen, denen sich Schulen und Kitas annehmen müssen, nicht gerecht. Die Arbeit in und mit Schul- und Kita-Gärten verlangt deshalb die volle Unterstützung und finanzielle Förderung durch die Träger der Einrichtungen und die öffentliche Hand !

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Abb. 1-3: Ernte und Ernteverwertung im Schulgartenunterricht

Als Unterrichtsfach existiert Schulgarten, außer in der Oberstufe an Waldorfschulen, derzeit (leider) nur noch in Thüringen. Dieses ist obligatorisch mit einer Wochenstunde in der Stundentafel aller Grundschulen verankert und wird zumeist 14-tägig im Wechsel mit dem Fach Werken in Halbgruppen und Doppelstunden unterrichtet. Die meisten Thüringer Grundschulen besitzen einen eigenen Schulgarten und es existiert ein Fachlehrplan sowie eine Ausbildung von Lehrkräften in den zwei Phasen der Lehrer*innenbildung (Studium und Referendariat). Zudem werden berufsbegleitend zahlreiche Fort- und Weiterbildungen für Fachlehrkräfte und auch fachfremd Unterrichtende angeboten. Der Thüringer Schulgartenlehrplan ist in drei Lernbereiche unterteilt: »Anbauen und Pflegen von einheimischen Kulturpflanzen«, »Erleben und Schützen der Natur« und »Gärtnerisches Gestalten«.28 Zu Ersterem gehört natürlich auch die Ernte samt der Ernteverwertung (Kochen, Lagern, Konservieren). Darüber hinaus ist er den Zielen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung verpflichtet. So heißt es im Thüringer Lehrplan: »Der Schulgartenunterricht zielt […] gleichermaßen auf die Entwicklung von Gestaltungskompetenz im Sinne der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Sie 28 Thillm: Lehrplan Schulgarten, Grundschule (Anm. 6), S. 3.

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wird in der tätigen Auseinandersetzung mit der Natur und fächerüber­ greifend von Schulbeginn an systematisch erworben.«29 Neben einer praxis­nahen und kindgerechten Bildung für eine nachhaltige Entwicklung betonen Fachlehrplan und die fächerübergreifenden Leitgedanken für den Bildungsgang an Thüringer Grundschulen darüber hinaus die maßgeb­ liche Rolle des Schulgartens für Zielsetzungen der Gesundheitserziehung / Ernährungsbildung und Medien- und Lesekompetenzförderung.30 Und auch über die Grundschule hinaus lässt sich, wie der Thüringer Bildungsplan für Kinder von 0-18 Jahre dokumentiert, (Schul-)Gartenarbeit in nahe­zu allen Bildungsbereichen und -stufen verorten.31 Gleiches gilt natürlich auch für andere Bundesländer. Denn wenn es auch kein eigenständiges Fach Schulgarten in den anderen Ländern gibt, finden sich dennoch c­ urriculare Bezüge im Kontext der naturwissenschaftlichen Bildung, der Umwelt­ bildung oder des raumbezogenen (geografischen) Lernens, so zum Beispiel in Rheinland-Pfalz.32 Im Perspektivrahmen, eine Art länderübergreifendes Kerncurriculum für den Sachunterricht, wird der Schulgarten als geeigneter Lernort für konkrete Handlungserfahrungen und die Förderung natur­wissenschaftlicher und geografischer Kompetenzen hervorgehoben.33 Anbindung von Schulgarten an aktuelle Trends

Im Schulgartenunterricht werden Naturerfahrungsspiele und Gestaltungs­ arbeiten mit Naturmaterial durchgeführt, wobei man sich methodisch gut am Repertoire von naturpädagogischen oder heilpraktischen Disziplinen, wie z. B. Waldpädagogik oder Gartentherapie, bedienen kann. Bei der Gestaltungsplanung des Schulgartens kann man, wenn man eine wirklich große Fläche zur Verfügung hat, sehr gut Zielaspekte der Idee zu 29 Thillm: Lehrplan Schulgarten, Grundschule (Anm. 6), S. 5. 30 Vgl. Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Thillm): Thüringer Schulportal. Leitgedanken zu den Thüringer Lehrplänen für die Grundschule und für die Förderschule mit dem Bildungsgang der Grundschule, 2010; https://www.schulportal-thueringen.de/media/detail?tspi=5208 (Zugriff am 28. 9. 2021). 31 Vgl. Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (TMBJS) (Hg.): Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre, Weimar 2019; https://bildung.thueringen.de/bildung/ bildungsplan (Zugriff am 7. 10. 2021). 32 Vgl. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung Rheinland-Pfalz: Lehrplan Sachunterricht, Mainz 1991; https://studienseminar.rlp.de/fileadmin/user_ upload/studienseminar.rlp.de/fs-nr/Download/SachunterrichtSLB.pdf (Zugriff am 28. 9. 2021), S. 13. 33 Vgl. Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU ) (Hg.): Perspektivrahmen Sachunterricht, Bad Heilbrunn 2013, S. 26, 45.

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sogenannten Naturerfahrungsräumen (NER) mit umsetzen.34 So könnte es neben Beeten und anderen klassischen Gartenelementen eine größere Brachfläche geben, auf welcher die Kinder spielerisch und selbstbestimmt mit den Elementen Erde und Wasser sowie mit wild aufwachsenden Pflanzen in Verbindung kommen. Auch Initiativen zur Solidarischen Landwirtschaft 35 und das sogenannte Stadtgärtnern (Urban Gardening) bieten Anknüpfungspunkte für die Schulgartenarbeit, letzteres insbesondere durch eine Exkursion zu oder die Mitnutzung von einem interkulturellen Gemeinschaftsgarten oder ­Generationengarten. Hierbei lassen sich auch unterschiedliche Bildungsinstitutionen wunderbar miteinander vernetzen, beispielsweise Kinder­ gärten mit Altersheimen. Zudem lohnt es sich, den Schulgartenunterricht an aktuelle Initiativen wie die essbare Stadt anzubinden. Hierbei lassen sich beispielsweise öffentliche Flächen und auf ihnen zur Verfügung gestellte Hochbeete für die Schulgartenarbeit rekrutieren. Nicht zuletzt werden an Schulen in freier Trägerschaft mit reform­ pädagogischen Konzepten durchaus nachahmenswerte Ideen des pädagogischen Gärtnerns umgesetzt. Vor allem sind hier der Erdkinderplan nach Maria Montessori sowie der Gartenbauunterricht an Waldorfschulen zu nennen. Zu all dem kann man Schüler*innen im Schulgartenunterricht Wege zur umweltpolitischen Partizipation und zum Umweltschutz durch persönliches Engagement aufzeigen, indem man ihnen dementsprechende Initiativen und Institutionen, wie z. B. die Kinder- und Jugendgruppen des BUND, des NAJU oder von Greenpeace vorstellt. Gestaltungselemente für den Schulgarten

Im Folgenden werden Elemente eines Schulgartens vorgestellt, welche eine umfassende und erfolgreiche Bildungsarbeit in ihm möglich und ihn zu einem inklusiven und offenen Lernort machen.

34 Genaueres dazu siehe: Bund der Jugendfarmen und Aktivspielplätze e. V.: Was ist ein Naturerfahrungsraum (NER)?, 2018; http://www.naturerfahrungsraum.de/was-sind-­ ner (Zugriff am 28. 9. 2021). 35 Siehe z. B. Netzwerk Solidarische Landwirtschaft e.V.: Gemeinsam für eine Land­ wirtschaft mit Zukunft, 2022; https://www.solidarische-landwirtschaft.org/startseite (Zugriff am 28. 9. 2021).

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Beete

Flachbeete in unterschiedlichen geometrischen Formen dienen als Gruppen-, Klassen- oder Einzelbeete. Zusätzlich kommen zu einer vielfältigen Gartengestaltung möglichst auch andere Beetformen zum Einsatz, wie z. B. (unterfahrbare) Hochbeete, Hügelbeete und Trichterbeete, welche alle ­unterschiedliche Vor- und Nachteile beim Gärtnern bieten, was mit den Kindern praktisch erlebt und reflektiert werden kann und sollte. Des ­Weiteren können ein Tomatenhaus sowie ein Frühbeet zur Jungpflanzenanzucht wichtige Lernanlässe bieten. Eine Kräuterspirale bietet als besondere Beetform neben ihrer unvergleichlichen Ästhetik durch ihre typische Zoneneinteilung simultan unterschiedliche Wachstumsbedingungen für Pflanzen auf kleinstem Raum. Durch das Anlegen und Pflegen eines Stauden­beetes lernen Kinder verschiedene Zierpflanzen, u. a. die klassischen Garten-Frühblüher, kennen und setzen sich theoretisch und praktisch mit der generativen Pflanzenvermehrung auseinander. Ein sogenannter Steingarten bietet Platz für alpine Pflanzen und lässt Kindern deren Lebensweise und Angepasstheit an ihren Lebensraum erfahrbar werden. Wenn die Fläche es zulässt, können zudem gemeinsam Ackerflächen für Feldpflanzen, wie Kartoffel, Getreide und Energiepflanzen, betrieben werden. Sie bieten zudem sinnvolles Anschauungsmaterial für entsprechende Projekte. Wege

Wege verbinden alle Gartenelemente miteinander und sichern die Infrastruktur und Zugänglichkeit im Schulgarten. Sie können entweder saisonal oder dauerhaft angelegt werden und gerade oder organisch geschwungene Formen annehmen. Breite, befestigte Wege sichern Barrierefreiheit für Kinder im Rollstuhl. Wasser

Wichtig für das ökologische Gärtnern ist ein Regenwassersammelsystem mit Tonne oder Zisterne. Dies sichert ein umweltgerechtes Gießwasser­ depot ab. Zusätzlich ist ein Trinkwasseranschluss zum Händewaschen, zum Reinigen des Erntegutes und zum Auffüllen der Trinkflaschen ratsam. Besonders freuen sich Kinder über einen kleinen Grundwasserbrunnen mit Schwengelpumpe.

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Kompost

Der Kompost als »Verdauungstrakt des Gartens« ist das Herzstück eines jeden Schulgartens, da an ihm das Recycling organischer Abfälle erlernt und geübt werden kann und der geschlossene Stoffkreislauf im Garten ­direkt erlebbar wird. Durch die Ernte entnehmen wir dem Gartenboden indirekt Nährstoffe und müssen die Bodenfruchtbarkeit durch organische Düngung immer wieder erhalten. Hierfür eignet sich Humus / Kompost­ erde sehr gut, welche durch Destruenten in Form zahlreicher Boden­ lebewesen hergestellt wird. Ratsam wegen der leichten Auf- und Umsetzbarkeit sind drei klassische Kompostmieten (-haufen). Auch eignet sich ein Schnellkomposter gut. Für das Aufbringen der Komposterde auf die Beete benötigt man in jedem Fall ein Kompostsieb, eine große Schaufel sowie eine Schubkarre. Im Klassenraum kann man für Essensabfälle zusätzlich einen kleinen Wurmkompost mit den Kindern bauen und betreiben. Geräteschuppen

Ein Geräteschuppen ist unabdingbar. Er sollte möglichst direkt im Garten oder zumindest gartennah stehen und einen barrierefreien Zugang besitzen. In ihm befinden sich Geräteklassensätze in kindgerechten Größen und Schutzkleidung für alle Kinder in einem nachvollziehbaren Ordnungs­ system mit Beschriftungen und Piktogrammen. Wiese

Für das Beobachten von Insekten und die Artenkenntnis von Wild­kräutern sowie den Ertrag von Gestaltungsmaterial eignet sich eine kleine Wiese im Schulgarten, auf welcher ungefüllte (also bienenfreundliche) heimische Wildblumenarten wachsen. Diese dienen auch als Bienenweide. Stehen größere Flächen zur Verfügung, kann man auch eine Streuobstwiese an­ legen. In jedem Fall ist die Wiese zweimal jährlich zu sensen. Sie sollte in der Mitte auch eine kleine Rasenhöhle mit gewinkeltem Weg als Zugang enthalten, damit man sich direkt in sie hineinsetzen kann, ohne Pflanzen nieder­zudrücken oder sich Zecken einzufangen. Hecken

Hecken unterschiedlichster Art dienen im Schulgarten als Begrenzung (statt bzw. vor einem Zaun). Hierbei sollten zugunsten der Artenvielfalt heimische Wildobstgehölze, wie Haselnuss, Holunder, Felsenbirne, Blutpflaume oder Hagebutte (Wildrose), bevorzugt werden. Diese blühen

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Abb. 4: Naturerfahrung und gärtne­risches ­Gestalten mit Wildblumen auf der Schulwiese

erst als Bienenweide und ihre Früchte dienen zur eigenen Verwertung oder als Nahrung für Gartenvögel. Zudem sind einige von ihnen Zeiger­pflanzen für die phänologischen Jahreszeiten, was bei der Behandlung dieses ­Themas als Anschauung und zur Naturwahrnehmung dient. Weitere Gehölze dienen zur Zierde und als Lieferanten von Gestaltungsmaterial, z. B. Sommer­ flieder und Weide. Obstgehölze

Kulturobstbäume sollten in keinem Schulgarten fehlen. Auch hierbei gilt der Grundsatz der Artenvielfalt. Beliebt sind bei Kindern besonders Süßund Sauerkirsche, Pflaume, Quitte und Birne, deren Früchte teilweise frisch verzehrt werden sowie zum Erlernen von Konservierungstechniken dienen können. Beerensträucher, welche eine Nasch-Hecke im Schul­ garten bilden, ergänzen das Ensemble. Viele Kinder lieben Himbeeren, Brombeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren und auch die Kreuzung aus den beiden Letzteren, die Jochel- bzw. Jostabeeren. Alle Beerenarten sollten möglichst in unterschiedlichen Sorten und Farben vorgehalten werden. An der ­Obstblüte kann man wunderbar botanische Kenntnisse ­gewinnen und die Entwicklung von der Blüte zur Frucht durch Dokumentationen im Garten­tagebuch, in Beobachtungsprotokollen und durch die Erstellung von Fotoreihen exemplarisch nachvollziehen. Sitzecke

Als grünes Klassenzimmer dienen entweder mobile Sitzmöglichkeiten in Form von kleinen Isomatten / Sitzkissen oder fest installierte Gartenmöbel. Wichtig sind hierbei ein Sonnen- und ein Regenschutz. Auch eine Tafel o. Ä. ist sinnvoll.

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Abb. 5: Geräteschuppen, Arbeitstisch und Gieß­kannenlager im Campus-Schulgarten der Univer­sität Erfurt

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Abb. 6: Sitzecke als grünes ­Klassenzimmer und Pausenort im Campus-Schulgarten der Universität Erfurt

Kleinbiotope und Nützlingsbehausungen

Ein naturnaher Schulgarten bietet zahlreiche Lebensräume für Tiere. Dies können Kleinbiotope, wie ein Stein- und ein  Totholzhaufen, eine ­Trockensteinmauer, die genannten Wildobsthecken und Wiesen oder ein Gartenteich, sein. Letzterer ist mit enormem Arbeitsaufwand verbunden, zumal wenn er zum Lebensraum für Molche und Frösche, Kröten und ­hiesige Wasserpflanzen wie die Brunnenkresse werden soll. Zusätzlich sollte es in jedem Schulgarten noch spezifische Tierbehausungen geben. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die ­derzeit im Trend liegenden Insektenhotels ökologisch nicht als sinnvoll zu betrachten sind. Sie sehen zwar sehr schön aus, beherbergen jedoch selten die avisierte Artenvielfalt an Nützlingen, da sie oft fehlerhaft befüllt sind, die einzelnen Abteile zu nah beieinanderliegen oder der Standort ungünstig gewählt ist. Besser sind stattdessen einzelne Insektenpensionen, welche an unterschiedlichen jeweils geeigneten Orten angebracht sind. So kann es z. B. auf der Wiese ein Schmetterlingshaus und einige Wildbienen­ wohnungen geben und in den Obstbäumen lassen sich zur Blattlaus­ abwehr Florfliegenkästen und Ohrwurmglocken befestigen. Diese und weitere Nützlingsunterkünfte, wie Igelhaus, Vogelnistkästen und Fledermaushöhlen, lassen sich gut im Werkunterricht selbst herstellen. Zuvor sollten sich unbedingt die nötigen fachlichen Kenntnisse angeeignet werden, damit die Behausungen auch tatsächlich von den Tieren angenommen werden. So bevorzugen die einzelnen Singvogelarten beispielsweise unterschiedlich große Einfluglöcher bei den Nistkästen.

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Abb. 7-9: Honigernte im Campus-Schulgarten der Universität Erfurt

Kletterpflanzen

Zur Zaun- und Wandverschönerung sowie zur Beschattung und als Sichtschutz bieten sich Kletterpflanzen, wie die Zaunwicke, die Weinrebe oder der wilde Wein, an. Sie alle sind botanisch sehr interessant und verdeut­ lichen den Kindern auf anschauliche Weise, dass sich Pflanzen durch evolutionäre Metamorphosen neue Lebensräume erobern können. Auch ein Zelt aus Stangenbohnen ist gestalterisch und didaktisch sinnvoll. Tierhaltung

Viele Kinder sind begeistert von Tieren. Damit man ihnen im Schulgarten nicht nur das Beobachten von wilden Tieren ermöglicht, kann man auch gemeinsam domestizierte Arten halten und pflegen. Besonders geeignet für den Garten sind Honigbienen, welche die Bestäubung der Blüten ­sicherstellen und zudem eine Honigernte ermöglichen. Wenn eine ge­ nügend große separate Fläche für Auslauf und Stall zur Verfügung steht, kann man auch Laufenten oder Kaninchen halten, da diese als Garten­ helfer sowohl Schädlinge fressen (Enten  Schnecken) als auch Abfälle verwerten (Kaninchen  Rasenschnitt) und ihre Ausscheidungen als wertvoller Dünger dienen können. Manche Schulen halten sich auch einige Schafe auf ihrer Streuobstwiese, was die Mahd sowie die Nährstoffversorgung mit Mist sicherstellt.

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Abb. 10: Schulgarten­unterricht indoor: ­Gemüse-­ verkostung

Abb. 11: Schulgarten­unterricht indoor: Boden-Abschwemmversuch auf der schiefen Ebene

Fachraum

Ein eigener Unterrichtsraum im Schulhaus, ausgestattet mit genügend Steh­ arbeitsplätzen, einer kleinen Gartenbibliothek (Fachbücher, Naturfilme, Gartenbücher für Kinder, belletristische und poetische Kinder­bücher mit Gartenthemen, Pflanzen- und  Tierbestimmungsbücher, Garten-Brettspiele etc.), einer Kinderküche und Regalen zur Lagerung von Naturmaterialien für Gestaltungsarbeiten, dient als Rückzugsort bei schlechtem – also zu nassem, kaltem oder heißem – Wetter. Hier kann Schulgartenunterricht ganzjährig auch indoor stattfinden, und zwar beinahe genauso handlungsorientiert wie draußen im Garten. Es wird gemeinsam gestaltet, gekocht und experimentiert. Wichtig sind auch Zimmerpflanzen, da an ihnen die vegetative Vermehrung sehr gut aufgezeigt und mit ihnen auch in den ­kalten Monaten gegärtnert werden kann.

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Abb. 12: Infotafel am ­Campus-Schulgarten der Universität Erfurt

Beschilderungen

In einem Schulgarten sollten, zumindest zeitweise, alle Pflanzen beschriftet werden, sodass er als botanischer Garten die Artenkenntnis aller Kinder schult. Auch die einzelnen Gartenelemente sollten, möglichst ständig, auf Schildern beschriftet und erklärt sein. Dies dient dem Verständnis des Gartengesamtkonzeptes. Bei allen Beschilderungen ist darauf zu achten, auch Blockschrift für Leseanfänger*innen sowie Piktogramme für Analpha­bet*innen und Nichtmuttersprachler*innen bereitzuhalten. Infotafel

Für eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit und die langfristige Schaffung einer Lobby für den Schulgarten ist eine stets aktualisierte Infotafel am Eingang anzuraten. Hier können ein Gartenplan mit Legende, aktuelle ­Ereignisse und Erfolge sowie gärtnerisch interessante Texte, Artikel und ­Infos für fachlich interessierte Passant*innen ausgehängt werden. Zudem kann man diese – im günstigsten Fall wetterfeste und abschließbare – ­Tafel zum Aufruf zu neuen Kooperationen oder zum Erbitten von elterlicher Hilfe nutzen. Zusätzlich kann man schulgärtnerische Inhalte und Neuigkeiten auch auf der Schulhomepage einstellen, um auch digital sichtbar zu sein. Zum Eingehen auf besondere Bedürfnisse oder einfach auf Wunsch der Nutzer*innen können weitere Elemente Eingang in den Schulgarten finden. So wünschen sich manche Kinder z. B. einen Tastgarten oder einen Fußfühlpfad. Insgesamt kostet es viel Zeit, Kraft und auch Geld, einen Schulgarten zu initiieren, ihn instand zu halten und weiterzuentwickeln. Aber es lohnt sich, denn es bieten sich hierbei unendlich viele Lernanlässe für die Kinder und Jugendlichen sowie für die Lehrkräfte selbst.

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Mögliche Problemfelder bei der Bildungsarbeit im Schulgarten

Folgende (fach-)spezifische Herausforderungen stellen sich bei der Arbeit in einem Schulgarten und erfordern einiges an pädagogischem und organisatorischem Know-how: Schulgartenunterricht ist sehr wetter- und jahreszeitenabhängig, also nur bedingt planbar. Für das Schulgartenjahr sollte eine flexible Stoffverteilung erstellt werden, welche alle Lernbereiche sowie die fächerübergreifenden Ziele involviert und sich sowohl an den Jahreszeiten als auch den Ferienzeiten orientiert. Für jede Unterrichtsstunde ist stets auch eine Schlechtwettervariante zu ­planen. Situatives Unterrichten wird zudem einen großen Anteil am ­Schulalltag im Garten einnehmen. Schulgartenlehrkräfte brauchen deshalb neben ihrer fachlichen und fachdidaktischen Kompetenz immer auch Spontaneität, Mut, Neugier und die Fähigkeit, Fehler und Misserfolge als Helfer*innen und Lernanlässe zu betrachten und aufzugreifen. Die Hauptvegetationsperiode liegt in den Sommerferien und somit verpassen die Schüler*innen zahlreiche Lernanlässe. Durch eine überlegte Sortenauswahl, welche ferienkompatible Anbau­ zeitpunkte ermöglicht (also sehr frühe oder sehr späte Sorten), lassen sich so manche Erntezeiten in die Schulzeit verschieben. Zudem kann die ­Gartenpflege in den Sommerferien über gute innerschulische Koopera­ tionen abgesichert werden. Hausmeister*innen-Teams oder Eltern sind ­neben Erzieher*innen des Ferienhortes sicherlich bereitwillige Ansprech­ partner*innen. Einige Inhalte des Schulgartenunterrichtes können auch in Form geeigneter Ferienaufträge von den Kindern vertieft werden, sodass die Ferienzeit zur echten Schulgarten-Lernzeit wird. Beispiele sind die ­wochenweise Gartenpflege mit Gießdiensten, Zimmerpflanzenpflege daheim oder das Fotografieren und Dokumentieren von Gärten am Urlaubsort. In der Winterzeit ist es schwierig, handlungsorientierten Schulgarten­ unterricht zu gestalten, da nicht draußen gegärtnert werden kann. Kompetenzförderung im Schulgartenunterricht erfolgt über das reine Gärtnern im Schulgarten hinaus. In den kalten Monaten kann man mit den Kindern z. B. Keim- und Wachstumsversuche durchführen, gemeinsam kochen, Saat- und Erntegut konservieren, zu verschiedenen Festen im Jahreslauf mit Naturmaterialien Dekoration gestalten und nicht zuletzt Zimmerpflanzenpflege und -vermehrung üben. Auch fächerübergreifende

Erntedankkranz

Lernbereich Gestalten mit Naturmaterial

Apfelplantage

Kartoffelpuffer mit Apfelmus

Apfelpyramide

Apfelernte

Herbstferien bis Weihnachtsferien

Bestimmungsbücherund Apps

Getreide

Gartentiere im Winter

Weihnachtsferien bis Winterferien

Abb. 13: Beispiel für eine klassenstufenbezogene Stoffverteilung

Exkursionen/ Unterrichtsgänge

Schwerpunktaspekt Lese- und Medienkompetenzförderung

Schwerpunktaspekt Gesundheitsbildung/ Ernährungsbildung

Internetrecherchen zur Geschichte der Kartoffel

Nützlingsförderung im Schulgarten

Lernbereich Natur erleben, Lebensräume schützen und schaffen

Schwerpunktaspekt Bildung für eine nachhaltige Entwicklung

Kartoffel Theorie zu Erntetechniken

Lernbereich Kulturpflanzen Anbauen, pflegen und verwerten

Belehrung/ Regeln

Schuljahresbeginn bis Herbstferien

Gartenbaumuseum

Keim- und Wachstumsexperimen te

Zimmerpflanzenverm ehrung

Winterferien bis Osterferien

Blumenladen/ Florist*in

Schnittblumen

Sträuße binden

Erdbeeren Theorie zu Anbau und Pflege in Mischkultur

Osterferien bis Sommerferien

Klassenzimmerpflanzen mit heim!

(Sommerferien)

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Projekte zur Kartoffel oder zum Getreide können initiiert werden; sie verknüpfen den Schulgartenunterricht zudem didaktisch sinnvoll mit dem historischen Lernen. So können die Kinder z. B. die neolithische Revolution, die Bedeutung der Einfuhr nicht heimischer Pflanzenarten und die Industrialisierung der Landwirtschaft verstehen. Es gibt im Garten viele gesundheitliche Gefahren. Im Schulgartenunterricht lauern durch den Umgang mit Geräten und die Begegnung mit Tieren und Pflanzen sowie Wettererscheinungen zahl­ reiche gesundheitliche Gefahren. Die Kinder bewegen sich viel und können sich verletzen, gestochen werden oder etwas Giftiges essen. Es erscheint als lästige Pflicht, durch Belehrungen den Arbeitsschutz sicherzustellen. Dabei kann es sogar Spaß machen, gemeinsam Regeln zu erarbeiten und diese z. B. in Reimform zu bringen oder mit Piktogrammen darzustellen. Eine gute Artenkenntnis schützt zudem vor dem Konsum von giftigen Pflanzen­ teilen, wie z. B. rohe Bohnen oder Kartoffelbeeren. Die diesbezügliche ­Regel könnte zum Beispiel lauten: Willst Du etwas essen, vorher fragen nicht vergessen ! Beim Draußenlernen bzw. Lernen unter freiem Himmel gibt es so viel zu beachten, dass es schnell chaotisch werden kann. Kinder sind unter freiem Himmel leichter abgelenkt und die Lehrkraft konkurriert mit zahlreichen akustischen, visuellen und taktilen Umgebungs­ reizen. Durch den unstrukturierten und ungewohnt großen Lernraum und die Arbeit in Kleingruppen ist die Erfüllung der Aufsichtspflicht ­zudem oft schwer zu gewährleisten. Dazu kommt, dass man beim Unterrichten für alle (Nachbar*innen, Passant*innen, Kolleg*innen, andere Schüler*innen, Eltern) sichtbar ist, da es keine Klassenzimmertür zum Schließen gibt. Auch hier helfen klare Regeln und sogenannte Raumanker. Zum Beispiel kann gelten, dass bei Aufstellung am Beet die Lehrkraft das Wort hat und alle aufmerksam zuhören oder dass Verletzungen sofort gemeldet und ins Unfallbuch eingetragen werden. Zudem muss sich jeder abmelden, wenn man den Schulgarten, z. B. für einen Toilettengang, verlässt. Manchmal hat man einfach zu wenig zeitliche, personelle oder finanzielle Ressourcen. Über die Schulgartenstunden hinaus können Sachunterrichts-, aber auch Deutsch-, Mathematik- sowie Werkenstunden in Kooperation mit den jeweiligen Fachlehrkräften fächerübergreifend für gemeinsame Projekte genutzt werden. Über das Einwerben von Geldern vom Schulförderverein

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oder Spenden von Firmen lässt sich das Schulgartenbudget aufstocken. Auch können Ernteprodukte sowie Gestaltungsarbeiten der Kinder bei Schulfesten verkauft werden. Zudem helfen Kooperationen mit Partner*in­ nen an außerschulischen Lernorten, wie Naturkundemuseen, Gärtnereien, Blumenläden, Bioläden, Supermärkten oder Marktständen. Zum Schluss: Kind und Garten – (Wie) passt das eigentlich zusammen? Kinder … … leben im Moment, handeln kurzentschlossen und spontan, sind sehr neugierig, lernen und begreifen entdeckend-erkundend Fakten und Zusammenhänge, arbeiten stürmisch und kurzzeitig intensiv, interessieren sich eher für Tiere (beobachten). Erwachsene … … planen vorausschauend, handeln in der Regel wohlüberlegt und besonnen, sind oft altklug (im Sinne von jahrtausendealtes Wissen anwendend), nutzen gestaltend-ordnend Wissen und Zusammenhänge, arbeiten akribisch und langfristig durchhaltend, interessieren sich eher für Pflanzen (betrachten). Analog kann man hier zur Verdeutlichung auch das Wandern im Wald betrachten: Kinder rennen, bleiben stehen, rennen, bleiben stehen – mal rückwärts, mal vorwärts … Erwachsene gehen durchgängig in gleichem Tempo, halten vielleicht mal kurz inne und laufen dann immer weiter vorwärts … Betrachtet man diese, zugegebenermaßen etwas stereotype, Charakte­ risierung typischer Eigenschaften von Kindern und Erwachsenen, drängt sich zum Abschluss dieses Beitrages über den Schulgarten und seine Potenziale und Merkmale die Frage auf: Inwieweit eignet sich das Gärtnern – als eine besondere Form der Naturerfahrung36 und als typisches Erwachsenenhobby – überhaupt für die kindliche Bildung? Die Antwort ist: sehr gut, wenn es kindgerecht gestaltet wird. Hierbei geht es zum einen um die Einhaltung allgemeiner Unterrichtsprinzipien, wie z. B. Handlungsorientiertheit, Anschaulichkeit und Lebensweltbezug. Zum anderen geht es um die Bewusstheit der Lehrkraft über die o. g. Kontroversen zwischen kindlichen und erwachsenen Verhaltensweisen 36 Die Bedeutung von Naturerfahrungen im Allgemeinen ist ausführlich nachzulesen in: Andreas Raith / Armin Lude: Startkapital Natur. Wie Naturerfahrung die kind­ liche Entwicklung fördert, München 2014. Das Gärtnern stellt eine besondere Form der Naturerfahrung dar, da man hierbei aktiv verändernd und gestaltend in die Natur ein-greift, was eine Reflexion über den Umgang mit natürlichen Ressourcen geradezu provoziert.

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Abb. 14: Schulgartenbibliothek – Auslage von Fachbüchern zum Sommerfest im Campus-Schulgarten der Universität Erfurt

und Vorlieben beim Gärtnern, denn nur so kann man gezielt auf die Besonderheiten des kindlichen Zeitbewusstseins, Arbeitsverhaltens und auf kindliche Ausdauer- und Konzentrationsfähigkeiten eingehen. Wichtig sind hierbei insbesondere das situative Reagieren auf spontane Ereignisse, die Motivierung über die Einsicht in die Sinnhaftigkeit des Tuns und die eigene Begeisterung sowie das Wecken von Freude an kurz- und lang­ fristigen Erfolgen im Sinne der Selbstwirksamkeit. Nicht zu vergessen ist dabei, dass Naturerfahrung niemals komplett steuerbar und sehr individuell ist. So sind selbst ein verträumtes Graben in der Erde oder das Spielen mit Wasser im Schulgartenunterricht eben nicht sinnlos. Erfolgreiche Schulgartenarbeit hängt also vor allem an pädagogisch-didaktischer Kompetenz und der grundlegenden Einstellung der Lehrkräfte zu Kindern und natürlich an ihrer eigenen Begeisterung für das Gärtnern sowie an ihrem ökologischen Interesse. Denn wie schon Cicero sagte: »Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird dir nichts fehlen.«37 37 Marcus Tullius Cicero: Ad Familiares IX , Brief IV an Varro, in: Haferklees Ausblicke, 2019; https://haferklee.wordpress.com/2019/05/26/bibliotheken-und-gaerten/ (Zugriff am 11. 10. 2021) und Marcus Tullius Cicero: Ad Familiares IX , Brief IV an Varro, in: Buboquote, 2022; https://www.buboquote.com/de/autor/102-cicero (Zugriff am 11. 10. 2021).

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Abbildungen Abb. 1-12, 14: Eigenes Foto, Katy Wenzel. Abb. 13: Seminarvorlage Katy Wenzel.

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Schrebergärten – einst und jetzt Caterina Paetzelt

Die Bezeichnung Schrebergarten wird heute als Synonym für einen Kleingarten verwendet. Unter einem Kleingarten versteht man ein als Gartenland definiertes Areal. Dort bildet eine Vielzahl an Parzellen den Verein, der sich selbst verwaltet. Die Pächterinnen und Pächter sind Vereins­ mitglieder und zahlen neben den Pachtzinsen verbrauchsabhängige Neben­ kosten für Strom und Wasser. In jedem Verein gibt die Gartenordnung bzw. Satzung Regeln für das Miteinander vor. Darüber hinaus gibt es das Bundeskleingartengesetz. Bei der Betrachtung der historischen Entwicklung des Kleingarten­ wesens sind die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ebenen zu beachten. Es lassen sich gesamtgesellschaftliche Prozesse an der Geschichte des Kleingartenwesens ablesen, denn das Kleingartenwesen reagierte ­immer auch auf die jeweiligen Veränderungen. Einerseits war in Krisenzeiten ein sprunghafter Anstieg der Anzahl an Kleingärten zu verzeichnen. Andererseits ging in wirtschaftlich stabilen Zeiten die Anzahl der Kleingärten zurück bzw. stagnierte.1 Industrialisierung & städtische Misere

Das 19. Jahrhundert war geprägt von Umbrüchen im wirtschaftlichen und sozialen Gefüge. Es begannen viele Entwicklungen, deren Ergebnisse bis in die Gegenwart hineinwirken. In den europäischen Staaten wurden Verfassungen erarbeitet, Parteien gegründet und es entwickelten sich im ­Rahmen rechtsstaatlicher Ordnungen zunehmend demokratische Strukturen. Ausgehend von Großbritannien, vollzog sich in vielen Ländern der entscheidende Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Er­ findungen und technische Entwicklungen veränderten die Produktions­ bedingungen in den Fabriken und begünstigten die Fertigung von ­Massenproduktionen. Die Eisenbahn als neues Transportmittel beschleunigte das Reisen, den Warenverkehr und führte zudem zum Aufschwung der Stahlindustrie. 1 Vgl. Sabine Verk: Laubenleben. Eine Untersuchung zum Gestaltungs-, Gemeinschaftsund Umweltverhalten von Kleingärtnern, Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutsch­ land Bd. 86, Münster / New York 1994, S. 27.

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Erst mit der Reichsgründung 1871 und der Sozialgesetzgebung erfolgten in Deutschland die Regulierung der Sonntagsarbeit, das Verbot von Kinder­arbeit in Fabriken und Bergwerken sowie die allmähliche Einführung von Sozialversicherungen. Insgesamt stieg die Gesamtbevölkerung rasant und die Bevölkerungszahlen in den Großstädten stiegen besonders durch den Zuzug von Arbeitssuchenden aus ländlichen Gebieten. Im Zuge der sogenannte Landflucht wanderten Arbeitskräfte in die Städte mit neu entstandenen Industrien ab. Fehlende soziale Absicherung, 16-StundenTage und sich stetig verschlechternde Wohnverhältnisse waren bei der Arbeiterschaft die Regel. Dem rapiden Wachstum der Städte konnte kaum ein ausreichender Wohnungsbau entgegengesetzt werden. Es entstanden Mietskasernen mit zahlreichen engen Hinterhöfen, um die Grundfläche maximal bebauen zu können. Die sozialen Begleit- und Folgeprobleme des Übergangs von der Agrarzur Industriegesellschaft traten immer deutlicher hervor. Da die Mietpreise schneller stiegen als die Löhne der Arbeiterschaft, war die allgemeine Wohnungsknappheit mit einer steigenden Anzahl von Wohnungslosen verbunden. Große Teile der Stadtbevölkerung lebten in Armut. Daraus resultierte eine gesundheitliche Misere: hohe Kindersterblichkeit und Ausbreitung von Seuchen (z. B. Tuberkulose) aufgrund der schlechten und unhygienischen Wohn- und Lebensverhältnisse. Wohlfahrtsorganisationen, bürgerliche Vereine und Unternehmer nahmen sich auf vielfältigste Art der rasch ansteigenden Zahl Bedürftiger an. Mitunter gab es Überschneidungen zwischen Fürsorge und dem Anlegen von kleinen Gärten in der Stadt. Ursprungslinien des Kleingartenwesens

Die Entwicklung der Kleingärten lässt sich keinesfalls auf einen einzelnen Gründer oder Vorläufer zurückführen. Es werden sechs verschiedene Ursprungslinien für das heutige Kleingartenwesen unterschieden. Die ersten genutzten kleinen Gärten wurden als Armengartenanlagen A ­ nfang des 19. Jahrhunderts in Kappeln an der Schlei eingerichtet. Des Weiteren entwickelten sich Gärten als Anlagen von Fabriken und Institutionen, Gärten unter der Verwaltung des Roten Kreuzes, die Berliner Lauben­pieper, Gärten der Naturheilbewegung und die Schrebergärten. Der erste Schreberverein wurde 1864 in Leipzig ausgehend von der Forderung des Orthopäden Dr. Moritz Schreber (1808-1861) nach Spielund Tummelplätzen für die Kinder der Großstadt durch den Pädagogen Ernst Innocenz Hauschild gegründet. Das gärtnerische Element – anfänglich als Kinderbeete gedachte Bereiche, wo den jungen Gästen des

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Abb. 1: Schreberverein der Westvorstadt, Leipzig 1924

platzes die Natur nähergebracht werden sollte – wurde 1868 durch den pensionierten Oberlehrer Karl Gesell hinzugefügt. Diese Bereiche etablierten sich aufgrund der hohen Nachfrage der Erwachsenen in größerer Ausdehnung am Rand der Spielwiese als erste Schrebergärten. Diese ca. 50 qm großen Areale waren durch kleine Zäune unterteilt (s. Abbildung 1) und die Nutzer und Nutzerinnen mussten eine Pachtzahlung an den Verein leisten. Unabhängig von der Ursprungsform erfüllten die kleinen Gärten verschiedene Funktionen: Neben der Möglichkeit zur Verbesserung der ­Ernährungssituation konnten die Pächter und Pächterinnen dort ihre – wenn auch knappe – Freizeit zur Erholung in der Natur verbringen. Die Vereine boten weiterhin sportliche Aktivitäten und Möglichkeiten zur Weiterbildung (z. B. durch Vorträge oder dem Vorhalten einer Bibliothek) an. Für die Kinder der Pächterfamilien und des Wohnumfeldes wurden ebenso Angebote mit Fokussierung auf gesundheitsfördernde Aktivitäten gemacht. So wurden Spielplätze angelegt, Sportspiele angeboten, Wanderungen unternommen oder eine Betreuung in den Ferienzeiten sicher­ gestellt.

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Absicherung durch Kleingartenrecht

Fehlender Kündigungsschutz, willkürliche Pachtpreisgestaltung sowie die fehlende staatliche Legitimierung erschwerten viele Jahre die Sicherung von Kleingartenanlagen. Die durch den Ersten Weltkrieg angestiegene ­Lebensmittelknappheit verdeutlichte immer mehr die Notwendigkeit der Versorgung mit Obst und Gemüse aus eigenem Anbau. Die weiterhin ­gravierende Wohnungsnot – nicht zuletzt auch aufgrund der kriegsbedingten Stagnation des Baugeschehens – führte zu einer Billigung von Lauben als Wohnersatz (s. Abbildungen 2 und 3).2 Im Allgemeinen stieg nach dem Ersten Weltkrieg die Anerkennung für das Klein­gartenwesen. Die Förderung des Kriegsgemüsebaus und die ersten kommunalen Rechtsschutzmaßnahmen für Kleingärtner und Kleingärtnerinnen boten den Verfechtern der Kleingartenidee überzeugende Argumente. Ebenso wurden die Kleingartenbestrebungen in der Diskussion um die Wohnungsreform weitergetragen. Neben der Versorgung mit Lebens­mitteln und einer Verbesserung der Gesundheit sollten Kleingärten »in der Richtung der so notwendigen Reform der Siedlungsverhältnisse unserer Städte, der Schaffung von mehr Luft, Licht und mehr Zusammenhang mit dem Boden«3 unterstützen. Somit wurden Kleingärten nicht mehr nur als Versorgergärten wahrgenommen, sondern ebenso als soziale und städtebauliche Komponente. Die Regierung hatte 1916 erste Verordnungen zur Förderung des Kleingartenwesens erlassen. So wurden zum Beispiel die Pachtpreishöhe limitiert4 oder die Bereitstellung von städtischem Gelände zur Gartenbestellung5 verpflichtend. Am 31. Juli 1919 trat in Weimar die Nationalversammlung der im Januar gewählten Volksvertreter zusammen. Als eines der ersten Reichsgesetze wurde die Kleingarten- und Kleinpachtlandordnung beschlossen. Diese Anerkennung auf oberster legislativer Ebene war ein Meilenstein. Eine rechtliche Regelung für Kleingärten gab es zu diesem Zeitpunkt nur noch in Österreich und England. Der spätere Präsident des Reichsverbandes – Otto Albrecht – fasste die Vorteile folgendermaßen zusammen: 2 Vgl. Hartwig Stein: Inseln im Häusermeer. Eine Kulturgeschichte des deutschen Klein­ gartenwesens bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Frankfurt am Main 1998, S. 384 ff. 3 Karl von Mangoldt: Vom Erfolg und vom weiteren Ausbau der Kleingartenbestrebungen, hg. von Deutscher Verein für Wohnungsreform, Frankfurt am Main 1915, S. 2. 4 Vgl. Reichsgesetzblatt Nr. 64, Bekanntmachung über die Festsetzung der Pachtpreise von Kleingärten, Nr. 5124, o. O. 1916, S. 234 f. 5 Vgl. Reichsgesetzblatt Nr. 64, Bekanntmachung über die Festsetzung der Pachtpreise von Kleingärten, Nr. 5125, o. O. 1916, S. 236.

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Abb. 2: Annonce, 1928

Abb. 3: Annonce, 1924

Erstens: Es hat für das Kleingartenwesen das parasitäre und demora­ lisierend wirkende private Generalpächtertum beseitigt. Zweitens schuf es eine geeignete Grundlage zur Festsetzung von angemessenen Pachtpreisen. Drittens wurde das Recht der Aufkündigung des Pachtvertrages durch den Bodeneigentümer auf das nachzuweisende Vorliegen wichtiger Gründe beschränkt. Viertens ist für den Austrag von Pachtstreitigkeiten ein volkstümliches und paritätisches Schiedsverfahren eingerichtet. Und fünftens erlaubt das Gesetz in Fällen dringender Bedürfnisse die Vornahme von Zwangsanpachtungen zugunsten von Kleingartenbedürftigen.6

6 Otto Albrecht: Kleingartenwesen, Kleingartenbewegung und Kleingartenpolitik, in: Soziale Zeitfragen, Heft 77, Berlin 1924, S. 8.

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Strukturelle Entwicklung

In dem bereits 1909 in Berlin gegründeten Zentralverband deutscher ­Arbeiter- und Schrebergärten (ZdASG) waren fast alle der aus den Ursprungslinien hervorgegangenen Verbände vereint. Politische Differenzen erschwerten die Zusammenarbeit zwischen dem ZdASG und den Berliner Lauben­kolonisten. Deren Dachverband war 1919 der Zentralverband der Klein­gartenvereine Deutschlands (ZvKD). Im Unterschied zu den aus bürger­lichen Wohlfahrtsbestrebungen entstandenen und entwickelten Ver­ einen waren die Bestrebungen des ZvKD proletarisch-demokratischer ­Natur.7 Die Bevormundung durch gesellschaftlich höhergestellte Personen und Institutionen, wie es die unter Patronatsverfassung stehenden Arbeiter­ gärten des Roten Kreuzes erfuhren, wurde abgelehnt.8 Zur Herstellung einer Einigung aller Kleingartenverbände lud der ZvKD zu Pfingsten 1921 nach Berlin zum 1. Reichskleingärtnertag ein (s. Abbildung 4). Allerdings blieben viele Mitgliedsvereine des ZdASG diesem Treffen fern. Als Vertreter des ZdASG nahm Heinrich Förster mit folgender Forderung an den Verhandlungen teil. Die zu Pfingsten 1921 in Berlin versammelten Vertreter des Zentral­ verbandes deutscher Arbeiter- und Schrebergärten, des Zentralverbandes der Kleingartenvereine Deutschlands und der noch nicht zentral zusammengeschlossenen Verbände und Vereine fordern einmütig den Zusammenschluß sämtlicher kleingartenbaulichen Organisationen zu einem einheitlich geleiteten »Reichsverband der Kleingartenvereine Deutschlands«.9 Die offizielle Gründung des Reichsverbandes der Kleingartenvereine Deutsch­ lands (RVKD) erfolgte auf dem 2. Reichskleingärtnertag am 14. August 1921 in Bremen. Der vorhergehende Ausgangspunkt der Diskussionen über einen Zusammenschluss wurde in der Satzung wie folgt geregelt: 1. Der Reichsverband der Kleingarten-Vereine Deutschlands bezweckt unter Fernhaltung parteipolitischer und konfessioneller Bestrebungen den Zusammenschluß aller Inhaber von Kleingärten (Kleinpacht­gärten, 7 Vgl. Gert Gröning / Joachim Wolschke-Bulmann: Von Ackermann bis Ziegelhütte. Ein Jahrhundert Kleingartenkultur in Frankfurt am Main, Studien zur Frankfurter Geschichte 36, Frankfurt a. M. 1995, S. 42 ff. 8 Vgl. Stein: Inseln im Häusermeer (Anm. 2), S. 75 ff. 9 Heinrich Förster: Der Reichsverband der Kleingartenvereine Deutschlands 1921 bis 1931, in: ders. u. a.: Zur Geschichte des deutschen Kleingartenwesens, Schriften des RVKD Nr. 21, Frankfurt a. M. 1931, S. 44.

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Abb. 4: 1. Reichskleingärtnertag, Pfingsten 1921, in Berlin-Neukölln

Laubengärten, Schrebergärten, Arbeitergärten, Familiengärten und ähn­ lichen) des Deutschen Reiches zum Zwecke eines gemeinsamen Wirkens im Sinne der auf der Pfingsttagung 1921 beschlossenen Grundsatzforderungen der Kleingartenbewegung.10 Die uneinheitliche Zuordnung zu verschiedenen Ämtern (Liegenschafts­ amt, Tief bauamt, Wohnungsamt, Wohlfahrt)11 in der föderalen Republik führte zu einer ungleichen Struktur und Wahrnehmung der Belange der Kleingärtner. Die Auffassungen und Regelungen der Kleingartenämter waren daher ebenso vielfältig. Dies erschwerte die weitere Etablierung eines einheitlichen Kleingartenwesens auf behördlicher Seite. Der Reichsverband (s. Abbildung 5) verfolgte in erster Linie die Festigung und Strukturierung des Kleingartenwesens, eine gerechte Regelung der Pachtpreise und die Errichtung von Dauerkolonien (s. Abbildung 6). Dazu bedürfte es einer ausgedehnten Öffentlichkeitsarbeit und der Ver­ ankerung von Dauerland in städtebaulichen Planungen. Zur Argumentation wurde angeführt:

10 Satzung des Reichsverbandes der Kleingarten-Vereine Deutschlands, in: Garten und Kind – Zeitschrift der mittel-deutschen Schrebergärtner 1(18 /19), 1921, S. 278. 11 Vgl. Stein: Inseln im Häusermeer (Anm. 2), S. 446.

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Abb. 5 (oben): Signet des Reichs­ verbandes der Kleingartenvereine Deutschlands Abb. 6 (rechts): Deckblatt der Broschüre »Schafft Dauerkolonien« [bearbeitet], ca. 1929

Das Kleingartenwesen ist ein wichtiger Faktor auf dem Gebiete der Volkserziehung und der Volksgesundheit, vor allem aber der Jugend­ fürsorge; das waren die zwei mächtigen Grundpfeiler, auf denen das Gebäude des deutschen Kleingartenwesens dauernden Bestand haben könnte.12 Aussagekräftige statistische Angaben zur Entwicklung der Kleingärten ­liegen erst ab dem Jahr 1928 vor. In den 33 Provinz- bzw. Regierungs- und Landesverbänden mit insgesamt 3.559 Vereinen wurde eine Gesamt­ mitgliederzahl von 414.915 ermittelt.13 Die Fläche der den Mitglieder­ verbänden angehörigen Kleingärten wurde bis 1933 mehr als verdoppelt: Waren es im Jahr 1928 17.065 Hektar, so umfasste die Fläche der Mitglieds­ verbände 37.565 Hektar im Jahr 1933.14 Kleingartenwesen im Nationalsozialismus

Nach der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler erfolgte auf allen Ebenen die politische Gleichschaltung. Ziel war eine umfassende nationalsozia­ listische Durchdringung der gesamten Gesellschaft, die Abschaffung der 12 Festschrift zum 8. Reichskleingärtnertag 1931, o. O. 1931, S. 9. 13 Vgl. Sechster Reichs-Kleingärtnertag zu Breslau am 28. und 29. Juli 1928, Heft 15, Schriften des Reichsverbandes, Frankfurt a. M. 1928, S. 30 f. 14 Vgl. Paul Brando: Kleine Gärten – einst und jetzt. Geschichtliche Entwicklung des deutschen Kleingartenwesens, Hamburg 1965, S. 42.

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Abb. 7: Übersicht über die Größe der dem RVKD unmittelbar angeschlossenen Verbände, Stand: 1. 7. 1927

­ emokratie, die Alleinherrschaft der NSDAP, die Herstellung einer homo­ D genen, auf einer rassistischen Ideologie aufgebauten Gesellschaft durch eine komplexe, institutionelle Kontrolle des öffentlichen und privaten ­Lebens und eine entsprechende weltanschauliche Erziehung und Propaganda. Die Gleichschaltung des Kleingartenwesens erfolgte auf dem Reichs­ kleingärtnertag vom 28. bis zum 31. Juli 1933 in Nürnberg. »Durch ein­ stimmige Annahme der von ihm vorgelegten Satzung des neuen Bundes wurde der Reichsverband der Kleingartenvereine Deutschlands in den neuen Kleingärtner- und Kleinsiedlerbund überführt.«15 Formell wurde der RVKD also nicht aufgelöst, sondern in den – zu diesem Zweck an diesem Tag gegründeten – Reichsbund überführt (s. Abbildung 7). Dieser war dem Amt für Agrarpolitik / Reichsnährstand unterstellt.16 Auch die bisherige Angabe der Parteilosigkeit wurde in den Satzungen geändert. Nun wurde ausdrücklich festgehalten, dass der Reichsbund »im Dienst des nationalen Staates«17 agiert. Nach der Überführung in den 15 Hans Eberhardt: Nürnberg, in: Garten und Kind – Zeitschrift der sächsischen Schreber­gärtner 13(9), 1933, S. 130-131, hier S. 131. 16 Vgl. Stein: Inseln im Häusermeer (Anm. 2), S. 641 ff. 17 O. V.: An die Landes-, Provinzial- und Regierungsbezirksverbände, in: Kleingartenwacht 10(5), 1933, S. 45.

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Reichsbund war das gesamte Kleingarten­ wesen gleichgeschaltet und wurde in die nationalsozialistischen Strukturen eingebun­ den. Der Reichsbund der Kleingärtner und Kleinsiedler Deutschlands e. V. wurde 1938 in Reichsbund Deutscher Kleingärtner (s. Abbildung 8) umbenannt.18 Der Reichsbundführer Hans Kammler fasst in der ersten Ausgabe der neuen Verbandszeitschrift Der Kleingärtner und Klein­ siedler19 im Oktober 1933 die erfolgte Gleich­ schaltung zusammen: »Dank der guten und uneigennützigen Vorarbeiten der mit der Gleichschaltung betrauten Volksgenos­ Abb. 8: Signet des Reichsbunsen gelang es ohne besondere Hemmundes Deutscher Kleingärtner gen, die Organisation des Reichs­verbandes zu übernehmen und ihn dort neu einzugliedern.«20 In der Tat lassen sich zwischen den euphorischen Meldungen zur »neuen Zeit« keine Berichte über Schwierigkeiten oder Widerstände finden. Verweigerer oder politisch Unliebsame wurden vorab entlassen und Zuständigkeiten mit NSDAP-Anhängern besetzt. Der Prozess der organisatorischen Willensbildung21 wurde von oben nach unten durchgeführt. Auf allen Ebenen wurden die Ziele des Nationalsozialismus indoktriniert, beschworen und umgesetzt. Die ernährungspolitische Bedeutung der Kleingärten wurde fortwährend betont. Der nationalsozialistische Staat wollte die Nahrungsmittelproduktion steigern und von Importen unabhängig sein. Kleingärtner und Kleingärtnerinnen sollten ihren Garten optimal als Anbaufläche nutzen, Verluste vermeiden, Schädlingsbekämpfung durchführen und Vorratswirtschaft betreiben sowie die angebotenen Schulungsveranstaltungen besuchen. Der Kleingärtner dient mit der durch ihn ermöglichten Selbstversorgung von einer Million deutscher Familien mit Frischnahrungsmitteln der Ernährungssicherung des deutschen Volkes aus heimischer Scholle. 18 Vgl. Stein: Inseln im Häusermeer (Anm. 2), S. 645f. 19 Die vom RVKD seit 1923 herausgegebene Verbandszeitung Kleingartenwacht wurde nach der Juli-Ausgabe 1933 eingestellt. 20 Hans Kammler (Führer des Reichsbundes der Kleingärtner und Kleinsiedler Deutschlands), in: Der Kleingärtner und Kleinsiedler 1933-1934(1), 1933, S. 4. 21 Vgl. Stein: Inseln im Häusermeer (Anm. 2), S. 646.

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Er wird deshalb mit voller Berechtigung in die Erzeugungsschlacht und den zweiten Vierjahresplan eingespannt, und es ist eine der vornehmsten Aufgaben des Reichsbundes, sämtliche deutschen Kleingärtner fachlich so aufzuklären, daß sie die Scholle einwandfrei und mit größtmöglichem Erfolg bearbeiten.22 Der Reichsbund betonte immer wieder die Wichtigkeit von Dauerkleingärten. Doch weder die dauerhafte Einrichtung neuer Gartenanlagen noch die ausreichende Beschaffung von Ersatzland konnten erreicht werden. Zur Steigerung der Ertragsergebnisse wurde das Schulungswesen ab 1934 erheblich ausgebaut. Der Fachliche Schulungsapparat des Reichsbundes ­bildete jährlich mehrere tausend Schulungsleiter aus, die jährlich viele zehntausend Schulungsabende durchführten.23 Trotz allen Anstrengungen reichte die Produktion von Obst und Gemüse nicht aus – ab 1940 waren Versorgungsmängel klar erkennbar. Mit der Brach- und Grabelandaktion vom 21. März 1940 sollte der Anbau in umgewandelten Parks, Blumen­ rabatten und Spielplätzen nochmals gesteigert werden.24 Das Kleingartenwesen wurde auch indirekt in die Kriegsvorbereitungen – bei der Fallschirmproduktion – miteinbezogen.25 Die Reichsfachgruppe Seidenbau organisierte zentral die entsprechenden Schulungen, die Lieferung von Maulbeerbüschen und die Sammlung der Kokons in den verarbeitenden Spinnhütten.26 Vereinsheime wurden ab 1939 zweckentfremdet und von der Wehrmacht beschlagnahmt. Teile der in den umliegenden Fabriken eingesetzten Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen wurden in Vereinshäusern unter­ gebracht.27 Oftmals waren Flakstationen in direkter Nähe zu Kleingarten­ anlagen aufgestellt und die Soldaten dann in Gebäuden der Vereine einquartiert.

22 O. V.: Dritter Reichs-Kleingärtnertag in Chemnitz, in: Sondernachrichten des Reichs­ bundes der Kleingärtner und Kleinsiedler Deutschlands e.V. 2(7-9), 1937, S. 140. 23 Vgl. Stein: Inseln im Häusermeer (Anm. 2), S. 667 f. 24 Vgl. Stein: Inseln im Häusermeer (Anm. 2), S. 670. 25 Vgl. o.V.: Seidenbau in Kleingärten, in: Min Land – Monatszeitung der Bremer Kleingärtner und Siedler 14(2), 1938, S. 25. 26 Jeromin, Deborah: Seidenraupenzuckt im Hoffnung-West e. V. 1926, KGV »Hoffnung-West 1926« e. V., 2022; https://www.hoffnungwest.de/Seidenraupenzucht.htm# (Zugriff am 30. 5. 2022). 27 Vgl. Anne Friebel: »Das Lager ist der Saal einer Gartenvereinskantine«, in: Kleine Gärten – einst und jetzt. Mitteilungen des Vereins Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V., 24. Folge, Leipzig 2016, S. 10-12.

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Nachkriegsjahre und Deutsche Teilung

Die Nachkriegsjahre wurden von den alliierten Siegermächten bestimmt. Militärregierungen übten in den vier Besatzungszonen und Berlin die oberste Staatsgewalt aus. Der Neuanfang gestaltete sich äußerst schwierig: Millionen Männer waren gefallen oder in Kriegsgefangenschaft, Flüchtlinge und Vertriebene strömten massenhaft in die Besatzungszonen und Hundert­tausende Angehörige wurden vermisst. Armut, Krankheiten und Hunger prägten den Alltag inmitten von Trümmerlandschaften. Für den Anbau von Obst und Gemüse wurden neben den Kleingärten auch öffentliche Parks, Baulücken und Brachen genutzt. Die Teilung Deutschlands wurde mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschlands am 23. März 1949 sowie der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949 manifestiert. Mit der Einrichtung einer Sperrzone im Mai 1952 um die Grenze machte die DDR die Abriegelung deutlicher. Nur an einigen Stellen war die Einreise in die DDR noch erlaubt. Mit dem Bau der Mauer in der Nacht vom 12. zum 13. August 1961 in Berlin wurden alle Grenzanlagen verstärkt. Bis 1989 blieben beide deutsche Staaten getrennt. Die Erste Westfälische Kleingärtnerwoche am 19. August 1949 in ­Bochum lieferte den Rahmen für die Gründung des Verbandes Deutscher Kleingärtner e. V. (VDK) (s. Abbildung 9). Die beiden Verbände der briti­ schen (November 1946) und amerikanischen (Mai 1947) Zone wurden vor ­ab aufgelöst und anschließend in den VDK integriert. Mitglieder im Ver­ band waren alle Kleingärtnerverbände der alliierten Zonen und Berlins.28 Der Verband erstrebt den Zusammenschluß aller zu Landesverbänden zusammengefaßten Kleingärtnerorganisationen. Er dient ausschließlich gemeinnützigen Zwecken unter Ablehnung parteipolitischer und konfessioneller Bestrebungen. Er will seine Mitglieder bei der Erfüllung der auf dem Gebiete des Kleingartenwesens ihnen obliegenden Aufgaben unterstützen, vor allen Dingen in der Frage der Landbeschaffung, der Landsicherung und der Landnutzung. Insbesondere will er im Interesse der Kleingärtner auf die Gesetzgebung einwirken.29 Inklusive der Grabelandparzellen waren 1949 ca. 1 Million Mitglieder dem VDK angeschlossen. Da viele dieser behelfsmäßig und für begrenzte Zeit eingerichteten Flächen aufgrund von Wiederauf baumaßnahmen geräumt 28 Vgl. Brando: Kleine Gärten – einst und jetzt (Anm. 14), S. 84 ff. 29 Brando: Kleine Gärten – einst und jetzt (Anm. 14), S 91. – Satzung VDK , Zweck und Aufgaben.

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wurden, sanken die Mitgliederzahlen des VDK auf 520.000 im Jahr 1957. Zum XIII. Verbandstag am 23. Oktober 1973 in Hamburg erfolgte die Umbenennung des VDK in Bundesverband Deutscher Gartenfreunde (BDG). Die sowjetische Besatzungszone wurde von Juni 1945 bis zur Gründung der DDR von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) regiert. Die Gebiete der Länder Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen wurden bis zur Eingliederung in die DDR 1949 als Verwaltungseinheiten der SMAD geführt. Anfangs wurden von der SMAD für die Länder unterschiedliche Entscheidungen getroffen. So wurden der Landes­ Abb. 9: Signet des Ververband der Kleingärtner- und Kleinsiedler-­ bandes Deutscher KleinVereine Thüringens (1946), der Landesverband gärtner Mark Brandenburg der Kleingärtner und Sied­ ler (1947) und der Landesbund Sachsen-Anhalt für Kleingärtner (1947) gegründet, während es in Sachsen und Mecklenburg nicht zu solchen Gründungen.30 Mit der Gründung der DDR erfolgte schrittweise die Umwandlung in 15 Bezirke. Zur Sicherung der Volksernährung sollten auch die Ressourcen des Kleingartenwesens ausgeschöpft werden. Über die Form eines übergeordneten Zusammenschlusses wurde aufgrund von Unklarheiten bezüglich Rechtsfähigkeit und Zuständigkeiten allerdings bis zur Entstehung der Kleingartenhilfe des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) 1949 debattiert.31 Fortlaufende Kontroversen zwischen Kleingärtnern und FDGB -Funktionären führten Ende 1950 zum gemeinsamen Entschluss, die Kleingartenhilfe als eigenständige Massenorganisation aufzubauen.32 Allerdings verhinderte das Zentralkomitee der SED durch Ablehnung einer Beschlussvorlage vier Tage vor dem geplanten Verbandstag (15.-17. Mai 1953 in Leipzig) die Gründung. Die Parteiführung sah in der ­geplanten Organisation mit bis zu einer Million Mitgliedern einen Un­ 30 Vgl. Günter Katsch / Lisa Katsch: Das Kleingartenwesen in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR , hg. von Förderverein Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V., Wissenschaftliche Schriften Heft 1, Leipzig 2008, S. 13. 31 Vgl. Isolde Dietrich: Hammer Zirkel Gartenzaun. Die Politik der SED gegenüber den Kleingärtnern, Berlin 2003, S. 38 ff. 32 Vgl. Dietrich: Hammer Zirkel Gartenzaun (Anm. 31), S. 19.

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sicherheitsfaktor für den Aufbau einer so­zialistischen Republik.33 Statt in einer zentralisierten Massenorganisation arbeiteten die Verbände vorerst auf Ortsund Kreisebene und unterstanden der Aufsicht der Räte der Kreise.34 Auf ­Initiative der Fachkommissionen in den Kreisverbänden und mit Zustimmung des Zentralkomitees der SED erfolgte am 28. und 29. November 1959 in Leipzig die Gründung des Verbandes der Abb. 10: Signet des Verbandes Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüch­ der Kleingärtner, Siedler und ter (VKSK) (s. Abbildung 10). Kleintierzüchter In dem Verband waren ebenso die Fachrichtungen: Rassekaninchenzüchter, Rassegeflügelzüchter, Ziergeflügelzüchter, Exoten- und Kanarienzüchter, Edelpelztierzüchter, Ziegenund Milchschafzüchter, Rassehunde- und Rassekatzenzüchter, Bienenzüchter angegliedert. Dem Verband wurde bis 1976 vonseiten der Partei- und Staatsfunktionäre noch mit Skepsis begegnet. Trotz offizieller Anerkennung der Führungsrolle der SED und entsprechender politischer Bekundungen in Satzungen und Statuten erhielt der VKSK kaum Unterstützung bei der Erhaltung oder Neueinrichtung von Kleingartenland.35 Doch allmählich wandelte sich die Haltung der Politik gegenüber den Kleingärtnern und Kleingärtnerinnen. Ende der 1970er Jahre wurden zunehmend die »vorbildliche Erfüllung«36 der Verbandsaufgaben sowie die »über den eigenen Bedarf hinaus erzeugten Qualitätsprodukte«37 von staatlicher Seite gelobt. Durch den Beschluss des Ministerrates der DDR vom 15. September 1977 wurde dann auch offiziell die Förderung der Kleingärten festgeschrieben. Die »planmäßige Erhöhung der Anzahl der Kleingartenanlagen«38 sollte durch eine Zusammenarbeit von VKSK mit Betrieben und Genossenschaften verwirklicht werden. Während in der Zeit von 1961 bis 1972 die Anzahl der Kleingarten­ vereine lediglich um ca. 100 gestiegen war, erhöhte sich deren Zahl ab den 33 34 35 36 37 38

Vgl. Dietrich: Hammer Zirkel Gartenzaun (Anm. 31), S. 21. Vgl. Dietrich: Hammer Zirkel Gartenzaun (Anm. 31), S. 22. Vgl. Dietrich: Hammer Zirkel Gartenzaun (Anm. 31), S. 31 f. Garten und Kleintierzucht 9(9), Ausgabe A, 1977, S. 3. Garten und Kleintierzucht (Anm. 36), S. 3. Karin Sahn / Berndt Musiolek: Kleingärtner, Siedler, Kleintierzüchter in Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1988, S. 125.

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Abb. 11: Verbandszeitung des VKSK , 1981

1970er Jahren rasant: Waren es 1980 ca. 700.000 Kleingärten,39 so stieg deren Zahl auf ca. 849.00040 im Jahr 1988. Durch das vom VKSK durchgeführte Wettbewerbswesen wurden Ziele formuliert wie »100 kg Obst und Gemüse auf 100 qm«41 oder »Ein schöner Garten ist ein produktiver Garten«.42 Die Erträge der Kleingärten (s. Abbildung 11) waren notwendig, um fehlende Importe auszugleichen. Ernteprodukte wurden durch vorher festgelegte und subventionierte Preise in den Verkaufsstellen des OGS (Großhandel für Obst, Gemüse, Speisekartoffeln) angekauft. Somit bot der Kleingarten neben der Erweiterung des eigenen Speiseplanes auch die Möglichkeit zur Auf besserung der Haushaltskasse. Die Politik der DDR beeinflusste die Organisation des VKSK . Rück­ blickend wird der Aufenthalt im Garten als private Nische empfunden – auch in Bezug auf eingeschränkte Reisemöglichkeiten und den ermöglichten Anbau von zusätzlichen, sonst nicht erhältlichen Nahrungsmitteln. Von der starken Anziehungskraft der Kleingärten zeugen auch die langen Wartelisten in den Vereinen.43 39 Vgl. Garten und Kleintierzucht 25(7), Ausgabe A, 1986, S. 14. 40 Vgl. Günter Katsch/Johann B. Walz: Kleingärten und Kleingärtner im 19. und 20. Jahrhundert. Bilder und Dokumente, hg. von Bundesverband Deutscher Gartenfreunde, Leipzig 1996, S. 277. 41 Günter Stengel/Reinhardt Höhn: Ratgeber für den Gartenfreund, Berlin 1978, S. 5. 42 Garten und Kleintierzucht 15(18), Ausgabe A, 1976, S. 2. 43 Katsch / Katsch (Anm. 30), S. 36.

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Wiedervereinigung

Die friedliche Revolution in der DDR führte am 9. November 1989 schließlich zum Mauerfall. Die beiden Teile Deutschlands am 3. Oktober 1990 wieder miteinander vereint. Unmittelbar nach der Maueröffnung im November 1989 wurden die ersten Kontakte zwischen den Gartenfreunden Ost und West geknüpft. Aufgrund von telefonischen Kontakten, gemeinsamen Beratungen und vor allem zahlreichen Besuchen von Gartenfreunden in beide Richtungen entstand ein reger Erfahrungs- und Informationsaustausch. Es zeigt sich, daß das über 100jährige Kleingartenwesen, das den gleichen Wurzeln entstammt, sich in ähnlicher Ausgestaltung fortgesetzt hatte, wenn auch die politische Entwicklung in beiden Staaten unterschiedlich verlief.44 Ab dem 7. Juli 1990 übernahm der Verband der Garten und Siedlerfreunde (VGS) als Rechtsnachfolger des VKSK die Organisation aller Fachrichtungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR . Bereits ab 1990 bildeten sich die ersten Verbände in den neuen Bundesländern. Diese traten bis 1995 dem BDG bei. So konnte der BDG eine Mitgliederstärke von 1 Million erreichen.45 Die Kleingärtner und Kleingärtnerinnen der ehemaligen der DDR waren im BDG gemeinschaftlich organisiert und erhielten durch Ergänzungen im geltenden Bundeskleingärtnergesetz Rechtssicherheit. Gegenwart

Aktuell bewirtschaften knapp 900.000 Hobbygärtner und -gärtnerinnen einen Kleingarten. Inkludiert man bei dieser Hochrechnung gleichfalls ­Familie und Freunde, nutzen ca. 5 Millionen Menschen einen Kleingarten. In 19 Landesverbänden sind ca. 500 Verbände mit 13.500 Vereinen zu­ sammengeschlossen. Die durchschnittliche Größe eines Kleingartens beträgt 370 qm.46 Die zu den Kleingartenvereinen gehörigen öffentlichen Flächen (Spielplätze, Schaugärten usw.) haben eine Gesamtgröße von ca. 44 Bundesverband Deutscher Gartenfreunde (Hg.): Geschäftsbericht des Bundesverbandes Deutscher Gartenfreunde. 1. 1. 1991-31. 12. 1993 zum 21. Bundesverbandstag in Bad Brückenau, 25.-28. August 1994, S. 11. 45 Vgl. Bundesverband Deutscher Gartenfreunde: Geschäftsbericht des Bundesverbandes Deutscher Gartenfreunde. 1. 1. 1994-31. 12. 1996 zum 22. Bundesverbandstag in Hamburg 8.-10. August 1997, S. 9. 46 Vgl. Bundesverband Deutscher Gartenfreunde: Zahlen und Fakten, 2022; https:// www.kleingarten-bund.de/de/bundesverband/zahlen-und-fakten/ (Zugriff am 6. 6. 2021).

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44.000 Hektar – vorrangig im urbanen Raum. Dies stellt eine unverzichtbare Infrastruktur für Stadtgrün, Stadtnatur und Stadtbewohner dar. Die Kosten für einen Kleingarten sind zwar bundesweit nicht einheitlich, aber die Pacht ist in der Regel erschwinglich. Zum Mitgliedsbeitrag kommen noch verbrauchsabhängige Nebenkosten für Strom und Wasser hinzu. Bei Abschluss eines Pachtvertrages wird noch eine Ablösesumme (zu zahlen an den Vorpächter) für die zu übernehmenden Baulichkeiten und Bepflanzungen in der Parzelle fällig. Wer einen Kleingarten bewirtschaftet und pflegt, kommt in den Genuss von Erholung, Ruhe und einem sich stets verändernden jahreszeitlichen Naturerlebnis. Wie für jedes gemeinschaftliche Miteinander gelten auch im Kleingarten Regeln und Vorschriften für alle gleichermaßen. Alle Mitglieder sind gleichgestellt, haben die gleichen Rechte und Pflichten. Die einzuhaltende kleingärtnerische Nutzung ist wesentlich, damit der Verein seine steuerliche Gemeinnützigkeit behalten kann und somit die Pachtpreise dauerhaft gering bleiben. Nur so ist sichergestellt, dass Kleingärten auch in Zukunft für alle erschwinglich bleiben. Und betrachtet man einmal das Regelwerk aus umgekehrter Sicht, so sind doch wesentlich mehr Dinge gestattet als untersagt. Bedeutung des Kleingartenwesens

Kleingärten sind ein europäisches Phänomen. Analog zur Entwicklung des Kleingartenwesens in Deutschland entstanden in vielen weiteren euro­ päischen Ländern einhergehend mit der Industrialisierung ebenso Kleingärten mitsamt der dazugehörigen Verbandsstruktur. In dem bereits 1926 gegründeten Office International du Coin de Terre et des Jardins Familiaux a. s.b.l. sind aktuell 13 Mitgliedsverbände zusammengeschlossen: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz und als besonderes Mitglied Japan.47 Kleingärten erfüllen verschiedene Funktionen. Städtebaulich haben sie als Bestandteil städtischer Grünflächen eine Ausgleichsfunktion. Die durch sie erzielte Durchgrünung trägt wesentlich zur Auflockerung der städtischen Bebauung bei und auch nachweislich zur Milderung des city heat effects in heißen Sommerphasen bei.48 Die Areale stellen aufgrund der 47 Vgl. Fédération Internationale des Jardins Familiaux: Féderation Internationale des Jardins Familiaux a.s.b.l., 2020; http://www.jardins-familiaux.org (Zugriff am 6. 6. 2021). 48 Vgl. Agnieszka Schlegelmilch: The cooling potential of allotment gardens during summer – Case study »Kleingartenkolonie Johannisberg« in Berlin, Masterarbeit TU

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­ aturnahen Bewirtschaftung ökologische Nischen und Rückzugsräume n für Flora und Fauna dar. Und nicht zuletzt sind Kleingärten ein Sozialraum, in dem Gemeinschaft auf vielfältige Weise stattfindet. Seit einigen Jahren ist die Nachfrage nach Kleingärten vor allem in den Ballungszentren erheblich gestiegen. Besonders im urbanen Raum suchen die Stadtbewohner und -bewohnerinnen ein kleines Stückchen Grün. Durch die Corona-Pandemie wurde dieser Trend zusätzlich verstärkt. Um den Bedarf decken zu können, werden vorhandene Areale nachverdichtet, um zusätzliche Parzellen zu schaffen. So werden größere Parzellen hälftig geteilt, um auf der gleichen Fläche dauerhaft zwei Kleingärten anbieten zu können. Im ländlichen Raum verläuft die Entwicklung allerdings ent­ gegengesetzt. Die Nachfrage dort sinkt seit Jahren. Parzellen stehen leer und mitunter werden Kleingartenvereine gänzlich aufgelöst. Der modernen Urbanität mit ständigem Wandel, Reizüberflutung, Lärm und der digitalisierten Arbeitswelt steht die Suche nach einem Ruhe­ pol gegenüber. Und so stellen diesbezüglich Kleingärten (und auch urbane Gemeinschaftsgärten, Stadtgärten) einen wiederentdeckten Trend dar. Dort findet man Erholung, Entschleunigung, körperliche Aktivität, einen Gestaltungsraum, die Möglichkeit sinnlicher Naturerfahrungen und gemeinschaftlichen Miteinanders sowie einen Freiraum für Kinder. Der im Zusammenhang mit der Industrialisierung erwachsene Wunsch nach einem eigenen Stückchen Grün in der Stadt hat sich bis heute erhalten. Die heute geltenden Regelungen im Bundeskleingartengesetz sowie die vielerorts erfolgten Festschreibungen in den Kleingartenentwicklungsplänen der Städte werden auch zukünftig die Flächen sichern. Auch wenn sich auf­ grund der divergenten Nachfrageentwicklung im ländlichen und urbanen Raum die Verteilung von Kleingartenanlagen im städtischen Raum konzentrieren wird, kann doch angenommen werden, dass es Kleingärten auch zukünftig geben wird und sie aufgrund ihrer Funktionen weiterhin ein relevantes Element der Stadtnatur und der Gemeinschaft bleiben werden. Ein öfteres Austummeln in freier Luft schafft besser Gewandtheit, Kraft und Jugendmuth, macht und erhält besser vertraut mit Klima und Jahreszeit, verschafft überhaupt einen viel, unaussprechlich viel gedeihlicheren Genuß der freien Luft, als eine jeweilige steifbeinige Familienpromenade.49 Berlin, 2018 (Preisträgerin Wissenschaftspreis des Bundesverband Deutscher Gartenfreunde, 2019). 49 Daniel Gottlob Moritz Schreber: Die Jugendspiele in ihrer gesundheitlichen und pädagogischen Bedeutung, in: Die Gartenlaube, Nr. 26, 1860, S. 414-416, hier S. 414.

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Kleingärtnermuseum Leipzig

Das Kleingärtnermuseum50 befindet sich inmitten des denkmalgeschützten Areals des ersten Schrebervereins – heute KGV Dr. Schreber e. V. in Leipzig. Das ursprüngliche Erscheinungsbild bzw. die Parzellenaufteilung der Gartenanlage ist bis auf einige wenige Ab- und Zugänge im nördlichen und südlichen Teil noch heute erhalten. Auch sind einige Gartenlauben erhalten, die bereits um die Jahrhundertwende errichtet wurden. Die Garten­anlage umfasst derzeit 158 Parzellen auf einer Gesamtfläche von 4,2 Hektar. Die Dauerausstellung des Museums im historischen Vereinshaus (erbaut 1896) zeigt in chronologischer Folge die Entwicklung der Ursprungslinien bis zur Gegenwart. Des Weiteren bieten drei Schaugärten Einblicke in unterschiedliche Zeiten der Kleingärtnerei. Auf einem weiteren Areal werden Veranstaltungen und Workshops im Bereich der Umweltbildung durchgeführt. Die Sammlungsbestände werden unter museologischen Gesichtspunkten geführt und wissenschaftlich bearbeitet. Das Angebotsspektrum des Kleingärtnermuseums wurde in den vergangenen Jahren erweitert. Neben Gruppenführungen und altersgerechten Angeboten der Museumspädagogik und Umweltbildung finden regelmäßig vielseitige Veranstaltungen statt. Ein stetig wachsendes Netzwerk mit unterschiedlichsten Kooperationspartnern trägt zudem zur Steigerung des Bekanntheitsgrades bei. Literatur Albrecht, Otto: Kleingartenwesen, Kleingartenbewegung und Kleingartenpolitik, in: Soziale Zeitfragen, Heft 77, Berlin 1924. Brando, Paul: Kleine Gärten – einst und jetzt. Geschichtliche Entwicklung des deutschen Kleingartenwesens, Hamburg 1965. Bundesverband Deutscher Gartenfreunde (Hg.): Geschäftsbericht des Bundesverban­ des Deutscher Gartenfreunde. 1. 1. 1991-31. 12. 1993 zum 21. Bundesverbandstag in Bad Brückenau, 25.-28. August 1994. – Geschäftsbericht des Bundesverbandes Deutscher Gartenfreunde. 1.  1.  199431. 12. 1996 zum 22. Bundesverbandstag in Hamburg 8.-10. August 1997. – Zahlen und Fakten, 2022; https://www.kleingarten-bund.de/de/bundesverband/ zahlen-und-fakten/. Dietrich, Isolde: Hammer Zirkel Gartenzaun. Die Politik der SED gegenüber den Kleingärtnern, Berlin 2003. 50 Deutsches Kleingärtnermuseum, Aachener Straße 7, 04109 Leipzig; Verein Deutsches Kleingärtnermuseum e. V.: Deutsches Kleingärtnermuseum, 2018; https:// kleingarten-museum.de/de/ (Zugriff am 30. 5. 2022).

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Eberhardt, Hans: Nürnberg, in: Garten und Kind – Zeitschrift der sächsischen Schrebergärtner 13(9), 1933, S. 130 f. Fédération Internationale des Jardins Familiaux: Féderation Internationale des Jardins Familiaux a. s.b.l., 2020; http://www.jardins-familiaux.org. Festschrift zum 8. Reichskleingärtnertag 1931, o. O. 1931. Förster, Heinrich: Der Reichsverband der Kleingartenvereine Deutschlands 1921 bis 1931, in ders. u. a.: Zur Geschichte des deutschen Kleingartenwesens, Schriften des RVKD Nr. 21, Frankfurt a. M. 1931. Friebel, Anne: »Das Lager ist der Saal einer Gartenvereinskantine«, in: Kleine Gärten – einst und jetzt. Mitteilungen des Vereins Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V., 24. Folge, Leipzig 2016, S. 10-12. Garten und Kleintierzucht 9(9), Ausgabe A, 1977. Garten und Kleintierzucht 25(7), Ausgabe A, 1986. Garten und Kleintierzucht 15(18), Ausgabe A, 1976. Gröning, Gert / Joachim Wolschke-Bulmann: Von Ackermann bis Ziegelhütte. Ein Jahrhundert Kleingartenkultur in Frankfurt a. M., Studien zur Frankfurter Geschichte 36, Frankfurt a. M. 1995. Jeromin, Deborah: Seidenraupenzuckt im Hoffnung-West e. V. 1926, KGV »Hoffnung-­ West 1926« e. V., 2022; https://www.hoffnungwest.de/Seidenraupenzucht.htm#. Kammler, Hans (Führer des Reichsbundes der Kleingärtner und Kleinsiedler Deutschlands), in: Der Kleingärtner und Kleinsiedler 1933-1934(1), 1933. Katsch, Günter / Johann B. Walz: Kleingärten und Kleingärtner im 19. und 20. Jahrhundert. Bilder und Dokumente, hg. von Bundesverband Deutscher Gartenfreunde, Leipzig 1996. Katsch, Günter / Lisa Katsch: Das Kleingartenwesen in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR , hg. von Förderverein Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V., Wissenschaftliche Schriften Heft 1, Leipzig 2008. o. V.: An die Landes-, Provinzial- und Regierungsbezirksverbände, in: Kleingartenwacht 10(5), 1933. o. V.: Dritter Reichs-Kleingärtnertag in Chemnitz, in: Sondernachrichten des Reichs­ bundes der Kleingärtner und Kleinsiedler Deutschlands e. V. 2(7-9), 1937. o. V.: Seidenbau in Kleingärten, in: Min Land – Monatszeitung der Bremer Kleingärtner und Siedler 14(2), 1938. Reichsgesetzblatt Nr. 64, Bekanntmachung über die Festsetzung der Pachtpreise von Kleingärten, Nr. 5124, o. O. 1916. Reichsgesetzblatt Nr. 64, Bekanntmachung über die Festsetzung der Pachtpreise von Kleingärten, Nr. 5125, o. O. 1916. Sahn, Karin / Berndt Musiolek: Kleingärtner, Siedler, Kleintierzüchter in Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1988. Satzung des Reichsverbandes der Kleingarten-Vereine Deutschlands, in: Garten und Kind – Zeitschrift der mitteldeutschen Schrebergärtner 1(18 /19), 1921. Schlegelmilch, Agnieszka: The cooling potential of allotment gardens during summer – case study. Kleingartenkolonie Johannisberg in Berlin, Masterarbeit TU Berlin, 2018.

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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Die Jugendspiele in ihrer gesundheitlichen und pädagogischen Bedeutung, in: Die Gartenlaube, Nr. 26, 1860, S. 414-416. Sechster Reichs-Kleingärtnertag zu Breslau am 28. und 29. Juli 1928, Heft 15, Schriften des Reichsverbandes, Frankfurt a. M. 1928. Stein, Hartwig: Inseln im Häusermeer. Eine Kulturgeschichte des deutschen Kleingartenwesens bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1998. Stengel, Günter / Reinhardt Höhn: Ratgeber für den Gartenfreund, Berlin 1978. Verein Deutsches Kleingärtnermuseum e. V.: Deutsches Kleingärtnermuseum, 2018; https://kleingarten-museum.de/de/. Verk, Sabine: Laubenleben. Eine Untersuchung zum Gestaltungs-, Gemeinschaftsund Umweltverhalten von Kleingärtnern, Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland Bd. 86, Münster / New York 1994. von Mangoldt, Karl: Vom Erfolg und vom weiteren Ausbau der Kleingartenbestrebungen, hg. von Deutscher Verein für Wohnungsreform, Frankfurt a. M. 1915.

Abbildungen Abb. 1: Archiv Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V; VIII.2.646. Abb. 2: Archiv Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V.; aus: Garten und Kind – Zeitschrift der mitteldeutschen Schrebergärtner 8(3), 1928, Umschlagseite. Abb. 3.: Archiv Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V.; aus: Garten und Kind – Zeitschrift der mitteldeutschen Schrebergärtner 9(4), 1924, S. 123. Abb. 4: Archiv Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V.; aus: Festschrift zum 8. Reichskleingärtnertag 1931, S. 9. Abb. 5.: Archiv Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V.; aus: Festschrift zum 8. Reichskleingärtnertag 1931, S. 4. Abb. 6: Archiv Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V.; Schreber-Archiv. Abb. 7.: Archiv Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V.; aus: Deutscher Kleingarten Kalender 1928: Übersicht über die Größe der dem RVKD unmittelbar angeschlossenen Verbände. Stand 1. 7. 1927, hg. von RVKD, 1928, S. 94. Abb. 8: Archiv Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V.; aus: Jahrbuch für den Kleingarten 1940, hg. von Reichsbund Deutscher Kleingärtner e. V., Berlin 1940, S. 4. Abb. 9: Archiv Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V.; aus: Deutscher Kleingärtner, 51(10), 1956, S. 182. Abb. 10.: Archiv Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V.; M 9-2011. Abb. 11: Archiv Deutsches Kleingärtnermuseum in Leipzig e. V.; aus: Garten und Kleintierzucht 18(20), Ausgabe A, 1981, S. 1.

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Lernort Gartenschau Martin Hußmann / Dieter Franz Obermaier

1. Mehr als ein Grünes Klassenzimmer – zum Bildungspotenzial von Gartenschauen

Bundes- und Landesgartenschauen – im Folgenden kurz Gartenschauen genannt – werden oft als Großevent mit Unterhaltungscharakter gesehen oder etwas despektierlich auch als »Blümchenschau« bezeichnet. Doch wird damit ihr Lern- und Bildungsaspekt in seiner Bedeutung unterschätzt. In diesem Beitrag soll dem Bildungspotenzial des Lernorts Gartenschau nachgegangen werden. Vor dem Hintergrund der Erfahrung eines der beiden Autoren (Martin Hußmann) – er zeichnete als Bürgermeister verantwortlich für die Hessische Landesgartenschau in Bad Schwalbach – geht es zunächst um die Einordnung des besonderen Lernorts Gartenschau unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Tradition. Im zweiten Teil wird mit dem IGA-Campus Berlin ein konkretes Beispiel näher er­läutert und im dritten Teil das bundesweite Netzwerk »Gartenschauen als Lernorte für Nachhaltigkeit« vorgestellt. Gartenschauen: Bildung statt Festivalisierung

Gartenschauen lassen sich im Wesentlichen mit drei Merkmalen charakterisieren: 1. Für die Ausrichtenden (Stadt und ggf. Land) ist eine Gartenschau an erster Stelle ein Stadtentwicklungsprojekt. Mit Investitionen in die Infrastruktur (Straßen, Plätze, Brücken, Stadtbild …), der Verbesserung von Stadtklima und Lebensqualität, der Stärkung von Wirtschaft und Tourismus und einem intensivierten Marketing soll die Stadt attraktiver gemacht und wirtschaftlich gestärkt werden. 2. An zweiter Stelle ist der Unterhaltungscharakter des Mega-Events zu nennen. Für die Bevölkerung wird ein knapp sechsmonatiges gigantisches Unterhaltungsprogramm angeboten. Genau dieser Punkt führt aber dazu, dass kritische Stimmen die »Festivalisierung« von Gartenschauen und damit deren Oberflächlichkeit und Banalisierung ins Visier nehmen. 3. Drittens werden »grüne« Themen und Inhalte angeboten, die größten­teils auch einen Bildungsaspekt beinhalten, wie Garten- und

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Martin Hußmann / Dieter Franz Obermaier

Abb. 1: IGA-Campus als Lehr-, Lern- und Erlebnisraum

Grabgestaltung, Mustergärten, Beratungsgarten, Leistungsschauen der Gartenfachbetriebe und deren Verbände sowie der Landschafts­ planer*innen und schließlich das Grüne bzw. Bunte Klassenzimmer. In den meisten Fällen wird die Durchführung eines Grünen Klassen­ zimmers zur Pflichtaufgabe erklärt. Alle weiteren Aussagen zu Inhalten und Maßnahmen werden als Empfehlung formuliert. Somit wird die letztendliche Entscheidung über Bildungsthemen und deren Umsetzung in die Hände der Gartenschau-Ausrichtenden gelegt. Sehen wir uns beispielhaft den Bildungsauftrag des Landes Thüringen an, so wie ihn das zuständige Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft in seinen Grundsätzen für die Durchführung von Landesgartenschauen in Thüringen vorgibt. Dieser Bildungsauftrag hat nur für Landesgartenschauen in Thüringen Gültigkeit. Er galt also nicht für die BUGA 2021 in Erfurt. Unter anderem heißt es dort: ‒ Landesgartenschauen sind ein Instrument der Stadtentwicklung, das der Förderung eines hochwertigen Wohnumfeldes ebenso dient wie dem Landschafts-, Natur- und Umweltschutz. In diesem Sinne soll das umfassende ökologische und lebensbejahende Interesse der All­ gemeinheit geweckt bzw. weiterentwickelt werden.

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Lernort Gartenschau

Abb. 2: IGA-Campus als Lehr-, Lern- und Erlebnisraum

‒ Landesgartenschauen sind daher gleichermaßen geeignete Orte der Umweltbildung und beinhalten ein entsprechendes Bildungs- und Veranstaltungskonzept.1 […] ‒ Das »Grüne Klassenzimmer« richtet seine Angebote auf Kinder und Jugendliche aus und ist so ein unverzichtbarer Teil des Bildungs­ angebotes. Es ist vom Veranstalter zu organisieren und durchzuführen.2 Hier werden durchaus Aspekte wie Lebensqualität und Umweltbewusstsein angesprochen. Doch neben Leitlinien und Empfehlungen findet sich nur das Grüne Klassenzimmer als Pflichtaufgabe. An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob dies den heutigen Ansprüchen in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung wirklich gerecht wird. Wir können nicht so tun, als hätten Gartenschauen mit den Veränderungen in den Bereichen Umwelt und Klima nichts zu tun. Auch will es nicht in die Zeit passen, dass Lernen ausschließlich für Kinder und Jugendliche stattfindet und die Erwachsenen (Stichwort »lebenslanges Lernen«) außen vor bleiben. Um es auf einen Nenner zu bringen: Gartenschauen sind ein idealer Ort, um über aktuelle Themen (Umwelt, Nachhaltigkeit, Zukunft, gesellschaftliche Verantwortung u. a.) zu informieren und ein entsprechendes Bewusstsein zu fördern. Sie haben ein großes pädagogisches Potenzial. Es kommt darauf an, dieses Potenzial zu erkennen und umzusetzen. 1 Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft: Grundsätze für die Durchführung von Landesgartenschauen in Thüringen (Beschluss der Landesregierung vom 22. Oktober 2019), 2019, S. 1; https://www.foerdergesellschaft-landesgartenschauen.de/data/ uploads/191022_grundsactze-lgs-th.pdf (Zugriff am 21. 5. 2022). 2 Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft: Grundsätze Durchführung Landes­ gartenschauen Thüringen (Anm. 1), S. 7.

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Die Inhalte verändern sich

Gartenschauen blicken in ihren unterschiedlichen Ausprägungen in Deutsch­ land bereits auf eine mehr als hundertjährige Geschichte zurück. Auch sind sie ein Spiegelbild der jeweils aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. So lassen sich die Themen der Gartenschauen in der Nachkriegszeit grob wie folgt charakterisieren: bis ca. 1960 dominierte nach den Kriegszerstörungen das Bedürfnis nach heiler Welt, der Wunsch nach Wiederaufbau und die Sehnsucht nach einem neuen Lebensgefühl. Ab ca. 1960 rückten Lebensqualität, Erholung, Freizeit und das dafür hilfreiche Stadtgrün als Naherholungsraum in den Mittelpunkt des Interesses. Dies entwickelte sich ab ca. 1980 mit gewachsenem Umweltbewusstsein weiter in Richtung auf ein gesundes Stadtklima und den zentral gelegenen Park als grüne Lunge. Damit spiegeln die Gartenschauen einen allgemeinen Trend wider: Deutlich wahrnehmbare Anzeichen eines zunehmenden Bewusstseins für Klima- und Umweltthemen häuften sich ab ca. 1970. So wurden zum Beispiel die ersten Umweltministerien 1971 in der DDR und 1986 in der Bundesrepublik eingerichtet. 1980 gründeten sich »Die Grünen«. Ab 1972 /73 verunsicherte das verstärkte Auftreten von El Niño die Öffentlichkeit. In der Folgezeit reihte sich eine Umweltkatastrophe an die andere: 1986 Tschernobyl, 1989 Öltanker Exxon Valdez, 1991 Vulkanausbruch ­Pinatubo, 2002 das Jahrhunderthochwasser an der Elbe, 2004 der Tsunami im Indischen Ozean und so weiter. Diese Entwicklungen gingen nicht spurlos an den Gartenschauen vorbei. Klima, Umwelt, Zukunft und Lebensführung sind die aktuellen und zunehmend existenziellen Themen des 21. Jahrhunderts. Gartenschauen mit ihrem schon per Definition engen Bezug zu Natur und Umwelt ­werden in ihren Konzepten und Kernaussagen immer stärker mit den ­Umweltthemen konfrontiert: Auch die traditionellen grünen Standard­ disziplinen der Gartenschauen, wie etwa der Gartenbau, befassten sich bereits mit Klima- und Umweltthemen. Seit den 1970er Jahren werden die Klima- und Umweltveränderungen aber viel intensiver wahrgenommen. Die Auseinandersetzung damit hat sich dramatisch verändert. Das sollte entsprechende Auswirkungen auch auf den Lernort Gartenschau haben. Für die Lehrer*innen ist es längst professioneller Anspruch und R ­ outine, die vielfältigen Themen, die in der Natur und damit auch in einer Gartenschau adressiert werden können, in ihren Unterricht zu integrieren. Und davon profitiert keineswegs nur die naturwissenschaftliche Bildung, sondern auch andere Fächer. Vor diesem Hintergrund kann an die BildungsVerantwortlichen der Gartenschauen die Empfehlung ausgesprochen

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den, sich mit den Bildungs-, Lehr- und Stoffverteilungsplänen ihres Landes auseinanderzusetzen und mit diesem Hintergrundwissen das eigene Veranstaltungsprogramm zu entwickeln. Weiterhin empfiehlt es sich, das Grüne Klassenzimmer für den Zeitraum der Gartenschau als außerschulischen Lernort anerkennen zu lassen. Hierbei sind natürlich die zum Teil differierenden Bestimmungen des jeweiligen Landes zu berücksichtigen.3 Herausforderungen des Lernortes Gartenschau

Generell sehen sich Gartenschauen als Lernort mit sehr großen Heraus­ forderungen konfrontiert, die inhaltlich und pädagogisch unter einen Hut zu bringen sind: ‒ So ist die Zielgruppe der Gartenschaubesucher*innen identisch mit dem gesamtgesellschaftlichen Querschnitt über alle Altersstufen: vom Kleinkind bis zum Senior, der Seniorin. ‒ Es gibt eine hohe Bandbreite an Interessen der Besucherinnen und Besucher: Das reicht vom Kita-Ausflug und Bunten Klassenzimmer, über Einzelreisende und Vereinsausflüge bis zur Senior*innen-Bus­ reisegruppe. ‒ Wir haben es mit einer riesigen Themenfülle zu tun: Gärtnern und Grabgestaltung, Klimavortrag und Kochkurs, Chorwettbewerb, Land­ frauentag usw. Bei allen pädagogischen Zielsetzungen und Bemühungen darf man eines nicht vergessen: Viele wollen einfach nur einen schönen Tag verbringen oder mit Kindern und Enkel*innen Spaß haben. Und diese Gruppe bildet die große Mehrheit der Gartenschaubesucher*innen. Dem ist Rechnung zu tragen. Lernen findet hier eher »nebenbei«, spielerisch, informell statt. Eine weitere Herausforderung betrifft das »Danach«: Ist nach 5 ½ Monaten alles vorbei? Was kommt danach? Kommt was danach? Oder war alles nur ein Strohfeuer? Wenn am Ende Bilanz gezogen wird, sollte als Erstes die Frage gestellt werden: »Was hat die Gartenschau verändert?« In der Regel lautet die Antwort: durch die Gartenschau haben sich positiv entwickelt: 3 Das wurde beispielsweise von den Verantwortlichen der BUGA Erfurt vorbildlich umgesetzt, die zusätzlich das Thüringer Qualitätssiegel »Bildung für nachhaltige Entwicklung« BNE für außerschulische Bildungsanbieter*innen beantragt und erhalten haben.

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Abb. 3. Bildungsbereiche des Lernortes Gartenschau

‒ das Stadtbild, ‒ Wirtschaft, Handel, Tourismus, ‒ das Image der Stadt, ‒ die Lebensqualität, ‒ die Identifikation der Bürger*innen mit ihrer Stadt ‒ … und evtl. die regionale Bildungsszene. Auch aufgrund reichlich geflossener Fördermittel dürfte insbesondere die Stadtentwicklung als positiver Faktor in Erinnerung bleiben. Unsicher ist dagegen, inwieweit Projekte des Bildungsbereichs dauerhaft nachwirken. Hierbei geht es im Wesentlichen darum, dass einzelne Bildungs­projekte auch nach Beendigung der Gartenschau weitergeführt werden. Andernfalls würde tatsächlich das Ende der Gartenschau auch das Ende der Lernund Bildungsaktivitäten bedeuten. Um das zu verhindern, kommen verschiedene Maßnahmen in Betracht: ‒ Zuweisung von Ressourcen: Eine gute Ressourcen-Ausstattung (finan­ zielle Mittel, Personal) ist eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Bildungsarbeit.

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Abb. 4: IGA-Campus als Lehr-, Lern und Erlebnisraum

‒ Kooperation und Vernetzung mit Bildungspartner*innen: Diese Zusammenarbeit muss bereits im Vorfeld der Gartenschau aufgebaut und nachher fortgeführt werden. ‒ Evaluation: Eine Untersuchung und Bewertung (Zielerreichung, Auswertung der Stärken und Schwächen, lessons learned, best practice etc.) zusammen mit den Bildungspartner*innen ist notwendig, um die Bildungsarbeit erfolgreich fortsetzen zu können. ‒ Bürger*innenbeteiligung: Politische und fachliche Teilhabe sowie ehrenamtliches Engagement sind fundamentale Bestandteile der Durch­ führung einer Gartenschau inklusive deren Bildungsarbeit. Als Bildungspartner*innen bieten sich an: Volkshochschulen, private In­ stitute, öffentliche Projekte (Kommune, Kreis, Land), Jugend- und Sozial­ arbeit, Berufsausbildung, Klima- und Umweltprojekte und -organisationen (BNE , NABU, BUND, ANU u. a.). Vielversprechend sind auch Kooperationen mit Experimentallaboren, Museen (Bürgerforschung / Citizen Science), Workcamps (Berufsbildung grüne Berufe), sofern entsprechende Partner*innen vor Ort oder in der Region vorhanden sind. Es besteht also konkret die Chance, dass eine Gartenschau die regionale Bildungslandschaft positiv verändert, belebt und bereichert. 2. IGA-Campus: Ein Modellprojekt für innovative Agrar-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung

Die industrialisierte Landwirtschaft verursacht weltweit massive Umweltbelastungen und Umweltschäden und trägt maßgeblich zu Biodiversitätsverlusten und zum Klimawandel bei. Darüber hinaus verursacht sie Ziel-

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konflikte einerseits zwischen der Nahrungsmittel-, Futtermittel- und Kraftstoffproduktion und andererseits dem Erhalt der natürlichen Ökosystemdienstleistungen sowie den Bedürfnissen der Menschen vor Ort. Diese Situation wird durch das anhaltende Wachstum der Weltbevölkerung und des globalen Konsums noch weiter verschärft. Im Weltagrarbericht 20094 wurden die Potenziale der Agrarökologie für eine nachhaltige Landwirtschaft deutlich aufgezeigt. Innerhalb nur we­ niger Jahre hat sich Agrarökologie zu einem Schlüsselbegriff der Nach­ haltigkeitsstrategien für Landwirtschaft entwickelt. Immer häufiger wird dieser Begriff in der internationalen Agrarpolitik, den Agrarwissenschaften sowie den Umwelt- und Agrarbewegungen aufgegriffen.5 Unter Agrar­ ökologie kann dabei sowohl die wissenschaftliche Disziplin, agrarkulturelle Praktiken als auch gesellschaftliche Bewegungen verstanden werden. So proklamierte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO)6 2014 Agrarökologie zum zentralen Leitbild sowohl für die Sicherung der Welternährung als auch für eine nachhaltige Landwirtschaft, den Schutz von Biodiversität und Klima sowie für die Klimaanpassung. Die FAO betont, dass dieses Leitbild zur Zielerreichung von mindestens 15 Sustainable Development Goals (SDGs) beiträgt.7 Damit erklärt die FAO Agrarökologie zum Passepartout der Agendaziele 2030 und fordert die Entwicklung von breiten, weltweiten agrarökologischen ­Aktions- und Bildungsprogrammen.8 Qualitativ hochwertige Agrarbildung, insbesondere agrarische Berufsund Hochschulbildung, ist nicht nur eine Voraussetzung für den Kampf gegen den Hunger, sie ist auch eine Bedingung für die erfolg­reiche agrar­ 4 Vgl. Zukunftsstiftung Landwirtschaft GLS Treuhand e.V.: Weltagrarbericht, 2022; https://www.weltagrarbericht.de (Zugriff am 25. 4. 2022). 5 Vgl. Haerlin, Benedikt: Der Weltagrarbericht. 10 Jahre danach – Eine kritische Bestandsaufnahme. Wirkung und Folgen des UN-Berichts zur Welternährung und Land­ wirtschaft, hg. von Maria Heubuch, Brüssel 2019; https://www.weltagrarbericht.de/ fileadmin/files/weltagrarbericht/Neuauflage/Weltagrarbericht10Jahre.pdf (Zugriff am 25. 4. 2022). 6 Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), 2022; http://www. fao.org (Zugriff am 25. 4. 2022). 7 Ralph Brinkhaus / Alexander Dobrindt und Fraktion / Andrea Nahles und Fraktion: Antrag der Fraktionen der CDU / C SU und SPD. Nachhaltige Entwicklungsziele er­ reichen – Potenziale aus der Agrarökologie anerkennen und unterstützen, Deutscher Bundestag 19. Wahlperiode, Drucksache 19 /8941, 2019; https://dserver.bundestag.de/ btd/19/089/1908941.pdf (Zugriff am 25. 4. 2022). 8 Vgl. Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO): Agroecology Knowledge Hub. Overview. What is Agroecology?, 2022; http://www.fao.org/agroecology/overview/en/ (Zugriff am 25. 4. 2022).

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ökologische Transformation der Landwirtschaftssysteme.9 Eine agrarökologisch ausgerichtete Landwirtschaft kann dazu beitragen, den Verbrauch externer Betriebsmittel zu reduzieren, indem wieder verstärkt inner­ betriebliche organische Stoffkreisläufe und biozönotische Wechselwirkungen genutzt werden.10 Beispiele für agrarökologische Praktiken sind die Herstellung und Verwendung von Humus und Terra Preta zur Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit, Aquaponik- und Agroforstsysteme zur Ein­ sparung von Wasser und Mineraldünger. Damit kann der ökologische Fußabdruck der Landwirtschaft deutlich reduziert, die biologische Vielfalt gefördert und die Fruchtbarkeit der Böden gesichert werden.11 Außerdem können Luft- und Wasserverschmutzungen vermindert und die wirtschaft­ liche und soziale Resilienz der landwirtschaftlichen Betriebe erhöht werden. Mit dem IGA-Campus der Internationalen Gartenausstellung (IGA) Berlin im Jahr 201712 wurde erstmals Agrar-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung in den Mittelpunkt einer Gartenschau gestellt. Das Besondere war, dass der Agrar,- Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung von Anfang an innerhalb des Gartenschaugeländes ein eigenes Areal als Lern- und Aktionsraum zur Verfügung stand. Dieser 1,2 Hektar große, 600 m lange und 20 m breite Streifen am Fuße des Kienbergs konnte als ein transformativer Lehr- und Lernort ganz nach den pädagogischen und didaktischen Erfordernissen der Bildungsprojekte gestaltet und betrieben werden. Das Campusgelände hatte eine Kapazität von bis zu 500 Personen pro Tag, die an zwölf unterschiedlichen Lern- und Aktionsorten ungestört voneinander an Veranstaltungen teilnehmen konnten. Die mehr als 2.600 Bildungs­ veranstaltungen an insgesamt 186 Veranstaltungstagen wurden von einem Netzwerk von mehr als 140 regionalen Akteur*innen rea­lisiert. Das Bildungsprogramm der IGA Berlin 2017 übertraf nicht nur in der Vielfalt und Anzahl der Bildungsangebote alle bisherigen Gartenschauen, sondern setzte auch konzeptionell auf innovative Bildungsansätze. Ein 9 Vgl. Carolin Grieshop: Mehr Bildung für mehr Ökolandbau. Ökologischer Landbau muss höheren Stellenwert in der beruflichen Bildung erhalten, in: Kritischer Agrarbericht 2020. Schwerpunkt Stadt, Land, – Im Fluss, München 2020, S. 140-144; ­h ttps ://www.kritischer-agrarbericht.de/f ileadmin/Daten- K A B / K A B -2020/ KAB2020_140_144_Grieshop.pdf (Zugriff am 25. 4. 2022). 10 Vgl. Zukunftsstiftung Landwirtschaft GLS Treuhand e. V.: Wege aus der Hungerkrise. Weltagrarbericht, 2022; https://zukunftsstiftung-landwirtschaft.de/wo-wir-aktiv-­ sind/save-our-seeds-unser-berliner-buero/weltagrarbericht/ (Zugriff am 25. 4. 2022). 11 Anita Idel: Die Kuh ist kein Klima-Killer – Wie die Agrarindustrie die Erde verwüstet und was wir dagegen tun können, 7. Aufl., Marburg 2019 [Marburg 2010]. 12 Vgl. Giselind Rinn: Der IGA-Campus. Mitmachen, Entdecken & Lernen, in: Dit war (Garten-)schau! Dokumentation zur Internationalen Gartenschau (IGA) Berlin, hg. von IGA Berlin 2017 GmbH, Berlin 2018, S. 116-125.

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IGA-Campus in Zahlen, das waren  ‒ 186 Veranstaltungstage ‒ mehr als 50.000 Teilnehmer*innen – sowohl Kinder, Jugendliche, ­Erwachsene und Familien ‒ mehr als 2.600 Veranstaltungen davon 2.066 IGA-Klassenzimmer 358 IGA-Familienerlebnisse 25 internationale IGA-Workcamp 12 nationale IGA-Workcamps

‒ bis zu 500 Teilnehmer*innen pro Tag ‒ ein Netzwerk von mehr als 140 regionalen Veranstalter*innen ‒ Auslastung der Angebote: über 92 %

wichtiger Bestandteil des Campus-Konzepts stellten die insgesamt 37 inter­ nationalen und nationalen Workcamps dar. Schüler*innen, Auszubildende und Studierende aus aller Welt hatten im Rahmen dieser Workcamps die Möglichkeit, unter fachlicher Anleitung des »Atelier le balto«13 an der Gestaltung des IGA-Campus mitzuwirken und ihre eigenen Ideen einzubringen. Sowohl die Erschließung des Geländes durch Rodungen, Rückschnitt und Pflanzungen als auch der Bau von Holz­ konstruktionen, Holzpodesten und Hochbeeten wurden maßgeblich von WorkcampTeilnehmenden geleistet. Während der Gartenausstellung kümmerten sich Workcamp-Teilnehmer*innen um die Pflege der Beete und Grün­ flächen und waren Teil des IGA-Campus-Teams. Trotz des »Regensommers« – der Sommer 2017 galt als der nasseste Sommer Berlins seit der Wetteraufzeichnung – mussten aufgrund der ­Attraktivität und der hohen Nachfrage die Bildungsangebote der IGA Berlin 2017 im laufenden Betrieb mehrfach aufgestockt werden. Der IGACampus wurde zum Gegenstand erheblichen Medieninteresses und avancierte zu einem »Leuchtturmprojekt« der IGA Berlin 2017.14 Der Geschäftsführer der Deutschen Bundesgartenschau-Gesellschaft mbh (DGB) Jochen Sandner erklärte kurz vor Abschluss der IGA Berlin 2017, der 13 Vgl. Marc Pouzol: atelier le balto Landschaftsarchitekten, 2019; https://lebalto.de (Zugriff am 25. 4. 2022). 14 Ingo Salmen: Gartenausstellung in Berlin-Marzahn. Besucherzahlen der IGA 20 Prozent unter dem Soll, in: Tagesspiegel, 28. 6. 2017; https://www.tagesspiegel.de/berlin/ gartenausstellung-in-berlin-marzahn-besucherzahlen-der-iga-20-prozent-unterdem-soll/19988364.html (Zugriff am 25. 4. 2022).

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IGA-Campus sei ein »Vorbild«,15 das Mut mache »zu einem Roll-out dieses

Formates auch auf anderen Gartenschauen.«16 IGA-Workcamps »Grüne Berufe«

Das Fachgebiet Agrarökologie17 der Humboldt-Universität (HU) zu Berlin war seit Beginn des Jahres 2015 als Bildungspartner des IGA-Campus ­engagiert und ein Motor für die Implementierung beruflicher und hochschulischer Agrarbildung sowie für Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung (BBNE) in das Campuskonzept. Unser Beitrag zur IGA Berlin 2017 war das ­Modellprojekt IGA-Workcamps »Grüne Berufe«, das im Rahmen des Bundesprogramms »Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung (BBNE)« durch den Europäischen Sozialfond (ESF) und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) gefördert wurde.18 Die Projektpartner waren die Internationale Garten­ ausstellung (IGA) Berlin gGmbH und die Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau (LVG) Heidel­berg. Bei den IGA-Workcamps handelte es sich um außerschulische und außerhochschulische, erlebnis-, handlungs- und gestaltungsorientierte Angebote zur Berufsorientierung und Berufsbildung für Schüler*innen Auszubildende und Studierende im Berufsfeld der »Grü­ nen Berufe«. Die IGA-Workcamps »Grüne Berufe« boten im Zeitraum von Oktober 2016 bis Oktober 2018 mehr als 300 Jugendlichen und jungen Erwachsenen19 15 Vgl. Jochen Sandner: Grußwort, in: Dit war (Garten-)schau ! Dokumentation zur Internationalen Gartenschau (IGA) Berlin, hg. von IGA Berlin 2017 GmbH, Berlin 2018, S. 7. 16 Vgl. Gaul, Hans-Peter: Interview zum Abschluss der IGA Berlin 2017, in: Berlin City Report, 2022; http://www.berlin-city-report.de/joomla/index.php/tourismus/1118interview-zum-abschluss-der-iga-berlin-2017 (Zugriff am 25. 4. 2022). 17 Bis zum Wintersemester 2020 /21 Fachgebiet Fachdidaktik Agrar- und Gartenbauwissenschaften. 18 Vgl. Dieter Franz Obermaier / Marcel Robischon: IGA-Workcamps Grüne Berufe – Modellprojekt zur Berufsbildung, in: ZVG GARTENBAU report 2-3, 2017, S. 15; Dieter Franz Obermaier / Marcel Robischon: IGA-Workcamps »Grüne Berufe«, in: B & B Agrar 2, 2017, S. 20 f.; Dieter Franz Obermaier / Marcel Robischon »Workcamps als informelle Outdoor-Lernorte der Agrarbildung«, in: Green Outdoor und Environmental Education in Forschung und Praxis, hg. von Svantje Schumann u. a., Düren 2019, S. 267-273; Dieter Franz Obermaier / Marcel Robischon: »Green Workcamps« as informal places of learning in Agricultural Vocational education and training, in: Learning On and Off the Land. Proceedings of the ENTER Study Days 25.-27. April 2018 in Berlin, hg. von Jiří Votava u. a., Berlin 2019. 19 Von den insgesamt über 300 Teilnehmer*innen der 21 Workcamps entsprachen 248 Teilnehmer*innen der ESF-Zielgruppe im Alter zwischen 15 und 25 Jahren.

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Abb. 5: Das HU -Team der IGA-Workcamps »Grüne Berufe« im Jahr 2018

die Möglichkeit, in insgesamt 20 nationalen20 und einem trinationalen Workcamp typische landwirtschaftliche Arbeitstechniken und Kompetenz­ felder exemplarisch kennenzulernen, sich praktisch auszuprobieren, persönliche Begabungen und Talente freizulegen sowie sich dabei auch mit Fragen der nachhaltigen Entwicklung in der Landwirtschaft auseinanderzusetzen.21 Es ging bei den Workcamps um ein Lernen im Arbeitsprozess; in dessen Mittelpunkt standen: ‒ das praktische Arbeiten im Freiland bei Wind und Wetter, ‒ das Zusammenwirken von Menschen, Nutzorganismen (Tiere, Pflan­ zen und Mikroorganismen) und Technik, ‒ das Erproben und Einüben von agrarkulturellen Praktiken und Techniken sowie ‒ die Arbeit im Team. Bei den IGA-Workcamps »Grüne Berufe« handelte es sich um ein ex­ perimentelles Berufsbildungsformat, bei dem Inhalte und Methoden der ­Internationalen Freiwilligenarbeit, offenen Jugendarbeit, politischen Jugend­ bildung und BBNE für das Feld der Agrarbildung fruchtbar gemacht und sowohl in der Berufs- und Studienorientierung als auch in der Nachwuchsförderung erprobt, weiterentwickelt und erforscht wurden.

20 Davon 12 Workcamps auf dem Gelände der IGA Berlin 2017 und ein Workcamp auf dem Gelände der BUGA Heilbronn 2019. 21 Vgl. IGA-Workcamps »Grüne Berufe«: Mehr als nur gärtnern. Das Projekt IGA-Workcamps »Grüne Berufe« zeigt dir in individuellen Workcamps die Vielfalt der grünen Branche, 2015; www.grueneworkcamps.de (Zugriff am 25. 4. 2022).

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Abb. 6: Arbeitseinsatz im Rahmen des 1. Trinational Green Workcamps auf dem IGA-Campus im April 2017

Abb. 7: Selbstverpflegung im Rahmen des 1. Trinational Green Workcamps auf dem IGA-Campus im April 2017

Abb. 8: Sprachanimation im Rahmen des 1. Trinational Green Workcamps auf dem IGA-Campus im April 2017

Abb. 9: Teilnehmer*innen des 1. Trinational Green Workcamps auf dem IGA-­ Campus im April 2017

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Die internen und externen Evaluationen durch das »TransferZentrum für Neurowissenschaften« (ZNL) der Universität Ulm legten interessante Erkenntnisse frei. Die wichtigsten waren: a) Die Workcamp-Teilnehmer*innen erlebten die Workcamps ins­ gesamt sehr positiv, dabei werden die praktischen Anteile besonders positiv eingeschätzt. Aber auch die fachlichen Inhalte wurden als spannend erlebt. b) Durch die Mitarbeit in den IGA-Workcamps wurden wichtige berufsrelevante Kompetenzen auf eine Art und Weise erworben, wie dies in normalen Vorlesungen, Seminaren und im Unterricht nicht geschieht. c) Zehn von elf berufsrelevanten Kompetenzen lassen sich in Workcamps besser erwerben als in normalen Vorlesungen, Seminaren und im Unterricht. Beispiele hierfür sind Problemlösekompetenz, Sozialkompetenz, Kommunikationsfähigkeiten und Studienmotivation. Nur eine von elf berufsrelevanten Kompetenzen, nämlich das agrarwissenschaftliche Fachwissen, lässt sich in den üblichen Formaten, wie Vorlesungen, Seminaren und Unterricht, besser erwerben. Vor dem Hintergrund dieser Befunde können Gartenschauen ohne Einschränkung als innovative Lehr- und Lernorte der Agrarkultur betrachtet werden. Gartenschauen gehören zu den wenigen Großveranstaltungen im urbanen Raum, in denen exemplarisch das Spezifische der Landwirtschaft, d. h. der landwirtschaftlichen Erzeugung, Produkte und Berufe sowie der Agrarökologie,22 aufgezeigt werden könnte. In diesem Sinne könnten ­Gartenschauen dazu beitragen, ‒ auf die für die Agrarkultur grundlegenden Phänomene des Wachstums und der Vermehrung hinzuweisen, ‒ Begegnungen und Interaktionen mit dem »Lebendige[n]«23 als dem Ausgangspunkt jeder agrarischen Handlung zu ermöglichen, 22 Vgl. Alexandria Krug et al.: Schulgarten3: exemplarisch – genetisch – sokratisch, in: Wagenscheins Pädagogik neu reflektiert, hg. von Mark Müller / Svantje Schumann, Münster / New York 2022, S.  507-525. 23 Vgl. Dieter Franz Obermaier: Lebendiges Verstehen. Auf dem Weg zu einem phänomenologischen Ansatz für eine lebenswissenschaftliche Fachdidaktik, in: Gestaltungs­ orientierte Forschung – Basis für soziale Innovationen. Erprobte Ansätze im Zusammenwirken von Wissenschaft und Praxis, hg. von Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) u. a., Bonn 2017, S. 269-302; Dieter Franz Obermaier: Phänomene des Lebendigen in der agrarwissenschaftlichen Fachdidaktik, in: Tagungsband zum Symposium

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‒ Agrarkultur im Spannungsfeld organischer Erzeugung und technischer Herstellung (bzw. Fertigung) zu erfahren, ‒ das Leitbild der Agrarökologie auf den Gartenschaugeländen erlebbar zu machen. Sie haben damit das Potenzial, zu einzigartigen außerschulischen, außerbetrieblichen und außerhochschulischen Lehr- und Lernorten der Agrarbildung zu werden, an denen die spezifischen agrarischen Formen des ­Lehrens und Lernens sowie bildende Erfahrungen in einer Dichte ermöglicht werden könnten, wie es in Berufsschulen, in Betrieben und Hochschulen kaum möglich ist. Darüber hinaus könnten Gartenschauen sich selbst zu »Living Labs der Agrarökologie«24 entwickeln. Um auf diese besonderen Potenziale der Gartenschauen als Lehr- und Lernräume für Agrarkultur und mögliche Living-Labs für Agrarökologie aufmerksam zu machen, initiierte das Fachgebiet Agrarökologie noch während der laufenden IGA Berlin 2017 erste Gespräche mit anderen Bundes- und Landesgartenschauen, um Möglichkeiten einer gartenschauübergreifenden Zusammenarbeit und die Förderung der Agrarbildung auf Gartenschauen zu erörtern. 3. Gartenschauübergreifende Zusammenarbeit

In Zusammenarbeit der Bundesgartenschau Heilbronn 2019, der Bundesgartenschau Erfurt 2021, der Landesgartenschau Neuenburg am Rhein 2022, der Stadt Heilbronn, dem Science Center experimenta gGmbH und dem Museum für Naturkunde Berlin wurde die Idee geboren, im Jahr 2019 gemeinsam ein erstes bundesweites Symposium zum Thema »Gartenschauen als Lernorte für Nachhaltigkeit« in Heilbronn zu veranstalten. Als ideellen und finanziellen Förderer konnte die Deutsche Bundes­ stiftung Umwelt (DBU) gewonnen werden. Auch die Deutsche Bundesgartenschau-Gesellschaft (DBG) konnte nach Vorgesprächen davon überzeugt werden, ihr jährlich stattfindendes Praxisforum im Jahr 2019 GreenEd vom 11.-12. Mai 2017 in Berlin, hg. von L. Chvartsmann u. a., Berlin 2017, S. 169 f.; http://wuermranger.org/wp-content/uploads/2018  /02/Tagungsband-­Green ­Ed-1.pdf (Zugriff am 25. 4. 2022); Marcel Robischon / Dieter Franz Obermaier: »understanding live – lively understanding. Phenomenological approaches in learning with plants«, Congress Proceedings BGCI 9th International Congress on Education in Botanical Gardens St. Louis April 26 – May 1, 2015. 24 Vgl. Ecologic Institut: Das europäische Agrarökologie-Living-Lab und Forschungsinfrastruktur-Netzwerk (ALL -Ready), 2022; https://www.ecologic.eu/de/18006 (Zugriff am 25. 4. 2022).

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Abb. 10: Internationale Gartenausstellungen (IGA ), Bundes­ gartenschauen (BUGA ), Landes­gartenschauen (LAGA ) und Grünprojekte (GP) in Deutschland und den Nachbarländern in den Jahren 2019-2029

thematisch auf die Fragestellung der Gartenschauen und ihren Bildungsauftrag auszurichten und in Kooperation mit dem Symposium in Heilbronn stattfinden zu lassen.25 Das Praxisforum 2019 »Bildungsauftrag von Gartenschauen« der Bundes­ gartenschau-Gesellschaft mbH (DGB) fand am 19. September 2019 als Vortragsveranstaltung mit 80 Teilnehmer*innen im Bildungscampus Heilbronn mit zahlreichen Fachvorträgen statt. Das bundesweite Sym­posium »Gartenschauen als Lernorte für Nachhaltigkeit« fand am 19. und 20. September 2019 im Rahmen eines experimentellen Veranstaltungsformats auf dem Gelände der Bundesgartenschau Heilbronn statt. Mehr als 60 Teil­ 25 Vgl. Bundesgartenschau Heilbronn 2019 GmbH (Hg.): Bundesgartenschau Heilbronn 2019 – Die Garten- und Stadtausstellung. Offizielle Dokumentation, Berlin 2020, S. 276.

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Abb. 11: Begrüßung zum bundesweiten Symposium »Gartenschauen als Lernorte für Nachhaltigkeit« durch Julia Seim vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit am 20. September 2019

Abb. 12: Abschlussrunde des bundes­weiten Symposiums »Gartenschauen als Lernorte für Nachhaltigkeit« am 20. September 2019 auf der BUGA Heilbronn

nehmer*innen nahmen die Chance wahr, die insgesamt 15 Walk- &- TalkStationen auf dem Gartenschaugelände zu entdecken. Überraschend war dabei die hohe Bereitschaft der Akteur*innen mit eigenen Walk-&-TalkStationen am Symposium mit­zuwirken. Fast die Hälfte der Teilnehmenden waren mit eigenen Walk-&-TalkStationen am Programm beteiligt. Im Mittelpunkt des Symposiums stand das unmittelbare Erleben bewährter und innovativer Praxisbeispiele für Agrar-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung auf Gartenschauen, die ­Reflexion von deren Möglichkeiten und Grenzen sowie die Diskussion mit an­deren Teilnehmer*innen. Das experimentelle Outdoor­format wurde von allen Beteiligten als gelungener Kontrast und wichtige Ergänzung zum Frontalformat des DBG -Praxisforums gelobt. In der Abschlussrunde äußerten die Teilnehmer*innen den Wunsch, weiterhin in Kontakt zu bleiben und ein bundesweites Netzwerk für ­Agrar-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung auf Gartenschauen zu gründen. Dank der Einladung der Landesgartenschau Neuenburg am Rhein sollte das erste Netzwerktreffen am 19. und 20. März 2020 in Neuenburg stattfinden. Der Fokus dieses ersten Netzwerktreffens sollte auf die methodischen, didaktischen und konzeptionellen Fragen der Agrar-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung

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auf Gartenschauen sowie die bundesweite Vernetzung ausgerichtet werden. Ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm zu Themen wie Gelingensfaktoren für Agrar-, Umwelt-, und Nachhaltigkeitsbildung, Lebenslanges Lernen sowie Wissenschaftskommunikation und Bürgerwissenschaften auf Gartenschauen war vorbereitet. Darüber hinaus war ein Markt der Möglichkeiten und die offizielle Gründung des Netzwerks geplant. Mehr als 80 Anmeldungen lagen vor, als Anfang März 2020 das Netzwerktreffen aufgrund der COVID -19-Pandemie verschoben werden musste. Es fand letztendlich erst am 29. und 30. September 2022 statt. Trotz der pandemiebedingten Schwierigkeiten (Terminverschiebungen, Reiseeinschränkungen) entwickelte sich im Zeitraum von Juli 2019 bis Dezember 2020 ein lebendiges Netzwerk von bundesweit über 20 Ak­ teur*innen. Statt der zuvor üblichen Dienstreisen haben sich inzwischen regelmäßige Videomeetings, das kollaborative Arbeiten via Cloud und die Interaktion über die sozialen Medien etabliert. Ziele des Netzwerks »Gartenschauen als Lernorte für Nachhaltigkeit« sind: a) auf die spezifischen Bildungspotenziale von Gartenschauen aufmerk­ sam zu machen, b) Veranstalter*innen von Gartenschauen und Anbieter*innen von Agrar-, Umwelt und Nachhaltigkeitsbildung zusammen zu bringen und einen lebendigen Dialog zwischen ihnen zu ermöglichen, c) dazu beizutragen, dass Agrar-, Umwelt- und Nachhaltigkeits­bildung zu einem integralen Bestandteil von Gartenschaukonzeptionen werden, d) Impulse für die Weiterentwicklung von Agrar-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung auf Gartenschauen zu geben, e) Kontaktmöglichkeiten zu schaffen, Erfahrungsaustausch zu ermöglichen, das Engagement Einzelner zu bündeln, Hilfestellungen und Arbeitshilfen anzubieten, f ) gemeinsam innovative Modellprojekte zu entwickeln und zu er­ proben, g) Lern- und Bildungsforschung zum Lernort Gartenschau zu initi­ ieren, h) Öffentlichkeitsarbeit zu leisten und i) schrittweise selbsttragende bundesweite Netzwerkstrukturen aufzubauen. Die Gründung des Netzwerks »Gartenschauen als Lernorte für Nach­ haltigkeit« wurde von Juli 2019 bis einschließlich Dezember 2020 von der

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Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) gefördert. Es kann als ein ­besonderer Erfolg gewertet werden, dass trotz der pandemiebedingten Ein­ schränkungen ein sich selbst tragendes bundesweites Netzwerk am Ent­ stehen ist, das digital den Austausch pflegt und Projekte der Agrar-, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbildung auf Gartenschauen vorantreibt. Der­zeit sind bundessweit ca. 30 Akteur*innen im Netzwerk aktiv. Eine besondere Freude war es, nach mehr als 15 Monaten COVID -19Pandemie wieder zu einem ersten Präsenzworkshop auf die BUGA­ Erfurt 21 im kleinen Kreis einzuladen. Trotz Ferienzeit und Bahnstreik trafen sich am 12. August 2021 20 Akteur*innen, um mehr über das ­Bildungsprogramm der BUGA Erfurt 2021 zu erfahren und über die zukünftige bundesweite Netzwerkarbeit zu diskutieren. Erste Schritte sind getan und es liegt jetzt vor allem an den Veranstalter*innen von Gartenschauen, die Ideen auf­zugreifen und zukünftige Gartenschauen tatsächlich zu innovativen L ­ ernorten der Agrar-, Umwelt und Nachhaltigkeitsbildung weiterzuent­wickeln. Literatur Brinkhaus, Ralph / Alexander Dobrindt und Fraktion / Andrea Nahles und Fraktion: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Nachhaltige Entwicklungsziele erreichen – Potenziale aus der Agrarökologie anerkennen und unterstützen, Deutscher Bundestag 19. Wahlperiode, Drucksache 19 /8941, 2019; https://dserver.bundestag.de/btd/19 /089 /1908941.pdf. Bundesgartenschau Heilbronn 2019 GmbH (Hg.): Bundesgartenschau Heilbronn 2019 – Die Garten- und Stadtausstellung. Offizielle Dokumentation, Berlin 2020. Ecologic Institut: Das europäische Agrarökologie-Living-Lab und Forschungsinfrastruktur-Netzwerk (ALL -Ready), 2022; https://www.ecologic.eu/de/18006. Food and Agriculture Organization of the United Nation (FAO), 2022; http://www. fao.org. – Agroecology Knowledge Hub. Overview. What is Agroecology?, 2022; http:// www.fao.org/agroecology/overview/en/. Gaul, Hans-Peter: Interview zum Abschluss der IGA Berlin 2017, in: Berlin City Report, 2022; http://www.berlin-city-report.de/joomla/index.php/tourismus/1118-­ interview-zum-abschluss-der-iga-berlin-2017. Grieshop, Carolin: Mehr Bildung für mehr Ökolandbau. Ökologischer Landbau muss höheren Stellenwert in der beruflichen Bildung erhalten, in: Kritischer Agrar­ bericht 2020. Schwerpunkt Stadt, Land, – Im Fluss, München 2020, S. 140-144; https ://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-K AB / K AB -2020/ KAB2020_140_144_Grieshop.pdf. Haerlin, Benedikt: Der Weltagrarbericht. 10 Jahre danach – Eine kritische Bestandsaufnahme. Wirkung und Folgen des UN-Berichts zur Welternährung und

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Martin Hußmann / Dieter Franz Obermaier

Landwirtschaft, hg. von Maria Heubuch, Brüssel 2019; https://www.weltagrarbe richt.de/fileadmin/files/weltagrarbericht/Neuauflage/Weltagrarbericht10Jahre. pdf. Idel, Anita: Die Kuh ist kein Klima-Killer – Wie die Agrarindustrie die Erde verwüstet und was wir dagegen tun können, 7. Aufl., Marburg 2019 [Marburg 2010]. IGA-Workcamps »Grüne Berufe«: Mehr als nur gärtnern. Das Projekt IGA-Workcamps »Grüne Berufe« zeigt dir in individuellen Workcamps die Vielfalt der grünen Branche, 2015; www.grueneworkcamps.de. Krug, Alexandria et al.: Schulgarten3: exemplarisch – genetisch – sokratisch, in: Wagenscheins Pädagogik neu reflektiert, hg. von Mark Müller / Svantje Schumann, Münster / New York 2022, S.  507-525. Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft: Grundsätze für die Durch­ führung von Landesgartenschauen in Thüringen (Beschluss der Landesregierung vom 22. Oktober 2019), 2019; https://www.foerdergesellschaft-landesgartenschau ­en.de/data/uploads/191022_grundsactze-lgs-th.pdf. Obermaier, Dieter Franz: Lebendiges Verstehen. Auf dem Weg zu einem phäno­ menologischen Ansatz für eine lebenswissenschaftliche Fachdidaktik, in: Gestaltungsorientierte Forschung – Basis für soziale Innovationen. Erprobte Ansätze im Zusammenwirken von Wissenschaft und Praxis, hg. von Bundesinstitut für ­Berufsbildung (BIBB) u. a., Bonn 2017, S. 269-302. – Phänomene des Lebendigen in der agrarwissenschaftlichen Fachdidaktik, in: Tagungsband zum Symposium GreenEd vom 11.-12. Mai 2017 in Berlin, hg. von L. Chvartsmann u. a., Berlin 2017, S. 169 f.; http://wuermranger.org/wp-con tent/ uploads/2018 /02/Tagungsband-GreenEd-1.pdf. Obermaier, Dieter Franz / Marcel Robischon: IGA-Workcamps Grüne Berufe – Modellprojekt zur Berufsbildung, in: ZVG GARTENBAU report 2-3, 2017, S. 15. – IGA-Workcamps »Grüne Berufe«, in: B & B Agrar 2, 2017, S. 20 f. – »Workcamps als informelle Outdoor-Lernorte der Agrarbildung«, in: Green Outdoor und Environmental Education in Forschung und Praxis, hg. von Svantje Schumann u. a., Düren 2019, S. 267-273. – »Green Workcamps« as informal places of learning in Agricultural Vocational education and training, in: Learning On and Off the Land. Proceedings of the ENTER Study Days 25.-27. April 2018 in Berlin, hg. von Jiří Votava u. a., Berlin 2019. Pouzol, Marc: atelier le balto Landschaftsarchitekten, 2019; https://lebalto.de. Robischon, Marcel / Dieter Franz Obermaier: »understanding live – lively understanding. Phenomenological approaches in learning with plants«, Congress Proceedings BGCI 9th International Congress on Education in Botanical Gardens St. Louis April 26 – May 1, 2015. Rinn, Giselind: Der IGA-Campus. Mitmachen, Entdecken & Lernen, in: Dit war (Garten-)schau! Dokumentation zur Internationalen Gartenschau (IGA) Berlin, hg. von IGA Berlin 2017 GmbH, Berlin 2018, S. 116-125. Salmen, Ingo: Gartenausstellung in Berlin-Marzahn. Besucherzahlen der IGA 20 Prozent unter dem Soll, in: Tagesspiegel, 28. 6. 2017; https://www.tagesspiegel.

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de/berlin/gartenausstellung-in-berlin-marzahn-besucherzahlen-der-iga-20-prozent-unter-dem-soll/19988364.html. Sandner, Jochen: Grußwort, in: Dit war (Garten-)schau! Dokumentation zur Internationalen Gartenschau (IGA) Berlin, hg. von IGA Berlin 2017 GmbH, Berlin 2018, S. 7. Zukunftsstiftung Landwirtschaft GLS Treuhand e. V.: Weltagrarbericht, 2022; https://­ www.weltagrarbericht.de. -: Wege aus der Hungerkrise. Weltagrarbericht, 2022; https://zukunftsstiftunglandwirtschaft.de/wo-wir-aktiv-sind/save-our-seeds-unser-berliner-buero/weltagrarbericht/.

Abbildungen Abb. 1-2: Matthaeus Kruzynski & Humboldt-Universität, 2017. Abb. 3: Eigene Darstellung, Martin Hußmann, 2021. Abb. 4: Matthaeus Kruzynski & Humboldt-Universität, 2017. Abb. 5: Matthaeus Kruzynski & Humboldt-Universität, 2018. Abb. 6-9: Eigenes Foto, Dieter Franz Obermaier, 2017. Abb. 10: Eigene Darstellung, Dieter Franz Obermaier, 2017. Abb. 11-12: Eigenes Foto, Dieter Franz Obermaier, 2019.

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Autor*innenverzeichnis

Prof. Dr. Norbert Clemens Baumgart ist Professor für Exegese und Theologie des Alten Testamentes an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die biblische Urgeschichte, die Bücher der Könige und die Raumkonstruktionen in bib­ lischen Texten. Prof. Dr. Sara Burkhardt ist Professorin für Kunstpädagogik und Kunst­ didaktik an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kunstunterricht und Materialbildung, das Lernen mit Sammlungen und Archiven, Vermittlung im Kontext von Digitalität, ­öffentlicher Raum als Handlungsfeld von Kunst sowie forschende Ansätze im Unterricht. Prof. Dr. Stefan Brunzel ist Professor für Biologische Vielfalt und Artenschutz an der Fachhochschule Erfurt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Flora von Siedlungen, Erhaltungskulturen und Wiederansiedlungen gefährdeter Pflanzenarten sowie Veränderung von Tagfaltergemeinschaften im Zuge des Klimawandels. Prof. Dr. Susanne Frank ist Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Feldern Wandel der Siedlungsstrukturen (Suburbanisierung, Reurbanisierung, Gentrifizierung), Quartiersforschung sowie Stadt und Natur. Prof. Dr. Bettina Hollstein ist Geschäftsführerin des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wirtschafts- und Unternehmensethik, pragmatistische Handlungstheorie, Ehrenamt, Nachhaltigkeit und Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie Korruption. Martin Hußmann, M. A., hat 2018 als Bürgermeister die 6. Hessische Landes­ gartenschau verantwortet. Seit 2021 ist er Promovend im Fachgebiet Agrar­ ökologie an der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Schwerpunkt Lernort Gartenschau.

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Autor*innenverzeichnis

Dr. Jens Jetzkowitz ist Soziologe, lehrt als Privatdozent an der HelmutSchmidt-Universität (HSU) in Hamburg Methoden der empirischen Sozial­ forschung und forscht am Thünen-Institut (TI) für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen in Braunschweig zu Landnutzungskonflikten und der Governance von Landnutzung. Zentrale Fragen seiner Forschung sind, wie Menschen der sozialen und biophysikalischen Welt einen Sinn geben und welche Wirkungen sie damit erzeugen. Dr. Sara Keller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kollegforschungsgruppe »Religion und Urbanität. Wechselseitige Formierungen« am MaxWeber-Kolleg der Universität Erfurt. Sie hat sich auf die Geschichte der Architektur und der Räume spezialisiert. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die historische südasiatische Architektur, die urbane Geschichte, Wasseranlagen und die Bedeutung von Wasserorten. Prof. Dr. Dorothee Kimmich ist Professorin für Kulturwissenschaftliche ­Literaturwissenschaft und Kulturtheorie an der Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Philosophie im 19. und 20. Jahr­ hundert, Literaturtheorien, Dinge und Texte in der Moderne sowie Ähnlichkeitstheoreme in Kulturtheorie und Kulturwissenschaften. Dipl.-Ing. Dieter Franz Obermaier ist Garten- und Landschaftsarchitekt sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Agrarökologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Spezifik agrarischer Produktionsprozesse, insbesondere die Bedeutung der ­Lebendigkeit für die agrarkulturelle Erzeugung und die daraus resultierenden pädagogisch-didaktischen Konsequenzen. Caterina Paetzelt ist Dipl. Museologin (FH) und leitet das Deutsche Kleingärtnermuseum Leipzig. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit, Verfassen von Publikationen, Kuratieren von Ausstellungen, Veranstaltungsmanagement sowie Museumspädagogik. Prof. Dr. Stefan Schweizer ist Kunsthistoriker, Wissenschaftlicher Vorstand der Stiftung Schloss und Park Benrath sowie Präsident der Deutschen ­Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur (DGGL) e. V. Er lehrt als Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Garten- und Architekturgeschichte der Frühen Neuzeit sowie der Sozialgeschichte der Kunst.

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Prof. Dr. Sandra Tänzer ist Professorin für Pädagogik und Didaktik des ­Sachunterrichts an der Universität Erfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kompetenzentwicklung und Professionalisierung in der Lehrer*innen­ bildung, Potenziale von Hochschullernwerkstätten, Planung von Sach­ unterricht sowie fachhistorische Entwicklungen des Sachunterrichts. Prof. Dr. Alexander Thumfart hatte die Hochschuldozentur für Politische Theorie an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt inne. Seine Forschungsschwerpunkte waren klassische und moderne politi­ sche Philosophie, Republikanismus, global political theories, Transformationsforschung und Nachhaltigkeit. Katy Wenzel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Grundschulpädagogik und Kindheitsforschung an der Erziehungswissenschaft­ lichen Fakultät der Universität Erfurt. Ihre A ­ rbeitsschwerpunkte sind der Schulgarten, die Wald- und Montessori­pädagogik sowie die Gesundheitserziehung.

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – SFB TRR 294/1 – 424638267 und FOR 2779

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Erfurt und der Stadt Erfurt

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