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German Pages 556 Year 1994
Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich
Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart Festschrift für Hugo Steger zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Heinrich Löffler, Karlheinz Jakob und Bernhard Kelle
w DE
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Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP- Einheitsaujnähme Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich : Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart ; Festschrift für H u g o Steger zum 65. Geburtstag / hrsg. von Heinrich Löffler ... — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 ISBN 3-11-014305-4 NE: Löffler, Heinrich [Hrsg.]; Steger, Hugo: Festschrift
© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Redaktion und Satz: Markus Hundt, Karlheinz Jakob, Monika Jakob, Freiburg i. Br. Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Zum Geleit A m 18. April 1994 feiert Hugo Steger seinen 65. Geburtstag. Zu diesem Anlaß widmen Kollegen, Schüler und Freunde dem Jubilar diese Festschrift. Das T h e m a ,Texttyp - Sprechergruppe - Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart' ist kein nachträglich vereinigendes Band u m ansonsten heterogene Beiträge, das R a h m e n t h e m a war den Autoren vorgegeben u n d sollte als Hommage an den Jubilar dessen Interessen, Schwerp u n k t e und Forschungsbereiche umschreiben. Wie die Autoren den R a h m e n auffaßten u n d wie sie ihn ohne weiteres Zutun der Herausgeber ausgefüllt haben, zeigt das Inhaltsverzeichnis. Es spiegelt nicht nur den thematischen Horizont des Jubilars und in einer zweiten Brechung dessen Einfluß auf Schüler und Kollegen, es ist auch eine Bilanz u n d Beschreibung der Forschungssituation von über 30 Jahren germanistischer Linguistik neuerer Prägung, für die die Generation des Jubilars wie keine andere als Träger und Repräsentant steht. Aus der alten philologischen Schule s t a m m e n d , wo Sprache u n d Literatur, historische G r a m m a t i k , Sprach-, L i t e r a t u r - und Kulturgeschichte noch eine Einheit bildeten und wo alle Nischen des Faches - von den ersten Anfängen bis zur Gegenwart, von den Wörtern und Namen bis hin zu Texten und G a t t u n gen - mit eingeschlossen waren, war dem Jubilar dank dieser generalistischen Herkunft eine Gesamtübersicht über das Fach und seine Probleme möglich und ihm somit die Fähigkeit gegeben, auch bei den neueren und neuesten Entwicklungen, die seit den sechziger Jahren vehement einsetzten, nicht nur nachvollziehend, sondern in höchstem Maße prägend mitbeteiligt zu sein. Insbesondere zeigte es sich, daß die historisch-philologische Herkunft nicht den Blick für die Verhältnisse der Gegenwart verstellte. Im Gegenteil: Wie Hugo Steger mehrfach bewies, ist der beste Ausgangspunkt für Neuansätze die Versammlung der bisherigen Autoritäten gewesen. So f ü h r t e ζ. B. in der Namenkunde oder in der Soziolinguistik der Weg aus der Forschungsgeschichte zu neuen bahnbrechenden Entwürfen und theoretischen Modellbildungen. Von da aus ließ sich dann die Gegenwart - für traditionelle Philologie eher als lästige Störung im Objektbereich betrachtet - mit neuen Augen ansehen und begreifen. Aus der in historisch-kulturräumlichen Zusammenhängen stehenden Beschäftigung mit Dialekten und deren arealen Strukturen erwuchs das generelle Interesse und die neue Einstellung gegenüber der gesprochene Sprache, ihren Erscheinungsweisen und ihrer Typologie. Die Verbindung zwischen Sprache und Literatur wurde aufs neue gezogen und neu gedeutet. Gruppensprache, Sprachverhaltensmodell, Redekonstellation, Textexemplar oder Textsorte waren neue Begriffe, die so schnell u m sich
VI
Zum
Geleit
griffen, daß die Autorschaft des Jubilars von vielen bald schon nicht mehr wahrgenommen wurde. Daß die theoretische, modellhafte und terminologische Abklärung neuer Verhältnisse und Zusammenhänge nie Selbstzweck, sondern immer auch Vorstufe für neue Sprachbeobachtung und neue Deutung der bekannten Fakten sein sollte, hat der Jubilar mit seinen Arbeiten z u m Südwestdeutschen Sprachatlas, zur Namenforschung oder bei der Beschäftigung mit Dialogen und anderen Erscheinungsformen der Gegenwartssprache gezeigt. In diesem Sinne wurde das vorgegebene R a h m e n t h e m a der vorliegenden Festschrift durch die beteiligten Autoren auch weniger methodologisch als vielmehr thematisch interpretiert: Nicht die Wege, sondern das Ziel, die Erkenntnisgegenstände wurden in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. Somit spiegelt sich in den hier versammelten Beiträgen eine lange u n d fruchtbare Forschungsperiode wider, zu deren maßgeblichen Repräsentanten der Jubilar gehört. Trotz der Vielfalt und Varianz der Beiträge und trotz oberflächlicher Distanz mancher Titel zum Rahmenthema versuchen doch alle Beiträge herauszufinden und darzustellen, was sprachliche Äußerungen und was Texte im Innern und Äußeren zusammenhält: von der Allegorese im Mittelalter u n d den grammtischen, stilistischen, rhetorischen oder auch nur graphematischen Gegebenheiten, wie sie bereits die Artes lehrten (Kap. I), über die poetisch-literarischen Erscheinungsweisen (Kap. II), die Einbettung von Sprache und Sprechereignissen in sozial-gesellschaftliche und historische oder aktuell-politische und wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge (Kap. III), zu den eigentlichen Materialien und Baugesetzen der Sprache und den in ihr ablaufenden Prozessen (Kap. IV), von der Arealität sprachlicher P h ä n o m e n e als Resultat von Mündlichkeit und kommunikativem Gebrauch (Kap. V), bis hin zu neuen Varianten und Variationen im Beziehungsfeld von Sprachhandlung und Text (Kap. VI) und schließlich als Rahmen und Abschluß der Einbezug der nonverbalen Bildlichkeit in das Gesamtkonzept Text (Kap. VII). Daß mit den hier in sieben Kapiteln versammelten Beiträgen nicht nur ein Bogen über ein weites Themenfeld gespannt ist, sondern gleichzeitig die wissenschaftliche Biographie des zu Ehrenden nachgezeichnet wurde, belegen im Detail die Beiträge selbst. Dort sind neben vielen Hinweisen ad personam auch zahlreiche Querverweise auf Arbeiten des Jubilars zu finden. Der Dank der Herausgeber geht an alle, die zum Gelingen des Werkes beigetragen haben. Die Festschrift für Hugo Steger möchten wir einerseits als ,GeburtstagsBouquet' verstanden wissen, aber besonders und vor allem möge sie als persönliche und wissenschaftsgeschichtliche ,Ertragsbilanz' dem Jubilar zur Freude und allen zum Nutzen gereichen. Basel und Freiburg i. Br., im März 1994
Die Herausgeber
Tabula gratulatoria
GERD ANTOS
G E R H A R D BLANKEN
Halle
Freiburg,i. Br.
JOHANNE AUTENRIETH
München
Hamburg
H E R B E R T BACKES
H O R S T BRUNNER
Würzburg
Saarbrücken HARALD BASSLER
Freiburg i. Br. ANDREA BASTIAN
HARALD B U R G E R
Zürich R O L F CASPARI
Freiburg i. Br.
Staufen GERHARD W .
KLAUS BRINKER
BAUR
Freiburg i. Br. ANDREA B E C K E R
Freiburg i. Br. R O L F BERGMANN
Bamberg W E R N E R BESCH
Bonn ANNE BETTEN
Eichstätt ANIL BHATTI
New Dehli B E R N D ULRICH B I E R E
Mannheim WALTER BLANK
Freiburg i. Br.
BERNHARD C A S P E R
Wittnau D I E T E R CHERUBIM
Göttingen MICHAEL CLYNE
Clayton K A R L O T T O CONRADY
Rösrath bei Köln ÄLVARO C R U Z - S A C O
München KARLHEINZ DANIELS
Bonn C H R I S T O P H DAXELMÜLLER
Regensburg FRIEDHELM D E B U S
Kiel
VIII T H E O D O R DIEGRITZ
Erlangen-Nürnberg JÜRGEN DLTTMANN
Freiburg i. Br. GÜNTHER DROSDOWSKI
Mannheim ERNST EICHLER
Leipzig
Tabula,
gratulatoria DIETER GEUENICH
Duisburg HANS GLINZ
Wädenswil JOACHIM GÖSCHEL
Marburg PAUL GOETSCH
Freiburg i. Br.
P E T E R EISENBERG
Potsdam
SILKE GÖTTSCH
Freiburg i. Br. ULRICH ENGEL
Heppenheim
LUTZ GÖTZE
Saarbrücken JOHANNES ERBEN
Bonn W I L L I ERZGRÄBER
Freiburg i. Br. MANFRED FAUST
Konstanz EKKEHARD FELDER
ALBRECHT GREULE
Regensburg REINHOLD GRIMM
Riverside CHRISTOPH GROLIMUND
Basel
Freiburg i. Br. ERNST ULRICH GROSSE ARMIN PAUL FRANK
Freiburg i. Br.
Göttingen RUDOLF GROSSE KARL O T T O FRANK
Leipzig
Stegen SIEGFRIED GROSSE H A N S - M A R T I N GAUGER
Freiburg i. Br. HELLMUT GEISSNER
Landau K A R L - E R N S T GEITH
Genf EDDA u n d FRANK GENTRY
Spring Mills
Bochum MATHILDE GYGER
Basel WALTER HAAS
Freiburg i. U. WOLFGANG HARMS
München
Tabula DIETRICH HARTMANN
gratulatoria
IX
DIETRICH HUSCHENBETT Würzburg
Bochum W O L F G A N G HAUBRICHS Saarbrücken
MARKUS H U N D T Freiburg i. Br.
WALTER HAUG Tübingen
JUN IMADA Yamaguchi
CHRISTOPH HAUSER Baden-Baden
E I J I R O IWASAKI Kamakura
T o z o HAYAKAWA
LUDWIG JÄGER
Tokio
Aachen
KLAUS H E G E R Heidelberg
KARLHEINZ JAKOB Freiburg i. Br.
GERHARD HELBIG Leipzig
HANNES K Ä S T N E R Freiburg i. Br.
HELMUT HENNE
ATSUO KAWASHIMA
Braunschweig
Soka
O T T O HERDING Freiburg i. Br.
BERNHARD KELLE Freiburg i. Br.
O T T M A R HERTKORN Paderborn
PETER C. KERN Freiburg i. Br.
E. W . B.
PETER KERN Bonn
HESS-LÜTTICH
Bern JÜRGEN H E Y E R i o de Janeiro REINER HILDEBRANDT Marburg FERNAND HOFFMANN Luxemburg KONRAD HOFFMANN Tübingen ALEXANDER HOLLERBACH Freiburg i. Br.
WALTHER K I N D T Bielefeld WOLFGANG KLEIBER Mainz ERICH KLEINSCHMIDT Köln G Ü N T E R KOCHENDÖRFER Freiburg i. Br. W E R N E R KÖNIG Augsburg
Tabula gratulatoria
χ HELLA KOHRS
Bonn KLAUS HEINRICH KOHRS
Bonn GUSTAV KORLEN
Stockholm G E R H A R D KOSS
Regensburg DIETRICH KRUSCHE
München INGRID KÜHN
Halle KONRAD KUNZE
Freiburg i. Br. G E R H A R D KURZ
Gießen ECKARD LEFEVRE
Freiburg i. Br. M A N F R E D LEMMER
Halle
ECKART C O N R A D LUTZ
Freiburg i. U. H A N S - D I E T E R LUTZ
Koblenz P E T E R R . LUTZEIER
München ANWER MAHMOOD
Islamabad B E R N D MARTIN
Freiburg i. Br. KLAUS J . MATTHEIER
Heidelberg RAYMOND MATZEN
Strasbourg HUBERTUS M E N K E
Kiel EDITH MICHEL
Mulhouse W I L L Y MICHEL
Freiburg i. Br.
O D O LEYS
HUBERT MORDEK
Leuven
Freiburg i. Br.
DEZHANG LIU
Freiburg i. Br. HEINRICH L Ö F F L E R
Basel ANDREAS LÖTSCHER
Riehen O T T O LUDWIG
Hannover
G Ü N T H E R MORHINWEG
Conception HANS M O S E R
Innsbruck ABDERRAZZAQ MSELLEK
Fes R O L F MÜLLER
Kassel
Tabula R O L F MÜSCHEN
Santiago de Chile BERND NAUMANN
Erlangen GÜNTER NEUMANN
Würzburg A D I N A - L U C I A NISTOR
Jassy H A N S ULRICH N U B E R
Freiburg i. Br.
gratulatoria HANS RAMGE
Gießen RAINER RATH
Saarbrücken JOHANNES RATHOFER
Köln S A B I N E REICH
Freiburg i. Br. O S K A R REICHMANN
Heidelberg
K U R T NYHOLM
Turku/Äbo
INGO REIFFENSTEIN
Salzburg
ELS O K S A A R
Hamburg
H E L M U T RICHTER
Berlin HUGO O T T
Merzhausen
G E R T RICKHEIT
Bielefeld B Y U N G - H E E PAE
Kunsan
LUTZ RÖHRICH
Freiburg i. Br. HERBERT PENZL
Berkeley
H E L M U T RÖSSLER
Freiburg i. Br. CARL PIETZCKER
Freiburg i. Br. U W E PÖRKSEN
Freiburg i. Br. ROLAND P O S N E R
Berlin PETER PÜTZ
Bonn WOLFGANG PUTSCHKE
Marburg FRANZ QUARTHAL
Stuttgart
E R N S T T H . ROSENTHAL
Säo Paulo R O S A LUISA R U B I O DE HERNANDEZ
Lima T E R E S A RUIZ R O S A
Arequipa HEINZ R U P P
Basel B A R B A R A SANDIG
Saarbrücken
XII GÜNTER SASSE
Tabula, gratulatoria GISELA SCHOENTHAL
Freiburg i. Br.
Freiburg i. Br.
MEINRAD SCHAAB
ALFRED SCHÖPF
Stuttgart GERD SCHÄNK Nijmegen MICHAEL SCHECKER Freiburg i. Br. JÜRGEN SCHIEWE Freiburg i. Br. MARVIN und ROSLYN SCHINDLER Detroit
Hohenschäftlarn RENATE SCHRAMBKE Freiburg i. Br. GOTTFRIED SCHRAMM Freiburg i. Br. PETER SCHRÖDER Mannheim EVA SCHÜTZ Frei bürg i. Br. ERNST SCHULIN Freiburg i. Br.
K A R L - H E I N Z SCHIRMER Kiel
HANS ERHARD SCHULZ Freiburg i. Br.
BERND SCHIROK Freiburg i. Br.
VOLKER SCHUPP Freiburg i. Br.
KURT SCHLÜTER Freiburg i. Br.
JOHANNES SCHWITALLA Mannheim
JOCHEN SCHMIDT Freiburg i. Br. W A L T E R SCHMITTHENNER Freiburg i. Br. GÜNTER SCHNITZLER Freiburg i. Br. ALBRECHT SCHÖNE Göttingen JÖRG SCHÖNERT Hamburg A L F SCHÖNFELDT Kiel
ERICH SEIDELMANN Freiburg i. Br. HANSJAKOB SEILER Lenzburg HARTMUT SEMMLER Stuttgart TAKASHI SENGOKU Tokio W O L F - D I E T E R SICK Denzlingen HORST SITTA Zürich
Tabula STEFAN SONDEREGGER Zürich HANS O T T O SPILLMANN Kassel JOCHEN S P L E T T Münster K A R L STACKMANN Göttingen
XIII PAUL VALENTIN Paris HEINZ V A T E R Köln WERNER H. VEITH Mainz SIBYLLE W A H M H O F F - R A S C H E F r e i b u r g i. B r . YUTAKA WAKISAKA
DIETER STELLMACHER
Nara
Göttingen IVAR W E R L EN HEIKO STEUER Freiburg i. B r . G E O R G STÖTZEL Düsseldorf
Bern OTMAR WERNER F r e i b u r g i. B r . SIGURD W I C H T E R Münster
BIRGIT STOLT Uppsala
HERBERT E R N S T W I E G A N D Heidelberg
ERICH STRASSNER Tübingen
RAINER WIMMER Mannheim
Y U M I K O TAKAHASHI Tokio HERBERT TATZREITER Wien G E R D TELLENBACH Freiburg i. B r . HEINRICH TIEFENBACH Regensburg MICHIKO U E K I Sapporo V U R A L ÜLKÜ Mersin
ALOIS W O L F F r e i b u r g i. B r . N O R B E R T RICHARD W O L F Würzburg ALFONS ZETTLER F r e i b u r g i. B r . PAUL ZINSLI Bern T H O M A S ZOTZ F r e i b u r g i. B r . HERTA Z U T T F r e i b u r g i. B r .
XIV
Tabula
gratulatoria,
UNIVERSITY OF CALIFORNIA, B E R K E L E Y UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK H U M B O L D T - U N I V E R S I T Ä T BERLIN UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK T U
BERLIN
GERMANISTISCHES SEMINAR, BONN INSTITUT FÜR KOMMUNIKATIONSFORSCHUNG UND PHONETIK, BONN SEMINAR FÜR DEUTSCHE S P R A C H E , BRAUNSCHWEIG UNIVERSITÄT C H E M N I T Z - Z W I C K A U DEUTSCHES SEMINAR, FREIBURG I. B R . SEMINAR FÜR DEUTSCHE PHILOLOGIE, GÖTTINGEN INSTITUT FÜR GERMANISTIK, G R A Z GERMANISCHES SEMINAR, HAMBURG GERMANISTISCHES INSTITUT, HELSINKI INSTITUT FÜR GERMANISTIK, INNSBRUCK INSTITUT FÜR DEUTSCHE S P R A C H E , MANNHEIM FORSCHUNGSINSTITUT FÜR DEUTSCHE S P R A C H E , DEUTSCHER SPRACHATLAS, M A R B U R G INSTITUT FÜR GERMANISCHE SPRACHWISSENSCHAFT, M A R B U R G INSTITUT FÜR DEUTSCHE PHILOLOGIE, MÜNCHEN UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK PADERBORN INSTITUT FÜR GERMANISTIK, SALZBURG UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK GESAMTHOCHSCHULE SIEGEN INSTITUT
FÜR
LITERATURWISSENSCHAFT,
ABT.
ÄLTERE
STUTTGART INSTITUT FÜR DEUTSCHE PHILOLOGIE, W Ü R Z B U R G
PHILOLOGIE,
Inhaltsverzeichnis
Zum Geleit Tabula gratulatoria I. Sprache und Literatur des Mittelalters
V VII 1
WALTER B L A N K
Zur Rhetorik der Allegorie als ,uneigentliche Aussage'
3
HERTA Z U T T
BIETEN. Das Bedeutungsspektrum eines Verbs der ritterlich-höfischen Kultur
17
B E R N D SCHIROK
Handlung und Exkurse in Gottfrieds ,Tristan'. Textebenen als Interpretationsproblem V O L K E R SCHUPP
Zu Hartmann Schedels Weltchronik MICHAEL S C H E C K E R
33 52
Zur Entwicklung der Schriftkultur in althochdeutscher Zeit
68
II. Literatursprache der Neuzeit
87
ERICH KLEINSCHMIDT
Die andere Stimme. Zu Sprachgenese und Autorschaft
89
GÜNTER SASSE
Aufrichtigkeit: Von der empfindsamen Progr^mmatik, ihrem Kommunikationsideal, ihrer apologetischen Abgrenzung und ihrer Aporie, dargestellt an Gellerts Zärtlichen Schwestern
105
In h ai tsverzeich η is
XVI SIEGFRIED
GROSSE
Sprachliche Varietäten in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang WILLY MICHEL u n d EDITH
. . . . 121
MICHEL
Hermeneutische Situation und reale Umbruchssituation. Zur Sprache und Kritik in der Essayistik seit 1989 bei Martin Walser, Peter Sloterdijk, Volker Braun, Botho Strauß und Peter Handke
133
ROLF MÜLLER
Das Poetische an einem literarischen Text. Expliziert an J o h a n n e s Bobrowski, Stiller Sommer; zugleich etwas über Wachteln
150
III. Soziale und politische Aspekte der jüngeren Sprachgeschichte
167
MICHAEL
CLYNE
Warum ich Deutsch für eine soziolinguistisch interessante Sprache halte INGO
169
REIFFENSTEIN
Der ,Hirtenbrief' Kaiser Josephs II. von 1783 KARLHEINZ
JAKOB
Die Bedeutung der transitorischen Gruppensprachen für den Sprachwandel JOHANNES
197
SCHWITALLA
Vom Sektenprediger- zum Plaudererton. Beobachtungen zur Prosodie von Politikerreden vor und nach 1945 ERICH
180
208
STRASSNER
Deutsche Presse und Pressesprache nach 1945 REINER
225
HILDEBRANDT
Max Weinreich: Promotion Marburg 1923, Publikation Atlanta 1993 . . . 261
IV. Strukturen der Gegenwartssprache ODO
269
LEYS
Die Präposition zu als Bezeichnung der Lage und der Richtung
271
Inhaltsverzeichnis
XVII
ELS O K S A A R
Merkmalhaltigkeit, Merkmallosigkeit u n d K o n t e x t u a l i t ä t . Zu den Veränderungstendenzen bei N o m i n a agentis in der Gegenwartssprache . . 277 PAUL VALENTIN
S y n t a x u n d Semantik: Zur Abfolge der A t t r i b u t e in der deutschen N o m i n a l g r u p p e
284
G Ü N T E R KOCHENDÖRFER
Neuronale Modelle des Sprachverstehens: Ein p r o t o t y p i s c h e r P a r s e r f ü r syntaktische S t r u k t u r e n gesprochener Sprache
292
V. Dialektologie und Namenkunde
313
RENATE SCHRAMBKE
Lenisierungen i m südwestdeutschen S p r a c h r a u m
315
OTMAR W E R N E R
Was da sich ölles aahotmüßhör! ,Was der sich alles h a t a n h ö r e n müssen!' Auxiliar-Inkorporation im O s t f r ä n k i s c h - T h ü r i n g i s c h e n
343
E R N S T EICHLER
F ü r einen N a m e n a t l a s O s t m i t t e l d e u t s c h l a n d s ( N A O D )
362
VI. Sprachhandlung und Texttyp
373
RAINER RATH
Was ist aus der Erforschung der gesprochenen deutschen Sprache geworden? A n m e r k u n g e n zur Geschichte eines Wissenschaftsgebietes . . . 375 P E T E R CHRISTOPH K E R N
P a t h o s . Vorläufige Überlegungen zu einer v e r p ö n t e n Kommunikationshaltung
396
B E R N H A R D KELLE
Zur K o m m u n i k a t i o n s t y p i k in den Briefen J o h a n n e s Keplers
412
BERND NAUMANN
Dialog mit d e m A n r u f b e a n t w o r t e r : Eine K o m m u n i k a t i o n s f o r m der besonderen Art
430
XVIII
Inhaltsverzeichnis
HELMUT
RÖSSLER
Kurzantworten im Fremdsprachenunterricht GERD
444
SCHÄNK
Nietzsche: der wandernde Philosoph. Einige Bemerkungen zur Textstruktur bei Nietzsche
463
VII. Wort und Bild
473
UWE
PÖRKSEN
Visualisierung versus Sprache. Die Spirale als Metapher oder als Illustration der „Phänomenologie des Geistes" HANNES
475
KÄSTNER
Das Bannerzeichen des Pharao. Zur Gestaltung und Intention der Exodus-Darstellung des Rieter-Fensters in St. Lorenz zu Nürnberg
497
I. Sprache und Literatur des Mittelalters
WALTER BLANK,
Freiburg i. Br.
Zur Rhetorik der Allegorie als ,uneigentliche Aussage'
1. Die Prägung der Allegorie Die Redefigur der Allegorie wird seit der Antike unter der rhetorischen Topik der Tropen behandelt. Weis genau aber die Tropen und des näheren die Allegorie sind, scheint bis heute definitorisch nicht exakt bestimmbar. Eine Fülle von Definitionsvarianten bietet sich an, die jedoch, je nach der grammatischsprachlichen Kontextfunktion, unterschiedlich akzentuieren. Ubereinstimmung besteht in der sprachlichen Vorgangsbeschreibung, daß es bei den Tropen um eine „translatio" oder „mutatio" geht, also um eine Übertragung einer „dictio propria" auf eine „dictio non propria", was sich präzisieren läßt auf den Bereich der Semantik als „propria significatio" bzw. als „mutatio in aliam", auf eine „oratio remota" 1 . Dies gilt genauso für den tropus verbi, etwa die Metapher, wie für den tropus sermonis, die Allegorie. Diese „Sinnfiguren" (E.R.Curtius) heben also auf eine grundlegende Doppelstruktur des Sprechens ab, auf die Existenz einer Vordergrund- und einer HintergrundSemantik bei ein und derselben Sprachform. Aber die Verwendung der Tropen weist vom Verwendungszweck und der Gewichtung her, die die Definitionen betonen, weitergehend vor allem auf jene Hintergrundbedeutung hin, die unter Rekurs auf Aristoteles in dreifacher Weise begründet wird: „aut quia necesse est aut quia significantius est aut quia decentius" 2 . Das heißt im Fall „necesse est": Es gibt existentielle Gegebenheiten, die sprachlich nicht anders als nur durch eine uneigentliche Sprechweise angedeutet oder ausgedrückt werden können (z.B. mythische Vorgänge, Glaubensgeheimnisse). Die Unzulänglichkeit der Sprache spiegelt hier die menschliche Kontingenz. Die andern beiden Verwendungsbegründungen heben auf sprachliche Annäherungsmöglichkeiten an ,Gegenständliches' ab. Dabei wird im Fall „significantius" ausdrücklich die Bildhaftigkeit und damit eine vorstellungsmäßige Assoziation als sprachliches Vergleichs- und Ausdrucksmodell betont (ζ. B. in der Metapher), das sich aber nicht definieren und auch nicht linear ableiten läßt, und damit ist eine klare Abgrenzbarkeit gegen semantische Konkurrenten im Wortfeld unmöglich. Die Rechtfertigung dieser Funktionsbegründung besteht also offenkundig in einem methodischen Zugriff, der zwar sprachlich Ι Quintilian 1965, VIII, 6, 1.4; IX, 1, 4; A d Herennium 1964, IV, 34; Cicero 1963, 27, 94. 2 Quintilian 1965, VIII, 6, 5; ähnlich Cicero 1963, 27, 94.
Waiter Blank
4
erfolgt, aber transverbal ist, und der auf diese Weise auf eine übergreifende, andere Ganzheit verweist. Sowohl der Ausdrucks- wie der Vergleichspunkt entziehen sich daher konsequenterweise einer klaren Definition 3 . Der Fall „decentius" schließlich weist nochmals in eine andere Richtung: auf die rein ästhetische Komponente einer Sprachform der Übertragung. Dies ist ein weiterer Faktor für Ausdrucks- u n d für Rezeptionsvorgänge, die im menschlichen Kommunikationssystem den reinen Funktionswert der instrumentalen Verständigung übersteigen. Zusammenfassend bedeuten diese drei aristotelischen Begründungen bezüglich der Verwendung von Tropen, daß es Bereiche gibt, die der menschlichen Kommunikation sprachlich nur teilweise zugänglich, erfaßbar oder beschreibbar sind. Diese Bereiche sind jedoch für den Menschen so wesentlich, daß man selbst auf einen unzulänglichen Versuch der Annäherung an sie nicht verzichten kann. Deshalb bedient man sich eines Verweissystems, das andeutend die kreative Mitwirkung des Rezipienten aktiviert, u m durch ihn das vom Sprecher Gemeinte nach seiner eigenen Vorstellung vervollständigen zu lassen. (Das aber ist etwas anderes als die semantische Verweisstruktur von signifiant und signifie!). Das gilt nicht nur für die ,Inhalte', sondern genauso für die Formen der Sprache, mit deren Hilfe sich die Menschen jener Realia vergewissern oder sich in der eigenen Wahrnehmung bestätigen wollen: Die Formen des ,uneigentlichen Sprechens' bedienen sich der Sprache trotz ihrer zu kurzen Zugriffe auf die in Frage stehenden ,Realia'. Doch kann m a n auf sie nicht verzichten, will m a n ü b e r h a u p t Erkenntnisse formulieren bzw. an andere weitergeben. Das angesprochene Problem zeigt sich am schärfsten im Kampf eines ganzheitlichen „Denkens gegen die Unzulänglichkeit des Begriffs-Wortes und gegen die wörtliche Auslegung seiner Formulierungen" (Quint 1964, 123) in der Mystik, was sich als anthropologisches Grundproblem jedoch nicht auf die Theologie begrenzen läßt. 3
Wegen des gewaltsamen Versuchs der meisten lexikalischen Definitionen von ,Allegorie', der hier aufgezeigten übergreifenden bzw. sich entziehenden „mutatio in aliam" rational beizukommen, scheitern fast alle einschlägigen Artikel der Gegenwart, die ich daraufhin geprüft habe. Als Beispiel hier die Version des Großen Brockhaus: „Allegorie: verstandesmäßig faßbare bildliche Darstellung eines abstrakten Begriffs oder Vorgangs, oft in Form der Personifikation. Im Unterschied zum rsinnenfälKgen' Symbol enthält die A. eine gedanklich-konstruktive Beziehung zwischen dem Dargestellten und dem Gemeinten [ . . . ] " (12 Bände, Wiesbaden. 18. Aufl. 1977, Bd. 1, 165). Diese Definition ist weder in ihren eigenen Bedingtheiten noch in ihrem historisch wechselnden Verständnis erörtert. In seinen nicht ausgesprochenen Vorannahmen ist der Artikel abhängig von der hier nur angedeuteten Goetheschen Umdefinition mit ihrer dem Symbol entgegengesetzten allegorischen Rationalität', die historisch weder der Antike und dem Mittelalter noch dem Barock, noch der Romantik und ihrer Tradition, noch der Nachkriegsdiskussion im Anschluß an W. Benjamin, noch der jüngsten Position der Postmoderne gerecht wird. Zentrales Mißverständnis hier ist der Irrtum zu glauben, daß mit einer rein rational verstandenen Sprache (und Erkenntnis) auch alle Irrationalitäten des Lebens zumindest beschrieben werden können.
Zur Rhetorik der Allegorie als ,uneigentliche
Aussage'
5
Wenn Quintilian diese Dichotomie der Tropen am Beispiel der Allegorie derart verschärft, daß er den verbalen Sinn und die Ausdrucksintention des Gesagten einander sogar entgegensetzt („aliud verbis, aliud sensu ostendit" - VIII, 6, 44), stellt er implizit zwei fundamentale Sprachgegebenheiten fest: 1. die Sprache ist doppelbödig und dient nicht nur einer eindeutigen Verständigungsmöglichkeit; es gibt also eine mehrfache Bedeutungs- und Sinnebene des Gesagten; 2. wenn es eine ganze Großgruppe von rhetorischen Figuren gibt, deren Beschreibung und Erschließung das ,uneigentliche Sprechen' ist 4 , impliziert das, daß die Funktion von Sprache hier als ein Mittel gesehen wird, den Kommunikationsprozeß als einen Vorgang zu verstehen, der das Verbale transzendiert. Für die linguistische Pragmatik ist das eine Binsenwahrheit. Doch scheint es mir hilfreich, ihr Instrumentarium auf die Grundproblematik der Allegorie hin einmal historisch zu hinterfragen und deren stillschweigende, implizite Vorannahmen in ihrer diachronen Veränderung herauszustellen. 2. Der Ansatz der Allegorie Versuchen wir, genauer zu beschreiben, was eine Allegorie ist, so ist davon auszugehen, daß Allegorie nicht nur ein Stilmittel ist, das dem rhetorischen ,decorum' dient, sondern eine grundlegende Ausdrucksmöglichkeit von Gedanken, genauer: einer Ideologie, die mentale Strukturen ,übersetzt'. Ihr Ziel ist die Öffnung des Blicks für universale Strukturen des Kosmos, die den Bereich des Zufälligen übersteigen. Es geht um eine bestimmte Art des Wirklichkeitsverständnisses und seiner Darstellung, die mehr philosophischer als linguistischer Natur ist. Dabei ist nicht schon zu Beginn einer Allegorie deutlich, ob ihr Verfasser in ihr nur seine eigene Sicht der Dinge überhöht und auf eine fiktive universale Struktur projiziert, deren Wirklichkeitsgehalt erst noch erwiesen werden müßte, oder ob er umgekehrt von einem geglaubten idealtypischen Realen ausgeht, an dem er die konkrete Fallbeschreibung mißt und beurteilt (vgl. Payen 1973, 466 ff.). Im ersten Fall haben wir eine poetische Allegorie vor uns, im zweiten eine allegorisch-theologische Auslegung. Um diese vermeintliche Ambivalenz aufzulösen, ist ein Blick in die Geschichte des Begriffs ,Allegorie' hilfreich. Schon in der Antike begegnet neben der Verwendung der rhetorischen Figur der Allegorie die Praxis der allegorischen Auslegung von alten Texten, etwa Homers. Im Unterschied zur primär innersprachlichen Ebene der Rhetorik, in der in der Übertragung von Begriffen in Bilder eine poetische amplificatio vorgenommen wird, die eine intentionale Ausweitung der angesprochenen Dimension zur Folge hat, ist in der allegorischen Auslegung die Absicht der Erläuterung, der Kommentierung, der Rechtfertigung eines in sich gültigen Textes zu sehen, dessen Aussagen im Lauf der Zeit Anstoß erregt haben. Ein quasi kanonisierter Text aber kann nicht einfach 4
Seit der Herennius-Rhetorik zählt man meist zehn unterschiedliche Tropen auf, doch wechselt die Zahl auch im Mittelalter bis zu sechzehn Tropen.
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Walter Blank
kritisiert oder gar korrigiert werden, sondern bedarf, um den Wert des Textes erhalten zu können, einer neuen Lesung. Dies leistet das allegorische Ubertragungsverfahren vom Literalsinn auf eine andere Sinnebene, den Spiritualsinn. Mit dieser Interpretatio allegorica der Homer-Auslegung korrespondiert die frühe Bibelauslegung. Gemeinsam ist beiden das Vorliegen eines unveränderbaren Textes mit einem primären Literalsinn, dessen Bedeutungsverweis vom Wortzeichen auf die Sinnebene jedoch der Auslegung unterliegt. Seit Augustinus verwenden die Kirchenväter neben dem Literalsinn drei spirituale Deutungen: die allegorisch-ekklesiologische (auf die Kirche), die moralisch-tropologische (auf den Einzelnen) und die anagogisch-eschatologische (auf Jenseits und Vollendung). Die christliche Auslegung der heidnischen Autoren bevorzugt vor allem die moralische Interpretation. Das Problem beider Deutungen aber ist - in Diskrepanz zum theoretischen Postulat - die de facto-Entwertung des Literalsinnes zugunsten des Spiritualsinnes. Der Rhetorik wie der weltlichen und geistlichen Auslegungsmethode ist die doppelte Sinnebene mit der Betonung des Spiritualsinnes gemeinsam. Innerhalb der literarischen Auslegung allerdings sind Unterschiede zu erkennen: Dient die interpretatio allegorica des Homer-Textes vor allem dessen Rechtfertigung, so zielt die christliche Auslegung auf eine Sinnerschließung eines christlich gesehenen Universums, dessen Bausteine den Literalsinn weit übersteigen. Eine dritte Großgruppe entwickelt sich in der Spätantike (Prudentius, Marianus Capella) aus dem angesprochenen Auslegungsverfahren zu einer selbständigen poetischen Form, die ebenfalls unter der Bezeichnung ,Allegorie' läuft. Friedrich Ohly sieht in ihr zurecht eine „Denkform" (Ohly 1977, passim), die das Mittelalter zusammen mit der Denkform der Analogie prägt. Der Unterschied zur genannten Allegorese liegt darin, daß hier nicht ein vorgängiger, fester Text interpretiert wird (wie in der Homer- oder Bibel-Allegorese), sondern daß ein Dichter einen Text neu schafft, der jedoch von Anfang an auf Auslegung hin konzipiert ist. In dieser poetisch-expositorischen Allegorie wählt der Autor für die Darstellung seiner moralisch-geistigen, idealtypischen oder seiner glaubensmäßigen Aussage einen entsprechenden Bildbereich aus, in dem Darstellung wie Sinnvorgabe gleichermaßen realisiert sind. Diesen Bildteil setzt er dann, analog dem allegorischen Auslegungsverfahren, darstellerisch an den Beginn der Allegorie-Exposition, während er im poetischen Schöpfungsprozeß nachgeordnet ist. Hier dient er als darstellend-vergleichbare Materialbasis für die idealtypische Konzeption des Autors, auf die hin der so geschaffene Text dann ausgelegt werden soll. Dieses Verfahren macht deutlich, daß der kreative Prozeß beim Dichter jenem Prozeß der allegorisch-theologischen Auslegung genau entgegengesetzt ist, auch wenn das Auslegungsverfahren formal identisch ist. Primär ist hier die Intention, sekundär dessen Umsetzung in einen darstellenden Text. Der allegorische Schaffensprozeß beim Dichter ist final orientiert. Denn der auszulegende Text ist nicht eine vorgefundene literarische
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Basis, sondern umgekehrt ist er auf Auslegung hin geschaffen und vom intendierten Zielbereich her konzipiert. Diese Form der Allegorie findet ihren Höhepunkt in poetischen Großformen des 13. und 14. J a h r h u n d e r t s 5 u n d wird als poetische Technik, auch nach der Zeit der Aufklärung, bis ins 20. Jahrhundert weiter praktiziert. Der Schlüssel z u m Verständnis einer solchen Allegorie durch den Rezipienten liegt daher nicht in ihrem Bildteil oder i m Literalsinn der Darstellung, sondern in der Erkenntnis der intendierten Zielvermittlung auf der Ubertragungsebene. Für den Produzenten aber konstituiert sich Allegorie damit als hermeneutisches Auslegungsprinzip, das den Erzeugungsgrund von Texten mitliefert. Den Anfang dieses Kapitels wieder aufgreifend, geht es unserer Analyse also nicht so sehr u m Allegorie als ein Stilmittel, noch weniger u m die allegorische Auslegung nach dem Modell der H o m e r - oder Bibel-Auslegung (die besser ,Allegorese' benannt werden sollte), als vielmehr u m die selbständige, poetisch geschlossene Setzung eines dichterischen Textes, der zur Erörterung bestimmter Weltstrukturen auf einer anderen S p r a c h - u n d Bedeutungsebene dient.
3. Die Bedeutungsebenen Wonach unterscheiden sich nun die angesprochenen Bedeutungsebenen? F ü r die folgende Untersuchung ist historisch zu unterscheiden, für welchen Betrachtungszeitraum sie gelten soll. Ich beginne mit der antik-mittelalterlichen Perspektive, die ungebrochen bis einschließlich der Barockdichtung gilt. Für das mittelalterlich hermeneutische Verfahren ist von der Spannung zwischen ,res' und ,signum/verbum' auszugehen, zwischen der ,Sache' und dem Wortlaut. Dabei gelten zwei Wechselbeziehungen: 1. die ,Sache' transzendiert den Wortlaut, sie ist größer und umfassender als das ,verbum'; 2. der Wortlaut seinerseits verweist auf die ,Sache'. Damit hat das Wortzeichen per se einen hinweisenden Charakter, ohne dadurch aber die Wirklichkeit als ganze schon erfassen zu können. Dies liegt in der Mehrdeutigkeit der ,res' begründet, die die unterschiedlichsten Perspektiven auf sich beziehen kann, diese jedoch nicht selektiert und prädeterminiert. Dies ist die Funktion des ,verbum', das durch die begriffliche Abgrenzung genau jene Selektion der Betrachtung vornimmt. Die Konsequenz aus der Mehrdeutigkeit der ,res' wird methodisch a m schärfsten in der theologischen Interpretation gezogen: Der Mehrdeutigkeit der Sache entspricht ein ,mehrfacher Schriftsinn', der in vier Modi geteilt ist: in den Literalsinn und die drei Spiritualsinne (siehe oben). Auf diese Weise wird deutlich, daß es immer verschiedene Lesungen derselben ,res' gibt. 5
Reimdichtungen im Umfang von mehreren tausend Versen: z.B. Der ,Rosenroman' von Guillaume de Lorris bzw. Jean de Meung; Dantes ,Divina Commedia'; Hadamars von Laber ,Jagd' oder die anonyme ,Minneburg'.
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An diesem Verfahren wird aber noch ein weiterer zentraler Gesichtspunkt der Allegorie deutlich. Bedenken wir, daß die geistliche Allegorese ein theologisches Mittel zur pastoralen Unterweisung ist. Mit dem Pastoralbezug ist die Sprecher-Hörer-Relation angesprochen, genauso wie die finale Orientierung, die die Perspektive der Mitteilung als Ausrichtung auf ein ,Jenseits' bestimmt. Konkret: Wenn der Theologe, der einen Text auslegt, als Horizont die Kirche vorgibt (— allegorisch-ekklesiologischer Sinn) oder das Verhalten des Einzelmenschen ( = tropologisch-moralischer Sinn) oder die Vollendung im Jenseits ( = anagogisch-eschatologischer Sinn), so bestimmt er damit zugleich pragmatisch die Zielorientierung, wie sich der Hörer zu verhalten habe. Zum ersten (mit dem ekklesiologischen Sinn) solle er sich bewußt machen, daß er in einer großen Gemeinschaft lebt, die ihn mit trägt, gegenüber der er aber auch Verpflichtungen hat. Diese Gemeinschaft ist eine Glaubensgemeinschaft, die den Einzelnen von gemeinsamen Heilsvorstellungen her verbindlich integriert in diese Sozietät. D.h. der erste Sinn spricht in der Bildebene von der sozialen Einbettung des Hörers, die jedoch glaubensmäßig begründet und damit zugleich vertikal überhöht ist ( = integrierende Funktion). Zum andern (mit dem tropologischen Sinn) solle er sich prüfen, inwiefern er als Einzelner, mit einer von Gott geschaffenen Seele, die sich vor ihm verantworten muß, richtig oder falsch handelt oder gehandelt hat bzw. wie er sein Verhalten schärfer an den in der Allegorese aufgezeigten Normen orientieren muß, u m richtig zu handeln. D.h. hier wird die vergleichende Kontrolle an einem vorgegebenen Normensystem vorgenommen, dem dieser Einzelne, der angesprochene Hörer, unterworfen wird ( = normierende Funktion). Zum dritten (mit dem eschatologischen Sinn) geht es darum, daß ein Glaubenswissen ,anagogisch' vermittelt wird, d.h. ,hinaufführend' zur Jenseits-Perspektive. Der Hörer soll hier angehalten werden zu reflektieren, daß das irdische Leben nicht das eigentliche Leben ausmacht, sondern nur eine Durchgangsstufe zu einem Jenseits ist, das in seiner beschriebenen oder erinnerten paradiesischen Vollkommenheit Movens sein soll, sich über die Alltagswelt zu erheben. D.h. es wird hier von der Glaubensbasis her für die Ausrichtung auf jene andere Dimension hin plädiert, die - in der Umkehrung der üblichen Gewichtung - statt von der zweiten von einer ersten Welt spricht und damit die ,Realität' auf eine neue Basis stellt ( = transzendierende Funktion). An diesem paradigmatischen Auslegungsmodell für hinweisendes Sprechen wird deutlich, was die unausgesprochenen Voraussetzungen für das Verstehenkönnen dieses allegorischen Vierermodells sind. Es ist eine doppelte Bedingung, die positiv entschieden sein muß, damit dieses allegorische System kommunikativ funktionieren kann: (1) Es bedarf des Konsenses über den Wirklichkeitsbegriff, der von Sprecher wie Hörer zugrundegelegt wird. Diese Wirklichkeit kann eine Überhöhendideale, eine geistige oder eine glaubensmäßige sein. Für alle drei Bereiche
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gilt der Wirklichkeitsanspruch der ,res', ohne daß ein bestimmter Bereich daraus aber schon prädeterminiert wäre. Die Auswahl ist eine Angelegenheit des - normalerweise nonverbalen - Konsenses. In unserm Beispielfall ist es die Glaubenswirklichkeit, auf die sich Sprecher wie Hörer beziehen. Von der Art des Wirklichkeitsverständnisses aber ist abhängig, wie der Status und das Verhalten des Einzelnen als ontologischer Wert wie als Sollenswert bestimmt wird. - Daraus leitet sich zwingend die andere Bedingung ab: (2) Der Vorgang des Konsenses ist eine Variable, die historisch, soziologisch oder psychologisch divergent sein kann. Wenn das Verständnis der Allegorie und ihr Funktionieren gewährleistet sein soll, gehört es zu den unabweislichen Bedingungen, daß jene andere Ebene, auf die allegorisch verwiesen ist, von beiden Gesprächspartnern als Wirklichkeit akzeptiert wird. Diese Akzeptanz kann innerhalb bestimmter Zeiträume vorliegen ( = historische Ebene) und/oder nur für bestimmte gesellschaftliche Gruppen gelten ( = soziologische Ebene) und/oder von bestimmten individuellen Dispositionen abhängig sein ( = psychologische Ebene). Damit ist implizit auch erklärt, unter welchen Bedingungen Allegorie als ein Verweis-System nicht funktioniert: nämlich immer dann, wenn individuell, gruppen- oder epochenbedingt der Konsens zur Realitätsakzeptanz jener hintergründigen Bedeutungsebene verweigert wird. Damit ist zugleich eine zentrale Basis der Allegorie freigelegt, die die Bedingung der allegorischen Verstehensmöglichkeit ist: Es ist die Annahme der Existenz von zwei Ebenen (Sprach- wie Wirklichkeitsebenen), die in sich konsistent und nicht der reinen Beliebigkeit unterworfen sind. Denn wenn der allegorische Verweis nicht ins Leere gehen soll, muß a priori von einer positiv aufnehmbaren Verstehensmöglichkeit ausgegangen werden, die der Sprecher als im Horizont der Hörers vorhanden voraussetzt. Daraus lassen sich eine Reihe wichtiger Schlußfolgerungen zur Sprach- und Literaturgeschichte der Allegorie ableiten: (1) Allegorie arbeitet systemisch und kann daher auch nur aus der Kenntnis des intendierten Systemhorizonts (innerhalb verschiedener Wirklichkeitsebenen) verstanden werden. (2) Allegorie ist eine illokutive Form sprachlichen Handelns, die streng regulativ, meistens sogar normativ verfährt. (3) Die Wahl des allegorischen Bedeutungshorizonts ist vom Sprecher-HörerKonsens abhängig und somit nicht allgemein und zeitlos gültig. Daraus bestimmt sich jeweils die Funktion der Allegorie, die als relativ zum historisch-soziologischen Kontext einzustufen ist. Diese am Modell der mittelalterlich-theologischen Allegorese gewonnenen Erkenntnisse sind systemkonstant, auch wenn sie sich in ihrer Realisierung in verschiedenen Epochen unterschiedlich entfalten.
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Im Blick auf unsere mittelalterliche Ausgangsposition in diesem Kapitel sollen hier die mittelalterlichen Spezifika der poetischen Allegorie knapp andeutend zusammengefaßt werden. Ausgangspunkt: - Aufgrund der Denkform der Allegorie bildet sich ein neues poetisches Gestaltungsmodell aus, das in Bild und Auslegung zweigeteilt ist, das als rein formales Bezugsprinzip über den B i l d - und Bedeutungskontext aber frei verfügen kann. Die Verweisstruktur wird zum beliebig füllbaren formalen Prinzip. Konstituenten dieses Formalprinzips: - Bei der I n h a l t s - und Sinnübertragung gelten die L i t e r a r - wie die jeweilige Spiritualebene als echte Wirklichkeitsräume. Wirklichkeit wird - nach allgemeiner Überzeugung (Konsens) - als eine universalere Wirklichkeit verstanden, die das Sichtbare auf geistige Dimensionen hin übersteigt. - Verschiedene Übertragungen von derselben Bildebene her widersprechen sich nicht, sondern werden als umfassendere Sichtweise nebeneinander gesetzt 6 . Die Funktionalität der Allegorie ist punktuell jeweils nur auf einen bestimmten Verwendungszusammenhang bezogen. Diese Typik würde nach neuzeitlicher Ästhetik-Auffassung ein geschlossenes Darstellungsmodell sprengen, was der damaligen ganzheitlicheren Sichtweise jedoch nicht entspricht. - Das Nebeneinander verschiedener Auslegungen ist nicht rationale Willkür, sondern ist ontologisch fundiert. Die Vielfalt der ,res'-Bedeutungen koinzidiert in der einheitsstiftenden Anschauung von der einen Schöpfung und ihrem Schöpfergott. Der gemeinsame Bezugshorizont erfolgt - selbst in der formalisierten weltlichen Allegorie - über den christlichen Schöpfungsglauben. - Die ästhetische Qualität der Allegorie, die gelegentlich ins Spielerische übergeht und für den heutigen Leser bis zum Eindruck von Inkonsequenz oder Willkür reicht, wird als gestalterische Freiheit empfunden, u m ein vielschichtiges T h e m a ganzheitlicher gestalten zu können ( = die sog. additive Allegorie). Die verschiedenen Segmente sprengen nicht das Ganze, sondern fügen sich zum Einen zusammen 7 . 6
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So wird innerhalb der allegorischen Dichtung ,Die Minneburg' das Modell des Burgbaus dreimal in unterschiedlichen Funktionszusammenhängen verwendet: als Säule = Geburt der Minne = Wesen der Minne [statische Analyse]; im Sturm gegen Burg Freudenberg = Eroberung einer Frau = Minne-Werbungsprozeß [individuelle Regel-Dynamik]; in der Belagerung der Burg = Gefährdung der Minne = gesellschaftliche Schutzmechanismen für die Minne [gesellschaftliches Normenspiel]. Hier liegt der entscheidende Unterschied zu der von Goethe definierten und als Weichenstellung für die Neuzeit gültigen Unterscheidung von Symbol und Allegorie. Nach Goethe sucht der Dichter in der Allegorie zum Allgemeinen das Besondere, wogegen beim Symbol im Besonderen das Allgemeine gegenwärtig ist. („Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch
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- Die gattungsmäßige Vermischung von hermeneutisch-interpretativer, rhetorischer und produktiv-schöpferischer Allegorie in mittelalterlichen Texten resultiert genau aus dieser Einheitssicht. (Der neuzeitliche Versuch, diese Literatur systematisch zu klassifizieren, m u ß daher letztlich scheitern bzw. kann nur ständig Überschneidungen der vermeintlichen Gattungstypik konstatieren 8 ). - Die Bestimmung einer einheitlich sprechaktlichen Funktion der mittelalterlichen Allegorie ist deshalb nicht möglich, da durch die vielen allegorischen Handlungsmodelle mit ihrem „kommunikativen Mehrwert" eine Uberlagerung in dreierlei Hinsicht erfolgt: 1. didaktisch-psychologisch, 2. sozialkommunikativ, 3. ästhetisch 9 . Das bedeutet, daß sowohl die T y p e n der ,significatio' wie die „Typen der Inszenierung" (I. Glier) dem Verwendungszusammenhang unterliegen, der jedoch übergreifend die einheitliche Intention verfolgt, sowohl Disparates vor einem einheitlichen Hintergrund zusammenzubringen wie vor allem, eine Weltordnung hinter aller Divergenz aufzuzeigen, an der sich der Hörer orientieren kann und soll. Allegorische Sinnerschließung ist daher, auch in weltlicher Dichtung, hermeneutisch begründet, indem sie eine auf Erkenntnisvermittlung begründete Handlungsanweisung gibt. 4. Die Kommunikationsfunktion In seinem Versuch zur Bestimmung einer literarischen Hermeneutik weist HansRobert Jauß darauf hin, daß Verstehen „immer schon ein vorgängig Verstandenes voraus (-setzt)" (Jauß 1981, 473), daß echte Kommunikation also nur auf der Basis eines gemeinsamen Horizontes gelingen kann. Bezieht m a n diese Feststellung auf Interpretationen von literarischen Texten, so wird das Verstehensproblem zum Auslegungsproblem mit der gezielten Frage nach dem implizierunaussprechlich bliebe." [Maximen u. Reflexionen, Nr. 749.] bzw.: „Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben anzusprechen sei." [Nr. 750.]) - Im Mittelalter sieht man das anders, da dort in der Allegorie weder der abstrakte Begriff noch ein (Sinn-)Bild vom Ganzen losgelöst, isoliert erscheint, sondern auf dem Ganzen basiert. Daher gibt es dort auch keinen Gegensatz zwischen Symbol und Allegorie, sondern die Allegorie gründet sich auf eine symbolische Weltsicht und ist nur deshalb in ihrer Vielfalt möglich. Die Heilswahrheit und die göttliche Weltordnung stehen für den mittelalterlichen Menschen nicht nur hinter dem Symbol, sondern sie begründen genauso die Vielfalt der Allegorie. 8 „Ebensowenig wie sich im Mittelalter eine eigene Poetik allegorischer Dichtung entwickelt, kann ein einziger Text als reine und paradigmatische Verwirklichung von Allegorie gelten" (Glier 1980, Sp.423); vgl. dazu auch die grundlegende Untersuchung derselben Verfasserin (Glier 1971). 9 Ich stütze mich hier auf Paul Michel (1987, Kap. 9.6 §§588ff., hier §§589-598). Er zeigt darin im einzelnen folgende Funktionen auf: Veranschaulichung von Abstraktem, Ordnungs- und Orientierungshilfen, mnemotechnische Funktion, Kryptogramm und Mittel der Höflichkeit, Ästhetik und Verrätselung.
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ten Ästhetikverständnis. „Die Auslegung eines poetischen Textes setzt immer schon ästhetische Wahrnehmung als ihr Vorverständnis voraus" (Jauß 1981, 475). Das aber bedeutet, daß eine Lesart nicht nur sozialhistorisch abhängig ist, sondern jeweils auch durch poetische Kommunikationsformen bedingt ist, in diesem Fall vor allem durch die jeweilige literarische G a t t u n g , die die Fragestellung wie den Auslegungshorizont der Antwort prädeterminiert. Die gattungsmäßig unterschiedlichen Ausprägungen der Allegorie lassen sich formal, was die Autorintention der Auslegung und das Rezeptionsverständnis betrifft, in drei Kategorien klassifizieren: 1. dem poetisch gesetzten Text wird vom selben Autor eine formulierte Auslegung mitgegeben ( = explizite Allegorie; ,allegoria permixta'); 2. auf der Darstellungsebene gibt es wenigstens einen Schlüsselhinweis für die Übertragung des Ganzen ( = implizite Allegorie; ,tota allegoria'), was im einzelnen jedoch vom Leser umzusetzen ist. Für beide Varianten ist die Auslegungsintention des Autors relativ klar, und die Interpretation ist unproblematisch. 3. Wenn dagegen das eindeutige Ubertragungssignal im Text fehlt, wird eine allegorische Lesung schwierig und hängt vom Bildungsstand und vom historischen Kontext des Lesers ab, wie weit dieser zur Entschlüsselung der Doppelaussage in der Lage u n d bereit ist. Dem geschichtlich späteren Leser/Interpreten schließlich, dem für das unmittelbare Verständnis die zeitgenössische Kompetenz fehlt, geht in diesem Fall allerdings völlig die Sicherheit ab, die nötig ist, u m von einem allegorischen Verständnis sprechen zu können. Kommunikation auf der Basis der Mehrdeutigkeit kann Verschiedenes meinen. Einerseits bedingt die Tatsache der Plurivalenz der allegorischen ,res', daß in synchronen Schnitten je nach Bildungs- und Belesenheitsgrad jeweils auch mehrfache Verständigungsebenen denkbar sind. So ist ζ. B. kaum anzunehmen, daß ein Leser der ,Minnneburg' in der Säulen-Allegorie 1 0 ohne höhere philosophische Vorbildung die scholastischen Raffinessen u n d erkenntnistheoretischen Anspielungen der Geburt der Minne aus Vernunft und Willen, trotz der mitgelieferten Auslegung, verstehen kann, was jedoch eine andersartige ästhetische Rezeption keineswegs ausschließt. Dies ist jedoch kein allegoriespezifisches, sondern ein allgemein literarisches Problem und kann hier daher außer Betracht bleiben. Die andere, entscheidendere Seite der Kommunikationsschwierigkeit liegt in einem ,allegorischen' Text ohne explizite Auslegung, für die - mangels einer autorlegitimierten Lesart - das von Jauß postulierte verbindliche Vorverständnis fehlt. Was kann zur Auflösung dieser Aporie beitragen? Ein diachroner Vergleich verschiedener synchroner Schnitte mag hier einige auffällige Beobachtungen zumindest zum öffentlichen Verständnishorizont u n d zum Verwendungszusammenhang allegorischer Auflösungen beisteuern. Andeutungsweise seien dafür verschiedene Forschungsergebnisse herangezogen, die in ihrem Resümee knapp verglichen seien. 1° Die Minneburg, hg. von H. Pyritz. Berlin 1950. (=Deutsche Texte des Mittelalters 43), V. 146-351.
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Während die mittelalterliche Position im Kapitel drei schon charakterisiert wurde, schauen wir nun die Untersuchungsergebnisse zur Allegorie in der englischen Renaissance durch Heinrich F. Plett an (Plett 1979, 310 ff.). Herausgestellt werden drei allegorische Textsorten, die unterschiedliche Intentionsebenen und damit auch unterschiedliche Verständigungshorizonte aufweisen: (1) Texte mit primär produktionsästhetischer Funktion. Im wesentlichen ist diese Gruppe durch Rhetoriken vertreten. Ihr Charakteristikum ist die ausschließliche Orientierung der Autoren an klassischen Quellen (vor allem Quintilian) mit einer klar beharrenden und stabilisierenden Grundtendenz. Das gilt für den Stil wie für die Ordnungskategorien. Verständigung wird hier mit ,konservativen' Lesern intendiert, die auch über die Rhetorik hinaus eine übereinstimmende Grundhaltung mit dem Autor herausspüren. Der hohe ästhetische Wert der Literatur ist hier zugleich Ausdruck des elisabethanischen Gesellschaftsverständnisses, wobei diese Form mnemonische Regularitäten aktiviert. (2) Die rezeptionsästhetische Funktion der Textgruppe mit Fabeln, Mythen und klassischen Werken zielt auf einen im religiösen Verhalten verunsicherten Leser, dem die Allegorie als System zur Wertevermittlung und als Verhaltensentwurf gegen puritanische Angriffe helfend entgegenkommen soll. Allegorien dienen hier durch die Art der Interpretation einem gemeinsamen apologetischen Topos. (3) Unter „sozialästhetischer Funktion" faßt Plett einen besonderen Aspekt der beiden anderen Gruppen zusammen, der das Gesamtbild des Allegorischen dieser Zeit prägt. Allegorie ist das Selbstverständnis für eine höfische Figur oder für Hofpoesie überhaupt. Impliziert ist darin die Abwehr des rhetorischen ,genus humile' und die Laudatio der eigenen höheren Sprach- und Lebensform des Hofes. In dieser Bestandsaufnahme wird deutlich, daß die moralische, normative und konservative Grundtendenz der mittelalterlichen Allegorie auch im England des 16. Jahrhunderts den gesellschaftlichen Verständigungsrahmen abgibt. Darüber hinaus aber kommt zum Ausdruck, daß diese formal-literarische Gestaltungstypik zur exklusiven Selbststilisierung der High society dient und die Autoren über die rhetorische Stilhöhe somit auch ihre Gesprächspartner gesellschaftlich selektieren. Dabei steht aber selbst diese Extremform noch im antikmittelalterlichen Vorverständnis von festen Bezugshorizonten der Allegorie, so daß sich am Grundansatz der Allegorie prinzipiell noch nichts geändert hat. Anders dagegen sieht das Allegoriemodell der Goethezeit und danach aus 1 1 . Ausgehend von der poetischen Ganzheit und Autonomie, die von Goethe ausschließlich dem Symbol zugeschrieben wird, bleibt von dem ursprünglich die Allegorie charakterisierenden universalen Ausgriff auf alle denkbaren Bezugshorizonte nichts mehr übrig. Statt dessen gelten Deutungsausgriffe, die nicht spontan evident sind, als willkürliche ( = allegorische) Assoziationsfestschrei11
Siehe dazu aus einer Fülle von Literatur vor allem die beiden Aufsätze von S0rensen 1979 und Titzmann 1979.
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bungen, die in ihrer verbalen Ausführung dem Gesetz der verbalen Definition und des ausschließlich Rationalen unterliegen. Daher ist das neue Bestimmungsfeld für Allegorien eine auffällige Zweckbindung (Flugblatt, Katechese, Predigt, T h e a t r u m asceticum, Fürstenpreis), die von ihrer Verwendung her inhaltlich genau einsehbar spezifiziert ist. Der Zweckrationalismus setzt die Allegorie in der frühen Neuzeit im weiten Sinn als ein Politikum ein, das sich besonders in zwei Formen äußert: als Bewältigungsinstrument (besonders im Flugblatt) 1 2 und als Legitimationsmittel, das die Kritik durch den universalen allegorischen Bezugshorizont aufwertet 1 3 . Entscheidend ist, daß Allegorie jetzt kein Erkenntnismittel mit einer Welterschließungsfunktion m e h r ist, sondern daß sie nur noch instrumentalisiert ist. Die Sprache, Bildhaftigkeit und Verweisfunktion der Allegorie hat hier ihre Mehrdeutigkeit verloren, so daß die Zielgerichtetheit auf bestimmte Gleichsetzungen erstarrt ist, deren Sinn sich in einem assoziativen Formalismus erschöpft. Ein Vorverständnis im Sinn von J a u ß ist, selbst im ästhetischen Sinn, in der Neuzeit für die geläufige Form der Allegorie nicht mehr gefragt und zum Verständnis auch nicht nötig, b e d e u tende' Sprache wird zur eindeutigen, definierten Sprache und verliert damit jeden plurivalenten Wahrnehmungs- und Hintergrundsbereich. Das dazu passende Weltbild ist daher entweder kausal-linear bestimmt, oder es besteht aus zusammenhanglosen Fragmenten. Hier kann Sprache nichts Hintergründiges mehr erschließen 14 . Als extremen, aber konsequenten Schluß dieser Entwicklung werfen wir noch einen Blick auf den Poststrukturalismus Paul de Mans, der gerade hinsichtlich unserer Frage nach der Einbindung der Allegorie in Verstehenshorizonte eine letzte radikale Antwort bietet 1 5 . Der Ansatz de Mans liegt in sein e m radikalen Skeptizismus, der in nichts, was gesagt wird, ein schlüssiges Kriterium dafür findet, daß der angesprochene Aussageinhalt auch gemeint sei. „Literarische Texte sind durchweg kognitive Prozesse, die den möglichen Erkenntnisgehalt sprachlicher Aussagen und damit ihren eigenen systematisch bezweifeln." (Hamacher 1988, 9). In der Allegorie ist nach de Man das rhetorische ,aliud - aliud' auf eine streng semantische Relation begrenzt, die das 12
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Erich Kleinschmidt im Diskussionsbericht zur Tagung: In: Haug 1979, 555. Vgl. dazu auch Kleinschmidt 1979, 388ff. Michael Schilling im Diskussionsbericht zur Tagung: In: Haug 1979, 555. Bemerkenswerterweise gab es in den romantischen Strömungen bis ins 20. Jahrhundert hinein sowie in der letztlich nicht abgebrochenen kirchlichen Tradition des geistlichen Schriftsinns auch gegenläufige Trends, die aber nicht zeit- und literaturbestimmend waren. Auf deren Skizzierung verzichte ich hier jedoch, um die allegoriefeindliche Tendenz des 19. und 20. Jahrhunderts zu verdeutlichen, auch wenn mit Walter Benjamins Ansatz zur Rehabilitierung der Allegorie, vor allem seit der Nachkriegszeit in Deutschland, ein eigenwilliger positiver Neuansatz versucht wurde. Vgl. zum folgenden: Man 1979; zum eigenen Verstehen der Position de Mans haben auch die engagierten Seminardiskussionen und Ausführungen von Harald Neumeyer sowie von Christoph Dünnwald im SS 1993 beigetragen, denen ich an dieser Stelle herzlich dafür danke.
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semantische Zeichen immer nur auf ein anderes Zeichen bezieht, nie auf die Sache selbst, j a nicht einmal auf das Vorstellungsbild. Daher kann de Man in einem radikalisierten Verständnis Benjamin wie folgt zitieren: „Das Allegorische bedeutet genau das Nichtsein dessen, was es vorstellt." (Man 1971, 35). Allegorie ist also zunächst nichts weiter als eine grammatisch-rhetorische Figur, wobei m a n nie Gewißheit darüber h a t , ob damit ü b e r h a u p t ein Substrat jenseits der Sprache korrespondiert. Die Logik der Figuren wird hier „defiguriert" mit der Konsequenz: „Rhetorik ist die radikale Suspendierung der Logik und eröffnet schwindelerregende Möglichkeiten referentieller Verirrung." (Man 1988, 40). Das aber bedeutet, daß nicht nur eine Verständigung mit einem Gegenüber nicht mehr möglich ist, da die Zeichenhaftigkeit nicht bestimmbar ist, sondern noch radikaler, daß -die eigene Vergewisserung scheitern muß, ob diesem Zeichen ü b e r h a u p t eine inhaltliche Relation entspricht. Das bedeutet, daß jeder Text ,allegorisch' ist. Da aber in der Allegorie wörtliche und figurative Bedeutung aporetisch auseinandertreten, ist jede Allegorie, oder jeder Text ü b e r h a u p t , unlesbar. Denn es gibt keinen ontologischen Hintergrund mehr, keinen verbindlichen Wissenszusammenhang, keine d r i t t e übergeordnete und außersprachliche Instanz (Gott), die die Bedeutungszuweisung in ihrer Eindeutigkeit sichern könnte. Dies wiederum hat die Konsequenz, daß ich mich sprachlich im Akt der Kommunikation der allegorischen Bedeutung nur endlos annähern kann, ohne aber je zu wissen, ob ich diese ü b e r h a u p t erreiche. Hier führt sich Schreiben wie Lesen in letzter Konsequenz selbst ad absurdum, da die Kommunikationsmöglichkeit der Sprache selbst prinzipiell in Frage gestellt ist. So ist es auch nur konsequent, daß bei de Man die tradierte rhetorische Figur der Allegorie als eine sachbezogene referentielle Bedeutungsüberträgerin sich selbst aufhebt und in ihrer totalen Verallgemeinerung als solche nicht mehr existiert. Das wäre das Ende der Allegorie, wenn dem nicht ein elementares Ästhetik- und Verstehensbedürfnis des Menschen entgegenstünde. Literatur Cicero, Marcus Tullius (1963): Orator. Hg. v. P. Reis, Stuttgart. Glier, Ingeborg (1971): Artes amandi. Untersuchungen zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden. München. (=Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 34). Glier, Ingeborg (1980): Allegorie. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. I. München, Zürich, Sp. 423 f. Hamacher, Werner (1988): Unlesbarkeit. In: Man, Paul de (1988), 7-26. Haug, Walter (Hg.) (1979): Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Stuttgart. (=Germanistische Symposien. Berichtsbände 3). Ad C. Herennium (1964): Incerti Auctoris de Ratione dicendi ad C. Herennium. Libri IV. Hg. v. Fr. Marx - W. Trillitzsch, Leipzig. Jauß, Hans-Robert (1981): Zur Abgrenzung und Bestimmung einer literarischen Hermeneutik. In: Fuhrmann, Manfred (Hg.): Text und Applikation. Theolo-
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HERTA ZUTT, Freiburg i. Br.
BIETEN Das Bedeutungsspektrum eines Verbs der ritterlich-höfischen Kultur
1. Vorbemerkung Bei der Durchsicht von Wortgeschichten des Deutschen oder von Untersuchungen zum Bedeutungswandel fällt auf, daß mhd. Verben im Vergleich mit Substantiven und auch Adjektiven nur in sehr bescheidenem Umfang Aufmerksamkeit zuteil wurde 1 , obgleich ihnen als Wortklasse in mhd. Romanen eine weitaus größere Bedeutung zukommt als in vergleichbaren nhd. Texten. Das zeigt ihr zahlenmäßig großer Anteil ebenso wie beispielsweise die Überschriften der aventiuren im NIBELUNGENLIED - Wie Sifrit ze Wormze kom, wie die küneginne einander schulten, wie diu küneginne den sal vereiten hiez usw. - und mittelalterliche Bilder zu den Romanen: Stets wird ,Handlung' dargestellt 2 , so wie auch die Romane selbst eine Abfolge von Handlungen erzählen. Die Figuren auf den Bildern stehen oft im kommunikativen Miteinander beim Festmahl oder Ausritt, im Ritterkampf oder Gespräch u. ä. Ein Vergleich zwischen dem mhd. und dem nhd. Wortschatz zeigt, daß die moderne Sprache über viel mehr Verben verfügt; sie bezeichnen neue Tätigkeiten und sind außerdem durch eine starke Tendenz zur Differenzierung von Sachverhalten entstanden. Verglichen damit ist die Zahl der mhd. Verben, die aus der Sprache verschwunden sind, weil auch die Tätigkeiten im modernen Leben keine Rolle mehr spielen, verhältnismäßig gering. Andere Verben haben einen Bedeutungswandel mitgemacht, weil viele Tätigkeiten aufgrund der technischen Entwicklungen heute ganz anders ablaufen als im Mittelalter; genauso auffallend sind Veränderungen bei kommunikativen Handlungen, die durch die Konventionen der mittelalterlichen bzw. der modernen Gesellschaft gesteuert werden 3 . Weil das Zusammenleben in der Gesellschaft großen Veränderungen unterworfen war, existieren manche Verben in der heutigen Sprache nur noch als Relikte aus einer früheren Zeit: Sie haben viel von ihrer früheren Bedeutung verloren, ohne daß ihnen zusätzliche neue Vorstellungen zugeordnet sind. Ein solches Verb ist bieten, das in mittelalterlichen Romanen an signifikanten 1 Untersuchungen mhd. Verben: Fritz 1972, Hundsnurscher 1972, Solms 1990. 2 Vgl. Schirok 1985, 1988 und 1990, Schupp 1993. 3 Vgl. dazu Haferland 1989.
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Stellen auftritt und Handlungen bezeichnet, die stark durch höfische Vorstellungen geprägt waren. Im Mhd. stehen neben dem Simplex die Präfixverben enbieten, erbieten, gebieten und verbieten; dagegen sind aufbieten, darbieten, überbieten und unterbieten spätere Bildungen, ebenso anbieten, das im Nhd. das Simplex in manchen Kontexten ersetzt hat. Ein Blick auf die Verwendungsmöglichkeiten im heutigen Deutsch zeigt, daß bieten in der Alltagssprache eine geringe Rolle spielt und oft etwas antiquiert wirkt: jm. den Arm bieten, die Hand bieten; die Stirn bieten; eine Blöße bieten; häufiger: jm. eine Chance bieten, mehrere Möglichkeiten bieten sich (an); sich nicht alles bieten (gefallen) lassen; nur in bestimmter Situation: wer bietet mehr? Ahnliches gilt auch für gebieten, das im Gebrauch sehr eingeschränkt ist: jm. gebietet Ruhe; die Klugheit gebietet; man hält etwas für geboten; der König gebietet über große Besitztümer; aber doch eher: das Institut verfügt über einen großen Etat. - Fast nicht mehr verwendet wird entbieten: jm. einen Gruß entbieten wirkt nur noch literarisch. Ganz verschwunden ist erbieten. Im Gegensatz dazu wird verbieten recht häufig verwendet: der Anstand verbietet, das Gesetz verbietet, die Eltern verbieten; als Passiv formuliert: Rauchen verboten, Betreten des Rasens verboten usw. Eine Erwartung, daß die altdeutschen Formen von bieten reich belegt sind, wird enttäuscht: In den beiden umfangreichen Werken des 9. Jahrhunderts dem HELIAND und Otfrids EVANGELIENBUCH - ist das Verb nur spärlich belegt: drei Belege für beodan im HELIAND, zehn Belege für biotan bei Otfrid 4 . Ganz anders stellen sich die Verhältnisse in drei klassischen Werken der mhd. Literatur - Hartmanns IWEIN, Wolframs PARZIVAL und Gottfrieds TRISTAN - dar; hier tritt das Verb bieten in unterschiedlichen Kontexten auf, und zwar solchen, die spezifisch für die mittelalterliche Gesellschaft und Kultur sind. Im Rahmen eines Aufsatzes hat sich eine Beschränkung auf eine Textsorte angeboten, wodurch eine gewisse Einseitigkeit entstehen kann. Das gesamte Material wurde bearbeitet, jedoch werden nur ausgewählte Belege vorgestellt, die als repräsentativ für die Bedeutung von bieten gelten können. Durch die Untersuchung soll gezeigt werden, wie die kommunikative Handlung ,bieten' vollzogen wurde; in welchen Lebensbereichen die Tätigkeit ihren Platz hatte; welche Vorstellungen das Publikum beim Vortragen der Texte mit dem Verb verbunden hat; welche weiteren mittelalterlichen Vorstellungen in die Bedeu4
Die K o n t e x t e sind in den beiden Werken ganz verschieden: I m H E L I A N D wird m i t beodan eine kommunikative Handlung bezeichnet, die den Partner dazu bringen soll, einem Abk o m m e n z u z u s t i m m e n . - Diese B e d e u t u n g hat biotan in Otfrieds E V A N G E L I E N B U C H nur an einer Stelle (1,20,19); an den anderen Stellen bezeichnet das Verb das ,Hinreichen eines Gegenstandes' (meist aus d e m Bereich ,Nahrung': brot u . a . ) . Ob dabei die Vorstellung eines zeremoniellen Uberreichens mitspielt, ist schwer zu entscheiden; j e d o c h wird m i t d e m Hinüberreichen etwas ausgedrückt, das sonst nicht sichtbar ist: Gemeinschaft Jesu m i t den Jüngern, J u d a s als Verräter, göttliches W u n d e r usw.
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tung des Verbs hineinspielen. Außerdem soll durch Vergleich festgestellt werden, ob überhaupt und in welcher Weise sich das Simplex und die präfigierten Verben gegeneinander unterscheiden. 2. Das Simplex
bieten
Für das Verb bieten gibt es 22 Belege im IWEIN, 49 im T R I S T A N und 127 im PARZIVAL; es bezeichnet eine kommunikative Handlung zwischen zwei oder mehreren Personen, die als Subjekt und Dativobjekt im Satz genannt werden (oder aus vorausgehenden Sätzen erschlossen werden können); daneben gibt es in geringerer Anzahl Belege, in denen ein Abstraktum als Subjekt steht. Durch Akkusativobjekte - realisiert durch Substantive, Pronomen, daz-Satz oder oratio obliqua - entstehen Kontexte von großer Verschiedenheit. Weitere Ergänzungen durch Adverbiale sind relativ selten. Der erste Beleg gehört zu der Schilderung des zeremoniellen Gastmahls, an dem der junge Parzival als ausgezeichneter Gast des Gralskönigs teilnimmt; er hat den Ehrenplatz neben dem König 5 . ein sidin tweheln wol gemäl die bot eins graven sun dernach: dem was ze knien für si gäch. (PARZIVAL 237, 10ff.) Die kommunikative Handlung ,bieten' vollzieht sich durch das Ausstrecken eines Arms in Richtung auf die Partner der Handlung, verbunden mit weiteren Gesten (knien): die Übergabe des Gegenstandes erfolgt nach strenger Konvention 6 . Eine Person, die einen hohen gesellschaftlichen Rang hat (graven sun), übt hier eine dienende Funktion aus. Das Verhältnis der an der Handlung ,bieten' beteiligten Personen ist asymmetrisch: Durch die Gestik wird der höhere Rang der Personen, denen der Gegenstand entgegen gehalten wird, sinnfällig gemacht. Sie haben einen Entscheidungsspielraum, ob sie den Gegenstand annehmen wollen oder nicht. Weil das Gastmahl zeremoniellen Charakter hat und Händewaschen und -abtrocknen Voraussetzung zur Einnahme von Speisen sind, wird - als Folgehandlung - das Handtuch wahrscheinlich angenommen. Das Verhalten aller Beteiligten ist durch gesellschaftliche Konventionen festgelegt. War im ersten Beleg ein zeremonielles Fest, in dem alle Einzelheiten geregelt sind, der weitere Rahmen der Handlung ,bieten', so gehört der nächste Beleg zu einer ganz anderen Standardsituation des mittelalterlichen Romans; auch bei der Schilderung des Kampfes zwischen Tristan und Morolt ist die Bewegung beim ,bieten' wie beim ersten Beleg ,Ausstrecken eines Armes in Richtung auf eine zweite Person'. 5 Vgl. dazu die A b b . 16 bei Schirok 1990. 6 Darin liegt ein entscheidender Unterschied zur Bedeutung von
geben.
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sus gienger (M.) in (Tr.) mit siegen an, biz erm mit siegen an gewan, daz Tristan von der siege not den schilt ze verre von im bot unde den schirm ze hohe truoc [... ] (TRISTAN 6919 ff.) Die partnerbezogene Handlung ,tiefen' ist durch die Technik des ritterlichen Kampfes festgelegt; hier wird von einem Verstoß dagegen, einer Ungeschicklichkeit, berichtet (ze verre von ime). Der Kampf mit Schwertern fordert von den Rittern gezielte Angriffe und überlegte Reaktionen auf die Attacken des Gegners; demnach hat die Handlung ,bieten1 hier auch eine geistige Komponente ,geplant, gezielt'. Auch ist zu beachten, daß jeder Kampf und jede Phase eines Kampfes eine Auseinandersetzung über den Rang der beiden Kontrahenten ist; überlegene Kampftüchtigkeit und gerechterer Anspruch werden durch Sieg oder Niederlage bestätigt. In den meisten Belegen für bieten wird jedoch nicht gesagt, daß ein konkreter Gegenstand zugereicht wird; viel öfter wird mit bieten eine Sprachhandlung bezeichnet. Uber den Anlaß für das Turnier in Kanvolais wird berichtet: si was ein maget, niht ein wip, und bot zwei lant unde ir Up swer da den pris bezalte. (PARZIVAL 60, 15 ff.) Die Ausrufung eines Turniers erfolgt nach den Konventionen der höfischen Gesellschaft. ,bieten1 ist der erste Teil einer Handlungskette, die rechtliche Konsequenzen hat. Zunächst ist der ausgesetzte Preis - Frau und Herrschaft verbindlich festgelegt; die Person, die das Turnier veranlaßt hat, kann die Bedingungen nicht nachträglich ändern. Allen Rittern steht frei, auf das Angebot einzugehen oder nicht; wer darauf eingeht, vertraut der Seriosität des bietens, das durch höfische Normen gelenkt ist. Jeder (swer) Ritter, der teilnimmt, geht auf die Voraussetzungen ein. Die Teilnahme am Turnier ,bedeutet' Zustimmung zu den Bedingungen. Aus dem Beleg ist ersichtlich, daß bieten den Gedanken an die Festlegung der einen Seite einschließt; aus diesem Grunde können mit der Handlung ,bietert Rechtsvorgänge eingeleitet werden; so tritt das Verb in Verbindung mit Wörtern für ,Versprechen' oder ,Gelöbnis' auf. Als Beispiel soll Gilans Versprechen, Tristan jeden Wunsch zu erfüllen, stehen: „entriuwen herre, ich sol iu geben, swes ir gemuotet" sprach Gilan; „swaz ir gebietet, deist getan." er bot im triuwe unde hant. (TRISTAN 15954 ff.)
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Die kommunikative Handlung Rieten1, erfolgt nach den Regeln der Konvention; dem Partner wird eine Abmachung vorgeschlagen, die beide Personen in der Zukunft erfüllen müssen. Nach der formelhaften Bekräftigung durch entriuwen wird zuerst ein Versprechen formuliert: Alle Dinge (swes), die Tristan wünscht, werden ihm geschenkt werden; auch alle seine übrigen Forderungen (swaz) werden ausgeführt. Auf die inhaltliche Festlegung folgen die Aufrichtigkeitsversicherung (triuwe) und der Handschlag (hailt). Auch wenn die Sprachhandlung ein Ubergewicht hat, so kann auf die mit Rieten1, verbundene Gestik nicht verzichtet werden. „Entsprechend dem Formalismus des deutschen Rechts, waren viele Rechtshandlungen ungültig, wenn sie nicht von entsprechenden Gebärden begleitet waren" (Birkhan 1988, 451). Wenn der Partner triuwe und hant annimmt, gilt der Vertrag. Die Erfüllung des Versprechens ist durch gesellschaftlich anerkannte Normen und Werte garantiert. Ohne die Verläßlichkeit in Zusammenhang mit Gelöbnissen könnten auch weitere Sprachhandlungen im ritterlichen Leben, wie es in den höfischen Romanen dargestellt wird, nicht funktionieren, z . B . der promissorische Eid, der einen Kampf beenden kann. Nach der Niederlage des einen Ritters kann der Sieger seinen Gegner töten, jedoch sieht die ritterlich-höfische Konvention auch einen versöhnlichen Abschluß vor: das Sicherheit bieten'. Wolfram schildert das Ende des Kampfes zwischen Parzival und Kingrün vor Pelrapeire: Parziväl in nider swanc: er sazt im an die brüst ein knie, er bot, daz wart geboten nie deheinem man, sin Sicherheit. (PARZIVAL 197, 28 ff.)
Das Ritual ,Sicherheit bieten' führt dazu, daß das zukünftige Verhältnis zwischen den beiden Gegnern geregelt werden kann. Den ersten Schritt muß der Unterlegene machen: Er erklärt sich bereit, sich zu unterwerfen (Sicherheit bieten). Die Abmachung hat erst dann Gültigkeit, wenn sich der Sieger darauf einläßt. Der Besiegte erhält sein Leben unter komplexen Bedingungen: Er anerkennt die Überlegenheit des Gegners, verbreitet seine ere und verpflichtet sich, den Wünschen und Aufträgen des Siegers zu entsprechen. - Auch in diesem Zusammenhang sind mit der Handlung ,bieteit Wort und Geste verbunden. „Das Gebiet der Rechtsgebärden wird betreten, wenn am Ende des Kampfes das Leisten der Sicherheit steht." (Peil 1975, 147). Die Handlung ,bieten1, ist nicht nur der Abschluß einer Handlungssequenz (Kampf), sondern führt und das ist für die Bedeutung von bieten entscheidend - zu einer neuen Folge von Handlungen: Die Beziehung zwischen den beiden Kontrahenten - auch die Rangfrage - wird neu geregelt. Mit dem ,Sicherheit bieten' wird in den höfischen Romanen eine Strategie für die Bewältigung von Konflikten propagiert, die nur unter der Voraussetzung durchgeführt werden kann, daß beide Partner aufrichtig sind und den anderen
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dafür halten. Ohne den Ehrenkodex des R i t t e r t u m s wäre auch im Roman ein jbieten1, ohne weitere Garantien nicht denkbar. Nur wenn erkannt ist, daß das Verb bieten einen hohen Grad an Verbindlichkeit signalisiert, kann die Aussage Herzeloydes über Gott bei Parzivals Belehrung voll erfaßt werden. Es ist eine der wenigen Textstellen, in denen das Subjekt des Satzes nicht ,Mensch', sondern ein A b s t r a k t u m ist. Hinter den Worten der M u t t e r steht die Vorstellung eines personalen Gottes, dessen hervorragende Eigenschaft triuwe ist. „[...] sun, merke eine witze, und flehe in (Gott) umbe dine not: sin triwe der werlde ie helfe bot." (PARZIVAL 119, 22 ff.) Der Unterschied im Rang, die vollständige Abhängigkeit des einen vom anderen, wird durch das Verb flehen und das Substantiv not angedeutet. Während in den übrigen Belegen immer der Rangniedrigere etwas ,blutet, ist es hier gerade umgekehrt; dadurch wird die unerhörte Gnade Gottes sinnfällig. Die Liebe (triuwe) Gottes läßt sich herab zu einer Handlung, die bei weitem alles übertrifft, was zu erwarten oder zu fordern ist. Gott wird für den Menschen (der werlde) offenbar durch seine triuwe, die nicht nur Wesensmerkmal ist, sondern auch das Verhalten Gottes bestimmt, auf das sich der Mensch verlassen kann: ,helfe bietenDie helfe hat sich in der Vergangenheit immer (ie) bewährt; darin gründet die hoffnungsvolle Erwartung für die Zukunft. Die helfe wird aber nur d a n n gewährt, wenn sich der Mensch vertrauensvoll darauf einläßt: Gott wendet sich dem Menschen zu, er biutet helfe, beim Menschen liegt die Entscheidung, ob er sich ihrer versichern will oder nicht. Weil das Verb bieten eine kommunikative Handlung bezeichnet, die entsprechend bestimmten Gesellschaftsregeln verläuft, tritt es i m höfischen Umfeld im engeren Sinne immer wieder auf; beispielsweise in Begrüßungsszenen: Damit keine Mißverständnisse entstehen, müssen die Signale bei einem ersten Zusammentreffen konventionalisiert sein. Bei seiner Ankunft am Artushof eröffnet Kingrimursel seine Rede mit einem Segenswunsch für die Anwesenden: „got halt den künec Artus, dar zuo frouwen unde man. swaz ich der hie gesehen hän, den biut ich dienstlichen gruoz [... ]" (PARZIVAL 320, 22 ff.) Der Landgraf Kingrimursel kommt als Gast, aber auch als Herausforderer an den Hof eines Königs; sein Ziel ist, daß seiner Anklage Gehör geschenkt und seine Kampfforderung angenommen wird. In den Begrüßungsworten wird der Rang der Anwesenden angesprochen: künec, frouwen, man. Der fremde Ritter macht durch die Redewendung dienstlichen gruoz bieten klar, daß keine feind-
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liehe Absicht vorliegt, daß er - im Gegenteil - gewillt ist, sich den Wünschen des Königs zu unterstellen. Daß dem Fremden geglaubt wird, ist Voraussetzung für die Entscheidung des Königs, ob er ihn als Gast akzeptiert. Das Verb bieten wird auch in den Szenen von Gahmurets Empfang durch Belakane (Angemessenheit der Begrüßung) und von Parzivals Aufnahme auf Pelrapeire verwendet: diu künegin irhant im bot (PARZIVAL 187, 4). Die Geste ,hant bieten1, ist Zeichen für den Fremden, daß er als Gast willkommen ist. Wenn der Fremde die Hand ergreift, bedeutet dies eine gegenseitige Anerkennung als gast bzw. als wirt\ es entsteht eine gegenseitige Verpflichtung durch das Gastrecht. Daß bei Begrüßungen zwar verschiedene, aber genau festgelegte Gesten zum Verhaltensrepertoire der höfischen Gesellschaft gehören, hat Peil (1975, 31-71) nachgewiesen. In Kontexten, die von einem neuen Verhältnis zwischen zwei Personen berichten, erscheint immer wieder das Verb bieten zur Bezeichnung einer Initialhandlung, die das bestätigende Einverständnis des Partners hervorrufen soll. Wolfram erzählt, daß es der jungen Obilot schließlich gelingt, Gawan als Verteidiger von Bearosche zu gewinnen. Nach Gawans Zusage verabschieden sich Obilot und ihre Freundin: si buten beide ir dienstes vil Gäwäne dem gaste: der neig ir hulden vaste. (PARZIVAL 372, 2ff.) Die kommunikative Handlung ,ir dienstes bieten1, drückt hier Dankbarkeit aus, die in angemessenen Worten formuliert und von ritualisierten Gesten begleitet wird. Die in höfischer Form vorgebrachte Versicherung des dienstes wird von Gawan als Auszeichnung aufgefaßt; er reagiert entsprechend der höfischen Konvention: er neig ir hulden vaste. Das ,bieten des dienstes' ist Teil einer Kette von kommunikativen Handlungen, die dazu führen, daß von jetzt an Gawan ein für seine Dame Obilot kämpfender Ritter ist. Wie zu beobachten war, spielt in der mit bieten bezeichneten Handlung oft der Gedanke an den Rang der beiden Partner herein. Die Komponente ,Beurteilung des Rangs' der beiden Personen tritt vor allem in der Verbindung ere bieten hervor, die mehrfach in allen höfischen Romanen belegt ist. Nach dem Bericht von Tristans Aufenthalt bei Gilan und seiner Rückkehr an den Hof Markes charakterisiert Gottfried die Stellung Tristans, die er am Hof wiedererlangt hat: künec unde hof, Hut unde lant die buten im aber ere als e. (TRISTAN 16312 f.) Tristan wird erneut und wie schon früher als Person und in seinem Rang allgemein anerkannt, und zwar vom Höhergestellten (künec), Gleichgestellten (hof) und der Allgemeinheit (liut unde lant). Die Bestätigung des Ranges muß für
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alle sichtbar durch Gesten und/oder hörbar durch Worte sein; beides ist in der Vorstellung ,bieten' gegeben. Damit die Handlung ,ere bieten' zustande kommt, muß die hochgestellte Person durch mustergültiges Verhalten alles tun, damit die Umgebung ihren Wert anerkennt; von den anderen muß die Bereitschaft kommen, die Anerkennung auch - durch wiederholte Einzelhandlungen - zu zollen. Eine andere Akzentuierung von bieten belegt eine Textstelle aus TRISTAN, in der erzählt wird, wie Tristan, verkleidet als Spielmann, dem irischen Baron Gandin die entführte Isolde abjagt, indem er ihn durch sein Harfenspiel bezaubert und zugleich sich Isolde zu erkennen gibt. [... ] daz Gandin sinen dingen vil vlizeclichen ore bot und sach ouch wol, daz Isot sere an die harpfen was verdaht. (TRISTAN 13360 ff.) Zentral für die Bedeutung von ore bieten ist die intensive Hinwendung einer Person zu einer anderen; sie erfolgt hier über ein bestimmtes Organ (ore). Der Rang der beiden Kontrahenten - irischer Baron Gandin und „Spielmann" Tristan - ist zwar vom sozialen Status eindeutig; wird aber künstlerisches Vermögen zum Kriterium, entsteht eine andere Rangordnung. Das Dativobjekt sinen dingen, das zunächst wenig genau zu sein scheint, ist Zeugnis für Gottfrieds Sprachkunst: Gandin wendet sich ganz Tristans dingen (seinem Harfenspiel) zu, nicht aber seiner Person und ist deshalb blind für die Gefahr. Eine weitere Gruppe von Belegen für bieten entzieht sich dem unmittelbaren Verständnis des modernen Lesers. In allen drei höfischen Romanen finden sich Sätze mit Akkusativobjekt ez, das nicht auf ein vorausgehendes Substantiv bezogen werden kann. In diesen Sätzen steht immer eine adverbiale Bestimmung der Art und Weise, die das ,ez bieten' näher charakterisiert, oder ein Adverbiale der Zeit, das signalisiert, daß das ,ez bieten' von einem bestimmten Zeitpunkt an gilt. Gottfried erzählt, daß Kaedin seine Schwester Isolde (Weißhand) um Unterstützung bei seinem Bestreben, Tristan auf Dauer an seinem Hof zu halten, bittet; Isolde erfüllt die Bitte gern, weil sie in Tristan verliebt ist. Isot diu leiste sine bete, wan siz doch selbe gerne tete, und bot ez Tristande aber do baz: rede unde gebaerde und allez daz, daz die gedanke stricket, minne in dem herzen quieket, daz begundes an in wenden alle wis und allen enden [... ] (TRISTAN 19103 ff.)
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Wie der Kontext zeigt, steht ez bieten zur Bezeichnung des gesamten Verhaltens einer Person gegenüber einer anderen. Worte (rede) und Geste (gebaerde) werden ausdrücklich genannt; die vielerlei Zeichen der Hochschätzung und Zuwendung (vgl. auch an in wenden) sollen vom Partner richtig gedeutet werden und die gewünschte Reaktion bei Tristan auslösen und seine Entscheidungen beeinflussen. Weil jedoch ,bieten1 dem Partner immer einen Entscheidungsspielraum läßt, wird er nicht in unhöfischer Weise bedrängt. So fordert es die höfische Gesittung. In allen drei Romanen kommt schließlich das Verb bieten in Verbindung mit dem Reflexivpronomen anstelle eines Akkusativobjekts vor; dadurch wird ausgesagt, daß die ganze Person des Subjekts Gegenstand des ,bietend ist; die Sätze haben immer eine Präpositionalergänzung. Die Person wendet sich dem Partner bedingungslos zu und verfolgt dabei ein bestimmtes Ziel. Wolfram leitet die Versöhnung zwischen Gawan und Orgeluse mit einer demonstrativen Geste der Dame ein: gein sinen fuozen si sich bot: do sprach si [... ] (PARZIVAL 611, 23 f.) Die freiwillige Unterwerfung ist von der Gesamtsituation gefordert; eine Entschuldigung ist in ihrer Form ritualisiert; sie erfolgt durch Rede und Gestik 7 . Wie in anderen Kontexten ist eine Fortführung durch weitere kommunikative Handlungen notwendig: nämlich Annahme oder Zurückweisung der Entschuldigung, wodurch das künftige Verhältnis zwischen den Partnern geregelt wird. Auf eine ritualisierte Sprachhandlung lassen auch die Belege von sich bieten schließen, die in Zusammenhang mit Rechtsangelegenheiten stehen: Gottfried erzählt, daß in der Fehde zwischen Riwalin und seinem Lehnsherrn Morgan dieser schließlich einen Waffenstillstand sucht: [... ] biz sich Morgan ze tage do bot und daz erwarp mit aller not, daz ez getaget wart under in zwein und ein jar vride getragen in ein, und wart der von in beiden mit bürgen und mit eiden gestaetet, alse er solte sin. (TRISTAN 395 ff.) Das ,sich ze tage bieten' erfolgt bei einem bestimmten Anlaß und mit einem bestimmten Ziel: Es soll den Weg dafür öffnen, daß die bewaffnete Feindschaft für die Dauer eines Jahres ausgesetzt wird. Durch den Ausdruck sich bieten wird deutlich, daß sich Morgan als gesamte Person - in seiner Stellung als Lehensund Kriegsherr - u m Riwalins Einverständnis mit dem Vertrag bemühen muß (mit aller not). Die Fügung sich ze tage bieten bezeichnet die erste Phase einer 7 Vgl. dazu Peil 1975, 200-204.
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Vereinbarung, die nach der Zustimmung des Partners durch weitere konventionelle Elemente (vride, bürge und eide) rechtskräftig wird. Der Modalsatz am Ende besagt schließlich, daß bei dem Verfahren den Normen entsprochen wird. Daß sich Morgan ze tage biutet ist zugleich Zeichen der Überlegenheit Riwalins und bestätigt seine ere. Zusammenfassung: Das mhd. Verb bieten bezeichnet eine kommunikative Handlung, die (meist) durch Worte und Gesten vollzogen wird. Rangfragen spielen eine große Rolle, zumal dort, wo ,bieten1 Teil einer Zeremonie oder eines Rituals ist. Das Verhältnis der an der Handlung ,bieten' beteiligten Partner ist asymmetrisch; Zeichen für die Überlegenheit des einen sind vor allem die mit ,6ietert verbundenen Gesten. Mit dem Rieten1 ergreift einer der Partner die Initiative, durch die Folgehandlungen ausgelöst werden. Die Person, von der das ,bieten' ausgeht, hat ihr zukünftiges Verhalten festgelegt; wie sich der Partner entscheidet, ist zunächst offen: Zustimmung oder Ablehnung stehen in seinem Ermessen. Mit der Zustimmung wird die Partnerschaft neu geregelt: Ein Konflikt wird beigelegt, eine Minnebeziehung aufgebaut, eine Freundschaft gefestigt, ein Gast aufgenommen. Weil die Sprachhandlung ,bieten' immer einschließt, daß sich eine Person endgültig festgelegt hat und bereit ist, dem Partner Zugeständnisse zu machen, tritt das Verb im höfischen Roman auch in Zusammenhang mit Rechtsangelegenheiten auf. In Höflichkeitsformeln spiegelt sich im ,bieten1 die höfische Gesittung: Sie besagen, daß auf die Wünsche des anderen Rücksicht genommen wird, daß man sich ihm freiwillig unterordnet.
3. Die Präfixverben 3.1. enbieten Für das Verb enbieten gibt es im IWEIN einen Beleg, im PARZIVAL 34 und im TRISTAN 15 Belege. Die Handlung anbieten' findet immer zwischen zwei Personen (Subjekt und Dativobjekt) statt, die durch eine größere räumliche Distanz voneinander getrennt sind. Die Kommunikation wird durch einen Boten hergestellt, der die Distanz überwindet. Tristan der sante boten zehant, in zwein batelen wider lant und enbot Marke maere, wie ez ergangen waere umbe die schoenen von Irlant. (TRISTAN 12527ίΓ.) Eine wichtigen Neuigkeit wird übermittelt; der höhergestellten Person wird die Durchführung eines Auftrags mitgeteilt. Die Botschaft löst wahrscheinlich beim Empfänger vorhersehbare Reaktionen aus - auch wenn dies nicht
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ausdrücklich gesagt ist - hier: Freude und Vorbereitungen für den festlichen E m p f a n g der Braut. Die Texte sagen nichts darüber aus, ob bei der Übermittlung der Botschaft Gesten die Rede des Boten begleiten. In manchen Belegen wird der Überbringer der Information ausdrücklich genannt: G&wän bi Scherulese enböt siner frouwen Obilot, daz er si gerne wolde sehen [... ] (PARZIVAL 394, 1 ff.) In dieser Botschaft wird ein Wunsch ausgesprochen, dem der Empfänger nachkommen soll; die höfischen Umgangsformen lassen nicht zu, daß einer D a m e Vorschriften gemacht werden; deshalb ist im daz-Satz nur von der Freude des Ritters die Rede, die ein Kommen der D a m e auslösen würde. Ob sie das gewähren will, liegt in ihrer Entscheidung 8 . Das Verb enbieten wird auch bei Höflichkeitsformeln verwendet, beispielsweise beginnt Ampflises Brief an Gahmuret: „dir enbiutet minne unde gruoz / min lip [ . . . ] " (PARZIVAL 76, 23 f.). Der Gebrauch von enbieten ist sehr einheitlich; die Kontexte variieren untereinander nur insofern, als der Bote genannt wird oder nicht, der Aufenthaltsort des Empfängers erwähnt wird (er enböt ze Löver in daz lant [...] (PARZIVAL 625,16)) oder nicht, oder daß mitgeteilt wird, daß die Botschaft schriftlich fixiert wurde: si schreip unde sande einen brief Tristande und enbot im, daz er kaeme [...] (TRISTAN 15553 ff.) Zusammenfassung: Aus den wenigen hier aufgenommenen Belegen wird deutlich, daß die Handlung ,enbieten 1 in den Umkreis höfischer, hochgestellter Personen gehört. Charakteristisch für die Handlung ,enbieten' ist, daß zwischen den beiden Kommunikationspartnern eine größere räumliche Distanz besteht und deshalb ein Bote eingeschaltet wird. Der Inhalt der Botschaft ist immer explizit formuliert. 3.2.
erbieten
Die Belege für erbieten sind noch weniger zahlreich als für enbieten: drei Belege im IWEIN, fünf im TRISTAN und sechs im PARZIVAL. - Das Verb erbieten bezeichnet ebenfalls eine kommunikative Handlung, die durch höfische Normen geregelt ist. Die Sätze, in denen erbieten als Prädikat steht, sind sehr einheitlich; sie lassen sich zu zwei Gruppen ordnen: In der einen Gruppe steht als Akkusativobjekt unbestimmtes ez und ein Adverbiale der Art und Weise: „ich (Parzival) horte von dir (Gawan) sprechen 8
Ausführlich zu den höfischen Umgangsformen: Haferland 1989.
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ie, / du erbütesz allen liuten wol [ . . . ] " (PARZIVAL 304, 4f.). Offensichtlich bezeichnet das Verb erbieten nicht eine einmalige Handlung, sondern steht für eine Verhaltensweise von Dauer; durch das Adverbiale wol wird ein Urteil über die Angemessenheit des Benehmens, vielleicht auch über die Wirkung auf andere, eingebracht; das Verhalten des Musterritters Gawan, von dem hier erzählt wird, ist bestimmt durch freundliche Gesinnung und höfische Gesittung und der Bereitschaft, auf andere einzugehen, sich ihnen ganz zuzuwenden. Wie bei den Handlungen, die durch bieten und enbieten bezeichnet werden, ist mit ,erbieten' eine Reaktion des Partners beabsichtigt; sie wird aber nicht gefordert. Die andere Gruppe von Belegen bestätigt diesen Befund; in ihnen wird durch das Akkusativobjekt festgelegt, durch welche einzelnen Handlungen das Gesamtverhalten bestimmt ist. In einer Textstelle, die von Isolde Weißhands Bemühungen um Tristan erzählt, steht eine Aufzählung: [... ] so daz sim also dicke ir gebaerde, ir rede, ir blicke als innecliche suoze erbot [...] (TRISTAN 19349 if.) Wenn Akkusativobjekte erbieten ergänzen, werden meist Dinge mit positiven Konnotationen genannt: ζ. B. elliu diu ere und daz gemach, liep und ere, trost, kumpanie. In diesen Belegen braucht kein Adverbiale das Angenehme der Handlungsweise noch einmal zu betonen. Zwei Belege aus PARZIVAL weichen davon ab. Im einen Fall spricht Wolfram vom Gegensatz zwischen den Bemühungen Gawans um Orgeluse (dienstbaeriu triuwe 541, 4) und dem Verhalten der abweisenden Dame: diu im doch smaehe erbot genuoc (541, 8). Dabei geht es gerade um die Feststellung, daß Orgeluse kraß von höfischen Normen und Erwartungen abweicht. Ähnliches läßt sich bei dem Beleg aus der sog. Selbstverteidigung' beobachten; dort heißt es: minen zorn gein einem wibe / diu hat mime libe / erboten solhe missetät (114, 15ff.) Durch die Verwendung von erbieten wird in den beiden Kontexten der Verstoß gegen höfische Sitten besonders betont, weil durch das Verb die Erwartung des Hörers auf ein Substantiv mit positiven Konnotationen gelenkt wird. Zusammenfassung: Das Verb erbieten gehört offensichtlich in den Bereich höfischen Verhaltens, in dem anderen mit ,Ehrerbietung' begegnet wird; es unterscheidet sich vom Simplex dadurch, daß es nicht einen einzelnen kommunikativen Akt bezeichnet, sondern die Gesamthaltung einer Person gegenüber (einer) anderen, die sich in freundlicher Zuwendung manifestiert. 3.3.
gebieten
Im Gegensatz zu den anderen Präfixverben ist gebieten in den höfischen Romanen recht häufig belegt: 17 Belege im IWEIN, 28 im TRISTAN und 90 im
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PARZIVAL. In der überwiegenden Zahl der Belege ist das Subjekt ein Mensch; einige Sätze haben - pars pro toto - Teil eines Menschen (hant, herze, zunge) oder got/gotinne als Subjekt. Auffallend ist, daß Wolfram in fast einem Drittel der Sätze ein A b s t r a k t u m als Subjekt setzt - neben aventiure entweder eine menschliche Eigenschaft (sin manheit u. ä. ) oder eine Befindlichkeit ( m i n n e u . a . ) ; solche Fügungen verwenden H a r t m a n n u n d Gottfried nicht. - In zwei Sätzen mit Passivkonstruktion bleibt u n b e s t i m m t , von wem das gebieten ausgeht, ebenso bei Sätzen mit unpersönlichem man. Sätze mit gebieten weisen wenig Varianten auf. Daß es bei gebieten d a r u m geht, eine Handlung auszulösen, zeigt die große Zahl von Belegen, in denen das Akkusativobjekt durch einen daz-Satz realisiert ist, in dem mitgeteilt wird, welche Reaktion gefordert wird. Die Kontexte lassen erkennen, daß die gesellschaftliche Position entscheidend dafür ist, wem das ,gebieten' zukommt. Gottfried berichtet, daß Tristan nach der Ankunft in der Minnegrotte Curvenal den Auftrag gibt, an Markes Hof zurückzukehren. Dann heißt es: er (Curv.) leiste, daz man ime gebot. (TRISTAN 16803) Das Verhältnis zwischen Tristan und Curvenal ist zwar freundschaftlich, der Rangunterschied ist jedoch zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Der ranghöheren Person kommt das ,gebieten' zu, der rangniedrigeren das ,leisten 1, . Vor allem bei offiziellem Anlaß liegt es bei der ranghöchsten Person, die Handlungen der übrigen Anwesenden zu steuern; beispielsweise ergreift beim Gerichtstag in Weisefort die Königin Isolde nur auf ausdrücklichen Wunsch des Königs, ihres Gemahls, das Wort; sie sagt: „so gebietet mirz, so spriche ich vür iuch, vür Isot und vür mich." (TRISTAN 9753 f.) Wenn gebieten in Höflichkeitsformeln steht (gebietet, so [ . . . ] ) , versteht sich die sprechende Person selbst als Adressat des ,gebietend. Solche Sätze kommen vor allem im TRISTAN vor und sind in ihrer Funktion sehr einheitlich; sie stehen häufig beim Abschied: „•vrouwe" sprach er „gebietet mir, ich sol und muoz ze lande vorn" [...] (TRISTAN 1422 f.) Wenn Wolfram ein A b s t r a k t u m als Subjekt zu gebieten setzt, drückt er dadurch aus, daß der betroffene Mensch ganz unter der Herrschaft des Gemütszustands oder einer Eigenschaft steht: den rittern was da ruowe not, wände in gröz müede daz gebot. (PARZIVAL 391, 3 f.)
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In Sätzen mit Abstraktum als Subjekt wird durch das Verb gebieten ausgedrückt, daß sich die betroffene Person ihrer Veranlagung oder den überwältigenden Gefühlen nicht entziehen kann. Zusammenfassung: Gebieten ist ein performatives Verb; die Handlung erfolgt durch Sprache und Gestik. Nur der ranghöchsten Person kommt das gebieten' zu; die Folgehandlungen bedürfen nicht der Zustimmung durch die Betroffenen, sondern sind durch das ,gebieten' festgelegt. 3.4. verbieten In den höfischen Romanen wird das Verb verbieten nur ganz selten gebraucht: zwei Belege im IWEIN, vier im PARZIVAL und sechs im TRISTAN. Offensichtlich gehört die Vorstellung, daß jemand einem anderen etwas untersagt, nicht zentral in die idealisierte Welt des höfischen Romans. Im PARZIVAL ist in einem Beleg das Subjekt des Satzes ein Mensch (den stürm verbot do Clamide (PARZIVAL 208, 20)), sonst stehen als Subjekte Abstrakta, einmal der Gral: der gral und des grales kraft / verbietent valschlich geselleschaft (PARZIVAL 782, 25 f.). Daß hier nicht nur der Gegenstand Gral genannt wird, sondern auch die darin manifest werdende göttliche Kraft, weist darauf hin, daß eine höhere Macht, deren Autorität unstrittig ist, ein Verbot von großer Tragweite angeordnet hat. In anderen Belegen werden höfische Normen genannt, die etwas nicht zulassen: diu ritterschaft dir daz verbot (PARZIVAL 157, 20). Normen gelten immer und für alle und jedermann kennt sie; deshalb kann der Satz mit Prädikat verbieten im Passiv formuliert sein und der Urheber nicht genannt werden: [... ] siner tohter [...] swie ir verboten si daz swert [ . . . ] (PARZIVAL 367, 24f.). Im TRISTAN stehen alle Belege im sogenannten Ziuoie-Exkurs; als Subjekt wird einmal Gott genannt; in zwei Sätzen mit Passivkonstruktion bezieht sich verbieten auf Gott als Urheber, auch wenn er nicht genannt ist. In den anderen Belegen - in denen von der Unmöglichkeit, etwas zu ,verbieten' gesprochen wird - bleibt das Subjekt ganz unbestimmt. - In Hartmanns IWEIN wird das Verb wie im TRISTAN verwendet. Zusammenfassung: Verbieten ist ein performatives Verb: Von einem bestimmten Zeitpunkt an sollen bestimmte Handlungen unterbleiben. Auffallend ist, daß in den meisten Belegen nicht einem Menschen diese Kompetenz zukommt, sondern der göttlichen Macht oder gesellschaftlichen Normen. 4. Ergebnisse Auf die Bedeutung der einzelnen Verben in den mittelalterlichen Texten braucht nicht mehr eingegangen zu werden; sie sind in den jeweiligen Zusammenfassungen beschrieben. Ein Vergleich zwischen der Bedeutung des Simplex bieten und der Präfixverben zeigt, daß eine enge semantische Verwandtschaft zwischen ihnen besteht, aber alle gegeneinander eindeutig differenziert sind. Die
BIETEN
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Situationen, in denen entweder das Verb bieten oder eines der Präfixverben verwendet werden, sind durch die höfische Kultur geprägt: Vorzugsweise werden dabei zeremonielle Handlungen oder Rituale geschildert, in denen genau festgelegte Worte und Gesten gefordert sind. Die hierarchische Ordnung der mittelalterlichen Gesellschaft spiegelt sich in den Rangfragen, durch die bestimmt ist, wem die Handlung ,gebieten1 oder ,verbieten' zukommt oder wer die Handlung ,bieteii oder ,erbieten 1 zu vollziehen hat; das ,bieten/erbieten' kann bis zur völligen Unterwerfung der eigenen Person unter die Wünsche des anderen gehen. Die ritterliche Höflichkeit wird durch das Verb bieten insofern manifest, als durch die Handlung Rieten1 zwar eine Reaktion des Partners ausgelöst werden soll, aber immer auch Signale dafür gegeben werden, daß die Entscheidung beim anderen liegt. Schließlich gehört ,bieteii - mit seinem hohen Grad an Verbindlichkeit - in den Bereich des mittelalterlichen Rechts, als eine Initialhandlung, die die Beziehungen zwischen zwei Personen regeln hilft. Ersichtlich ist, daß für eine Handlung ,6ietert, wie sie im Mittelalter vollzogen wurde, kaum mehr Raum in der modernen Gesellschaft ist - mit ihren Vorstellungen von der Gleichheit der Menschen, von der Selbstverwirklichung des Einzelnen und der individuellen Gestaltung des Lebens, von der weitgehenden Entbehrlichkeit von Höflichkeitsformeln, von der Rechtswirksamkeit durch schriftliche Fixierung. Werkausgaben Gottfried von Straßburg: TRISTAN UND ISOLD. Hg. von Friedrich Ranke. 13. unveränderte Auflage. Dublin, Zürich 1968. Hartmann von Aue: IWEIN. Hg. von G. F. Benecke und K. Lachmann. 6. Ausgabe von Ludwig Wolff. Nachdruck. Berlin 1964. Wolfram von Eschenbach: PARZIVAL. Hg. von K. Lachmann. 6. Aufl. 1926. Nachdruck 1965. Berlin, Leipzig. Sekundärliteratur Benecke, G. F. (1901): Wörterbuch zu Hartmanns IWEIN. 3. Ausgabe besorgt von C. Borchling. Leipzig. Birkhan, Helmut (1988): Der babylonischen Verwirrung entgangen? Mittelalterliche Gebärdensprache als Schlüssel zum Verständnis bildlicher Darstellungen. In: Stein, Peter K. u. a. (Hgg.): Festschrift für Ingo Reiffenstein. Göppingen, 443-462. Eroms, Hans-Werner (1989): Zum Verbalpräfix ge~ bei Wolfram von Eschenbach. In: Gärtner, Kurt u. a. (Hgg.): Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder. Tübingen, 19-32. Fritz, Gerd (1972): Bedeutung und Selektion. Einige Beobachtungen zu mhd. Verben des Fallens. In: Hundsnurscher, Franz u.a. (Hgg.): ,GETEMPERT UND GEMISCHET'. Festschrift für Wolfgang Mohr. Göppingen, 397-416.
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Herta
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BERND SCHIROK, Freiburg i. BR.
Handlung und Exkurse 1 in Gottfrieds ,Tristan'. Textebenen als Interpretationsproblem
1.1.
Mit „Untertönen resignativer Melancholie" konstatiert R. Krohn im Nachwort seines ,Tristan'-Kommentars (1981, 270 und Anm. 157), daß der Facettenreichtum des Romans eine einheitliche, integrative Auslegung offensichtlich nicht zuläßt. So hat sich in der Forschung zwar kein Konsensus herstellen lassen darüber, wie Gottfrieds Werk ,richtig' zu verstehen sei, wohl aber darüber, daß ein solcher Konsensus unerreichbar ist. Die allgemeine Uberzeugung vom proteischen Charakter des ,Tristan' ist zu einem einigenden Schibboleth der Mediävisten geworden.2 W. Haugs ,Tristan'-Vortrag 3 kann als Begründung für Krohns Feststellungen gelesen werden. Haug (1986, 42) glaubt, daß alle Versuche, „ehrsam oder klug, simpel oder sophistisch das Anstößige und Widersprüchliche" im Roman „wegzuinterpretieren", im Grunde „auf das eine hinaus [laufen]: Schwarz und Weiß eindeutig zu verteilen". Dies gelte gleichermaßen für die beiden sich anbietenden Möglichkeiten, daß man entweder „die Gesellschaft so sehr einschwärzt, daß die Liebenden moralisch freigesprochen erscheinen", oder aber daß man anstelle der Gesellschaft „die Liebenden ins Unrecht" setzt, „indem man das Idealkonzept der Liebe gegen sie ausspielt", um damit „dieses gegen sie" zu retten (1986, 43) 4 . Gegenüber der eindeutigen Schwarz-Weiß-Verteilung mit ihren beiden Varianten und den jeweiligen Abtönungen hält Haug fest: 1
2
3
4
Der Begriff ,Exkurs' wird hier wertneutral gebraucht. Uber Gewicht und Bedeutung der so bezeichneten Passagen soll damit nichts ausgesagt werden. Erst die Textanalyse kann Aufschluß darüber geben, ob der traditionelle Terminus angebracht ist oder ersetzt werden sollte. Ahnlich P. Ganz 1978, Teil 1, IX. - Krohn unternimmt es, „wenigstens in Ansätzen die Ergebnisse der Gottfried-Philologie [zu] skizzieren" (1981, 9). D a es im folgenden nicht möglich ist, die Forschungsdiskussion jeweils im einzelnen darzustellen, wird auf Krohn 1981 und 1991 verwiesen. Der Vortrag wurde im August 1985 beim VII. Internationalen Germanisten-Kongreß in Göttingen gehalten und 1986 publiziert. Sowohl bei Krohn wie bei Haug wird deutlich, daß die Interpretationsprobleme für sie zugleich die Faszination des Romans ausmachen (Krohn 1981, 10; Haug 1986, 41; 52). Vor diesem Hintergrund ist Schnelle (1992, 9) Bemerkung über „eine - heute schon fast in Mißkredit geratene - integrierende Gesamtdeutung von Gottfrieds ,Tristan' " zu sehen.
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Bernd Schirok Das ist das Skandalon dieses Romans, das sich weder durch einseitige Blindheit noch durch trickreiche Differenzierung aus der Welt schaffen läßt: die Liebe Tristans und Isolds ist zugleich vollkommen und korrupt, sie sind rein und schuldig, die Gesellschaft ist in concreto gemein und im Prinzip doch ein unabdingbares Gut (1986, 44).5 1.2.
Gegen Tendenzen der Tristanforschung, „das Werk des Straßburger Dichters als einer übergreifenden Gesamtinterpretation unzugänglich aufzufassen", wandte sich mit Entschiedenheit T. Tomasek (1985, 1). Er sieht darin „die Preisgabe einer elementaren Grundlage jeden literaturwissenschaftlichen Arbeitens" und betont, daß „die Suche nach einer umfassenden Stimmigkeit im literarischen Text eine literaturtheoretisch unverzichtbare Notwendigkeit jeder Textrezeption darstellt" 6 . Die Aufgabe dabei sei, „die komplexe Textstruktur des ,Tristan' - das vielschichtige Gewebe von Handlungsverlauf und Autor-Kommentar - aufzuschlüsseln" und in diesem Zusammenhang eine „bestimmte Anzahl von Textpassagen (vornehmlich die großen Exkurse) wesentlich eingehender als den Rest des Romans 7 zu besprechen" (1985, 2). 1.3. Das Verhältnis Handlung - Exkurs als Problem der Tristanphilologie ist natürlich keine Neuentdeckung 8 , doch ist für neuere Arbeiten wie Tomasek kennzeichnend, daß sie das Problem als grundsätzliches eingangs und nachdrücklich herausstellen, während sich in früheren Untersuchungen die ,Lösung' gewissermaßen en passant im Zuge der Interpretation ,ergab' 9 . Im gleichen Sinne schreibt R. Schnell (1992, l f . ) : Daß Gottfrieds ,Tristan' bei seinen Lesern einen widerspruchsvollen, ambivalenten Eindruck hinterläßt, ist nicht zuletzt dem umstrittenen Verhältnis von Exkurs und Handlung zuzuschreiben. [...] Während die einen Interpreten ihr Gottfried-Bild vor allem aus den Exkursen gewinnen, sind andere skeptisch gegenüber allen Versuchen, die wenigen hundert Verse der Exkurse gegenüber dem viele Tausende von Versen umfassenden Romangeschehen so sehr aufzuwerten. Soll man die Tristanhandlung vom Erzähler-Kommentar her verstehen oder den Kommentar von der Handlung her? Brisant ist die Frage vor allem dann, 5
Haug hat diese Position später (1990, 72, Anm. 30) etwas zurückgenommen. 6 Ähnlich Stein 1980, 573. Tomasek bezieht sich auf Krohn 1981 und Christ 1977, Stein auf Ganz 1978. 7 Eine solche Formulierung provoziert natürlich geradezu den Vorwurf, die „quellengebundene Erzählung" werde „zur quantite negligeable, zum Hintergrundsmaterial für das, was der Dichter eigentlich sagen wollte" (Schröder 1993, 64/30). 8 Vgl. Peiffer 1971, 9; 95-107. 9 Vgl. Peiffer 1971, 95.
Handlung und Exkursein
Gottfrieds
,Tristan'
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wenn sich Widersprüche zwischen Kommentar und Handlungsdarstellung aufzutun scheinen. Welcher Aussage(ebene) soll man den Vorrang geben? Oder haben wir von einer doppelten Wahrheit auszugehen? Vielleicht weist der Kommentar gar auf eine dritte Perspektive (so daß die ,Wahrheit' des Konflikts in einer utopischen ,Wahrheit' der übergreifenden Harmonie aufgehoben wird). Doch vor aller inhaltlichen Verknüpfung von Exkurs und Handlung ist die Frage zu klären, ob man die beiden Ebenen überhaupt zueinander in Beziehung setzen darf. Möglicherweise haben wir es mit zwei gänzlich unterschiedlichen Redeweisen mit jeweils verschiedenen Funktionen zu tun, so daß ein tertium comparationis fehlt. 1 0
2.1.
Nicht alle E x k u r s e h a b e n bei den I n t e r p r e t e n in gleichem Maße f ü r Verwirr u n g gesorgt. Die Spitzenstellung darf m a n in dieser Beziehung getrost d e m Frauenexkurs 1 1 (17858-18114) zuerkennen. G o t t f r i e d , so stellt K. B e r t a u (1973, 958 f.) resignierend fest, brachte es fertig, in einem Kommentar, zu dem ihn nichts nötigte, seine exklusiv konzipierte Tristanliebe einer höfischen Allerweltsmoral anzugleichen. [ . . . ] Es klingt den verblüfften Ohren [ . . . ] so, als ob Tristan-Minne auf Ehemoral reime. K . R u h (1980, 244) sieht „eine b e s t ü r z t e Frage des Lesers" voraus, u n d Bert a u (1983, 162) konstatiert: „kaum ein Leser h a t an dieser Stelle seinen Augen t r a u e n wollen" 1 2 . D. K ü h n vermeidet bei den Lesern seiner Ü b e r s e t z u n g derartige Reaktionen, i n d e m er den F r a u e n e x k u r s aus d e m Text herauslöst u n d in den A n h a n g v e r b a n n t (1991, 629 ff.)13. 2.2.
Die Reflexionen ü b e r das Wesen u n d die Möglichkeiten der Frau n e h m e n ihren Ausgang von der auf der H a n d l u n g s e b e n e geschilderten huote (17835 ff.), 10
Zu den einzelnen Positionen Huber 1988, 131, Anm. 169. Den Begriff ,Frauenexkurs' (statt ,huote-Exkurs') hat Schnell 1984 vorgeschlagen. Vgl. aber schon Maurer 1951, 229: „große Erörterung über die Natur der Frau". Der Frauenexkurs spielt in den meisten Interpretationen eine mehr oder weniger wichtige Rolle. Spezielle Bedeutung für die folgenden Überlegungen hatten die Arbeiten von Hahn 1963, Peiffer 1971, Urbanek 1979, Schnell 1984, Tomasek 1985, Huber 1988, Wharton 1990 und Schnell 1992. 12 Bei Bertau 1973 bleibt das Problem offen, während Ruh 1980 und Bertau 1983 unterschiedliche Lösungen vorschlagen. 13 Kühn hält die huote für das Thema des Abschnitts (1991, 629). Für seine ,Lösung' spielt offensichtlich der neuzeitliche Exkurs-Begriff eine Rolle: „In dieser Textsequenz dokumentiert sich weithin historisches Gedankensubstrat. So gebe ich diese Reflexionen, diese Laienpredigt dort wieder, wo Exkurse heute meist gedruckt werden: im Anhang." (1991, 630). - Der Verlag hat übrigens Kühns Votum souverän außer acht gelassen und auf dem hinteren Schutzumschlag gewissermaßen als Quintessenz des Romans eine Passage aus dem Frauenexkurs abgedruckt.
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der die Protagonisten unterworfen sind und unter der besonders Isolde leidet (17851). Mit dieser Hervorhebung Isoldes ist die frauenspezifische Perspektive des Exkurses vorbereitet. - Die huote, so lautet dann die Argumentation, ist zwecklos oder unnötig, mithin sinnlos und sogar schädlich. Verbote gegenüber Frauen sollte man unterlassen, weil das Verbot seine Übertretung geradezu provoziert, wie das Beispiel Evas zeigt. In dieser Beziehung sind alle Frauen ir muoter Even kint (17934). Damit ist der Ansatzpunkt für das eigentliche T h e m a erreicht: Welche Verhaltensmöglichkeiten haben die Frauen vor dem Hintergrund ihrer Eva-Natur? 1 4 Zuerst (17967-17985) wird die Frau behandelt, die wider ir art tugendet und sich so den Anspruch auf lop und ere erwirbt. Man kann in diesem Abschnitt kritische Untertöne hören 1 5 , muß es aber keineswegs (Schnell 1984, 20 f.). Je vertrauter dem Rezipienten die Vorstellung von der femina virilis16 ist und je positiver er vor diesem Hintergrund die Passage auffaßt, desto überraschender ist die vom Erzähler im Anschluß vorgenommene Wertungsverschiebung (Huber 1988, 124) durch die Einführung eines neuen, höher eingestuften Frauentyps 1 7 , dem es gelingt, in kämpferischer Auseinandersetzung (vehten 17989; kämpf 17992; arbeit 18008) Up und ere in ein ausgewogenes Verhältnis (mäze 18010) zu bringen 18 . Dieser Ausgleich ist es, der den beiden nun stabilisierten Komponenten eine höhere Qualität verleiht: mäze diu here diu heret lip und ere. (18013f.) Die Frage, ob mit 18015 fF. ein (dritter) Frauentyp eingeführt wird, ist m. E. mit Schnell (1984, 21 f.; 1992, 45f.) zu verneinen. Dabei ist besonders auf die Bindung über den roaze-Begriff zu verweisen (18010, 18013 und 18019) 19 . Dennoch kommt ein neuer Aspekt hinzu (kein neuer Typ, aber doch wohl etwas mehr als nur eine „Steigerung des Tons"), nämlich die aus der Erreichung der maze resultierende Selbstachtung oder Selbstliebe der Frau, mit der die ihr von seiten der Gesellschaft entgegengebrachte Achtung korrespondiert (ir selben ι" Vgl. Schnell 1992, 39. 15 Hahn (1963, 189) meint, die Haltung werde „insgeheim ironisiert". Urbanek (1979, 367) glaubt, die „Ironie Gottfrieds" sei „unüberhörbar". Tomasek sieht in dem „Adynaton der Verse 17982flf." den Beweis dafür, daß es sich bei dem Lob um „ein Scheinlob" handelt. 16 Dazu Schnell 1984,16-21; Glendinning 1987, 625f. und Huber 1988,121-124. Glendinning und Huber zeigen gegenüber Schnell, daß die Vorstellung über den hagiographischen Bereich hinaus verbreitet ist. 17 Huber (1988, 127) erwägt „Übergänge zwischen den drei Haltungen der ihre Natur verleugnenden, der konfliktbereiten und der mit sich selbst versöhnten Frau" und stellt abschließend fest: „Gottfrieds Restitutionsstufen schließen sich somit ihrerseits zu einer notwendigen Folge" (1988, 128). is Anders - m.E. nicht überzeugend - Tomasek 1985, 193 f. und Huber 1988, 125. 19 Uberzeugend Schnell 1992, 46, Anm. 112. Die Differenzierung zweier verschiedener mazeBegriffe als Voraussetzung einer Dreiteilung ist vom Text her nicht zu halten. - Immerhin erkennt auch Huber (1988, 128) vor dem Hintergrund seiner in Anm. 17 zitierten Ansicht der maze eine Bindegliedfunktion zu.
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liep 18022; der werlde liep 18024). Entsprechend dem Abschnitt 17997-18001 behandelt die Partie 18025-18044 erneut (aber nun unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Achtung) die Frauen, die sich einseitig für das Ansehen (gegen die Sinnlichkeit) oder für die Sinnlichkeit (gegen das Ansehen) entscheiden. Sowohl das eine als auch das andere führt zum Mißerfolg (18031 f.; 18043f.). 18051 kommt als zusätzlicher Gedanke ins Spiel, daß die Gesellschaft, indem sie die beschriebene Frau mit ere versieht, ihre eigene ere steigert. Damit ist die Argumentation in sich geschlossen und zum Höhepunkt geführt: Die Frau erreicht in der Auseinandersetzung mit einander entgegenstehenden Ansprüchen einen Ausgleich zwischen ere und Up. Dieser Ausgleich (maze) verleiht ere u n d Up eine neue Qualität, indem sie beide Komponenten heret. Gleichzeitig f ü h r t die erreichte mäze bei der Frau zur Selbstachtung, die von der Gesellschaft mit tegelichen eren (18057) beantwortet wird, wobei dies wieder die ere der Gesellschaft steigert. Mit 18059 if. kommt nun als Neues der Partnerbezug ins Spiel: Wem die beschriebene Frau sich zuwendet, dem wird daz lebende paradis (18066) zuteil. Das Prädikat saelic, das bisher nur der Frau zukam (18017), überträgt sie durch ihre Zuwendung auf den Mann (18063; 18091). Dann folgt jene Partie, die - wie zu zeigen war - manche Interpreten nachhaltig verstört hat. Der Erzähler konfrontiert nämlich nun das entworfene Bild der beglückenden Frau und des beglückten Mannes mit seinen Protagonisten: Ahl, ein sö getan paradis, daz also vröudebaere und sö gemeiet waere, dä möhte ein saeliger man sines herzen saelde vinden an und siner ougen wunne sehen. waz waere ouch dem iht wirs geschehen dan Tristande unde Isolde? der mir es gevolgen wolde, ern dörfte niht sin leben geben umbe keines Tristandes leben. wan zwäre ein rehte tuonde wip an swen diu lät ere unde lip und sich der beider dar bewiget, hl, wie si des von herzen pfliget! wie hat si'n in sö süezer pflege! wie rümet s'alle sine wege vor distel und vor dorne, vor allem senedem zorne! wie vriet si'n vor herzenöt, sö wol sö nie dekein Isöt dekeinen ir Tristanden baz. und hän ez ouch binamen vür daz:
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der suohte, alse er solde, ez lebeten noch Isolde, an den man ez gär vünde, daz man gesuochen künde. (18088ff.) „Die Verse übertragen die Rollen des vorbildlichen Paares in die Welt des Publikums. Die Namen Tristan und Isot sind (18108 f.) appellativ auf die Träger der entsprechenden Rollen angesetzt 20 [... ] Es wird [... ] festgestellt: Die Vorbilder sind einholbar. Von Überholen ist nicht die Rede." (Huber 1988, 130 f.) 21 . Das Irritierende am Frauenexkurs besteht offensichtlich darin, daß hier erstmals explizit der Exkurs in gleichberechtigte Konkurrenz zur Handlung zu treten scheint.
2.3. Das Auseinandertreten von Handlung und Kommentar wird an dieser Stelle vollends evident, weil im Frauenexkurs die gesellschaftliche Komponente konsequent berücksichtigt wird. Ganz ausgeklammert war der Aspekt aber auch früher nicht, nur leichter zu überhören. In der rede von guoten minnen (12183 ff.) 22 beruht das Glück des Zusammenseins auf der Ausschaltung der leiden huote (12196). A. Wolf verweist mit Recht auf die Diskrepanz zwischen der Schärfe des Angriffs auf die huote und der recht schwachen Verkörperung der huote auf der Handlungsebene (1989, 192). Das bedeutet aber, daß das Glück der Liebenden hier die Ausschaltung der Gesellschaft zur Voraussetzung hat und dieser Umstand ausdrücklich betont wird23. 20
Mit anderer Akzentuierung Bertau 1983, 162: „Und indem er [Gottfried] die Namen seiner Helden in den Plural setzt, hat er ihre Einzigartigkeit enzyklopädisch relativiert [···]·"
21 Die Stoßrichtung des letzten Satzes („Von Überholen ist nicht die Rede.") ist auf den ersten Blick unklar, weil Huber offensichtlich zurückhaltend verschweigt, wo vom Uberholen fälschlicherweise die Rede ist. Das ist infolge der Nichtbeachtung des baz (18109) der Fall bei Bertau (1983, 162) sowie in den Ubersetzungen von Kramer 1976, Krohn 1980 und Kühn 1991. Richtig fassen die Stelle auf Weber (1967, 797) und v. Ertzdorff 1979. Vgl. auch Hahn 1990, 368 und Schröder 1993, 62/28. 22 Die Bezeichnung ,Minnebußpredigt' für diesen Abschnitt ist von Urbanek 1979 aus der Forschungsliteratur übernommen. Er baut die Systematik unter Rückgriff auf die genera praedtcandi aus, indem er die Minnegrottenallegorese als Minnelehrpredigt und den Frauenexkurs als Minnelobpredigt bezeichnet. Die Bezüge zwischen der rede von guoten minnen und dem Frauenexkurs sind von Urbanek weitgehend schlüssig herausgearbeitet worden. Weniger überzeugend ist m. E. die Interpretation der rede von guoten minnen (Minnebußpredigt), was die angeblichen Hauptstoßrichtungen Standes- und Besitzehe, Ehe überhaupt, höfischer Artusroman betrifft (1979, besonders 358-365). 23 Vgl. dazu auch Tomasek (1985, 139, Anm. 69), der meint, daß hier die „Auoie-Frage [...] gewissermaßen noch ausgeklammert" sei. Wichtiger als die Ausklammerung ist die Akzentuierung der Ausklammerung.
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,Tristan'
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2.4. Ahnliches ist in der Minnegrottenszene 2 4 der Fall. Daß die Liebenden dort äne Hute solten sin (16849) 25 , bedrückt sie (angeblich) nicht. In Wirklichkeit aber fehlt ihnen die Gesellschaft: sine haeten umbe ein bezzer leben niht eine böne gegeben wan eine umbe ir ere. (16875 ff.) Vor dem Hintergrund dieser Stelle e n t p u p p t sich die u n m i t t e l b a r anschließende idyllische Schilderung von ho}, ingesinde und dienest, gebildet von der Natur, als deutliches Surrogat 2 6 . Dazu stimmt, daß die Liebenden später durch ir ere (17698) an den Markehof zurückkehren. In der Minnegrottenschilderung, also auf der Handlungsebene, werden cleiniu vensterlin oben in der G r o t t e erwähnt (16724 ff.), aber nur in der Grottenallegorese, also auf Exkursebene, strahlt durch die vensterlin [... ] der süeze schin, diu saelige gleste, ere, aller liehte beste. (17066if.) 27 2.5. Bezieht m a n nun den Prolog 2 8 in die Reihe der Exkurse mit ein, so scheinen sich Probleme zu ergeben, da hier „Tristan und Isold als vollkommenes Liebespaar vorgestellt werden" (Schnell 1992, 21). Damit wären H a n d l u n g s - und Exkursebene gewissermaßen kurzgeschlossen. Den weitreichendsten Schluß hat daraus P.K. Stein (1980, 663) gezogen, wenn er von einer „Falsifizierung des Prolog-Ideals durch die Geschichte" spricht. Tomasek „ m u t e t es" vor dem Hintergrund der Stofftradition „wie eine Provokation an, wenn Gottfried an dieser Stelle die Tristanminne zum Angelpunkt der Ehre erklärt." (1985, 131 ) 2 9 . Die „Ausführungen des Prologs [stehen] unter dem ere-Aspekt in einer charakteristischen Differenz zum Handlungsverlauf." Daran sei jedoch die Auffassung des 24 Zur Minnegrotte Krohn 1981, 156ff.; Tomasek 1985, 152-180; Krohn 1991, 230ff. 25 Das könnte die zeitgenössischen Rezipienten an Hartmanns ,Erec' erinnert haben. Erec äußert sich dort gegenüber Mabonagrin: wan ein dinc ist mir unerkant: sö lange ir hinne gewesen sit, saget, wie vertibet ir die zit, iu enwaere me der liute bi? [ . . . ] wan bi den liuten ist sö guot. (9413ff.; 9438) 26 Hahn (1963a, 138ff.) sieht das Problem durchaus, versucht es aber zu überspielen. 27Tomasek 1985, 172ff.; Schnell 1992, 22. 28Tomasek 1985, 124-136; 124, Anm. 1 mit Literaturangaben; Krohn 1981, l l f f . ; 1991, 15ff.; Haug 1992, 200-219. 29 Auch wenn dieser Aspekt differenzierter gesehen werden muß, ist das provokative Element sicher vorhanden. Vgl. zur persuasiven Strategie im strophischen Prolog Eifler 1975.
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Dichters ablesbar, „daß durch die Niederlage der Protagonisten die Möglichkeit einer Vereinbarkeit von Liebe und Gesellschaft nicht verspielt ist." (1985, 132) 3 0 . Obwohl natürlich der Roman eine Einheit bildet, zu der die Handlungsebene wie die Exkursebene gehört, scheint es mir doch nicht legitim zu sein, auf diese Weise zwischen den Ebenen hin- und herzuschalten. Wenn im Prolog gesagt würde, daß die Protagonisten gesellschaftliche Anerkennung bei ihren Mitmenschen errungen hätten, so wäre das eine gravierende Unstimmigkeit gegenüber dem tatsächlichen Handlungsverlauf, die sonst sorgfältig vermieden wird, indem entweder der gesellschaftliche Aspekt betont ausgeklammert wird (rede von guoten minnen und Minnegrotte) oder die Erörterungen abgelöst von der Situation der Protagonisten geführt werden (Frauenexkurs). Welche Aussagen macht nun der Prolog über die ere? Außerhalb des strophischen Teils, der hier außer Betracht bleiben kann, da er keinen expliziten Bezug auf die Protagonisten hat, kommt der Begriff ere fünfmal vor. Die ersten beiden (182, 190) und die letzten beiden (227) Belege sind unproblematisch. Sie beziehen sich auf die Rezeption der Geschichte von Tristan und Isolde. Durch die Rezeption gewinnt der getriuwe man (u. a.) die ere lieb. Ohne die Anleitung der liebe (187) kann niemand zur ere gelangen. Das bedeutet bei genauer Interpretation: liebe ist notwendige Voraussetzung der ere, nicht aber: ere ist notwendige Folge der liebe. Die Voraussetzung-Folge-Verkopplung erfolgt später (in etwas komplexerer Weise) im Frauenexkurs, nicht aber auf der Handlungsebene. Dann aber scheinen der Liebe zwischen Tristan und Isolde doch ere und lop zugesprochen zu werden. Die Argumentation scheint auf Kollisionskurs zur Handlung zu steuern: liep uride leit diu wären ie an minnen ungescheiden. man muoz mit disen beiden ere unde lop erwerben oder äne si verderben. (206fF.) Die Möglichkeit des Erwerbens oder Verderbens ist keineswegs, wie Tomasek meint, „offen und unentschieden" (1985, 132), sondern an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft und mit diesen untrennbar verbunden. Noch einmal: man muoz mit disen beiden [liep und leit] ere unde lop erwerben oder äne si verderben. (208ff.) Der Konflikt zwischen Prologaussage und Handlungsverlauf scheint unausweichbar. Denn die Liebenden verderben j a mit disen beiden. 30
Tomasek sieht diese Auffassung durch den Frauenexkurs gestützt. Ahnlich argumentiert Huber 1988, 130: „Auch das Verhalten Tristans in der Weißhand-Episode erlaubt es nicht, von einem Scheitern des Minneideals im Romanverlauf zu sprechen. Gottfried ist dem auf der Exkursebene zuvorgekommen."
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Der Folgetext katapultiert sich dann mit einer überraschend unerwarteten, gleichwohl konsequent handlungskonformen Wendung aus dem sich anbahnenden Dilemma: von den diz senemaere seit, und haeten die durch liebe leit, durch herzewunne senedez clagen in einem herzen niht getragen, man erwartet: so wären sie zugrunde gegangen und hätten nicht die gesellschaftliche Anerkennung gefunden, die ihnen zuteil wurde . . . - Doch der Erzähler fährt fort: sone waere ir name und ir geschiht so manegem edelen herzen niht ze saelden noch ze liebe komen. (215 ff.) Indem der gesellschaftliche Kontext der Liebenden übersprungen wird und ere und lop in die Rezeption der Geschichte durch die edelen herzen verlegt werden, bleibt die Argumentation einerseits in sich stringent, andererseits wird der Widerspruch mit der Handlungsebene vermieden 31 . Steins (1980, 663) Feststellung, „die Helden sind nicht literarisch unsterblich geworden (jedenfalls nicht so, wie es der Prolog suggeriert hatte)", ignoriert die Aussagen des Textes und erliegt seiner Suggestion 32 . Damit fügt sich auch der Prolog widerspruchsfrei in das Konzept. 3.1. Daß die neueren Arbeiten von Tomasek 1985, Huber 1988 und Schnell 1992 die Exkurse, besonders den heiklen Frauenexkurs, ernstnehmen 33 , markiert einen bedeutenden Fortschritt, hinter den die Gottfried-Philologie nicht zurückfallen sollte. Das ist das bleibende Verdienst der genannten Autoren. Als glücklicher Umstand erweist sich dabei, daß die Erscheinungsdaten es erlaubten, wenigstens ansatzweise auf die Vorgänger einzugehen. - Andererseits soll ein latentes Unbehagen nicht verschwiegen werden. Das mag an dem etwas inflationär gebrauchten Utopiebegriff liegen, der in seinen unterschiedlichen Verwendungsweisen bestehende Differenzen eher verschleiert und durchaus traditionelle Positionen in neuem Glanz erscheinen läßt. Wissenschaftsgeschichtlich ist das aber vielleicht gar kein Nachteil. Im Grundsätzlichen (Bedeutung der Exkurse) 31
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Das Uberspringen des gesellschaftlichen Kontextes der Liebenden wird besonders augenfällig, wenn man die Argumentation mit der des ,1 wein'-Prologs (1-20) vergleicht. Hartmann formuliert, Artus habe zu seinen Lebzeiten der eren kröne getragen. Was er an ere und lop in seinem Leben erworben habe, sei noch heute und für immer mit seinem Namen verbunden. Vgl. besonders Iwein 12-17 und Tristan 222- 229. Dazu Haug 1992, 216 f. Der Vollständigkeit halber: Die zweifache ere in 227 bezieht sich wieder auf den Rezipienten bzw. die Auswirkungen der Rezeption. Tomasek 1985, 2; Huber 1988, 131, Anm. 169; Schnell 1992, 55.
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stimmen die Arbeiten überein. Sie sehen auch vieles schärfer und differenzierter als frühere. Wenn mir auch die vermeintlich neue utopische Dimension schlicht mit den Exkursaussagen identisch zu sein scheint 34 , sollte man mögliche Kritik nicht am Utopie-Begriff aufhängen, der grundsätzlich zeitspezifische Definitionen erlaubt 3 5 . Schwerer wiegt der Einwand, daß die Fixierung auf die utopische Dimension bzw. die Exkursaussagen zu Unschärfen und Schiefheiten bei der Beurteilung der Handlungsebene führt. Im folgenden werden Beispiele herausgegriffen, die weder singular noch für die einzelnen Arbeiten insgesamt repräsentativ sind, die mir aber doch symptomatisch erscheinen. So stellt Tomasek völlig zu Recht fest, daß das im Frauenexkurs Entwickelte „das den Protagonisten des Romans Mögliche weithin übersteigt" (1985, 203). An anderer Stelle bewertet er dagegen die Handlung vom Frauenexkurs aus, wenn er Isoldes Handeln nach dem Exkurs als „ein Vergehen" bezeichnet, durch das sie „mit dem Idealbild" breche (1985, 200). Ein solches Urteil würde voraussetzen, daß die Exkursposition für Isolde realisierbar wäre, was Tomasek ja verneint. Damit aber ist das Urteil obsolet 36 . Dieselbe Unscharfe, die bei Tomasek festzustellen war, findet sich auch bei Huber. Zur Baumgartenszene nach dem Frauenexkurs heißt es, Isolde gelinge „es nicht mehr, [... ] ihre natiure zu bändigen [...]. Das Gegenbild des Exkurses trifft auf sie zu: man leschet gelangen, so der beginnet angen (18033f.)". Daß diese Aussagen nicht deskriptiv (was zu akzeptieren wäre), sondern wertend gemeint sind (so faßt auch Schnell 1992, 22, Anm. 49, die Äußerung auf), zeigt der Folgesatz: „Nach der Katastrophe der Entdeckung [... ] aber kehrt sie auf die ethische Höhe ihrer Liebe zurück [...]" (1988, 129). Schnell zeigt sich zu Recht von Hubers zitierter Interpretation nicht überzeugt und benennt (nach einem Zwischenargument) als entscheidenden Fehler „die Übertragung von Exkursaussagen auf die Handlungsebene" (1992, 22, Anm. 49). An anderer Stelle wird jedoch die angemahnte Differenzierung von Schnell selbst vernachlässigt: „Weil die Liebenden [... ] die erwünschte Integration noch nicht erreicht haben, angesichts dieser ,Gesellschaft' auch nicht erreichen können, fällt ein Schatten auf ihre sonst vorbildliche Liebe" (1992, 51, Anm. 124). Dieselbe Beurteilungsperspektive zeigt Schnelle Feststellung, „daß ein Fehlverhalten bzw. das Scheitern der Protagonisten auf Handlungsebene nicht allein ihnen [... ] anzulasten ist", 34
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So spricht Tomasek (1985, 197) von der ,,utopische[n] Frauenpersönlichkeit", wobei er die des Frauenexkurses meint. - Huber (1988, 131, Anm. 69) paraphrasiert zustimmend Tomasek, daß dieser „das System der großen Minneexkurse als utopische Perspektive [verstehe], auf die Gottfried die Romanhandlung öffnet [...]." Das bedeutet, daß er die Gleichung Utopie = Exkurs bei Tomasek erkennt und akzeptiert. - Schnell (1992, 31, Anm. 73) meint, „Gottfried bietet in den Minneexkursen das Ideal einer utopischen Versöhnung." Später spricht er im gleichen Sinne von „der Utopie der Exkurse" (1992, 55). So bei allen Einwänden im einzelnen Hahn (1990, 363) in ihrer Tomasek-Rezension. Anders Schröder 1993. Vgl. dazu unten Abschnitt 3.3.
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sondern ebenso der Gesellschaft, da „Voraussetzung für die im Frauenexkurs angepeilte Harmonisierung [ . . . ] eben auch eine gewisse Bereitschaft der Gesellschaft" sei (1992, 41 ) 3 7 . Das Problem des Verhältnisses von Handlung und Exkurs ist also offensichtlich bislang noch unzureichend geklärt. Ubereinstimmung scheint bei den zitierten Autoren darin zu bestehen, daß zwischen beiden Textebenen eine Differenz besteht, die sich als Defizit der Handlungsebene darstellt, wenn man an sie den Maßstab der Exkursebene anlegt. Strittig dagegen scheint zu sein, ob es legitim ist, den Exkursmaßstab wertend auf die Handlung zu projizieren. Dabei nehmen die Arbeiten nicht geschlossen gegensätzliche Positionen ein, sondern zeigen sich aufschlußreicherweise intern ambivalent, indem sie ζ. T. die Legitimität explizit bestreiten, aber implizit voraussetzen. Hier ist also noch einmal grundsätzlich das Verhältnis der Ebenen zu prüfen. 3.2. Für den Unterschied zwischen Handlung und Exkurs kann man mit Schnell festhalten: „Die Gesellschaft in den Exkursen ist [ . . . ] eine andere als in der Handlung" (1992, 28); „die Liebe in den Exkursen [ist] eine andere als auf der Handlungsebene" (1992, 28); die im Exkurs entwickelte Integration wird auf der Handlungsebene „von den Liebenden nicht erreicht" (1992, 51). „Exkurs und Handlung entwerfen also zwei unterschiedliche Weltperspektiven" (1992, 56). Entscheidend ist die Differenz zwischen Tristanminne und Exkursminne. Aus dieser Differenz folgt alles andere. Schnell erwägt die Möglichkeit, daß „die Schlußepisode des Romans die endgültige Anerkennung der Tristanliebe durch Marke gebracht [hätte], da sogar bei dem der Tristanliebe kritisch gegenüberstehenden Ulrich von Türheim den Liebenden zum Schluß eine moralische Wertschätzung nicht versagt wird" (1992, 170). Der entscheidende Umschlag wird dort bei Marke dadurch ausgelöst, daß er von dem Trank erfährt 38 . Daß Gottfried eine entsprechende Szene plante, halte ich (mit Schnell) konzeptionell für möglich, allerdings (mit möglicherweise nicht legitimem Blick auf Thomas 3 9 ) für nicht sehr wahrscheinlich und (unabhängig von Thomas) in Hinsicht auf die Rezipienten für überflüssig, denn was Marke bei Ulrich erfährt, wissen sie ohnehin. Ihre Bewertung der Tristanminne könnte also durchgängig von dem Wissen geprägt sein, daß die Konflikte und das letztendliche Scheitern der Liebenden nicht auf ihr oder der Gesellschaft Versagen zurückzuführen ist, sondern auf einen Zwang, der sich quer zu bestehenden Bindungen und Normen stellt. Der Ausgang dieser Zerreißprobe ist für den Erzähler ( d a z leide veige vaz; 11693) wie für Brangäne (veige vart 11703) klar: Das ist nun eine Kombination der von Haug als alternativ vorgestellten Möglichkeiten ,Einschwärzung der Gesellschaft' oder ,Einschwärzung der Liebenden.' 38 Ulrich von Türheim, Tristan 3446-3465. Ebenso Heinrich von Freiberg, Tristan 6707-6742. 39 Vgl. Tomasek 1985, 86ff.; 118f.; 131; 193; besonders 197. 37
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ouwe Tristan unde Isot, diz tranc ist iuwer beider töt. (11705 f.) Nicht der Trank als solcher ist tödlich; im geplanten Rahmen hätte er (nicht initiierend, aber) stabilisierend gewirkt; so aber stellt er sich gegen das Geplante, und der Ausgang dieser Konstellation ist klar. 3.3. Der viel und kontrovers besprochene Minnetrank bedarf damit erneuter Analyse 40 . Schnell hatte in einer früheren Arbeit konstatiert: „Gottfrieds Liebeskonzeption konnte auf Erklärung und Entlastung der Liebeshandlung durch die magische Kraft des Minnetrankes verzichten. Der Trank übernahm wie der Venuspfeil bei Veldeke [im Eneasroman] poetische und interpretative Funktionen" (1985, 344). Doch gerade die überzeugende Veldeke-Interpretation Schnells (1985, 212-218) weckt gravierende Zweifel an der Trank-Deutung. Schnell hatte dort im Zusammenhang der Entstehung der Liebe bei Lavine und Eneas nachgewiesen, daß erst „nach Ablauf des natürlichen Geschehens im zwischenmenschlichen Bereich [... ] zur epischen Überhöhung des Geschehens die mythologische Figur [Venus] ins Spiel gebracht" wird (1985, 217). Nichts hätte dagegen gesprochen, mit dem Trank ebenso zu verfahren, wenn das Gottfrieds Konzeption entsprochen hätte. Entgegen dieser Möglichkeit ist der Trank jedoch das Primäre: Nu daz diu maget unde der man, Isöt unde Tristan, den tranc getrunken beide, sä was ouch der werlde unmuoze da, Minne, aller herzen lägaerin, und sleich z'ir beider herzen in. e si's ie wurden gewar, dö stiez s'ir sigevanen dar und zöch si beide in ir gewalt. si wurden ein und einvalt, die zwei und zwivalt wären e. (11707ff.) Schnell stellt mit Recht fest: „Um den Eindruck einer mechanisch entstandenen Liebe abzuschwächen, hätte Gottfried während des Vorgangs des Trinkens lediglich den Augen/Herz-Topos einzuführen brauchen (vgl. Lavine/EneasLiebe)" (Schnell 1985, 339). Schnells Erklärung überzeugt jedoch nicht. „Er [der Trank] symbolisiert eben die ideale Liebe zwischen Tristan und Isolde, die ihren Impuls nicht von außen, von der Schönheit, von der verführerischen Erscheinung eines Menschen erhält, sondern plötzlich im Herzen der Menschen und dann mit dem äußeren Auge diesen anderen Menschen erst schön werden läßt und als schön erkennt. Daß die magische Kraft des Minnetrankes selbst ίο Zum Minnetrank Krohn 1981,113ff.; 1991; 168ff.; Schnell 1985, 325ff.; Huber 1986, 68ff.
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diese ideale Liebe auslöst, wird wohl niemand behaupten wollen" (1985, 342 f.) - genau das aber tut offensichtlich der Text. So geeignet der Minnetrank ist, „die beiden Liebenden über den Vorwurf einer persönlichen Schuldverstrickung erhaben" zu machen (Krohn 1981, 116), so gefährlich ist er im Hinblick auf die ethische Qualität der so entstandenen Liebe. In der volkssprachlichen Lyrik setzen Chretien de Troyes, der Chätelain de Coucy, Heinrich von Veldeke und Bernger von Horheim ihre Liebeskonzeption von der kritisch gesehenen Trankminne ab 4 1 . Gottfried hat die exkulpierende Funktion des Trankes bewahrt, gleichwohl versucht, die daraus resultierenden Gefahren für die Qualität der Liebe seiner Protagonisten abzufangen. Zum einen tritt der Trank zunächst ganz in den Hintergrund (ab 11710 bis 12483), so daß der Eindruck der Entwicklung einer ,normalen' Liebe entsteht. Zum anderen reagiert Tristan auf Brangänes Enthüllungen mit emphatischer Zustimmung: ,nu walte es got!' sprach Tristan ,ez waere töt oder leben: ez hat mir sanfte vergeben. ine weiz, wie jener werden sol; dirre töt der tuot mir wol. solte diu wunnecllche Isöt iemer alsus si min töt, sö wolte ich gerne werben umbe ein eweclichez sterben.' (12494IT.) Indem „sich Tristan feierlich zu diesem Geschehen und dessen Konsequenzen" bekennt (Wolf 1989, 181), wird freilich der Zwangscharakter (äne sinen danc 11440) dieser Liebe nicht aufgehoben. Wenige Verse vor dem „ekstatischen Bekenntnis" Tristans (Wolf 1989, 180) kommentiert der Erzähler die Planung des Betrugs an Marke mittels der jungfräulichen Brangäne: alsus sö leret minne durnehtecliche sinne ze valsche sin vervlizzen, die doch niht solten wizzen, waz ze sus getaner trüge und ze valscheit gezüge. (12447fF.) Die Trankminne (so mit Schnell. 1992, 24, Anm. 53) pervertiert die als integer bezeichneten Liebenden. Wenn Schnell hier paraphrasiert, Gottfried äußere sich „kritisch zum Handeln der Liebenden", dann ist das zumindest eine mißverständliche Akzentuierung. Kurz darauf formuliert Schnell (1992, 25, Anm.
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Dazu Wolf 1989, 13ff; die Gegenpositionen dürften am ehesten damit zu erklären sein, daß sie den Schwachpunkt der Tristanliebe, ihre Zwanghaftigkeit, grell ausleuchten, um sich selbst zu profilieren, indem sie die Freiwilligkeit als entscheidendes Kriterium für sich reklamieren. Vgl. auch Schnell 1985, 327.
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57), Gottfried spreche „von den negativen Wirkungen der (Tristan-)Liebe". Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen 4 2 . Die beiden Partien, die eine szenische Einheit bilden, zeigen also einerseits den zwanghaften Charakter der Trankminne, die die vorbildlichen Eigenschaften der Liebenden zu pervertieren imstande ist und damit die Protagonisten exkulpiert, andererseits die freiwillig emphatische Akzeptanz der Konsequenzen, die es ermöglicht, die ethischen Qualitäten dieser Liebe den Protagonisten zuzurechnen. Die inhaltliche Bedeutung der Partie (negative Auswirkung des Tranks mit Exkulpierung der Liebenden - Aufklärung über den Trank durch Brangäne - Akzeptanz des Geschehens und der Folgen durch Tristan) wird, wenn meine früheren Überlegungen zu den Akrosticha im ,Tristan' zutreffen (Schirok 1984), durch ihre Stellung unterstrichen. Die Szene bildet den zentralen Abschnitt des Protagonistenakrostichons 4 3 : (TUT RSSR 1001) SLLS [TDDT AEEA NNNN], Huber (1986, 72 f.) sieht in der rede von guoten minnen (Minnebußpredigt) „die Mitte des geplanten Werkganzen [ . . . ] , und dies nicht nur äußerlich." Das scheint meiner Analyse zu widersprechen. Doch ist sowohl Hubers auf den Exkurs gerichteter Blick zu eng wie auch meine Fixierung auf das Protagonistenakrostichon. Beides muß verbunden werden, wie es Huber (1986, 76f.) aus inhaltlichen (nicht aus formalen) Gründen t u t . Gerade die formalen Aspekte legen es aber zwingend nahe, sowohl die rede von guoten minnen wie die oben analysierte Passage als Gesamtzentrum anzusehen. Denn ,Hubers' Abschnitt setzt mit der E-Initiale (12183) ein, die Bestandteil des Autorakrostichons ist; ,mein' Abschnitt wird von den Initialen SL LS des dazugehörigen Protagonistenakrostichons gerahmt (12431; 12435; 12503; 12507). - Damit ergibt sich als Inhalt des Gesamtzentrums: (1) rede von guoten minnen: Preis der Liebe Tristans und Isoldes unter betonter Ausklammerung der gesellschaftlichen Perspektive (huote) (2a) Exkulpierung der Liebenden (2b) Aufklärung über den Trank durch Brangäne (2c) Emphatische Akzeptanz des Geschehens und seiner Folgen durch Tristan. « Dazu auch Tomasek 1985, 56 und Anm. 60. 43 Schirok 1984, 197 und 213. In diesem Beitrag ging es nicht um das Inhaltliche, sondern um das rein Formale. Auf inhaltliche Aspekte wies ergänzend G. Bonath 1985 hin; da sie jedoch andere (kürzere) Vorstellungen von der Fortsetzung über den erhaltenen Text hinaus hat, kommt ,meinem' Zentrum bei ihr keine Mittelstellung zu. Ahnlich verkennen m. E. die Zentralität des Abschnitts Maurer (1951, 213ff.) und Okken (1984, 5). - Maurer (1951, 212f.) schlägt die Partie dem „I. Hauptteil der Hauptgeschichte" zu. Außerdem ist in dem Schema (1951, 213) die Angabe „11871" unrichtig. Die Vierreimpartie 11871ff. hat nichts mit dem Akrostichon zu tun (Schirok 1984, 204f.). - Okken bezeichnet (1984, 5) den Abschnitt „12187-12431" als „Mittelstück". In der Binnengliederung ist jeweils versehentlich der Eingangsvers eines Abschnitts auch als Schlußvers des vorhergehenden angeführt.
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4. Damit dürfte nun in der strittigen Frage, ob die Handlung von der Reflexion 44 her zu beurteilen - und d.h. zu verurteilen - sei, etwas mehr Klarheit gewonnen sein. Da die beiden Ebenen unter verschiedenen Bedingungen stehen (Freiheit auf der Reflexionssebene - Zwang auf der Handlungsebene) 45 , ist ein bewertender Vergleich nicht legitim, da eine solche Wertung gleiche Bedingungen voraussetzt. Die Bewertung der Handlung kann nur von ihren eigenen Bedingungen her erfolgen. Indem der Erzähler in der zentralen Szene die Tristanminne mit doppeltem Akzent versieht (exkulpierende Zwanghaftigkeit einerseits - freiwillige Akzeptanz andererseits), stellt er dem Rezipienten ein Konzept zur Verfügung, das ihm zumindest die Prüfung der Frage nahelegt, ob seine möglicherweise zwiespältigen Eindrücke („vollkommen und korrupt, [ . . . ] rein und schuldig"; Haug 1986, 44) nicht vielleicht zu differenzieren und unterschiedlichen Aspekten zuzuordnen seien. Indem der Erzähler den Rezipienten seine Auffassung der Geschichte (min lesen 167) vorlegt, enthebt er sie nicht der Auseinandersetzung damit: waz aber min lesen dö waere von disem senemaere daz lege ich miner willekür allen edelen herzen vür, daz si da mite unmüezic wesen. (167ff.)
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Damit ersetze ich nun den Begriff .Exkurs'. Auch die Bezeichnung ,Kommentar' könnte voreilige Fehlschlüsse verhindern, die der Exkurs-Begriff eher begünstigt hat. Freilich schiene es mir sinnvoller, als Kommentare nur Partien zu bezeichnen, die die Handlung deuten, ohne sich von ihr allzu weit zu entfernen (z.B. 12447-12452). Im Begriff .Reflexion' steckt ein doppelter Aspekt: Reflexion über die Handlung und über sie hinaus (zum Begriffspaar Reflexion und Narration vgl. Kiening 1991). Zum Exkurs (digressio, egressio, excursus) in der antiken Rhetorik vgl. Quintilian, Institutio oratoria IV, 3, 1-17; Lausberg 1960 unter den genannten Stichwörtern. Vor der Geringschätzung der Exkurse in Gottfrieds Roman hätte die Tristan-Forschung die Beurteilung der Exkurse z.B. Sallusts durch z.B. R. Syme (1975, 66) warnen können: „Exkurse [...] verleihen einer Darstellung Farbe. Darüber hinaus bieten diese Kunstgriffe dem Geschichtsschreiber die Möglichkeit, Zeit und Raum zu durchbrechen und Themen zu entfalten, die ihm besonders am Herzen liegen. Sie sind daher auch die besten Schlüssel zum Verständnis seiner Eigenart." Die „utopische Freiheit des Exkurs-Ideals" konstatiert mit Recht Peiffer (1971, 213). Aber der Zwang der Handlungsebene wird verkannt, wenn er mit „den Bedingungen" umschrieben wird, „denen die Minne durch ihr J n der Welt sein' unterworfen ist." Ebenso unscharf bleibt im Hinblick auf die Handlungsebene Schnelle Frage (1992, 18), ob „die Liebe in den Exkursen lediglich in günstigere Rahmenbedingungen eingebettet" sei.
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Bernd Schirok Literatur Ausgaben und Ubersetzungen
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VOLKER SCHUPP, Freiburg i. Br.
Zu Hartmann Schedels Weltchronik
1. Vorbemerkung Für die Einführung eines weiteren Publikums von Interessierten in eine Ausstellung der Schedeischen Weltchronik, in der aufgrund des Anlasses Altbekanntes neu darzulegen war, tauchten Probleme auf, die dieses Bekannte teilweise in Frage stellten. Auch wenn meine Überlegungen offen stehen blieben, schien dieser Nürnberger Gegenstand interessant genug, um den mit seiner Heimat verbundenen Jubilar zu beschäftigen. Diese Passagen seien daher hier ausgewählt, auch wenn ihre Verbindung nur eben in der Frage nach den Umständen besteht, unter denen die Schedeische Chronik entstand. Das erste, was den verwundert, der sich dem merkwürdigen Buch nähert, ist, daß es, wie kein Titelblatt, was ja nicht ganz so besonders ist, offenbar auch keinen Autor hat. Die heutige Sicherheit, von der Weltchronik Schedels zu sprechen, muß erst überprüft werden. Bekanntlich ist die Chronik im selben Jahr 1493 zuerst lateinisch, dann deutsch in Nürnberg erschienen. Für manche Fragestellungen muß man beide Fassungen auseinanderhalten, so nah sie sonst sind. 2. Schedels Autorschaft Nach einer Europakarte (Blatt 286v/287r) schließt die deutsche Chronik mit einem Kolophon, in dem sich alle Beteiligten, einschließlich des Übersetzers, nennen; der Name Hartmann Schedels aber fehlt. Nur die lateinische Fassung enthält Fol. 258v sein Monogramm. Man ist zunächst geneigt, diesen Sachverhalt mit einem Phänomen im mündlichen Bereich zu parallelisieren, das uns auch die heldenepischen Dichtungen des Mittelalters anonym überliefert hat, nämlich daß bei Wiederaufnahme lange bekannter Stoffe es auf den einzelnen Sänger oder Kompilator nicht so sehr ankommt, wenn er nicht auch durch andere Leistungen, wie hier die verlegerischen, mit der Sache verbunden ist 1 . Auch viele andere lateinische und deutsche Weltchroniken (es werden bald 20% sein) sind anonym überliefert, wie die „Sächsische Weltchronik", die sog. „Christherre-Chronik", die nach ihrem ersten Wort bezeichnet wird, oder die „Flores temporum". Doch 1
Rücker (1988, 84) vermutet, „daß die schriftstellerische Arbeit in die wirtschaftlichen und handwerklich-künstlerischen Belange nicht mit einbezogen wurde".
Zu Hartmann Schedels Weltchronik
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scheint diese Erklärung nicht zu genügen. Wer wissen wollte, was das Monogramm bedeutete, brauchte nur den Kolophon am Ende des letzten Weltalters (Ultima aetas mundi, Fol. 266r) zu lesen, und er erfuhr, daß das Werk, collectum breui tempore Auxilio doctoris hartmanni Schedel, qua fieri potuit diligentia, am 4. Juni 1493 vollendet wurde. An der entsprechenden Stelle in der deutschen Fassung freilich nennt sich am 5. Oktober allein der Übersetzer Georg Alt (Bl. 262v). Die beiden Daten, eigenhändig von Schedel und Alt, stehen schon im Layout, den handschriftlichen Vorlagen zum Druck 2 . Daß auch der Vertrag, der die Zusammenarbeit regelt von Sebalt Schreyer und dessen Schwager Sebastian Kammermeister mit den beiden Malern Michel Wolgemut und Wilhelm Pleydenwurff, so dazumalen ain werk ains neuen trucks ainer neuen cronicken mit figuren underhanden gehabt haben3, ohne Schedels Name auskommt, ist eigentlich nicht so verwunderlich, da ja das Konzept schon vorlag - Vorarbeiten gab es schon seit etwa 14884 - , mit dem übrigen Befund zusammen hat das aber doch dazu geführt, daß man Schedels Urheberschaft in Frage gestellt sah und sie durch andere Hinweise stärken wollte 5 . An ihr zweifelte jedoch im Grunde niemand, solche Lösungsversuche weisen daher in die falsche Richtung. Allein der Verleger Schreyer spielte die Urheberschaft später herunter, er vermerkt nämlich in seinem Codex C, fol. 69v das für ihn seltsame Faktum, Trithemius erwähne die Chronik, so Sebaldt Schreyer und Sebastian Cammermeister haben trucken lassen, die er zuschreibt Hartmanno Schedel [. . . ] 6 . So drängt sich doch der Verdacht auf, daß zwischen dem 4. Juni bzw. dem Tag, an dem die Seite, die dieses Datum trägt, gedruckt wurde, und dem 4. Oktober die Stellung Schedels bei den Herausgebern so geschwächt wurde, daß man es sich leisten konnte, ihn auszubooten. Dieser Verdacht wird durch die sonst schwer erklärbare Tatsache bestärkt, daß das Bittgebet für König Maximilian am Schluß der lateinischen Fassung in Form einer Sapphischen Ode, bei der man zunächst einmal auf Celtis als Autor getippt hätte, von Schedel selber stammt und ohne dessen Monogramm erschienen ist. Im Layout trägt die von Schedels Hand geschriebene Ode das Monogramm H. S. Dieter Wuttke hat sie in der Meinung, sie sei unpubliziert, aus der Handschrift veröffentlicht 7 . 2 Rücker 1988, 95 und 130. Gesellschaftsvertrag vom 29. Dezember 1491, der durch eine Abschrift Sebald Schreyers erhalten ist. Vgl. Rücker 1988, 136. 4 Zahn 1973, 21. Freilich ist unbekannt, ob die Initiative zur Chronik von Schedel allein oder dem Nürnberger Humanistenkreis ausging, vgl. Rücker 1988, 84. 5 Zahn 1973, 13, der auf die Selbstnennung fol. 262v [ . . . ] ego Hartmannus Schedel [ . . . ] in der 1. Person abhebt. An der entsprechenden deutschen Stelle steht die 3. Person. Das erklärt sich natürlich mit der Schreibhaltung der Ubersetzers, der nicht „ich" sagen kann, wenn er es nicht selber war. Vgl. auch die Literatur in Zahn 1973, Anm. 24. β Mittelalterliche Bibliothekskataloge, Bd. 3, 1932, 719, Anm. 1. τ Grote/Wuttke 1975, 74-81, und Abb. 6. 3
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Am 23. November schon wird ein Vertrag zwischen Schreyer und Celtis, der in jenem Jahr längere Zeit in Schreyers Haus gewohnt hat 8 , geschlossen, wonach dieser das eben gedruckte Werk von Neuwem Corigieren vnd jn ainen anderen form prynngen soll9. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Korrigiert worden wären wohl vor allem der Anteil Schedels und die Europa-Beschreibung am Schluß, die Schedel weitgehend nach Enea Silvio einrichtete. Daß also Schedels Name mit seinem Werk verbunden geblieben ist, verdankt er weniger dem schönen Buch, dessen Jubiläum wir 1993 gefeiert haben, als, neben dem Kolophon der lateinischen Fassung, der Unverfrorenheit des Raubdruckers Johann Schönsperger in Augsburg, der dessen Angaben unverändert übernahm und verbreitete 10 . 3. Die Gattung der Weltchronik Es ist in der letzten Zeit viel daran gearbeitet worden, die Weltchronistik der Geschichte- und Literaturwissenschaft zugänglich zu machen 11 . Trotzdem ist es schwerer, einen Uberblick über die etwa 200 bisher registrierten Werke zu bekommen als etwa über den Artusroman. Die Typologie van den Brinckens unterscheidet zwischen Werken, die vor allem auf die zeitliche Ordnung Wert legen (series temporum), die vor allem Geschichten erzählen (mare historiarum), und solchen, die sich der Enzyklopädie nähern (imago mundi) 12 . Schedel gehört zum zweiten und dritten Typus. Von den 200 Chroniken sind etwa 15 in deutscher Sprache, zum Teil sind es Prosa-, zum Teil Reimchroniken. Bei den lateinischen Chroniken mit höherem Anspruch spielt das Prosimetrum eine gewisse Rolle 13 . Im Blick auf Schedel sind besonders bedeutsam die Reimchronik des Rudolf von Ems und die sog. Christherre-Chronik, obwohl Schedel nicht in ihrer direkten Tradition steht. An beiden Chroniken beobachten wir - wie natürlich auch bei manchen lateinischen - eine starke Nähe zum Landesherrn, bei Rudolf zu König Konrad IV., bei der Christherre-Chronik zu Heinrich dem Erlauchten von Thüringen. Möglicherweise damit verbunden ist ein Anspruchsniveau, das weit über das hinausgeht, was wir sonst bei deutschen Handschriften des Mittelalters gewohnt sind 14 . Es drückt sich vor allem in einer qualitativ hochstehenden Illustration aus, die bei Rudolf offenbar 8 Vgl. Celtis/Rupprich (Hg.) 1934, Die Briefe Nr. 63-65 an Celtis. 9 Rücker 1988, 234. Schedel scheint freilich auch später Celtis freundschaftlich verbunden gewesen zu sein. Daß er doch nicht aller Mitarbeiter Freund war, darauf weisen die Schimpfwörter, die beim Spiel mit seinem Namen in das deutsche Layout, Bl. 227v, eingetragen wurden. Rücker 1988, 94. 10 Es erübrigt sich also, darüber nachzusinnen, ob die „Beteiligung auch am Schönspergerschen Raubdruck" Alt als belastend erschienen ist, vgl. Rücker 1988, 23. 11 Brincken 1969, Krüger 1976. 12 Brincken 1969, 47-57. 13 Ζ. B. Gottfried von Viterbo 1559. κ Ott 1980/81, 30.
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dem Archetyp angehört 1 5 , aber nicht über die Muster der biblischen Geschichten hinausgeht. Rudolfs Lob der rheinischen Städte (V. 2249-2395) oder die Beschreibungen der Fabelwesen des Orients, die den Imago mundi-Anspruch erfüllen, bleiben noch unillustriert. Faßbar wird hier dennoch eine Veränderung im Rezeptionsverhalten von Laien, die bildliche Darstellungen von Literatur nicht nur in Handschriften, sondern auch in Bildkammern und Schloßsälen erwarten. All dieses, Anspruch, Herrschernähe und Städtebeschreibung, findet sich in neuer Form in Schedels Buch wieder. 4. Schedels Anspruch Das zu beachtende Anspruchsniveau zeigt sich in der Schedeischen Weltchronik in einer bis dahin nie erreichten Anzahl und Qualität der Illustrationen. Die etwa 300 Blätter enthalten 1809 Holzschnitte, gedruckt mit 645 Holzstöcken 16 . Man hat sie deswegen als „Text-Bild-Einheit" bezeichnet 1 7 . Die Nähe zum König ist offensichtlich, auch wenn dieser nicht der Auftraggeber war 1 8 . Nicht nur bekommt Maximilian seinen Panegyrikus, Schedel folgt auch sonst politisch seinen Intentionen 1 9 . Der Zusammenfassung von Enea Silvios Tractatus de ortu auctoritate imperii Romani folgt das Doppelbild von Kaiser Friedrich III. und Papst Pius II., wobei Kaiser und König als einzige (?) in der Weltchronik porträthafte Züge tragen 2 0 . Schedels Anspruch mag nun nicht dadurch hervorgerufen worden sein, die Chronik sollte durch den Buchdruck die Stadt, das Reich und den kultivierten Erdkreis erreichen. Der Gedanke aber, die ruhmreichen Taten des Kaisers und Königs ins rechte Licht zu rücken und ihnen Beständigkeit zu verleihen, bewegt Hartmann Schedel wie Rudolf, unterschiedlich ist nur das Medium des Buchdrucks. 5. Die Bilder der Chronik 5.1. Gegenüber der Handschriftenzeit, j a auch gegenüber den übrigen gedruckten Weltchroniken hat die Bilderwelt neue Bereiche erobert. Die Fabelmenschen, die bisher in der Weltchronistik immer bei der Aussendung der Söhne Noes nur beschrieben wurden, sind nun aus der Kartographie, wo sie, am rechten Rand der Weltkarten im Erdteil Africa klein eingezeichnet, ein eher unauffälliges Leben gefristet haben, in die Chronik eingewandert. Bei Schedel werden sie von der Weltkarte gelöst und flankieren auf einer gesonderten Leiste das Blatt 12rv. So können sie größer dargestellt werden, ohne das Verhältnis is Beer 1987, 84 f. 16 Rücker 1988, 7. 17 Hernad/Worstbrock 1992, 617. ι» Grote/Wuttke 1975. is Bl. 258rv; Grote/Wuttke 1975, bes. 64-67. 20 Grote/Wuttke 1975, 61.
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zum Kartenmaßstab zu stören 2 1 . Die traditionellen Muster lassen sich zum Teil wiedererkennen. Bei genauem Hinsehen und Lesen wird hier freilich der Begriff der „ T e x t - B i l d - E i n h e i t " fragwürdig, denn der Text, der außer den Angaben des Honorius Augustodunensis 22 noch weitere aufgenommen hat, die in der lateinischen Fassung auch zitiert werden, ist nur unzureichend auf die Bilder abgestimmt (oder umgekehrt). Die Reihenfolge der Holzschnitte scheint textgemäß intendiert, aber sie ist nicht immer eingehalten. Offenbar wurden die einzelnen Holztäfelchen nicht sorgfältig genug aneinandergereiht 23 . Das von Schedel (Fol. 258v) selbst beschworene Schläfchen Homers hat in reichem Maße stattgefunden.
Abbildung 1
Abbildung 2
Abbildung 3
Abbildung 4
Zuordnungsprobleme entstehen so bei dem Mann mit den verkehrt angewachsenen Füßen (linke Reihe 4), der auf ein (früheres, bei Schedels Text kaum mögliches) Mißverständnis der Antipoden zurückgeht (s. Abb. [1]). Das unverständlich bleibende Bild mit dem Mann, der den Hirsch am Geweih faßt 21 Arentzen 1984, 120 weist auch auf den größeren Zusammenhang hin, der darin besteht, daß heilsgeschichtliche, naturkundliche und ethnographische Inhalte ihren Platz auf den Karten verlieren. 22 Honorius 1895, 124. 23 Da mir das Layout nicht zur Verfügung steht, kann ich tieferliegende Ursachen nicht erkennen.
Zu Η art man η Schedels Weltchronik
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(rechte Reihe 5; Abb. [2]), muß auf den Satz vnd so schnell das sie die wilden thier erfolgen, bezogen werden, den der deutsche und auch der lateinische Text noch dem prayten fuß (links 6; Abb. [3]) zuteilen. Er ist also einer der Tragotidi, wie er auf der Ebstorfer Weltkarte schon auf dem Hirsch sitzt 2 4 . Die Pygmäen werden erwähnt als lewt fünff elnpogen langk - nur das Bild (rechts 7; Abb. [4]) aber sagt, daß die Pygmäen die Feinde der Greifen sind. Daß zu Beginn des Zeitalters der Entdeckungsreisen, das durchaus schon in die Chronik Eingang gefunden hat, noch solche Darstellungen möglich sind, verwundert einigermaßen, aber zu Nachrichten wie der, daß in der Diözese Konstanz von einer edlen Frau ein Löwenkind geboren wurde, und zur Abbildung der Eßlinger siamesischen Zwillinge (Fol. 217r) fügt es sich noch ganz gut. 5.2. Städtedarstellungen Den Ruhm der Chronik machen bis heute die S t ä d t e - und Landschaftsbilder aus. Freilich irritiert die Tatsache, daß neben noch heute erkennbaren Ansichten Städte mit Holzschnitten bebildert werden, die bis zu achtmal Verwendung finden. Mainz hat danach dieselbe Ansicht wie Neapel, Aquileja, Bologna, Lyon und sogar Osterreich 25 . Warum das so ist, konnte auch in der letzten Studie durch die historische Geographie noch nicht geklärt werden, es sieht aber so aus, als ob der Weg sichtbar würde 2 6 . Mir scheint sinnvoll zu sein, nicht bloß mit Rücker (1988, 212) mit der Eilbedürftigkeit des ganzen Unternehmens und den Beschaffungsschwierigkeiten zu argumentieren, sondern mit Krings (1992, 308) die Frage zu stellen, ob der Käufer tatsächlich sein Geld für ein Buch ausgegeben hätte, das er zum Teil als wertlos h ä t t e ansehen müssen. Daß im Gegensatz zu einem Reisebericht, Breydenbachs „Peregrinatio" 2 7 , bei Schedel eine „allgemeine, Zeiten übergreifende Charakterisierung intendiert" sei 28 , kann dennoch nicht alles erklären. Weiter führt m. E. Krings' Beobachtung, daß auch die ,authentischen' Ansichten Manipulationen unterworfen worden sind, die, auf Grund des Formates, das heutige Verständnis von Realitätsnähe beeinträchtigen. Nürnberg, das potentiell jeder Leser sehen konnte, ist im Vergleich zu anderen Darstellungen in seiner Geländesituation nicht deutlich, die Darstellung ist in einer späteren Kopie in die Breite gezogen worden 2 9 . Rein 24
Er fehlt denn auch im Verzeichnis von Lecouteux 1982, wo fast alle übrigen aufgenommen sind. Vgl. aber Miller 1896, V, 60f. Tracotidi tanta vtlocitate pollent, ut feras cursu assequantur. Sie werden mit den Troglodyten zusammengeworfen, s. Friedman 1981, 19 f. 25 Bei Rücker 1988 gibt es denn auch einen Katalog der authentischen Städteansichten (S. 131-212) und der Phantasieansichten (S. 213-228). 2 « Krings 1989, bes. 308 f. 2 ? Krings 1989, 306 f. 2 ® Krings 1989, 308. 29 Krings 1989, 309.
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stilistisch sind also die beiden Ansichtskategorien des Authentischen und des Phantastischen nicht zu unterscheiden, das hat Krings richtig festgestellt 30 . Liegt die Lösung in einem von uns nicht mehr nachzuvollziehenden Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen? Auch manche ,authentischen' Ansichten sind ,Phantasieansichten' mit aufgesetzten, der Realität entnommenen Details. Sie wären in der bildenden Kunst des ausgehenden 15. Jahrhunderts dem Bestreben Dürers zu vergleichen, für seine Darstellung des schönen Menschen nicht auf ein allgemeines Ideal zu rekurrieren, wie das mittelalterlicher Usus ist, sondern aus der Wirklichkeit zu schöpfen, aber frei zu kombinieren. „Man durchsucht oft zwei- oder dreihundert Menschen, dass man kaum eines oder zwei schöne Dinge an ihnen findet, die zu brauchen sind." 31 Das erklärt freilich noch nicht, daß sich die realitätskonformere Darstellung auf Dauer doch Bahn bricht, es zeigt aber, was zeitgemäßes Urteil und moderne Analyse der Bildgeschichte ist. 5.3. Personen Das dem Allgemeinen aufgesetzte charakteristische Detail findet sich auch in der Personendarstellung. Wenn Maximilian und Friedrich III. Porträtgesichter auf den Körpern ,des Königs' tragen, so durchdringen sich Besonderes und Allgemeines in einem gewissen, nicht ganz unauflösbaren Grade. Der Durchdringungsgrad ist nicht immer derselbe. Das Problem ist aufgekommen und gewachsen mit dem modernen Begriff von Individualität. Um ein extremes Beispiel zu wählen, - der heutige Bibelleser stutzt vielleicht bei der Familie des Dulders Hiob. Vor seiner Versuchung hatte Hiob sieben Söhne und drei Töchter. Alle wurden sie ihm durch den Tod genommen. Nach der Versuchung segnete ihn der Herr mehr als am Anfang, und er bekam nicht nur 14000 Schafe und 1000 Eselinnen, sondern auch wieder sieben Söhne und drei Töchter (Hiob 42, 12 f.). Waren denn das dieselben, wird man fragen, liebte er sie genau gleich, hatten sie keine Namen? Beim Stand der ,Verbesonderung' eines Allgemeinen ist hier die Anzahl das Spezifikum. Die oben angeführte Methode Albrecht Dürers, die Schönheit zu malen, hat ein literarisches Vorbild. Die verstorbene schöne Florentina 32 sollte so gemalt werden, daß der Kaiser sehen konnte, wie sie einst aussah. Der einzige Maler, der dies vermochte, kombinierte die reizendsten Züge der vier schönsten Frauen, und das Ergebnis war nicht die allgemeine Schönheit, sondern das Bild der schönen Florentina. Setzt man solche Gedanken fort, kann eben auch der ideale König mit der Maske Maximilians der ideale König Maximilian sein, den alle erkennen können, und die ideale Stadt mit dem Straßburger Münsterturm die Stadt Straßburg. Ohne den wäre sie dann eben noch die Stadt, deren Namen sie gerade trägt. so Krings 1989, 307. 31 Dürer 1961, 207. 32 Gesta Romanorum 1890, 155.
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5.4. Gebrauchszusammenhang Wie der Beginn der Laienlektüre mit der Bebilderung von Büchern und Wänden einhergeht, so findet sich derselbe charakteristische Zusammenhang auch am Ende der mittelalterlichen Gebrauchsweise von Texten. Sind uns aus dem 13. Jahrhundert illustrierte höfische Romane überliefert wie vorher Heiligenviten, und ist nicht immer sicher, wie sich Text, Illustration und Wandbild zueinander verhalten - in einem seltenen späten Fall bringt uns Nürnberg Aufschluß 33 . Mit dem Bedauern, daß nichts mehr davon erhalten ist, liest man, in dem Kreuzgang des (Prediger-)Klosters haben die Mönche an den Wänden ein ganzes Chronicon, von Anfang der Welt her, theils gemalt, theils geschrieben, also, daß man im Kreuzgang spazieren gehen und zugleich studieren können, ist, wie zu vermuthen, aus Hartmann Schedels Chronico genommen gewest3*. Man wird sich den Kreuzgang so vorstellen können wie den berühmten in Brixen. 6. Das Selbstverständnis des Chronisten Hartmann Schedel Die Orientierung des modernen Menschen in Raum und Zeit war nicht Schedels einziges Anliegen. Es geht ihm noch mehr u m die Dauer als u m menschliche Taten. Was besteht - so argumentiert er - , währt nicht lange; was in der Zeit entsteht, geht mit dem Alter zugrunde. Etwas anderes ist es mit der Domina ac Regina rerum Oratio. Sie beschenkte die berühmten Männer, die Völker und Nationen mit Unsterblichkeit und entriß sie den Bissen des Alters. Durch sie können sich noch die Toten beredt ausdrücken. „Mit ihr wollte ich Euch beschenken und schmücken" - so schließt er die handschriftliche Widmung der Chronik an den Nürnberger Rat - , „entsprechend den hohen Verdiensten, die Ihr Euch um den Staat erworben habt." 3 5 Er vermag dies mit Hilfe der Kunst, die er als ars oratoria et poetica36 in P a d u a studiert und ausgeübt hat. Die Dauer eines Werkes wird ganz besonders durch die Vervielfältigung im Buchdruck gewährleistet. Darauf hebt Schedel in seiner Widmung nicht ab, es ist ihm aber selbstverständlich und wird bei der Erwähnung des Buchdrucks (negativ) hervorgehoben, wenn dise kunst zeitlicher erfunden worden vnnd in wissenheit vnnd geprauch gewesen wer so wem vngezweifelt ettwieuil büecher Titi liuij Tullij vnd Plinij. vnd andrer hohgelerter lewt auß bösschicklichkeit der zeit nicht verlorn worden37. Und so kann auch Konrad Celtis den Erfinder des Buchdrucks als non [... ] inferior [... ] Dedalo preisen 38 . 33
Zur Frage solcher Realisationen Schupp 1993, 34-69. Rücker 1988, 130, nach: Johann Müllners Rathschreibers Annalen der löblichen, weitberühmten Reichs-Vesten und Stadt Nürnberg, Nürnberg 1836, S. 462. 35 Aus der Inkunabel c.a. 2918 der BSB München. Text nach Sprengler 1904, 18; Kratzsch 1990, V. 36 Kratzsch 1990, IV. 3 ? Blatt 252v. - Vgl. zu diesem Thema Mertens 1983, 83-111, bes. 84, 90. 38 Ode 111,9. Laudat germanum inventorem artis impressoriae. 34
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Im Wort und Buchdruck aufgehoben sind nicht nur die Reden Verstorbener, nicht nur ihre Verdienste, sondern alle Dinge, die Städte und Bauten gegenwärtiger und vergangener Reiche. Es verwundert, daß Schedel nicht darauf zu sprechen kommt, daß auch die imago mundi der Kunst Dauer verbürgt, wie die oratio den sermones der Menschen postumen Ausdruck gibt. Dabei hat er doch von Anfang an an der bildnerischen Gestaltung des Buches selbst teilgehabt, wenn nämlich „der unbeholfenste" der Vorzeichner richtig mit ihm identifiziert wurde 39 . Gedanken über die Komplementarität von Wörtern und Sachen aber hat sich Albrecht Dürer gemacht, der als damaliger Geselle in Wolgemuts Werkstatt an der Weltchronik beteiligt gewesen sein müßte 4 0 . „Ein jeglich Ding, das du siehst, ist dir glaublicher, denn das du hörst. So aber beide, gehört und gesehen werden, fassen wir (es) desto kräftiger und es bleibt uns beständiger. Deshalb will ich das Wort und das Werk zusammentun, auf daß man's desto besser merken möge [...]", schreibt er in den Notizen zu seinem geplanten Werk „Speis der Malerknaben" 41 . Die Weltchronik Schedels als „Text-Bild-Einheit" 4 2 mag das bisher erreichte Non plus ultra gewesen sein, eine Erfindung der Nürnberger Humanisten ist sie jedoch nicht, auch nicht des Buchdrucks, wenngleich in der Inkunabelzeit der kolorierte Holzschnitt zu seiner eigentlichen Blüte findet43. Die umfangreichere Bebilderung von Büchern der deutschen Literatur beginnt für uns mit dem Heidelberger Rolandslied und der Berliner Handschrift von Heinrich von Veldekes Eneit. Sie hängt mit dem verstärkten Zugang von weniger schriftkundigen Laien zur Literatur zusammen 44 . Und für die Weltchroniken, die durch Rudolfs Buch die Hauptträger solcher Illuminierungen werden, müssen wir sagen, daß es offenbar gerade die Laien aus vornehmen Geschlechtern sind, die das zur Bebilderung erforderliche Anspruchsniveau hervorrufen, wozu es auch schon spätantike Parallelen gibt. Insofern ist Rudolfs Weltchronik der erste Schritt in eine Richtung, deren Kulminationspunkt mit Schedel erreicht wird. 7. Die deutsche Übersetzung 7.1. Um die Übersetzung von Georg Alt hat sich anscheinend noch niemand gekümmert 45 . Ihr sollen hier deshalb wenige Worte gewidmet werden. 39 Zahn 1973, 19f. nach Stadler 1913, 55f. 40 Rücker 1988, 21; 113 f. « Dürer 1961, 211. - Zu Dürers Mitarbeit an der Weltchronik zuletzt Rücker 1988, 113f. 42 Hernad/Worstbrock 1992, 617. - Wenzel 1993, 29-52. 43 Fischel 1963. 44 Curschmann 1992, 356-386, zur Weltchronik 370. 45 Hernad/Worstbrock 1992, 619. - Auf die Tatsache, daß sich die Übersetzer als Vermittler einer Tradition in der humanistischen Bildungswelt eine besondere Stellung zuschreiben, weist Worstbrock 1976, 1 hin. In ihre Reihen wird man auch Alt einordnen, freilich heißt
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Als Losungsschreiber (logographus publici aerarii46) war Alt wohl einer der hohen Beamten der Reichsstadt. Wenn Elisabeth Rücker von ihm sagt, er habe in die Nürnberger Mundart übersetzt 4 7 , so scheint mir dies erklärungsbedürftig, zumal er wohl aus Augsburg stammte. Die Druckersprache der Chronik ist jedoch auch nicht schwäbisch. Sie ist vielmehr längst über die Stadtmundart hinausentwickelt, auf dem Weg zur neuhochdeutschen Einheitssprache. Das lehrt schon ein Blick in das etwa gleich alte „Narrenschiff", wo der alemannische Charakter der Druckersprache ins Auge springt. Aussagen zum Lautstand hinter den Drucktypen sind schwer zu machen. Dazu kommt das (hier vernachlässigte) Problem, ob denn die Vorlage Buchstaben für Buchstaben gesetzt wurde. Was für das Nürnbergische als nordbairisches Idiom mit ostfränkischer Uberschichtung als Schibboleth gelten könnte, nämlich mhd. ei > ά, kommt anscheinend nicht vor. Ebensowenig sog. gestürzte Schreibungen, die den Lautwandel des mhd. uo > ou in der Mundart (etwa mhd. zuo > mundartlich zou) repräsentieren könnten 4 8 . Ob anlautendes j, g spirantisch ausgesprochen wird, kann man nicht erkennen, aber jeder mag das gehalten haben, wie er wollte. Man gewinnt geradezu den Eindruck, daß die Inkonsequenz in der Zeichenwahl auf ein lautlich gespaltenes Publikum zielte, so daß uo und u als Zeichen für den Diphthong uo als auch für den Monophthong u vorkommen; ebenso kann man ie wohl als Längezeichen wie als Diphthong les e n {hielt,
erschien,
gezieret).
Die neuhochdeutsche Diphthongierung h a t wohl
den heutigen Stand mit den Lautzeichen ei, ey, ai, ay für mhd. f u n d ei, wobei für mhd. ei tendenziell das ai, ay den Vorzug hat, au, aw für mhd. u, ou und eu, ew für mhd. iu. Statistisch auffallend ist der bairische Gebrauch des anlautenden b als Ten u i s ( g e p a w t , pepauen
( p a r t , p r t . ) , gepirg,
Longopardien,
wunderperlich),
aber
auch der ist nicht konsequent (Baiern, behabt). Möglicherweise haben einige Wörter, die aus der heutigen Hochsprache herausfallen, Elisabeth Rücker zu ihrem oben zitierten Urteil verleitet. Deren Verbreitungsgebiet müßte aber erst a b g e s t e c k t w e r d e n ( p f ü t s c h e n f ü r colluvies,
stapfei
int
gradus,
Fol. Ir).
7.2. Etwas näher kommt man Georg Alt, wenn m a n ihn als Übersetzer betrachtet. In dieser Tätigkeit ist er kein Vorbild, allenfalls steht er in der Norm der Zeit. Wenn er im deutschen Kolophon von sich sagt, er habe zu Zeiten von maynung
zu maynung.
vnnd
beyweylen
(nit
on vrsach)
außzugs
weise
in
diss
teutsch gebracht, so betet er im ersten Fall eine Formel nach, die das verbum das nicht, daß er denselben Rang wie jene einnehmen muß. So nennt er sich selbst in einem Brief an Celtis, s. Celtis/Rupprich (Hg.) 1934, 160. 47 Rücker 1988, 94. 48 Stichprobenweise wurden bes. die Seiten lr, 203r und 205v untersucht. Zur Mundart im Nürnberger Raum s. Steger 1961, 9; ders. 1968, bes. 543-572.
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Volker Schupp
reddere verbo ablehnt; tatsächlich ist Alts Übersetzung aber so wörtlich, daß sie oftmals die lateinische Wortstellung beibehält 49 . Die Nachbildung des A.c.I. (Accusativus cum Infinitivo) gehört allerdings zur Sprachnorm der deutschen Humanisten, offenbar nicht nur in der Übersetzung, sondern noch im 17. Jahrhundert, etwa bei Opitz in originalsprachlicher Schriftlichkeit 50 . Alt bildet ihn auch nach, man verstehe ihn oder nicht: Nummenius philosophus sagt, nichts anders platonem. sein dann den atticischen moysen. (Fol. 1) Auch Participium conjunctum und Ablativus absolutus sind für ihn nichts Besonderes: magistratu ac regno suscepto (Fol. 205v) = nach angenomnem königreich (Fol. 205v). Er ist freilich so souverän, daß er auch Partizipialkonstruktionen für finite Verben einführt oder den Ablativus absolutus in eine angehängte Infinitivkonstruktion überführt: quo tandem capto et occiso vniversam egyptum [...] conquisivit. (Fol. 205v) = [...] hat er sich gegen den könig der egyptier in einen krieg gegeben, ine gefangen vnd erschlagen, vnd alles egyptier land erkrieget [...]. Freilich scheinen seine Umformungen nicht immer korrekt zu sein. Wenn er von Waldo (Petrus Valdes, dem Begründer der Waldenser) sagt: Der was reich vnnd verließe seine güeter den armen außteilende. (Bl. 203r), so ist damit der lateinische Satz Is cum diues admodum haberetur opibus relictis et pauperibus erogatis in seinem Bedeutungskern zwar wiedergegeben, es fehlt aber der Aspekt der anderen (haberetur), und die Umformung bringt eine Apokoinu-Funktion von verließ, wobei einmal das Zurücklassen der Güter, zum andern aber das im Gerundium erfolgende Austeilenlassen vom selben „verlassen" abhängt. Es fragt sich, ob Alt das so gemeint hat. Die Konstruktion mit dem Gerundium (aspernando, ,weil er verachtete' oder ,dadurch, daß er verachtete') wird bei ihm gleichbedeutend mit dem präsentischen Participium conjunctum: die prelaten [...] verachtende (Bl. 203r). Dieses könnte im Lateinischen zwar kausale Bedeutung haben, aber wer kann das im Deutschen wahrnehmen? Stichproben wie diese - sie ließen sich zwar vermehren, würden aber, solange sie statistisch nicht repräsentativ sind, doch kein schärferes Profil des Übersetzers geben - zeigen ihn also als einen Mann, der wohl ungefähr auf der Höhe seiner Zeit ist, aber manchmal mit Nachsicht behandelt werden muß. Stichproben im Wortschatz, wo man heute zunächst den Eindruck hat, er gebe ein unverstandenes Wort mit einem Neologismus wieder, der erst die gemeinte Bedeutung annehmen soll und sie vielleicht angenommen hat, haben ihn dagegen beim Nachschlagen im „Deutschen Wörterbuch" immer gerechtfertigt. Alt arbeitet nicht ohne Überlegung, wenn er einfache lateinische Wörter durch deutsches Hendiadyoin wiedergibt (lat. historias = hystorien und geschickten) und wenn er substantivierte Adjektive im Neutrum pl. mit dem Zusatz ding 49
Daß er nii von [wortj zu wort, sunder von sin zu sin verdeutsche, sagt etwa Steinhöwel in seiner Boccaccio-Übersetzung, hg. von Drescher 1895, 38. so Philipp 1980, 126; Hartweg/Wegera 1989, 133 f.
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wiedergibt (secreta — die heimlichen ding; sexum perfectiora = manlichs und frewlichs geschlechts volkumner ding (Fol. lr). Und doch hat er sich auf dem Gebiet des lateinischen Wortschatzes offenbar seinen Zeitgenossen schlechter dargestellt. Da er nach der Weltchronik 1495 auch die „Norimberga" von Celtis ins Deutsche übersetzte, exponierte er seine Fähigkeiten kritischeren Augen 51 . Er selber meinte zu Celtis vielleicht kokettierend: De multis vocabulis tuo mihi opus erit auxilio52. Aber seiner Vokabelschwäche verdanken wir dessen Epigramm III 45: De imperito interprete Norimbergensis historiaeS3. Möglicherweise enthält das erste Verspaar lam medicos et iuridicos doctosque poetas / Spes vilis nummi vanaque fama facit einen Seitenhieb auch auf Schedel 54 . Es ist schon ein starkes Stück, vom Übersetzer einer ganzen Weltchronik zu sagen, er sei unerfahren. Johann Löffelholz charakterisierte Alt 1495 Celtis gegenüber ziemlich negativ. Er gebe sich ebensowenig Mühe wie in historiis aliis ( = der Weltchronik?), er meine, er verstehe das meiste, weiche aber doch vielfach vom Richtigen ab 55 . Dieser allgemeine Eindruck hängt vielleicht mit den Auslassungen zusammen. Wo ihre vrsach liegt, muß man im Einzelfall beurteilen. Mag die Verpflichtung, den Schriftspiegel mit dem notwendig längeren Ubersetzungstext einhalten zu müssen, das Kürzungsprinzip im gesamten leiten, so haben die Einzelfälle noch andere Ursachen und damit Folgen für den Grundcharakter der deutschen Chronik. In den historischen Erzählungen unterdrückt er vor allem einzelne Orts- und Umstandsbestimmungen, die ihm vielleicht nebensächlich oder kommentarbedürftig erscheinen 56 : In campis sutrinis erwies der Kaiser dem Papst die geschuldete Reverenz, in principis apostolorum basilica wurde der Kaiser gekrönt. In pratis neronis hatte der Kaiser dann sein Lager aufgeschlagen usw. - das alles fällt weg. Ebenso können Sätze wegbleiben, die ihm isolierbar vorkommen, Nebenhandlungen, die das Ziel der Gesamthandlung nicht bestimmen. Der Papst hat den Kaiser so besänftigt, vt captiuis dimissis ciuitati culparum iuuentutis temeritatem. reijcienti pacem condonaverit. Von Barbarossa heißt es zu Beginn, er habe 33 Jahre regiert, am Ende, er sei im 38. Jahr seiner Regierung gestorben. Diese falsche Zahl ist Übriggeblieben. Das Wahljahr der lateinischen Chronik wird in der deutschen zum Geburtsjahr. Den Druckfehler Cremam für Cremonam übernimmt er. Im Barbarossa-Artikel fehlt eine größere Pcissage, nämlich die Privilegien, die der Kaiser den Venezianern gewährt hat. Sie gehen auf Kosten des Papstes. 51
Zu den erhaltenen Handschriften der Übersetzung Celtis/Rupprich (Hg.) 1934, 160, Anm. 2. 52 Celtis/Rupprich (Hg.) 1934, 161 (Nr. 97). 53 Celtis/Rupprich (Hg.) 1934, 159, Anm. 2. 54 In Frage käme auch Dietrich Ulsenius, der sich gegen einen solchen Vorwurf wehrt: „Obi-
icts me pecuniae studiosum [•••]"', Celtis/Rupprich (Hg.) 1934, 211, Nr. 128. 55 Johann Löffelholz an Celtis, 21. Juli 1495; Celtis/Rupprich (Hg.) 1934, 158, Nr. 96. 56 Ich beziehe mich im folgenden auf die Darstellung Barbarossas (Fol. 203r) und Saladins (Fol. 205v).
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Da es sich um eine Aufzählung von sechs Punkten handelt, fiel es jedenfalls leichter, sie wegzulassen als sie terminologisch gut wiederzugeben. Ihre Unterdrückung macht aber das Kaiserbild weniger anticurial, als es sich in der lateinischen Chronik darstellt. Entsprechend hat Alt den Petrus Valdes zu einem eindeutigeren Ketzer gemacht. Als man diesen nämlich wegen seiner Irrtümer und Klerikerverachtung zur Rede stellte (monitus), antwortete er (mit dem Schriftzitat) obedire oportet deo magis quam hominibus. So durfte sich offenbar ein Ketzer auf deutsch nicht rechfertigen; es wäre schwer dagegenzuhalten. Dann brauchte im deutschen Text auch nicht gesagt zu werden, daß die einfacheren Geister in diese Falle gerieten, und das beunruhigende Faktum, daß diese Irrlehre noch an vielen Orten blühe, brauchte man erst gar nicht zu erfahren. Den Schluß des Abschnitts eindrücklich zu gestalten gelingt Alt bei Saladins Tod. Der lateinische Text läßt den Herold in wörtlicher Rede sagen: Asie totius domitor ex tanto regno tantisque opibus moriens. nil aliud secum defert (als ein schwarzes Tuch). Alt bringt einen (allerdings fortlaufend gedruckten) Vierzeiler: Ich zemer gantzs Aster lands, bring hin allain diss flecklein gewands. wiewol ich was so mechtig reich, das mir kawm ymant wardt gleich. Erinnert er sich der Tatsache, daß Weltchroniken einen starken Zug zum Prosimetrum hatten? Aus diesen wenigen Punkten geht doch hervor, daß Alt, bisweilen auch gefärbt, die grundlegenden Informationen wiedergibt. Details und Besonderes wie die Ode für Maximilian (s.o. S. XX) müssen Interessierte aus der lateinischen Chronik ergänzen. Außerdem ist mit Schludrigkeit immer zu rechnen. Der Verlust der genauen Orts-, Zeit- und Umstandsbestimmungen, der Nebenhandlungen, nehmen der erzählerischen Qualität des Textes die Würze. Wäre vielleicht auch mancher deutsche Leser überfordert gewesen, so hätten sie immerhin die Aura hergestellt. Möglicherweise liegt aber hier dasselbe Prinzip der Abstraktion zugrunde, das oben bei den Bildern festgestellt wurde. Bloß wird es mit Mitteln erreicht, die bei der Stilkritik Anstoß erregen. Die leichten Veränderungen im Blick auf die Geschichte zeigen vielleicht ein Ungenügen am Text Schedels, der, wohl durch seine italienischen Gewährsleute (oder durch eigene Meinung?) bewogen, eine papstfreundlichere Haltung ausdrückt, als man in Nürnberg damals einnahm, und vor allem als sie Celtis hatte, dessen Widerwille gegen Rom ja bekannt war 57 . Liegt also auch hier eine Ursache für den Wunsch nach einer ,neuen Korrektur' ? 57
Man vergleiche etwa die Charakterisierung Barbarossas Fol. 203r. Die dem Papst gestellten Bedingungen sind weggelassen, obwohl noch Platz auf der Seite gewesen wäre.Wenn ich recht sehe, fehlt auch die Nachricht von der Dichterkrönung des Konrad Celtis (lat. Chr. Fol. 255) in der deutschen Ausgabe.
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Wenn ihm auch gelegentlich Formulierungen gelingen, die die Intention des Ausgangstextes in kurze Worte fassen, bietet Georg Alt doch kein wesentlich anderes Bild als die übliche Schulübersetzung seiner Zeit 58 ; m a n könnte ihm aber vorwerfen, daß er den Benutzungszusapimenhang außer acht ließ, diese Art der Übersetzung also auf einen Sachverhalt überträgt, zu dem sie nicht paßt, weil eben sein deutscher Text ohne den lateinischen Ausgangstext gelesen werden muß.
Texte [Hartmann Schedel]: Liber cronicarum cum figuris et ymaginibus ab inicio mundi. Hg. von der Bibliothek der Abtei Niederaltaich. 1967-70. [Hartmann Schedels Weltchronik]: Faksimile der deutschen Ausgabe: Das buch der Croniken. Reprint München 1975. [Hartmann Schedels Weltchronik): Faksimileausgabe. Kommentar von Konrad Kratzsch. Nachwort von Elisabeth Rücker. Leipzig 1990. Celtis, Konrad: Briefe. Hg. von Hans Rupprich. München 1934 (=Veröff. der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Humanistenbriefe III). Dürer, Albrecht: Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. von Max Steck. Stuttgart 1961. [Die Ebstorfkarte 1896], Monialium epstorfensium mappamundi. Hg. von Konrad Miller. Beilage zu Heft V, Die ältesten Weltkarten, Stuttgart. Gesta romanorum. Nach der Innsbrucker Handschrift vom Jahre 1342 und vier Münchner Handschriften. Hg. von Wilhelm Dick. Leipzig, Erlangen 1890 (=Erlanger Beiträge zur Englischen Philologie 7). Gottfried von Viterbo: Pantheon sive universitatis libri, qui chronici appellantur, XX, omnes omnium seculorum et gentium, tarn sacras quam prophanas historias complectentes. Basel 1559. Honorius Augustodunensis: De imagine mundi. Paris 1895. (=Patrologia latina 172), Sp. 39-188. Miller, Konrad (Hg.): Die ältesten Weltkarten. Heft V, Die Ebstorfkarte. Stuttgart 1896. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Bd. 3, bearbeitet von Paul Ruf, hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. München 1932, Neudruck 1970. Rudolf von Ems, Weltchronik. Der Stricker, Karl der Große. Kommentar zu Ms. 302 Vad. Hg. von der Kantonsbibliothek (Vadiana) St. Gallen und der Editionskommission: Ellen J. Beer u. a. Luzern, Faksimile 1982, Kommentar 1987. Rudolf von Ems: Weltchronik. Aus der Wernigeroder Handschrift. Hg. von Gustav Ehrismann. Berlin 1915 (=Deutsche Texte des Mittelalters 20). Steinhöwel: Boccaccio, De claris mulieribus. Deutsch übersetzt von Stainhöwel [!]. Hg. von Karl Drescher. Tübingen 1895 (^Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 205). 58 Vgl. Henkel 1988, 131-147.
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Volker Schupp Literatur
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Zu Hartmann Schedels
Weltchronik
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MICHAEL SCHECKER, Freiburg i. Br.
Zur Entwicklung der Schriftkultur in althochdeutscher Zeit
1. Einführung Die Entwicklung der volkssprachlichen Schriftkultur in Deutschland verläuft schubweise. Dabei lassen sich je drei Phasen unterscheiden, die freilich nicht bei jedem neuen Schub alle erneut durchlaufen werden. Am Anfang stehen Imitationen des Lateinischen, von dessen Einfluß sich die Volkssprache (oder besser: die Volkssprachen) nur mühsam und zunächst auch nur tendenziell befreien. Es folgt fast immer eine Phase gegebenenfalls geradezu explosiver grammatischer Entwicklung; hier entwickeln sich eine Vielzahl für die Schriftsprache typischer grammatischer Ausdrucksmittel und -verfahren. Und eine solche Entwicklung geht drittens häufig über in eine Phase (zunehmender) Sprachbewußtheit, die sich gegebenenfalls geradezu in ,Nationalismen' und nationalem Pathos niederschlägt. Der erste, quellenmäßig hinreichend dokumentierte Schub - der Entwicklung hin zu einer volkssprachlichen Schriftkultur - findet in althochdeutscher Zeit statt. Auf eben diese Zeit konzentrieren sich die folgenden Ausführungen.
2. Frühe Formen der Schriftlichkeit in althochdeutscher Zeit 2.1. Auf dem Wege zu einer volkssprachlichen Schriftkultur Deutschsprachige bzw. althochdeutsche Schriftlichkeit ist seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert belegt 1 . Was wird dabei verschriftet? Den Anfang machen wohl Glossen, sei es, daß man in Ersatz - vielleicht nicht hinreichend treffender - lateinischer Ausdrücke vereinzelt deutsche Wortbildungen einbrachte (so im ,Indiculus superstitionum et paganiarum') 2 , sei es, daß man in den lateinischen 1
2
Dabei meint das Adjektiv ,deutsch', althochdeutsch ,diutisk' (eine Adjektivbildung auf germ, ,-iska', zu germ. ,theudo' = das Volk; vgl. Kluge 1967, 129, Sonderegger 1979, 37ff., Reiffenstein 1985) zunächst nur soviel wie ,das eigene Volk betreffend', ,volkssprachlich' und wird in dieser Bedeutung dem Lateinischen (später dann auch dem Romanischen) gegenübergestellt. Erst mit Notker - oder auch schon bei Otfrid? - beginnt sich ein Bedeutungswandel abzuzeichnen hin zu ,deutsch' als gemeinsamem Idiom der germanischen Stämme des ostfränkischen Reichs (zur Gesamtproblematik Weisgerber 1953, Eggers 1970; zur neueren Diskussion Strasser 1984, Kästner 1991). Zu Details neuerdings auch Feldbusch 1985, 189.
Zur Entwicklung
der Schriftkultur
in ahd. Zeit
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H a n d s c h r i f t e n deutsche W ö r t e r über die zugehörigen lateinischen A u s d r ü c k e ( = Interlinear-) oder an den R a n d ( = M a r g i n a l - ) oder auch im f o r t l a u f e n d e n Text hinter den lateinischen Ausdruck ( = T e x t - G l o s s e n ) schrieb. G e g e n s t a n d solcher Glossierungen k ö n n e n i m übrigen auch lateinische W ö r terbücher sein, so e t w a der sog. Abrogans 3 . Oder m a n vergleiche den sog. Vocabularius St. Galli, ein spätantikes lateinisch-griechisches W ö r t e r b u c h , das wohl als Hilfsmittel f ü r den Griechisch-Unterricht verfaßt worden war (dazu auch schon Baesecke 1933). Aus solchen Glossierungen ihrerseits k ö n n e n auch neue W ö r t e r b ü c h e r e n t s t e h e n , „die a b e r m a l s d u r c h R a n d e i n t r a g u n g e n bereichert u n d bis zu völliger Unübersichtlichkeit v e r m e h r t werden" können (de B o o r / N e w a l d 1957, 18). Aus den Glossierungen entstehen W o r t - f ü r - W o r t - U b e r s e t z u n g e n , sog. Interlinearversionen einer lateinischen Vorlage. In d e m Maße, in d e m solche Ubersetzungen auch rein volkssprachlich verständlich werden, auch volkssprachlich einen z u s a m m e n h ä n g e n d e n Text ergeben, sprechen wir von sog. i n t e r l i n e a r artigen Ü b e r s e t z u n g e n , wie sie in F o r m von Taufgelöbnissen, Beichtformeln u n d G e b e t e n belegt sind. Auch große Teile der a l t h o c h d e u t s c h e n Ü b e r s e t z u n g der Evangelienharmonie des Syrers T a t i a n gehören hierher 4 . Gerade der T a t i a n m a c h t deutlich, in welchem A u s m a ß die volkssprachliche Schriftlichkeit der Zeit vom Lateinischen beeinflußt ist; eine Abhängigkeit, die von der Morphologie (aus dem althochdeutschen ,got' wird in A n l e h n u n g an das lateinische ,deus' ein M a s k u l i n u m ) u n d der M o r p h o s y n t a x ( I m i t a t i o n eines lateinischen Ablativus absolutus durch einen ,Dativus absolutus') bis zur Wortstellung reicht 5 . So heißt es i m R a h m e n der ,Judas-Geschichte' - ein ,Dativus absolutus' (Sievers 1892, K a p . 192/3, 259): Et
projectis
argenteis
in
terrplo
...
3nti uoruuofyfanen filakrlingon in tijaj tempai . . .
nachdem er die Silberlinge in den Tempel geworfen hatte
. ..
Einen f r ü h e n übersetzerischen H ö h e p u n k t stellt sicherlich die von e i n e m unb e k a n n t e n Übersetzer vorgelegte Ü b e r t r a g u n g eines lateinischen T r a k t a t s des Bischofs Isidor von Sevilla - „de fide catholica ex veteri et novo t e s t a m e n t o contra Iudaeos" - d a r 6 . So lobt beispielsweise M a t z e l (1970, 365) die größere 3
Eine spätlateinische Synonymensammlung, „die zu jedem Stichwort eine Reihe von bedeutungsgleichen Wörtern stellt und dabei nach seltenen, veralteten oder poetischen Wörtern sucht. [Der Abrogans . . . ] war als ein Hilfsmittel für die schwülstige Poesie und Rhetorik der spätesten römischen Zeit gedacht." (de Boor/Newald 1957, 16). 4 Um 170 n.Chr.; ursprünglich wohl griechisch; die Vorlage des althochdeutschen Tatian ist freilich eine Übersetzung ins Lateinische; zu Details Baesecke 1948, Baumstark 1964. s Hierzu auch Schecker 1983, 36 ff. 6 Vermutlich vor 800; zum Vergleich: Die Entstehungszeit des Tatian wird in der Regel auf etwa 830 angesetzt.
70
Michael Schecker
„Selbständigkeit" und „freie, sinnrichtige Verdeutschung"7; oder man vergleiche Anne Betten (1987, 15), die „von einer in vieler Hinsicht einmaligen Leistung" spricht. Doch selbst hier läßt sich noch so manche Parallele zur lateinischen Vorlage belegen. Man vergleiche zur Wortstellung das folgende Beispiel (Hench Cap. IV, XV/Zeile 13f.):
(So
|ear after
t|er felbo forafago qu|ab: . . .
So (wie folgt ? ) hier nach der selbe Prophet sprach: . . . Sic in consequentibus idem propheta ait: Hier würden wir heute das Vorfeld vor dem finiten Verb nur einmal besetzen und wahlweise übersetzen „Danach SPRACH derselbe Prophet wie folgt: . . . " oder „So SPRACH derselbe Prophet (auch) danach: . . . ". Oder man vergleiche die folgende Isidor-Stelle (Hench Cap. II, I/Zeile 18ff.):
jjuueo
blierfelbo fii c|iboran
. . . auf welche Weise der selbige sei geboren quomodo idem sit genitus
...
Hier würden wir heute das finite Verb ans Ende stellen und formulieren: „ . . . auf welche Weise der selbige geboren SEI . . . " . Was hier für Ubersetzungen diskutiert wurde, kennzeichnet ganz allgemein die Entwicklung der volkssprachlichen Schriftlichkeit, selbst wenn sich dann so direkte Parallelen nicht (mehr) nachweisen lassen. Denn wer damals lesen und schreiben konnte, konnte auf jeden Fall auch und zu allererst lateinisch lesen und schreiben - und ist durch lateinischen Satzbau, lateinische Stilideale und lateinische Textnormen beeinflußt. Wehrli faßt zusammen: „Es gibt keine autonome deutsche Sprachgeschichte" (1984, 34). Ab wann können wir von wirklich eigenständiger volkssprachlicher Schriftlichkeit sprechen? Sicher, da ist noch die sog. Hammelburger Markbeschreibung (Formular — lateinisch, der Text teilweise volkssprachlich) von 779 (erhaltene Abschrift von 830), zum anderen zwei Würzburger Markbeschreibungen8. Und dann - Ende des 8. Jahrhunderts - der altfranzösisch-althochdeutsche Doppeltext der Straßburger Eide von 841, ein Bündniseid, den die beiden jüngeren Söhne Ludwigs des Frommen gegen ihren ältesten Bruder Lothar schworen (vgl. Betten 1987, 17) 9 . Und dann allerdings ein Höhepunkt eigenständiger f Vergleichbar Sonderegger 1974, 103; Lippert 1974, 188; Wehrli 1984, 189. Die ältere von 779 ebenfalls mit lateinischem Formular und teilweise volkssprachlichem Text. Die jüngere Würzburger Urkunde ist eine rein volkssprachliche Grenzbeschreibung ohne urkundliches Formular (zu Details de Boor/Newald 1957, 36). 9 Und schließlich vielleicht noch einige frei übertragene Gebete wie die Freisinger und Weißenburger Auslegungen des Vaterunser.
8
Zur Entwicklung der Schriftkultur in ahd. Zeit
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volkssprachlicher Schriftlichkeit, wie er auch lange danach nicht wieder erreicht werden sollte: Otfrid von Weißenburg 10 . 2.2. Kommunikative Heterogenität und sprachliche Parzellierung Wir können uns heute kaum noch vorstellen, in welchem Ausmaß das Frankenreich des 8. und 9. Jahrhunderts (und Deutschland weit darüber hinaus) sprachlich parzelliert und kommunikativ heterogen war 1 1 . Dazu passend können wir zunächst auch kein Bewußtsein sprachlicher Gemeinsamkeit, j a nicht einmal ein Bewußtsein sprachlicher Verschiedenheit registrieren. Ausgenommen ist lediglich - wie schon angesprochen - der Unterschied ,diutisk - lateinisch', später ,diutisk - romanisch'. Und es läßt sich ein Bewußtsein des Unterschieds von (Alt-)Hoch- und Niederdeutsch (,Hoch deutsch' hier als Raumbegriff) belegen. ,Kommunikative Heterogenität' und sprachliche Parzellierung' meinen übrigens beileibe nicht nur die räumliche Vielfalt der Dialekte von Ortsverbänden und (in aller Regel sehr kleinräumigen) Verkehrsgemeinschaften 1 2 . Sondern neben die geographisch motivierten Unterschiede der Mündlichkeit treten die ,Schreibdialekte' großer Klöster (so etwa das ostfränkische Fulda oder das alemannische Reichenau), die - soweit das erschließbar ist - zumindest tendenziell über den örtlichen Dialekt hinausgehen; sei es, daß die Konventsmitglieder eines Klosters aus anderen Regionen stammen, wie das etwa für Reichenau und Fulda 1 3 belegt ist; sei es, daß man im Rahmen früher volkssprachlicher Verschriftlichungen versuchte, die gröbsten Dialekteigentümlichkeiten zu vermeiden. Es sei noch angemerkt, daß natürlich nur wenige - auch nur wenige Kirchenleute - lesen und schreiben konnten. Dabei kennzeichnet freilich die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können ( = ,Litteratus' - im Unterschied zum ,Illitteratus') weniger einen Bildungsgrad als vielmehr eine spezifische Bildungswelt 14 , neben der eine Vielzahl anderer Bildungswelten - so diejenige des Adels - in Rechnung zu stellen sind. Zusammengenommen zerfällt das Frankenreich des 8. und 9. Jahrhunderts in eine Vielzahl kleiner und kleinster Kommunikationsräume und kommunikativer Schichten und Bezugsbereiche, die sich kaum durchdringen und eher 10
Von der Wiener Handschrift (dem Codex Vindobonensis) vermutet man, daß Otfrid sie noch selber korrigiert habe; entsprechend geht man in der Fachliteratur davon aus, daß die Evangeliendichtung Otfrids um das Jahr 868 entstanden ist (zum Codex Vindobonensis Piper 1887, zu den Otfrid-Handschriften allgemein Erdmann 1880, Grdmann (Hg.) 1882, Kleiber 1971, Kleiber (Hg.) 1978, Butzmann 1972 und Butzmann (Hg.) 1972). 11 Vgl. zu Details Besch 1985, 1987; Geuenich 1985. 12 Vgl. zu Details Eggers 1963, 30f.; Schildt 1976, 83. 13 Baesecke 1966, 126f., 180; Braune/Eggers 1975, 5; auch Geuenich 1976, 277; Geuenich 1978, 24. »« Vgl. Grundmann 1958; Giesecke 1980.
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nebeneinander her existieren (und das sollte in Deutschland so bleiben bis weit in das 13./14. Jahrhundert hinein). Entsprechend kann von Deutschland oder gar einer deutschen Nation (ich komme darauf zurück) noch keine Rede sein: Wir haben es mit einem im wesentlichen durch Eroberungen zustandegekommenen Zusammenschluß von Stammesverbänden zu tun, die zunächst nicht einmal ihrerseits eine Einheit darstellten; einem Gebilde, dessen äußerer Zusammenhalt ständig bedroht und dessen innere Einheitlichkeit eher Programm und fernes Ziel als Realität war.
3. Otfrid von Weißenburg Die Evangeliendichtung Otfrids stellt in der Geschichte der deutschsprachigen Schriftlichkeit einen ersten herausragenden Höhepunkt dar. Dabei geht es weniger um ästhetisch-poetologische oder geistesgeschichtliche Details als vielmehr um schriftsprachliche Entwicklungen und schriftkommunikative Reflexionen einer Reichweite, wie sie sich auch lange Zeit nach Otfrid nicht wieder belegen läßt.
3.1. Zur Entwicklung integrativer Ausdrucksmittel Es geht im folgenden zunächst um eine Reihe von Ausdrucksmitteln - um sog. ,integrative' Ausdrucksmittel 1 5 , wie sie typisch für Schriftsprache (im Sinne ,konzeptioneller Schriftlichkeit' 16 ) sind 17 . Wollte man global die funktionale Gemeinsamkeit integrativer Ausdrucksmittel umschreiben, so sind sie entstanden in Reaktion auf extremere Formen von Schriftkommunikation; als Antwort auf die damit einhergehenden kommunikativen Belastungen. Eine dritte Formulierung: Ihnen eignet als Zweck, die unter schriftkommunikativen Bedingungen erschwerte Rezeption zu steuern und zu stabilisieren.
3.1.1. Integration am Beispiel der Hauptsatz-Nebensatz-Unterscheidung Ein erstes Beispiel: Die Unterscheidung von Hauptsatz und Nebensatz 1 8 spiegelt eine unterschiedliche kommunikative (darum freilich nicht schon sachli15 Vgl. Chafe 1982, Koch/Oesterreicher 1985, Raible 1992. 16 Dabei geht es nicht nur und nicht einmal zu allererst um das graphische Medium (im Unterschied zum phonischen Medium der gesprochenen Sprache), sondern im Vordergrund stehen bestimmte Ausdrucksmittel und Darstellungsverfahren; und das betrifft über die Grammatik einer jeweiligen Sprache hinaus auch ζ. B. die graphische Gestaltung von Wortformen und Techniken der ,lay-out-Gestaltung'. 17 Zum folgenden: Schecker 1990; ich begnüge mich dabei allerdings mit einigen wenigen Beispielen. ι» Zum Deutschen vgl. Schecker 1990, 1991.
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che) Gewichtung entsprechender Informationen (vgl. Posner 1972, 1972a). In aller Regel setzen die Hauptsätze den ,roten Faden' eines Textes fort 1 9 . Es ist einsichtig, daß im Rahmen großräumiger Texte' - und in Antizipation der schriftkommunikativ erschwerten Rezeptionsbedingungen - die ausdrucksseitige Kennzeichnung von Hauptsätzen im Unterschied zu Nebensätzen eine zunehmend zentrale Bedeutung bekommt. Vergleicht man einschlägige althochdeutsche Quellen wie das Hildebrandlied, vor allem aber die althochdeutsche Isidor-Ubersetzung, den althochdeutschen Tatian und dann nach Otfrids Evangeliendichtung auch noch Notkers Schriften (z.B. die Vorrede „Item prologus teutonice" zu „De Consolatione Philosophiae" des Boethius) miteinander 20 , so fällt auf, daß zunächst noch keine eindeutige formale Unterscheidung zwischen H a u p t - und Nebensätzen auszumachen ist; weder ist das finite Verb im Aussagesatz auf die Zweitstellung oder im (eingeleiteten) Nebensatz auf die Endstellung festgelegt, noch läßt sich beispielsweise zweifelsfrei entscheiden, ob es sich bei einem Ausdruck wie das um eine unterordnende Konjunktion oder ein Pronomen handelt 21 . Einige Belege mögen solche sprachlichen Verhältnisse verdeutlichen. So aus dem Hildebrandlied (Baesecke 1945, 12, Zeile 15ff.):
ij) i a l i o t a famara enti i intra feijftic n r
taute b a r
ich weilte Sommer und Winter sechzig außerhalb des Landes da/dort
man ntty to
fcerita
In folc
feeotaniero
burc
eitigerw
man mich immer einordnete in das Volk der Bogenschützen
mir a t
feanun
ohne daß man mir vor einer Burg/Stadt irgendeiner den Tot
gifafia
festmachte/beibrachte.
fomati
so man/
ni
nie
nu
Nun . . .
Der hier fett gedruckte Satz läßt sich ohne Bezug zum Kontext sowohl als Hauptsatz als auch als Nebensatz auffassen. Das wird über die Satzgliedstellung hinaus begünstigt dadurch, daß die Proform dar als Relativpronomen und als lokales Adverbial eines Hauptsatzes interpretierbar ist. In Konsequenz würde man beispielsweise heute erwarten, daß - wenn es sich bei unserem Satz
19
20
21
Zu Details Bartsch 1978, zum theoretischen Hintergrund Glowalla 1981, im Überblick Rickheit/Strohner 1985, 20 und Schecker 1991. Die hier zugrundegelegte Erklärung ist wohl zu unterscheiden von Erklärungsansätzen, wie sie Giesecke (1980, 49) bzw. Betten (1987, 63) diskutieren. Zu den Quellen ausführlich Schecker 1990, 55ff. Vgl. zum folgenden auch Fleischmann 1973. Die heutige schriftliche Unterscheidung - nämlich daß vs. das - wird erst später eingeführt; vgl. Michel 1957.
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u m einen Hauptsatz handelt - der unmittelbar folgende Text darauf gesondert Bezug nimmt. Tut er das? Zumindest läßt sich eine solche Querverbindung als eine von mehreren Möglichkeiten hineininterpretieren; daß ,Hildebrand stets den Bogenschützen zugeordnet wurde', würde man dann zu verstehen haben als μη der Schlacht kämpfte Hildebrand stets bei den Bogenschützen'. Oder aber - die Nebensatz-Lesart - es handelt sich hier u m eine für den ,roten Faden' des Textes irrelevante Information, und dann müßte man paraphrasieren mit ,ich kämpfte sechzig Sommer und Winter in der Fremde, wo ich übrigens immer den Bogenschützen zugeordnet war'. Oder man vergleiche das folgende Isidor-Beispiel, das die angesprochene Problematik in verschärfter Form darbietet (Hench 1893, Cap. II/I/Zeile 18 ff.):
b|aj( fuoiant auurttu itljniuuuef
|uueo
Mjerfelfo fii
das suchen sie aber nun von neuem auf welche Weise der selbige sei illud denuo queritur quomodo idem sit
c^oran
mm fo
geboren genitus
nun so/doch ist in dum
boucgol
i(t in tytru fitteru Mtegun dilurbi te
dieser seiner neiligen sacrae
fb
Geburt ein so natiuitatis
cBInmi. • .
geheimes des Vaters Mysterium. . . eius archana Wenn es sich beim fett gedruckten Teilsatz um einen Hauptsatz handelt würde (dann also eingeleitet mit doch), dann wären - heute jedenfalls - Textfortsetzungen der folgenden Art erwartbar: Doch ist in dieser seiner heiligen Geburt ein geheimes Mysterium des Vaters zu sehen. Dieses Mysterium wird bereits in . . . Schon Jesajas sagt darüber, . . . Deshalb ist jeder Zweifel unangebracht. Doch ist in dieser seiner heiligen Geburt ein geheimes Mysterium des Vaters zu sehen, das wir nicht auflösen dürfen. Mit anderen Worten wäre erneut zu erwarten, daß - wenn es sich bei unserem fraglichen Teilsatz u m einen Hauptsatz handeln würde - der Folgetext darauf Bezug nimmt. Tatsächlich aber nimmt der Folgetext Bezug auf den vorangegangenen Hauptsatz. Vgl. in Fortsetzung der obigen Textstelle:
Zur Entwicklung
2>|ojf ni
der Schriftkultur
faget
in ahd. Zeit
aJ>oftolu( no|
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forafago ni
(Weder aber) / Das nicht sagt ein Apostel noch ein Prophet nicht Weder aber berichtet darüber einer der Apostel, noch hat es je einer nec apostolus dicit nec propheta
bifant
nolj
angil gotef ni uuiita
nolj eirtlc
erkannte (es) noch ein/der Engel Gottes nicht wußte es noch irgendein der Propheten herausgefunden, noch hat es der Engel Gottes gewußt comperit nec angelus sciuit nec
cjjifcaft
ni arcfjenniba
Geschöpf nicht erkannte es hat es je ein Geschöpf erkannt creatura cognouit Konzentriere ich mich auf die Zweitstellung des finiten Verbs im Aussagesatz, so steigt die Frequenz eines entsprechenden Stellungsmusters von etwa 71% im Hildebrandlied auf rund 86% in Otfrids Evangeliendichtung an; d. h. in etwa 86% derjenigen Fälle, in denen wir heute das finite Verb in Zweitstellung bringen würden, steht es auch schon bei Otfrid in Zweitstellung. Umgekehrt steigt die Frequenz der Endstellung des finiten Verbs im Nebensatz von etwa 76% im Hildebrandlied auf rund 86,5% bei Otfrid an; d. h. in etwa 86,5% derjenigen Fälle, in denen wir heute das Verb in die Schlußposition bringen würden, steht es auch schon bei Otfrid auf der letzten Position. Was die weitere Entwicklung der Frequenz der Verb-Zweit-Stellung angeht, so sind bei Notker annähernd 100% - mithin die heutigen standarddeutschen Verhältnisse - erreicht. Die Frequenz der Verb-Schluß-Stellung im Nebensatz hingegen steigt bei Notker zunächst noch auf etwa 89,5% an und fällt dann in den ,Speculum ecclesiae' (mhd. Predigtsammlung) und im ersten Prosa-Lancelot zurück auf 62,5% bzw. 75% 22 . Zusammengefaßt müssen wir für die Verb-Zweit-Stellung von einem bereits in althochdeutscher Zeit bekannten Stellungsmuster ausgehen, das bis zu Notker in einer ganz bestimmten Funktion - nämlich als Kennzeichnung des aussagenden Hauptsatzes - grammatikalisiert wird. Hingegen verfestigt sich die Verb-Schluß-Stellung im Nebensatz erst im Ubergang zum Frühneuhochdeutschen (vgl. Fleischmann 1973, auch Betten 1987). 3.1.2. Integration am Beispiel des Demonstrativums in Artikel-Position Ein zweites Beispiel für die sprachhistorisch herausragende Stellung Otfrids: Bereits bei Otfrid können wir einen systematischen Einsatz von Demonstrativa in Artikel-Position beobachten; bereits hier lassen sich typisch schrift22
Ausführlicher dazu Schecker 1990, lOOff.; zu pauschal und deshalb unhaltbar Wolf 1981, Betten 1987.
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sprachliche Regularitäten erkennen, wie sie dann - sehr viel später - für das Standarddeutsch unserer Zeit typisch werden sollen. Wie sieht das - etwas allgemeiner charakterisiert - in den althochdeutschen Quellen aus? Zunächst einmal treten hier noch sehr häufig Nomina ohne jedwedes artikelartige Element auf. Und das gilt natürlich auch noch für Otfrid (Otfrid I, 1.17):
... M t
männef
luft
ji l \ k ;
nim
akma
..
. . das ist des Menschen Freude zum Leben; nimm die Speisung . . . . Und wenn dann doch von Fall zu Fall artikelähnliche Elemente auftreten, so sind das in aller Regel Demonstrativa (diese dürften so etwas wie die Vorläufer des heutigen bestimmten, aber auch der heutigen demonstrativen Artikel sein). Was die Frequenz von Demonstrativa in Artikel-Position angeht, so nimmt diese fast linear zu von 0,11 Fällen pro elementarem (Teil-)Satz im Hildebrandlied bis zu 0,28 Fällen pro elementarem (Teil-)Satz bei Otfrid; das bedeutet mehr als eine Verdopplung. Was begründet diese Steigerung der Frequenz? Wofür werden Demonstrativa in Artikelposition gebraucht? Auf was reagieren hier die Schreiber? Sicher, da gibt es Fälle z.B. einer kontrastierenden Gegenüberstellung 2 3 . Oder wir können von Fall zu Fall erkennen, daß ein hinzugestelltes Demonstrativum das - morphologisch mehrdeutige - Bezugsnomen vereindeutigt 2 4 . Mit sehr viel höherer - und zugleich systematisch steigender - Frequenz jedoch wird so in den großen althochdeutschen Quellen Koreferenz, ein koreferentieller Rückbezug (eine Anapher) als ,Distanz' - A n a p h e r gekennzeichnet (das in Opposition zu ,Kontakt'-Anaphern). Das bedeutet für den Rezipienten eine Suchanweisung einer speziellen Art; negativ charakterisiert: Der gesuchte Ko-Referent befindet sich nicht im direkt vorangegangenen (Teil-)Satz. Vgl. zu einer solchen Vorstellung von ,Distanz' das folgende (erfundene) Beispiel: Zögernd trat er an die Theke (= Theke eines Lokals). Dort lag eine Badische Zeitung aufgeschlagen; auf der ersten Seite wuTde über einen Raubmord letzte Nacht berichtet. Der Mann faltete die Zeitung unauffällig zusammen und steckte sie in die Tasche. Dann verließ er langsam das Lokal. Hier markieren die Nomina mit bestimmtem Artikel ausnahmslos distanzanaphorische Rückbezüge auf zuvor jeweils schon angesprochene Redegegenstände; hingegen kennzeichnen die Pronomina Kontakt-Anaphern (das gilt 23
Vgl. Heinrichs (1954, 73 f.), der über das Demonstrativum hinausgeht und Querverbindungen zur Entstehung des schwachen Adjektivs herzustellen versucht. 24 Bekannt geworden ist das in der Literatur als sog. ,Kompensationsthese' - dazu schon Schlegel 1818/1971, zu den Hintergründen Werner 1965/1970, 1969, im Zusammenhang darstellend Sonderegger 1979, 241 ff. und 262ff., einführend auch Ronneberger-Sibold 1980, 104ff., kritisch Schecker 1990, 122ff., 251 ff., 257ff.
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auch für das erste hier auftretende Pronomen - ich kann darauf hier jedoch nicht näher eingehen). Zur Dokumentation nun ein Beispiel (unter vielen) aus Otfrids Evangeliendichtung. In V, 15 fragt der Heiland wiederholt Petrus, ob dieser ihn liebe und verehre (Piper 1878, 619/V, 15.3ff.):
Öwab t t ö bruijtin felto fuf: Sprach da der Herr
mmnöftfyumiL betrui ?
selber folgendes: Liebst
du mich, Petrus ? . .
Und Petrus antwortet:
£ljü uueiit, br«|fin, quab er, min, tjjaj
minna
tlin.
Du weißt, Herr. sprach er, mein, daß ich Liebe empfinde zu dir. Du weißt, mein Herr, sprach er, daß ich . . .
ioi) t|ii mir bift in minnon
fora alten uuoroltmannon.
und du mir bist in Liebe zugetan vor allen Erdenbewohnern, und (ich weiß,) daß du mir vor allen (anderen) Menschen in Liebe zugetan bist Als der Heiland diese Frage wiederholt und sie schließlich sogar ein drittes Mal stellt, da antwortet Petrus - betroffen durch soviel Mißtrauen:
£i)U feibo bruljtin allef Bift ioj) uueiit aL
Du selber, Herr,
tjju uueift tijir felbo αηαη mir tfiia
du kennst
...
t|jaj in
uworolt ift.
alles bist und weißt alles, was auf der Welt an
mir d i e / d i e s e
ist,
mina minna ji t|ir.
meine LIEBE zu dir."
Wir haben es bei thia ... minna mit einer Distanz-Anapher zu tun; über insgesamt drei vorangegangene Sätze hinweg wird die in der dritten Frage des Heilands zum dritten und letzten Mal angesprochene Liebe und Verehrung des Petrus wieder aufgenommen. Die Frequenz des hier beschriebenen Gebrauchs von Demonstrativa nimmt kontinuierlich zu. Das beginnt mit rund 45% der in Artikel-Position auftretenden Demonstrativa im Hildebrandlied und endet bei etwa 75,5% der in entsprechender Position auftretenden Demonstrativa in Otfrids Evangeliendichtung. Danach fällt die Frequenz wieder ab auf etwa 54% in den Schriften Notkers und ungefähr 36% in der frühmittelhochdeutschen ,Epiphanie'-Predigt Speculum ecclesiae').
Was ändert sich mit Notker und dann vor allem in der Predigtsammlung ,Speculum ecclesiae' und im Prosa-Lanzelot? Eine Frage, die insbesondere vor dem Hintergrund der weiter ansteigenden Frequenz relevant wird, mit der Demonstrativa in Artikel-Position auftreten. Entscheidend dürfte sein, daß die alten Demonstrativa zunehmend als Definitheits-Marker eingesetzt werden. Das ist wohl zu unterscheiden von dem zunächst zu beobachtenden textdeikti-
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sehen Einsatz und bedeutet weniger einen Rückverweis auf einen schon angesprochenen Redegegenstand (paraphrasierbar mit ,der weiter oben' bzw. ,vorhin schon angesprochene Redegegenstand') als vielmehr die Markierung ,gewußt/bekannt', in diesem Sinne ,vorerwähnt'. Hier trennen sich die Entwicklungslinien des späteren bestimmten und des demonstrativen Artikels dieser, diese,
dieses25.
Es ist vor dem Hintergrund dieser Entwicklung nicht uninteressant, daß schon in den althochdeutschen Quellen bis Otfrid eine größere Reihe von Distanz-Anaphern mit einer sog. Teiltextgrenze - der Grenze zwischen zwei inhaltlich definierten Teilen eines Textganzen - zusammenfallen; eigentlich ist das geradezu erwartbar. Entsprechend läßt sich schon in den Quellen bis einschließlich Otfrid als gleichsam sekundärer Effekt eine Gliederungsfunktion solcher Nominalgruppen mit dem Demonstrativum in Artikelposition beobachten 2 6 . Eben diese Gliederungsfunktion - in der einschlägigen Fachliteratur auch als ,Renominalisierung' diskutiert (vgl. u.a. Gülich/Raible 1979) - verbleibt in der weiteren Entwicklung beim bestimmten Artikel: Wir ,renominalisieren' allemal mit dem bestimmten Artikel, nicht aber mit einem DemonstrativArtikel 27 . Und ein letzter Aspekt der Entwicklung der alten Demonstrativa zu unseren heutigen bestimmten und demonstrativen Artikeln: Die Opposition von ,Distanz' und ,Kontakt' verbindet sich mit der Unterscheidung von Hauptund Nebensatz; als ,Kontakt-Anapher' wird zunehmend auch ein solcher koreferentieller Rückbezug empfunden, der über mehrere Teilsätze hinweg stattfindet - dann, wenn es sich um Teilsätze ein- und derselben Hypotaxe handelt. Das heißt im übrigen auch, daß mit der Verfestigung der Unterscheidung von Haupt- und Nebensätzen die so entstehende Hypotaxe zunehmend als relative Ganzheit verstanden und mit elementaren Hauptsätzen auf eine Stufe gestellt wird. 3.2. Graphische Textgestaltung (layout) Die besondere Stellung Otfrids ließe sich an der Entwicklung noch einer ganzen Reihe anderer integrativer Ausdrucksmittel belegen, so mit Blick auf die Entwicklung von Klammerkonstruktionen oder die Verfestigung der Positionierung des Satzthemcis auf dem ersten Platz vor dem finiten Verb im aussagenden Hauptsatz. Ich möchte jedoch den Blick auf einige ganz andere Neuerungen werfen, auf Entwicklungen und Weiterentwicklungen des graphischen Mediums; hier kann ich mich jedoch kurz fassen 28 . 25
Dazu auch Werner 1978, der für die Demonstrativ-Artikel heute - im Unterschied zu den unbestimmten Artikeln - die ,explizite Etablierung einer Lokalrelation' in Rechnung stellt. 26 Vgl. zu Details Schecker 1990, 264 ff. 27 Vgl. dazu auch nochmals das obige neuhochdeutsche Beispiel. 28 Vgl. zu einer ausführlichen Erörterung über Schecker 1990 hinaus: Schecker 1993.
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Die Rede vom graphischen Medium meint zunächst einmal das lateinische Alphabet, hier u.a. die verschiedenen Buchstaben-Typen 2 9 . Interessant und aufschlußreich ist darüber hinaus auch das Spannungsverhältnis von lateinischen Buchstaben und volkssprachlichen Laut-Werten, ein Problemfeld, dem sich bereits Otfrid in der lateinischen Briefvorrede ,Ad Liutbertum' zu seiner Evangeliendichtung widmet 30 . Für die Entwicklung der Schriftkultur in Deutschland sind nun freilich graphische Aspekte zentraler, die nichts mit einer graphischen Wiedergabe von Lautwerten der gesprochenen Sprache zu tun haben, sondern die das Lesen als visuelle Informationsverarbeitung betreffen (dazu auch Frank 1993). Das wird bestens deutlich, wenn man den Codex Vindobonensis, die schon angesprochene Wiener Handschrift letzter Hand' (vgl. Butzmann 1972) der Evangeliendichtung Otfrids, etwa mit der Kassler (ursprünglich wohl Fuldaer) Handschrift des Hildebrandliedes vergleicht 31 . Um hier gleich zu den Ergebnissen zu kommen: Bereits für Otfrid lassen sich systematisch Wortabstände belegen; der Codex Vindobonensis ist weitgehend in scriptio discontinua gehalten. Dies wie andere Überlegungen 32 belegen, daß hier zumindest als eine Form der Rezeption bereits ,stilles Lesen' in Rechnung gestellt wurde. Sehr im Unterschied zur Kassler Hildebrand-Handschrift, die was ihre graphische Aufmachung angeht - eher eine Vortrags-Partitur als ein moderner Text war. Mehr noch läßt sich für den Codex Vindobonensis eine auch grammatisch motivierte Zeichensetzung belegen. Ja, in Schecker 1993 wird argumentiert, daß wir hier so etwas wie die Entstehung einer (auch!) grammatisch orientierten Großschreibung ,in statu nascendi' beobachten können. Und ein letzter Punkt, dessen Modernität gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Die Evangeliendichtung Otfrids ist in Bücher und Kapitel mit je eigener Überschrift unterteilt; und die Kapitel-Überschriften sind in Form eines Inhaltsverzeichnisses dem Text vorangestellt. Einmal werden hier Teiltexte als relative Ganzheiten segmentiert. Zum zweiten erlauben die einem (relativen) Textganzen in Form eines Inhaltsverzeichnisses vorangestellten Zwischenüberschriften einen partiell nicht-linearen 29
30
31
32
Vgl. die auf Initiative Karls des Großen geschaffene karolingische Minuskel, die dank ihrer Klarheit und Einfachheit viele frühere, schwer zu entziffernde Schrifttypen ersetzte. Hier diskutiert er beispielsweise, daß man beim Schreiben des Fränkischen sowohl den Buchstaben Κ wie den Buchstaben Ζ benötige - anstelle des einheitlichen lateinischen C. A"sei wegen des Klanges im Rachen, Zaber wegen des Zischens zwischen den Zähnen notwendig; eine treffende Beobachtung Otfrids, denn im Lateinischen handelte es sich bei [k] und [ts] um die komplementäre Verteilung zweier Allophone, nicht aber im Fränkischen (zu Details wie zu einem zusammenfassenden Uberblick Günther 1985, 41 ff.). Vergleichbar auch etwa die St.Gallener Tatian-Handschrift aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts (Handschrift G, Stiftsbibliothek St. Gallen Nr. 56). Vgl. zu weiteren Einzelheiten Schecker 1993, 85 ff. Dazu noch weiter unten.
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Zugriff auf die im Text vermittelten Informationen; ein ganz anderer, neuartiger Umgang mit Wissen (dazu auch Raible 1991). Dabei dürfte klar sein, daß das Bedürfnis nach einem nicht-linearen Zugriff mit dem Umfang und der Komplexität eines Textes und der in ihm repräsentierten Informationen steigt, daß solche nicht-linearen Zugriffsmöglichkeiten ab einer historisch je zu bestimmenden Grenze geradezu unerläßlich werden. Ich sehe hier den Beginn einer schriftkulturellen Entwicklung, die sich in Registern u. ä. fortsetzt und bei den heutigen Formen der computerunterstützten Datenverwaltung und den derzeit bekannten Möglichkeiten marktüblicher Datenbankprogramme endet. 3.3. Metakommunikative Reflexionen Unsere bisherigen Überlegungen dürfen nicht dahingehend mißverstanden werden, daß erst Otfrid - und dabei Otfrid persönlich - die oben diskutierten graphischen wie grammatischen Ausdrucksmittel und Darstellungsverfahren eingeführt habe. Vielmehr müssen wir unterstellen, daß er in vielem Kind seiner Zeit war, daß er in entsprechenden Traditionen stand und auf eine Vielzahl von (uns allerdings nicht weiter bekannten) Vorbildern zurückgriff. Das seinerseits soll freilich auch nicht bedeuten, Otfrid sei sich seiner Situation als volkssprachlicher Autor nicht bewußt gewesen: Ich greife im folgenden eine Reihe von Beobachtungen aus Green 1987 auf. So vergleiche man Otfrids Gebrauch von ahd. ,scriban' ( = nhd. schreiben'), dazu u. a. die folgende Textstelle aus dem Widmungsschreiben an Ludwig 33 : „zi thiu due stunta mino, theih scribe dati sino." (Piper 1878, 1/Lud. 10). Hier ist - durchaus wörtlich zu verstehen - vom Akt des Schreibens die Rede 34 . Aber Otfrid reflektiert m. E. nicht nur sein Tun, wenn er schreibt, sondern er ist sich des Schreibens über dichterisch-mentale Aspekte hinaus auch bewußt als eines Herstellungsprozesses, an dessen Ende ein Buch 3 5 steht: „ Themo dihton ih thiz buach"36 (Piper 1878, 4/Lud. 87). 33
34
35
36
Ahnlich aus dem Vorwort zum vierten Buch: „Nu will ih scriban frammort (er selbo rihte mir thaz wort!)." (Piper 1878, 402/IV, 1.5) - Die Belegstellen lassen sich fast beliebig vermehren (vgl. auch etwa Otfrid II, 2.6 oder 4.103, V, 12.4 und 24.4 u.ö.). Dabei könnte man natürlich die eine oder andere Formulierung auch als konventionelle Formeln abtun (eine Warnung Greens); Green gibt jedoch zu bedenken, „daß ,scriban' hier von einem Dichter bei Querverweisen eingesetzt wird, der sein Werk sorgfaltig in Bücher und Kapitel eingeteilt hat, der auch sonstwo sein Publikum auf bestimmmte Bibelstellen oder Bibelkommentare verweist und der sogar die Aufmerksamkeit seines Publikums auf das lenkt, was sie an anderen Stellen im Evangelienbuch finden können. Mit anderen Worten: Wir haben es hier mit der Art von Querverweisen zu tun, die man in einem Schriftwerk erwarten darf, so daß scriban in diesen Fällen nicht als bloße Formel abzutun ist." (Green 1987, 739). Ähnlich wie ,buach' ist ,giscrib' zu werten. Vgl. dazu die folgenden Belege aus seiner ,Evangeliendichtung': „ S u n i a r ihaz giscrib min wirdii bezira sin,/ buazeni sino guaii theo mino missaiaii." (Piper 1878, 680/V, 25.45). Ganz ähnlich: „Regula thero buachi uns zeiget hi milrichi." (Piper 1878, 5/Lud. 91) /
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Ein Buch in der oben behaupteten wörtlichen Bedeutung (in dieser wörtlichen Bedeutung ist ein Buch immer auch ein physikalischer Gegenstand) liest man (oder liest man vor) - ,lesen' dabei ebenfalls als u. a. physikalisch beschreibbarer Akt. Dazu gehört eine räumlich beschreibbare Bewegung der Augen und - beim Zurückblättern - eine Bewegung der Finger und der Hand. Entsprechende raumdeiktische Demonstrativa liegen z . B . vor in „thiz buach" (Piper 1878, 4/Lud. 87) 3 7 . Besonders aufschlußreich scheinen mir Passagen zu sein, in denen Otfrid geradezu aus der Erzählsituation herausfällt - der Erzählsituation widerspricht: „ ,Dua', quad, druhtin, ,thuruh not, so ich hiar thir obana gibot.'u3S (Piper 1878, 620/V, 15.19). Bücher liest man, vgl. entsprechende Passagen aus Otfrid (der freilich sehr viel häufiger vom Akt des Schreibens und seinem Produkt, dem Buch, berichtet): „Maht lesan ouh hiar forna" (Piper 1878, 148/11, 3.29). Ist hier schon modernes (nämlich stilles) Lesen mit bedacht, oder geht es ausschließlich um das bekannte Vorlesen? Wie kann aber Vorlesen bzw. der Vortrag gemeint sein, wenn das Lesen mit einem selbstreflexiven Bezug (,selbo') versehen ist? (Zumindest würde dann ,Vortrag' zu verstehen sein im Sinne eines ,sich selber vortragen') Vgl. dazu: „thaz sagen ih thir in alawar; selbo maht iz lesan thar,"39 (Piper 1878, 3/Lud. 44). Zusammenfassend gehe ich davon aus, daß bereits Otfrid - vielleicht er zum ersten Mal - den Rezeptionsprozeß (zumindest ein Stück weit) reflektierte, und das heißt nicht zuletzt, daß er als eine besondere Form der Rezeption auch ,stilles Lesen' in Betracht zog. Das muß nicht unbedingt heißen, daß er das auf eine systematische Weise und theoretisch abgestützt tat 4 0 . „Lekza ih therera buachi iu seniu in Suabo riche." (Piper 1878, 13/Sal. 5) / „Sint in thesemo buache, thes gomo theheiner ruache." (Piper 1878, 14/Sal. 23). 3 7 Oder man vergleiche - noch deutlicher - räumliche Deiktika wie ,htar' / ,oba' (u. a.): „Ziu sculun Frankon, so ih quad, zi thiu einen wesan ungimah,/ thie Hutes wiht ni dualtun, thie wir hiar oba zaltun?" (Piper 1878, 22/1, 1.57). Vergleichbar müssen interpretiert werden II, 4.103 oder 9.1 oder etwa V, 12.4. 38 Vergleichbar: „,Fimim', quad er, ,thia redina, thia ih zalta thir hiar obana.'" (Piper 1878, 6 2 2 / V , 15.33). 3 9 Vergleichbar: „thaz firdruag er allaz, selbo hsist thu thir thaz." (Piper 1878, 346/III, 19.16). Vergleiche dazu auch schon Patzlaff 1975 und seinen Kommentar zur folgenden Stelle aus dem lateinischen Widmungsschreiben Otfrids: „Sensus enim hic interdum ultra duo vel tres versus vel etiam quattuor in lectione debet esse suspensus, ut legentibus, quod lectio signat, apertior fiat" (Piper 1878, 9/Liutb. 86ff.). Welchen Sinn sollte es haben - Patzlaff: „daß dem Vortragenden deutlicher werden sollte, was der Text meint" (50), wenn er - der Vortragende - nicht zugleich als Rezipient angesprochen ist? (Im übrigen würde man andernfalls - statt legentibus - eher audientibus o.a. erwarten.) 4 0 Ungeachtet der weitreichenden Reflexionen und Neuerungen Otfrids wird die volkssprachliche Schriftkultur noch lange eine Sache ,für den besonderen Augenblick', .für Festtage' (Assmann/Assmann 1992, Raible 1992a) bleiben. Das ändert sich grundlegend erst mit der Ostkolonisation, mit der .Territorialisierung', d.h. dem Erstarken fürstlicher Autorität, und mit dem Aufblühen der Städte und des städtischen Fernhandels (vgl. Rau-
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4. Ansätze zur Nationalisierung der Schriftkultur Otfrid (wie viele dann nach ihm) bezieht in seine Reflexionen nicht nur das Schreiben und Lesen und das Produkt des Schreibens, das Buch, mit ein; sondern er wird sich auf diese Weise auch seiner Sprache und der Sprachgemeinschaft bewußt, zu der er gehört. Warum, so fragt er sich und seine Leser, warum sollen nur die Griechen und Römer in ihrer Sprache dichten bzw. gedichtet haben, warum nicht auch die Franken? (Piper 1878, 21/1, 1.33f.): •Βιιαηαηα fculun franion einon t j j a j Biuuanfon, Warum sollen die Franken als einzige das vermeiden davor zurückschrecken, ni fie in frenfifgon Iiiginnen, fie qotei lob fingen? nicht sie in Fränkisch beginnen, sie Gottes Lob singen? Hier 41 wird - wohl zum ersten Mal in der Geschichte der deutschsprachigen Schriftlichkeit - ein geradezu nationales (allerdings eben noch nationalfränkisches) Selbstbewußtsein deutlich. Und wenn Otfrid dann auch noch die Franken mit den Römern oder Griechen gleichstellt und gleichsam öffentlich überlegt, daß die Franken vielleicht mit Alexander dem Großen verwandt seien, dann bekommt das Ganze einen geradezu nationalistischen Beigeschmack (Piper 1878, 22/1, 1.59 ff.): @ie (int fo fatna ψ α η ί , feil) fo tjjie romani; Sie sind genauso kühn wie die Römer; ni tljarf man tijaj oul) rebinon, tfiai friaiji in nicht darf man das auch behaupten, daß die Griechen ihnen tljef giroibaron. das streitig machen würden/könnten. Nun soll hier nicht schon behauptet werden, die vorgetragenen Reflexionen gäben das persönliche Selbstverständnis Otfrids selber wieder 42 ; dennoch erfüllt der Tatbestand im wesentlichen die Kriterien des Begriffs Rational/Nationalismus' 43 . tenberg 1985, Kästner/Schirok 1985; auch Hyldgaard-Jensen 1985; auch Bischoff 1985 und Peters 1985; Eggers 1985): Jetzt beginnt die Volkssprache zunehmend das Latein als Kanzlei- und Verwaltungssprache zu verdrängen. Es kommt zu ersten Ansätzen einer volkssprachlichen Fachprosa (vgl. Giesecke 1980). Und spätestens mit der Reformation und der für sie typischen Flugschriften-Produktion (vgl. Schwitalla 1983) entsteht dann auch erstmals eine volkssprachliche (kommunikative) Öffentlichkeit. 41
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Man vergleiche dazu auch nochmals jene schon zitierte Stelle: „Ziu sculun Frankon, so ih quad, zi ihiu einen wesan ungimach, . . . W a r u m sollen die Franken, wie ich sagte, zu so etwas - nur sie - sein unfähig, . . .(Piper 1878, 22/1, 1.57). Zu Recht spricht Schlosser 1977 von ,Erwartungen höchst offizieller Art' bzw. von fränkischer Ideologie'. Vgl. dazu etwa Gschnitzer 1992 oder Koselleck 1992 oder etwa Guchmann 1964. Hier
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II. Literatursprache der Neuzeit
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Die andere Stimme. Zu Sprachgenese und Autorschaft Die Vorstellung der russischen Formalisten, daß alle literarische Struktur auf einem „Kunstmittel der Verfremdung" (priem ostrannenija) 1 beruhe, fußt primär auf einem künstlerischen Abgrenzungsimpuls im Kontext der ,Moderne'. Alles literarische Sprechen soll sich von normaler Kommunikation über einen Modus der Differenz 2 unterscheiden. Im literaturtheoretischen Ansatz steckt indes nicht nur ein sprachmediales Darstellungsproblem. In der Frage, wie verfremdend' eine literatursprachliche Artikulation entsteht, wie sich ein „in den poetischen Text vom Autor eingelagerte(s) sprachliche(s) System" 3 verantwortlich generiert, verbirgt sich das Problem der grundsätzlichen Konstitution von Autorschaft. Die Reflexion darüber ist in ihrem Kern so alt wie die Literatur selbst, doch verbirgt sie sich in poetologischen Maskierungen, die funktionalisiert weniger auf den Urheber als auf das Produkt, den Text, abzielen. Diese Perspektive umzukehren, führt zur Kontur eines sprachgenetischen Handelns im Spannungsfeld von personal bis abstrakt begründeten Autormodellen, deren gemeinsamer gedanklicher Grundnenner auf die Alteritätserfahrung der Texte hinausläuft. Die antike Rhetorik entwickelte als Anleitung für das auktoriale Sprachhandeln keineswegs beliebig, sondern funktional effektiv eine kulturelle Methode der Textkonstitution auf mnemotechnischer Grundlage 4 . Von der Beobachtung kommunikativer Praxis ausgehend, daß die Sprachnutzer ihre Äußerungs- und Darstellungsformen nicht immer völlig neu erfinden, sondern an erlernten Mustern ausrichten, lag es im Rahmen einer institutionalisierten Redelehre nahe, ein Modell zu entwickeln, nach dem Texte geplant und gleichzeitig variabel zu erzeugen waren. Dies zu leisten, bedurfte es einer doppelten Strategie. Die gewollte Ausdrucksmobilität war nur auf der Basis eines hinter ihr stehenden, stabilen Gedankengebäudes zu verwirklichen, das aber wiederum so offen sein mußte, daß 1
Vgl. dazu umfassend Hansen-Löve 1978. Grundsätzlich zu einer philosophischen Theorie der Differenz vgl. Deleuze 1969 bzw. dt. 1992. 3 Vgl. Steger 1967, 45. 4 Vgl. dazu Yates 1984 bzw. 1991. Vgl. auch die verschiedenen Beiträge in Haverkamp/Lachmann 1993. Zum Zusammenhang von Mnemotechnik und Rhetorik vgl. Weinrich 1991. 2
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es nicht zu einengenden Erstarrungen kam. Es mußte für das Darstellungsverhalten eine systematische Ökonomie des Erinnerns geschaffen werden, das dem Vergessen entgegenwirkte. Zugleich aber brauchte es, was eine ganz an der Gedächtnisarbeit orientierte Rhetoriktradition verdrängte, gerade auch subtile Verfahren der Amnesie. Weil Rede- und Merkkunst miteinander verknüpft waren, bedeutete dies die Sicherung des Zugriffs auf alles zu Erinnernde, das vergessen zu werden droht. Die Technik, dies zu organisieren, fußt auf der Errichtung eines Ordnungsraumes, in dem jedem Signifikat seine Position durch ein der Memorialfunktion dienendes Bild zugewiesen wird. Dieses ikonisch strukturierte Gebäude der Tropen fixiert die Beziehungen zwischen Signifikat und Signifikant über einen Prozeß von Transpositionen, der zum einen für Gegenstände und Wörter zu dem sie repräsentierenden, ,übertragenen' Bild hinleitet und der umgekehrt auch wieder von diesem substitutiven Ausdrucksniveau zu den damit umschriebenen res et verba zurückführt. Dieses vom Prinzip her keineswegs unkomplizierte, abstrakte Spiel eines sprachlichen Austauschvorgangs funktioniert nur deshalb, weil es in einem gedanklich beherrschbaren, auf Anschaulichkeit hin orientierten Zuordnungssystem abläuft, das Willkür meidet, allerdings im erweiternden Modus der Analogie auch nicht ausschließt. Am Anfang des darstellerischen Unterfangens steht das aller Autorschaft auferlegte Ziel, für gleiche Signifikate unterschiedliche Umschreibungen zu finden, will man nicht ein Repertoire identischer Texte erzeugen. Der mentale Impuls eines sprachlichen Expansionismus führt zur gedanklichen Ausbildung eines Rasters, der die verschiedenen Aussagebezirke definiert, für die variable Bezeichnungen gelten sollen. Es sind dies zunächst noch einfachere Zuordnungen, die mit Hilfe von bildlichen ,Wendungen', den tropoi, bewältigt werden. Ihr weiträumigerer Zusammenschluß in textsituativen, argumentativen Aufgabenstellungen, den topoi, vervollkommnet eine Darstellungsschematik, deren Reiz in einem materiellen Spiel liegt. Die Leistung des begrenzt verfügbaren Wortgutes wird dadurch vervielfacht, daß es zwischen unmittelbarem und übertragenem Gebrauch wechselt. Einmal liegt nur das arbiträre Zeichen für eine Sache vor, ein andermal steigt dieses Zeichen zur verweisenden Vorstellung auf. Was ursprünglich als satura die schlichte Bezeichnung einer Schüssel mit gemischten Speisen ist, kann dann die Metapher für eine gesellschaftskritische Dichtart sein. Die Autorschaft der Reden wie der Schriften erweist sich in diesen Verfremdungen des sprachlichen Materials, die, in die Präsenz der Texte überführt, den ursprünglichen, innovativen Verstoß gegen vorhandene Konventionen zur suchformelhaften5 Registerstruktur gerinnen lassen. Eine seit der Antike durch viele textproduktive Generationen ausgebildete Technik erlaubt über den ikonischen Gewinn von Sprache eine Ordnung der Gedanken, die nicht das Fremde 5
Vgl. Lausberg (1960, Bd. 1, §260) zu den Topoi/loci als „rahmenmäßigen Such-Formeln".
Die andere Stimme. Zu Sprachgenese und
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suchen, sondern dem Fremden ein sicheres Erkennungskleid überstreifen wollen. Archaische Bannungsvorstellungen der Sprache kehren so als Zentrum eines abstrakten, textgenetischen Produktionssystems wieder, das Wissen a b bilden' will. Die genieästhetische Neuorientierung der Autorschaft im 18. Jahrhundert beendet die rhetorische Topologie sprachlichen Ausdrucksgewinns. Der kulturelle Gedächtnisraum der Texte entsteht fortan nicht mehr aus der Gewißheit poetischer Situativität, bei deren Darstellung sich Verfasserschaft nur auswählend eines Inventarspektrums zu versichern hat. In dem Maße, wie der poetischen Rede die Gewißheit ihrer Anlaßorte verloren geht und durch den Anspruch auf die dichterische Darlegung einer ästhetischen Erinnerungsarbeit des selbstreflexiven Subjekts ersetzt wird, ändert sich das sprachliche Imaginationssystem. In der Folge wird keineswegs die textfigurierende Praxis aufgegeben, daß sich die Darstellung u m Bilder zentriert und daß weiterhin mit daraus resultierenden Tropierungen gearbeitet wird, doch ändert sich deren mentaler Formulierungshintergrund grundlegend. Nachdem Descartes programmatisch das neue Prinzip einer originären Wissenschaft eingeführt hatte, die vollkommen voraussetzunglos alles prüfen und sich deshalb „von allen Ansichten" lossagen will 6 , so ist damit nicht nur der inhaltliche Bruch mit reinem Tradierungswissen vollzogen, sondern es sind davon auch die topologischen Formen seiner Vertextung berührt. Was als Sturm gegen verfestigte Gelehrsamkeit bei Descartes und anderen frühneuzeitlichen Denkern beginnt, findet seine kulturelle Entsprechung im dichterischen Diskurs. Auch er wendet sich von den vertrauten Strukturierungen ab und tilgt die produktive, rhetorische Gedächtnisordnung, die ihn seit der Antike bestimmte. Bewegte sich Autorschaft bis zu dieser Abwendung in Texträumen, die vertrauten, erlern- und vermittelbaren Regeln folgend eingerichtet waren und den einzelnen Formulierungsakt wie seinen Urheber in einem kollektiven Gestaltungsbewußtsein aufhoben, so beinhaltete die Hinwendung zu einer originären Textästhetik, um der „alten Schriftsteller" Muster „ganz aus unseren Gedanken (zu) verdrängen" 7 , den Einstieg in eine sprachliche Ausdruckshaltung, die sich aller Nachahmung verschloß. Der identifikatorische Aneignungsgedanke gegenüber dem Fremden, der bei einer imitativ konditionierten Schreibweise greift, wandelt sich dadurch. Wer die Texte von Autoren kultursemiotisch für normativ erklärt, akzeptiert sie für sich als etwas, das ihm nicht mehr fremd ist, sondern das er als wesenhaft weiterer Darstellungspraxis zugrunde legt. Vorbild und Mimese erschöpfen sich jedoch nicht im Modus schierer Wiederholung, sondern das Muster dient als eine Art Vorbote für ihm Ähnliches. Der neue Formulierungsakt gleicht sich an, ohne in Form und Bedeutung wirklich identisch zu sein. Obwohl β Vgl. Descartes 1957, 12, Kap.8. 7 Vgl. Young 1977, 23.
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er als in einer Reihe stehend begriffen wird, in der sich die Ordnung einer als gemeinsam aufgefaßten Kultur entfaltet, verändert die nachahmende Sprachgeste. Sie kompliziert die ihr vorhergehenden Äußerungen, was im konkreten Einzelfall nur geringfügig sein kann, was aber auch die Möglichkeit völliger Aufhebung, den Vorstoß in das Irreguläre 8 einschließt. Was im Horizont mimetischer Textgenese ein grenzwertiges Verfahren ist, bildet die Basis einer genieästhetischen Poetologie. Sie wendet sich vom sprachlichen Darstellungsprinzip konvergenter Nachfolgen ab und nimmt das disparater Reihen an. Der Aussageakt wiederholt nicht mehr Vorstellungen mit den ihnen jeweils zugeordneten Tropen, sondern er setzt mit einer metasprachlichen Abstraktion grundsätzlicher Fremdheit ein. Der ,neue' Text ist nicht mehr dem Verfahren eines „Refrains" 9 verpflichtet, sondern er beansprucht schon vor seiner sprachmateriellen Konkretisierung völlige Unabhängigkeit. Gegenüber einem solchen Verständnis steht die Gegebenheit der Sprache, daß sie mit ihren syntaktischen und semantischen Strukturzwängen der Autorschaft diese vollkommene Autonomie nicht gewährt. Sie muß deshalb aus anderen Quellen begründet werden. Die unbeschränkte Verfügungskraft wird vom Repräsentationsmedium gelöst und ganz der Sphäre des Subjekts zugeordnet, so daß dem Genie eine gestalterische Ausdrucksfreiheit zufällt, die ideell zwar behauptet, sprachlich realisiert aber zumindest im Vorstellungsraum des 18. Jahrhunderts noch nicht einzulösen war. Zu stark sind hier die verinnerlichten Vorgaben der rhetorischen Figuration gegenwärtig. Erst die ,Moderne' wird hier andere Koordinaten setzen. Wenn dem genieästhetischen Verwirklichungsanspruch die rhetorisch bestimmte, sprachgenetische Systemvorgabe die Freizügigkeit einer weitergehenden, darstellerischen Verfremdungsautonomie beschneidet, so wirkt sich dies zwar in der Textpraxis aus, mindert jedoch nicht den neu artikulierten, subjektiven Verfügungsanspruch der Autorschaft. Es genügt zunächst, die gestalterische Differenz zu behaupten, ohne sie als sprachproduktiv ,fremde' Präsenz umfassend einlösen zu müssen. Die Umpolungen beziehen sich auf die allgemeine poetologische Konturierung der Texturheberschaft 10 und nicht auf konkrete Bezirke der Ausdruckshandhabung. Das neue Autorparadigma, das von aller wesentlichen Darstellung beansprucht, sie habe entschiedener „Ausdruck eines ganzen, auf eine völlig neue und originelle Weise der Idee gewidmeten Lebens" zu sein 11 , führt vor allem einen ideologischen Maßstab ein, der fortan für den sprachlichen Ausdruck leitend wird. An die Stelle einer thematisch abstrakten Aussageordnung, die im mnemotechnischen Raster von Topoi und Tropen ausagiert wird, tritt eine le8
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Ihr literarischer Modus ist der Manierismus, der eine Poetik des Irregulären entwirft. Vgl. dazu Hocke 1959. Vgl. dazu Deleuze 1992, 161. Zu ihr vgl. ausführlich mit weiteren Verweisen Bosse 1981. Vgl. Fichte 1971, Bd. 7, 88: „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters".
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bensthematisch begründete Darstellungsweise, die von der historisch situierten Subjekterfahrung ausgeht und für sie eine spezifische sprachliche Präsentationslösung sucht. Nähme man diesen Anspruch ernst, müßte jeder Text fortan mit einer eigenen Sprache aufwarten, die ebenso wie ihr Urheber ,original' wäre. Schon der initiative Mitformulierer des genieästhetischen Autormodells, Edward Young, wird aber von der Einsicht umgetrieben, daß wir Menschen zwar „alle als Originale auf die Welt" kämen, dennoch aber „als Copien sterben" 1 2 . Er sieht den Grund im unseligen Erbe eines gesellschaftlich erzwungenen Nachahmungszwanges, der „hundert Bücher [ . . . ] im Grunde nur Eins" sein läßt 1 3 . Was hier noch die Bedingungen gelehrter auktorialer Reproduktion umschreibt, die Darstellungshandeln kollektiviert und ,indiskret' 14 macht, erscheint fortan beiseite gewischt, wenn das Individuum zu seiner eigenen Sprache findet. Gäbe es diesen gedanklich anziehenden Vorgang als eine sprachlich umgesetzte und nicht nur proklamatorisch beanspruchte 1 5 Textrealität, so erschlössen sich alle Werke nur als unvertraut, weil von einer jeweils fremden Individualität bestimmt. Die darstellerische Topologie und deren metonymische Auflösungen wählte das Leben selbst, das den Text zur Abdrucksspur 1 6 eines Subjekts machte. Derartigem Anspruch steht der eigenwertige Systemcharakter der Sprache entgegen, die nur bedingt zu individualisieren ist, zumindest wenn sie kommunikativ bleiben soll. Die These von der auktorialen Lebensgeste, die das Werk bestimmte, erweist sich als eine mentale Einstellung, dem kein faktischer Textmodus, wohl aber ein funktional wirksames Textkonzept entspricht. Die Lösung aus der rhetorischen Textstrukturierung zugunsten eines strikten Anspruchs auf subjektive Sprache beinhaltet, woran erinnert werden muß, nur bedingt einen radikalen Bruch. Die Uberleitung erfolgt behutsamer, weil der rhetorische Theorieapparat eine zentrale gedankliche Basis bereitstellt, die auktoriale Subjektivität rechtfertigt. Die persuasive Gewinnung des Publikums erfordert, auch um die ermüdende Wirkung belehrender Argumentation (das docere) abzumildern, ein ästhetisches Vermittlungsmoment (das delectare)17. Diese Wirkung wird nur vermittels einer Sympathiebrücke zwischen Redner und Publikum erreicht, deren Grundlage Affekte sind. Wenn der Redner affektiv überzeugt, identifizieren sich die Rezipienten mit ihm und seinem Thema. 12 Vgl. Young 1977, 40. 13 Vgl. Young 1977, 40. 14 Young (1977, 40) führt diesen, ihm gewagt erscheinenden Begriff („erlauben Sie mir dieses Wort") der „Indiskretion" für einen ihm kritisch gewordenen, gesellschaftlichen Formierungsvorgang ein. 15 Daß jeder Mensch eine eigene Sprache habe, notiert Novalis 1965, Bd. 2, 560. 16 Vgl. das schon bei Bosse (1981, 156) angeführte Schiller-Zitat vom 4.8.1795 (Nationalausgabe Bd. 28, 22), wo dieser von den Schriften spricht, „in denen sich ein Individuum lebend abdrückt". 17 Vgl. hierzu und zum folgenden Lausberg 1960, 140ff., §257.
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Auf diesem Wege haben subjektive Rede und Schrift, mögen sie auch nur agiert sein, eine lange Tradition. Es war nicht schwer, diese aufzugreifen und mit einer existentialisierten Textästhetik des Individuums zu verbinden, zumal deren Ausbildung zusätzlich durch eine spirituale Leitidee gestützt wurde. Die aus der Zogos-Mystik des Johannes-Evangeliums patristisch entwickelte Vorstellung vom inneren Wort, dem verbum cordis, demgegenüber das äußere Wort angesichts einer babylonischen Sprachenvielfalt nicht zählt, stellt eine wirkungsvolle Denklinie bereit 18 , nach dem Verhältnis zwischen subjektiver Sprachdisposition, dem verbum intellectus, und konkreter Sprachäußerung zu fragen. Die theologische Antwort, daß das wahre Sein des Wortes nur sein unmittelbares Offenbarmachen und -werden sein könne, birgt Elemente, die im genieästhetischen Textraum zwar nicht im expliziten Rückgriff, aber doch geistig verwandt auftauchen. Biblische, augustinische und scholastische Worttheologie treffen sich in ihrer zugleich verinnerlichten wie emanativen Auffassung der Sprache mit Annahmen einer geniezeitlichen Wortpoetik. Der nur mittelbare Charakter des Zeichensystems Sprache ist gleichermaßen suspekt, weil er dem erwünschten, direkten „Geschehenscharakter der Sprache" 19 zuwiderläuft. Die tiefgehende Skepsis gegen die Indifferenz der sprachlichen Zeichenwelt, hinter der Begriffe und Verantwortung zerfließen, führt sprachkonzeptionell auf das hin, was Hegel dann als die „eigentliche Kraft" umschreibt, die schon in ihrem „Insichselbstsein Äußerung ist" 20 . Die Furcht vor allem semiotischen Zwischentritt, der Wunsch nach unlöschbarer Aussagegegenwart des Mediums läßt keine abstrakt distanzierte Beherrschung der Darstellung mehr zu. Die Botschaft des nur sich selbst verpflichteten Genies kann sich nur einer Sprache bedienen, die ihm gleicht, die es ist. Damit aber verwischt sich trotz scheinbarer Aufwertung der auktorialen Position gerade deren Wertigkeit. Wenn das Werk der Autor selbst ist und ihn nicht nur darstellt, so wird er unwichtig, weil allein die Sprache und der Text sich den funktionalen Platz nehmen, der im naiven Verständnis der Verfasserschaft zufällt. Durch den Anspruch, Sprache und Werk sein zu wollen, beraubt sich das Subjekt gerade seines Rangs, den der rhetorisch handelnde Autor als souveräner Disponent jenes traditionellen, textgenetischen Systems wahrnimmt. Er beherrscht die Aussage, wohingegen das Leben in Werk tauschende Genie sich in der Darstellung ausgibt, in ihr verschwindet. Sieht man von den nach wie vor gültigen Signifikant/Signifikat-Gegebenheiten der Texte ab, so läuft die poetologische Neuorientierung darauf hinaus, anstelle der gewohnten sprachlichen Repräsentanzleistung das Motiv der Präsenz hervortreten zu lassen. Die von Descartes eingeführte Selbstbezüglichkeit des Subjekts, das den Augenblick seiner Bewußtwerdung zur kognitiven Einsicht 18
Vgl. dazu Gadamer (1965, 395ff.) zu „Sprache und verbum". 19 Vgl. Gadamer 1965, 404. 20 Vgl. Hegel 1986, Bd. 3, 118. Vgl. dazu auch Kristeva 1978, 119ff.
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nutzt, verlängert sich für die genieästhetische Autorschaft zur Selbstpräsenz im sprachlichen Darstellungsakt. Die Signifikanten lassen sich dann nicht mehr nur als Äußerungen über das jeweils durch sie Bezeichnete begreifen, sondern sie rücken in die Funktion ein, dem sie einsetzenden Subjekt als Medium der Selbstaffektion zu dienen. Das Ich vernimmt sich im Text, dessen mediale Gegenwärtigkeit aber auf Verselbständigung drängt. Dadurch, daß das Ich Text wird, gewinnt es zwar selbst subjektiv an Bewußtsein und Empfindung, doch verliert es zugleich an erkennbarer Kontur, denn der Text ist kein exegetisches Dokument des ihn formulierenden Subjekts. Autorschaft setzt zwar einen Modus der Selbstdarstellung in Gang, doch ist das sprachliche Ergebnis eben nicht das Subjekt selbst, sondern nur seine metonymische Maskierung. Das sprachliche Substrat setzt sich ganz an die Stelle des Ich, das zum Supplement 2 1 des Textes wird. Der auktoriale Anspruch zumal des Genies neigt entschieden dazu, dieses Verhältnis umzukehren und dem Text Supplementcharakter zuzuweisen, weil er die unmittelbare Gegenwärtigkeit des Ich zu ersetzen scheint. Dieser Gedanke, daß der Text eine nicht oder nicht mehr gegebene Anwesenheit substituiert, liegt unter kommunikationspraktischen Gesichtspunkten zumal im Hinblick auf das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit nahe, entspricht aber keineswegs deshalb schon der auktorialen Realität. Autorschaft ersetzt keine fehlende personale Präsenz, sondern sie existiert überhaupt nur im Modus solcher Stellvertretung', die deshalb gar nicht als solche angenommen werden darf. Der Text repräsentiert kein abwesendes Subjekt, sondern er ist die Sache selbst, um die es allein geht. Die Auffüllung von Texten auf eine hinter ihnen stehende Personalität wird zwar der produktiven Situation der Formulierung einschließlich ihrer Niederlegung in der Schrift gerecht. Doch diese interessiert allenfalls als urheberrechtliches Szenarium, das die juristische Verbindung zwischen konkreter Person und Erzeugnis braucht 2 2 . Was für materielle Erzeugnisse sinnvoll wirkt, funktioniert indes nicht mehr für Texte, deren personal erzeugte Materialität gegenüber ihrer sprachlichen Mitteilungspräsenz ganz nachgeordnet erscheint. Zugänglich ist nur der Formulierungsraum selbst, nicht das Individuum, das ihn erzeugt, weil der Text von ihm in aller Regel nicht spricht, es sei denn, die sprachliche Genese würde selbst zum Thema der Erörterung. Die Debatte u m das, was Eigentum des Autors sei, wie sie das ausgehende 18. Jahrhundert neu diskutiert, betont nicht den Inhalt, da dieser dem Leser bei der Lektüre zufällt, sondern die Form der Gedanken als das dem Autor allein 21
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Derrida (1974, 248ff.) hat sich in Auseinandersetzung mit dem supplement-Begriff Rousseaus umfassend mit einer Theorie des Supplements unter der Vorgabe von Mündlichkeit und Schriftlichkeit beschäftigt. Dieser Ansatz Derridas wird in seiner Spezifik hier nicht übernommen, aber als Anregung und Potential genutzt. Vgl. dazu ausführlich Bosse (1981, 59ff.) mit den Belegen, die auktoriales Handeln zur „individuellen Totalität" rechnen und insofern Urheberschaft rechtlich begründen.
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Eigene 23 . „Was aber schlechterdings nie jemand sich zueignen kann, weil dies physisch unmöglich bleibt, ist die Form dieser Gedanken, die Ideenverbindungen, in der, und die Zeichen, mit denen sie vorgetragen werden." 24 Das Denken und die Art und Weise seiner signifikativen Artikulation erscheint aber individuell nicht nur autorenseitig betrachtet. Rezeptiv ist eine Aneignung auch nicht wirklich möglich, „denn niemand kann seine [sc. des Schriftstellers] Gedanken sich zueignen, ohne dadurch, dass er ihre Form verändere." 25 Selbst Fichtes auf den ersten Blick vollkommen subjektorientierte Argumentation, die auf ein schöpferisches Urhebertum abzielt, enthüllt implizit das Wissen um eine andere Realität. Wer einer formalen Struktur alleinige Eigentlichkeit und faktische Unveränderlichkeit zuordnet, tilgt eine hinter ihr liegende Szenerie personaler wie aktualer Entstehung. Sie zählt nicht mehr, mag auch gegenüber den Texten ein Interesse an Signifikanten zeugender Urheberschaft und am produktivem Anlaß im nachhinein vorgebracht werden. Worauf es ankommt, ist allein das festgeschriebene Werk selbst. Es ist die Maske des Autors, der hinter ihr verschwindet. Obwohl das Werk für den genieästhetischen Wirkungsanspruch und von ihm berührt auch darüber hinaus stets unbezweifelt im Mittelpunkt stand, regt sich doch stets ein Interesse an seiner personalen Verankerung und Referenz. Allein schon die faktische Abwesenheit des Verfassers bei der Lektüre seines Werks regt dazu an, sich für den Menschen zu interessieren, dessen Geist in den Buchstaben gebunden ist 26 . Umgekehrt spielen die Autoren damit, ihr Verschwinden hinter dem Werk zu proklamieren und doch zugleich alles in diesem zu tun, sich exzessiv selbst darzustellen. Auktoriale wie rezeptive Bewegungsordnungen zwischen Text und Urheberschaft verweisen auf die primäre und eigentliche Wirklichkeit des Werks, in dem das Ich nicht als Person, sondern als weitläufiger und komplizierter Sprachvorgang vorhanden ist. Dessen Problem ist sein Mangel an eindeutiger Lesbarkeit, jene romantisch dann favorisierte Spannung zwischen „Geist und Buchstabe", weil „niemand den andern versteht", weil „keiner bei denselben Worten dasselbe was der andere denkt", wie Goethe aus Anlaß eigener Spinoza-Lektüre erkennt 27 . Die Krisenerfahrung aller Hermeneutik berührt vorgängig das Verhältnis zwischen Autor und Text. Wenn verstehende Lektüre nicht mehr auf einen Garanten zurückgreifen kann, sondern sich allein der Wörtlichkeit der Texte, die zudem noch weiter distanzierend eine Schriftlichkeit ist, gegenübersieht, so bewirkt dies eine Verunsicherung. 23 Vgl. dazu Fichte 1971, Bd. 8, 225fF.: „Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks" [1798]. Vgl. Fichte 1971, 227. 25 Fichte 1971, 227. 26 Vgl. den Aphorismus von Schlegel (1963, Bd. 18, 297, Nr. 1227): „Buchstabe ist fixierter Geist. Lesen heißt, gebundnen Geist frei machen, also eine magische Handlung." 27 Vgl. Goethe 1963, Bd. 10, 78: Dichtung und Wahrheit, IV, 16.
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Schon das Medium der gesprochenen Sprache schiebt sich vor das, was im Denkbild einer durch „Autorität" gekennzeichneten Autorschaft 2 8 als personale Projektion der Sinngarantie angenommen wird. Erst recht geschieht dies aber in der Schrift, mit deren Hilfe sich der Text vom Verfasser ebenso wie vom Rezipienten löst und zu eigenem Dasein aufsteigt 29 . In dieser Abkapselung, deren Rückführung in den Lebenszusammenhang die Poetik um 1800 kompensatorisch erstrebt, aber nicht wirklich aufzuheben vermag, sondern dadurch eher bestätigt, in dieser Isolation erscheint der Text keineswegs zur abstrakten Idealität reinen Sinns erhoben, wie dies eine grundlegende Uberzeugung des hermeneutischen Zugriffs behauptet 3 0 . Der Wegfall auktorialer Präsenz zugunsten der des Textes selbst ist jenseits der zusätzlich vorhandenen Interferenz zwischen mündlicher und schriftlicher Mitteilungsart kein notwendiger Schritt zur Annahme einer selbstverständlichen Tauschbarkeit der sprachlichen Projektionsfläche in zugänglichen ,Sinn'. Was in der Interaktion mit Texten jeder Vermittlungsform wahrgenommen wird, ist zunächst nicht mehr und nicht weniger als der „Schirm der Sprache" 31 , dieses Angebot materieller Zeichenstrukturen, hinter das zurückzugehen nicht ohne weiteres und eindeutig möglich ist, mag dies auch ein kommunikativer Sprachkonventionalismus nahelegen. Das Oberflächenmoment der Texte sollte produktiv wie rezeptiv nicht unterschätzt werden, zumal auch die hermeneutische Anstrengung dieses sehr bewußt wahrnimmt, selbst wenn sie auf seine Zerstörung ausgeht. Die Außenseite der Texte ist nicht nur Hüllform, wie dies auch in der biblisch inaugurierten, rhetorisch ausgebauten Tradition eines verweisenden, pluralen Schriftsinns nahegelegt wurde, sie ist zunächst und eigentlich das, was Autorschaft begründet und zugänglich macht. Erst die ,Moderne' wird diesem Sachverhalt poetologisch kalkuliert Rechnung tragen, was nicht heißt, daß es keine Vorläufer einer überzeugten oder auch nur unbewußten Hingabe an die Textgestalt selbst zuvor gegeben hat. Der hermeneutische Tausch der Textoberfläche in einen tiefenstrukturellen Sinn umgeht das durch Befremdung gekennzeichnete Erleben aller Autorschaft in der Präsenz ihres Mediums. Die Artikulation stellt sich als eine grundsätzliche Alterität dar, gegenüber der eine Einstellung und Einschätzung gefunden werden muß, weil sie dazu herausfordert. Die Sprache ist nicht die eigene, sondern eine fremde, deren Vereinbarkeit im Horizont einer durch sie erbrachten und garantierten Repräsentanz jeweils rezeptiv zu prüfen ist. Dort aber, wo im zunehmenden Subjektivierungsprozeß keine „allgemeine Grammatik" mehr gilt, Sprache sich „nach multiplen Seinsweisen" auffächert, so daß „deren Ein28
Vgl. die Ableitung der Bezeichnung ,Autor' von lat. αuctor ,Förderer', das seinerseits wie auctoritas fordernder Einfluß' eine Nominalableitung von augere ,etwas entstehen lassen' ist, woraus sich wiederum Autorität entwickelt. Vgl. dazu auch Heinze 1925, 348ff. 29 Vgl. dazu auch Gadamer (1965, 369), der allerdings aus diesem Sachverhalt den Übertritt in „eine Sphäre des Sinnes" ableitet. so Vgl. Gadamer 1965, 370. 31 Vgl. Man 1988, 55; auf Rilke und die Oberflächenstruktur der Texte bezogen.
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heit ohne Zweifel nicht wiederhergestellt werden" kann 32 , dort profiliert sich auktorialer Auftrittsanspruch. Jene „Fraktionierung der Sprache", von der Michel Foucault als „Folge des Bruchs der klassischen Ordnung" im 18. Jahrhundert spricht und die für ihn „das Verschwinden des Diskurses" im Prozeß sprachlicher „Dispersion" einleitete 33 , ist zum einen als großer darstellerischer Entwicklungsschritt im Prozeß der ,Moderne' festzuhalten, wenn auch nicht unkritisch hinzunehmen, zum anderen akzentuiert er nur, was schon immer trotz der gegenläufigen Errichtung von sprachlicher Tradition im sich wandelnden Texthandeln als gefährliches Potential wirksam war. Die Auffassungs- und Funktionsgeschichte der Metapher veranschaulicht die mentale Dimension dieses Vorgangs, an dem sich Autorschaft abarbeitet und zugleich erweist. Die rhetorische Textpraxis begründete ihre metaphorischen Differenzierungen aus einer topischen Denk- und Ausdrucksstruktur, die sich am Prinzip der Ähnlichkeit orientierte 34 . Die Interpretation der Texte wie der Welt folgte einem analogischen Muster, das Erfahrung wie Darstellung als eine weiträumig angelegte und erweiterbare Vielfalt von Affinitäten begriff. Der Staat war ein Schiff, das Leben ein Theater oder ein Spiegel, und die Erde wiederholte den Himmel. Alles lag in den essentiellen Modi von convenentia, aemulatio, Analogie oder Sympathie einander nahe. Der auktoriale Beschreibungszugriff entschied darüber, wie zu ordnen und zu denken war. Der analogisierende Text erlaubte die Bannung des Fremden, das so heimisch und vertraut zu machen war. Die Ähnlichkeit zu finden macht in einem sehr umfassenden Sinne Autorschaft im Aktionskreise von Handeln und Wissen aus. Ihr fällt es zu, die „Signaturen" zu lesen 35 , die hieroglyphisch verschlüsselt, aber dennoch sichtbar die Dinge an sich tragen, um einander als Verwandtes zugeordnet zu werden. Der ,Schrift der Welt' entspricht aber auch eine der Wörter und Bücher, deren Verweise zu lesen und möglicherweise dann auch in Darstellung zu überführen sind 36 . Aber selbst wenn eine explizite Ausdrucksebene nicht erreicht oder gewählt wird, so ändert dies nichts an der auktorialen Herrschaft über die Zeichen der Welt wie der Sprache und Schrift. Sie bleibt ein Grundmuster der Entbindung von Bewußtsein und Text. In den rhetorischen Ähnlichkeitsräumen bewegt sich die weitere metaphorische Praxis nicht mehr. Die topologische Zusammenfügung von an sich Disparatem wird ersetzt durch einen kontextuellen Organisationsrahmen 37 . Die assoziative Engführung von Erlebnisinhalten, soweit sie in einem syntagma32 Vgl. 33 Vgl. 34 Vgl. 35 Vgl. 36 Vgl. 37 Vgl.
Foucault 1971, 369. alle Belege Foucault 1971, 371. dazu und zum folgenden Foucault 1971, 46ff. Foucault (1974, 56 ff.) zur Signaturenlehre. zu Beispielen des 16. Jahrhunderts Kleinschmidt 1993. zum Wandel Haverkamp 1983, 18f.
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tischen Ablauf aufscheint, bestimmt die gestalterische Freiheit der Aussage. Für die metaphorische Varianz bedeutete dies Einbindung in eine „Signifikantenkette" historisch wie biographisch sedimentierter Zusammenhänge von Geschichte und Geschichten 38 . Autorschaft entbindet in dieser Funktionssicht keine auffächerbare Topologie, sondern sie setzt eine sprachlich vorgefundene und dadurch bestimmte Tradition einer Flexibilisierung aus. Der Spielraum der sprachlichen Variabilität bemißt sich an der Verfügbarkeit von Paradigmen, so daß sich der auktoriale Gestus zwischen Verfügungswissen und dessen zuordnender Erweiterung ereignet. Der kreative Sprachakt konkretisiert sich in der Folge als kognitives Instrument. Die Findung von Ausdruck markiert die Grenzen des Denkens: „In der Sprache wird alles ausgetragen", wie Wittgenstein notiert 3 9 , weil allein ein dem „sprachliche(n) Wesen" verpflichtetes Ereignisgeschehen ,Text' das Denkbare markiert 40 . In dem Maße wie Autorschaft die „freye Notwendigkeit" einer „Selbstbestimmung" des „Bezeichnenden" 41 sucht und Sprache verfügbar macht, bemächtigt sie sich nicht nur der Welt, sondern ihre Welt ist für die Erkenntnis nur insoweit reflektierbar, wie sie in Texten aufscheint. Metonymische Verfahren beeinflussen, weil sie sich auf die Begrifflichkeit auswirken, die ,Lesbarkeit' der Welt. Von diesem Ansatz her will Autorschaft nicht mehr nur die Zeichen lesen, die Dinge wie Wörter tragen und die zur Evidenz zu bringen sind. Die auktoriale Leistung besteht vielmehr darin, über den Gewinn von Sprache Lektüren herzustellen und zu begründen. Die Darstellung setzt so eine Bewegung von Bedeutung in Gang, deren intellektuelle Grundlage keine abzubildende Wirklichkeit, sondern die Sprache selbst ist. In ihrer Aktivierung und dem damit gegebenen ,Verfremdungspotential' werden Konfigurationen bereitgestellt, die Texte als bewußte Erzeugung von Differenz erscheinen lassen. Sprache wird zum grundsätzlich Anderen, das ein Bezeichnetes und Gemeintes zwar umschreibt, es zugleich aber dadurch nicht wirklich werden läßt. Das eigentlich vom Text Erfaßte tritt stets gegenüber der Präsenz des Ausdrucks zurück ins Dunkel einer Verrätselung. Die ,Spur' 42 verschwindet unter ihren sprachlichen Realisationen, die vielfältig zu lesende Spielarten sind, ohne daß sie preisgäben, was als gültig anzuerkennen wäre. Die hermeneutische Suche nach dem ,Sinn', der erstrebte Gewinn eines verbindlichen, gemeinsamen Sprachhorizonts, der auktoriale Intention und Lektüre in einem gemeinsamen Wissen vereinte, nimmt diese sprachkonstellative Beunruhigung im Grunde auf. Ihr Rechnung zu tragen, ist sie nur insofern bereit, 38 Vgl. Haverkamp 1983, 19. 39 Vgl. Wittgenstein 1974, 143. 40 Vgl. Adorno (1966, 61) und „Rhetorik vertritt in Philosophie, was anders als in der Sprache nicht gedacht werden kann." (Wittgenstein 1974, 143). Vgl. Novalis, Fichte-Studien, in: Novalis 1965, Bd. 2, 14. 42 Zum Begriff vgl. Derrida (1974, 122ff.), der ihn seinerseits von Heidegger entlehnt.
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als sie darauf drängt, das textliche Verhüllungsmoment zu tilgen und kohärente Eindeutigkeit wie Gewißheit herzustellen, wo sie letztlich nicht zu gewinnen sind. Die hermeneutische Verknüpfung reduziert indes jenes Fremdheits- und Neuerungspotential, das jede Textartikulation birgt, bevor sie wieder in die Einheit des schon Geläufigen übertritt, von der Autorschaft sich gerade mit einer sprachimmanenten Tendenz zur eigenen Emanation abzusetzen sucht. Was als Uberschuß an Bedeutung dem literarischen Text vor allem zugesprochen wird, weil er syntagmatische wie semantische Konventionen aufbricht und narrativ wie diskursiv zu ,verfremdenden' Ausdrucksformen neigt, läßt sich als Indiz einer grundständigen Spreizung des sprachlichen Mediums konkretisieren. Die Beweglichkeit des sprachlichen Materials, die darin besteht, daß jede gesetzte oder auch angenommene Bedeutung notwendig auf eine andere Bedeutung verweist 43 , eröffnet zum einen Möglichkeiten für eine aussparende, umkreisende Signifikation, die Festlegungen offenhält. Zum anderen stellt sich dadurch die Unscharfe aller Bezeichnungsversuche heraus. Das wie auch immer Gemeinte deckt sich nicht mit der dafür eingesetzten sprachlichen Realisation, die assoziative Sinnfluchten, wenn nicht wie in der ,Moderne' sogar eine reine Sprachpräsenz ohne Vorstellung („en face" 4 4 ) in Gang setzt. Texte erweisen sich als zerbrechliche Markierungen, was autoren- wie nutzerseitig über beanspruchte und eingesetzte Muster von Praxis und Erfahrung ausgeglichen, wenn nicht überspielt wird, u m Kernfelder eines repräsentierten Sinns zu sichern. Der dabei üblichen, beiderseitigen Annahme eines topologischen Substrats, um sich der Kontiguität signifikanter Ketten zu versichern, unterstellt eine Konsistenz der Bedeutung, die faktisch nicht existiert. Die Ökonomie dieser Anschauung zielt auf den pragmatischen Gewinn grober kommunikativer Schnittflächen, der es erlaubt, die Sinngebung als reduktiven Prozeß zu betreiben, obwohl die Aussagespielräume des Textangebots strukturell stets überschießen. Die Alltagskommunikation kann davon absehen, weil sie sich in der Regel an Kernbereichen der Bedeutungsfixierung und nicht an den Verweisungsmöglichkeiten der Sprachstruktur orientiert. Anders verhält sich die Situation für den poetischen Text als zumindest modifizierte, wenn nicht deformierte oder gar unausgeführte Außerungsform. Ihre buchstäbliche' Wahrnehmung schließt Befremden, wenn nicht Verstörung darüber ein, daß eine gewohnte oder zumindest unterstellte Sicherheit des Verstehens nicht mehr gegeben ist. Die Immanenz des im Text gebotenen Bedeutungspotentials bedroht die von ihm sprachmateriell suggerierte Evidenz. Dies wird zunächst als durchaus fruchtbare Spannung, als eine auktoriale Offerte empfunden, deren Intentionen nicht von vorneherein zu durchschauen 43
Vgl. Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud (in: Haverkamp, Anselm 1983, 180) bzw. Lacan 1966, 498: „[...] qu'il n'est aucune signification qui se soutienne sinon du renvoi ä une autre signification." ** Vgl. Kristeva 1978, 184.
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sind. Die sinnkonstitutive Öffnung mit ihren ,Verdichtungen' und Verschiebungen', wenn nicht gar ,Entstellungen' 45 erscheint als eine Art Rätselspiel, das sich klaren Lösungen mehr oder minder entzieht, zugleich aber dadurch den Impuls zur klärenden, explikativen Transposition des Angebots im Lektüreakt einbringt. Diese kann sich auf einfache, phänomenologische Feststellungen beschränken, die Art und Umfang lediglich nachzeichnet und dadurch affirmativ bestätigt. Techniken der Nacherzählung, aber auch identifikatorisches Einlassen auf hochkomplexe Lyrik repräsentieren diese unterste Zugangsebene. Um sie zu überwinden, bedarf es der Entwicklung analytischer Regeln. Sie lösen den Text dadurch auf, daß sie dessen Ausdrucksmuster durch neue Bedeutungssetzungen überformen und damit seine Signifikantenketten zu Signifikaten machen, für die es wiederum Signifikanten zu finden gilt. Diese Uberleitung des Signifikanten ins Signifizierte bringt ein wahrnehmendes, denkendes und gestaltendes Subjekt ins Spiel, dessen Bedingtheit den Status von Autorschaft markiert. Die philosophische und ihr folgend die psychologische Erörterung hat sich die Frage gestellt, inwieweit das Ich angemessen über sich selbst sprechen kann und ob dies Sprechen den Status des Ich verändert. Die sprachliche Objektivation des Subjekts erweist sich traditionell als Moment der Selbstversicherung, des Identitätsgewinns, doch setzt dies voraus, daß im Ausdrucksakt eine Abwesenheit der realen Subjektpräsenz stattfindet. Der Text ebnet die formale Trennungslinie zwischen Subjekt und Objekt ein, weil sich beide nur als Teil einer Zeichenfolge wiederfinden. Als Reflex dieses Zustandes könnte man die ältere, von Aristoteles eingeführte Auffassung vom Subjekt als eines hypokeimenon/subiectum ansehen, das eine Trägerschaft, eine Substanz von Zuständen begrifflich bezeichnet und insofern einem durch Tätigkeit betroffenen Objektstatus annähert. Ein aktiv definierter Subjektstatus wird so vermieden. In die sprachliche Szenerie übertragen, ergäbe sich für das personale Ich daraus ein dort gegebener Substratmodus innerhalb des metonymischen Prozesses. Dessen aktive Beherrschung durch ein auktoriales Subjekt erwiese sich konsequent durchdacht dann nur selbst wieder als eine phantasmatische Annahme. Sie erscheint als anziehende Denkfigur, der aber keine sprachliche Realität entspricht. Das formulierende Subjekt erfaßt sich selbst sprachlich nicht anders als die es umgebende Objektwelt. Im Unterschied zu Wahrnehmung und Bewußtsein, die allein der Subjektsphäre zufallen, vermag sich das auktoriale Ich nicht gegenüber der Sprache abzugrenzen, weil es erst durch ihre Aktualisierung überhaupt entsteht. Die projektive Begründung der Autorschaft hat demgegenüber zwar versucht, den Gewinn von Sprache idolisiert an ein vorgängiges, personales Urhebertum zu binden und damit eine umgekehrte Abhängigkeit zu 45
Alle drei Begriffe, die darstellerische Verfahrensweisen in einer homologen Funktion gut veranschaulichen, sind ohne die spezifischen Implikate Sigmund Freuds seiner ,Traumdeutung' von 1898 (hier 1942) entnommen.
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begründen, doch überspielt dieser Ansatz die parallele Darstellungswertigkeit von subjektivem wie objektivem Dasein. Beides wird in gleicher Weise grammatikalisch' transformiert. Was sie unterscheidet, sind abweichende Mittel der Repräsentation, der sie verfremdenden ,Wortbilder', die sich aber wiederum übergeordnet betrachtet in einem thematischen Konnexionstypus Subjekt/Objekt zusammenfinden. Sprachsystem wie Sprachpraxis verfügen über ein geregeltes Beziehungsrepertoire, das sowohl die Aktionen der Subjekte wie den Seinsstatus der Objekte erfaßt, ohne daß jeweils ganz neue, individuelle Projektionsformen gefunden werden müßten. Der auktoriale Spielraum liegt nicht in der grundsätzlichen Konturierung der Subjektdarstellung, sondern in der Inszenierung eines spezifischen Ereignisses Sprache. Der sprachliche Ereignischarakter markiert jenen Treffpunkt zwischen aktiven und passiven Gegebenheiten, zwischen S u b j e k t - und Objektsphäre. Hinter ihm steht durchaus eine Wirklichkeit, die es motivierend beeinflußt und die doch zugleich in ihm zum Stillstand kommt. Das Textereignis erscheint deshalb als Wirkung, als Effekt, denen nicht unbedingt eine kausale, sie zwingend auslösende Ursache zugrunde liegt, wohl aber eine Disposition, ein ,poietisches' Kraftfeld. Ob dieses Feld in der psychischen Spannung der Leiblichkeit entsteht oder ob es wie in den Offenbarungsreligionen als transzendentes, sprachgenerierendes Prinzip gedacht wurde oder ob es nur wie in der mythischen Kodierung die Musen sind, die die Sänger lehren und über alles Bescheid wissen 46 , stets umschreiben die archaischen wie die modernen Kodierungen den gleichen Sachverhalt eines sprachlichen Ereignisfeldes. Es unterscheidet sich vom psychisch Gelebten ebenso wie von spekulativen Abstraktionen und den Qualitäten der Dingwelt, die es doch aufnimmt und bündelt. Die durch Sprache konstituierten Texte sind ideelle Oberflächen, die, als manifeste Wirkung eingestuft, innere Vorgänge des Subjekts wie äußere Umweltfaktoren zusammenführen. Sie sind damit einem doppelten Einfluß unterworfen. Das Textereignis verweist zum einen auf äußere und innere Ursachen, die von der sprachlichen Fassade verfremdet werden, aber auch von ihr aus zu rekonstruieren sind. Der indikatorische Charakter gilt indes nur bedingt, weil nicht alle evidenten Elemente der sprachlichen Gestaltung einer subjektgebundenen wie objektbezogenen Hintergrundsdisposition unmittelbar verpflichtet sind. Intertextuelle Verflechtungen verweisen darauf, daß im einzelnen Textereignis Vorlagen aufgenommen werden, deren Herkunft nicht einem primären, ursächlichen Einfluß unterliegt. Dies verkompliziert die Lage, da die Gewißheit des Textumgangs, ob eine direkte oder nur eine mittelbare Repräsentation anzusetzen ist, schwindet. Was verunsichernd wirkt, erschließt zugleich ein Zusatzpotential, machen doch die intertextuell übernommenen Ereigniswelten eine simulative Verfremdungsprä« Vgl. Odyssee 8, 480f. bzw. Ilias 2, 484 f.
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senz zugänglich. Die Selbstläufigkeit des Ausdrucksmediums, das sich schon eingelöster Darstellungsformen versichert, garantiert, daß im projektiven Kraftfeld der Texte sich nicht nur ein individuell beschränkter Sprachmodus allein artikuliert. Die subjektiven Maskierungen wie die zugehörigen Aufnahmereflexe auf Einflüsse der äußeren Welt unterliegen keiner souveränen auktorialen Entscheidung. Autorschaft tritt stets in eine „Regression des Vorausgesetzten" ein, was sich als „die unbeschränkte Macht der Sprache" erweist, „über die Worte zu sprechen" 4 7 . Der sinnsetzende Ausdrucksakt ist umhüllt von längst vorgegebenen Bedeutungsritualen anderer Texte und des sie produzierenden Sprachsystems. Trotz dieser Beschränkung der auktorialen Verfügung, die sich an die überschichtende Kontinuität einer stets weiterlaufenden Sprache ausgeliefert sieht, bedeutet die Fixierung von Wörtern und Sätzen zu Texten eine markante Unterbrechung, einen Stillstand. Obwohl Texte Teile eines unendlichen Prozesses steter Umformulierung sind, entsteht im Akt ihrer Abfassung ein nicht mehr veränderbarer konstellativer Textraum, der allein für sich existiert und aus dieser Abgeschlossenheit nur noch dadurch herausgeholt werden kann, daß er selbst wieder zur Grundlage von neuen Aussagekonstellationen wird. Autorschaft behauptet sich deshalb weniger im reinen Gewinn von Differenz, die sich angesichts eines sprachlichen Kontinuums ohnehin als nur begrenzt wirksam erweist. Sie entsteht im Akt einer mortifikatorischen, endgültigen Stillegung. Die Unendlichkeit möglicher Sätze und Texte wird in die reine Gegenwärtigkeit eines D a - und So-Seins überführt, das die Potentialität schöpferischen Handelns, die Offenheit aller Entwürfe in der einen Formierung beendigt. Der Bewegungscharakter der Sprache, die vielfältigsten Anforderungen und Situationen folgt, erhält sein Gegengewicht in der Unausweichlichkeit der Fixierungen. Man kann, der poetologischen Überhöhung Maurice Blanchots folgend, die Sprache so als „das Leben" ansehen, „das den Tod erträgt und in ihm sich erhält." 4 8 Literatur Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt/M. Blanchot, Maurice (1982): Die Literatur und das Recht auf den Tod. Berlin. Bosse, Heinrich (1981): Autorschaft ist Werkherrschaft. Uber die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn [usw.]. Derrida, Jacques (1974): Grammatologie. Frankfurt/M. Descartes, Rene (1957): Abhandlung über die Methode. Hg. von A. Buchenau. Hamburg. Deleuze, Gilles (1969): Difference et repetition. Paris. Deleuze, Gilles (1992): Differenz und Wiederholung. München. 47 48
Vgl. dazu (im Zusammenhang einer paradoxalen ,Sinn'-Debatte) Deleuze 1993, 48. Vgl. Blanchot 1982, 116f.: „Mais le langage est la vie qui forte Ια mort et se maintient en eile."
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Deleuze, Gilles (1993): Logik des Sinns. Frankfurt/M. Fichte, Johann Gottlieb (1971): Sämtliche Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. Bd. 1-8. Berlin [Nachdruck der Ausgabe Berlin 1845-1846]. Foucault, Michel (1971): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M. Foucault, Michel (1974): Die Ordnung des Diskurses. München. Freud, Sigmund (1942): Traumdeutung. In: Ders.: Gesammelte Werke chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud u. a. Bd. 2-3. London. Gadamer, Hans Georg (1965): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 2.Aufl. Tübingen. Goethe, Johann Wolfgang (1963): Dichtung und Wahrheit. In: Ders., Werke [Hamburger Ausgabe], Bd. 10. Hamburg. Hansen-Löve, Aage A. (1978): Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien. Haverkamp, Anselm (Hg.) (1983): Theorie der Metapher. Darmstadt. Haverkamp, Anselm/Lachmann, Renate (Hgg.) (1993): Memoria. Vergessen und Erinnern. München. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Phänomenologie des Geistes. In: Ders.: Werke. Hg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt/M. Heinze, Richard (1925): Auctoritas. In: Hermes 60, 348-366. Hocke, Gustav Rene (1959): Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst. Hamburg. Kleinschmidt, Erich (1993): Die Metaphorisierung der Welt. Sinn und Sprache bei Fransois Rabelais und Johann Fischart. In: Harms, Wolfgang/Valentin, JeanMarie (Hgg.): Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit. Amsterdam, 37-57. Kristeva, Julia (1978): Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt/M. Lacan, Jacques (1966): Ecrits. Paris. Lausberg, Heinrich (1960): Handbuch der literarischen Rhetorik. Bd. 1-2. München. Man, Paul de (1988): Allegorien des Lesens. Frankfurt/M. Novalis (1965): Schriften. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Bd. 2. 2.Aufl. Stuttgart. Schlegel, Friedrich (1963): Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler u.a. Bd. 18. Darmstadt. Steger, Hugo (1967): Zwischen Sprache und Literatur. Göttingen. Weinrich, Harald (1991): Gedächtniskultur - Kulturgedächtnis. In: Merkur 45, 569-582. Wittgenstein, Ludwig (1984): Philosophische Grammatik. Frankfurt/M. Yates, Frances (1984): The Art of Memory. London. Yates, Frances (1991): Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt/M. Young, Edward (1977): Gedanken über die Original-Werke (aus dem Englischen von Η. E. v. Teubern). Hg. von Gerhard Sauder. Heidelberg.
G Ü N T E R S A S S E , Freiburg i. B r .
Aufrichtigkeit: Von der empfindsamen Programmatik, ihrem Kommunikationsideal, ihrer apologetischen Abgrenzung und ihrer Aporie, dargestellt an Gellerts Zärtlichen Schwestern
1. Die rigide Ausgrenzung des Heuchlers aus der kleinen Gemeinschaft der Tugendhaften Gellerts Drama Die zärtlichen Schwestern (1747) - Prototyp des rührenden Lustspiels in Deutschland - entfaltet in szenischer Darstellung all das, was das sozialethische Programm der Empfindsamkeit 1 an vorbildlichen Verhaltensweisen propagiert. In seinen posthum erschienenen Moralischen Vorlesungen (1770) 2 hat Geliert dieses Programm breitenwirksam vermittelt 3 . Mit Nachdruck zeichnet er dort das Bild einer kleinen Gemeinschaft, die von Wohlwollen und Offenheit bestimmt ist, in der jeder immer nur das Beste für den anderen will und sich am meisten über die Freude des Gegenübers freut. Seine Rührkomödie Die zärtlichen Schwestern fungiert ganz offensichtlich als veranschaulichendes Ubermittlungsmedium dieser empfindsamen Freundschaftsideologie, um Dem, der nicht viel Verstand besitzt, Die Wahrheit, durch ein Bild, zu sagen.4 Schon der Titel des Gellertschen Dramas signalisiert, worum es im Dramengeschehen geht: um die Darstellung von zwei weiblichen Familienangehörigen, die auf vorbildliche Weise das erfüllen, was ihnen die empfindsame Liebesdoktrin der Zeit auferlegt. Sie lieben zärtlich, und das heißt: Von einer Leidenschaft, die rückhaltlos auf Erfüllung drängt, wissen sie nichts, auch nichts von einer Liebe, die allein den Geliebten ins Zentrum des Fühlens stellt und so eine Empfindungswelt stiftet, vor der alles andere zweitrangig wird. Gegen die Unbedingtheit einer Zweisamkeit, die die Individualität aufsprengt zur verabsolutierten Liebestotalität, in der sich die Liebenden in gesteigerter Form neu erfahren, steht bei ihnen die Bedingtheit der kleinen Gefühlsgemeinschaft, in der sich die einzelnen Tugendhaften zum Bund der Gesinnungsfreunde zusammenschließen. Ihre Liebe grenzt nicht ab, sondern stiftet ι Zu Einzelheiten siehe Sauder 1974 u. 1980, Meyer-Krentler 1984, Wegmann 1988. 2 Geliert 1992. 3 Siehe dazu Wolff 1949, 178ff. 4 So lauten die Schlußzeilen seiner Fabel Die Biene und die Henne; in: Geliert 1966, 52f.
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eine Nahwelt Gleichgesinnter und Gleichgestimmter, die alle die einschließt, welche die Gebote tugendhafter Empfindsamkeit erfüllen. So ist ihre zärtliche Liebe zuerst Medium der Vergemeinschaftung, Integrationsinstanz für Menschen, die im anderen nicht den Konkurrenten sehen, den es zu überwinden gilt, sondern den Mitmenschen, dessen Glück Quelle eigenen Glücks ist. Zwar wird dabei zwischen Familienliebe, Geschlechterliebe und Freundschaft ein gewisser Unterschied gemacht, doch das Selbstverständnis der empfindsamen Menschen beruht auf der Gemeinsamkeit ihres von Wohlwollen, Selbstlosigkeit, Aufrichtigkeit und Mitempfinden geprägten kleinen Kreises. Dessen Mitglieder entfalten nicht in Differenz zueinander ihre Individualität, sondern stiften ihre gemeinsame Identität als Gesinnungsgemeinschaft in Abgrenzung gegen die öffentlichen Sphären von Politik und Kommerz. In dieser Gemeinschaft zählen nicht taktische Klugheit und rechenhafte Vernünftigkeit, nicht der Kampf um Prestige- und Marktchancen, hingegen all die Werte einer von Empathie getragenen Zwischenmenschlichkeit, die den Egoismus des Eigennutzes zugunsten eines reflexiven Empfindens auflöst, das sich über das Mitempfinden mit dem Empfinden des Nächsten entfaltet 5 . Vor diesem Hintergrund mag die Vermutung entstehen, Geliert habe alle Mühe, in seinem Drama die Statik wechselseitiger Zuwendungen in die Dynamik eines dramatischen Geschehens zu überführen, das mehr ist als nur Ermöglichungsgrund von Tugenddemonstrationen. Zwei Probleme baut er auf, um der Situation familialer Zufriedenheit Handlungsimpulse zu verleihen. Zu Beginn des Dramas ist der Übergang der Schwestern Julchen und Lottchen aus der Herkunftsfamilie in die zu gründenden Zeugungsfamilien blockiert. Bei dem Brautpaar Siegmund und Lottchen fehlt das Geld: unabdingbare materielle Voraussetzung für die Heirat; und bei dem Brautpaar Damis und Julchen die von ihr offen eingestandene Liebe: unabdingbare emotionelle Voraussetzung für die Heirat. Der dramatische Verlauf des Geschehens zeigt, wie die beiden Heiratsblockaden allerlei Verwicklungen produzieren - gemäß der empfindsamen Dramaturgie, deren thematisches Zentrum Geliert in seiner Antrittsvorlesung darstellt als eine angenehm unruhige Liebe, welche zwar in verschiedene Hindernisse und Beschwerlichkeiten verwickelt wird, die sie entweder vermehren oder schwächen, die aber alle glücklich überstiegen werden, und einen Ausgang gewinnen, welcher, wenn auch nicht für alle Personen des Stücks angenehm, doch dem Wunsche der Zuschauer gemäß zu seyn pflegt. (Geliert 1890, 36) So werden sowohl die psychische Blockade emotionaler Selbsttäuschung, die Julchens Hochzeit verhinderte, weil sie zunächst sich und den anderen ihre Liebe zu Damis nicht einzugestehen vermochte, als auch die materielle Blockade, die Lottchens Heirat seit längerer Zeit aufschob, da Siegmund unverschul5
Zur Kritik dieses vermittelten Empfindens als Manifestation des „egoistischen Triebs des empfindsamen Menschen" siehe Pikulik 1966, 88-91; zur Kritik an dieser Kritik siehe Sauder 1974, 170-172.
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det in Not geriet, überwunden. In Übereinstimmung mit Zügen aus Marivaux' Spiel von Liebe und Zufall wird Julchen mit den Mitteln einer Intrige, die ihre Eifersucht provozieren, dazu gebracht, ihre Liebe zu Damis zu bekennen, und in einer komplizierten Erbschaftsangelegenheit, in der zunächst Julchen die Erbin zu sein scheint - für Lottchen die beste Gelegenheit, ihre Selbstlosigkeit zu demonstrieren 6 - , wird diese zur Erbin eines Rittergutes. Der Doppelhochzeit stünde eigentlich nichts mehr im Wege; die materiellen und emotionellen Ehehindernisse sind beseitigt, Liebe und Geld sichern den Doppelcharakter der Ehe, die im Vorstellungshorizont der Zeit zugleich Liebesgemeinschaft und gesellschaftliche Institution ist. Diese Fügung erfüllt den Wunschtraum des Vaters Cleon: Der Himmel hat es wohl gemacht. Julchen kriegt einen reichen und wackern Mann, weil sie wenig hat. Und du [d. i. Lottchen], weil du viel hast, machst einen armen Mann glücklich. Das ist schön. (ΠΙ/19, 260)7 Doch so schön, wie es die poetische Gerechtigkeit will, darf das Drama - schon aus wirkungsästhetischen Gründen - nicht ausgehen. Denn dann gäbe es beim Zuschauer keine „Tränen der Rührung", auf die es Geliert als Ausweis sittlichempfindsamer Erbauung ankommt 8 . So ereignet sich zwischenzeitlich ein gravierender Vorfall, der - gegen die intendierte Botschaft des Stückes - das empfindsame Tugendkonzept in seiner Widersprüchlichkeit auf markante Weise profiliert. Für kurze Zeit weicht Siegmund vom Pfad der Tugend ab, weil er irrtümlich glaubt, Julchen sei Erbin eines Rittergutes geworden, und spielt mit dem Gedanken, sie anstelle des vermeintlich armen Lottchens zu heiraten. Zu deren Glück und zur Belehrung der Zuschauer wird er durchschaut. Die anderen können sein Selbstgespräch belauschen, in dem er mit sich wegen seiner Untreue hadert (siehe III/8, 247); nur so kommt man ihm auf die Schliche. Anders wäre seine Untreue auch nicht zu entdecken gewesen. Denn als er erfahren muß, daß Julchen tatsächlich Damis liebt, läßt er sofort von seinem intriganten Plan ab und kehrt auf den Pfad der zärtlichen Liebe zurück. Noch bevor er erfahren hat, daß Lottchen die tatsächliche Erbin ist, wendet er sich der vermeintlich Mittellosen wieder zu und besteht die Probe auf tugendhafte Uneigennützigkeit glänzend. Trotzdem wird er als Heiratskandidat bedingungslos abgewiesen, da er zwischenzeitlich materielle Gesichtspunkte zum Kriterium seiner Partnerwahl machte und damit die Doktrin empfindsamer Liebesheirat grundlegend 6 7
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Zum Geld als Prüfstein der Tugend siehe Altenhein 1952, bes. 85-99. Die in runden Klammern angegebenen Stellenangaben beziehen sich auf: Geliert: Die zärtlichen Schwestern. In: Geliert 1988, 195-261. Zu den „Tränen der Rührung" als dem Wirkzweck der Rührkomödie heißt es bei Geliert: „Diejenigen wenigstens, welche Komödien schreiben wollen, werden nicht übel thun, wenn sie sich unter andern auch darauf befleißigen, daß ihre Stücke eine stärkere Empfindung der Menschlichkeit erregen, welche so gar mit Thränen, den Zeugen der Rührung, begleitet wird." (1890, 48).
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verletzt h a t . In einer Schärfe, die in dem (Euvre Gellerts nicht ihresgleichen hat - und die dieser in den späteren Auflagen seines Stückes dann auch abschwächt - , spricht Damis das Urteil, das keine Milderungsgründe gelten läßt: Es habe ihn [d. i. Siegmund], was auch immer wolle, zur Untreue bewogen: so ist er in meinen Augen doch allemal weniger zu entschuldigen, als ein Mensch, der den andern aus Hunger auf der Straße umbringt. Hat ihn die ausnehmende Zärtlichkeit, die ganz bezaubernde Unschuld, die edelste Freundschaft Ihrer Jungfer Schwester nicht treu und tugendhaft erhalten können: so muß es ihm nunmehr leicht seyn, um eines Gewinnstes willen seinen nächsten Blutsfreund umzubringen, und die Religion der geringsten Wollust wegen abzuschwören. [... ] Ich habe in meinem Leben noch kein Thier gern umgebracht; aber diesen Mann, wenn er es läugnen, und Lottchen durch seine Verstellung unglücklich machen sollte, wollte ich mit Freuden umbringen. (III/9, 248 f.) Im Namen einer Moral, nach der auch die verborgenste Gesinnung, die nicht einmal zur Tat gelangt, vollkommen lauter zu sein hat, bricht Damis über Siegm u n d den Stab - durchaus mit Zustimmung der zeitgenössischen Rezensenten, denen die Reaktion keineswegs überzogen vorkam 9 . Auch wenn sich Lottchen zunächst sträubt, der Heirat mit Siegmund zu entsagen - a m Ende sieht auch sie ein, daß einer, der sich wegen materieller G ü t e r verstellt, im Kreis der Empfindsamen nichts zu suchen h a t . Und so wird er, ohne daß er sich rechtfertigen darf, als ein „Unmensch" (III/9, 249) aus dem Haus und damit aus der Welt der aufrecht Fühlenden verwiesen - zur Warnung für die Zuschauer und zu deren Rührung über das Schicksal Lottchens, die in ihrer zärtlichen Liebe hintergangen wurde - aber auch zum Erstaunen eines (heutigen) Rezipienten, der sich fragt, warum der doch sonst so timide Geliert seine Dramenpersonen auf den verdeckten Versuch Siegmunds, die Braut zu wechseln, so harsch reagieren läßt. Sagt der von Damis imaginierte Exzeß nicht etwas über die Fragilität einer Gemeinschaftskonzeption aus, die sich im dramatischen Verlauf nach innen durch allerlei Proben zu beweisen hat und sich nach außen hin als Gewaltdrohung gegen denjenigen manifestiert, der ihren Geboten der Selbstlosigkeit und Aufrichtigkeit nicht vollständig folgt? Sind nicht P r ü f u n g und Aggression Ausdruck der Labilität der ,ideologischen' F u n d a m e n t e einer durch Aufrichtigkeit sich definierenden Gemeinschaftskonzeption? 2. Aufrichtigkeit
als zentraler Wert empfindsamer Programmatik
W a r u m einer, der nur für einen Augenblick materiellen Gesichtspunkten bei der Wahl der Ehefrau nachgibt und dies verbirgt, so nachdrücklich ausgegrenzt wird, läßt sich nur klären, wenn m a n die zeitgenössische Doktrin der
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Siehe dazu die „Materialien zur zeitgenössischen Rezeption", abgedruckt in: Geliert 1988, 410-414.
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Aufrichtigkeit näher betrachtet, die in der Abweisung Siegmunds ihre Geltung unter Beweis stellt, im rigiden Vollzug der Abweisung aber zugleich auf das ihr inhärente Problem verweist, dem sie sich durch Abweisung zu entziehen sucht. Daß das Gebot der Aufrichtigkeit im Kosmos der empfindsamen Gemeinschaft einen hohen Stellenwert hat, macht Gellerts D r a m a von Anfang an nachdrücklich klar. Nicht weniger als 34mal kommen allein Ausdrücke aus dem Wortfeld Aufrichtigkeit vor, dazu gesellen sich Synonyme wie das ,,ganze[s] Herz sehen lassen" (1/4, 204), die „Herzensmeynung [ . . . ] verrathen" (1/10, 212), „Ich erfreue mich recht von Herzen" (II/8, 226), „Ich habe dir mein Herz entdeckt" (11/21, 239), die „Regungen meiner Seele ohne Decke [ . . . ] sehen" (III/6, 245), „Rede offenherzig" ( I I / l , 218), „Reden Sie frey" (HI/14, 254) u. m. Hinzu kommen die zahlreichen Antonyme: „Schmeicheley" (1/1, 199 u. 2mal II/2, 220), „Betrug" (1/4, 204), „Rolle" (1/4, 204; 11/11, 229; III/3, 242), „Verstellung" (1/7, 207; 11/11, 229; III/9, 248 u. 249), „Geheimniß" (1/11, 214; II/3, 221; 11/11, 228; III/3, 242), „Verräther" ( I I I / l , 240; HI/16, 256), „verbergen" (1/12, 215), „verschweigen" ( I I I / l , 240), „läugnen" ( I I I / l , 240), „rechte Hofsprache" (1/6, 207), „eine fremde Person [ . . . ] annehmen" ( I I / l l , 229), „unter der Maske der Liebe und Aufrichtigkeit hintergeh[en]" ( I I I / l , 240), „ein böses Herz bey der Mine der Aufrichtigkeit" (III/9, 248) usw. Die insistierende Verwendung des Wortfeldes Aufrichtigkeit in positiven und negativen Ausprägungen zeigt, daß das Drama hier sein organisierendes Sinnzentrum hat. Uber das Wortfeld Aufrichtigkeit und seine Entfaltung zum dramatischen Geschehensverlauf ruft Gellerts Drama einen Vorstellungskomplex auf, der eine bestimmende Funktionalität im Konzept der Liebesheirat hat und eingespannt ist in die umfassenderen Bezüge einer empfindsamen Gemeinschaftsideologie 10 . 10
Unter dem Stichwort Aufrichtigkeit findet sich im Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung der Eintrag: Aufrichtig heißt „der innern Gemüthsfassung völlig gemäß, ohne Verstellung. Aufrichtig reden, aufrichtig handeln, so wie man es denkt. Ein aufrichtiger Mann. Ein aufrichtiger Freund, der nichts verschweiget." (Adelung 1793, 519). Und in Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der deutschen Sprache heißt es unter dem Stichwort Aufrichtigkeit: „Die Eigenschaft eines Menschen, nicht anders zu reden und zu handeln, als er denkt; in Gegensatz von Verstellung und Falschheit." (Campe 1807, 250). In seinem Essay Vom Naiven (1753), den Johann Georg Sulzer 1771 (2. Aufl. 1793) in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste (Art.: Naiv) als Brief eines anonymen Verfassers abdruckt, unternimmt Wieland den Versuch einer zivilisationskritischen Bestimmung des Phänomens aufrichtigen Sprechens, das er unter dem Begriff Naivität faßt: „Die Rede soll eigentlich ein getreuer Ausdruck unserer Empfindungen und Gedanken seyn. Die ersten Menschen haben bey ihren Reden keinen andern Zwek haben können, als einander ihre Gedanken bekannt zu machen, und wenn sie und ihre Kinder die angeschafne Unschuld bewahrt hätten, so wäre die Rede nach ihrer wahren Bestimmung ein offenherziges Bild dessen, was in eines jeden Herzen vorgegangen wäre und ein Mittel gewesen, Freundschaft und Zärtlichkeit unter den Menschen zu unterhalten." (Wieland 1916, 15). Immer wieder und mit Nachdruck stellt Wieland die naive Rede, durch die sich das Individuum in seinem Inneren offenbare, gegen die Sprache der „Höflichkeit" und des „Ceremoniels" (Wieland 1916, 16),
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Naivität und Aufrichtigkeit, Innen- und Außenseite des moralischen Menschen, werden im 18. Jahrhundert zu höchsten Werten menschlicher Integrität erklärt, deren Verlust man zivilisationskritisch beklagt und deren Durchsetzung man aufklärungsoptimistisch zu befördern sucht. Dabei ist die höfischaristokratische Gesellschaftsdoktrin des Politischen11, wie sie sich Ende des 17. Jahrhunderts herausbildet, die ausgesprochene oder unausgesprochene Kontrastfolie, vor der Aufrichtigkeit ins strahlende Licht einer Moralität gestellt wird, die von Raffinesse, Taktik und Verstellung nichts wissen will, da es allein gelte, im Umgang mit dem jeweils anderen, der als ,Nächster' verstanden wird, die Authentizität der eigenen Person zu entfalten, die in der Übereinstimmung von Außen und Innen gründet. Dem politisch agierenden Menschen, von dem man sich auf diese Weise vorteilhaft abzuheben sucht, kommt es allerdings auf diese Identität gar nicht an. Denn nicht Aufrichtigkeit, sondern Erfolg ist sein erstes Gebot. Und was als Erfolg angesehen wird, gründet nicht so sehr in der sachbezogenen Leistung als in der adressatenbezogenen Wirkung. Wie diese sicherzustellen ist, wird in vielfältiger Weise in den einschlägigen Traktaten zur Zeremonialwissenschaft und Komplimentierlehre, in den Anstandsbüchern und Rhetoriken, den Konversationslehren und Galanterieunterweisungen übermittelt. In diesen Schriften zur Individualräson geht es immer wieder um das kluge, geschickte, am Erfolg orientierte Verhalten des einzelnen, der sich zu behaupten sucht. Es geht um die Ausbildung der Fertigkeit, den anderen im Gespräch für sich einzunehmen 12 . Im Gefolge des Tacitismus propagiert der Spanier Baltasar Gracian 13 äußerst breitenwirksam diese Kunst der Selbstbehauptung in einer Fülle von praktischen Maximen, die Anweisungen geben, wie man die Oberhand zu behalten vermag 14 . Was Niccolo Machiavelli für die Staatspolitik ausführt, wird von ihm - aufgrund eines pessimistischen Menschenbildes - auf den allgemeinen zwischenmenschlichen Umgang übertragen und zum Thema einer Privatpolitik gemacht, in der es darum geht, den eigenen Vorteil zu sichern - mit Mitteln, die den Zweck heiligen. Aufrichtigkeit ist dabei gänzlich unangebracht. Schon gleich in seinem dritten Aphorismus erhebt Gracian die mit der der Sprecher seine wahre Meinung verberge, u m gesellschaftlich zu reüssieren. Nicht Klugheit und Witz zeichne den integren Menschen aus, sondern Unverstelltheit und Natürlichkeit. Gegen die kalkulierende Rhetorik gesellschaftsgewandter Menschen stellt er den spontanen Affektausdruck naiver Menschen: „alle ihre Handlungen und Reden haben etwas offenherziges und ungekünsteltes [ . . . ] Sie haben nicht nöthig ihre Affekten zu hinterhalten, denn sie sind gut; ihre Worte müssen ihr Herz ausdrüken, [ . . . ] Die Reden solcher Leute sind aufrichtig, wahr, kurz und kräftig, wie ihr Innwendiges unschuldig und edel ist; sie sind herzrührend, weil sie vom Herzen kommen." (Wieland 1916, 17). Zu Einzelheiten siehe Jäger 1975, 61-69. 11 Siehe hierzu allgemein Barner 1970, 135ff.; Horn 1966, Frühsorge 1974, Mulagk 1973. 12 Siehe hierzu Gabler 1980. 1 3 Zur Rezeption Graciäns im Deutschland um die Wende zum 18. Jahrhundert siehe Forssmann 1977. 14 Gracian 1954; zu Einzelheiten siehe Schröder 1972.
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Verschlossenheit des Inneren zur wesentlichen Bedingung des persönlichen Erfolgs: Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm. Indem man seine Absichten nicht gleich kundgibt, erregt man die Erwartung, zumal wenn man durch die Höhe seines Amts Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit ist. Bei allem lasse man etwas Geheimnisvolles durchblicken und errege, durch seine Verschlossenheit selbst, Ehrfurcht. Sogar wo man sich herausläßt, vermeide man, plan zu sein; eben wie man auch im Umgang sein Inneres nicht jedem aufschließen darf. (Graciän 1954, Aph. 3) Alles Verhalten unterliegt dem Kalkül. Klug ist nicht Offenheit, die den anderen Einblick in die eigenen Absichten ermöglicht, sondern Verstellung, die verbirgt, was m a n vorhat. Zugleich gilt es, genau zu beobachten, was das Gegenüber meint u n d denkt und wie das eigene Verhalten wirkt. Eine strikte Kontrolle der Affekte ist dabei vonnöten; denn nur wer seinen Empfindungsausdruck geschickt zu manipulieren versteht und zugleich scharf zu beobachten vermag, u m durch Momente unkontrollierter Affektzeichen beim anderen Einblick in dessen Inneres zu bekommen, bleibt Sieger. Sollte m a n in diesem Kampf einmal aufrichtig sein, so nur, u m auf raffiniertere Weise täuschen zu können. Indem jetzt die Verstellung ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr durch die Wahrheit selbst zu täuschen: sie ändert ihr Spiel, um ihre List zu ändern, und läßt das nicht Erkünstelte als erkünstelt erscheinen, indem sie so ihren Betrug auf die vollkommenste Aufrichtigkeit gründet. (Graciän 1954, Aph. 13) Gegen dieses in Deutschland häufig mit dem Postulat vernünftiger Tugendhaftigkeit verknüpfte Konzept einer politischen Klugheitslehre, die ihren Referenzbereich im Feld des Privaten hat 1 5 , opponieren seit der Frühaufklärung zunehmend Moralphilosophie, Moralische Wochenschriften, R o m a n e und Dramen, pietistische Erbauungsliteratur und T r a k t a t e der Empfindsamkeit. Simulatio und dissimulatio16, Verhaltensweisen und Techniken, wie sie in den Klugheitslehren des 17. und frühen 18. J a h r h u n d e r t s als p r o b a t e Mittel von Kommunikationsstrategien offeriert werden u n d die noch der Zedier, Art.: Verstellung, positiv hervorhebt 1 7 , geraten immer mehr u n t e r das Verdikt des Unmoralischen 1 8 .
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Die Eingrenzung des Politik-Begriffs auf den staatlichen Bereich findet erst im Laufe des 18. Jahrhunderts statt; siehe Sellin 1978, 831 ff. 16 Die Unterscheidung folgt dem Grad der bewußten Täuschung. Bei der simulatio geht es um den intendierten Betrug mittels der Lüge, während unter dissimulatio das Verschweigen der wahren Absichten gefaßt wird. 17 Siehe Zedier 1746, Sp. 2058 ff. 18 Zu Einzelheiten dieses Paradigmenwechsels siehe Göttert 1988 und Stanitzek 1989, 92-117.
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Gegen die an der höfischen Wertwelt orientierte Norm des Scheins, der Rang und Stand zu repräsentieren hat, wird jetzt über den Gegenbegriff eines Seins, das sich gegenüber dem Schein als substantiell bestimmt, ein Wert- und Lebensbereich proklamiert, der sich über Kategorien einer Natürlichkeit definiert, die sich auf Authentizität gründet 19 . Von daher wird die überkommene Lehre von der Privatklugheit schärfstens zurückgewiesen. Denn wenn nur das Sein zählt, das den Schein nicht nötig hat, um den anderen zu beeindrucken, dann ist auch Verstellung als probates Mittel, sein Glück zu machen, entschieden zu brandmarken 2 0 . Aufrichtigkeit wird zum zentralen Leitbegriff. Breitenwirksam wird diese neue Wertordnung, die eine neue Welt am Maßstab von Vernünftigkeit und Tugend zu modellieren sucht, in der sich die Menschen kraft ihrer Leistung das Glück sichern, von den Moralischen Wochenschriften entfaltet. Seit den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts werden diese Organe bürgerlicher Sittenreform zu Medien einer Neuorientierung, die den Menschen in Abgrenzung von der ständischen Gesellschaft im Zeichen der Vernunft als Wesen bestimmt, das sich durch Tugend auszuzeichnen habe 21 . Während in der Frühaufklärung die eine und gleiche Vernunft, der sich die Menschen in unterschiedlichem Maße annähern, für alle zum Maßstab eines Handelns erhoben wird, dem es um die Beförderung der Glückseligkeit geht, definiert die Empfindsamkeit das Gefühl als Regulativ zwischenmenschlichen Umgangs. Anders als im Rationalismus soll die Wahrheit einer Aussage nicht in bezug auf allgemeine Prinzipien deduktiver Schlußverfahren gesichert werden, der sich der andere kraft seiner Vernunfteinsicht anschließt, sondern es gilt, die Wahrhaftigkeit eines Ausdrucks durch die Unverstelltheit der Gefühle zu garantieren, die der andere im Nachvollzug durch Empathie beglaubigt. Gerade in der Empfindsamkeit, die die kleine Gemeinschaft der in Freundschaft verbundenen Wenigen als den genuinen Lebensraum des Menschen bestimmt, der sich abgrenzt von der ,großen' Welt der Politik und des Kommerzes, wird rückhaltlose Aufrichtigkeit zur zentralen Maxime zwischenmenschlichen Umgangs. Dies mag auf den ersten Blick realitätsfremd erscheinen angesichts einer Welt, in der Aufrichtigkeit keineswegs der Königsweg zum Erfolg ist. Doch auf diesen kommt es dem Empfindsamen gar nicht an. Denn mit der Rehabilitierung des Gefühls als einer sittlichen Macht verändert sich das Bezugsfeld, in dem Moralität sich entfalten kann. Es geht nicht um Affektkontrolle und genaue Beobachtung des Gegenüber, um den ,Sieg' im Kampf aller gegen alle in Bereichen gesellschaftlicher Konkurrenz zu sichern, sondern um das Mitempfinden mit den Empfindungen des Nächsten in Räumen gesellschaftsabgewandter Privatheit. Das Verhalten löst sich vom Erfolg und integriert sich in die Gefühlsgemeinschaft der Vertrauten, wo es zum unverfälschten Ausdruck 19
Zu dem Phänomen, wie sich durch pauschalisierende Gegenbegriffe kollektive Identitäten durch Abgrenzung definieren, siehe Koselleck 1979. 20 Siehe hierzu Geitner 1992, 32ff., 149ff., 209ff., 284ff. 21 Siehe hierzu Martens 1971.
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des Herzens wird. Hierin gründet die empfindsame Kommunikation. Sie stiftet das Ethos einer Gemeinschaft der Gleichen, die in dem Maße zu sich selber finden, wie sie sich einander im authentischen Gefühl verbinden. Von Bodmers und Breitingers Inthronisation des Wunderbaren und Gellerts Briefsteller über die Essayistik und Dichtung Klopstocks bis hin zur Programmatik des Sturm und Drang und darüber hinaus wird mit hohem rhetorischen Aufwand die Negation jeder Rhetorik postuliert. Gemäß dieser Rhetorik einer Anti-Rhetorik 22 soll Sprache nicht den Regeln sozialer Distinktion und adressatenbezogener Insinuation unterliegen, sondern allein den Geboten eines Herzens folgen, das sich allen gesellschaftlichen Ordnungspostulaten entzieht so lautet die Doktrin der Empfindsamkeit, die das Herz und seinen Ausdruck zum Garanten der Einheit von Natürlichkeit und Authentizität bestimmt. Es ist eine Einheit, die diejenigen umfaßt, die im sympathetischen Gefühl des Mitempfindens sich zur Gemeinschaft formieren, in der alle wechselseitig bis in die innersten Empfindungen transparent werden mittels einer Sprache, die nicht Instrument der Verhüllung, sondern Offenbarungsmedium des Geheimsten ist 23 . Immer wieder wird von daher eine Ausdrucksweise postuliert, die verlustfrei Innerlichkeit kommunizierbar macht. Die Gefühle sollen sich unvermittelt aussprechen - die Art des Sprechens soll als gleichsam natürliches Indiz die Art der Empfindungen erfahrbar werden lassen. So proklamiert ζ. B. Geliert in seinem 1751 veröffentlichten Briefsteller Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen24 einen Stil, der die Durchsichtigkeit des sprachlichen Ausdrucks für die innere Befindlichkeit sichert. Er wendet sich gegen die überkommenen Briefsteller, die in ihrer höfisch-ständischen Orientierung den Regeln des Zeremoniells und der Rhetorik folgen und in ihrer utilitaristischen Ausrichtung die Sprache unter die Gebote des decorums stellen, indem er Natürlichkeit, Offenheit und Empfindungstransparenz am Leitfaden mündlicher Rede fordert: Das erste, was uns bey einem Briefe einfällt, ist dieses, daß er die Stelle eines Gesprächs vertritt. (Geliert 1989, I I I ) 2 5 An die Stelle von Grammatik und Rhetorik, den tradierten Instanzen der Redeorganisation, hat die Psycho-Logik der Empfindungen zu treten, die die Ausdrucksqualität einer (wenn auch stilistisch gereinigten) Sprache formt 26 , die das Innere in den kommunikativen Raum der Mitempfindenden entäußert. 22 23 24 25
Siehe hierzu generell Schmidt 1988, 58 ff. Siehe dazu Wegmann 1988, 81 ff. Geliert 1989. Zu Einzelheiten des Wandels der Briefsteller siehe Nickisch 1969. Zu Geliert siehe Barner 1988.
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So heißt es bei Geliert: „Man bedient sich im Schreiben der Worte, die in der Welt üblich sind. Allein durch die Art, wie man sie braucht, durch die Stellung und Verbindung, die man ihnen gibt, entzieht man dem Ausdrucke das Gemeine, und giebt ihm eine gewisse Zierlichkeit." (1989, 113).
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Günter Säße Wer recht gerührt, recht betrübt, recht froh, recht zärtlich ist, dem verstattet seine Empfindung nicht an das Sinnreiche, oder an eine methodische Ordnung zu denken [...] Die Rede wird, gleich dem Gefühle, stark und unterbrochen seyn. (Geliert 1989, 137 f.)
„Die Rede gleich dem Gefühle" - d a r u m geht es in den empfindsamen Postulaten einer Isomorphie von Seele und Ausdruck. Sie kulminieren in einer Bedeutungskonzeption, die im Postulat des natürlichen Zeichens den arbiträren Charakter der Sprache zu überwinden sucht in der körpersprachlich gesicherten Identität von Inhalts- und Ausdrucksseite des Zeichens.
3. Die Ausgrenzung des Heuchlers als Indikator für die Geltungsschwäche der empfindsamen Aufrichtigkeitsdoktrin Vor d e m Hintergrund der empfindsamen Gemeinschaftsideologie, die sich in strikter Abgrenzung gegen die Konzeption des Politischen auf Aufrichtigkeit gründet, erscheint es evident, daß derjenige, der u m des eigenen Vorteils willen unaufrichtig ist, nicht zur Gemeinschaft der zärtlich Empfindenden gehören kann. Im Namen einer empfindsamen Ethik, nach der die Tugend einer Person in der Lauterkeit der Gesinnung gründet, wird Siegmund verbannt. Das Glück der Liebe, zu einem ,Gut des Herzens' geworden und ohne materielles Pendant, darf nicht durch einen Egoismus, der auf äußere Glücksgüter zielt, gefährdet werden. Herz und Geld sind strikt zu trennen. Die Vertreibung Siegmunds signalisiert dem Zuschauer unmißverständlich: Allein die zärtliche Liebe, keineswegs aber materielle Gesichtspunkte dürfen bei der Heirat den Ausschlag geben. Die Brautleute haben von daher aufrichtig zur Sprache zu bringen, was sie denken und fühlen; keine Seelenbewegungen dürfen dem anderen verborgen bleiben. Nur so ist eine verläßliche Eheentscheidung möglich, die einzig in wechselseitiger zärtlicher Liebe zu gründen h a t . Wer nur zärtlich t u t , ohne zärtlich zu sein, weil er mit der Ehe etwas bezweckt, was nicht in ihr selbst liegt, ist die größte Gefahr für die Liebesehe. Von daher ist für Julchen die Vorstellung, ihre Schwester könnte Siegmund heiraten, unerträglich: Du arme Schwester! Du verbindest dich mit einem Menschen, der ein böses Herz bey der Mine der Aufrichtigkeit hat. (III/9, 248) Wenn j e m a n d Liebesbeteuerungen zum Mittel macht und nicht den anderen meint, sondern das über ihn durch die Heirat zu erlangende G u t , unterminiert er die Basis, auf der alle empfindsame Beziehung aufruht - die Selbstlosigkeit, die im Glück des anderen das eigene Glück erfährt. Von daher ist es nicht erstaunlich, daß einer, der in Heiratsdingen aus eigennützigen Motiven Liebe heuchelt, den Kreis der Empfindsamen zu verlassen h a t . Doch läßt die bis zur Morddrohung gehende Radikalität, mit der Siegmund
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abgewiesen wird, stutzig werden. Warum diese Rücksichtslosigkeit der Abweisung, die Gellerts Drama an der Gestalt Siegmund in einer Weise exekutiert, die einen deutlichen Bruch zum tugendhaft-zärtlichen Verhalten der Protagonisten markiert? Damis, der ansonsten vor Wohlwollen und Mitempfinden geradezu überquillt, schreckt ihm gegenüber j a sogar vor einer Mordandrohung nicht zurück: Ich habe in meinem Leben noch kein Thier gern umgebracht; aber diesen Mann, wenn er es läugnen, und Lottchen durch seine Verstellung unglücklich machen sollte, wollte ich mit Freuden umbringen. (III/9, 249) Offensichtlich hat Siegmunds Unaufrichtigkeit mehr verletzt als nur ein moralisches Gebot unter anderen. Die Vehemenz der Reaktion reflektiert, wie sehr er die anthropologische Grundannahme empfindsamen Selbstverständnisses erschüttert hat. Deutlich wird das Gefährdungspotential einer Gesinnungsethik, die zum Ausweis ihrer Güte Aufrichtigkeit bestimmt, Sicherheiten hierfür in den körpersprachlichen Signalen sucht und die Täuschungsanfälligkeit dabei abblenden muß. Denn ansonsten hätte politische Klugheit, wie sie Graciän bestimmt, an die Stelle der Offenherzigkeit zu treten; damit aber verlöre die kleine Gemeinschaft der Empfindsamen das sie legitimierende Fundament. Von daher wird der Wunsch zur Wirklichkeit erklärt, und an die Stelle einer Auseinandersetzung mit der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit wird diese innerdramatisch in der Figur Siegmund abgewiesen, um so die Wunschwelt empfindsamer Gemeinschaft als Wirklichkeit eines fiktiven Szenariums den Zuschauern vor Augen stellen zu können. Ein „Ungeheuer" wie Siegmund - so Albrecht von Haller 27 - darf in der kleinen Gemeinschaft der Empfindsamen nicht vorkommen, und zwar nicht bloß, weil er unaufrichtig ist, sondern weil er in perfekter Mimikry in die Rolle des Empfindsamen hineinzuschlüpfen vermag. Wenn nämlich ein Protagonist sich in empfindsamer Rede artikuliert, geht es nur auf der einen Seite um die Mitteilung seiner Gefühle, um die Kommunikation seines Inneren. Die empfindsame Rede ist mehr: Sie dient als Nachweis der Zugehörigkeit. Um dazu zu gehören, muß einer sich auf die Regeln des empfindsamen Codes festlegen. Darin aber besteht die Aporie: Die Sprache der Empfindsamkeit legt die Gefühle auf ihren Ausdruck fest und unterstellt zugleich, daß die Gefühle ihren bruchlosen Ausdruck in eben dieser Sprache finden. Daß einer so fühlt, wie er spricht, und nicht den Ausdrucksaspekt seiner Rede für den eigenen Nutzen funktionalisiert, ist dabei die heikle Voraussetzung, die alle empfindsame Kommunikation grundiert. Man hat zwar mit der empfindsamen Sprache ein Indiz für empfindsames Fühlen, aber man hat damit noch keine Gewißheit, daß die Sprache nicht das empfindsame Fühlen nur vortäuscht, während hinter ihrem Schleier egoistische Zwecke verfolgt werden. Das Drama Gellerts reflektiert auf mimetische Weise 27
In: Zugabe zu den Göttingischen Gelehrten Anzeigen. 20. und 21tes Stück. Den 27. May und 3. Junii 1775. S. CLXIII. Abgedruckt in: Geliert 1988, 414.
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dieses Problem nicht nur in der aggressiven Ausgrenzung Siegmunds, sondern auch in der kontrollierenden Eingrenzung der anderen Personen, die permanent Prüfungen unterworfen werden. Sie sollen sicherstellen und sinnfällig machen, ob und wie sehr das Innere der Personen durch Selbstlosigkeit bestimmt ist ein Hinweis, daß Aufrichtigkeit keineswegs so selbstverständlich vorauszusetzen ist, wie es der empfindsame Diskurs postuliert, sondern als moralisches Gebot unter dem Zwang des Nachweises steht, der offenbart, wie wenig die Gesinnungsgemeinschaft ihrer selbst sicher ist. Wie kann gewährleistet werden, ob einer aufrichtig ist oder nur Aufrichtigkeit heuchelt, da er doch von den Tränen über die Mimik bis hin zum Sprachausdruck virtuos alle Zeichen des empfindsamen Codes zu verwenden vermag, ohne doch empfindsam zu sein? Das ist das (uneingestandene) Problem der Empfindsamen - ein Problem, das im Konzept der innerdramatisch inszenierten Liebesheirat seine eigentümliche Brisanz erfährt. Wie kann m a n sich der Liebe der/des anderen als der unabdingbaren Voraussetzung der Ehe sicher sein? Aufrichtigkeit ist gefordert, sie stellt den höchsten Wert dar - gerade weil die Ehe als Liebesgemeinschaft zum Glücksgaranten der Existenz erhoben wird. Wer den Liebenden über seine Gefühle täuscht, wer die Heirat zum Mittel für Eigeninteressen macht, zerstört die Grundlage für das Lebensglück des Ehepartners, dem die Ehe eine immerwährende Liebesgemeinschaft verspricht. Gellerts Drama Die zärtlichen Schwestern verteidigt nachdrücklich den Wert einer bruchlosen Korrespondenz zwischen den Gefühlen und ihrem Ausdruck, wenn es Siegmund wegen seiner Unaufrichtigkeit mit rigoroser Unnachsichtigkeit aus dem Kreis der Empfindsamen ausschließt. In der brutalen Art des Ausschlusses aber macht es auf das Problem aufmerksam, dem es sich nicht stellen kann: daß keine definitive Gewißheit darüber zu erlangen ist, ob Liebe alleiniger Heiratsgrund ist. Zugleich reflektiert die Brutalität der Austreibung, die in keinem direkten Verhältnis zur propagierten Ethik der zärtlichen Liebe steht, wie sehr diese sich nur durch aggressive Abweisung des Eigennutzes zu behaupten vermag. Was sich als zwanglose Empfindung des Mitempfindens darstellt, erweist sich als Produkt einer zwanghaften Verdrängung dessen, was das Gemeinschaftskonstrukt zutiefst gefährdet - ein Egoismus, dem es allein um das eigene Glück geht. Glück darf es nur als ein Gefühl geben, das das Glück des anderen zur Bedingung eigenen Glücks macht. Doch wie kann man sicherstellen, daß einer nicht nur zum Schein so tut, wie es die Doktrin empfindsamer Liebe verlangt, u m so mittels der Heirat seine eigennützigen Interessen zu verfolgen? Einzig Siegmunds Reflexionsmonolog, zufällig mitgehört, verrät seine Untreue. Daß es nicht zur Heirat kommt, ist folglich allein dem Zufall geschuldet. So offenbart auch die dramaturgische Anlage, die den Zufall zur Abweisung gemeinschaftszerstörender Personen inszenieren muß, die Labilität der empfindsamen Heiratsdoktrin. Zugleich wird dadurch deutlich: Die Gewißheit der Liebe ist nicht definitiv zu erlangen, soll aber das Fundament für die defi-
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nitive Beziehung der Ehe abgeben. Gerade dem Konzept der Liebesehe ist dieses Problem inhärent. Denn wenn Heirat zum Zielpunkt der Liebe erhoben wird, bekommt diese eine zusätzliche Dimension; sie wird zur rechtsstiftenden Kraft, die Verbindungen zwischen Menschen schafft, die über das Emotionale in rechtliche, ökonomische und ständische Bereiche hineinragen. Von daher ist das Bedürfnis, Gewißheit über die Liebe zu bekommen, mehr als nur ein emotionales Problem. Denn die dem anderen gestandene Liebe, die zur Heirat drängt, mag vieles im Sinn haben, keineswegs immer ausschließlich nur ihre Dauer in der Ehe, die ja zugleich auch als Institut des Gütertransfers, der Prestigevermehrung und der Machtpartizipation egoistischen Interessen offensteht. Gellerts Drama blendet dieses Problem zwar auf, indem es Siegmunds verdecktes ökonomisches Heiratsmotiv zeigt, thematisiert es jedoch nicht explizit in einer Handlung, die die Inkompatibilitäten der empfindsamen Konzeption der Liebesehe dramatisch gestaltet. Es verweist nur implizit darauf - in der Art der Nicht-Thematisierung, dem mit großer Verve gestalteten Ausschlußverfahren, das an Siegmund vollzogen wird, um in ihm Unaufrichtigkeit abzuweisen, der sich die Empfindsamen nicht produktiv zu stellen vermögen. Um - im wahrsten Sinne des Wortes - zu überspielen, daß in der Unaufrichtigkeit, die den Eigennutz kaschiert, eine dem Konzept der Liebesehe inhärente Problematik liegt, die zwar in der Figur Siegmund projektiv abgewiesen wird, in der Radikalität der Abweisung aber auf das verweist, Weis die Konzeption der Liebesehe in Frage stellt, macht das Drama am Ende dem Zuschauer noch einmal nachdrücklich deutlich, worauf es ankommt. In einer Adresse an die Zuschauer artikuliert Lottchen, daß die empfindsame Liebesdoktrin sakrosankt ist: 0 Himmel! laß es dem Betrüger nicht übelgehen. Wie redlich habe ich ihn geliebt, und wie unglücklich bin ich durch die Liebe geworden! Doch nicht die Liebe, die Thorheit des Liebhabers hat mich unglücklich gemacht. Bedauern Sie mich. (111/20, 261) Dies ist als mehrfach adressierte Äußerung über die Rampe gesprochen. Die Zuschauer sollen mit den Tränen, die das Drama hervorrufen will, bestätigen, was die Botschaft des Stückes ist: die Allgewalt einer zärtlichen Liebe, die im rückhaltlosen Austausch der Gefühle eine Gemeinschaft Gleichgestimmter schafft, der sich die Zuschauer im Akt nachempfindender Identifikation zuordnen sollen. Und zugleich sollen die Tränen den Blick trüben für das, was das Konzept der Liebesehe in seinen Fundamenten zu erschüttern vermag die Unaufrichtigkeit, die von Liebe spricht, dabei aber eigennützige Interessen verfolgt. Doch offenbart das Drama dem Blick, der sich nicht trüben läßt, zugleich in der Art, wie es in der Gestalt Siegmund das Widersprüchliche des Gemeinschaftskonzepts verbannt, die Geltungsschwäche eines sozialethischen P r o gramms, das sich mit der Welt politischen Kalküls nicht zu vermitteln weiß.
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G e l l e r t s K o m ö d i e m a c h t so - e n t g e g e n i h r e r „ a u k t o r i a l i n t e n d i e r t e n R e z e p tionsperspektive"28 - die Aporien der e m p f i n d s a m e n Tugenddoktrin erfahrbar, d i e d e n G l ü c k s a n s p r u c h des Ich ü b e r d a s P o s t u l a t d e r Aufrichtigkeit soziale t h i s c h so e i n z u b i n d e n s u c h t , d a ß d a s G l ü c k d e s a n d e r e n z u r B e d i n g u n g eigen e n G l ü c k s w i r d . Von d a h e r gilt f ü r G e l l e r t s D r a m a , d a s n u r U b e r m i t t l u n g s o r g a n f ü r a u ß e r ä s t h e t i s c h e M o r a l v o r s t e l l u n g e n sein will, w a s l i t e r a r i s c h e n T e x t e n v i e l f a c h e i g e n t ü m l i c h ist. Seine R ü h r k o m ö d i e f ü g t sich n i c h t b r u c h l o s d e n ,Herrschaftsansprüchen' expositorischer Reden, die ihre G e d a n k e n diskursiv entfalten, sondern macht im Akt mimetischer Reflexion gerade an den Wid e r s p r ü c h l i c h k e i t e n u n d U n g e r e i m t h e i t e n k e n n t l i c h , w a s sich d e r S y s t e m a t i k a u ß e r ä s t h e t i s c h e r R e d e n i c h t f ü g t , v o n d i e s e r a b e r u m d e r S t r i n g e n z d e r Ged a n k e n f ü h r u n g u n d deren ideologischer' F o r m i e r u n g willen nicht zur Sprache gebracht werden kann. Literatur Adelung, J o h a n n Christoph (1793-1801): Grammatisch-kritisches W ö r t e r b u c h der hochdeutschen M u n d a r t . Teil 1-4. Leipzig, Teil 1 (1793). Altenhein, H a n s - R i c h a r d (1952): Geld und Geldeswert im bürgerlichen Schauspiel des 18. J a h r h u n d e r t s . Phil. Diss. Siegen. Barner, Wilfried (1970): Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen. B a r n e r , Wilfried (1988): „Beredte E m p f i n d u n g e n " . Uber die geschichtliche Position der Brieflehre Gellerts. In: „ . . . aus der anmuthigen Gelehrsamkeit". Tübinger Studien z u m 18. J a h r h u n d e r t . Dietrich Geyer zum 60. G e b u r t s t a g . Tübingen, 7-23. C a m p e , Joachim Heinrich (1807-1811): W ö r t e r b u c h der deutschen Sprache. Teil 1-5. Braunschweig, Teil 1 (1807). Forssmann, K n u t (1977): Baltasar Gracian u n d die deutsche L i t e r a t u r zwischen Barock u n d Aufklärung. Phil. Diss. Mainz. Frühsorge, G o t t h a r d t (1974): Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. J a h r h u n d e r t und in den Romanen Christian Weises. S t u t t g a r t . Gabler, H a n s - J ü r g e n (1980): Machtinstrument s t a t t Repräsentationsmittel: Rhetorik im Dienste der Privatpolitic. In: Dyck, Joachim u. a. (Hgg.): Rhetorik. Ein internationales J a h r b u c h . Bd. 1. S t u t t g a r t , 9-25. Geitner, Ursula (1992): Die Sprache der Verstellung. Studien zum anthropologischen Wissen im 17. und 18. J a h r h u n d e r t . Tübingen. Geliert, Christian Fürchtegott (1890): A b h a n d l u n g f ü r das r ü h r e n d e Lustspiel, dt. von G. E . Lessing. In: Lessing, Gotthold E p h r a i m : Sämtliche Schriften, hg. von Karl L a c h m a n n . 3. Aufl. bes. von Franz Muncker. Bd. 1-23, S t u t t g a r t (ab Bd. 12: Leipzig, ab Bd. 22/1: Berlin-Leipzig) 1886-1924, B d . 6, 32-49. Geliert, Christian Fürchtegott (1966): Fabeln u n d Erzählungen. Historisch-kritische Ausgabe, bearb. von Siegfried Scheibe. Tübingen. 28
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SIEGFRIED GROSSE, B o c h u m
Sprachliche Varietäten in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang Lutz Mackensen überschreibt das erste Kapitel seiner Beiträge zur Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts „Die Dichter und die Umgangssprache" (vgl. Mackensen 1971, 9). Er mißt der Uraufführung von Gerhart H a u p t m a n n s erstem sozialen D r a m a „Vor Sonnenaufgang" große Bedeutung für die Anerkennung und Wirkung der Umgangssprache bei, in der neben der Hochsprache und dem schlesischen Dialekt die Rollen abgefaßt sind. Das Schauspiel des 27jährigen damals noch unbekannten Autors war Mitte 1889 im Buchhandel bei C. F. Conrad erschienen u n d sofort mit lebhafter Zustimmung u n d Ablehnung rezensiert worden (vgl. Bleibtreu 1889, 1657 ff.). Die Uraufführung fand durch die von O t t o B r a h m gegründete Volksbühne am 20. Oktober 1889 mittags u m 12 Uhr im Berliner Lessingtheater s t a t t . Sie wurde ein ungewöhnlicher, aufgrund der vorherigen Veröffentlichung gezielt inszenierter Theaterskandal (vgl. Holz 1889, 716; Hensel 1992, II 741 f.). Der Rezensent C. B. beschreibt im Berliner Volksblatt zwei Tage später seinen Eindruck von der Aufführung sehr lebendig: [... ] Die ,Freie Bühne' mußte ihre in langen Zwischenräumen stattfindenden Vorstellungen vor drei Wochen mit Ibsens ,Gespenstern' eröffnen und konnte in einer ihrer Programmerklärungen mit recht nur bescheiden sagen, daß sie den künstlerischen Thaten der ausländischen Dichter die ,Versuche der Deutschen wagend beigesellen' werde. Dieses Wagniß ist uns am letzten Sonntag in Gestalt eines sozialen Dramas unbekannte Bezeichnung für Deutschland - aus der Feder eines unbekannten kaum fünfundzwanzigjährigen Mannes vor einem Publikum vorübergegangen, dessen Recht, als Gerichtshof zu gelten, ein sehr zweifelhaftes war. Es war in der Hauptsache das alte Premierenpublikum Berlins, aus Börsenianern, Rechtsanwälten, Assessoren, Lebemännern, Weibern der Bourgeoisie und der Halbwelt zusammengesetzt, das im Residenztheater zotige Possen und im Schauspielhause ehrwürdige Klassiker mit gleichem Vergnügen beklatscht. Es waren die Leute, die bei allem Neuen dabei sein müssen, weil es für gebildet gilt, alles Neue zu wissen und die 30 oder 50 M., soviel kostet auf den feinen Plätzen der Mitgliedsbeitrag der f r e i e n Bühne', ruhig auf einem Brett für solchen Spaß bezahlen können. Als fremdartiger Zusatz saßen unter oder richtiger über dem Publikum Studenten, Schriftsteller, Maler und Schauspieler: Enthusiasten, verständige und unverständige, für die neue Kunstrichtung. Ein Schauspiel im Schauspiel, dieses Publikum! Die Kämpfe zwischen Begeiste-
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Siegfried Grosse rung und Ablehnung, Bravo und Pfui, Zischen und Klatschen, die Zwischenrufe, die Demonstrationen, die Unruhe, die Erregung, welche jedem Akt folgten, ja in das Spiel hineinplatzten, schufen das Lessing-Theater in ein Versammlungslokal um, das eine leidenschaftliche, wogende Volksmenge füllt. Und was war es, das diese Stürme entfesselte? Ein höchst sonderbares, nicht wenigen Hörern fremdes, ja sie beleidigendes Ding: die Wahrheit. ,Unerhört!' schrien sie, ,welche Frechheit! Ekelhaft!' - Jst man hier im Theater oder im Bordell?' brüllte ein in seinen heiligsten Gefühlen verletzter Roue. Es wäre doch besser, meinten sie, wenn die Polizei auch der ,Freien Bühne' verbieten könnte, solche Stücke aufzuführen [...] (C. B. 1889, Nr. 247).
Die nach einer kurzen Inhaltsangabe folgende Besprechung des Stücks ist im ganzen negativ; sie kritisiert vor allem die Handlungsarmut. Uber die sprachliche Form fällt kein Wort. Aber es wird die Qualität der Aufführung anerkannt und besonders hervorgehoben, daß m a n jetzt wisse, in Berlin gäbe es naturalistische Schauspieler. Es ist nicht leicht, sich aufgrund der Rezensionen in der Tagespresse ein Bild von der Premiere zu machen, auch wenn jeder Bericht kleine weitere Ergänzungen enthält. So sieht F. von Kapff-Essenther die Zuschauerschaft anders als C. B.; denn er meint, es sei „ein seltener, fast unerhörter Fall, daß ein ganz junger, bisher kaum genannter Autor an erster Stelle, in unvergleichlicher Darstellung, vor d e m erlesensten Publikum zu Worte kam" (von Kapff-Essenther 1890, 42). Die Uraufführung sei ein Theaterskandal gewesen, wie ihn ein deutsches Schauspielhaus wohl noch nie erlebt habe. Er steht auf der Seite der Ablehnung: H a u p t m a n n habe keine Menschen geschaffen, sondern seine einseitig negativen Ideen personifiziert. M. Kent bespricht in seinem Theaterbericht eine Aufführung von Schillers „Kabale und Liebe" im Berliner Theater und die Hauptmannpremiere in der Freien Volksbühne gemeinsam, was ihm Anlaß gibt, mit Zitaten aus Schillers ästhetischen Schriften das P r o g r a m m der Volksbühne ebenso zu diffamieren wie H a u p t m a n n s D r a m a (Kent 1890, 108). Die Reaktionen des Publikums änderten sich offenbar rasch. Schon im Dezember 1889 schreibt Kaberlin im Berliner Bühnenbrief: Im Belle-Alliance-Theater hat sich der Sonnenaufgang gut gehalten. Das Publikum tut den ästhetischen Entrüstungsmicheln nicht den geforderten Gefallen, sondern gewöhnt sich an die Übertretungen des ethischen Stils, wie es sich in die des ästhetischen hineingefunden hat. Äußerer Erfolg ist da, aber er ist für mich bei weitem noch nicht die echte Wechselwirkung zwischen Wert und öffentlichem Urteil (Kaberlin 1889, 829). Und 1890 schreibt O . E . Hartlebe, ein J a h r nach der Uraufführung werde von 1200 Zuschauern höchstens 20 einfallen, daß es sich bei H a u p t m a n n s D r a m a um etwas Besonderes handle (vgl. Hartlebe 1890, 1099 f.). Er meint, das Publikum, das inzwischen zu 70% aus Angehörigen der Arbeiterklasse bestehe, lache über die Alkoholszenen, es sei durch den Stoff gefesselt, nicht durch die Form.
Sprachliche Varietäten in Hauptmanns ,Vor
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Hauptmann h a t t e den Textabdruck „ Bj arne P. Holmsen, dem konsequenten Realisten, Verfasser von ,Papa Hamlet', zugeeignet, in freudiger Anerkennung der durch sein Buch empfangenen entscheidenden Anregung. Erkner, den 8. Juli 1889" (vgl. Hensel 1992, II 745). Otto Brahm bekennt unmittelbar nach der Lektüre in einer kritischen, doch begeisterten Würdigung des neuen großen dramatischen Talents, daß er das offenbar noch merkwürdigere Talent Bjarne P. Holmsen leider nicht kenne. Er hat also keine Ahnung, daß sich hinter dem Pseudonym Arno Holz und Johannes Schlaf verbergen (vgl. Brahm 1889a, 749 f.). Sie haben in ihrer naturalistischen Programmschrift angeregt, das Theater aus dem Theater zu vertreiben (vgl. Hensel 1992, II 746), das heißt: Die lebendig gesprochene Sprache soll als natürliches Zeugnis an die Stelle artifiziell konstruierter Dialoge treten. Tolstoi, Zola und Ibsen galten hierfür als Vorbilder (vgl. Mayer 1952, 31). Brahm findet seinen Lektüreeindruck durch die Aufführung bestätigt. Seiner zweiten Rezension nach dem Theaterbesuch fügt die Redaktion der ,Nation' eine Erklärung an, in der sie sich verpflichtet, Möglichkeiten zu schaffen, um die Lebensfähigkeit des Naturalismus zu sichern (vgl. Brahm 1889b, 59f.). Bei Hauptmanns Bekenntnis zu ,Papa Hamlet' überrascht es nicht, daß Arno Holz die Premiere sehr positiv rezensiert, für den Autor eintritt und die unruhigen Wellen des Pro und Contra zu glätten versucht. Er schildert die Fronten dieser ,Schlacht' und ihr siegreiches Ende für die Freie Volksbühne, die sich jetzt durchgesetzt habe. Aber dies sei, so deutet Holz die ihm geschlossen erscheinende Ansicht der Presse - noch kein Triumph für den deutschen Naturalismus, den er ,Realismus' nennt. Denn alle Stellen, die den ungeteilten Beifall des Publikums gefunden hätten - vor allem die Liebesszene zwischen Loth und Helene im 4. Akt - hielten die meisten Kritiker auch im konventionellen, nicht naturalistischen Drama für möglich. Dieser Meinung widerspricht Holz zwar nachdrücklich, aber er sagt nichts zu den Stellen, die das Schauspiel des Naturalismus in seiner Eigenart prägen: zur Verwendung von Umgangssprache und Dialekt. Er schließt mit der Prognose, „der 20. Oktober 1889 werde für immer eines der interessantesten Daten in der Geschichte des deutschen Theaters bleiben" (vgl. Holz 1889, 717). Ernst von Wolzogen betrachtet „Berlins Publikum und Presse über Hauptmanns Drama ,Vor Sonnenaufgang'", indem er neun Rezensionen in ihren Unterschieden und Übereinstimmungen kurz referiert und in ausgewogener Beurteilung der negativen Einwände zusammen mit seiner Ansicht in eine uneingeschränkte Anerkennung des neu entdeckten jungen Dramatikers H a u p t m a n n münden läßt. (Es handelt sich um die Kritiker Ph. St., Karl Frenzel, Theodor Fontane, Heinrich Hart, Paul Lindau, Isidor Landau, F. v. Zobeltitz, Karl Bleibtreu und Paul Schienther). Auch in diesem sehr ausführlichen Resümee zeigt sich, daß der Anstoß für die Proteste, die den Skandal ausgelöst haben, weder die Form des Dramas noch seine Sprache gewesen sind, sondern der Inhalt: der in den Alkoholismus führende Kapitalismus, der eine neureich
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gewordene Bauernfamilie bis ins letzte Glied zugrunderichtet, u n d die sozialkritischen und -progressiven Ideen und Thesen, die Loth dieser Entwicklung entgegenstellt (vgl. von Wolzogen 1889, 1733-1745). Karl Bleibtreu schreibt in seiner Textbesprechung vor der Aufführung: An Aufführung des Stückes kann wohl kaum gedacht werden, wegen [...] Stellen wie folgender: ,Es ist verkehrt, den Mord im Frieden zu bestrafen und den Mord im Krieg zu belohnen. Es ist verkehrt, den Henker zu verachten und selbst, wie es die Soldaten thun, mit einem Mordinstrument an der Seite stolz herumzulaufen. Verkehrt ist es, die Religion Christi als Staatsreligion zu haben und dabei ganze Völker zu vollendeten Menschenschlächtern heranzubilden'. Horch, schreit da nicht ein Staatsanwalt: Grober Unfug, Aufreizung, Sozialistengesetz? Neuerdings sollen sich Staatsanwälte wie ich höre sogar zu litterarischen Urteilen aufschwingen und würden daher über ein solches Verbrecherdrama die kritische Zensur verüben: Kraß dilettantisch, durch und durch unreif, - wofür sie gewiß in idealistischen Verlegern und Auch-Schriftstellern geeignete ^Sachverständige' zitieren könnten (Bleibtreu 1889, 1659). Weder d e m H a u p t m a n n - noch dem Bleibtreu-Zitat merkt m a n ihr mehr als hundertjähriges Alter an! Es zeigt sich die Brisanz des Textes, und m a n kann sich vorstellen, daß viele Besucher nur in die Vorstellung gegangen sind, um zu protestieren, j a es sind sogar die Mitgliederzahlen der Freien Volksbühne gestiegen, der m a n beigetreten ist, u m sie von innen zu bekämpfen. Der kurze Blick auf die spektakuläre Premiere macht die breite und nachhaltige Resonanz deutlich, die H a u p t m a n n mit der sozialen Thematik und den in einem bisher ungewohnten Milieu angesiedelten Problemen gefunden hat. Aber auf die sprachliche Form gehen nur drei Rezensenten ein, und zwar sehr kurz. Bleibtreu hält eine Aufführung auch „wegen der Naturalismen, der störenden schlesischen Mundart" für nicht möglich (Bleibtreu 1889, 1659). Wolzogen beschließt seine Abhandlung mit einem allerdings sehr allgemein gehaltenen Hinweis auf die sprachliche Gestaltung: Wer je die Feder in die Hand genommen zur Wiedergabe eines Gespräches, der weiß, wie unendlich schwer es ist, den angelernten und gelesenen Buch- und Zeitungsstil zu vermeiden. Hauptmann ist ohne Widerrede der erste deutsche Dichter, dem dies vollkommen gelungen ist, und es ist auch nicht zu verkennen, daß ein gut Teil der plastischen Wirkung seiner Charakterdarstellung auf dieser Sprache beruhte (v. Wolzogen 1889, 1745). Es wird der Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache e m p f u n d e n und herausgehoben, doch die von H a u p t m a n n sehr differenziert gebrauchten Varietäten des Dialogs werden nicht gesehen. Der einzige von Mackensen zitierte zeitgenössische Gewährsmann ist der zugleich prominenteste Fürsprecher Hauptmanns: Theodor Fontane. Der Siebzigjährige h a t t e O t t o Brahm „Vor Sonnenaufgang" zur Uraufführung empfohlen (vgl. Hensel 1992, II 743). Er t u t sich, wie er eingesteht, mit seiner Kritik schwer, da er weder den Mut habe, Gerhart H a u p t m a n n „frei rundweg
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zu verabscheuen", noch „in den Himmel zu heben" (Fontane 1964, 710). In Hauptmann sieht er die Erfüllung Ibsens, und er hält ihn für eine außerordentliche dramatische Begabung. Wichtiger als Inhalt und Problematik des Stücks ist für Fontane „der Ton, in dem das Ganze gehalten". Er sei gleichbedeutend mit der Frage von Wahrheit oder Nichtwahrheit, die ein Autor „dadurch am besten bekundet, daß er den Wirklichkeiten ihr Recht und zugleich auch ihren rechten Namen gibt" (Fontane 1964, 713). Diesen Realismus könnte m a n ja gerade in der sprachlichen Gestaltung der Rollen und Dialoge sehen. Aber hier ist Fontane offenbar überrascht worden. Er hebt seinen Leseeindruck vom Theaterbesuch ab, und er ist verwundert über die sich ergebene Differenz. Denn alle die vergleichsweise herkömmlichen Szenen - herkömmlich in dem Sinne, daß in ihnen nichts geschieht oder gesagt wird, was nicht in jedem anderen guten Stück auch hätte getan oder gesagt werden können - alle diese Szenen waren von großer und von niemandem im Publikum beanstandeter Wirkung, während alle die Vorkommnisse, die dem Stücke, wohl oder übel, seine bestimmte Physiognomie geben und so recht eigentlich das waren, wovon ich mir eine mächtige, sozusagen kunstrevolutionäre Wirkung versprochen hatte, ziemlich spurlos vorübergingen (Fontane 1964, 714). Die „herkömmlichen Szenen" sind die Dialoge zwischen den Hauptrollen: Alfred Loth, Weltverbesserer und Broschürenschreiber, Helene Krause, Säuferund Bauerntochter mit herrnhutischer Erziehung, und Ingenieur Hoffmann, inferiorer Don Juan, Phraseur, Lump (Fontane 1964, 715f.). Man muß noch den Arzt Dr. Schimmelpfennig hinzufügen. Diese drei akademisch gebildeten Männer und die in Herrnhut erzogene Helene sprechen eine dem Standarddeutsch angenäherte Umgangssprache. „In den zahlreich verbleibenden episodenhaften Gestalten tritt das große Talent des Verfassers am hellsten zutage" (Fontane 1964, 716). Alle anderen Personen sprechen schlesische, in einem Fall Berliner Mundart, wobei Hauptmann, wie noch zu zeigen ist, in den Dialogen sensibel das code-switching beachtet. Dieser kurze rekonstruierende Rückblick auf die Premiere von „Vor Sonnenaufgang" und die Resonanz in der zeitgenössischen Presse lassen die schon damals als einschneidend empfundene Zäsur in der deutschen Theatergeschichte erkennen. Man erlebte den Durchbruch des Naturalismus mit dem ersten Schauspiel eines deutschsprachigen Autors als Beginn einer neuen Epoche. Doch die neuartige Behandlung der Sprache, die „in ein Spannungsverhältnis von Dialekt und Hochsprache" tritt (Reiß 1974, 10079), hat man nicht gesehen. Im breiten und umfangreichen Spektrum der Stellungnahmen füllen die Bemerkungen zur sprachlichen Gestaltung einen nur kleinen Raum, und außerdem sind sie vage und ermangeln jeder gezielten Spezifik. Wenn Lutz Mackensen versucht, den Beginn der deutschen Gegenwartssprache mit dem 20. Oktober 1889 zu datieren, dann sieht er in der Hauptmann-Premiere wohl eine Art symbolischer Signalwirkung. Denn in dem vielbeachteten Stück erklingt nicht
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mehr die für die Bühne bisher verbindliche Hochlautung von Theodor Siebs oder der Dialekt (wie z . B . bei Anzengruber), sondern die dazwischen liegende alltägliche Verkehrssprache, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat und jetzt gewissermaßen die Weihe der Öffentlichkeit erhält. Fünf Jahre später publiziert Hermann Wunderlich die erste sprachwissenschaftliche Arbeit über die Syntax der Umgangssprache (vgl. Wunderlich 1894). Sehen wir uns einige Beispiele der schriftlich fixierten, scheinbar gesprochenen Sprache in Hauptmanns erstem Drama an. Es ist hier nicht der Ort, die Besonderheiten des literarischen Dialogs ausführlich zu erörtern (vgl. Grosse 1972, 649-668; Gelhaus 1979; Betten 1985). Aber man sollte daran denken, daß der Autor alle Wechselreden des Stückes schriftlich fixiert hat und zwar (besonders im Naturalismus) als wohlüberlegte, kalkulierte Imitation der gesprochenen Sprache. Dem Dialog auf der Bühne sind einige Charakteristika eigen, die der Alltagskommunikation fehlen: - Der Autor bestimmt Sprechen, Verstehen und Reagieren seiner Personen. Er prägt die Konstellation von Sender und Empfänger. Die Vielfalt der Stimmen und Meinungen ist scheinbar. Sie bringt die Mitteilung nur einer Person, nämlich des Autors, in verteilten Rollen zum Ausdruck. - Deshalb fehlt dem Bühnendialog jede elastisch agierende Spontaneität. - Gleichzeitiges Sprechen mehrerer Personen wird vermieden, um die Verständlichkeit nicht zu stören. - Autor, Regisseur, Kostüm- und Bühnenbildner legen die extralingualen Situationen fest, in denen der Dialog abläuft oder so zu spielen ist, daß er zum Ambiente paßt. - Die Gespräche werden in breiter Front von einem vielköpfigen Auditorium mitgesehen und mitgehört, was die Spieler nicht zu wissen scheinen. Das gehört zur Illusion des Theaters. Kein Ereignis wächst zufällig oder unvermutet aus einer Situation heraus, falls es nicht Löcher im gelernten Text gibt und improvisiert werden muß, um die Panne zu beheben. Jeder Text ist durchdacht und vermutlich oft korrigiert worden, bis die letzte schriftlich fixierte Konstruktion dastand. Er wird auswendig gelernt, einstudiert und so reproduziert, daß ihn der Zuschauer für die eigenen Worte des jeweiligen Schauspielers hält. Diese hinlänglich bekannte, bei vorzüglichen Aufführungen in Vergessenheit geratende artifizielle Planung ist in der jahrhundertealten Theaterspieltradition unverändert geblieben, gleich welchen -ismus die literarische Epoche als Bezeichnung trägt. Der Naturalismus dürfte es dabei besonders schwer haben, um mit dieser erforderlichen Künstlichkeit den Eindruck selbstverständlicher Natürlichkeit zu erreichen. Der Autor hat gleichsam umgekehrt vorzugehen wie der Sprachwissenschaftler bei der Aufnahme gesprochener Sprache und ihrer Transkription. In der empirischen Spracherhebung steht am Anfang die Tonbandaufnahme,
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Varietäten in Ha.uptma.nns ,Vor Sonnenaufgang'
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die für die Analyse mühsam transkribiert und mit einer Beschreibung der Situation und der sozialen Daten der Sprechenden versehen werden muß. Für den Dramatiker beginnt die Arbeit mit der Konzeption der fiktiven Personen, ihrem äußeren Erscheinungsbild, ihrem Charakter und evtl. der sozialen Herkunft, es folgen die Skizze des Handlungsortes und schließlich die Komposition und Niederschrift der Dialoge, die dann in einem langwierigen Probenprozeß gelernt und gespielt, d.h. in einen fiktionalen Handlungsablauf umgesetzt werden müssen. Die Qualität des Schauspiels wird durch die Stimmigkeit der konstruierten, inszenierten und reproduzierten Sprechhandlungen bestimmt. Da der Interpretationsspielraum des Textes, der Einfallsreichtum der Inszenierung und die Qualität der Schauspieler offen bleiben, sind sehr unterschiedliche Arten der Realisierung möglich; keine ist mit einer anderen identisch. Hauptmann fügt seinen naturalistischen Dramen genaue und ausführliche Szenenanweisungen über das Bühnenbild, die Gestalt der Rollenträger und die Gänge und Handlungen der Spieler (Gebrauch von Requisiten) bei, die als epische Einlage die Lektüre veranschaulichen, aber eventuell dem Regisseur Einschränkungen auferlegen. In den oben zitierten Tageskritiken der Premiere gehen die Rezensenten auf die Leistungen der Schauspieler ein, während sie den Regisseur - wenn überhaupt - nur beiläufig erwähnen. Die Vorgabe der extralingualen Situation wird wie im Alltag in den Text einbezogen, indem z . B . die Deixis verbale Einsparungen erlaubt: „Hoffmann präsentiert Zigarren: Aber das ist was für dich - nicht?! . . . auch nicht?!" (Hauptmann 1952, 87). Ein solcher Bezug ist ebenso auf Unbenanntes möglich, wenn es sich um etwas nicht Sichtbares handelt, ζ. B. um ein vergangenes Ereignis aus der Vorgeschichte des Dramas, das nur die beiden Studienfreunde Loth und Hoffmann kennen, die Zuschauer aber noch nicht. Hoffmann: [ . . . ] - erzähle mir lieber etwas von dir, was du getrieben hast, wie's dir ergangen ist. Loth: Es ist mir so ergangen, wie ich's erwarten mußte. - Hast du gar nicht von mir gehört? - durch die Zeitungen mein ich. Hoffmann, ein wenig benommen: Wüßte nicht. Loth: Nichts von der Leipziger Geschichte? Hoffmann: Ach so, das! - Ja! - Ich glaube . . . nichts Genaues. Loth: Also, die Sache war folgende . . . Hoffmann, seine Hand auf Loths Arm legend: Ehe du anfängst - willst du denn gar nichts zu dir nehmen? Loth: Später vielleicht. Hoffmann: Auch nicht ein Gläschen Kognak? Loth: Nein. DELS am allerwenigsten. Hoffmann: Nun, dann werde ich ein Gläschen . . . Nichts besser für den Magen. Holt Flasche und zwei Gläschen vom Büfett, setzt alles auf den Tisch vor Loth. Grand Champagne, feinste Nummer; ich kann ihn empfehlen. - Möchtest du nicht? Loth: Danke.
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Siegfried Grosse Hoffmann, kippt das Gläschen in den Mund·. Oah! - na, nu bin ich ganz Ohr. Loth: Kurz und gut: da bin ich eben sehr stark hineingefallen. Hoffmann: Mit zwei Jahren, glaub ich?! Loth: Ganz recht! Du scheinst es ja also doch zu wissen. Zwei Jahre Gefängnis bekam ich, und nach dem haben sie mich noch von der Universität relegiert. (Hauptmann 1952, 88-89)
Dieser kurze Wortwechsel zeigt Hauptmanns erstaunliche Begabung der genauen Sprachbeobachtung: Sprechintensität und -geschwindigkeit, für die es keine adäquaten Schriftzeichen gibt, werden mit Ausrufe- und Fragezeichen, ja mit der Koppelung beider Zeichen angedeutet, und die auffallend starke Neigung zur Verwendung von Gedankenstrichen oder drei Punkten markiert Pausen und Verhaltenheit im Redefluß. Auslassungen von Personalpronomen oder dem finiten Verb und die Häufung verstümmelter Satzelemente beeinträchtigen das Verständnis nicht, da dieses sich aus dem Kontext ergibt. Partikeln und Kontraktionen machen das Gespräch geschmeidig; Interjektionen signalisieren die emotionale Erregung, die das T h e m a der Gefängnishaft auslöst. Mit scheinbar belanglosen Wendungen wird der dunkle P u n k t in Loths Vergangenheit bloßgelegt, wobei Sprechen und Verstehen exakt ineinander eingepaßt sind. Diese dem Standard nahe Umgangssprache kennzeichnet alle Dialoge zwischen Loth, dem als Sozialempiriker in den Bauernhof Krause eindringenden Gast, Hoffmann, dem Schwiegersohn des Bauern Krause, dem Arzt Dr. Schimmelpfennig, den Loth aus seiner Studienzeit kennt und der die marode Familie nicht retten kann, und Helene, der unverheirateten Tochter Krauses, die hofft, durch die Zuneigung zu Loth den vom Alkohol zerrütteten Familienverhältnissen entkommen zu können. Kohlefunde unter den Feldern des Gutes hatten zu großem Neureichtum geführt, den die bäuerliche Familie nicht in den Griff bekam. Wenn Loth Helene die Grundsätze seiner Weltanschauung entwickelt, beginnt er zu dozieren. Seine manirierte, papierene Ausdrucksweise verfehlt ihren Eindruck auf Helene nicht: Loth, ein wenig betreten: Verdienst ist weiter nicht dabei, Fräulein, ich bin so veranlagt. Ich muß übrigens sagen, daß mir der Kampf im Interesse des Fortschritts doch große Befriedigung gewährt. Eine Art Glück, die ich weit höher anschlage als die, mit der sich der gemeine Egoist zufriedengibt . . . Helene: Es gibt wohl nur sehr wenige Menschen, die so veranlagt sind. - Es muß ein Glück sein, mit solcher Veranlagung geboren zu sein. Loth: Geboren wird man wohl auch nicht damit. Man kommt dazu durch die Verkehrtheit unserer Verhältnisse, scheint mir; - nur muß man für das Verkehrte einen Sinn haben: das ist es! Hat man den, und leidet man so bewußt unter den verkehrten Verhältnissen, dann wird man mit Notwendigkeit zu dem, was ich bin. (Hauptmann 1952, 123-124).
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Als Städter steht Loth dem Landarbeiter Bleibst gegenüber, der Dialekt spricht: Bleibst: Die Staadter glee - ekch! - die Staadter, die wissa doo glee oals besser wie de Mensche vum Lande, hä? Loth: Das trifft bei mir nicht zu. - Könnt Ihr mir vielleicht nicht erklären, was das für ein Instrument ist? Ich hab's wohl schon mal wo gesehen, aber der Name Bleibst: Doasjenige, uf dan Se sitza?! Woas ma su soat Extrabater nennt man doas. Loth: Richtig, ein Exstirpator; wird er hier auch gebraucht? (Hauptmann 1952, 117). Der promovierte Stadtbewohner Loth steht dem schlesischen Landarbeiter, dem das Sozialengagement seiner empirischen Untersuchung gilt, fremd und distanziert gegenüber. Er findet im Gespräch mit ihm nicht den vertraulichen umgangssprachlichen Ton, den er Hoffmann gegenüber anschlägt. Das zeigt sich z.B. an der Frage nach dem Gerät, das er „Instrument" nennt und das Hauptmann Anlaß zur dialektalen Fremdwort verballhornung gibt, die öfter als stilistischer Ausdruck der technischen Entwicklung vorkommt. Den schlesischen Dialekt der naturalistischen H a u p t m a n n - D r a m e n richtig zu sprechen, dürfte für die Schauspieler heute ein Problem sein, und ihn zu verstehen, für die Zuhörer, ja sogar für die Leser. Wer weiß schon, daß ein Kratsch'm oder Kretscham ein Gasthaus ist, ein tummer Darre ein alberner Kerl, der Gostwertlops ein Narr von einem Gastwirt? Aber auch abgesehen von den nicht zu zahlreichen fremden Ausdrücken ist die Lautung dem Ungeübten schwer eingängig. Wie exakt und konsequent H a u p t m a n n die Mundart seiner Salzbrunner Heimat transkribiert hat, ist, soweit ich sehe, noch nicht untersucht worden. Z . B . erscheint das unpersönliche Pronomen man bald als ma, bald als man, ohne daß man für den Wechsel einen Anlaß in der unmittelbaren Umgebung ausmachen könnte. Auch das lange i (ii) wird unterschiedlich wiedergegeben. Die Syntax des Landarbeiters Bleibst, der seinen Dialekt dem Stadtbewohner gegenüber nicht verändert, zeigt Hauptmanns ungewöhnliches Einfühlungsvermögen: Bleibst: [...] Wissa Se: wenn Se, und Se wulln da naus gihn auf a Barch'[Berg] zu, wissa Se, do haaln [halten] Se siich links, wissa Se, zängst [bis zum Ende] nunder links, rechts gibt's Risse. Mei Suhn meente, 's kam do dervoone, meent a [er], weil se zu schlecht verzimmern [abstützen] täten, meent a, de Barchmoanne [Bergleute], 's soatzt zu wing Luhn [es gibt zu wenig Lohn], meent a, und do giht's ok a su: woas hust de, woas koanst de, ei a Gruba, verstiehn S. - (Hauptmann 1952, 118-119; in Klammern gebe ich Verständnishilfen) Zu Beginn die mehrfache Unterbrechung mit der Kontaktformel Wissa Se und in der zweiten Hälfte die Wiederholung des Referenzhinweises meent α gliedern die Rede in kurze Sinnabschnitte.
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Anders als Bleibst stellen sich Frau Krause, ursprünglich eine Magd, die der Bauer in zweiter Ehe geheiratet hat, und das Hausmädchen Miele auf Gesprächspartner ein, die keine Mundart sprechen. Beide reden an sich wie Bleibst. Aber bei der Ankunft Loths sagt Miele zum fremden Gast: Miele: Bitte! Ich werde den Herrn Inschinnär glei raffen. Wollen Sie nich Platz nehmen?! (Hauptmann 1952, 85). Dagegen weist sie einen Auftrag Helenes an den Diener Eduard ganz anders zurück: Miele, unterdrückt, batzig: Sie kinn'n 's 'm salber sagen, a nimmt nischt oa vu mir, a meent immer: a war ock beim Inschinnär gemit't (Hauptmann 1952, 97). Das Mädchen spricht in der Mundart, um zum Ausdruck zu bringen, daß Helene ins Haus gehört als Tochter Krause. Helene dagegen verläßt nie die offenbar in Herrnhut gelernte Sprachebene, um sich zu distanzieren, denn sie will unbedingt den Verhältnissen des elterlichen Hofes entfliehen. Das Gleiche gilt für die sprachlichen Beziehungen zwischen Helene und Frau Krause. H a u p t m a n n erkennt das Phänomen des code-switching und nutzt es zur Charakterisierung der Figuren, oft auch im komischen Sinn. Das gilt besonders für Frau Krause, die - einst Magd - jetzt im schweren Neureichtum jeden Sinn für die Realität verloren hat, und für ihre halbgebildete, überspannte Gesellschafterin Frau Spiller. Frau Krause hält den ankommenden Loth für einen Bettler und weist ihn dementsprechend schroff ab, natürlich im Dialekt: A koan orbeita, ο hoot Oarme, naus! hier gibbts nischt! [...] Beim Schwiegersuhne batteln: doas kenn mer schunn. - A hoot au nischt, a hoot's au ock vu ins, nischt iis seine! (Hauptmann 1952, 85). Der hinzukommende Hoffmann verhindert den Rausschmiß. Später dann zu dem mit Hummer und Austern protzigen Abendessen erscheint Frau Krause furchtbar aufgedonnert. Seide und kostbarer Schmuck. Haltung und Kleidung verraten Hoffart, Dummstolz, unsinnige Eitelkeit f...] Frau Krause, macht einen undefinierbaren Knicks: Ich bin so frei! Nach einer kleinen Pause Nein aber auch, Herr Doktor, nahmen, Sie mir's ock bei Leibe nicht ibel! Ich muß mich zuerscht muß ich mich vor Ihn vertefentieren - sie spricht je länger, um so schneller -, vertefentieren wegen meiner vorhinigten Benehmigung. Wissen Se, verstihn Se, es komm ein der Drehe bei uns eine so ane grußmächtige Menge Stremer . . . Se kinn's ni gleba, ma hoot mit dan Battelvulke seine liebe Not [...] Uf da Pfennig kimmt's ins ne ernt oa, ne ock ne, ma braucht a ni dreimal rimzudrehn, au ken'n Toaler nich, ebb ma'n ausgibbt [...] (Hauptmann 1952, 102-103). Ganz klappt es am Anfang mit dem Hochdeutschen nicht. Es kommt eine mit hyperkorrekten Bildungen durchsetzte dialektfernere Rede zustande, die aber mit der Zunahme der Sprechgeschwindigkeit immer mehr Dialektelemente aufnimmt, bis dann Frau Krause wieder ganz in ihr angestammtes Schlesisch zurückfällt.
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Frau Spiller, beflissen ohne eigene Meinung, gibt nur Belanglosigkeiten von sich, redet in der dritten Person und spricht hochdeutsch, wenn sie ihre Funktion als Frau Krauses Gesellschafterin erfüllt: Frau Spiller, mit unterwürfigem wehmütig geziertem Moll-Ton, sehr leise: Der Baron Klinkow haben genau dasselbe Buffett - m - . Frau Spiller: Gnädige Frau haben eine so feine Zunge - m - ! Frau Spiller, durch eine Verbeugung des Oberkörpers ergebenst bestätigend: Es ist Schentelmen leicht, viel Wein zu trinken. (Hauptmann 1952, 103, 105, 107) Aber wenn sie mit Wilhelm Kahl, Nachbarsohn und Neffe von Frau Krause, der Helene heiraten soll, spricht, verläßt sie ihre sprachliche Repräsentationsebene: Frau Spiller, leidend: Ach ja - m - gnädiger Herr Kahl! [...] das gnädige Freilein . . . sie ist doch nun mal - m - sozusagen - m - mit Sie verlobt. [...] Ach, Herr - m - Kahl, ich bin zwar sozusagen - m - etwas - m - herabjekommen, aber ich weiß sozusagen - m , was Bildung ist. In dieser Hinsicht, Herr Kahl . . . , das Freilein - m - das gnädige Freilein . . . , das handeln nicht gut gegen Ihnen [... ] (Hauptmann 1952, 153-154). Gerhart Hauptmanns erstes soziales Drama „Vor Sonnenaufgang" kennzeichnet den Durchbruch des Naturalismus im deutschsprachigen Theater. Aber es bedeutet - und hierin ist Lutz Mackensen zu korrigieren - für die deutsche Sprachgeschichte keinen vergleichbar tief wirkenden Einschnitt wie für die Literaturwissenschaft. Doch die stichprobenartige Betrachtung der Dialoge zeigt Hauptmanns erstaunliche Begabung der Sprachbeobachtung und -gestaltung. Er stattet seine Rollen mit unterschiedlichen Registern aus, die je nach der Sprech- und Partnersituation eingesetzt werden. Hochsprache, Mundart und Umgangssprache erscheinen in changierenden Varietäten. H a u p t m a n n gibt Theorien, die von den Linguisten erst zwei Generationen später entwickelt werden, eine eindrucksvolle Bühnenwirklichkeit. Literatur Baake, Curt (1889): Verein ,Freie Bühne'. Sonntag, den 20. Oktober 1889. ,Vor Sonnenaufgang1 . Soziales Drama in fünf Aufzügen von Gerhart Hauptmann. In: Berliner Volksblatt Nr. 247, 22. Oktober (Beilage). Betten, Anne (1985): Sprachrealismus im deutschen Drama der 70er Jahre. Heidelberg. Bleibtreu, Karl (1889): ,Vor Sonnenaufgang4. Soziales Drama von Gerhart Hauptmann. In: Die Gesellschaft 5, Bd. 2, 1657-1660. Brahm, Otto (1889a): Die Freie Bühne II. In: Das Magazin für die Literatur des Inund Auslands, Jg. 58, Nr. 45, 716-717. Brahm, Otto (1889b): Ein deutscher Naturalist. In: Die Nation, Jg. 6, Nr. 50, 749750. Brahm, Otto (1890): Theater. In: Die Nation, Jg. 7, Nr. 4, 58-60.
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Fontane, Theodor (1964): ,Vor Sonnenaufgang 1 (Aufführung vom 20. Oktober). In: Causerien über Theater, zweiter Teil. (Sämtliche Werke Bd. XXII, 2. Hg. von Edgar Grass). München, 710-718. Gelhaus, Hermann (1979): „Die Sprache scheidet sie . . . " . Einige soziolinguistische Beobachtungen zu Fritz Reuters „Ut mine Stromtid". In: Festschrift für Heinz Rupp zum 60. Geburtstag. München, 193-215. Grosse, Siegfried (1972): Literarischer Dialog und gesprochene Sprache. In: Festschrift für Hans Eggers zum 65. Geburtstag. Tübingen, 649-668. Hartlebe, O t t o Erich (1890): ,Vor Sonnenaufgang 1 auf der Freien Volksbühne. In: Freie Bühne für modernes Leben, 1. Jg., 1088-1089. H a u p t m a n n , Gerhart (1889): ,Vor Sonnenaufgang*. Sociales Drama. Berlin, 106 S. Hauptmann, Gerhart (1952): ,Vor Sonnenaufgang 1 . Soziales Drama. In: Ausgewählte Dramen Bd. I. Berlin, 83-184. Hensel, Georg (1992): Spielplan. Der Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart. 2 Bände. München. Hoefert, Sigfrid (1986): Internationale Bibliographie zum Werk Gerhart Hauptmanns. Bd. I. Berlin. (=Veröffentlichungen der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft e . V . Bd. 3). Holz, Arno (1889): Die Freie Bühne. In: Das Magzin für die Literatur des I n - und Auslands, Jg. 58, Nr. 45, 716-717. Kaberlin (Karl Küchenmeister) (1889): Berliner Bühnenbrief. Lessing-Theater: ,Die Ehre von H. Sudermann'; Belle-Alliance-Theater: ,Vor Sonnenaufgang 1 von G. H a u p t m a n n . In: Das Magazin für die Literatur des I n - und Auslands, Jg. 58, Nr. 52, 828-829. Kapff-Essenther, F. von (1890): Die Berliner Theater und die Literatur. In: Moderne Dichtung, Jg. 1, Bd. 1, Berlin, 41-42. Kent, Μ. (1890): Theater. In: Die Nation, Jg. 8, Nr. 7, Berlin, 107-109. Mackensen, Lutz (1972): Die deutsche Sprache in unserer Zeit. Zur Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts. 2. Auflage. Heidelberg. Mager, Hans (1952): Einführung in das dramatische Werk Gerhart Hauptmanns. In: Ausgewählte Dramen Bd. I. Berlin, 30-34. Reiß, Gunther (1974): ,Vor Sonnenaufgang 1 . In: Kindlers Literaturlexikon im dtv in 25 Bänden. München, Bd. 23, 10078-10079. Weinhold, Karl (1855): Beiträge zu einem schlesischen Wörterbuche. Wien. Wolzogen, Ernst von (1889): Freie Bühne. Berlins Publikum und Presse über Hauptmanns D r a m a ,Vor Sonnenaufgang 1 . In: Die Gesellschaft. Bd. 5. Leipzig, 1733-1745. Wunderlich, Hermann (1894): Unsere Umgangsprache in der Eigenart ihrer Satzfügung. Weimar, Berlin.
WILLY MICHEL, Freiburg i. Br. EDITH MICHEL, Mulhouse
Hermeneutische Situation und reale Umbruchssituation. Zur Sprache und Kritik in der Essayistik seit 1989 bei Martin Walser, Peter Sloterdijk, Volker Braun, Botho Strauß und Peter Handke Ein Sonderfall der Hermeneutik: wenn die hermeneutische Situation mit einer tiefgreifenden Umbruchssituation zusammenfällt, wenn die Reflexion der Verstehensvoraussetzungen in ihrer zeitlichen Bedingtheit auf einen Umwertungsprozeß auftrifft, der mehr als einen Paradigmenwechsel nach sich zieht. Die Umbruchsphase in den realhistorischen Bedingungen datiert seit 1989. Die Tiefendimension und die Folgewirkungen auf die einzelnen „Partialwertgebiete" 1 und auf einzelne geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen sind noch ungewiß. Literaturwissenschaften und Sprachwissenschaften sind möglicherweise unterschiedlich davon betroffen. Die Hermeneutik als synthesierende Grundlagendisziplin könnte einige Vergleichsmomente setzen und Unterscheidungen treffen. Die deutsche Literaturwissenschaft hat seit den 1960er Jahren, dem Gesetz der beschleunigten Ablösung von Avantgardeströmungen folgend, nacheinander mehrere methodologische Hypostasierungen und totalisierende Vereinseitigungen versucht, von einer vermeintlichen Ablösung der Produktionsästhetik durch eine Rezeptionsästhetik über eine radikale ideologiekritische Funktionsbestimmung bis zu einem überdehnten psychoanalytischen Paradigma. Sie hat aber ebenso oft Ansätze aus fremden Theoriekulturen im deutschen Rahmen totalisiert, von der italienischen Semiotik über den französischen Poststrukturalismus bis zu nordamerikanischen Konzepten zur Postmoderne. In beiden Fällen wurde die hermeneutische Überprüfung und Begrenzung von (interkulturellen) Geltungsreichweiten und (interdisziplinären) Applikationsreichweiten der Kategorienbestände und der Repertoires an Deutungsmustern außer acht gelassen. Auch die Sprach- und Kommunikationswissenschaften entgingen nicht der phasenspezifischen Vereinseitigung und der modisch- avantgardistischen Ausrichtung. ,Krieg und Frieden in der Sprache' (Pasierbsky 1983) wurden in den 1980er Jahren oftmals so untersucht, daß die ideologischen Absichten die sprachwissenschaftlichen Erkenntnisinteressen zu überlagern schienen. Aber ι Vgl. Broch 1931, 115, 152, 231; 1977, 156ff.
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in beiden Bereichen gab es Ausnahmen. Urteilsdistanz und Zeitidiosynkrasie brauchen sich nicht auszuschließen. Vielmehr sind sie, auch gegenüber allem Objektivismus in manchen weiterbestehenden wissenschaftstheoretischen Annahmen, aufeinander angewiesen. Der Hermeneut muß die Dialektik von Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit mehrfachem Perspektivenwechsel verbinden. Er braucht das, was Friedrich Schlegel, gegen das standortgewisse Verstehen von einem „Sehe-Punckt" aus oder innerhalb eines geschlossenen „Gesichtskreises", als ,oszillierenden Gesichtspunkt' entworfen hat 2 . Urteilsdistanz und Zeitidiosynkrasie sind in der Sprachwissenschaft da am stärksten gefordert, wo es um Phasenabgrenzungen innerhalb einer Sprachgeschichte der Gegenwart geht. Hugo Steger hat als erster einen solchen Entwurf vorgelegt (Steger 1989), der inzwischen auch von Georg Stötzel bestätigt wurde (Stötzel 1993,111,113). Er umfaßt die Zeit zwischen 1945 und 1989 und verfolgt insofern „mehrere Stränge gleichzeitig", als er die „Kommunikationsgeschichte" in der Bundesrepublik vom Wandel im „öffentlichen politischen' und fachlichen Vokabular" über die Sprache der Jugend bis hin zur Literatursprache untersucht (Steger 1989, 45 f.). Die meisten der dort aufgezeigten Tendenzen in den sprachlichen und kulturellen Teilsystemen wirken nach 1989 fort, aber dennoch hat der ideologische und realpolitische Umbruch dazu geführt, daß manche Diskrepanzen zwischen den Realperspektiven und den sprachlichen Verarbeitungsgewohnheiten deutlicher werden. Hinter diesen sprachlichen Phänomenen scheinen Rollensysteme auf, die es hermeneutisch zu rekonstruieren gilt. Die Selbststilisierung und die öffentliche Rollenattribuierung bei Autoren kommt in Appellstrukturen zum Vorschein, die wiederum völlig verschieden aussehen in einzelnen literarischen Gattungen und darüber hinaus in anderen Textsorten. Die politisch- moralische Appellstruktur, die viele Autoren, zentriert um den ,Engagement'-Begriff, in den 1950er Jahren ausgebildet hatten, wirkt fort im Selbstanspruch mancher Literaten und ebenso in der Erwartungshaltung verschiedener Resonanzböden des Publikums. Aber genau diese Appellstruktur wurde nach 1989 brüchig, insofern viele Fehlannahmen, Utopien, Illusionen einbekannt und aufgearbeitet werden müßten, bevor der hypostasierte Kritikbegriff selbst untersucht und begrenzt werden könnte, den auch große Teile der Geisteswissenschaften übernommen hatten. Die Verstehenssituation nach 1989 verlangt also offenbar nach einer historisch-hermeneutischen Anamnese, die tiefer ansetzt. Wollte man die Rollensysteme und Kritikerattitüden einfach fortsetzen, so verfiele man dem Zwang, das zu betreiben, was die Sozialpsychologie als kognitive Dissonanzminderung' bezeichnet: den Versuch, die entstandene Diskrepanz einfach interpretatorisch herunterzuspielen oder zu überformen. Dies müßte auch sprachlich nachzuweisen sein. Eine Textsorte bzw. ein Genre ist besonders geeignet, jene unterschiedlichen Reaktionen auf die Umbruchsphase zu beleuchten und zu untersuchen: 2 Vgl. Michel 1982, 124ff., 173ff., 250, 348ff., 366.
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der Essay. Diese Form ist weder literarisch noch philosophisch fest umrissen, so daß sie unmittelbar reagieren kann auf neue Herausforderungen. Andererseits fließen Elemente der Literatursprache ebenso ein wie Denkfiguren, die nur noch lose mit der philosophischen Terminologie verbunden sind. Der Essay entzieht sich dem Systemzwang ebenso wie der literarästhetischen und der fachwissenschaftlichen Konsistenzbildung. Deshalb läßt sich auch die Diffusion bestimmter Denkfiguren in eine breitere Öffentlichkeit leichter nachweisen. Der Essayist geht aber auch ebenso wie der Hermeneut von einer Verstehenssituation aus oder bezieht sich indirekt auf eine solche. Aber er umspielt und umschreibt oftmals nur, was für jenen Ausgangspunkt einer Reflexionsreihe ist. In der Umbruchphase seit 1989 haben mehrere Autoren essayistische Arbeiten veröffentlicht, in denen sich geradezu idealtypisch verschiedene Tendenzen nachweisen lassen. Martin Walser notiert seine unterschiedlichen Reaktionen auf die Umbrüche des Jahres 1989 in zwölf Essays, die bis zum Jahresende reichen und noch mit dessen Druckdatum unter dem Titel „Uber Deutschland reden" erschienen. Der vielleicht prononcierteste gesellschaftskritische Schriftsteller der 1960er Jahre dokumentiert seinen eigenen Wandlungsprozeß bei dem Thema, das mit mehreren politischen und moralischen Traumata verbunden war. Genau gegenläufig entwickeln sich die essayistischen Urteile in Peter Sloterdijks „Versprechen auf Deutsch" (1990). Sloterdijk hat als Philosoph bereits in seiner zum Kult buch gewordenen „Kritik der zynischen Vernunft" hypostasierte Formen der Kultur- und Gesellschaftskritik vorgeführt, die sich sehr stark an ästhetische Anschauungsformen anlehnen. Die Appellstruktur des Textes „Versprechen auf Deutsch" verschärft sich dadurch, daß Sloterdijk diese ursprünglich im Dezember 1989 entworfene Rede essayistisch erweitert. Volker Braun veröffentlicht als einer der prominentesten Dramatiker der ehemaligen DDR 1992 unter dem Titel „Die Zickzackbrücke" einen „Abrißkalender", der neben mehreren szenischen und poetischen Kurzformen auch essayistische Urteils- und Darstellungsformen aufweist. Botho Strauß sucht 1993 in einem Spiegel-Essay unter dem Titel „Anschwellender Bocksgesang" die „Transformierbarkeit" zentraler bisheriger Denkfiguren in der Umbruchsphase in Frage zu stellen. Scheinbar am weitesten entfernt von allen unmittelbar zeitkritischen Reaktionen veröffentlicht Peter Handke einen Essay, der sich nur mit esoterischen Zeitreflexionen beschäftigt und an makrohistorische Wirkungsgeschichten anknüpfen will, unter dem Titel „Versuch über den geglückten Tag". Aber auch dieser Text stellt eine Objektivation dar, die mithilft, jene Verstehenssituation aufzuhellen. Bereits die Zusammenstellung dieser Essays läßt, im Sinne eines divinatorischen Verstehenszugangs, vermuten, daß nicht nur völlig verschiedene schriftstellerische Rollenmuster (Schneider 1981, 11 ff., 71 ff.) im Spiel sind, sondern eine innere Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zu beobachten sein wird, die wir ja aus dem Bereich der Dialektik kennen. Angesichts dieser neuerlichen Aktualisierung des Ungleichzeitigkeitsproblems aber stellt sich die Frage nach
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den bisherigen Konstruktionen der „hermeneutischen Situation". Hans-Georg Gadamer hat in Teil II von „Wahrheit und Methode" (1960), der sich mit der „Wahrheit in den Geisteswissenschaften" beschäftigt, die Aufgabe formuliert, daß „diese Situation als hermeneutische Situation erst einmal auszuarbeiten" sei (Gadamer 1960, 311). Gegen den „historischen Objektivismus" macht er geltend, daß er die „wirkungsgeschichtliche Verflechtung, in der das historische Bewußtsein selber steht", verdecke (Gadamer 1960, 306). Aber er entwickelt dann doch keine Unterscheidung zwischen durchgesetzten, abgebrochenen und verdeckten Wirkungsgeschichten, denen verschiedene Modalabstufungen der Erinnerung entsprächen, sondern gestattet lediglich eine hermeneutisch-prozessuale Reflexion: „Vielmehr ist das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ein Moment des Verstehens selbst [ . . . ] Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist zunächst Bewußtsein der hermeneutischen Situation" (Gadamer 1960, 306 f.). Gadamer entwickelt kein Modell verschiedenfer Distanznahmen bei gleichzeitiger Teilhabe, wie man es ansatzweise bei Norbert Elias (1987, 59ff.) findet. Vielmehr beharrt er auf der aus der lebensphilosophischen Tradition entnommenen Ansicht, die „Situation" zeichne sich gerade dadurch aus, „daß man sich nicht ihr gegenüber befindet" (Gadamer 1960, 307). Deshalb konnten sich auch weder die sozialwissenschaftlichen Theorien zur ,Rollendistanz' bei gleichzeitiger teilnehmender Beobachtung' noch die hermeneutischen Ansätze, die sich auf mehrere, möglicherweise gegenläufig eingenommene ,Verstehensrollen' beziehen, auf Gadamer berufen. Gadamer steht in der Wirkungsgeschichte des geschlossenen, wenn auch beweglichen „Horizontes" oder „Gesichtskreises", die von Herder bis Husserl reicht, und kennt weder den ,oszillierenden Gesichtspunkt' der Frühromantik (Gadamer 1987, 251 fF.) noch akzeptiert er eine dialektische Konstruktion jener „Situation". Gerade die aber war bei Jaspers in der Abhandlung über „Die geistige Situation der Zeit" (1931) bereits angelegt. Um „im Bewußtsein die Weite des Möglichen zu gewinnen" gelte es, mehrere „Wissensperspektiven in der Relativität" einzunehmen (Jaspers 1931, 26). Darüber hinaus gehöre es mit zu einer „Situationserhellung", entgegengesetzte oder unterschwellig gegenläufige Positionen dialektisch aufeinander zu beziehen, denn „die irrenden Haltungen haben in ihrer Gegensätzlichkeit etwas Gemeinsames" (Jaspers 1931, 27) 3 . Diese widersprüchliche Gemeinsamkeit macht es erforderlich, Zeitgenossenschaft dialektisch zu betrachten, zugleich die Teilhabe an unterschiedlichen Wirkungsgeschichten zu rekonstruieren und die Fixierung auf zurückliegende phasenspezifische Rollenmuster zu ergründen. Gadamer hat allerdings in den frühen 1970er Jahren, insbesondere in dem Aufsatz „Semantik und Hermeneutik", Ansätze formuliert, die zu einer Neufassung der inneren Dialektik jener „Verstehenssituation" führen könnten, so, wenn er „hinter den gegebenen Sprachpluralismus zurückfragen" möchte. Aber es geht dann doch, unter Auslassung der ,Partialwertgebiete', der sozialen und 3
Zur dialektischen Konstruktion der Verstehenssituation vgl. Michel 1985, 211, 214ff.
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generationellen Zugehörigkeiten und der zeitlichen Divergenzen, letztlich u m die „Totalität des Weltzuganges" und darin u m „echte Verbindlichkeit" (Gadamer 1972, 250 f.). Diese zweifellos notwendige ethische Rückbindung wird aber nicht nach der verstehenden Rekonstruktion des Relativismus vorgenommen, sondern erweist sich wirkungsgeschichtlich als Erbteil der existentialontologischen Hermeneutik Heideggers 4 . Ein weiterer Mangel in den bisherigen Fassungen der „hermeneutischen Situation", der sich ebenfalls als Modernitätsdefizit begreifen ließe, besteht darin, daß die interkulturellen Verflechtungen außer acht gelassen werden. Dies gilt einerseits für historische Wechselbeeinflussungen und Reaktionsbildungen, die wirkungsgeschichtlich in besonderer Weise erinnert werden müßten. Andererseits aber gewinnt jeder Entwurf einer hermeneutischen Situation einen Objektivationscharakter für die kulturelle Außenperspektive. Die medienkommunikative Verflechtung führt dazu, daß der Selbstverständigungsprozeß der Bildungselite eines Landes mit Sicherheit von interessierten Funktionseliten eines anderen Landes als objektivationaler Ausdruck gedeutet wird. Die Projektionsbedürfnisse bestimmter Trägergruppen lassen es gar nicht mehr zu, eine Verstehenssituation rein endogen oder nationalkulturell zu formulieren, ohne daß dies interkulturelle Auswirkungen hat. So wurden und werden ζ. B. die Äußerungen deutscher Schriftsteller zu den realen und ideologischen Verwerfungen nach 1989 von der Medienöffentlichkeit Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und der USA genauestens und keineswegs rollenrelativistisch registriert. Vielmehr wird der jeweiligen Äußerung rasch eine überdimensionale Bedeutung attribuiert oder eine Kritik wird als exemplarisch und repräsentativ ausgegeben. Solche Fehlschlüsse und Fehleinschätzungen wären in einer interkulturellen Hermeneutik zu analysieren. Sie gehören mit zu dem, was Manfred Frank in seinen Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik unter den Titel „Das Sagbare und das Unsagbare" stellte (Frank 1990).
Eine essayistische Konstellation zum Umbruch M a r t i n W a l s e r beginnt mit der Feststellung einer Diskrepanz: der zwischen einer Reaktionsunfähigkeit und einem beschleunigten Wandlungsprozeß; „moralische Ermüdbarkeit" und „Tendenzwende" setzt er so in Entsprechung, daß der alte Vorwurf der Anpassung gar nicht erst aufkommen kann. Dann formuliert er in mehreren sich übersteigernden Fragesätzen eine Intellektuellenkritik, die vom Vorwurf des infantilen Narzißmus bis zum Gegensatz sozial wohlsituierter Untergangsphantasien reicht: Muß ich auch in diese autoerotischen Babybewegungen verfallen und sie sprachlich trockenlegen? Und in den Titanic-Belcanto einstimmen? Und das allseits 4
Heidegger 1927, 336: „Ursprünglich existenzial gefaßt, besagt Verstehen: entwerfend-sein zu einem Seinkönnen, worumwillen je das Dasein existiert".
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Aber diese Selbstimplikation wird sogleich in ihrem Rollencharakter witzig umschrieben. Der Autor stellt sich als „Mitarbeiter an der öffentlichen Meinung" vor, der im Rückblick sein Sprachverhalten überprüft. Er attestiert sich, dafi er „jahrelang eine gesellschaftliche Ausdrucksweise anstrebt(e) (im Gegensatz zu einer narzißtischen)", aber jetzt erkenne er die Gefahr, daß sich diese „Ausdrucksweise verselbständigt" (Walser 1989, 8). Die sprachkritische Einsicht, daß sich durch Nachahmung bestimmter Wendungen und Formulierungen eine Kritikerattitüde ausbildet, führt zu der Erkenntnis, daß diese sich dann nicht mehr intentional auf neue gesellschaftliche Realitäten zu beziehen vermag. Walser destruiert dann das von Habermas geprägte Trend wort, das für eine Kurzgeneration gegolten hat: Nach Gott haben wir nichts Wichtigeres mehr gehabt als Öffentlichkeit. Deshalb müßte uns daran gelegen sein, daß die öffentliche Meinung [... ] voller Wirklichkeit ist und nicht immer mehr ein Produkt des Lippengebets von bezahlten Gebetsspezialisten (Walser 1989, 10). Konnotativ wird ein Säkularisationsmodell unterlegt, das den dogmatischen Charakter einer sich selbst wiederholenden Gesellschaftskritik aufdecken soll. Aber dann zieht sich Walser scheinbar in den ästhetischen Rollenrahmen zurück, wenn er sich selbst empfiehlt, „vorübergehend in der dritten Person zu bleiben". Man kann diese Stelle als Anspielung auf die Erzähl- und Erlebnisprobleme seines Romans „Das Einhorn" verstehen. Dort wird die ,Identitätsdiffusion' 5 eines erlebenden und schreibenden Ich als ironische ,Selbstalienation' vorgeführt, ganz in der Tradition des Novalisschen Konzeptes. Die ästhetischen Rollenbetrachtungen gehen dann wieder in politische Rollenvorstellungen über: Also: Einer kann die Meinungen, die er öffentlich geäußert hat, nicht zurücknehmen, aber er kann sie auch nicht mehr so vortragen wie etwa zehn Jahre vorher. Seine Meinungen und er sind einander ein bißchen fremder geworden (Walser 1989, 8). Der Prozeß dieses Fremdwerdens wird ironisch so umschrieben, daß sowohl jene ästhetischen Vorstellungen zur Selbstalienation als auch die gesellschaftskritisch umgemünzte Kategorie der ,Entfremdung' ins Spiel kommen. Es geht nur noch um eine ironische Neufassung des vordem im Roman schon benannten Zusammenhangs von „Kommunikation und Entfremdung" (Walser 1966, 67). Die Selbstdistanz ist tatsächlich eine im „Einhorn" fiktional vorgeprägte Rollendistanz 6 . Walser umspielt dort die ursprünglich in der Mead-Schule so5
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Walser verwendet diesen Begriff aus der Sozialpsychologie Erik Eriksons erstmals in seiner Frankfurter Vorlesung (1981, 177). Im ,Einhorn' (1966,123) gibt er sechs Personenanteile eines inneren Plurals' (Novalis) an, um schließlich zu wechseln zwischen der Bezeichnung „Dividualität", „Tausendfalt" und „der Mensch als pluralistische Gesellschaft m.b.H.". Walser 1966, 52: „in solchen Augenblicken kriegt ein Anselm das Ubergewicht, den ich
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zialpsychologisch genutzte, im Englischen mögliche Unterscheidung zwischen I und me. Das me („Mich-Anselm") kennzeichnet die vom Ich wahrgenommene Perspektive anderer auf sich. Der Erzähler des Romans leitet die Erläuterungen zur Identitätsdiffusion des erlebenden Ich sprachreflexiv-ironisch ein: Zum Glück gibt es persönliche Fürwörter. Weil es aber viel zu wenig persönliche Fürwörter gibt, geizen wir im Gebrauch, haben wir für einen Menschen meist nur eins übrig [...] Ist man etwa kein Fürwörterparlament? (Walser 1966, 121). Das Repertoire der immer nuancierter gebrauchten Fürwörter verbindet gleichsam den ,inneren Plural' (Novalis) mit dem jeweils in eine geschichtete Öffentlichkeit hinein extrovertierten Rollenplural, u n d es ermöglicht ebenso Selbstdistanzierungen wie Rollendistanzen und partielle Rückidentifikationen. Genau diesen Kontext der Werkfolge gilt es mitzubedenken, wenn m a n zentrale Passagen des Deutschland- Essays verstehen will: Sogar das Selbstgespräch über Deutschland ist peinlich, weil man ja nicht wirklich allein ist dabei, man reagiert auf Argumente, die einem die anderen aufgedrängt haben, die man, obwohl sie einem nicht genehm sind, nicht mehr los wird (Walser 1989, 79). Rückwirkungen von Diskussionsritualen auf den ,inneren Plural' des teilnehmenden Autors schildert der Erzähler im „Einhorn". Dabei beobachtet er eine Stagnation, die den Gleichlauf von semantischem Wandel und Wertewandel nicht mehr zuläßt: Da ein Jahrzehnt fast auf der Stelle getreten, da ein Jahrfünft im kleinen Kreis herum. Verstehen wird er das erst, wenn er unsere Diskussionen studiert. Diese Veranstaltungen zur Zerknirschung, Skrupelzüchtung, Gewissensüberschärfung, Selbstbeschimpfung und Entmutigung (Walser 1966, 78) 7 . Das Ergebnis dieser kollektivmasochistischen Übungen sei eine Selbstbeschränkung und Degradation der Urteilskompetenz. Wiederum überträgt er das Ergebnis des Romans auf den Essay: „Wer beim Deutschland-Gespräch nicht unter sein Niveau gerät, hat keins" (Walser 1989, 80). Er kehrt schließlich den Adornoschen Vorwurf gegen die Heideggerschule gegen die, die jenen in der petrifizierten Kritikerattitüde fortsetzen wollten: „Schlimmer als der geschmähte
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zwar kenne, weil ich schon lange genug eine Menschenhaut und den Namen mit ihm teile, aber wenn er zuweilen so rücksichtslos zum Staatsstreich ausholt, unser Parlament auflöst und die Diktatur errichtet, dann fühle ich mich wenigstens berechtigt, mich von ihm zu distanzieren." Walser 1966, 78; vgl 79. Walser montiert Sprachfetzen und Trendwörter so, da8 eine witzige Analogie zu Verfahren der „Chromatographie" und der „fraktionierten Destillation" entstehen soll: „zweifellos schleuderten diese mittelmolekularen Sprachteile ihres hohen spezifischen Diskussionsgewichtes wegen zuerst aus der Diskussionsmasse heraus; trotzdem ist die leichte Abtrennbarkeit dieser Teile nicht ein Indiz für ihr absolutes Gewicht [...] Bunzreplik, Arbeitswelt, Wirtschaftswelt, Strukturwandel, Fachwerkhaus, Seele, Bewußtseinsformung, Mannesmann-Bülding, Pluriformität, Daseinsverfehlung, Unmündigkeit, Verführung, Wirtschaftsmentalität, Konsumzwang, Prestigedenken, Standardsucht [...]"
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Jargon der Eigentlichkeit kommt mir der Jargon vor, in dem da geschmäht wurde" (Walser 1989, 17). Die Kritik, die nicht einmal das T h e m a Wiedervereinigung 1 mehr zulassen wollte, sieht er aber ebenso vor dem Hintergrund einer Polarisierung, die er sprachkritisch charakterisiert. Den „Sprachhülsen der östlichen Partei" hätten die „anmaßende(n) Redensarten westdeutscher Politiker und Journalisten" entsprochen: „So entsteht der Eindruck, als stritten nur noch zwei Vokabulare und es gebe keine Menschen mehr" (Walser 1989, 103). Allerdings formuliert Walser dann einen Chiasmus der Entsprechungen aus, der einerseits auf ein Modell verfehlter Säkularisationen zurücklenkt, der aber im konkreten historischen Vergleich mehr als problematisch ausfällt: Und diese aus christlichen Kreuzzugsphantasien und marxistischem Weltbekehrungswahn entstandene Grenze mitten durch unser Land sollen wir als vernünftig hinnehmen!? Wahnsinn! Was diese Grenze geleistet hat, ist nirgends so erlebbar geworden wie in den Polarisierungszwillingen Adenauer und Ulbricht (Walser 1989, 121). Diese politisch und historisch kaum nachvollziehbare Aquidistanz hat wiederum nur eine formale Berechtigung nach dem Ironie-Modell. Tatsächlich verfolgt Walser in seiner Abhandlung „Selbstbewußtsein und Ironie" die Vorstellungen zum „Darüberschweben" von Novalis bis Friedrich Schlegel und schließt später Thomas Manns aktualisierende Transformation in den „Betrachtungen eines Unpolitischen" an: „Ironie aber ist immer Ironie nach beiden Seiten hin, etwas Mittleres, ein Weder-Noch und Sowohl-Als-auch" (Walser 1981, 80 und 96). Die ironisch-ästhetische Urteilsform, die bis in die Syntax reicht, kann allerdings zu eklatant unhistorischen Schlußfolgerungen führen. Dabei möchte Walser gerade ausbrechen aus dieser nur ästhetisch rückversicherten Kritikerrolle, deren verdeckte Wirkungsgeschichte ja gerade von der Frühromantik bis zur Frankfurter Schule reicht (Michel 1971/72, 1983). Er bemerkt immer deutlicher das historische Defizit, das uns unfähig macht zur Kritik an Prozessen, denen wir uns ausgesetzt sehen. Wir erleben uns jetzt seit Jahr und Tag als Eingeschüchterte, Mutlose [...] Sobald sich einer ich-süchtig austobt, wird er gestreichelt (Walser 1989, 21). Aber es fehlt an der hermeneutischen Einsicht in die enklavierte Transformation der ironischen Denkfiguren. Walser möchte allerdings der hermeneutischen Situation und der Umbruchssituation zugleich gerecht werden und sucht deshalb nach neuen Benennungen für das beobachtete Defizit in der historischen Selbstverständigung. So führt er schließlich den Begriff des „Geschichtsgefühls" ein, wohl wissend, daß dies als Provokation verstanden würde: Ich habe versucht, auszudrücken, daß man ein Geschichtsgefühl haben kann, das weiter zurückreicht als ins Jahr 1971. Das Wort Geschichtsgefühl reizt bei Intellektuellen offenbar die Hohndrüse. Unter Bewußtsein tun sie's nicht [...] Ich halte mich zwar auch für einen Intellektuellen, behaupte aber doch, Ge-
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schichtsbewußtsein sei kein bißchen weniger metaphorischer Sprachgebrauch als Geschichtsgefühl (Walser 1989, 118). Walser setzt bewußt ein Reizwort ein, u m den Vorwurf des Irrationalismus, der Antiaufklärung etc. auf sich zu ziehen. Tatsächlich lenkt er in die frühe Geschichte der historisch- psychologischen Hermeneutik des vielfachen SichHineinversetzens und des divinatorischen Verstehens zurück. In der modernen Hermeneutik ginge es um den Zusammenhang zwischen Entwurfsoffenheit und einer Anamnese in mehrere Schlüsselphasen hinein, aber ebenso zwischen Selbstdistanz und notwendiger Rückidentifikation. Genau diese Doppelbewegung sucht P e t e r Sloterdijk in seinem rhetorischen Essay „Versprechen auf Deutsch" weiter auseinanderzutreiben und zu überdehnen, wenn er es als tradierte Notwendigkeit faßt, „sich von deutschen Zuständen bis zur Entwirklichung entfernt (zu) fühlen und sich doch zugehörig (zu) wissen zu einer Geschichte [ . . . ] " (Sloterdijk 1990, 51). Aber er erreicht nie einen politisch-ethischen P u n k t , der der antiken ,mesothes' oder der mittelalterlichen ,mäze' entspräche, sondern formuliert selbst die Extrempositionen zwischen „Selbstfremdheit" und „Resignation", die er zugleich kritisieren möchte. Für ihn gibt es als Gegensatz zur „Absonderungspolitik" nur noch „Menschheitspolitik" (Sloterdijk 1990, 10, 31), so daß unterschwellig ein undurchschauter Anschluß an deutsche kosmopolitische Ideen des 18. Jahrhunderts durchscheint. Ebenso unbewußt formuliert er eine Parallele zum perspektivierenden Gesichtspunkt ,a la hauteur' (F. Schlegel), wenn er eine „Annäherung an Deutschland vom höchstmöglichen heute einnehmbaren Blickpunkt versuchen" möchte (Sloterdijk 1990, 54). Doch dann erweist sich dieser höchstmögliche Blickpunkt' doch nur als ein veraltet phasenspezifischer und subkulturell verkapselter, insofern er den „psychopolitischen status quo" nur in der populärwissenschaftlich heruntertransformierten Sprache der Psychoanalyse der 1960er und 1970er Jahre zu bestimmen sucht. Er möchte die „emotionsgestörte Nation" auf die Couch legen, um herauszufinden, warum diese den „Rivalen" stets nur als „weltgeschichtlicher Schwellkörper" entgegengetreten sei (Sloterdijk 1990, 9). Von da aus ist es nicht weit bis zur trivialanalytischen Annahme eines Wunsches nach „Zurückverschlungenwerden durch das, woraus sie hervorgekommen". Begriffe wie „saugende Vaterländer" und „gekränkte Muttergöttinnen", die noch rückversichert werden könnten in Untersuchungen zu archaischen Bewußtseinsstrukturen und Mythologemen, werden überboten durch Ausdrücke wie „politische Gynäkologie" und „politische Perinatalistik" (Sloterdijk 1990, 81, 61). Jede experimentelle Begrifflichkeit, die ja dem Essay eigen ist, wird so ad absurdum geführt. Grenzenlosigkeit und Maßlosigkeit, die ein Sprachkritiker feststellen könnte, werden andererseits konterkariert durch Anleihen bei journalistischen Alliterationsgewohnheiten in Schlagzeilen (von der „Photographie zur Fötographie" - Sloterdijk 1990, 61). In diesem selbstumschriebenen Rahmen verliert auch Sloterdijks eigene Sprachkritik am „Nachkriegsdeutsch" an Gewicht:
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Willy Michel und Edith Michel So wird das Nachkriegsdeutsch zu einer Sprache für Tatsachenfeststellungen und für Dementis. Deutsch wird zur Fremdsprache im eigenen Land; wir hatten ja Grund, kein Wort zu glauben [...] (Sloterdijk 1990, 72).
Wieder wird die Denkfigur des Selbstfremdwerdens benutzt, aber die vielfachen Gründe für den Sprachwandel, unter die ja auch Modernitätsdefizite im Bereich der empirischen Sozial Wissenschaften zählen, werden monokausal überformt. Sloterdijk sieht schließlich nur noch ein ethisches Defizit nach rückwärts und ein utopisches Defizit nach vorwärts: „man konnte auf Deutsch nichts versprechen; Deutsch war als Weissagungssprache ruiniert" (Sloterdijk 1990, 72). Der hermeneutische Zeitsinn, der sprachlich ausgedrückt werden kann, wird so zugleich verkürzt und überdehnt; Zwischenstufen und Vermittlungen fallen aus. Die Instrumentalisierung masochistischer Ängste macht auch vor der Sprachgeschichte nicht halt, wenn Sloterdijk vor dem „furchterregenden Brausen einer Nationalsprache" warnt, „die schon seit Hunderten von Jahren anschwillt" (Sloterdijk 1990, 69). Die Angstvorstellung wäre ja im Lehnwort übersetzbar - ,the German Angst', nicht aber diese Vorstellung zur Sprachgeschichte. Die Aequidistanz zu beiden deutschen Staaten, die ja in der politischen Ideologiebildung auf die Utopie eines dritten Weges und auf eine perennierende Nullpunkt-Situation zurückzuführen ist (Stefan Heyms ,SchwarzenbergMythos'), formuliert auch Sloterdijk aus, ohne sich der Gruppenkonventionalität bewußt zu sein: Die „Adenauer-Metapher Ostblock" sei auf der anderen Seite „mit real existierendem Beton ausgegossen" worden (Sloterdijk 1990, 11). Aus dieser Polarisierung sei ein „sich ruhigstellendes, her abgekühltes, privatisierendes Doppelstaatsvolk" entstanden (Sloterdijk 1990, 13). Wie Martin Walser unterlegt auch Sloterdijk viele Denkfiguren mit Säkularisationsmustern, so wenn er die Ausdrücke „Erbsünde" und „Auferstehungsgemeinde" in politischer Absicht benutzt (Sloterdijk 1990, 27, 14). Aber er sucht stets eine witzige Wechselannihilation durch Verwendung sozialwissenschaftlicher („alternativer Generationenvertrag") und politpsychologischer Formeln („moralische Urszene dieses Landes") (Sloterdijk 1990, 26f.). Sein Deutschland-Essay ist nur tragfähig vor dem Hintergrund einer weitgediehenen Diffusion popularpsychologischer Vorstellungen und angesichts einer vielfachen Imitation dieser Kritikerattitüde in der studentischen und in der journalistischen Subkultur. Dieter E. Zimmer hat gerade diese durchgreifende Psychologisierung aller Lebensbereiche, vor allem aber den der Politik und der Moral in seinem Buch ,Redens Arten' unter dem Stichwort „Psycho-Deutsch" untersucht, allerdings ohne jenen Resonanzboden wissenssoziologisch zu analysieren (Zimmer 1986, 84). Aber es steht auch eine Metakritik der Universalisierung von Kritik aus, die erstmals in der Frühromantik von der Kunstkritik über die Gesellschaftskritik bis zur Kulturkritik reichte. Sloterdijk ruht auf diesem verdeckten wirkungsgeschichtlichen Anschluß der Frankfurter Schule auf. Die hypostasierte und universalisierte Kritik endet bei der Unterstellung beinahe aller
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,Partialwertgebiete' (Broch) unter den Zynismus-Verdacht, vom „Militärzynismus" über den „Staatszynismus", den „Sexualzynismus", den „Medizinzynismus", den „Religionszynismus", den „Wissenszynismus" bis zum „Informationszynismus" (Sloterdijk 1983, 399-599). Die Frage, ob nicht gerade diese totalisierende Unterstellung, ohne erwiesene Teilkompetenzen, selbst nur aus einem zynischen Blickwinkel möglich sei, führte über jene transformationshermeneutische Suche nach dem Ursprung der universalisierten Kritik hinaus. An die politische Realität und an die „geistige Situation" der Umbruchsphase reichte Sloterdijk bereits zum Publikationszeitpunkt seines Buches nicht mehr heran, wenn er vom „schwülen Wort Wiedervereinigung" spricht, das zum „Grundwort der deutschen Neurose" geworden sei (Sloterdijk 1990, 82). Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen konnte nicht zynischer koinzidieren, die Diskrepanz zwischen impliziter hermeneutischer Situation und Umbruchssituation konnte nicht deutlicher hervortreten. Wie Martin Walser, nur mit entgegengesetzter Ausrichtung, drückt Volker B r a u n die Wahrnehmung des Sichselbstfremdwerdens aus: „Ich weigere mich aufzutreten. Das ist nicht mein Stück. Aber die Bühnengestalten, sogenannte Darsteller benutzen meine Worte. Es sind Lügen" (Braun 1992, 57). Auch er stellt die hermeneutische Situation als Umbruch in den Bedeutungen und den Kontextorientierungen dar: „Und unverständlich wird mein ganzer Text" (Braun 1992, 84). Im Prolog zur Eröffnung der 40. Spielzeit des Berliner Ensembles am 11. Oktober 1989 spricht er vom „Erdrutsch der Gedanken" und stellt den Umbruch gar in eine eschatologische Dimension: Lange schien es, als stünden die Zeiten Still. In den Uhren Der Sand, das Blut, der abgestandene Tag. Jetzt bricht er an Der jüngste wieder und unerwartet Wo geht es lang oder, bescheidner gefragt Weiß wer was vorn und hinten ist? Die Strategien verschimmeln (Braun 1992, 37). Zielgewißheit und zeitlich-prozessuale Orientierung scheinen verlorengegangen zu sein. Der Verstehende sucht Schritt zu halten mit einer akzelerierenden Entwicklung: „Rasende Fahrt durch die besetzte Landschaft G E G E N W A R T " (Braun 1992, 60). Er scheint die Zeit weder ergreifen noch begreifen zu können. Dem Fremdheitsgefühl in der beschleunigten Gegenwart entspricht die Rolle als „Zuschauer" (Braun 1992, 57). Auch in Interviews aus dem Oktober 1989 greift er immer wieder auf das hermeneutische Inbeziehungsetzen von Text und Realität zurück, um den Umschlagspunkt zu bestimmen: „Nun, sehen wir, wurde der utopische Text von einem Tag zum andern real" (Braun 1992, 43). Ebenso sucht er Halt in der historisch-hermeneutischen Erinnerung an Texte, die sich mit Umbruchsphasen beschäftigen: „Wir können sagen, wir sind dabeigewesen, aber von hier und heute geht noch keine Epoche aus" (Braun 1992, 48). Mit die-
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ser Anspielung auf Goethes Darstellung der „Campagne in Frankreich" möchte er einen Kontrast schaffen zwischen Epocheneinschnitt und bloßer Umbruchssituation. Die Umwertung bahnt er zuvor schon an mit einer palimpsestartigen Anspielung auf Hölderlins Diktum über die Zerrissenheit' der Deutschen: Sie wird uns zuteil, die erträumte Einheit, die zusammengenagelte, erpreßte Einheit, die Einheit der Uneinigen, Ungleichen, der Zerrissenen, die deutsche Einheit (Braun 1992, 48) 8 . Ebenso bringt er in figurenzentrierten Erzählpassagen gelegentlich Hegeische Denkfiguren ins Spiel, wie etwa die der ,List der Vernunft', die sich bestimmter ,partikularer Velleitäten' nur bediene: „Wer h ä t t e gedacht, daß es sich unserer Köpfe bediente?" (Braun 1992, 27). Aber offenbar hält er es nicht mehr für möglich, diese Denkfiguren nach vorwärts zu erinnern. Sie werden hervorgeholt aus dem „Kühlschrank der toten Ideen" (Braun 1992, 57). Der Zeitsinn des hermeneutischen Erinnerns scheint grundlegend irritiert zu sein: „ V O R R Ü C K T W Ä R T S " heißt die Zielvorgabe. Volker Braun unterlegt dem Umschlagspunkt zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht eine neue Bedeutung. Vorweg trauert er um etwas, was weder erfüllt noch erfüllbar war. Er formuliert vorweg das Desiderat einer intellektuellen DDR-Nostalgie aus und wahrt doch zugleich seine frühere Distanz zum Regime: „Was ich niemals besaß, wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen" (Braun 1992, 84). Seine Absicht, die „neuen Illusionen (zu) kritisieren" oder immer wieder eine neue „Distanz zu formulieren" (Braun 1992, 45 u. 54) kollidiert anamnetisch mit der Frage, ob er die Distanz zuvor deutlich genug markiert hat. Der Dialektiker scheint seinen eigenen Widersprüchen zum Opfer zu fallen. Die Aequidistanz als vorgeformtes ideologiekritisches Muster, das sich bei vielen Autoren findet, läßt sich kaum noch aufrechterhalten. Braun fällt dann auch in Propagandaformeln zurück, wenn er von der „Monstrosität des großen Interessenkonflikts am Golf" spricht und dies in eine Reihe setzt mit „atlantischem Kreuzzug" und der Formel „Deutschland ein Flugzeugträger für Weltkriege" (Braun 1992, 50, 51). Er weckt durch diese verbalen Atavismen selbst die Zweifel daran, daß er die „weltgestaltenden Chancen der deutschen Vereinigung [... ] zu denken vermochte" (Braun 1992, 51). In die genau entgegengesetzte Richtung bewegt sich B o t h o Strauß' Kritik der Zeitkritik. Deren regulative Idee sieht er in einer „Totalherrschaft der Gegenwart" (Strauß 1993, 204) begründet. Und genau diese Zeitsetzung habe zu einer „bigotte(n) Frömmigkeit des Politischen, Kritischen" geführt (Strauß 1993, 205). Er invertiert so die unbedingte Säkularisationsforderung einer aufgeklärten und universalisierten Kritik. Diese habe zu einem „Aufklärungshochmut" geführt, der psychologisch unterlegt werde von einem „verklemmten deutschen Selbsthaß" (Strauß 1993, 203/204). Aus dieser widersprüchli8 Hölderlin, Werke und Briefe. Hg. von F. Beißner und J. Schmidt. Frankfurt 1969. Bd. 1, 433: „ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen".
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chen Gemengelage ergäben sich immer weitere Übersteigerungen der Kritik. Strauß spielt deutlich auf die Zynismus-Kapitel bei Sloterdijk an, wenn er die „Verhöhnung des Eros, die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche [ . . . ] " in eine Reihe stellt. Dabei geht es nicht u m eine Rehabilitierung von Werten und Institutionen, sondern zunächst darum, die Sprachnot in neuer prophylaktischer Bedeutung festzustellen, die sich aus jener übersteigerten Kritik ergebe: die Vorstellung, daß „Worte in der Not kein Gewicht mehr haben" (Strauß 1993, 203). Die Gesellschaft habe gleichsam keine sprachlichen Reserven mehr, u m ernsthafte Bedrohung benennen und beschreiben zu können. Strauß sieht die Umbruchssituation ebenfalls in einer tiefenhermeneutischen Dimension. Er erkennt den unausgesprochenen Konsens der „Nachkriegsintelligenz" als begründet in einer „profanen Eschatologie", die nunmehr „sturzartig in sich zusammengebrochen" sei (Strauß 1993, 203). Es geht also offenbar nicht mehr um die charakterisierende Abgrenzung einer neuen Kurzphase, nicht mehr um einen Paradigmenwechsel in den theoretischen oder kritischen Modellen, sondern um einen übergreifenden epochalen Wandel. Strauß stellt sich außerhalb der Bedingungen intergenerationeller Mobilität, die sich in der Nachkriegszeit herausgebildet und in immer kürzeren Rhythmen beschleunigt hat. Jene „dynamische Verkettung von Emanzipationen im Generationenwechsel" sieht er als Ursache dafür an, daß die epigonalen Fortsetzungen und Verkehrungen nicht mehr gesehen werden. Strauß macht auf die Selbstgenerierung und Entwirklichung des Protestes selbst in psychologischer Weise aufmerksam, wenn er ζ. B. eine „parricide-antiparricide Aufwallung in der zweiten Generation" annimmt (Strauß 1993, 204). Aber er möchte den Resonanzboden für Protestbewegungen und für entsprechende Appellstrukturen der Kritik in größeren zeitlichen Bögen einschätzen. Gerade die fortgesetzt zur Schau gestellte Jugendlichkeit von Veteranen des Protestes, die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen und die veränderten Rahmenbedingungen zu erkennen, führt dazu, daß er den Gesamtabschnitt dieser Fixierung auf jugendlichen Protest zusammenfassen möchte: So spricht er von „Dezennien der kulturellen Gesamtveranstaltung Jugendlichkeit" (Strauß 1993, 204). Dieses unterlegte Orientierungsmuster macht er verantwortlich für einen Konformismus der Kritik und des Protestes, der einen Außenseitertypus neuer Art nicht mehr zulasse. Schließlich verfolgt er auch die figuralistischen und rollenhaften literarischen Vorprägungen des Protestes in makrohistorischen Bahnen zurück, u m zu zeigen, daß die Literaten gleichzeitig-ungleichzeitig in zwei Transformationsprozessen stehen. Zugleich aber beobachtet er, wie die entsprechenden Erwartungsniveaus und Rezeptibilitäten durch die Medienrahmen verändert wurden: „Der Außenseiter-Heros wird aber heute und künftig andere Züge tragen als der verdiente poete maudit oder libertäre Rebell, schon deshalb, weil es erstens keine Bürger-Philister mehr gibt, die man erschrecken könnte, und weil zweitens dem Medienbürger jeder nur erdenkliche Schrecken zu seiner
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Unterhaltung dient" (Strauß 1993, 206). Der Rollenfortsetzung entspricht also eine Funktionsverkehrung. Mit dieser dialektischen R o l l e n - , R e z e p t i o n s - und Generationsanalyse sucht Strauß die Verstehenssituation zu bestimmen. Aber er möchte den ,mainstream' auch medienkritisch einschätzen. Wiederum verwendet er ein sprachliches Verkehrungsmuster, um herauszustreichen, daß es nunmehr eine „dumpfe aufgeklärte Masse" gäbe, die von einer „High-Touch-Intelligenz" bedient werde (Strauß 1993, 207, 205). Vorgetäuschte Nähe im „Infotainment" der Medien vereinnahme den epigonal gewordenen Gestus der Empörung. B o t h o Strauß nennt keinen der schnell emporgekommenen Medientheoretiker, weder Virilio noch Baudrillard noch einen der deutschen Anverwandler, die den ästhetisch-geschichtsphilosophischen Duktus der Kritik in einen medienphilosophischen umgepolt haben, aber er befürchtet auf der unteren E b e n e statt eines „Leitbild-Wechsels" eine „endlose Prolongation durch technische Wiederaufbereitung" (Strauß 1993, 206). B o t h o Strauß stellt selbst keinen neuen intentionalen Bezug zur Realität her, wenn er die „liberal-libertäre Selbstbezogenheit" als kollektives Phänomen anprangert. Vielmehr weitet er den Zeitrahmen des Verstehens soweit aus, daß keine gegenwärtige Alternative in den Blick gerückt werden kann. E r plädiert für eine „Phantasie des Verlustes", um die Dichterrolle wiederzuerinnern, deren Entsprechung der „hortus conclusus" wäre, „nur wenigen zugänglich" (Strauß 1993, 204). Aber dieses esoterische Minoritätsbewußtsein wäre j a auch in näherliegenden Phasen aufzuspüren. Und in der anderen Zeitrichtung geht es um die „Gestalt der künftigen Tragödie" (Strauß 1993, 205), über die j a ebenfalls in näherliegender Vergangenheit nachgedacht worden ist, so daß der T i t e l „Bocksgesang" im nachhinein eher als archaisierende Formel erscheint, die jegliche Art von Atavismen andeuten soll. P e t e r H a n d k e bleibt in allem Wandel dem Standort des „Elfenbeinturms" treu. In seinem „Versuch über den geglückten T a g " entwirft er weitgespannte und zugleich miniaturisierte Zeitreflexionen, die auf esoterische Weise jenes „Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder" spiegeln (Handke 1972, 20). E r wählt eine Syntax, die das Abheben von alltäglichen Anschauungen Stufe für Stufe nachvollziehbar machen soll und dabei doch appellativ den einzelnen Leser dazu bringen möchte, alle verdeckten wirkungsgeschichtlichen Vermittlungen und möglichen Überhöhungen mitzubedenken: Ist dir der geglückte Tag also grundverschieden von einem unbeschwerten, einem Glückstag, einem ausgefüllten, einem Aktivtag, einem durchstandenen, einem von der Langvergangenheit verklärten - ein Einzelnes genügt da, und ein ganzer Tag schwebt auf in Glorie - , auch gleichwelchem Großem Tag für die Wissenschaft, dein Vaterland, unser Volk, die Völker der Erde, die Menschheit? (Handke 1991, 9f.). Ähnlich wie B o t h o Strauß sucht er an makrohistorische Transformationen anzuknüpfen. Der psychohistorisch erinnerten soll die hermeneutische „Langver-
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gangenheit" entsprechen. Deshalb schließt er an jenen Fragesatz eine Erläuterung in Klammern an: wozu das griechische Verb für ^esen' in den Briefen des Paulus, buchstäblich übersetzt, ein ,Auf-Blicken' wäre, geradezu ein ,Hinauf-Wahrnehmen', ein ,Hinauf-Erkennen', ein Wort ohne besondere Befehlsform schon als eine Aufforderung oder ein Aufruf [...] (Handke 1991, 10). Daß das Sich-versenken im Leseakt ein Sich-erheben sei, möchte er als hermeneutisches Wiederansetzen bei der Ubersetzung verstanden wissen. Er kommt intermittierend auf diesen Ansatz zurück, wenn er den „Augenblick" in den Paulusbriefen wörtlich übersetzt mit „Wurf des Auges" (Handke 1991, 36). Tatsächlich bedenkt der reflektierende Erzähler, der einen Erlebnistag bei Paris schildert, zwischen den Zeilen bereits den französischen Ausdruck ,coup d'oeil' mit, denn einerseits sucht er dann nach einer wörtlichen und zugleich weiterreichenden Ubersetzung für ,maintenant' („an der Hand jener Augenblicke treuzubleiben") (Handke 1991, 91, 69), und andererseits probt er eine Typologie der Blicke durch (Handke 1991, 37, 62), die auf die Bedeutung des Blicks bei Lacan anzuspielen scheint. Die Art jener Ubersetzung der Paulus-Briefe erinnert nicht zufällig an die Existenzphilosophie, denn tatsächlich rekonstruiert er mehrere existenzphilosophische Denkfiguren bis hin zur Zeitphilosophie Kierkegaards. So bedenkt er, ob „jener Augenblick ergreifbar (sei) als Möglichkeit" (Handke 1991, 29) und bezieht so die beiden zentralen Begriffe der Stadiendialektik aufeinander. Das ,carpe diem' der Antike bildet lediglich die unterste Palimpsest-Schicht. An anderer Stelle unterlegt er den „erfüllten Augenblick" des religiösen Stadiums bei Kierkegaard: „Erfüllung der Augenblicke und der Zeiten" (Handke 1991, 12 f.). Die historisch-hermeneutische Schlüsselphase, auf die er sich vor allem bezieht, liegt aber im 18. Jahrhundert. Er betrachtet das Selbstbildnis des Malers William Hogarth als einen „Augenblick aus dem achtzehnten Jahrhundert" (Handke 1991, 7). Dabei kommt er immer wieder auf die „Linie der Schönheit und der Anmut" auf Hogarths Palette zurück. Tatsächlich wird dann deutlich, daß er im Epochenvergleich den Verlust des Maßes ergründen möchte: Ich bin zu streng mit mir, zu wenig gleichmütig im Mißgeschick [...] zu voll der Ansprüche an die Epoche, zu sehr überzeugt von der heutigen Nichtigkeit: ich bin ohne Maß für ein Glücken des Tags (Handke 1991, 41). So knüpft er einerseits an dieses Grundthema der Ethik seit Aristoteles an; andererseits geht es ihm um den Eudämonismus als Grundströmung des 18. Jahrhunderts. Dies zeigt sich u. a. in der Weise, wie er Unterschiede zwischen „glücklich" und „geglückt" festmacht und entsprechende Wortverbindungen assoziativ erinnert (Handke 1991, 9, 11). Die Unterscheidungen zwischen altem und neuem Hedonismus und Eudämonismus werden ebensowenig ausgeführt wie die Überwindungsversuche durch den ethischen Formalismus
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der Kantianer mit der Sublimierung des obersten Wertes in den Nebenbegriff jglückswürdig 1 hinein. Auch die kulturverschiedenen Valeurs im Lebensstil und in den Schlüsselphilosophien Frankreichs, Englands und Deutschlands werden nur angedeutet. Ganz gleich, ob er bei der Ubersetzung von „grace" erwägt, wann neben „Anmut" auch „Gnade" mit anklinge (Handke 1991, 25), oder ob er in der Wendung „j'ai reussi m a vie" noch die „epochale Vision vom geglückten Leben" (Handke 1991, 15) weiterwirken sieht, die Perspektive führt stets weiter zurück. Handke führt gleichsam in historisch-hermeneutischer Absicht eine Dialektik des Vor und Zurück vor, eine „Springprozession" von den „Urtexten" bis zu den interkulturellen Vermittlungen und Kontrasten (Handke 1991, 53, 90, 91). Das „glorreiche Vergessen der Historie" (Handke 1991, 91, 87) möchte er offenbar rückgängig machen. Insofern markiert er auf mehreren Textebenen jeweils auch den Ausgangspunkt der hermeneutischen Situation. Aber die Umbruchsphase spricht er nur ironisch-indirekt an: „Ob es mit unserer speziellen Epoche zu tun hat, daß das Glücken eines einzelnen Tages zum T h e m a (oder Vorwurf) werden kann?" (Handke 1991, 11). Die hermeneutische Situation gilt es weiter auszuloten, auch in Formen einer Kritik der Kritik. Die Frage, ob die Umbruchssituation geglückt' ist, muß offen bleiben. Literatur Braun, Volker (1992): Die Zickzackbrücke. Ein Abrißkalender. Halle. Broch, Hermann (1931): Huguenau oder die Sachlichkeit. Frankfurt. [2. Aufl. 1970]. Broch, Hermann (1977): Philosophische Schriften 2. Frankfurt. Elias, Norbert (1987): Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I. Frankfurt. Frank, Manfred (1990): Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutschfranzösischen Hermeneutik und Texttheorie. Frankfurt. Gadamer, Hans-Georg (1960): Wahrheit und Methode. Tübingen. Gadamer, Hans-Georg (1972): Idee und Sprache. Kleine Schriften III. Tübingen. Gadamer, Hans-Georg (1987): Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus. In: Behler, Ernst/Hörisch, Jochen (Hgg.): Die Aktualität der Frühromantik. Paderborn. Handke, Peter (1972): Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt. Handke, Peter (1991): Versuch über den geglückten Tag. Frankfurt. Heidegger, Martin (1927): Sein und Zeit. Tübingen. [14. Aufl. 1977]. Jaspers, Karl (1931): Die geistige Situation der Zeit. Berlin. [5. Aufl. 1932, Nachdruck 1953]. Michel, Willy (1971/1972): Marxistische Ästhetik - Ästhetischer Marxismus. 2 Bde. Frankfurt. Michel, Willy (1982): Ästhetische Hermeneutik und frühromantische Kritik. Göttingen.
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ROLF MÜLLER, Kassel
Das Poetische an einem literarischen Text. Expliziert an Johannes Bobrowski, Stiller Sommer; zugleich etwas über Wachteln Für das Verhältnis von deutschem ,Dialekt' (Mundart) und der ,Hochsprache' in den Erscheinungsformen der deutschen Standardsprache steht fest, daß es sich um die ,Diglossie' zweier autonomer Sprachgebilde handelt. Poetische Äußerungen gibt es - wie der Nachweis umfangreicher Mundartdichtung zeigt zwar auch im Dialekt, jedoch sollen dichterische Äußerungen hier in der deutschen Hochsprache beobachtet werden, weil deren kultursprachlicher Status stärker ausgeprägt ist und weil sie deshalb ein umfangreicheres Beobachtungsfeld bieten wird (vgl. Müller 1993a). Es geht um den Versuch, zu einem Begriff des Poetischen zu gelangen, und zwar mit einer Perspektive der Germanistischen Sprachwissenschaft/Linguistik. 1. Funktionalstile: geschriebene Sprache vs. gesprochene Sprache und die Möglichkeit der Poetizität Der Hochsprache werden, wie jeder anderen Sprache auch, die in diesem Zusammenhang besonders interessierenden Funktionalstile ,Fachsprache' und ,Sondersprache' zugeordnet. Man denkt dabei in den Kategorien der Sprache als Abstraktum und deren realisierter Erscheinungsformen. Die Abstraktion wird mit den klassischen Termini ,langue' nach de Saussure oder ,Kompetenz' nach Chomsky bezeichnet; dabei ist ,langue' verstanden als das für eine Sprachgemeinschaft konventionalisierte Sprachsystem, Kompetenz als die sprachliche Möglichkeit und die Sprachbeherrschung des idealen, in seinem Formulierungskönnen nicht eingeschränkten Sprachbenutzers. Die Termini erfassen einen einzigen Sachverhalt, jedoch komplementär aus sprachsozialer und sprachpsychischer Perspektive. Entsprechend den verbindlichen und umfassenden Vorgaben von ,langue'/,Kompetenz' erscheinen sprachliche Äußerungen formuliert in der mit den Sinnen erfaßbaren Erscheinung. Sie werden realisiert in der terminologisch mit ,parole'/,Performanz' bezeichneten Sphäre. Die Bezeichnung von Abstraktion und Erscheinung wird auch als Darstellung ,emischer' Gegebenheiten durch ,etische' Strukturen in der Dimension der Äußerung charakterisiert (vgl. Bußmann 1990, 227f.; Müller 1993b). Zuvor wurde auf den Sprachbenutzer verwiesen. Auch vor der sprachgemeinschaftlichen Konvention tritt immer der einzelne sich äußernde Sprachbenutzer hervor. In der Theorie von Chomsky ist der Sprachbenutzer als ,idealer
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Sprecher/Hörer' apostrophiert, was jedoch in dieser Thematik nicht ausreicht. Da das Beobachtungsfeld hier die deutsche Hochsprache ist, muß man mit der kultursprachlichen Gegebenheit rechnen, daß die Äußerungen genauso geschrieben' wie gesprochen' ausgedrückt werden können. Der Sprachbenutzer tritt auf als Sprecher, Schreiber/Hörer, Leser. In der ,parole'/,Performanz' erscheinen die Äußerungen dieser Sprache ,schriftlich' und/oder ,mündlich'. Die Hochsprache ist auch Schriftsprache' aufgrund des Vorgangs der Anverwandlung eines orthographischen und interpunktionellen Darstellungssystems im Laufe der sprachkulturellen Entwicklung. Danach wird das Kriterium der ,Literalität' zur Eigenschaft des Neuhochdeutschen. Ohne daß die Eigenheiten des Poetischen schon ge- oder erklärt worden wären, sei jetzt darauf hingewiesen, daß mit der etablierten Literalität diese Sprache als Dokumentarsprache für Dichtung und für einen tradierten dichterischen Kanon dient. Dieses sprachkulturelle Kriterium sei unter dem Terminus ,Literarizität/Literatur/literarisch' erfaßt. Als ,poetisch' werden später die Äußerungen angesehen, welche zur Literatur gehören. Die Literatur wird in der deutschen Sprachkultur derart mit literaler Erscheinungsform identifiziert, daß diese dominierend als ein Definiens für diese Klasse der Äußerungen herangezogen ist. Auch die Motivation für die Benennung ,Literatur' liegt hier 1 . Bei schriftlicher und mündlicher Äußerung handelt es sich um zwei Ausdrucksformen der sprachlichen Formulierung im Rückbezug auf das System einer Sprache, nicht um eigene Sprachvarietäten. Das hat die kontrastive Erforschung der Grundstrukturen und Funktionen gesprochener Sprache' und geschriebener Sprache' ergeben, die seit den 60er Jahren besonders intensiv betrieben wird. Der Jubilar hat maßgeblich zu diesen Forschungen beigetragen und zuletzt ein Resume der Erkenntnisse geliefert (vgl Steger 1987a; auch dort das Literaturverzeichnis). Die gesprochene und geschriebene Version einer Sprache werden in unterschiedlichen pragmatischen Zusammenhängen abgerufen und ergeben je ,Äußerungen anderen Stils'. Für die stilistischen Abstufungen hat sich eine Anordnung nach der Spontaneität', mit der die Konstituierung der Äußerungen erfolgt, als Faktor erwiesen. Geschriebene Äußerungen tragen viel weniger die Anzeichen der momentanen Situation ihrer Entstehung, zeigen dabei eine umso exhaustivere und formal korrektere Abwahl der grammatischen Elemente sowie Befolgung der Regeln als gesprochene Äußerungen. Sie sind weniger spontan. Es läßt sich sozusagen eine Spontaneitätsskala beobachten, auf der geschriebene Äußerungen sich auf einem Endbereich massieren und gesprochene Äußerungen jenseits stilistischer Ubergangs- und ι Die eine H o c h - und Kultursprache ausmachenden Kriterien sind aufgezählt bei Müller 1993a: Uberregionalität in Bezug auf Diglossie mit Dialekten; Muliifunktionalität, z.B. f a c h - und sondersprachliche Äußerungen; InterSozialität in der gesellschafts- und bildungspolitischen Verbindlichkeit; Internationalität als N a t i o n a l - bzw. Staatssprache; Literalität durch schriftliche Ausdrucksmöglichkeit; Literarizität als Dokumentarsprache eines literarischen Kanons.
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Zwischenformen auf dem entgegengesetzten Endbereich (vgl. Müller 1973, 67ff; Elmauer/Müller 1974). Ohne explizite Begründung wählen Grammatiker früher geschriebene Sprache (gutes Schrifttum) als Quelle für ihre Beobachtungen, und noch einengend vorzüglich die Sprache vorbildlicher Dichter und Schriftsteller, also Literatursprache (vgl. Duden 4 1966, 25). Wahrscheinlich war diese Orientierung gar nicht abwegig. In diesem Zusammenhang muß man aber darauf bestehen, in gesprochener Sprache poetische Äußerungen nachzuweisen, auch wenn ihnen grammatische Vorbildlichkeit abgehen sollte. Um anschaulich zu verfahren, sei hier auf eine mündliche Äußerung, die als ,poetisch' gelten soll, hingewiesen. Es handelt sich um eine Schöpfungsmythe der Filipinos, welche von einem Reisenden im Rahmen einer Rundfunksendung spontan erzählt wird. Sie ist auf Tonträger aufgezeichnet, dann transkribiert und mit anderen Texten gesprochener deutscher Standardsprache veröffentlicht worden (vgl. Texte gesprochener deutscher Standardsprache I 1971, 76 ff.). Inhaltlich ist es die Geschichte von der Erschaffung der Philippinen und der Menschen mit dem Resultat, daß es solche schwarzer, weißer und brauner Hautfarbe gibt. Es wird die Vorstellung von Göttern als Menschenbäckern erzeugt, die entweder wegen zu langer oder wegen zu kurzer Backzeit zwei Fehlfarben, Schwarz und Weiß, erzeugen, denen aber beim dritten Versuch mit dem richtigen Braun der Filipino gelingt. Die Literarizität der Geschichte wäre insofern anzuerkennen, als man sie der Gattung ,Sage' zuzuordnen hat und sie das Kriterium der Fiktionalität erfüllt. Einen ambivalenten Charakter zeigt der ,Witz', den man massenweise, ζ. B. in der Presse, schriftlich präsentiert bekommt, der aber in geselliger Runde auch der ,mündlichen' Unterhaltung dient. Man macht die Rolle des Erzählers von Witzen aus, welche man aufgrund einer besonderen Begabung zuerteilen zu wollen meint, und man hört das Angebot des Witzeerzählers: „Kennt ihr den?" Die Produktion des Witzes erfordert ein gekonntes Spiel mit Sprache in formaler und psycholingualer Hinsicht, was ihm die besondere Aufmerksamkeit der Wissenschaft zugezogen hat (vgl. Marfurt 1977; Röhrich 1980). Unter anderem könnte man für diesen Zusammenhang auch das ,Sprichwort' erläutern, das seine Funktion im ,sentenziellen Reden' findet. Es wird im folgenden Abschnitt noch einmal darauf zurückzukommen sein. 2. Funktionalstile: Fachsprache, Sondersprache, Alltagssprache, Literatursprache (?) Außer der ,schriftlichen' und ,mündlichen' Version der Erscheinung einer Sprache wird unter anderen Aspekten die Beobachtung weiterer Versionen vorgeschlagen, die mit den Termini ,Fachsprache', ,Sondersprache', ,Alltagssprache' erfaßt werden. Auch der Besprechung dieser Problematik ist eine Diskussion mit dem Jubilar implizit, für welche Steger (1988) unter dem Titel „Erscheinungsformen der deutschen Sprache. ,Alltagssprache' - Fachsprache' - ,Standardsprache' - ,Dialekt' und andere Gliederungstermini" seine
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Position festgelegt hat. Im Zusammenhang unserer Erörterung ist zunächst nur auf die drei eingangs dieses Abschnitts genannten Termini einzugehen. Fachsprachen- und Sondersprachenforschung sind traditionelle Gebiete der Sprachwissenschaft, deren Erkenntnisse in Fachhandbüchern und Fachlexika aufgeführt werden 2 . Die naive Auffassung, daß eigens fach- bzw. sondersprachliche Varietäten der Handwerke, wie Bauer, Fischer, Metzger etc., oder von Ständen, wie Jäger, Studenten, Gauner, Dirnen, Teenager etc., separierbar seien, ist längst passe. Zu belegen ist lediglich eine differente Praxis in Verhalten und Handeln, welches auch sprachlichen Ausdruck findet. Unter diesem pragmatischen Aspekt sind fach- und sondersprachliches Reden/Schreiben auseinanderzuhalten. Fachsprache zeigt sich in Mitteilungen vor spezialisierten Kenntnis- und Wissenshorizonten. Als prototypisch werden Äußerungen aus den Wissenschaften und Techniken angegeben. Als Funktion gilt die präzise und differenzierte Fachkommunikation. Sondersprache ist demgegenüber ausgeprägt in den Zusammenhängen psychosozialer Verständigung, wie sie zur Ermutigung, Erbauung, Erheiterung, Bemitleidung, zum Trost, zur Veranstaltung k u r z - oder langweiliger Unterhaltung und insgesamt zur Spontankommunikation dient. Mit Watzlawick u. a. (1969) wäre fach sprachliche Kommunikation als ,digital' und den ,Inhaltsaspekten' verpflichtet zu charakterisieren und die sondersprachliche als ,analog' und den ,Beziehungsaspekten' verpflichtet. In dem schon einmal herangezogenen Modell ,langue/Kompetenz' - ,parole/Performanz' sind Sondersprache und Fachsprache in der Dimension der Realisierung zu beobachten. Beide funktionieren sie vor dem System der Hochsprache als abstraktivem Gebilde. Alltagssprachliche Kommunikation ist eine dritte Erscheinungsform in der Dimension der Realisierung. Ihr Funktionsbereich liegt zwischen denen von Fach- und Sondersprache und dient der Kommunikation in weniger besonderen oder gespannten Situationen. Es gibt keine hermetische Grenze, aber man könnte den alltagssprachlichen Funktionsbereich als den der persönlichen/privaten Sphäre ansehen sowie Alltagssprache als am weitesten ,intersozial' charakterisieren 3 . Der Terminus ,Alltagssprache' ist im Sinne des enthaltenen indefiniten Pronomens und Numerales, das j a eine uniimitiert hohe Anzahl bedeutet, motiviert. Laut informationswissenschaftlichen Hinweisen steigt mit der Häufigkeit von Anlässen und Ereignissen deren Vagheit und sinkt die Bedeutsamkeit. Demgemäß ist die überaus große Menge der verbalen Kommunikation in der Sprachgesellschaft ,alltagssprachlich'. In Analogie zur Beurteilung von gesprochener und geschriebener Sprache' sind ,Fachsprache',,Alltagssprache' und ,Sondersprache' jeweils als ein Sprachstil aufzufassen. Sie verhalten sich in der Dimension der ,parole/Performanz' 2 Vgl. ζ. B. LGL II, 1980, 384-395: dort Möhn, Sondersprachen; von Hahn, Fachsprachen. Bußmann 1990, dort Stichworte Fachsprachen, Sondersprache; Lewandowski 1990, dort Stichworte Fachsprachen, Sondersprachen. 3 Insbesondere beachtlich für die Begriffsbestimmung von Alltagssprache sind die Beiträge Steger 1982a und Steger 1991.
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so zueinander, daß bei Zurücktreten fach- oder sondersprachlicher Stilistika die verbale Äußerung umso alltagssprachlicher erscheint. Da die Sprache als ,langue' nicht stilisiert ist, muß ,Stil' die Eigenschaft der Äußerung sein. Die Äußerung wird in einer bestimmten Realisierung zum ,Text'. An einer einfachen sprachlichen Äußerung läßt sich das veranschaulichen: Lügen haben kurze Beine. Als grammatische Einheit erkennt man einen ,Satz'. Dieser weist besondere Stilistika der Gestaltung auf, als da sind: Zweisilbigkeit aller vier Wörter, Wahl von flektierten Wörtern, trochäisches Metrum, Präsentation einer Metapher. Das ist in Anbetracht der geringen Länge der Äußerung eine intensive Stilisierung. In ihrer ,sentenziellen Funktion' genügt sie sich selbst. Als ,Text' gehört sie zur Sorte bzw. Gattung des ,Sprichworts'. Das Sprichwort gehört zu jenem Typ von Texten, die durch Stilisierung formelhaft wirken (Ehrlich währt am längsten; Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert). Für ihre artifizielle Gestaltung ist ein Autor nicht namhaft zu machen. Lange wurden solche Äußerungen als außerhalb der Literatur stehend betrachtet, was auch für die anfangs eingeführte Schöpfungssage der Filipinos und den Witz zutreffen würde. In der Nachfolge von A. Jolles (1930/1982) wurde durch Etablierung der Gattung ,Einfache Formen' eine Erweiterung des Literaturbegriffs erreicht. Die Grenze zwischen poetischer Äußerung einerseits und alltags-, sondersprachlicher andererseits dürfte nun als innerhalb dieser Gattung ,Einfache Formen' laufend verstanden werden. Für diese Erörterung soll gelten, daß in dem Sinne funktionaler Einheit sprachliche Äußerung als Text gilt und Text der Gegenstand der Aufmerksamkeit ist. Die Erörterung ist also im Metier der Textlinguistik positioniert, und eine Grenzüberschreitung in die Literaturwissenschaft soll nicht verhindert werden. Im Titel ist der Text als Gegenstand schon aufgerufen; des weiteren wird angekündigt, daß nach einer bestimmten Tendenz, nämlich der Poetizität, welche durch Gestaltung und Wirkung des Textes in Erscheinung tritt, gefragt wird. Bei der Formulierung des Titels hätte man anstatt ,das Poetische' auch ,das Dichterische' oder ,das Literarische' als Bezeichnung wählen können, weil sie unter etwas verschiedenen Blickwinkeln das gleiche meinen. Das Poetische würde eine Unähnlichkeit mit dem Stil alltäglichen Redens, das Dichterische Tätigkeit und Vorgang einer künstlerischen Etablierung, das Literarische den Aspekt des tradierenswerten Ergon bedeuten. Da es entsprechend ausgezeichnete Texte gibt, müßten diese unterzuordnen sein gemäß der zuvor angenommenen Klassifizierung der Stile Fachsprache, Alltagssprache, Sondersprache in schriftlicher oder mündlicher Erscheinungsform. Die Neigung, poetische Texte als sondersprachlich einzuschätzen, liegt dann gewöhnlich nahe. Aber man muß sich einem Systemzwang nicht ohne weiteres unterwerfen. Wahrscheinlich sind am für poetisch gehaltenen Text Eigenheiten entfaltet, die eine Erweiterung des Dreiersystems erzwingen und von ,Literatursprache', dichterischer Sprache' und ,poetischer Sprache' als se-
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paratem Textstil zu sprechen erlauben. Jedenfalls soll in dieser Studie in diese Richtung argumentiert werden 4 . Auch dafür kann man sich auf vorbildliche Äußerungen von Steger beziehen. Schon in frühen Veröffentlichungen befaßt er sich mit Problemen der Literatursprache 5 . Ausdrücklich ist die hier behandelte Frage gestellt im Titel „Was ist eigentlich Literatursprache?" (Steger 1982). Dort befindet sich zur Veranschaulichung der funktionalen Kommunikation auch die graphische Darstellung in Form· einer Matrix, welche die drei Funktiolekte ,Alltagssprache', ,Literatursprache', ,Fach- und Wissenschaftssprache' mit ihren existenziellen Bedingungszusammenhängen ausweist (siehe Anhang). Für weitere Funktiolekte, mit denen noch zu rechnen ist, werden in der Matrix Positionen offen gelassen. Der Sprachtyp ,Literatursprache' wird als eigener Funktionalstil separiert. 3. Kriterien der Literatursprachlichkeit: Artefaktizität, Sinnbildlichkeit, Fiktionalität In dieser Erörterung wird es weiter um die Identifizierung von Literatursprache, genauer von Literatursprachlichkeit, gehen. Der Titel ,Das Poetische an einem literarischen Text' setzt die Präsentation eines Textes voraus, der als literarisch gilt. Die Merkmale sollen identifiziert werden, die an ihm die poetische Funktion generieren und erfahrbar werden lassen. Folgender Text soll vorgegeben sein 6 : Johannes Bobrowski: Stiller Sommer; zugleich etwas über Wachteln 1 Als wir aus dem Wald kamen, wurde es still. Hinter uns im Wald sangen die Vögel noch weiter, gewiß, aber hier, im freien Feld, war es still. Der Wald hielt seine Lieder zusammen, daß sie nicht hinausflogen ins Feld. Die Bäume hängten ihr Laub wie einen aus tausend mal tausend Blättern geflochtenen Mantel davor, da waren die Lieder verborgen, verwahrt als etwas Kostbares. Hier im Feld war es still. 4
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Es besteht für alle diskreten Funktionsfelder der ,parole/Performanz' das Problem, sie subkategorisierend in das System oder das System erweiternd einzuführen. A m Beispiel der vielbeachteten ,Werbesprache' oder der ,Religionssprache' (Religiöse Sprache) wäre dies zu exemplifizieren. Für letzere vgl. Gauger 1982, Probleme der religiösen Sprache 1983 und Steger 1984. So in Steger 1967a und 1967b; es seien nur Hinweise gegeben, wo dieser Bezug ausdrücklich im Titel oder Untertitel auftaucht: Steger 1984 und 1987b. Die Einführung dieses Textes hier entspringt einer methodischen Entscheidung. Fragerelevante Erkenntnisse sollen exemplarisch gewonnen und direkt anschaulich sein. Man könnte auch betreffende Literatur rezensieren; ζ. B. Kloepfer 1975, Plett 1979, Werlich 1979, Beiträge in Neuphilologische Mitteilungen 1988. Der Text steht in Johannes Bobrowski (1967, 35-38). Zählung der Abschnitte hinzugefügt (R. M.). Die Abschnittzählung ist lediglich zur Stellenmarkierung für die Orientierung im Text angebracht. Eine inhaltlich bezogene Abschnittsgliederung würde Interpretation erfordern. Die Abschnittsgrenzen würden dann anders gezogen, und die Zahl der Abschnitte würde sich verändern.
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2 Nun gibt es ja auch hier Vögel. Die Waldvögel - Pirol, Specht, Fink, Häher, Laubsänger, Kuckuck - bleiben nicht immer im Wald, sie fliegen auch übers Feld. Aber jetzt saßen sie im Wald, in ihren Bäumen und auf ihren Sträuchern. Und die Feldvögel - Wachtel und Lerche -, die hier draußen waren, verhielten sich still. Denn es war sehr heiß hier draußen, nach der Kühle im Wald. 3 Wir kamen auf der Straße gefahren, die ein Stück durch den Wald geführt hatte. Ein schöner Wald mit sehr hohen Bäumen. Und die Bäume so dicht beieinander, daß sie sich noch eben breit genug entfalten konnten und den Sträuchern doch auch Platz dazwischen blieb. Da lag die Straße ganz im Schatten der Bäume. Man fuhr dahin in einer tiefen Schlucht. Und die Vögel hatten gesungen. 4 Wir lagen auf dem hochbeladenen Heuwagen, neben dem entrindeten, glatten Baumstamm, dem Wiesbaum, der, an beiden Wagenenden mit Stricken festgezogen, das Fuder zusammenhielt. Lagen rechts und links neben dem Baum, eingesunken in das abgehauene und schnell getrocknete Heu, das nach dem Wiesenkräutern und Blumen roch und nach dem strengen, scharßlättrigen Gras. 5 Da hatte der Kuckuck zu rufen angefangen, in der Ferne, aber deutlich und ganz gleichmäßig, und war schon weit voraus, ehe wir darauf kamen, die Rufe mitzuzählen. So fingen wir einfach mit siebzehn an und weiter: achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig. 6 Das ging fort bis siebenundsechzig. Worauf sollten wir siebenundsechzig Jahre warten? Man sagt das so. Vielleicht, bis wir erwachsen waren? Der Großvater, der vorn saß und die Pferde lenkte, hatte gelacht und auf seine Hosentasche geschlagen, obwohl da sicher gar kein Portemonnaie drin war. Aber das ist auch solch ein Brauch: da wird das Geld nicht alle. 7 Und rechts und links im Wald hatten die anderen Vögel gesungen. Viid-viidviid-vavavüdivüdiveudsisi, der Laubsänger und: Kchräik-kr-kr und: Kjie-jau, der Häher. Und wie sang der Pirol? Da hörten wir aufmerksam zu. Das war schon sein Abschiedslied. Jetzt würde er bald fortziehn, dieser Pfingst- und Kirschvogel, Schulz von Bülow und Bieresel. So heißt er in den verschiedenen Gegenden. 8 Aber jetzt führte die Straße durch freies Feld, an Haferfeldern und hohem Roggen vorbei. Die Pferde gingen langsam, der Wallach Damlack prustete einmal und schlackerte mit den Ohren, ein bißehen hörte man die Wagenräder gehn. 9 Das letzte Fuder. Jetzt war die Wiese, wo wir das Heu zusammengeharkt und aufgeladen hatten, jetzt war die Wiese leer. Jetzt ging es zurück ins Dorf, Kaffee gab es schon zu Hause. 10 Aber es war noch immer heiß über den Feldern. Und so still, daß man die Stille hörte: als ein leises, ununterbrochenes Summen. Aber eigentlich doch unhörbar. 11 Auch wenn man gar nichts mehr hört, man hört noch immer etwas. Nur: wie es sich anhört, kann man nicht sagen. Nur hören. 12 Ich hielt ein Zittergras vors Gesicht. Unten gingen die Räder. 13 Und jetzt war da eine Stimme, eine sehr hübsche und anmutige, gar nicht sehr leise Stimme. Aber doch so, wie aus dem Summen der Stille hervorgewachsen, wie
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aufgetaucht, wie ein Seehundskopf aus dem Wasser, man wundert sich nicht, daß er plötzlich da ist, unversehens. Weil er zum Wasser gehört. Wie der Wachtelruf zur Stille und zu dem warmen Nachmittag Ende Juni. Pück Perück oder: Bück den Rück, so hört es sich an, aus dem Kornfeld herüber. Ein kurzer Ruf, der sich wiederholt. Flieg ich fort, so kann er auch heißen. Aber zum Glück, die Wachtel geht erst im Herbst auf die Reise, wir brauchen ihr nicht zu sagen: Bleib noch hier. So könnte ihr Ruf übrigens auch lauten. Aber vielleicht trifft noch besser: Schönen Dank. Und am besten: Lobet Gott. Ihr Tisch ist gedeckt, sie lebt im Getreide, sie hat gelbe Striche über den Augen, und wenn sie wegläuft, geht es sehr schnell: sie schlägt mit ihren langen, spitzen Flügeln, als ob sie ruderte, und die Kleinen wie dicke, runde Federbällchen fix hinter ihr drein, immer eins hinter dem andern, in der schmalen Straße zwischen den Halmen, die die Mutter mit weit vorgestrecktem Kopf gebahnt hat und mit fleißigen Füßen eingetreten und mit ihrem ganzen Gewicht verbreitert. Alles im Lauf. Aber lauf jetzt nicht fort, es kommt niemand, sing noch ein Weilchen, Wachtel, sing: Lobet Gott.
Der Text ist aufgrund von Vorerwartungen ausgesucht. Diese bestehen darin, daß der Autor als Schöpfer literarischer Werke, als Dichter, bekannt ist. Der Herausgeber hat den Text qualifiziert, indem er ihn der literarischen Gattung ,Erzählung' zuordnet. Er hat ihn aus dem Nachlaß erhoben, weil er nicht für den Tag gemacht zu sein scheint; dies ganz im Gegensatz zum expositorischen Text etwa eines Journalisten. Als künstlerisches Werk ist dieser Text für die Tradierung bestimmt. Mit allen poetischen Texten hat er die Besonderheit gemein, daß er der Alltäglichkeit entrückt ist und nicht in kurzfristiger Aktualität seine Gültigkeit findet. Generalisierend kann man darauf verweisen, daß derartige Entrückung am deutlichsten durch die Literalität/Schriftlichkeit der Fassung, welche die Präsenz unabhängig von Ort und Zeit der Formulierung bewirken kann, gewährleistet wird. Die Tendenz, Literarizität und Literalität als interdependent aufzufassen, liegt darin auch begründet. Für dieses literarische Beispiel sollen dann Anzeichen für künstlerische Betätigung in großer Verdichtung, die dazu den Sinnzusammenhang des Textes konstituieren, aufgefaßt werden. 3.1. Artefaktizität, Sinnbildlichkeit Mit dem Aufriß eines temporalen Profils der Erzählung wird der textanalytische Einstieg erreicht. Man erfährt im Präteritum die Gegenwart der Erzählung, als welche die Fahrt auf dem pferdebespannten Heuwagen durchs freie Feld gilt. Im Plusquamperfekt erinnert die Geschichte an im Zusammenhang der Erzählung Vergangenes. Vergangenheit ist die Phase der Wagenfahrt durch den Wald. Es wird nicht die reale Folge von Ereignissen wiedergegeben, sondern die Waldfahrt wird aus der Erinnerung erzählt. Erst ab dem dritten
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Abschnitt bis Abschnitt 7 wird die Vergangenheitspassage vorgetragen. Diese temporale Zweiteilung dient der Etablierung von zwei Erlebnissphären, deren Gegensätzlichkeit und gegenseitige Ausschließung gemeint ist. Nominal erfaßt sind die Sphären als Feld und Wald. Die Scheidung wird durch den Gebrauch von Adverbien verstärkt, da hier, jetzt, hier draußen besonders häufig benützt und ganz signifikant auf das Feld und diese Phase bzw. Zeit der Wagenfahrt bezogen werden. Betont wird der Gegensatz zum Wald. Durch Verweise auf die landschaftlichen Elemente wird das Feld als frei, der Wald aber als abgeschirmter Raum vermittelt. Weitere Beobachtungen zum temporalen Profil sind bemerkenswert. Es tritt auch das formale Präsens auf. Auffälligerweise wird es ab Abschnitt 11 zunehmend allein die Konjugationsform des abschließenden Teils der Erzählung. Im Abschnitt 10 wird sich der Eindruck einer Wendung mit hoher Bedeutsamkeit noch verstärken. Vorher kommt das Präsens sporadisch vor (Abschnitt 2, 6), aber in bezeichnendem Zusammenhang. Es werden Fakten mitgeteilt, und zwar der Name von Vögeln und die Verbreitung dieser Vögel im Wald oder Feld. Im andern Fall wird eine abergläubische Handlung aus dem Volksbrauchtum vorgeführt. Das sind Dinge, deren Gültigkeit der Zeit enthoben ist. Man sieht für die Schlußpassage signalisiert, daß durch den Gebrauch des Präsens in temporaler Neutralität die Grenze von Zeit und Endlichkeit aufgehoben sein soll. Die Verwendung sprachlicher Formulierungsmittel mit dem Ziel und Zweck solcher Gestaltung ist ,artifiziell'. Je intensiver ein Text artifiziell geprägt ist, umso mehr geht von ihm die Erwartung aus, künstlerisch zu sein. Artefaktizität ist ein Ausweis des künstlerischen bzw. poetischen Textes. Um den Nachweis zu vertiefen, sei auf ein weiteres artifizielles Kriterium der Bobrowski-Erzählung aufmerksam gemacht. Das Wort still, Stille ist durch seine außerordentliche Frequenz auffällig. Auch hier springt die Beziehung zur Dichotomie der Erlebnissphäre ins Auge, da es still im Feld ist, im Wald aber geräuschvoll - um nicht zu sagen laut wenn auch durch die ihre Lieder singenden Vögel und den rufenden Kuckuck. Sogar wie die Vögel ,singen' wird phonetisch ausgedrückt (Abschnitt 7). Indem dieses Wort still, Stille in unterschiedliche Kontexte aufgenommen wird, erfährt es eine Umdeutung. Aus dem physikalischen Sachverhalt bzw. Nicht-Sachverhalt wird eine Stimmung. Es geht eine Metamorphose des physischen in das psychische Erlebnis vor sich. Diese Metamorphose findet in verbalen Paradoxa (Stille, die man hört; das Summen der Stille; Hören des Unhörbaren) und der kühnen Metapher des wunderbar aus dem Wasser auftauchenden Seehundskopfs ihre Vollendung (Abschnitte 10 - 13). Mit dem Streben, diese Metamorphose zu erreichen, ist auch der Hinweis auf die Monotonie des Fahrgeräusches der Wagenräder und die suggestiv wirkende Blickfixierung auf den Halm Zittergras motiviert. Übrigens massiert sich dies alles an der Stelle der Erzählung, an der, wie zuvor bemerkt, der Eindruck einer Wendung mit hoher Bedeutsamkeit vermittelt wird.
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Was in poetischem Sinne erreicht wird, ist die Konstituierung von ,Sinnbildlichkeit' . Das ,Sinnbild' ist hier die Stille als Stimmung. Durch einen idiomatischen Ausdruck ist diese Art Stille schon bekannt: ,erwartungsvolle Stille', ,andächtige Stille'. Artifiziell ist aber, daß diese Stimmung erzeugt und nicht durch Bezeichnung auf den Begriff gebracht wird, was sich ganz dysfunktional ausgewirkt haben würde. Wenn man noch einmal rückbezieht, erweisen sich auch Wald und Feld als Sinnbilder, als sinnbildliche Landschaften. Artefaktizität und Sinnbildlichkeit sind Poetisches am literarischen Text. Artifizielle Sprachgestaltung bezweckt die Erzeugung von Sinnbildlichkeit, diese kann ohne sie nicht entstehen. In der Erzählung trügt die Stille der Erwartung nicht, denn es ereignet sich alsbald die Begegnung mit der Wachtel. Hier kann man schon fragen, ob sich die bisher identifizierte Sinnbildlichkeit zum Sinnbildlichen in der Erzählung insgesamt amalgamieren läßt. Zu platt angesichts der artifiziellen Differenzierung ist die Auffassung als Bericht über das Erlebnis einer Fahrt des Ich-Erzählers auf dem Erntewagen. Dann ist die Erzählung ein expositorischer Text, eine biographische Episode vielleicht, die man eher alltags-, fach- oder sondersprachlich formuliert. Es wird die Wirklichkeit, die in einer bestimmten Situation - wenn auch in einer vergangenen - geschehen ist, reproduziert. Zudem ist die Gelegenheit ergriffen, ornithologisches Wissen, wozu phonetische Imitation einiger Vogelstimmen gehört, mitzuteilen. Sinnbildlichkeit ist da minimal. 3.2. Sinnbildlichkeit, Fiktionalität Sinnbildlichkeit liegt schon näher, wenn man an Literatur der Spurensicherung' denkt, welche in Geschehen und Sachkultur Vergangenes abbildet und vergegenwärtigt. In der Erzählung kann das eine noch nicht mechanisierte und motorisierte Landwirtschaft betreffen. Das Heu wird, beschwert mit einem genau beschriebenen Wiesbaum, auf dem Leiterwagen abtransportiert. Die vom Wagner und Schmied hergestellten Räder bewegen sich auf noch unbefestigten Feldwegen. Wiese, Wald, Feld und Dorf mit Bauern und Vieh, darunter das Zugpferd - wie selbstverständlich als Wallach bezeichnet und mit dem Namen Damlack individualisiert - bilden die Lebenswelt. In dieser sind auch alle möglichen Vögel beheimatet, von denen man weiß, wo und wann sie anzutreffen sind und wie sie singen. Insbesondere hat die Wachtel, die wegen ihres als Wachtelschlag besonders anmutigen Rufs hervorzuheben ist wie andernfalls die Nachtigall, noch einen entfalteten Lebensraum. Das Sinnbildliche hier ist die als ,Idylle' und nicht die als Realität vorgestellte Welt. In dieser Weise liegt hier eine ,Fiktion' vor, ist der Text ,fiktional'. 3.3. Fiktionalität, Interpretation, Illusion Damit ist ein weiteres Kriterium für das Poetische an einem Text festgestellt, die Fiktion. Diese Eigenheit macht es erforderlich, den Text nicht vor-
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dergründig zu verstehen, indem man danach fahndet, welche in eine Situation eingebundene Wirklichkeit reproduziert ist und in wieweit reales Bild und sprachliches Abbild deckungsgleich sind. Bei fiktionalen Texten ist es erforderlich, die Sinnbildlichkeit zu verstehen. Fiktionale Texte sind eigenbezüglich, d.h. der Sinn muß herausgelesen werden. Der Leser produziert eine für die Mitteilung des Textes angesehene Wirklichkeit. Dem besonderen Verständnis für einen solchen Text wird ein spezielles Verhalten des Rezipienten gerecht, nämlich das ,Interpretieren'. Der ,Interpret' muß mit einer gewissen Offenheit des fiktionalen Textes rechnen, so daß unterschiedliches und nicht bzw. nie abgeschlossenes Verständnis/Verstehen natürlich ist. Damit hängt zusammen, daß ein Text sich als poetisch erweist, indem er gegenwärtigem Geschehen und momentaner Aktualität enthoben ist. Man kann den Wert ,dauernder Aktualität' hier substituieren. Mit Fiktionalität und dauernder Aktualität des literarischen Textes hängt auch zusammen, daß die Persönlichkeit des Autors dahinter verschwindet. Die Offenheit des literarischen Textes macht eine Verständigung über seine Botschaft notwendig. Diese Verständigung ist Aktivität des Interpreten in der Kommunikation mit dem Text und anderen Interpreten. Vorwissen und Bildung des Interpreten bedingen Tiefe und Aspektreichtum des Verstehens. So wäre das Beispiel dieser Erzählung als für den Autor Johannes Bobrowski typischer Text nur zu verstehen, wenn der Interpret Kenntnisse über die Biographie sowie das Werk von Johannes Bobrowski mitbringt und in den textanalytischen Prozeß einführt. In unserer Erörterung soll ein Interpret mit solchen Kenntnissen am Werke sein. Er ist sich daraufhin gewiß, daß die bisherige Deutung dem Gehalt des Textes nicht gerecht wird. Schon im Titel ist als ein artifizielles Indiz eine dyadische Inhaltsstruktur des Textes präformiert. Dem Schlüsselwort still wurde Genüge getan, aber das Vorkommen der Wachtel ist bisher zu prosaisch verstanden. Es handelt sich so doch nur um die Agglomeration ornithologischer Informationen über das Tier: Vogel, Bezeichnung, Veranschaulichung der Lautäußerung, Gestalt, Bewegung, Färbung, Nahrung, Lebensraum, Standortverhalten. Das ist schon etwas über Wachteln. Viel konkreter und weiter ins einzelne gehend kann man das jedoch aus dem Artikel eines Konversationslexikons erfahren. Beim Studium solcher Artikel wird einem klar, daß Bobrowski sie mittel- oder unmittelbar als Quelle seines Wissens benutzt haben muß. In der Erzählung finden sich keine Kennzeichnungen der Vögel, speziell der Wachtel, die dort nicht ihren Beleg fänden. Kontrolliert ist das an den Artikeln ,Wachtel' und ,Pirol' zweier früherer Auflagen des Brockhaus (siehe Anhang). Übrigens lassen sich Artikel des Konversationslexikons als Prototypen fachsprachlichen Stils [expositorisch, hermetisch/eindeutig, künstlich/formell (ungleich künstlerisch/artifiziell)] dem hier beispielgebenden poetischen Text gegenüberstellen. In der Erzählung erleben wir nun die Poetisierung des Auftretens der Wachtel durch Erhebung zum Sinnbild. Das Auftreten/Ereignis wird zur Erscheinung. Im Sinnbild der erwartungsvollen /andächtigen Stille' ist die Stimmung
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für die Überwindung von Zeit und Endlichkeit vorbereitet. Es wird ein Vorgang inszeniert, in welchem Sinnbilder einander transzendieren. Man wird in ein artifizielles Verfahren einbezogen, in welchem Metrum und Ton des Wachtelsangs verwandelt werden in menschensprachliche Formulierungen aus drei Silben, dann aus zwei oder drei Wörtern. Diese Formulierungen erfahren sukzessive eine semantische Aufwertung: Pück Perück; Bück den Rück; Flieg ich fort; Bleib noch hier; Schönen Dank; Lobet Gott (Abschnitte 14-17). Die stakkatohaften Syntagmen der Wachtelpassage rufen den Eindruck einer Temposteigerung und eines ekstatischen Aufbruchs hervor. Der letzte Schritt zur hymnischen Anrufung, zum Gotteslob, wird durch die Wandlung des konjugativen Präsens der Wachtelpassage in den Imperativ ihres und des gesamten Schlusses (Abschnitt 17) vollzogen. Damit kommt es zu weiterer Transzendierung der Sinnbildlichkeit, welche nun die ganze Erzählung Stiller Sommer; zugleich etwas über Wachteln einbeschließt, nämlich als eines Bildes der Schöpfung, für die Gott gedankt und Lob gesungen wird. In dieser hochgespannten Sinnbildlichkeit ist die Fiktion auch als Illusion zu erkennen. Die Schöpfung ist in ihrer erbaulichen Erscheinung, wofür die Bezeichnung ,Idylle' schon eingeführt wurde, vergegenwärtigt. Der über entsprechende Bildung (Bibelkenntnis) verfügende Interpret kann die Schlußfolgerung, daß die Schöpfung Gottes gemeint ist, erhärten, indem er sich auf die alttestamentliche Nennung der Wachtel beruft. Dort erscheint sie als Gabe Gottes für das Volk Israel, zugleich mit dem Manna, dem Brot des Herrn (Exodus 16); in Psalmen mit dem Anruf Danket dem Herrn wird daran erinnert (Psalm 105,4; 106, 13-15) 7 . In den Artikeln des Konversationslexikons gibt es darauf keinen Hinweis, so daß der Interpret noch eine Erkenntnisquelle des Autors aufdeckt, eine Quelle, die selbst weder alltags- noch fachsprachlich ist. Der Interpret muß nun, um die Poesie der Erzählung zu wahren, mit dem Autor zusammenspielen. Die Quellen darf er nicht weitergehend als er auswerten, auch wenn über die benutzten Hinweise hinaus Informationen gegeben sind. Dies ist eine ,Erzählung', zu deren Bestimmung die Erzeugung von Illusion und zu deren Anliegen die Wahrnehmung der Illusion gehört. Es liegt beim Interpreten, das Poetische am Text zu ermitteln und generell als die Textbedeutung aufzufassen, da andernfalls eine Desillusionierung herbeigeführt werden könnte.
4. Schlußbemerkung Die sprachwissenschaftliche Systematik hat zu einer Objektivierung kultursprachlicher Verhältnisse geführt, in denen die Äußerungen schriftlicher und mündlicher Erscheinungsform sein können. Diese beiden Formen bestimmen 7
Aufgesucht wurden die Stellen in: Die Bibel/Einheitsübersetzung 1980. Die Bezugsstellen sind: Ex 16, 13; Num 11, 31-33; Ps 78, 26-29; 105, 40; 106, 13-15; Weish 19, l l f .
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jeweils eine eigene stilistische Ausprägung. Als Funktionalstile, nicht als auton o m e SprachVarietäten, gelten bisher Alltags-, S o n d e r - u n d Fachsprache. H u g o Steger h a t u. a. auch auf diesen T h e m e n g e b i e t e n seine Beiträge geleistet, so daß m a n m i t der vorgelegten E r ö r t e r u n g an eine p r ä f o r m i e r t e Diskussion a n k n ü p f e n konnte. Zur K l ä r u n g s t a n d das P r o b l e m an, ob Literatursprache eine eigene Sprachform oder eine der A u s p r ä g u n g e n sondersprachlicher Äußerung sei. Die Anregung ergibt sich aus der Fragestellung von Hugo Steger: Was ist eigentlich Literatursprache? Die Antwort ist auch hier, daß es die L i t e r a t u r s p r a c h e nicht gibt, sondern den Funktionalstil Literatursprache. Hinsichtlich des anderen Aspekts h a b e n die in unserer U n t e r s u c h u n g an einer E r z ä h l u n g gewonnenen Feststellungen dazu g e f ü h r t , L i t e r a t u r s p r a c h e nicht als sondersprachlichen Substil, sondern als separaten Sprachstil einzuschätzen. N i m m t m a n den T i t e l dieser U n t e r s u c h u n g als die Frage, was das Poetische an einem literarischen Text sei, d a n n erkennt m a n die Dignität dieses Stils als erreicht, wenn folgende Kriterien m i t hoher Verdichtung u n d Verbindlichkeit erfaßbar sind: ,Artefaktizität', ,Sinnbildlichkeit', ,Fiktionalität' u n d d a m i t z u s a m m e n h ä n g e n d e Würdigkeit f ü r I n t e r p r e t a t i o n ' . Der analysierte Erzähltext erweist sich als an solchen K o m p o n e n t e n sehr reich u n d gibt entsprechend überzeugend das Beispiel des poetischen Textes ab. O b er aber im literarischen K a n o n oder auch n u r i m Werk von J o h a n n e s Bobrowski wesentlich ist, sei dahingestellt. Dahingestellt sei auch, ob m a n an i h m Studien m i t der Frage nach M o d e r n i t ä t im Sinne von Steger (1987b) b e t r e i b e n k ö n n t e .
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Motivation zur praktischen Lebensbewältigung durch Kommunikation. Praktische Motivation
Motivation zum synthetischen Entwurf von fiktionaler Welt, synthetische Motivation«
Motivation zur beschreib, und erklärenden Analyse der empirischen Welt. >Analytische Motivation«
die erfahrene Welt der Lebenspraxis >Alltagswelt
ästh. Sprachwelt
Analysewelt
Normale
Wahre
trl|olk, fiugiteo), αηφ bei lat. 3iame; sJiaupcn= unb Seerenfreffer (fittfd|BO(irl).
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A b b i l d u n g 2 - 6 : gleicher Zeittakt bei gleichem Input wie Abbildung 2-4, die hemmenden Verbindungen sind an einem η erkennbar.
Die Anordnung läßt eine gewisse zeitliche Variabilität des Inputs zu, aber nur im Rahmen der Dauer des allmählich abklingenden E P S P s , das die Funktion des ,Erwartungspotentials' hat. Eine praktisch beliebig lange zeitliche Erstreckung der Sequenzelemente, wie zur Darstellung syntaktischer Sequenzen erforderlich, ermöglicht die Konstruktion der Abbildung 2-7, wenn gewährleistet werden kann, daß ein länger andauernder Input die Inputzelle mehrfach feuert.
Neuronale Modelle des Sprachverstehens
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Hier erzeugen feuernde Zellen mit einer gewissen Verzögerung ein Erwartungspotential auch bei sich selbst:
A b b i l d u n g 2—7: Zustand nach Eingabe von abaaa, sbl und sa2 (schwer zu erkennen) haben ein Erwartungspotential, die Kette abaaab wird am Ende als korrekt erkannt.
Für die korrekte Verarbeitung syntaktischer Sequenzen reicht aber auch diese Schaltung noch nicht aus. Wir führen zunächst einige zusätzliche Zellen ein, die im Augenblick als redundant erscheinen und als Instanzen der Eingabezellen
Die neu eingeführten Zellen sind für bestimmte Spracherwerbsvorgänge nötig, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Dann verdoppeln wir alle Zellverbände, die syntaktische Konstituenten darstellen sollen und führen systematisch überall (fett umrandete) Zellen ein, die jeweils die Erwartung des Nachfolgers in der Sequenz bewirken (,Prädiktionsmechanismus'). Außerdem wird eine Zellkombination hinzugefügt, die ausdrücklich die Gesamtsequenz darstellt. Es entsteht die Anordnung der Abbildung 2-9.
300
Günter Kochendörfer
Abbildung 2-9
Zur Begründung für die Doppelung muß daran erinnert werden, daß syntaktische Konstituenten zwar von variabler Länge sind, daß der Zeitpunkt des Ubergangs vom Vorgänger zum Nachfolger einer Sequenz aber nicht beliebig ist. Die Vorgängersequenz muß vollständig sein, ehe der Nachfolger erwartet werden darf. In unserem abstrakten Beispiel wird die Zelle a' gefeuert, wenn a vollständig bzw. abgeschlossen ist. Bis zu diesem Zeitpunkt feuert, den entsprechenden Input vorausgesetzt, die Zelle a. Die Zellkombination, die die Gesamtsequenz darstellt, zeigt, wie wiederholtes Feuern und Feuern der abschließenden Einheit auf einer höheren Verarbeitungsebene gewährleistet werden können.
3. Aufbau und Funktion des Parsers Die Abbildung 3-1 bringt zunächst die Gesamtstruktur des Parsers oberhalb der lexikalischen Ebene einschließlich, in einer Version, die nicht in der Lage ist, syntaktische Strukturen gesprochener Sprache zu verarbeiten.
Neuronale
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Modelle des
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Sprachverstehens
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A b b i l d u n g 3 - 1 : Verbindungsrichtung im allgemeinen von unten nach oben und von links nach rechts. Verzweigung von Verbindungen nur in Laufrichtung der Aktionspotentiale, daran läßt sich die Verbindungsrichtung zusätzlich erkennen. Der Prädiktionsmechanismus arbeitet von oben nach unten und von links nach rechts.
Man muß sich insgesamt klarmachen, daß es keinen Unterschied gibt zwischen Schaltungsbestandteilen, die für Prozesse verantwortlich sind, und solchen, die Ergebnisse oder Kompetenzstrukturen repräsentieren. Die Abbildung 3-1 enthält alle (!) Zellen der eigentlichen (natürlich sehr rudimentären) Syntax und alle (!) Verbindungen, mit Ausnahme der Verbindungen zwischen Lexikon (unten links) und Syntax.
Günter Kochendörfer
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Die Strukturen der Syntax entsprechen denen der Abbildung 2 - 9 , mit Ausnahme des in der rechten unteren Hälfte dargestellten Mechanismus zur Kontrolle von Kasus, Numerus und Genus der Nominalphrasen und zur Kontrolle des Verbnumerus, wo es keine Strukturen zur Bearbeitung des Endes von Sequenzelementen gibt. Zur besseren Orientierung hier dieselbe Schaltung in einer Form, in der die Verbindungen weggelassen und stattdessen die einzelnen Zellen mit einer Identifikation aus maximal drei Buchstaben versehen sind: ps
ss ns is os
Ss Ns Is Os
pvp
svp nvp ivp ovp
Svp Nvp Ivp Ovp
psu
ssu nsu isu
Ssu Nsu Isu
pv
sv nv iv ov
Sv Nv Iv Ov
pob
sob nob iob
Sob Nob lob
sde nde ide ode
onp Sde Nde Ide Ode
Onp pn
sn nn in on
Sn Nn In On
pat
sat nat iat
Sat Nat Iat
pnp pde
sal sbl sdl
st
sSl snl
sfl sa2 se3 si2 Sil sa4
sei sil
sOl sn2 ssl
stl se2
sng se5
se4 sn6
ssp nsp isp osl
ovs
ovl
sgl ngl igl ogl
sal nal ial oal
sn3
ss 2 srl sn4 sa3 sS2
osu sss nss iss oss
S02 sn5 st2
sns nns ins ons
sgs ngs igs ogs
oka sas nas ias oas
snl nnl inl onl
sne nne ine one
ogn sfe nfe ife ofe
sma nma ima oma
A b b i l d u n g 3 - 2 : Die Anordnung der Zellen aus Abbildung 3 - 1 ist beibehalten, aber etwas gestaucht. Die Identifikation gibt Auskunft über den Zelltyp und die Funktion. Zelltyp: großer Anfangsbuchstabe für Zellen, die das Ende einer Konstituente feststellen, Ν bzw. η für hemmende Zellen, S bzw s für die Zellen der eigentlichen Token-Sequenzen, ρ für die Zellen des Prädiktionsmechanismus I bzw. i für ,Instanzen' und Ο bzw. ο für Zellen, die typischerweise ODER-Verknüpfungen durchführen (die Zelldifferenzierung ist zum Teil durch Argumente bedingt, die den Spracherwerb betreffen). Zellfunktion (Beispiele): ss bzw. Ss repräsentieren den Satz als Ganzes, snp bzw. Snp eine Nominalphrase, sn bzw. Sn ein Nomen, usw.
Das Lexikon ist in beiden Abbildungen vereinfacht dargestellt, es sind nur die Token-Sequenzen herausgegriffen, die die Lexikoneinträge bilden. Man kann erkennen, daß das Lexikon eine Baum-Struktur (genauer ,trie'-Struktur) bildet, d.h. die Wortanfänge sind ,zusammengelegt'. Die dargestellten Lexikoneinträge können in Abbildung 3 - 2 aus den jeweils zweiten Buchstaben der Zellidentifikation zusammengesetzt werden, in der obersten Reihe ist ζ. B . der Eintrag [afeO] bzw. [afen] zu erkennen.
Neuronale Modelle des Sprachverstehens
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Abbildung 3-3 zeigt die vollständige Lexikonschaltung, wobei wieder wichtig ist, daß kein Unterschied besteht zwischen Zugriffsstrukturen und Repräsentation der lexikalischen Ausdrucksseiten. Die gestrichelt angedeuteten Verbindungen führen in die Syntax.
Das Lexikon ist seinerseits mit einer Phonologie/Phonetik verknüpft, die in Abbildung 3-4 dargestellt ist. Die fett gestrichelt u m r a h m t e n Kästen in dieser Abbildung enthalten Teile, die in der gegenwärtigen Simulationsversion nicht realisiert sind, dort sind nicht alle Verbindungen eingezeichnet. D. h. praktisch, daß für die Simulation die Verbindungen ohne Unterbrechung durch diese Kästen durchgezogen zu denken sind. Die unterste Zellreihe bildet die Eingabezellen für die gesamte Parserschaltung.
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Günter Kochendörfer
Abbildung 3-4
Wie sieht nun die Eingabe in das Netz aus? Die Abbildung 3-5 bringt eine Wiedergabe der Aktionspotentiale der Eingabezellen bei Eingabe des Satzanfangs [dea afe . . . ] . Die Eingabe besteht in kontinuierlich intensitätskodierten (!) phonetischen Merkmalen (voc=vocalic, cns=consonantal, cmp=compact, dif=diffuse, grv=grave, nax=nasal, ten=tense). Hohe Intensität wird durch einen Impulsburst hoher Frequenz, niedrige Intensität durch niedrige Frequenz ausgedrückt. Zwischenwerte sind möglich und bedeuten ggf. eine Mehrdeutigkeit bzw. Unbestimmtheit des Inputs. (Die im Beispiel verwendeten Inputdaten sind nicht mehrdeutig.) Der Input ist nicht segmentiert, die Segmentierung oberhalb der Lautebene ist eine Leistung des Lexikons und der Syntax. Phonetische Anhaltspunkte für die Segmentierung werden durch den vorliegenden Parser nicht ausgewertet. Der scheinbare Abstand zwischen den Lauten ist dadurch bedingt, daß die Bursts eher in der ersten Hälfte der Lautdauer erscheinen, die Lücken könnten ohne Störung des Parsers durch langsame Impulsfolgen gefüllt werden. Es ist kein besonderer Abstand zwischen den Wörtern, ζ. B. dem Artikel [dea] und dem Nomen [afe] vorhanden. Die zeitlichen Abstände zwischen den Bursts (d. h. von deren größter Frequenzdichte) sind in gewissen Grenzen variabel (Lautdauer in der Simulation zwischen 70 und 110 ms, Längen werden im Augenblick nicht unterstützt), auch die Impulse innerhalb der Bursts sind etwas variabel verteilt (biologisches Material!).
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unr-f-n» pwn H i f a r u m w t e n Abbildung 3 - 5 : Die Zeitachse liegt senkrecht von oben nach unten, unten sind die phonetischen Merkmale notiert, die den jeweiligen Eingabezellen entsprechen.
Wie sieht das Ergebnis aus? - Es werden keine syntaktischen Strukturbäume gebildet und irgendwo in einem Speicher abgelegt, der vom Parser-Mechanismus verschieden wäre. - Es wird angenommen, daß, ausgelöst vom syntaktischen Prozeß (Konstituenten-Endknoten-Aktivität), semantischer Inhalt, der parallel zu den semantischen Strukturen des Lexikons organisiert ist, fixiert wird. Details dieser semantischen Prozesse sind in Arbeit und werden hier ausgeklammert. Der Parser, wie bisher beschrieben, analysiert nur ,korrekte' schriftsprachliche Sätze und weist gesprochensprachliche Phänomene als grammatisch inkorrekt zurück. Anders der nur geringfügig veränderte Parser der Abbildung 3-6.
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Günter
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Zur Bearbeitung gesprochensprachlicher syntaktischer Phänomene gibt es in der computerlinguistischen Literatur verschiedene Ideen (vgl. Goeser 1991), die z.B. darin bestehen, daß die Anforderungen für syntaktische Korrektheit in bestimmtem Umfang geändert werden, was zur Folge haben kann, daß auch offenkundig falsche Sätze als korrekt zugelassen werden. Oder die Strukturen gesprochener Sprache werden durch eigene Regeln gewährleistet, die denselben Status haben wie die geschriebensprachlichen Regeln.
Neuronale Modelle des Sprachverstehens
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Hugo Steger hat in einer Arbeit zur gesprochenen Sprache (Steger 1987) vermutet, daß ihre syntaktischen Strukturen praktisch mit denen der geschriebenen Sprache identisch sind, was heißen müßte, daß keine speziellen syntaktischen Regeln zur Beschreibung und Verarbeitung gesprochener Sprache erforderlich wären. Es ist nun tatsächlich möglich, den vorgeschlagenen neuronalen Parser ohne Hinzufügung neuer Regeln (bzw. ihrer neuronalen Entsprechungen) so auszustatten, daß er die gewünschten gesprochensprachlichen Strukturen (und nur diese) zuläßt. Diese revidierte Parserstruktur ist in Abbildung 3-6 dargestellt. Die Änderungen sind fett gestrichelt, die einzige hinzugefügte Zelle ist rechts oben dargestellt, sie wird durch das Hesitationssignal ζ. B. äh aktiviert. Die zusätzlichen Verbindungen versehen im wesentlichen die Zellen des Prädiktionsmechanismus mit einer Gedächtnisfunktion, die so etwas wie eine Wiederbelebung 1 einer Auswahl früherer Systemzustände ermöglicht.
4. Linguistische Hypothesen (a) Auseinandersetzung mit dem Prinzipien-und-Parameter-Ansatz und entsprechenden Parsern in der Linguistik Aus den Erfahrungen mit den dargestellten Simulationsexperimenten heraus scheint es praktisch unmöglich zu sein, auf neuronaler Hardware mit plausiblem Aufwand ein Verstehensmodell zu konstruieren, das auch nur andeutungsweise so etwas wie Prinzipien im Sinne der modernen generativen Sprachtheorie direkt ausbuchstabieren würde. (Von der dabei implizierten Trennung von Grammatik und Parser ganz abgesehen.) Es ist dem Linguisten selbstverständlich nicht verboten, von Prinzipien zu sprechen und sie zu formulieren, er darf sie aber nicht als ,mentale Objekte' betrachten. (b) Ausmaß von Parallelverarbeitung vs. Backtracking und Ausmaß von Rekursivität Der konstruierte Parser enthält eigentümliche Beschränkungen für das Ausmaß von Parallelverarbeitung, es würde allerdings zu weit führen, sie hier im einzelnen nachzuvollziehen. In keinem Fall werden alle möglichen syntaktischen Analysen tatsächlich gebildet und bis zum Ende des Parsingprozesses verfügbar gehalten. D. h., es ist ggf. damit zu rechnen, daß Backtracking (Reanalyse) erforderlich ist. In diesem Fall sollte eine Verarbeitungsschwierigkeit beim menschlichen Sprecher/Hörer auch (in einem eingeschränkten Sinne) bewußt werden. Der Parser enthält also eine Hypothese über die Grenze zwischen auffälligen und unauffälligen lokalen Mehrdeutigkeiten. Ahnlich steht es mit der Rekursivität. Die immer wieder vertretene Hypothese, daß die Rekursivität natürlicher Sprachen (vom Parsing-Prozeß her gesehen) engen Beschränkungen unterliegt, wird hier durch bestimmte apparative Bedingungen untermauert. Die Details sind aber auch abhängig von der
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Grenzziehung zwischen Syntax und Semantik und erst nach Klärung dieses Verhältnisses genauer zu beschreiben. (c) Hypothese über unauffällige Strukturen gesprochener Sprache Wir gebrauchen die eingangs beschriebenen Strukturen gesprochener Sprache, ohne uns dessen bewußt zu werden. Es gibt aber natürlich auch Störungen Satzbrüche die zu Bewußtsein kommen. Die von der vorgeschlagenen Parserstruktur akzeptierten Strukturen sollten identisch sein mit dem, was unterhalb der Bewußtseinsschwelle bleibt. Das würde ζ. B. auch heißen, daß Satzbrüche ohne Hesitationssignal oder vergleichbare Anhaltspunkte zu den bewußtwerdenden Irregularitäten gehören. (d) Lexikonmodell und Phonologie: Konkurrenz von einheitlichem Segment und Merkmalsbündel in der Phonologie. Welche Störungen im Input bleiben unter der Aufmerksamkeitsschwelle? Der Parser enthält Hypothesen über die ausdrucksseitige Lexikonstruktur, den Mechanismus des Lexikonabgleichs im Sprachverstehen und das Zusammenwirken des Lexikons mit der Phonologie. Wenn man mit der üblichen Position der generativen Phonologie vergleicht, nach der das Lexikon Sequenzen redundanzfreier Merkmalsbündel enthält, wird hier ganz offenbar eine Gegenposition vertreten: Die lexikalischen Einträge enthalten Sequenzen phonologischer Einheiten, die die Merkmalsanalyse bereits hinter sich haben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Lexikon überhaupt oder gar effektiver aus Merkmalsbündeln aufzubauen wäre. Es gibt Störungen des akustischen Inputs, die im Modell nicht zu Verarbeitungsproblemen führen, andere setzen im aktuellen Simulationsmodell nicht enthaltene Reparaturmechanismen voraus. Das Modell enthält eine Hypothese über die Grenzziehung, die sich notwendig aus der Gesamtkonstruktion und den dadurch definierten Parallelverarbeitungsmöglichkeiten ergibt. (e) Kohärenz-Theorie, ausweitbar auf die Semantik bzw. das Textverstehen; Kohärenz als Verarbeitungsprinzip Ein überraschendes Ergebnis betrifft den Kohärenzbegriff in der Linguistik. Die vorgeschlagene Lösung für das Kurzzeitgedächtnisproblem, das durch die Variabilität der syntaktischen Konstituenten entsteht, hat zur Folge, daß es eine einzelne Zelle gibt, die in regelmäßigen Abständen feuert, solange der Satz syntaktisch korrekt=kohärent ist. Im Modell ist das die Zelle mit der Identifikation ss. Der Parser kontrolliert sich sozusagen selbst, es braucht keinen von den Parser-Strukturen verschiedenen Mechanismus, der eine Art MonitorFunktion hätte. (Bei parallelverarbeitenden Systemen ist es ein bekannt schwieriges Problem, frühzeitig festzustellen, ob die Analyse noch Aussicht auf eine brauchbare Lösung hat oder nicht.)
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Modelle
des
Sprachverstehens
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Wenn man Kohärenz, wie in der neueren Literatur vorgeschlagen, als Eigenschaft des Verarbeitungsprozesses sieht, liegt es nahe, in der beschriebenen Eigenschaft des Parsers die apparative Grundlage für das Kohärenzkonzept zu sehen. Natürlich müßte man dann auch eine Übertragbarkeit auf den semantischen bzw. textlinguistischen Bereich verlangen. Überlegungen dazu existieren, müssen aber hier ausgeklammert werden.
5. Perspektiven (a) Lernen Wenn man einen linguistisch relevanten Parser vorschlagen möchte, muß man zeigen können, daß er durch einen Lernprozeß erworben werden kann, soweit Teilstrukturen nicht als angeboren gelten können. Ich kann wenigstens für das Lexikon zeigen, wie es durch Lernprozesse (im Spracherwerb) entstehen kann. Es handelt sich dabei letztlich um eine differenzierte Weiterentwicklung der Hebbschen Grundidee über die Anpassung von Synapsengewichten. Da die syntaktischen Strukturen denen des Lexikons sehr ähneln, erwarte ich, daß sich auch die Lernmechanismen aus dem Lexikon auf die Syntax übertragen lassen. Die Probleme damit betreffen vor allem die Simulationstechnik, da einerseits mit hoher zeitlicher Auflösung gearbeitet werden muß (im Millisekunden-Bereich, sonst können die Lernvorgänge an einzelnen Synapsen nicht mehr realistisch dargestellt werden), andererseits die entsprechenden Spracherwerbsvorgänge sich über relativ lange Zeitabschnitte erstrecken. (b) Semantik Die Semantik sehe ich als Teilproblem des Lernens: es geht um die (hier relativ rasche) Verankerung von Inhalten in einem Gedächtnis, das keine Unterscheidung von Inhalten und Zugriffsmechanismen kennt und in dem die Vorstellung des Transports kodierter Information auf neutrale Speicherplätze (Topfmetapher) nicht zulässig ist. Ich erwarte, daß sich wichtige Fragen zur Semantik aus einer Untersuchung des Spracherwerbs heraus klären lassen. (c) Produktion Ich habe nur ungefähre Vorstellungen über die Mechanismen der Sprachproduktion. Wichtig ist die Annahme, daß Produktion und Perzeption auf bestimmten Ebenen dasselbe (nicht nur das gleiche) neurologische Substrat verwenden. (d) Blick auf die Gehirnstruktur, ,Faltung1 Wenn man in einschlägigen Handbüchern versucht, sich über das Aussehen von Gehirnstrukturen zu informieren, findet man Bilder wie das der Abbildung 5-1 (vereinfacht nach Kandel/Schwartz 1985, 314):
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Dort werden in der Hirnrinde verschiedene Schichten (I-VI) unterschieden, die jeweils z . B . durch das Auftreten bestimmter Zelltypen charakterisiert sind. Wenn man solche Bilder mit den in Abschnitt 3 vorgestellten Parserschaltungen vergleicht, fallen wichtige Differenzen auf. Leicht zu ,beheben' ist die Tatsache, daß die Haupt-Verarbeitungsrichtung im Gehirn von außen nach innen ist, in der Abbildung von oben nach unten: Die Parser-Bilder müssen zur Angleichung einfach umgedreht werden. Viel wichtiger ist aber, daß der Parser in einer Hierarchie von Schichten von der Phonologie über das Lexikon bis zur Syntax besteht, von denen in der Hirnrinde offenbar nur eine einzige Platz findet, wobei die Zelldifferenzierung innerhalb der Schichten des Modells durchaus positiv vermerkt werden kann. Es liegt nahe, aus dieser Diskrepanz den Schluß zu ziehen, daß die Schichten des Modells auf der Hirnrinde bildlich gesprochen ineinandergefaltet zu denken sind. D. h., wenn die Verarbeitung die Schicht VI erreicht, muß das entsprechende Signal auf die Schicht I oder jedenfalls eine der höheren Schichten zurückprojiziert werden. Das ergibt dann eine schematische Struktur wie in Abbildung 5-2.
Abbildung 5-2
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Sprachverstehens
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Wenn m a n sich in der Abbildung 5 - 1 die Schicht VI ansieht, sieht m a n dort tatsächlich Zellen, die eine solche Rückprojektion leisten. Das hier als ,Faltung 1 bezeichnete S t r u k t u r m e r k m a l m u ß für Intelligenzleistungen wie das Sprachverstehen von ganz grundsätzlicher Bedeutung sein und darf nicht nur als biologische Notlösung gesehen werden. Worin diese Bedeutung bestehen könnte, ist aber (noch) unklar.
Literatur Goeser, S. (1991): Eine linguistische Theorie der Robustheit. Diss. phil. Stuttgart. Konstanz. Jäger, K.-H. (Hg.) (1979): Texte gesprochener deutscher Standardsprache. Erarbeitet im Institut für deutsche Sprache, Forschungsstelle Freiburg i. Br. Bd. 4: Beratungen und Dienstleistungsdialoge. München. (^Heutiges Deutsch 2,4). Kandel, E./Schwartz, J. (1985): Principles of Neural Science. 2nd ed. New York. Kochendörfer, G. (1991): Kognitive Linguistik. Teil 1: Grundlagen, Argumentationsbeispiele. Vorabdruck. Freiburg i. Br. McClelland, J. L./Rumelhart D. E. (1986): Parallel Distributed Processing. Explorations in the Microstructure of Cognition. Vol. 2: Psychological and Biological Models. Cambridge, Mass. Norris, D. (1990): A Dynamic-Net Model of Human Speech Recognition. In: Altmann, G . T . M. (Ed.) (1990): Cognitive Models of Speech Processing. Psycholinguistic and Computational Perspectives. Cambridge, Mass., 87-104. Sharkey, Ν. (Ed.) (1992): Connectionist Natural Language Processing. Readings from Connection Science. Dordrecht. Steger, Η. (1987): Hugo Steger: Bilden „gesprochene Sprache" und „geschriebene Sprache" eigene Sprachvarietäten? In: Aust, H. (Hg.): Wörter. Schätze, Fugen und Fächer des Wissens. Festgabe für Theodor Lewandowski zum 60. Geburtstag. Tübingen, 35-58. Strube, G. (1990): Gerhard Strube: Neokonnektionismus: Eine neue Basis für die Theorie und Modellierung menschlicher Kognition? In: Psychologische Rundschau 41, 129-143.
V. Dialektologie und Namenkunde
RENATE SCHRAMBKE, F r e i b u r g i. B r .
Lenisierungen im südwestdeutschen Sprachraum Hugo Steger, den wir mit dieser Festschrift ehren, hat sich seit den frühen 60er Jahren in zahlreichen Veröffentlichungen (unter anderem in seiner Habilitationsschrift) immer wieder der Dialektgeographie zugewandt. Auch in späteren Jahren, als die Dialektgeographie als Teildisziplin der Deutschen Sprachwissenschaft allgemein an Bedeutung und Anerkennung verlor, ist sein Interesse an ihr unverändert groß geblieben. Als Mitbegründer des „Südwestdeutschen Sprachatlas" (SSA) und als dessen Projektleiter hat er sich Verdienste um die Erforschung der Alemannia erworben. Mit dem hier vorliegenden Beitrag können erstmals neue, aus dem direkt erhobenen Sprachmaterial des SSA gewonnene Daten vorgelegt werden, die für die Diskussion um die Großgliederung der alemannischen Sprachlandschaften neue Gesichtspunkte ergeben. Und da er eben diese Diskussion durch eine Mundartenkarte im Historischen Atlas von Baden-Württemberg maßgeblich gefördert hat, sei ihm der Beitrag im besonderen gewidmet. 1. Vorbemerkung Zwei Lenisierungsvorgänge haben den Konsonantismus im Untersuchungsgebiet (UG) des „Südwestdeutschen Sprachatlas" verändert 1 . Im nördlichen Teil wurde der Stärkegradgegensatz zwischen Fortis- und Leniskonsonanten beseitigt. Im nordwestlichen Teil wurden die ζ wischenvokalischen Lenisverschlußlaute aus germ. b, Ρ, g zu Reibelauten geschwächt. In der einschlägigen Literatur wird die erstere der beiden Entwicklungen als binnendeutsche Konsonantenschwächung, die zweite als fränkische Spirantisierung bezeichnet (vgl. Lessiak 1933, 13ff.; Kranzmayer 1956, §34; Seidelmann 1976, 374ff.; Paul 1982, §66). 2. Die fränkische Spirantisierung Die zwischenvokalische Spirantisierung von germ, b zu w trat vor allem im westlichen, oberrhein-alemannischen Teil des UG ein; der größte Teil des schwäbischen Sprachgebietes hat dagegen Verschlußlautaussprache bewahrt (vgl. Karte 1, Kartenthema 2). 1
Genauere Angaben zum Aufnahmegebiet sind aus der Einleitung zum Südwestdeutschen Sprachatlas 1993 zu entnehmen.
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Renate
Schrambke
Die Spirantisierung bzw. Vokalisierung von germ, g ist auf den Nordwesten des UG beschränkt und hat vor allem nach Flach- und Hinterzungenvokalen eine breite phonetische Varianz hervorgebracht (vgl. Karte 1, Kartenthema 1): Magen kann in der Baden-Badener und Rastatter Gegend als maga, maxa, mans, westlich von Rastatt als mäa, südlich von Kehl als mäta gesprochen werden. Im Hanauerland (nördlich von Kehl) wurde mhd. g zum Halbvokal ju. oder zum Reibelaut w erweicht, ζ. B. in rngju,a, mätia. Der Halbvokal hat sich in einigen Orten zum Reibelaut w weiterentwickelt, der mit dem aus germ, b entstandenen Reibelaut zusammenfällt: τπ/pwa, mäwa. Nach Vorderzungenvokalen ist die lautliche Varianz geringer; legen erscheint überwiegend als lega, leia, l$ia (vgl. Schrambke 1983, 236ff.). Die durch die Spirantisierung von germ, b und g entstandenen Reibelaute bzw. Halbvokale stehen in Opposition zu den Lenisverschlußlauten aus germ, k, kk, gg, bb. Minimalpaare bilden beispielsweise die Wörter siba - siwa ,Sippensieben' (=Zahlwort) und gloga- gloga ,Glocken - gelogen'. Das fehlende Glied zu einer vollständigen Reihenentwicklung ist die Spirantisierung von germ. P. Diese ist heute nur in einem einzigen Aufnahmeort des SSA nachzuweisen, und zwar in Loffenau (südöstlich von Rastatt; vgl. Karten 4 und 5). In dieser Mundart wird germ. Ρ als stimmhafter interdentaler Reibelaut gesprochen (wie in englisch weather, brother)2. Minimalpaare bilden folgende Wortpaare: v$dan-v$den , Väter - Feder'; boda-boda geboten - Boden'; leida-lfida »läuten - leiden' 3 . Die Reibelautreihe, die sich aus den beiden germ. Lenisverschlußlauten b und g sowie aus germ. Ρ entwickelt hat, ist damit heute nur in Loffenau vollständig erhalten; sie setzt sich zusammen aus w (< germ, b), d ( < germ. Ρ) und g (< germ. g). Die Schwächung von germ. Ρ ist in den nieder- und mitteldeutschen Mundarten verbreitet (vgl. König 1985, 152; Schirmunski 1962, 317f; Lessiak 1933, 120 ff.). Am häufigsten trat der Lautwandel von germ. Ρ zu r, daneben auch zu d, seltener zu l ein. Im Unterschied zu der Loffenauer Mundart hat in diesen Gebieten die Spirantisierung aber auch germ, d erfaßt, beispielsweise in beten, Wetter, reiten (vgl. DSA Kt. 12; Pfälz.Wb. I, 1271, Kt. 173; Post 1990, 118, Abb. 16). Das Alter der Spirantisierungen von germ, d und germ. Ρ ist umstritten. Ernst Christmann ging davon aus, daß urgerm. Ρ stimmhaft geworden war und bis zur heutigen Zeit unverändert als d erhalten blieb, also nie Verschlußlaut war. Mit diesem Laut, so seine These, fiel urgerm. d zusammen, indem es 2
Dieser Reibelaut wird mit Sicherheit in wenigen Jahren aus der Mundart verschwunden sein. Von vier der älteren Gewährspersonen verwendeten nur noch zwei interdentales d, die beiden anderen dentales d. Die mittlere und jüngere Generation spricht (und hört) ausschließlich d. 3 Diese Ergebnisse wurden von Arno Ruoff und Thomas Jauch bestätigt, die für das Projekt „Die fränkisch-alemannische Sprachgrenze" (vgl. Ruoff 1992) in Loffenau Erhebungen bei einer derselben Gewährspersonen durchführten wie ich im Jahre 1981.
Lenisierungen
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sich ebenfalls zum stimmhaften Reibelaut d entwickelte; hieraus entstanden die Varianten r und l (vgl. Christmann 1924/25, 218). Nach Friedrich Maurers Ansicht hat sich interdentales d aus einem Verschlußlaut entwickelt, mit dem germ, d zusammengefallen war 4 . Beide Sprachwissenschaftler gingen bei der Datierung der Schwächung von germ. Ρ und d von einem Zusammenfall der beiden Phoneme und einer anschließenden gemeinsamen Weiterentwicklung aus; die Ansichten differieren lediglich darüber, wann der Zusammenfall stattgefunden hat. Diesen verlegt erst Julius Krämer in jüngere Zeit. Er glaubt anhand von heute gesprochenen Mundarten in pfälzischen Kolonien Galiziens nachweisen zu können, daß der Lautwandel erst im 18. Jahrhundert vollzogen wurde (vgl. Pfalz. Wb. I, 1271 ,Bruder'; ausführlich in Krämer 1966, 37, zitiert nach Waibel 1975, 30, Anm. 53). Die Tatsache, daß in Loffenau die Entsprechungen für germ. Ρ und d heute noch unterschiedlich gesprochen werden, spricht ebenfalls für einen jüngeren Zusammenfall der Lautungen im angrenzenden Rheinfränkischen. Loffenau liegt im Grenzbereich des fränkischen, oberrhein-alemannischen und schwäbischen Mundartraumes. Wie aus der Mundartforschung bekannt ist, können an einer Dialektgrenze ältere Lautstände bewahrt sein als in den angrenzenden Mundarten (sog. Grenzversteifungen; Terminus nach Eberhard Kranzmayer 1956, §24 und § 27b). Eine Parallele zu den Verhältnissen in Loffenau findet sich im Nordrheinfränkischen im Grenzgebiet zum Thüringischen, wo germ. Ρ und d ebenfalls heute noch geschieden gesprochen werden als r und d (vgl. Lessiak 1933, 121 f.). Ein Hinweis darauf, daß der Lautwandel von d > d in der Gegend um Loffenau in größerer Verbreitung gegolten haben muß, findet sich in einem Beitrag von Paul Waibel über die Mundart von Muggensturm (Waibel 1985, 440 ff.). Waibel weist für diesen Ort, der ca. 13 km nördlich von Loffenau gelegen ist, einen Lautwandel von d > l nach, der zur Zeit seiner Erhebungen aber nur noch bei alten Gewährspersonen gebräuchlich oder in Erinnerung war. Die Wörter Faden, Nadel und der Flurname Staude wurden als Fale, Nool, Stuule gesprochen (Schreibung nach Waibel). Ebenso war die Aussprache Bälle für ,Besen' noch bekannt, eine Parallele zu dem Beleg böle ,böse', der im Wenkersatz Die bösen Gänse beißen dich tot im Jahre 1887 in Muggensturm von dem dortigen Lehrer notiert worden war, sowie zu der Aussprache mülle ,müssen', die auf dem von den Freiburger Professoren Friedrich Kluge, Fridrich Pfaff und Elard Hugo Meyer im Jahre 1894 verschickten volkskundlichen Fragebogen für Mug4
Vgl. Maurer 1925/26, 316: „Meine Annahme, daß nicht etwa germ, d geblieben ist, sondern daß wir eine Zwischenstufe zwischen d und r (/) vor uns haben, wird vollends gesichert durch die Tatsache, daß in der gleichen Verteilung wie germ. Ρ auch zwischenvokalisches germ, d als (/und r erscheint. Wie bruder als br-urer und bruder erscheint, so reiten als retre und reide, zittern als zerrere und zedere. Germanisch^, das zu d geworden, und germ, d, das pfalzisch in der Stellung zwischen Vokalen wohl nie zu einer wirklichen Tenuis geworden war, gehen gemeinsam den Weg über d zu r (/)."
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Renate
Schrambke
gensturm angegeben worden war. Ein Lautwandel von d und s > l wäre über die Zwischenstufen s > d, d > l denkbar. Die Spirantisierung von germ, g in den mitteldeutschen Dialekten hat nach Ausweis historischer Quellen um 1200 stattgefunden (vgl. Kranzmayer 1956, 84). Die Weiterentwicklung der Spirantisierung zur Vokalisierung von g > i bzw. u (und daraus wieder w) ist im mittleren Elsaß weiträumig eingetreten, rechtsrheinisch jedoch nur in einem kleinen Gebiet von Kehl über Bühl bis in den R a u m nordwestlich von Baden-Baden (vgl. Beyer 1964 Bd. 2, Ktn. 36-39; Schrambke 1988, Ktn. 2, 4-6). Aus der Vokalqualität in Wortpaaren wie gnäwa - gnq.wa ,Kragen - Graben', b/ows - Iowa ,Bogen - loben', die in Lichtenau (am Rhein, westlich von Bühl gelegen) notiert wurden, kann geschlossen werden, daß die Vokalisierung/Spirantisierung von g > u, w älter ist als die Spirantisierung von b > w: Die Palatalisierung erfaßte die Vokale in Kragen und Bogen, während die Spirantisierung von b > w in Graben, loben die Qualität der vorangehenden Vokale nicht mehr beeinflußte (vgl. Schrambke 1983, 271). Ernst Ochs geht davon aus, daß sich der Wandel von b > w im rechtsrheinischen alemannischen Sprachgebiet im 18. Jahrhundert vollzogen hat (vgl. Ochs 1922, 154). Ochs hat jedoch nicht nur das Alter, sondern auch die Verbreitung dieser Lautveränderung im Badischen auf eigenen Kundfahrten festgehalten. Diese ist auf Karte 1, Kartenthema 3 dargestellt; die Fortsetzung der Grenze wurde gezeichnet nach Fischer 1895, Kt. 19; Haag 1946, Karte „Die Schwäbisch-Alemannische Sprachgrenze in Württemberg, Westhälfte", Grenzlinie owa- oba; Bohnenberger 1953, Karte des alemannischen Mundartgebietes, Grenzlinie 18. Um diese, auf älteren Quellen beruhende Grenzlinie mit den heutigen Lautverhältnissen vergleichen zu können, wurde aus dem Material des SSA zwischenvokalisches germ, b in den Belegwörtern Sehnabel/Kübel/geblieben/Hobel ausgewertet und auf Karte 1, Kartenthema 2 dargestellt. Kartenthema 4 ist die k-/x-Grenzlinie in kalt. Der nahezu identische Verlauf der Spirantisierung von b > w und der Verschiebung von k χ war bereits Ernst Ochs (1922, 153) aufgefallen. Beide Grenzen sind bis heute in nahezu unveränderter Form erhalten. Von der Grenzlinie b > w ,springt' die Spirantisierung über ein größeres Gebiet hinweg: Ansätze zu einer Erweichung finden sich erst wieder im südlichen Markgräflerland. Wie aus Karte 1, Kartenthema 2 ersichtlich, wird der ursprüngliche Lautwandel von b > w rückgängig gemacht durch Ersatz von w durch b nach standardsprachlichem Vorbild. Vorreiter für diesen Lautersatz sind Städte wie OfFenburg, Freiburg, Zell a.H. und Breisach. Auch kleinere Orte mit hohem Fremdenverkehr (ζ. B. im Kinzig-, Elz- und Dreisamtal) zeigen deutlich diese Tendenz. Im fränkisch-alemannischen Ubergangsgebiet haben Erhebungen, die unter der Leitung von Arno RuofF durchgeführt wurden, zu den gleichen Ergebnissen geführt (vgl. RuofF 1992, B d . l , 77f. und Bd. 2, Ktn. 62-65).
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Die Entwicklung von germ, b auf der Baar (Raum Donaueschingen) wird von Ewald Hall einerseits als Mischung zwischen Lautwandel von b > w unter dem Einfluß von Villingen, das stabile 10-Lautung aufweist, zum anderen als Lautersatz von w durch b interpretiert (vgl. Hall 1991, 56 f. und Kt. 23). Die Verhältnisse sind insbesondere im Grenzgebiet dieser Lautveränderung nicht mehr stabil. Die neueren Rückbildungen zum Verschlußlaut sind meist individueller Natur und nicht auf bestimmte Wörter fixiert; sie wurden häufig bei direkter Nachfrage und akzentuierter Sprechweise notiert. Andererseits können auch mitten im Gebiet mit δ-Lautung einzelne intervokalische Verschlußlautlockerungen zu w vorkommen. Die beiden von Hall beschriebenen unterschiedlichen Arten von Lautveränderungen auf der Baar sind auf Karte 1 deutlich zu erkennen: Die in einem geschlossenen Gebiet am Heuberg (ungefähr zwischen Rottweil, Sigmaringen und Tuttlingen) notierten Zwischenwerte der Lenisierung deuten auf einen Lautwandel von b > w, die 6-Lautungen westlich von Donaueschingen auf Lautersatz von w durch b hin. Besonders auffällig ist die Spirantisierung von b > w im bodensee-alemannischen Raum. In der Literatur findet sich bisher kein Hinweis auf diesen Lautwandel; er ist demnach als rezente Entwicklung einzustufen, die wohl auf fränkischen Einfluß zurückgeht 5 . Gefördert werden dürfte dieser Lautwandel durch die Artikulationserleichterung, die durch die Spirantisierung des Verschlußlautes erreicht wird. Karte 2 stellt die Spirantisierung von b > w in den Belegwörtern Schnabel/Kübel/geblieben/Hobel sowie die weiteste Verbreitung der alten Vokalkürzen in diesen Zweisilbern dar (die Quantitätsverhältnisse in den einzelnen Wörtern weichen nur unwesentlich voneinander ab). Der Vergleich der beiden Entwicklungen zeigt, daß germ, b vor allem im Gebiet der erhaltenen Zweisilberkürzen spirantisiert wird; ein Zusammenhang der Spirantisierung (bzw. der damit verbundenen Artikulationserleichterung) mit den erhaltenen Zweisilberkürzen wäre somit möglich 6 . Die Verhältnisse im Oberrheintal unterstützen 5
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Erich Seidelmann verweist auf Neuerungen in der Lexik der Stadtmundart von Konstanz, die „man nicht anders als fränkischer bzw. oberrheinischer Herkunft bezeichnen kann." Eine mögliche Erklärung sieht Seidelmann „im Zuzug nordbadischer Verwaltungsbeamter seit der Zugehörigkeit zum Großherzogtum" (1983, 190). Zu verweisen ist auch auf die Ergebnisse von Rudolf Hotzenköcherle, die „das Vorprellen oberrheinischer (elsässischbadischer) Stöße über das nordwestschweizerisch-jurassische Glacis hinaus nach Süden und Osten, unter Aufsprengung östlicher Flächen im Bereich von Aare und Limmat (ZH!) und Weiterströmen im Zürichsee-Walensee-Seeztal-Kanal Richtung Glarus und sogar Graubünden belegen!" (Hotzenköcherle 1961, 221 ff.). Ernst Ochs hatte die Möglichkeit, daß ein Zusammenhang besteht zwischen der Spirantisierung von b > w und den Vokalquantitäten in Zweisilbern zwar in Betracht gezogen, kam aber zu folgendem Ergebnis: „Ich habe mich rasch überzeugt, daß die b:w-frage gegenwärtig nicht zusammenhängt mit der zweiheit kurzer:langer vocal, auch nicht mit der vocaldehnung in offener silbe..." (vgl. Ochs 1922,148f.). In Anbetracht der neueren Entwicklungen führt ein Vergleich der Spirantisierung von b > w im schwäbischen/bodensee-
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diese These, denn im Verbreitungsgebiet der Zweisilberkürzen ist der Wandel von b > w weitgehend stabil geblieben; Lautersatz von w durch b erfolgt feist ausschließlich im Gebiet der Zweisilberdehnungen 7 . Wenn man davon ausgeht, daß der Lautwandel von b > w durch die vorausgehende Vokalquantität gefördert wurde, müßten die ursprünglichen Zweisilberkürzen im nördlichen Oberrhein-Alemannischen nach der Spirantisierung von b < w wieder durch gedehnte Vokale ersetzt worden sein, oder anders gesagt: die Grenze zwischen den erhaltenen und gedehnten Vokalen in Zweisilbern und die Spirantisierungsgrenze von b > w müßten früher parallel verlaufen sein. Tatsächlich gibt es relikthafte Zweisilberkürzen im Breisgau, die diese Vermutung bestätigen, so ζ. B. die Grenze zwischen hy,nig und hy.nig ,Honig' , die heute noch mit der Grenze der Spirantisierung von b > w weitgehend übereinstimmt (vgl. Klausmann 1985, Bd. 2, Kt. 30). 3. Die binnendeutsche Konsonantenschwächung Die binnendeutsche Konsonantenschwächung erfaßte die germ. Fortiskonsonanten (einschließlich der Geminaten) im An-, I n - und Auslaut. Meine Ausführungen beschränken sich auf die Verschluß- und Reibelautschwächung in zwischenvokalischer Stellung. Auf Karte 3 sind die phonetischen Entsprechungen für germ, d im Beispielwort geboten abgebildet. Die lautliche Varianz reicht von Geminata-Aussprache im Süden über Fortis- und Halbfortis- bis zur Lenisaussprache. Um die Entsprechungen für germ, d im phonologischen System der Ortsmundart bestimmen zu können, wurden diese in Opposition gesetzt zu den Entsprechungen für germ. Ρ (Karte 4). Dadurch, daß unsystemhafte Fortisierungen und Lenisierungen bei einer phonologischen Bestimmung der phonetischen Lautungen entfallen, ergibt sich im Vergleich zu Karte 3 eine präzisere Grenzlinie. Diese Fortis-Lenis-Grenze gilt jedoch nur für die Opposition von germ. d und Ρ nach Kurzvokal. Wie sich bei den Auswertungen des SSA-Materials gezeigt hat, sind die Fortis-Lenis-Verhältnisse nicht nur abhängig von der Stellung des Konsonanten innerhalb des Wortes (ob er im An-, I n - oder Auslaut vorkommt), sondern auch von der lautlichen Umgebung (ob der Konsonant nach Liquid, Nasal oder in zwischenvokalischer Stellung vorkommt), weiterhin von der Artikulationsart (ob es sich um einen Verschlußlaut oder einen Reibelaut handelt) und außerdem von der Quantität des vorangehenden Vokals (ob
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alemannischen'Gebiet mit den Zweisilberkürzen in offener Silbe jedoch zu aufschluSreichen Ergebnissen. Daß der Lautwandel von b > w bzw. der Lautersatz von w durch 6 an die Vokalquantitäten gebunden ist, konnte ich bei Erhebungen in der Ortenau bei Sprechern feststellen, die nicht mehr mundartfest waren und sowohl Zweisilberkürzen als auch -dehnungen verwendeten. Der Kurzvokal ist hierbei in der Regel gepaart mit der Spirantisierung von b, die Langvokalaussprache mit dem Verschlußlaut; ζ. B. wird Hobel als Schimpfwort A owl gesprochen, als Bezeichnung des Schreinerhobels dagegen höhl.
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es sich u m einen Kurzvokal, Langvokal oder Diphthong handelt). Im östlichen Teil des UG weist der Lenisierungsprozeß folgende Staffelung auf: - Die Konsonantenschwächung erfaßt zuerst die Reibelaute. Hierbei wird im Grenzgebiet in einigen Orten die Opposition aus germ, ρ und f vor der Opposition aus germ, t und s aufgehoben. Die Opposition für germ, ρ und f ist wiederum nach Langvokal und Diphthong anfälliger für die Lenisierung als nach Kurzvokal (vgl. hierzu Karten 6 bis 12); - Am weiträumigsten sind die Fortiskonsonanten für die germ, d nach Langvokal und Diphthong erhalten, gefolgt von der Stellung nach Kurz vokal (vgl. Karten 3 bis 5). Im folgenden werden mehrere Erklärungsansätze für die binnendeutschen Konsonantenschwächung vorgestellt: Die Erkenntnis, daß die binnendeutsche Konsonantenschwächung in Zusammenhang gebracht werden kann mit der Zweisilberdehnung, ist nicht neu (vgl. Maurer 1942, 202 und Kt. 31). Die Parallelität der beiden Phänomene muß zwangsweise auch jedem Explorator auffallen, der im Ubergangsgebiet der Fortis- zur Leniskonsonanz Erhebungen durchführt: Will er hier die Intensitätsverhältnisse anhand von Minimalpaaren verschiedener etymologischer Herkunft überprüfen, lassen ihn die bewährten Minimalpaare aufgrund der Zweisilberdehnungen im Stich; beispielsweise wird ha^a-hasa f a s s e n - Hasen' zu hals/ hasa-häsa, tutja - wis 3 ,wissen - Wiesen' zu wtja / wis 3 - wis 3, ofa-ova ,offen-Ofen' zu ofa/ova- öva, lata-lada ,Latten - laden' zu lata / lads - läda, bota-boda geboten - Boden' zu bota/boda-böda. Wortpaare, deren Vokalquantitäten auch im Offensilbendehnungsgebiet übereinstimmen, lassen sich lediglich für Belegwörter finden, deren Vokale auf mhd. Langvokale und Diphthonge zurückgehen. Beispiele sind: Uta - lida ,läuten - leiden' (Donaueschinger Raum) bzw. Ißita-lßida (Schwäbisches Sprachgebiet), wi^e-wisa ,weiß(e) Haare - weisen' (von mhd. wisen (eine Wöchnerin besuchen)) bzw. wptfewpisa, hätfar-häisar (oberrhein-alemannisch) ,heißer - heiser' bzw. hya^arhqasar (bodensee-alemannisch). Kleinräumig lassen sich wä^a-wäsa wachs e n - W a s e n ' (Grasboden) und heka-hega Rängen - hegen' gegenüberstellen. Wie bereits erwähnt, wird die Entsprechung für germ, ρ nach Langvokalen und Diphthongen zuerst von der Lenisierung erfaßt. Auf Karte 13 sind die phonologischen Entsprechungen für germ, ρ sowie die Grenzlinie für die Zweisilberdehnung abgebildet. Wie dieser Vergleich zeigt, stimmt hier das Konsonantenschwächungsgebiet weitgehend mit dem Zweisilberdehnungsgebiet überein. Wir können somit festhalten: Wo alte Zweisilberkürzen erhalten sind, sind auch die Fortis-Lenis-Oppositionen noch vollständig erhalten; wo alte Kürzen gedehnt werden, beginnt auch die stufenweise Lenisierung der Fortiskonsonanz. Mit Sicherheit läßt sich sagen, daß es sich bei der Konsonantenschwächung um einen Lautwandel handelt und nicht u m Lautersatz (zur Diskussion von Lautwandel vs. Lautersatz vgl. Seidelmann 1987, Seidelmann 1992 und Scheu-
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ringer 1992). Die Artikulationsänderung erfolgt unbewußt; will der Mundartsprecher bewußt eine höhere Sprachform verwenden, so ersetzt er die unbehauchten Verschlußlaute durch behauchte. Die Artikulationsänderung erfolgt weiterhin über chronologische und graduelle Zwischenstufen (vgl. Sievers 1901, §727). Diese sind auf den Einzelwortkarten 3: geboten, 6: wissen, 9: gesoffen und 11: schlafen als breiter Gürtel erkennbar. Aus den Karten 3 bis 12 geht hervor, daß die Lenisierung in Reihenschritten erfolgt (vgl. Pfalz 1918, 22f.; Wiesinger 1970, 14ff.). Bis zur endgültigen Durchführung des Lautwandels, d. h. bis zur durchgängigen Lenisierung in der Ortsmundart, bleibt, wie Aufnahmen im Grenzgebiet der Konsonantenschwächung gezeigt haben, die Konsonantenstärke noch unstabil: Fortis- und Lenisaussprache wechseln bei derselben Gewährsperson. (Diese Orte sind auf den Karten durch ein schraffiertes Quadrat gekennzeichnet). Es kann auch in demselben Ort, je nach Gewährsperson, entweder durchgängige Fortis- oder Lenisaussprache vorkommen. (Auf den Karten sind diese Orte mit dem Zusatzzeichen ν versehen). (1) Erklärung durch extern bedingten Lautwandel Die Zweisilberdehnung wird in der einschlägigen Literatur als Lautwandel erklärt, der durch die Nachahmung der gedehnten Sprachformen, die mit höherem sozialen Prestige verbunden werden, ausgelöst wurde (vgl. Jutz 1925, 2; Hotzenköcherle 1961, 222; Gabriel 1992, 102 ff.; Seidelmann 1992, 121). Diese Mehrwertgeltung besitzt im bodensee-alemannischen und oberschwäbischen Sprachraum das unter dem Einfluß der Stuttgarter Stadtmundart entstandene sog. Honoratiorenschwäbische. Die Tatsache, daß die Konsonantenschwächung dieselbe Verbreitung hat wie die Zweisilberdehnung, legt es nahe, die Konsonantenschwächung als einen Lautwandel zu deuten, der durch denselben äußeren Anstoß ausgelöst wurde wie die Zweisilberdehnung. Unterstützung findet diese Annahme in der Tatsache, daß sich in den Städten Konstanz und Meersburg, die als Vorreiter für schwäbische Einflüsse gelten können, Lenisierungstendenzen nachweisen lassen (vgl. Seidelmann 1983, 166 f.), denn auch die Zweisilberdehnung tritt zuerst in den Städten, beispielsweise in Friedrichshafen und Ravensburg (vgl. Karte 13), auf. (2) Erklärung durch intern bedingten Lautwandel Die weitgehend identische Verbreitung der Zweisilberdehnung und der binnendeutschen Konsonantenschwächung kann aber auch aus einem ursächlichen Zusammenhang hervorgegangen sein. Im folgenden werde ich in zwei unterschiedlichen Ansätzen versuchen, die Konsonantenschwächung als intern bedingten Lautwandel zu erklären, der durch die Zweisilberdehnung, d . h . durch die veränderten quantitativen Verhältnisse der Vokale in offener Silbe, verursacht wurde.
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(a) Phonetischer Erklärungsansatz Zunächst werde ich die Lenisierung der Fortiskonsonanten als Folge der Veränderung der Silbenstruktur darstellen, die die Zweisilberdehnung verursacht hatte. Ich folge damit Eugen Gabriels Ansatz in seiner Arbeit über „Die Entwicklung der althochdeutschen Vokalquantitäten in den oberdeutschen Mundarten" (Gabriel 1969). Im Silbentyp wisa ,Wiesen', lada ,laden' sind sowohl Vokal als auch Konsonant kurz oder, nach Sievers 1901, §694, nicht dehnbar; die Silbengrenze liegt vor dem Konsonanten. Im Silbentyp lutja ,wissen', lata ,Latten' dagegen ist der Konsonant lang bzw. dehnbar (vgl. Ketterer 1942, 79f.). Die Silbengrenze liegt im Konsonanten, der somit Anteil an der Silbenquantität hat. Durch die Zweisilberdehnung wird die Silbenstruktur von wisa ,Wiesen' und lada ,laden' (Kurzvokal + Leniskonsonant) verändert: Der Vokal wird nun dehnbar, die Gesamtdauer der Silbe vergrößert. Damit ist die Quantität der Silbe in urafs ,wissen', lata ,Latten' abhängig von der Dehnbarkeit des Konsonanten, in wisa ,Wiesen', läda Jaden' von der des Vokals (vgl. Heusler 1888, 30). Die Neuordnung der Vokalquantitäten folgt dem rhythmischen Prinzip, bei dem die Silbendauer möglichst gleich gehalten werden soll. Dem rhythmischen Prinzip widersprechend kam es, weil die Ausspracheerleichterung das stärkere Gewicht hat, zur Lenisierung der Fortiskonsonanz und zur Verlegung der Silbengrenze vor den Konsonanten. Dadurch entstand genau derselbe Silbentyp mit derselben Silbenstruktur (d.h. mit denselben Quantitätsverhältnissen), den es vor der Zweisilberdehnung gegeben hatte, nur von anderer etymologischer Herkunft, wie die folgende Abbildung zeigt:
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lata ,Latten' diachrone Entwicklung
wtjp ,wissen' diachrone Entwicklung Wl
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of a ,offen' diachrone Entwicklung
Diese Entwicklung macht deutlich, daß das Gefühl für Kürze + Lenis als Silbenstruktur noch vorhanden war; hieraus erklären sich auch die Kürzungen von etymologischen Langvokalen vor Leniskonsonanz wie in Tib a ,reiben', sida ,Seide', hisar ,Häuser' auf der Baar, in w in Baden. In: PBB 46, 147-156. Paul (1982): Mittelhochdeutsche Grammatik. Bearb. von Hugo Moser, Ingeborg Schröbler, Siegfried Grosse. 22. Auflage. Tübingen. Pfalz, Anton (1918): Reihenschritte im Vokalismus. In: Beiträge zur Kunde der bairisch-österreichischen Mundarten 1. (^Sitzungsberichte der K. Ak. d. W. in Wien, phil.-hist. K. 190/2). Wien, 22-42. Pfälzisches Wörterbuch (1965-68). Begr. von Ernst Christmann, bearb. von Julius Krämer. 2 Bde. Wiesbaden. Post, Rudolf (1990): Pfälzisch. Einführung in eine Sprachlandschaft. Ruoff, Arno u.a. (1992): Die fränkisch-alemannische Sprachgrenze. 2 Tie. (=Idiomatica 17 I/II). Tübingen. Scheuringer, Hermann (1992): Die grammatikalische Erklärung von Sprachvariation. In: Ζ.Phon.Sprachwiss.Kommun.forsch. (ZPSK), Berlin 45/5, 481-494. Schirmunski, Viktor (1962): Deutsche Mundartkunde. Vergleichende Laut- und Formenlehre der deutschen Mundarten. Berlin. Schrambke, Renate (1983): Mhd. j, w, g und der Vokalismus der mittelbadischen Mundarten am Oberrhein. In: Forschungsbericht „Südwestdeutscher Sprachatlas". Hrsg. von Hugo Steger, Volker Schupp, Eugen Gabriel. Marburg, 235295. Schrambke, Renate (1988): Die Ortenau: Ubergangslandschaft zwischen fränkischer und alemannischer Mundart. In: Alemannisches Jahrbuch 1984/86, 95-127. Seidelmann, Erich (1976): Deutsche Hochsprache und regionale Umgangssprache in phonologischer Sicht. In: Festschrift für G. Cordes, 2. Bd. Neumünster, 354388. Seidelmann, Erich (1983): Die Stadt Konstanz und die Sprachlandschaft am Bodensee. In: Forschungsbericht „Südwestdeutscher Sprachatlas". Hrsg. von Hugo Steger, Volker Schupp, Eugen Gabriel. Marburg, 156-234. Seidelmann, Erich (1987): Uber die Arten von Lautveränderungen. In: Probleme der Dialektgeographie. Hrsg. von Eugen Gabriel und Hans Stricker. Bühl/Baden, 200-214.
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,Was der sich alles hat anhören müssen!' Auxiliar-Inkorporation im Ostfränkisch-Thüringischen 1. Die komplizierte deutsche Verbalsyntax: Diskontinuität - Klammerung - Inkorporation 1.1. Bei einer internationalen Tagung 1991 ging es in einem Referat um die berüchtigten Verbklammern des Deutschen (Ronneberger-Sibold 1993). Ein amerikanischer Teilnehmer meinte, daß es solche Konstruktionen j a wohl nur in der Schriftsprache, bei Vorträgen deutscher Professoren gebe; er könne sich nicht vorstellen, daß die Deutschen auch im Alltag nach solchen seltsamen Regeln sprechen. Die Referentin mußte ihn enttäuschen: Man vermeide zwar beim zwanglosen Sprechen allzu lange Satzperioden, und es gebe hier vielerlei Ausklammerungen; die verschiedenen Grundregeln der Verbsyntax mit ihren Klammern und Verb-Endstellungen, je nach Konstruktion, werden allerdings streng beachtet: er fängt ... an, er hat ... angefangen, weil er ... anfängt / angefangen hat - und dies bis tief in die Mundarten hinein. Mir selbst war da eingefallen, daß wir uns in meiner Heimat am Obermain über coburgisch-thüringische Nachbardialekte lustig machten, in denen es eigenartige, noch extremere Klammerkonstruktionen geben soll; bekannt war die Satz-Karikatur: er hot sich foto-loß-graphier ,er hat sich fotographieren lassen'. Wenn wir in mundartlichen Neuerungen die Vorreiter für allgemeine Tendenzen in einer Sprache sehen dürfen, dann können wir für das Deutsche feststellen, daß die Neigung zu verbalen Klammerkonstruktionen offenbar noch lange nicht ihr Ende erreicht hat. Und man muß fragen, ob es für diesen zunächst seltsam erscheinenden Trend nicht doch irgendwelche guten Gründe und Erklärungen gibt. Es kann doch wohl nicht sein, daß wir es hier mit einem singulären Ausbrechen aus den allgemeinen Bahnen morphosyntaktischer Prinzipien oder sprachtypologischer Entwicklungen zu tun haben, daß es hier zu einem irrationalen Irrläufer gekommen ist, so wie das ein englischer Kollege meinte: „There is nothing mysterious about German syntax: the Germans are a crazy people; why shouldn't they have a crazy language?" 1.2. Ich hatte vor einiger Zeit einmal zusammengestellt, inwieweit im Deutschen grammatische Kategorien durch separate morphologische Komponenten
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ausgedrückt werden, die einerseits durch andere Komponenten weit getrennt sein können und die andererseits mit Benachbartem jeweils mehr oder weniger eng verschmolzen sind (Werner 1979, 982 f.). Solche Diskontinuitäten erscheinen auf den verschiedensten Ebenen, im Kleinen wie im Großen: auf der Wortebene (etwa beim PI. in Hüte), in Nominalphrasen (etwa zur KasusMarkierung in der Tage) und im Satz als Verbklammer (etwa beim Passiv wird ... gefragt, oder bei Verben mit trennbaren Präfixen, fängt ... an). Mit diesen vielen zerrissenen (und amalgamierten) Ausdrücken bekommen wir offenbar ein besonderes, durchgehendes Merkmal des Deutschen zu fassen; so hatten wir damals versuchsweise von einem eigenen „diskontinuierenden Sprachtyp" gesprochen, den man neben die traditionellen morphologischen Typen der isolierenden, agglutinierenden und flektierenden Sprachen stellen sollte; andere sprachen lieber von einem „kombinierenden" oder „kooperativen" morphologischen Verfahren (vgl. Ronneberger-Sibold 1993, 297). Man kann auch bei den einzelnen Fällen gut zeigen, wie sich diese Diskontinuitäten jeweils entwickelt haben: durch Umlaute, die von einst nur agglutinierenden Suffixen ausgehen; durch Differenzierung und Reduktion bei ehemaligen Kongruenzen; durch die Entwicklung von neuen Auxiliar-Konstruktionen oder von komplexen Verben u. a. Allein der Befund, daß so gänzlich verschiedene Sprachwandelprozesse in unterschiedlichen Domänen zu synchron ungewöhnlichen, aber parallelen Strukturen geführt haben, läßt den Verdacht aufkommen, daß hier ein - unbewußtes, zunächst rätselhaftes - Interesse an diesem komplizierten Verfahren besteht. Anderenfalls hätten sich diese Fälle j a nicht so akkumuliert; die lautmechanisch oder syntaktisch entstandenen Diskontinuitäten hätten sich, wie in anderen Sprachen, rasch wieder beseitigen lassen. Weis kann es für vernünftige Gründe geben, ein solches morphosyntaktisches Prinzip zu etablieren und offensichtlich stärker als in den Nachbarsprachen - auszubauen? 1.3. Nun kann man allerdings auch die Perspektive ändern und dabei weniger das Zerreißen von Ausdrücken sehen; man kann stattdessen die geteilten Komponenten als „Klammern" betrachten, die den Beginn und das Ende gewisser syntaktischer Phrasen signalisieren: etwa die Nominalphrase vom Determinans bis zum Substantiv (mit Attributen dazwischen), die Verbalphrase vom finiten bis zum infiniten Verbteil (mit Objekten, Angaben dazwischen). Die diskontinuierlichen Komponenten hätten so die Funktion, die syntaktische Struktur und ihre Hierarchien zu signalisieren, Erwartungen zu eröffnen und dann zu erfüllen und abzuschließen, parallel zu Pausen und Intonationsmustern, ähnlich wie unsere orthographischen Satzzeichen. Diese Bewertung der Kongruenz/Diskontinuität als sinnvolles Ordnungs- und Klammerverfahren wurde schon seit langem diskutiert, zusammenfassend von Presch (1977), teilweise von Jaeger (1992) und zuletzt intensiv von Ronneberger-Sibold (1991, 1993 und demn.).
A uxiliar-Inkorporation
im Ost
fränkisch-Thüringischen
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Wenn man nur die Verbalkonstruktionen des Dt. ins Auge faßt, die unterschiedlich diskontinuierlichen im Aussage- und Fragesatz (er hat ... gefragt, hat er ... gefragt?) und die kontinuierlichen im Nebensatz (weil er ... gefragt hat), so könnte man schlicht davon sprechen, daß die verschiedenen Stellungsmuster zur Differenzierung der Satzarten nützlich sind. Dies erklärt aber noch nicht, warum sich gerade im Hauptsatz die Klammer durchgesetzt hat. Und es hilft auch wenig, die kompakte Nebensatz-Stellung als die im Dt. „zugrundeliegende" Normalfolge zu deklarieren. Außerdem erklärt dies nicht die parallelen Klammern in den anderen Domänen, wo sich keine solche Nutzung zeigen läßt. Anstelle von Diskontinuitäten und Klammern kann m a n auch von Einrahmungen (engl, framing) sprechen und damit die Perspektive noch ein Stück weiter verschieben. Es k ä m e dann nicht nur auf A n f a n g s - und Endsignale an, sondern mehr auf die dominierende Umschließung, auf die hierarchische Unterordnung des Umschlossenen. So ist es sicher kein Zufall, daß in unseren Beispielen das Verbale dominiert und die abhängigen O b j e k t e (und evtl. Angaben) von ihm eingeschlossen werden, daß die Flexive des Determinans u n d des Substantivs einen Rahmen u m das fakultative A t t r i b u t bilden. 1.4. In diesem Sinne könnten wir ganz allgemein auch von der Inkorporation gewisser Elemente sprechen - zunächst ohne im Einzelnen danach zu fragen, was m a n in der allgemeinen Sprachtypologie unter Inkorporation genau versteht, welche Arten von Inkorporation in den typisch „inkorporierenden Sprachen" vorkommen. Falls wir in unseren diskontinuierlichen, klammernden Ausdrücken auch einen Trend, gewisse Vorstufen zu einem morphosyntaktischen Prinzip erkennen, das in anderen Sprachen vorherrschend ist, dann verliert sich auch der Verdacht, daß das Deutsche mit solchen Entwicklungen auf rätselhafte Weise aus den Bahnen üblicher, sinnvoller morphologischer Entwicklungen gelaufen sein könnte. Im Gegenteil, wir sehen dann erst das volle Gravitationsfeld der sprachtypologischen Möglichkeiten u n d verstehen, daß das Deutsche offenbar stärker als seine Nachbarsprachen in einen Sog der Inkorporation geraten ist. Es war bisher üblich, bei unseren Sprachen immer nur Verschiebungen und Mischungen zwischen den isolierenden, agglutinierenden und flektierenden Prinzipien zu sehen, allenfalls mit dem weiteren Sonderfall eines diskontinuierenden/kombinierenden Verfahrens, wie wir es vor allem in unseren periphrastischen Verbformen haben. Das inkorporierende Prinzip wurde in den Typologien zwar oft der Vollständigkeit wegen m i t g e n a n n t , aber als ein P h ä n o m e n sehr fremder, exotischer 1 Sprachen (zu dem sich bei uns allenfalls Einzelfälle wie radfahren finden lassen), von dem wir im G r u n d e sehr wenig wußten: etwa zu der Frage, in welchen verschiedenen Gestalten u n d Mischungen Inkorporation auftreten kann, auf welchen Entwicklungswegen sie entsteht, welche Übergänge, V o r - und Zwischenstufen es gibt. - Wir sind uns allerdings dabei im Klaren, daß jedes Verfahren und damit jedes Entwicklungsstadium syn-
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Werner
chron seine Funktionen (jeweils mit Vor- und Nachteilen) erfüllen kann, daß der Sprachwandel jeweils in unterschiedliche Richtungen laufen kann, daß es auch in der Morphologie kein endgültiges Ziel gibt. Und sicher dürfen wir mit Verschiebungen und Mischungen zwischen allen Verfahren rechnen (vgl. Werner 1987). Es könnte also nützlich sein, auch bei unseren Sprachentwicklungen den Pol der Inkorporation mit in den Blick zu nehmen und gegebenenfalls - etwa bei Extremfällen wie wir sie in gewissen Mundarten vorfinden - mit Veränderungen zu rechnen, die das Stadium der Inkorporation erreicht haben. Solche Überlegungen und Beispiele hatte ich schon Frau Ronneberger-Sibold im Zusammenhang mit ihren Klammer-Untersuchungen vorgetragen; und in ihren jüngsten Beiträgen (1993, demn.) wird zunehmend nach dieser möglichen Verbindung zur Inkorporation gesucht. Da unser spezieller Fall aber dort nur am Rande gestreift wird (1993, 312, Fußnote 22), können wir ihn hier nochmals zentral aufgreifen. 1.5. Unser spezielles ostfränk. Thema ergab sich bei der allgemeinen Beschäftigung mit der Morphologie, bei der Leitfrage, wieweit morphologische Komplikationen, Mischungen und (scheinbare) Irregularitäten doch einen höheren - wohl sprachökonomischen - Sinn machen; wieweit wir das System morphologischer Positionen und morphologischen Wandels ausbauen und differenzieren müssen, um unsere eigene Sprache, ihre Zustände und Veränderungen, besser zu verstehen. Einen Zugang zu den zugrundeliegenden Prinzipien bieten die unterschiedlichen Sprachvarianten, die wir entweder durch einen Sprachvergleich nach außen, bis hin zu den ,exotischen' Sprachen, gewinnen können; oder durch das Aufspüren der regionalen u. a. Varianten innerhalb einer Sprache. Dabei kann es dann überraschend sein, wie man innerhalb der eigenen Sprache auf Exotisches' stößt, wie sich hier wie da die gleichen, oft auch extreme Entwicklungen aufzeigen lassen. Mit der Rückkehr zu einer ostfränk. Mundart wird die Erinnerung an alte Erlanger Zeiten wach, als wir, eine Vielzahl von Zulassungsarbeitern, Doktoranden und vor allem unser Jubilar, der damals alles zusammenschauende Habilitand Hugo Steger (vgl. 1968), im Umkreis des „Ostfränkischen Wörterbuchs" am heimischen Sprachraum arbeiteten - vor allem von Ernst Schwarz angeregt: einerseits im ,Labor' mit Tuschfedern über den Karten-Leuchttisch gebeugt, andererseits in Debatten über die ,neue Linguistik' verstrickt - bis hin zum regelmäßigen Mittagstisch, wo nicht alle Teilnehmer beglückt waren, daß sie ihr Geröstl oder Knechla zusammen mit Phonemen und Strukturalismus essen sollten. Wir wußten damals, daß das Ostfränkische über Ober- und Unterfranken hinaus unterschiedlich tief nach Thüringen hineinreichte, mit faszinierenden Modifikationen und Ubergängen, ohne uns allerdings dort selbst umhören zu
Auxiliar-Inkorporation
im
Ostfränkisch-Thüringischen
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können. Inzwischen haben sich die Grenzen geöffnet und aufgelöst, und es war ein Erlebnis, die Nachbarn aus Sonneberg - eine Kleinstadt am Thüringer Wald, dicht an der Grenze zum Coburgischen - wieder selbst sprechen zu hören mit ihrer Mischung aus (für mich vom Obermain) ganz Heimischem und sehr Fremdartigem. Das· Heft von Karl-Heinz Großmann (1979), der aus Jagdshof bei Sonneberg stammt, mit seinen sprachlich wie textlich wohl recht authentischen Mundartgeschichten bot die Gelegenheit, Details näher zu studieren. Wir werden uns im folgenden vor allem auf Belege aus diesem Heft (jeweils mit bloßer Seitenzahl) beziehen, die in einer an die dt. Orthographie angepaßten Schreibung gehalten sind; die genauen Lautungen und Lautentwicklungen sind in unserem morphosyntaktischen Zusammenhang nicht so wichtig. Der Dialekt in und um Sonneberg ist zudem seit August Schleicher (1858) relativ gut erforscht, u. a. mit einer der wenigen syntax-geographischen Monographien (Sperschneider 1959), die auch zu unserer speziellen Problemstellung einige Auskünfte gibt, das Klammerproblem bei Präfixverben aber merkwürdigerweise nicht als Ganzes erfaßt. 2. Ein Auxiliar wird von einem komplexen Verb eingeschlossen: Präfix + Modalvb + Vb Die besondere Inkorporation, um die es hier geht, läßt sich zunächst an einem einfachen Beispiel zeigen, das dem folgenden Satz entnommen ist: Wenn Feringa woern, ham mir Kinner salber eimüßkeäf (33) ,Wenn Ferien waren, haben wir Kinder selbst einkaufen müssen': \ham mir] eimüßkeäf [haben wir] einkaufen müssen segmentiert: ei-müß-keäf wörtlich: ein-müss(en)-kauf(en) Der für uns wichtige Unterschied zwischen dem Sonneberger Dialekt (den wir künftig mit ,Sonnebg.' abkürzen) und der deutschen Standardsprache (die wir verkürzt als ,Dt.' bezeichnen) ist der, daß auch in dieser Position das Präfix vom Vb getrennt erscheint und das Aux, ein Modalvb, zwischen Präfix und Vb zu stehen kommt; daß also das Aux - zudem (scheinbar) ohne Flexion - vom Verblexem als Ganzem umschlossen, „inkorporiert" wird. Es ist bemerkenswert, daß auch Großmann (1979) diesen gesamten Komplex als eine Wortform interpretiert und orthographisch zusammenschreibt. Für diese morphosyntaktische Konstruktion gibt es mehrere Voraussetzungen und Bedingungen, denen wir im Einzelnen nachgehen und nach deren möglichem Zusammenhang wir fragen können. 2.1. Trennbare Präfixverben und syntaktische Stellungsregeln (1) Wir haben im Dt. abgeleitete Vb, deren Präfix in gewissen Syntagmen mit der Verbwurzel direkt verbunden ist. In anderen Syntagmen ist es von der Wurzel getrennt. Und im elementaren Hauptsatz erscheint dieses ,Präfix' sogar
Otmar Werner
348
erst nach der Verbwurzel, mit anderen fakultativen Syntagmen dazwischen. Dies zeigt die folgende Ubersicht mit zunehmender syntaktischer Komplexität von (1)—(4), und aufgeteilt nach H a u p t - und Nebensatz als (a)-(b): (la) (2a) (3a) (4a)
er er er er
kauft ... ein hat ... eingekauft muß ... einkaufen hat ... einkaufen müssen
(lb) (2b) (3b) (4b)
weil er ... einkauft weil er ... eingekauft weil er ... einkaufen (s.u. 3.)
hat muß
Sprachhistorisch sind diese komplexen Verhältnisse als Ubergang aus der Syntax in die Wortbildung zu verstehen: Das trennbare Präfix hat im prototypischen Fall seinen Ursprung in einstigen Adv und erscheint, den Adv-Regeln entsprechend, nahe beim Vb oder entfernt, v o r - oder nachgestellt. Man vgl. das obige einkaufen mit dem adverbialen Syntagma in die Stadt gehen und mit dem Präfixvb fortgehen, dessen adverbialer Ursprung noch deutlich ist: (la) er geht . ..in die Stadt/fort (2a) er ist ...in die Stadt/fort gegangen
(lb) weil er.. .in die Stadt/fort geht (2b) weil er ... in die Stadt/fort gegangen ist usw.
Insofern bewahren die getrennten Repräsentationen eine alte syntaktische Struktur; die Neuerung besteht allein in der engeren Verbindung, die zwischen (Adv > ) Präfix und Vb entstanden ist. So ist es, Henzen (1965, 90) entsprechend, diachron gesehen nicht richtig, von „trennbaren Verben" zu sprechen und damit zu unterstellen, daß eine primäre Verbindung erst sekundär zerrissen wurde. Nun haben sich diese Präfixvb aber zweifelsfrei zu neuen lexikalischen Ein? heiten entwickelt, vor allem, indem mehr oder weniger stark neue lexikalische Bedeutungen für den ganzen Komplex Präfix + Vb aufgekommen sind, die sich nicht mehr aus der Bedeutung der Komponenten ableiten lassen, wie dies noch bei fortgehen der Fall ist; man vgl. einkaufen oder annehmen ,vermuten', auftreiben ,beschaffen', usw. So könnte man von Lexikoneinheiten mit einem einheitlichen Inhalt sprechen, deren Ausdruck aber zwischen Wörtern/Derivativen und Syntagmen/Phraseologismen wechselt. Daß es sich nicht mehr um normale Syntagmen handelt, geht auch daraus hervor, daß viele der Präfixe gar nicht (mehr) als Adv akzeptabel wären: fort ist noch ein Adv, ein, an, auf dagegen nicht mehr (Adv wären hinein, daran, hinauf)·, viele, wie an, auf, stimmen dagegen mit Präp. überein. So macht es aus heutiger, synchroner Sicht doch Sinn, von komplexen Vb zu sprechen, die allerdings unter bestimmten Bedingungen in diskontinuierliche Komponenten gespalten werden. Sie können damit Klammern bilden und andere, mehr oder weniger umfangreiche Ausdrücke einschließen. (2) Im Sonnebg. wie im Dt. können dies auf der einen Seite unbegrenzt lange und komplexe Syntagmen sein, so im einfachen Hauptsatz, wenn das Vb in Zweitstellung und das ,Präfix' in Endstellung erscheint:
Auxiliar-Inkorpor&tion
im
Ostfränkisch-Thüringischen
(la) Dös brengt de ne Drosch ei! (38) - Das bringt dir nur Dresche ein!
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Auf der anderen Seite kann zwischen Präfix und Vb ein ge- zu stehen kommen, also nur ein einziges, kurzes und zudem dann obligatorisches Flexiv; hier haben wir es mit einer vollen Grammatisierung zu tun: (2a) Dou ... hot de Leenard die Richtung aagedöätt hard die Richtung angedeutet
(21) - Da ... hat der Leon-
Dieses eingeklammerte -ge- erscheint vor allem in P a r t . P r ä t . Im Sonnebg. gibt es - anders als im Dt. - zudem ge-Infinitive, die nach den Modalvb können und mögen obligatorisch sind (vgl. Sperschneider 1959, 41 f.) und entsprechend auch bei Präfixvb erscheinen: (3a') Su fix kunnt met Günterla goer niä geguck (26) - So fix konnte mein Günterlein gar nicht gucken (3a) Dou kaasta de[sl] Zeug zesammgemansch (26) - Da kannst du das Zeug zusammenmanschen Das Präfix ge- selbst kann als ge-, unter bestimmten phonotaktischen Bedingungen aber auch als bloßes g- erscheinen: dortgstanna (29) - dortgestanden, huechghuem (26) - hochgehoben. Es kann u. U. aber auch im Part.Prät. fehlen, wo es im Dt. stehen muß: huechganga (10) - hochgegangen (vgl. Sperschneider 1959, 44). Einen kräftigeren und für unser T h e m a entscheidenden Unterschied zwischen dem Dt. und dem Sonnebg. haben wir dagegen beim T y p (4a), wenn im Hauptsatz in Zweitstellung ein finites Hilfsverb steht und in Endstellung ein infinites Modalvb und ein Präfixvb im Inf zusammentreffen. Dann haben wir im Dt. die Folge ,Präfixvb + Modalvb', im Sonnebg. dagegen die Klammer ,Präfix + Modalvb + Vb': (4a) su ham sich die Leut oumüßploug (13) - so haben sich die Leute abplagen müssen ... hot na sei Ella die Flausn auswölltreib (86) - . . . hat ihm seine Ella die Flausen austreiben wollen. Die Fraa hot uns dach dan Krüppl gaam un fortloußschlöpp (82) - Die Frau hat uns doch den Krüppel gegeben und fortschleppen lassen Es Festla heiit aakünngegih (9) - Das Festchen hätte angehen (anfangen) können Α Wälla hot mer ja ihm Rümgfaag aufmüchgepaß (43) - Eine Weile hat man ja auf ihr Herumgefege aufpassen mögen Ich heiit es Radla ... roukünngemontier (34) - Ich hätte das Rädchen ... (her)abmontieren können dös hot... aa nümmer wätterkünnghalf (83) - das hat ... auch nicht mehr weiterhelfen können Un su hot halt aa de Koufrieder ... noch α Bröckla dezu müßverdie (13) Und so hat der K. ... noch ein Bröcklein dazuverdienen müssen Eine wesentliche Voraussetzung für diese eigenartige Klammerkonstruktion ist die vom heutigen Dt. abweichende Reihenfolge von Modalvb und Vb in der
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Endstellung (über deren Herkunft eigens zu sprechen wäre), wie sie auch bei einfachen Vb vorliegt: Groudnaus hot e dou müß lach (10) - Geradheraus hat er da lachen müssen, a heiit an libbstn nei die Huesn müch gemach (22) - er hätte am liebsten in die Hose machen mögen. Für die Kombination mit einem Präfixvb dürfen wir beim Dt. auf folgendes Syntagma zurückgreifen: . . . Adv + Vb + Aux er hat .. .in die Stadt/fort gehen
gewollt/wollen,
wo das Adv, aus dem sich im Prinzip die Präfixe entwickeln, direkt vor dem Vb steht und Präfix + Vb zusammenkommen. Für das Sonnebg. müssen wir das Syntagma ...Adv + Aux + Vb er hat .. .in die Stadt/fort
wollen gehen
voraussetzen, wo Adv . . . Vb getrennt sind und das Aux umgeben; sobald das Adv zum Präfix eines lexikalischen Vb wird, darf man feststellen, daß das Präfixvb das Aux einklammert. Damit haben wir den interessanten Fall, daß ein Modalvb von einem Vollvb eingeklammert, wir könnten auch sagen, untergeordnet, inkorporiert wird. Das Eingeklammerte ist hier mehr als ein bloßes Präfix ge- und wesentlich weniger als die wechselnden Syntagmen in der sonstigen dt. Verbklammer. Die Begrenzung auf die eine Wortart Modalvb mit ihrem geringen Bestand an Lexemen zeigt, daß diese Konstruktion einen hohen Grad an Grammatisierung erreicht hat. Fast alle Kriterien, die Lehmann (1985, 309) für Grammatisierung aufführt, treffen hier zu: die eingegrenzte Modal-Semantik, die kleine Zahl der Mitglieder im Paradigma, die Obligatorik der Konstruktion, die Unterordnung unter ein dominierendes Wort, die Gebundenheit durch Inkorporation; auf die Flexionslosigkeit des Aux selbst kommen wir noch zu sprechen. Die Modalvb sind damit im Sonnebg. aber keineswegs generell zu unselbständigen grammatischen Elementen geworden; die Inkorporation tritt ja nur unter ganz bestimmten lexikalisch-syntaktischen Umständen ein, in anderen Syntagmen, etwa in Zweitstellung (s.u.) oder vor einem Vb ohne Präfix, behalten sie ihre Eigenständigkeit: Ich hou noch niätemoel künn gegrei (29) - Ich habe noch nicht einmal greinen (weinen) können Man kann ganz allgemein beobachten, daß Grammatisierungen erst einmal lokal beginnen und sich erst später mehr oder weniger ausbreiten; man vgl. etwa die Klitisierung der Pron. (du kommst - kommst(e)?). Das Sonnebg. hat also in bestimmten Positionen Aux-Inkorporationen entwickelt. (3) In den verbleibenden Fällen unserer (bisherigen) Tabelle ist auch im Sonnebg. das Präfix mit seinem Vb fest verbunden: So im Hauptsatz, wenn ein Modalvb in Zweitstellung auftritt und das Präfixvb als Infinitv in Endstellung erscheint:
AuxiUa.r-Inkorpora.tion (3a) wos soll ichn reibreng
im Ost
fränkisch-Thüringischen
(9) - was soll ich denn
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hereinbringen
Außerdem in den Nebensätzen, soweit dort nicht ge- Einschübe bei P a r t . P r ä t . erscheinen. Den einfachsten Fall haben wir, wenn das Präfixvb allein erscheint: ( l b ) wie ich ää Stückla nouchn annern neiorgl (26) - wie ich ein Stückchen nach dem anderen hineinorgle (hineinstopfe) Kommt ein grammatisches Hilfsvb hinzu, so steht dies nach dem Präfixvb: (2b) deß mer... beinah aa die Lunga rauskumma war (37) - daß mir ... beinahe auch die Lunge herausgekommen war wie e van eäner Glock aagfangt hot (87) - wie er von einer Glocke angefangen hat Sperschneider (1959, 75) bringt allerdings für seine Ortsmundart in N W von Sonneberg Belege, daß hier auch Hilfsvb links vom V b stehen (hier orthographisch transkribiert): wie ich nei de Schul bin ganga - wie ich in die Schule gegangen bin; de Maa, wou di Rachn hot verkäfft - der Mann, wo (der) die Rechen verkauft hat. Interessant für unser T h e m a wird der Fall, wenn ein Modalvb hinzukommt: Anders als im Hauptsatz steht dies dann auch, wie ein Hilfsvb, nach dem Präfixvb, so daß es hier zu keiner Einklammerung kommt: (3b) wos e doudemit aafang soll (38) - was er damit anfangen soll deß sa roukletter sölltn (83) - daß sie herabklettern sollten wie wenn sa Schwarza Beern auslas müßt (54) - wie wenn sie Beeren (Heidelbeeren) auslesen müßte
schwarze
Ein Grund für die Nachstellung könnte sein, daß das Modalvb hier - anders als als in (4a) - als finites V b fungiert; und finite V b stehen im Nebensatz besser ganz am Ende; sie können nicht so leicht eingeklammert werden, wo es mit ihrer Flexion evt. Probleme gäbe (man vgl. allerdings das finite Hilfsvb haben unter 3.) Die Endstellung des finiten Modalvb haben wir normalerweise auch bei einfachen V b : Un wenn eäs wiß will (78) - Und wenn einer wissen will deß mer scha manterier künna (79) - daß wir sie materieren können
(?) (bewegen)
Auch dazu nennt Sperschneider (1959, 75 f.) umgekehrte Fälle: wall ichs niä mouch gsaa - weil ich es nicht, sehen mag, leider aber ohne ein Präfixvb. Nach Auskunft von Frau Gudrun Volk, Sonneberg, wäre aber auch eine Klammerkonstruktion wie wall ichs niä aa mouch geguck - weil ich es nicht angucken mag akzeptabel, wenn auch in Sonneberg selbst weniger üblich. In unserem Material steht nur in einem Fall das Modalvb - offenbar fakultativ, vielleicht wegen des Ausrufesatzes - vor dem V b ; allerdings ist auch dies kein Präfixvb: wenn dös gut soll gieh! (80) - wenn das gut gehen
soll!
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2.2. Flexionslose und mit ge- erweiterte Infinitive und die Inkorporation Im Sonnebg. gibt es drei verschiedene Formen des Inf. mit komplexen Verteilungsregeln (Sperschneider 1959, 40-43): I Einen Inf. mit einer Endung, die sich wohl vom mhd. Gerund auf -enne herleitet, die aber, je nach Phonotaktik in verschiedener Lautgestalt erscheint, so z.B. sitzn fitzen', mächtig ,machen', aafanga ,anfangen', rriüssn ,müssen' II Einen endungslosen Inf., wie er ζ. T. schon für das Ahd. im Ostfränk. belegt ist (Braune/Eggers 1987, 265): sitz, mach, aafang, müfi III Einen endungslosen Inf., der jedoch mit dem Präfix ge- versehen ist, das seinerseits je nach Phonotaktik zu g - reduziert ist; er erscheint nach den Modalvb können und mögen·, gesitz, gemach, aafang Der Inf. mit Endung braucht uns hier nicht zu beschäftigen, die beiden anderen Inf. sind dagegen im Zusammenhang mit unseren Inkorporationen von speziellem Interesse. (1) In allen unseren Fällen, in denen ein Modalvb in ein Präfixvb inkorporiert wurde, erscheint dieses Modalvb in der endungslosen Form; man vgl. in (4a) oumüßploug, auswölltreib, fortloußschlöpp usw. Dieser endungslose Inf. erscheint zwar auch dann, wenn kein Präfixvb, sondern ein entsprechendes einfaches Vb vorliegt: Host uns woll a wengla fer Narrn wöll halt?! - Hast uns wohl ein wenig zum Narren halten wollen Nun bekommt man aber den Eindruck, daß sich diese Klammerkonstruktionen auch deshalb gut erhalten haben, weil diese inkorporierten Inf. so kurz und von flexivischem Ballast frei sind. Wenn ein ehemals selbständiges Lexem (stellenweise) festgebunden und untergeordnet wird, so besteht eine natürliche Tendenz, dieses grammatisierte Element auch weiter zu reduzieren und eine überkommene ,Binnenflexionen' abzuschaffen. Im vorliegenden Fall mußte zwar nichts erst abgebaut werden; der ,Zufall' hatte es so gefügt, daß diese Elemente schon in einer speziellen Kurzform vorlagen und daß dies die Inkorporation mit induziert oder zumindest mit stabilisiert hat. In diesem Zusammenhang kann man weiter feststellen, daß sich schon die Ablösung des ursprünglichen Part.Prät. durch den späteren sog. Ersatzinfinitiv auch als günstige Voraussetzung für die Entstehung und Bewahrung der Inkorporation erweist; theoretisch sie haben sich abplagen gemußt —> ... abplagen müss(en) —>•... oumüßploug Die Flexionslosigkeit des Inf. erscheint aber auch beim klammernden Präfixvb, dessen Inf. vom eingeklammerten Modalvb regiert wird. Auch sie sorgt dafür, daß die inkorporierende Gesamtkonstruktion nicht noch länger und komplexer wird. Es werden zwar viele Komponenten zusammengebunden: Präfix + Modalvb + Vb; sie sind aber alle drei flexionslos. Im häufigen Extremfall treffen
Auxilinr-Iakorpor&tion im Ost fränkisch-Thüringischen
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nur drei inflexible einsilbige Wurzeln auf einander. Sprachtypologisch könnten wir sagen, daß hier einerseits die Entwicklung zu isolierenden Wurzeln und andererseits die Entwicklung zu inkorporierenden Komplexen zusammengewirkt haben: komplizierte Kombinationen aus simplen Bauelelementen. Hier darf man daran erinnern, daß auch bei der Ablösung der urspr. Adv durch Präp-ähnliche Präfixe (hinein —» ei-, herab —• rou-) ebenfalls Reduktionen zu einsilbigen Wurzeln stattgefunden haben. Unsere Inkorporationskomplexe sind allerdings nicht auf dieses dominante Grundmuster beschränkt: sowohl das Präfix wie das Vb können in sich komplexer sein, wie die Beispiele unter (4a) zeigen: dezu-müß-verdie, rou-künngemontier. Vor allem über das ge- ist hier nochmals zu sprechen. (2) Entgegen .allem bisher genannten Flexionsabbau spielen die ge-Inf. auch in unseren Inkorporationskonstruktionen eine wichtige Rolle: Ist das umklammerte Modalvb können oder mögen, sonnebg. künn- bzw. müch-, so erscheint beim folgenden Vb das weitere, ebenfalls mit eingeschlossene ge- bzw. g-: roukünngemontier, wätterkünnghalf, aufmüchgepaß, so wie beim Inf. eines einfachen Vbs: Mer hot su schöä .. .in Broutnduft künn gschnupper (88) - Man hat so schön ... den Bratenduft schnuppern können. So könnte man pauschal sagen, daß zwischen Präfix und Vb zwei Elemente zusammen inkorporiert werden: ein Modalvb + g(e)~, das seinerseits ein Präfix ist. Das wäre aber keine strukturierte Beschreibung. Wir haben es vielmehr mit zwei verschiedenen Ebenen zu tun: Einerseits wird ein grammatisches gebei Inf. präfigiert; und andererseits wird ein Modalvb zwischen dem lexikalischen Verbpräfix und dem Inf. des Vb inkorporiert, sei es daß der Inf. je nach Modalvb mit oder ohne ge- ausgestattet ist. Freilich bleibt, daß das -ge- seinerseits im Sonnebg. wie im Dt. für sich inkorporiert sein kann: aagedöätt - angedeutet; und daß es zusammen mit einem Modalvb in einer Verbklammer auftreten kann (aakünngegih - angehen können). Wir kommen im folgenden allerdings zu Konstruktionen, in denen eine solche Verbklammer um ein Modalvb noch ein weiteres, diesmal eher paralleles und zudem komplexeres Element umfassen kann. 3. Zwei Auxiliare werden von einem komplexen Verb eingeschlossen: Präfix + finites Hilfsvb + Modalvb + Vb Uber die bisherigen, vergleichsweise einfachen Fälle hinaus können im Sonnebg. auch zwei, wenn auch unterschiedliche Aux von einem Präfixvb eingeschlossen werden. Dies zeigt folgender Beispielsatz: Und wenn eäs wiß will, ... wölla Fraa hämlich än eihotloußsteig, dös könnna än de Ernst und de Ottomar gsoug! (78) ,Und wenn eines (jemand) wissen will,... welche Frau heimlich einen einsteigen
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hat lassen, das können einem der Ernst und der O t t o m a r sagen!' Es geht also u m folgende Konstruktion: [wölla Fraa än] eihotloußsteig segmentiert: ei-hot-louß-steig
[welche Frau einen] einsteigen hat lassen wörtlich: ein-hat-lass(en)-steig(en)
Wir können unsere obige Tabelle hier mit (4b) ergänzen, u m den systematischen Platz dieser Konstruktion festzustellen: (4a) er hat ... einkaufen
müssen
(4b) weil er ... hat einkaufen
müssen
Unseren ersten, einfachen Fall von Aux-Inkorporation h a t t e n wir, wenn im Hauptsatz in der Zweitstellung ein finites Hilfsverb und in der Endstellung ein flexionsloses Modalvb von einem infiniten Präfixvb eingeklammert wird. Gerät diese Konstellation in einen entsprechenden Nebensatz, so rückt auch das finite Hilfsvb mit in die Endstellung: mir ham ... ei-müß-keäf
wall mir ... ei-ham-müß-keäf vgl. weil wir ... haben einkaufen müssen
Das Besondere ist nun die Serialisierung dieser drei Vb: Im Sonnebg. umschließt das Präfixvb sowohl das finite Hilfsvb, als auch das flexionslose Modalvb und zwar in dieser Reihenfolge. Im Dt. steht in solchen Fällen auch zuerst das Hilfsvb, aber noch vor dem ungespaltenen Präfixvb; und das Modalvb folgt im Dt., wie immer, ganz am Ende. Vorbedingung und Auslöser für die sonnebg. Inkorporation ist auch hier das Modalvb mit seiner Position vor dem Vb, das den Abschluß und damit den zweiten Klammerteil bildet: (l)et (2) hot(3) loß (4) steig Präfix finites Hilfsvb Modalvb im Inf. Vb im Inf. Trifft im Nebensatz dagegen ein (Präfix-)Vb mit zwei Hilfsvb zusammen, belegt für eine Art Plusquamperfekt, so gilt folgende Reihenfolge: wie e schichs (4') gedacht (3') ghout (2) hot (87) (wie er sich's gedacht gehabt hat) d.h. ,wie er es sich gedacht hatte'; der dt. Prät.-Form hatte entspricht auch hier das sonnebg. Perf. gehabt hat - auch innerhalb dieser komplexen PlusquKonstruktion. Auch bei einem Präfixvb ändert sich nichts Prinzipielles an dieser Reihenfolge: wu se na (1) aa (4') gebuetn (3') ghout (wo(welches) sie ihm an geboten gehabt d . h . ,welches sie ihm angeboten hatte'.
(2) hot (86) hat)
Die beiden Hilfsvb-Formen stehen damit jeweils a m Ende, das finite ganz am Schluß, so daß auch bei einem Präfixvb keine Klammerung entstehen kann. Bei unserer erweiterten Klammerkonstruktion ergeben sich gegenüber der bisherigen einfachen Aux-Inkorporation vor allem zwei neue Aspekte: (a) Die Klammer ist größer geworden, das Präfixvb inkorporiert j a zwei Aux. Allerdings haben wir es bei dem grammatischen Hilfsvb nur mit einer einzigen
Auxiliar-In/corporation
im
Ostfränkisch-Thüringischen
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lexikalischen Einheit, mit dem Vb haben, zu t u n . Der Grammatisierungsgrad ist hier also noch größer als bei den Modal vb, wo es immerhin u m eine kleine Gruppe von Lexemen geht. Wenn wir diesen Klammerausdruck als eine Wortform betrachten, so kann man sich solche Gebilde auch unter phonologischen Gesichtspunkten ansehen und feststellen, daß sie ein übergreifendes Akzentmuster , , - (stark-schwach-schwachhalbstark) besitzen und daß im Innern durchaus auch Junkturen (etwa bei Λ-Analut) erscheinen, wie auch sonst in dt. Wortbildungen (vor-haben). (b) Das Hilfsvb behält auch innerhalb der Klammer seine volle finite Flexion: (ich) hou, (e) hot, (mir) ham oder auch im Konj. (ich) heiit, (mir) heiitn, usw. Dieses inkorporierte Vb hat also noch mehr Selbständigkeit bewahrt u n d keine Reduktionen erfahren. Da es sich aber u m begrenzt wenige, höchst frequente, weitgehend einsilbige Flexionsformen handelt, ist die phonologische u n d morphologische Belastung nicht allzu groß. Im Falle der Modalvb können, mögen bekommt auch hier das ( P r ä f i x - ) V b seinen ge-Inf., so daß dieses -ge- noch ein weiteres, drittes inkorporiertes Element bildet. Mit alledem wirken diese komplexen Klammerformen für uns Außenstehende höchst merkwürdig, j a ,exotisch': (4b) Wos da sich ölles aahotmüßhör! (86) - Was der sich alles hat anhören müssen! die Eär, wu sa jeiidn Toug zun Ougaam forthammüßtroug (82) - Die Eier, wo (die) sie jeden Tag haben forttragen müssen wall e in Brandner vollstn ümhotwöllstimm (82) - weil er den Brandner völlig hat umstimmen wollen deβ se na ... aufhamwöllzwick (54) - daß sie ihn haben aufzwicken (nekken) wollen (Nach freundlicher Auskunft von Frau Gudrun Volk, Sonneberg, wäre auch der Konj. . . . aufheiitnwöllzwick - hätten aufzwicken wollen möglich.) deß sa noch an Scharfn rouhamkünngedrasch (77) - daß sie noch einen Scharfen (offenbar ein Kartenspiel) haben herunterdreschen können So ungewöhnlich sich diese komplex inkorporierenden Wortformen ausnehmen, auch sie lassen sich aus den allgemeinen Stellungsregeln der sonnebg. Syntax ableiten, wenn wir wieder davon ausgehen, daß die V b - P r ä f i x e ihren Ursprung in ehemaligen Adv haben; in verhochdt. Form: weil er . . . in die Stadt/fort hat müssen gehen Daß dies die übliche Wortfolge ist, kann m a n an folgenden Fällen ohne Präfix zeigen, bei denen auch Großmann 1979 jeweils drei selbständige, orthographisch getrennte Verbformen ansetzt: wenn sa sich ... hot louß blick (33) - wenn sie sich... hat lass(en) blick(en), dt. . . . hat blicken lassen deß die Gauner känna ... Gemäädiener ham künn gsei (79f.) - daß die Gauner keine ... Gemeindediener haben sein können
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Die einzige wesentliche Neuerung, die zu unseren höchst befremdlichen Inkorporationen geführt hat, besteht auch hier in der mehr oder weniger starken semantischen Lexikalisierung von (Adv >)Präfix + Vb. Sie dürfte ihren Ursprung in solchen Syntagmen haben, in denen ,Adv (> Präfix) + Vb' unmittelbar hinter einander zu stehen kamen (s.o. (3a), (lb) u.a.). Erstaunlich bleibt dann nur, daß diese beiden Komponenten auch nach dieser semantischen Verschmelzung in den anderen Syntagmen weiterhin getrennt blieben, daß sie nicht, wie im Dt., auch dort zusammengerückt sind (weil er . . . hat fortgehen/einkaufen müssen). Die endungslosen Inf. tragen auch hier zur Erleichterung, aber auch zur ,Exotik' unserer komplexen Wortformen bei. Die Entstehung dieser Verbklammern, dieser Auxiliar-Inkorporationen, läßt sich damit auf die vereinfachte Formel bringen: alte Syntax + semantischer Wandel/neue Wortbildung —> Einklammerung/Inkorporation. Wir könnten nun die Reihe der komplexen Vb-Serialisierungen fortsetzen und alle denkbaren Kombinationen durchtesten, dafür reicht aber unser Korpus nicht aus; eigene Erhebungen wären nötig. Wir können diesen Abschnitt über Verbhäufungen allerdings mit einem eindrucksvollen belegten Extremfall mit fünf Verbformen abschließen: wall e ergndwos .. .fer seina Gscherre gflickt kricht hot xvöll hou (78) - weil er irgendetwas ...für seine Geschirre hatte geflickt bekommen wollen [hatte = hat haben] Trotz solcher komplexer Verbalketten kommt es, soweit wir sehen, im Sonnebg. selbst zu keinen weiteren Typen von Inkorporation. Sperschneider (1959, 76) nennt allerdings aus der unmittelbaren nordwestlichen Umgebung einen weiteren interessanten Fall von Einklammerung mit Präfixvb. Wir haben seine Beispiele wieder Großmann entsprechend transkribiert: a ... hot αα ze schimpfm gfanga - er ... hat angefangen zu schimpfen die harn ... auf zu arwettn ghöert - die haben ... aufgehört zu arbeiten ham sa groud αα mit assn gfanga - haben sie gerade zu essen angefangen Während in den bisherigen Fällen das Hauptvb mit Präfix Auxiliare (Hilfs—/ Modalvb) eingeschlossen hat, haben wir hier eher den umgekehrten Fall: Das Aux, die Aktionsarten-Verben anfangen und aufhören, umschließen als Part. Prät. mit ihrem trennbaren Präfix das Vollvb. Entsprechend liegt auch die Grammatisierung in umgekehrter Richtung: Die Präfix-Rahmenvb sind auf wenige Lexeme eingeschränkt, und die eingerahmten Vollvb bilden eine unbegrenzte Menge. Außerdem wird hier nicht nur eine Vb-Wurzel oder eine kurze Vb-Form umklammert, sondern der Inf mit der Partikel zu oder, wie weiter nördlich ganz üblich, mit der Präp mit. So sollte man hier eher von einem umklammernden Syntagma (wenn auch sehr begrenzter Art) und noch nicht von Vb-Inkorporation sprechen.
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4. Ausblicke in die Sprachgeographie und Sprachtypologie 4.1. Wir haben uns mit einer ungewöhnlich und extrem erscheinenden Sprachentwicklung beschäftigt, wie sie uns für Sonneberg und seine unmittelbare Umgebung belegt ist. Dabei haben wir uns (vorläufig) fast nur auf das Textkorpus einer Ortsmundart gestützt, wie sie uns Großmann 1979 präsentiert. Eine erste Erweiterung wäre es, über die vorliegenden Fälle hinaus durch größere gezielte Tests abzuklären, welche Möglichkeiten es u. U. noch gäbe, nach welchen Regularitäten die hochkomplexen Verbkombinationen ablaufen, von denen wir - auch aufgrund ihrer geringeren Frequenz - nur wenige Proben zur Verfügung hatten. Interessant wäre aber vor allem, das Gebiet zu kennen, in dem'unsere Inkorporationen vorkommen, ob unsere beiden Typen immer so zusammen auftreten, welche Varianten oder Steigerungen in unterschiedlicher Richtung es d a möglicherweise noch geben kann; einiges hat Harnisch (1992, 310-314) dazu schon andeutungsweise zusammengestellt. Sperschneider (1959), der zwar auch Beispiele unserer Inkorporationen verwendet, hat diese aber nicht eigens diskutiert oder kartiert. Am nächsten kommt seine Karte 55, bei der es u m die Spaltung bei . . . steckengeblieben wäre —> stecken wäre geblieben geht, die in einem sehr kleinen Gebiet geschlossen auftritt, aber weiter streut, also einst größere Verbreitung hatte. Wie groß oder eher klein ist oder war aber das Gebiet für unsere Fälle? Nun könnte man auch genauer durchprüfen und zusammenstellen, wie groß jeweils die entscheidenden oder begleitenden Einzelkomponenten unserer Konstruktionen sind: die besonderen Stellungen von M o d a l - und Hilfsvb, der endungslose bzw. mit ge- erweiterte Inf., des Ersatzinfinitivs, die Lexikalisierung von Präfixvb. Man käme dabei wohl von kleinräumigen Erscheinungen, über größere Verbreitungsgebiete, bis hin zu Neuerungen, die sich über das ganze dt. Sprachgebiet (und darüber hinaus) erstrecken. Von daher ließe sich nochmals diskutieren, welches ,zufällige' Zusammentreffen oder welche Konspiration' (conspiracy) stattgefunden hat, um inmitten des Dt. solche ungewöhnliche Regularitäten zu schaffen, die zu einem ganz anderen, bisher für sehr exotisch und fern gehaltenen Sprachtyp gehören. In diesem Bereich zeigt also auch die Syntax sprachgeographisch sehr vielgestaltige und feinmaschige Erscheinungen, die sich möglicherweise systematisch auf einander beziehen, in chronologischen Schichten abheben und in ihrer jeweiligen Ausbreitung rekonstruieren lassen. Hier ist die allgemeine Einschätzung von Löffler (1974, 132) sicher einzuschränken: daß die „komparative Syntax . . . geringe Ergiebigkeit" zeige, daß sie „nicht zu den raumbildenen Faktoren" zu rechnen sei und nur „sehr großflächig" erscheine - und dies überraschend im Zusammenhang mit Sperschneider (1959). Ich meine im Gegenteil, daß sich solche Neuerungen und Verbreitungsmuster dann sehr gut in den allgemeinen Rahmen der „Sprachraumbildung
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und Landesgeschichte" stellen ließen, wie ihn Steger 1968 intensiv aufgrund der Lautgeographie entwickelt hat. Gerade bei der Frage, welche vielfältigen Einflüsse und Neuerungen im „Coburger Raum", zu dem man Sonneberg rechnen kann, zusammentreffen - Steger (1968, 333-394) diskutiert dies eingehend mit lautgeographischen und historischen Daten - dürften solche syntaxgeographische Erkenntnisse wertvoll sein, zur Bestätigung, Modifizierung oder Präzisierung der bisherigen Einsichten. 4.2. Unser Fall von Auxiliar-Inkorporation eröffnet aber noch weiträumigere Perspektiven. Wir erleben hier ,mitten unter uns' Entwicklungen zu morphologischen Verfahren, die uns zunächst rätselhaft, kompliziert, vielleicht sogar ,verrückt' erscheinen müssen. Diese Konstruktionen kommen in ein neues Licht, wenn wir in ihnen Verfahren sehen, die in anderen Gebieten unserer Erde Sprachen im Ganzen dominieren können: Es sind dies die sog. inkorporierenden Sprachen, in denen sehr Vieles, was bei uns normalerweise selbständige Wörter sind, nur als untergeordnete Teile von Verbalformen auftritt, teils obligatorisch, teils fakultativ. Dies scheint auch mit unseren Aux in den speziellen Konstruktionen der Fall zu sein, bis hin zu der ,Perversität', daß sogar das finite Vb, ein Hilfsvb, in das infinite Vollverb des (Neben-)Satzes inkorporiert ist. Für die allgemeine Definition von ,Inkorporation' genügt es, soweit ich sehe, daß eine lexikalische Einheit irgendwie' seine syntaktische Selbständigkeit verliert, daß es zu einem Teil des Vb wird, daß damit die u. U. sehr komplexe Verbform einen ganzen Satz bilden kann. Das Kriterium, daß Einheiten des Verbstamms diese anderen Elemente regelrecht umschließen, also wortwörtlich inkorporieren', wie dies bei unseren Präfixvb der Fall ist, stellt m. W. keine notwendige Bedingung dar. So könnte unser Fall, bei dem auch der Entstehungsweg gut erkennbar ist, im Rahmen einer allgemeinen Typologie der Inkorporation (man vgl. Baker 1988) eigens Beachtung verdienen. Er paßt, soweit ich sehe, in der Systematik Bakers zur „Verbincorporation", wo vor allem Causativa eine Rolle spielen; man müßte im Einzelnen durchprüfen, wieweit sich unsere Modalvb damit vergleichen lassen. Nun ist der Trend zur Inkorporation im Ostfränk. keineswegs nur auf Aux beschränkt. Als prototypisch für Inkorporation wird die Behandlung von Nominalergänzungen als Teil von komplexen Verbalformen betrachtet. Auch dies haben wir, wenn im Ostfränk. viele Pron. als bloße Verbal-Enklitika erscheinen, z.B. in da sag=i=s=na ,da sage ich es ihm' (vgl. Werner 1988). Dies entspricht weitgehend einem Verfahren, wie es Sasse (1988) für das Irokesische darlegt, allerdings mit der weiteren Bedingung, daß diese Pronominalenklitika auch dann erscheinen müssen, wenn genauer bestimmte lexikalisch gefüllte Argumente vorliegen (die ihrerseits aus Verben, der einzigen selbständigen Wortart, gebildet sind); diese lexikalisch reicheren Komplexe erscheinen dann als Appositionen. Auch dies können wir im Ostfränk. in gewissem Umfang (ζ. T.
Auxiliar-InCorporation im Ostfränkisch-Thüringischen
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dt. transkribiert) nachkonstruieren: da sag=i=s=na - α/s Vorstand, meine Meinung, dem Schreier. Weitere mundartliche oder umgangssprachliche Erscheinungen, die in Richtung Inkorporation weisen, hat Ronneberger-Sibold (demn.) gesammelt. So bekommt man den Eindruck, daß innerhalb des Dt. an vielen Stellen Entwicklungen hin zu inkorporierenden Verfahren stattfinden. Bei den meisten unserer Sprachen werden die verschiedenen Verfahren, isolierende, agglutinierende und flektierende neben einander und in wechselnden Mischungsverhältnissen genutzt, verteilt u. a. nach ökonomischen Prinzipien (man vgl. frequentes man/ men, child - children.. .vs. weniger frequentes dog - dogs, cat - cats). Einigermaßen neu und überraschend ist nun, daß wir, um bestimmte Entwicklungen im Dt. angemessen erklären zu können, offenbar das volle Spielbrett der morphologischen Entwicklungen und Möglichkeiten bereithalten und dabei auch mit dem Pol der Inkorporation rechnen müssen. Es ist faszinierend, wie uns gerade sehr lokale, heimatliche Entwicklungen dazu bringen, unser Blickfeld möglichst universal, global auszuweiten. Damit ist freilich noch wenig gesagt, wieso es denn überhaupt zu solchen Inkorporationen kommt; oder, falls wir die Entstehung, wie im vorliegenden Fall, einigermaßen verstehen, welchen möglichen Nutzen solche Inkorporationen auf Dauer haben. Auch dazu kann man eine vorläufige, pauschale Antwort geben, wie sie unsere Beispielfälle nahelegen: Selbständige Lexeme werden dabei, ähnlich wie Funktionswörter, immer stärker grammatisiert; häufige Kombinationen, wie hier Aux und Vollvb, gehen miteinander Verbindungen ein, die Modalität wird zunehmend am Vollvb oder innerhalb eines Präfixvb - durch einen möglichst kurzen Ausdruck - markiert. Andere Sprachen zeigen Stadien, bei denen solche spezielle Modalitäten durch bloße Affixe oder gar nur durch Vokalwechsel ausgedrückt werden; man vgl. z . B . jap. iki-masu ,(ich..) gehe', ikitat(-desu) ,. ..möchte gehen', ike-masu ,. ..kann gehen'; man kann aber auch auf unsere Konj wie ostfränk. ich saget, dt. ich käme, oder mit Suppletion, ich sei verweisen. Die Inkorporation ist damit nichts anderes als ein Übergang von der Syntax mit Lexik hin zur Morphologie mit Flexiven, also ein Prozeß, der im Rahmen des universellen Sprachwandels eigentlich überall möglich ist. Durch Einklammerungen werden dafür besonders förderliche Bedingungen geschaffen. So plausibel das alles erscheint, so bleibt doch zu fragen, ob solche Inkorporationen, wie wir sie vorgefunden haben, nicht doch besonders kompliziert und unpraktisch sind, vor allem weil die Ausdrucksstruktur so gar nicht der Inhaltsstruktur entspricht: Zusammengehöriges wird an der Oberfläche zerrissen, Finites, hierarchisch Höheres wird im Ausdruck untergeordnet, usw. Hier sind wir wieder bei der Frage, welhalb unsere natürlichen Sprachen oft so anders arbeiten, als man dies von einer simplen Natürlichkeitstheorie her erwarten würde. So kann es immer wieder erstaunen, welch hohe Grade an Komprimierung und Komplexität von den Sprechern beherrscht werden - wohl
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Otmar Werner
aufgrund der vorgegebenen Muster und der Routine, die sich durch ihre Gebrauchsfrequenz ergibt: in exotischen inkorporierenden Sprachen oder hier im Sonnebergischen. Natürlich muß man auch damit rechnen, dafi solche komplizierte Verbindungen auch wieder abgebaut werden, ehe sie sich weiter intern verdichten oder extern verbreiten - zumal unter dem Einfluß einer weitgehend anders strukturierten Hoch- und Schriftsprache. Vorläufig werden sie aber im Texttypus ,Alltagsrede' bestens beherrscht, wenn auch nur von begrenzten Sprechergruppen und in einem relativ kleinen Kommunikationsbereich. Literatur Baker, Mark C. (1988): Incorporation. A theory of grammatical function changing. Chicago. Braune, Wilhelm (1987): Althochdeutsche Grammatik, bearb. v. Hans Eggers. 14. Aufl. Tübingen. (=Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte A5). Großmann, Karl-Heinz (1979): Mei Dörfla glänzt utn in Sunnalecht ...Gedichte und Geschichtn aus de Sombarger Eck [Mit Vorwort von Heinz Sperschneider], Sonneberg. Harnisch, Rüdiger (1992): Ein Denkmal der ostfränkischen Volks(schrift)sprache aus dem 17. Jahrhundert. In: Weiss, Andreas (Hg.): Dialekte im Wandel. Referate der 4. Tagung zur bayrisch-österreichischen Dialektologie, Salzburg [... ] 1989. Göppingen. (=Göppinger Arbeiten zur Germanistik 538), 305-326. Henzen, Walter (1965): Deutsche Wortbildung. Tübingen. (^Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B5). Jaeger, Christoph (1992): Probleme der syntaktischen Kongruenz. Theorie und Normvergleich im Deutschen. Tübingen. (=Reihe germanistischer Linguistik 132). Lehmann, Christian (1989): Grammaticalization: Synchronic variation and diachronic change. In: Lingua e Stile 20, 303-318. Löffler, Heinrich (1974): Probleme der Dialektologie. Eine Einführung. Darmstadt. Ronneberger-Sibold, Elke (1991): Funktionale Betrachtungen zu Diskontinuität und Klammerbildung im Deutschen. In: Boretzky, Norbert u. a. (Hgg.): Sprachwandel und seine Prinzipien. Beiträge zum 8. Bochum-Essener Kolloquium [...]. Bochum. (=Bochum-Essener Beiträge zur Sprachwandelforschung 14), 206-236. Ronneberger-Sibold, Elke (1993): ,Typological conservatism' and framing constructions in German morphosyntax. In: van Marie, Jaap (Hg.): Historical Linguistics 1991. Papers from the 10th International Conference on Historical Linguistics. Amsterdam, Philadelphia. (=Current Issues in Linguistic Theory 107), 295-314. Ronneberger-Sibold, Elke (demn.): Das „klammernde Verfahren" des Deutschen. Typologische Überlegungen. In: Kopeke, Klaus-Michael (Hg.): Funktionale und typologische Untersuchungen zur deutschen Nominal- und Verbalmorphologie [Arbeitstitel]. Tübingen. (=Linguistische Arbeiten).
A uxiliar-Inkorporation
im
Ostfränkisch-Thüringischen
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Sasse, Hans-Jürgen (1988): Der irokesische Sprachtyp. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 7, 173-213. Schleicher, August (1858): Volkstümliches aus Sonneberg im Meininger Oberlande. Weimar. Sperschneider, Heinz (1959): Studien zur Syntax der Mundarten im östlichen Thüringer Wald. Marburg. (=Deutsche Dialektgeographie 54). Steger, Hugo (1968): Sprachraumbildung und Landesgeschichte im östlichen Franken. Das Lautsystem der Mundarten im Ostteil Frankens und seine sprachund landesgeschichtlichen Grundlagen. Neustadt/Aisch. (=Schriften des Instituts für fränkische Landesforschung an der Univ. Erlangen-Nürnberg 13). Werner, Otmar (1979): Kongruenz wird zu Diskontinuität im Deutschen. In: Brogyanyi, Bela (Hg.): Studies in Diachronic, Synchronic, and Typological Linguistics. Festschrift for Oswald Szemerenyi on the Occasion of his 65th Birthday. Part II. Amsterdam. (^Current Issues in Linguistic Theory 11), 959-988. Werner, Otmar (1987): The aim of morphological change is a good mixture - not a uniform language type. In: Giacalone Ramat, Anna u . a . (Hgg.): Papers from the 7th International Conference on Historical Linguistics. Amsterdam, Philadelphia. (=Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science, Series IV: Current Issues in Linguistic Theory 48), 591-606. Werner, Otmar (1988): Mundartliche Enklisen bei Schmeller und heute. In: Eichinger, Ludwig M./Naumann, Bernd (Hgg.): Johann Andreas Schmeller und der Beginn der Germanistik. München, 127-147.
ERNST EICHLER, Leipzig
Für einen Namenatlas Ostmitteldeutschlands (NAOD)
l. Bei allen beachtenswerten Forschungen zur Sprache der Gegenwart, so auch der gesprochenen, an denen der verehrte Jubilar großen Anteil hat, wollen wir dem historischen Werden des heutigen Sprachzustandes gebührende Aufmerksamkeit zollen. Und zwar sollen vor allem Synthesen geboten werden, die das gewonnene Bild zusammenfassen und die weitere Fragestellungen klar genug zeigen. Die jahrzehntelangen Forschungen zur Namenkunde und zur Dialektologie, wie sie seit den 20er Jahren - vor allem im Zusammenhang mit den Bemühungen der Schule von Theodor Frings (1935, 1956 ff.) - betrieben wurden und nach dem Kriege in dem Themenkomplex „Deutsch-Slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte" (1956 ff.) intensiviert werden konnten und bis heute andauern, ja ausgebaut werden, drängen nach einer solchen Synthese, nicht nur zum Nachschlagen in lexikalischen Werken (in Wörterbüchern, z.B. in großlandschaftlichen Ortsnamendarstellungen), sondern auch ,in der Fläche', also auf Karten, die die Areale heutiger oder früherer sprachlicher Erscheinungen darstellen werden und die dann zu entsprechenden Interpretationen anregen (ein besonders schwieriges Anliegen). Nachdem bereits Joachim Göschel (1965) einen Deutschen Namenatlas angeregt hatte, der jedoch bisher nicht zustandegekommen ist, zumal die lexikalische Neubearbeitung im „Neuen Förstemann" bekanntlich zum Erliegen kam, sollte man jetzt überlegen, wie man die kartographische Darstellung des Namenbestandes fördern könnte. Entsprechend den großlandschaftlichen Ortsnamenbüchern, die immer mehr Interesse finden (Schützeichel 1988), sollten am ehesten landschaftliche Namenatlanten geplant und bearbeitet werden, um die Verbreitung der Namen (Orts-, Fluß-, Flurnamen wie auch Personennamen) untersuchen zu können. Dies wäre eine notwendige Ergänzung der großlandschaftlichen Namenbücher, die oft selbst für ihr Untersuchungsgebiet Karten anbieten, doch jeweils nach verschiedenen Gesichtspunkten. 2.
Dieses Anliegen haben - von ihrem Untersuchungsraum ausgehend - schon viele Autoren, die sich mit dem Namengut Ostmitteldeutschlands befaßten
Für einen Namenatlas
Ostmitteldeutschlands
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(ob mit germanischem, deutschem oder slawischem Namengut), wahrgenommen und Einzelkarten, etwa beschränkt auf ein Gebiet und auf einen Namentyp, ζ. B. auf Ortsnamengrundwörter wie -leben, geboten. Die Bibliographie solcher Karten (besser Kartenskizzen), würde sie einmal erstellt (Angaben bei Schützeichel 1988), wäre stattlich und aufschlußreich. Wir möchten uns in diesem Beitrag im wesentlichen auf die Ortsnamen beschränken und die Personennamen beiseite lassen, obgleich zwischen beiden Namenarten genug Beziehungen, die auch für die lexikalische Bearbeitung ständig relevant sind, bestehen. Die Erarbeitung dieser Karten erfolgte meist im Zusammenhang mit den typologischen und territorial begrenzten Untersuchungen über germanische und deutsche Ortsnamen (auch solche slawischer Herkunft) und war somit eher begleitend als ein Hauptziel; dies muß bei einer Wertung der bisherigen Forschung bedacht werden. Auch haben zuweilen nicht nur Sprachwissenschaftler, sondern vor allem auch Geographen (etwa Otto Schlüter, Johannes Wütschke u. a., ζ. B. für den „Mitteldeutschen Heimatatlas" und sein Nachfolgewerk) und Historiker Verbreitungskarten von deutschen und deutsch-slawischen Namentypen vorgelegt und sich auf diese Weise der Verbreitung von Namentypen gewidmet. 3. Die gegenwärtige Situation in der Namenforschung Deutschlands ist wohl dadurch charakterisiert, daß die herkömmlichen deutschen Landschaften, wie ζ. B. Schleswig-Holstein, Bayern, Pfalz und Sachsen, mit entsprechenden Ortsnamenbüchern vertreten sind, die mit ihrer lexikographischen Darstellung des vielschichtigen Namenschatzes erst die unentbehrliche Voraussetzung für kartographische Darstellung bilden. Ohne eine einigermaßen nach übereinstimmenden Prinzipien erfolgte Präsentation der Ortsnamen in. Lexika kann es keine fundierte Namengeographie und Darstellung in Atlanten geben. Der diffuse Stand der Forschung auf diesem Gebiet ist wohl die Ursache für das Fehlen umfassender Atlanten, obgleich für viele Sprachgebiete Karten und Ansätze zur geographischen Darstellung vorliegen. Joachim Göschel (1965) hat seinerzeit ein ansprechendes Programm für einen Deutschen Namenatlas, sicher in der Hoffnung auf einen Neuen Förstemann, also auf ein allgemeines Ortsnamenbuch für das deutsche Sprachgebiet, vorgeschlagen, ohne daß m a n bisher dazu übergegangen wäre, ein solches Werk, das der Sprachgeschichte große Dienste leisten könnte, zu verwirklichen. Die Namenforschung sollte sich daher in Deutschland zusammenschließen und einen solchen Plan ins Auge fassen. Zunächst wäre eine Bibliographie schon vorhandener Karten zu erstellen, und die Vorarbeiten wären einzuschätzen; sie sind begreiflicherweise unterschiedlichen Methoden verpflichtet.
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4. Der von uns vorgeschlagene „Namenatlas Ostmitteldeutschlands" (NAOD) sollte eine Reihe von Komponenten aufweisen, um diesem Raum und seiner komplizierten historischen (und somit auch sprachlichen) Entwicklung gerecht zu werden. Wichtigstes Ziel dieses Unternehmens ist die Darstellung der Entwicklung des Namenschatzes als Komplex, darunter ist zu verstehen, daß die Namentypen (Orts-, Gewässer-, Flur- und Personennamen) in ihrer Verbreitung und in ihren disziplinaren Bezügen dargestellt und - soweit linguistisch oder extralinguistisch begründet - in Subtypen untergliedert werden. Einerseits isi, demnach die Bildung der entsprechenden Namenarten ein Einteilungsprinzip, andererseits auch die lexikalische ,Füllung' der Typen, um eine möglichst enge Beziehung mit der historischen Wortforschung des ostmitteldeutschen Raumes, die selbst noch in Anfängen steckt, herzustellen. Will man sich vom Stand der deutschen Namengeographie (als Vorarbeit zu einem Deutschen Namenatlas und somit partiell zum NAOD) eine adäquate Vorstellung machen, so kann man ζ. B. die Karten in den Bänden der Reihe „Deutsch-Slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte" nach ihrer kritischen Analyse und Bewertung in das Projekt des NAOD integrieren. Die in letzter Zeit vorgelegten Karten, ζ. B. über die Verbreitung der deutschen Ortsnamen mit dem Grundwort -leben (Schönwälder 1993), bedürfen der weiteren Spezifizierung, ζ. B. nach der Struktur der Bestimmungswörter, die vor dem Grundwort -leben stehen. Der tschechische Sprachwissenschaftler Vladimir Smilauer (1895-1986) hat seinerzeit eine Analyse nach den sogenannten „kleinen Typen" vorgeschlagen (Smilauer 1960), die bedeutet, daß nach den Substrukturen von Appellativen wie Personennamen, die in den Ortsnamen enthalten sind, gesonderte kartographische Darstellungen angestrebt werden, die das Areal prüfen. Sie hat im germanistischen Bereich noch keinen Widerhall gefunden. Zu diesem Komplex hat der Germanist und Historiker Hans Walther in seiner Untersuchung eine Reihe von Karten geliefert, die unser Anliegen betreffen und den Plan eines NAOD bereichern (Waither 1971). Er stellte eine Reihe zentraler deutscher Namentypen in ihrer Verbreitung im Saale- und Mittelelbgebiet dar, ζ. B. Ortsnamen mit den Suffixen bzw. Grundwörtern: -aha, -ing(en)/-ungen, sen, -heim, -feld(en),
-idi, -leben, -dorf, -lö/-lä,
-stedt, -bach/-beke, -born, -hausen/-hü-rode/-ried, -hagen, -schwend(e).
Die Karten wurden durch Namenlisten mit urkundlichen Zeugnissen und knappen etymologischen Hinweisen versehen, so daß eine wichtige Vorarbeit für den genannten Raum geleistet wurde, doch ohne Lokalisierung/Identifizierung mittels Zahlen. Dazu kommen Informationen über extralinguistische Bezüge der Namentypen und somit der formenden Sprachstrukturen: Einerseits werden auf den Namenkarten archäologische Fundgebiete und topographische Faktoren (Höhenlinien, Sumpfgebiete), die für die Siedlung als Voraussetzung der Nomination wirkten, verzeichnet und ,unterlegt', andererseits sind selbst geson-
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derte Karten vorhanden, die Bodenfunde und schriftliche Erwähnungen sowie Keramikfunde (so slawische Keramik) darstellen - eine wertvolle Ergänzung. Auch der „Historische Atlas von Sachsen", ein von Karlheinz Blaschke geleitetes Projekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, wird eine Namenkarte über die Verbreitung von Ortsnamen (slawische, deutsche, evtl. vordeutsche, also germanische bzw. indogermanische Namengruppen) enthalten. Einen ersten Einblick in die Verbreitung deutscher Ortsnamengrundwörter (-grün, -hain, -reuth/-roda, -walde) bietet Karte 5 bei Becker/Bergmann 1969 (siehe Abb. 1). Sie zeigt sich deutlich abzeichnende Areale, wie den Zusammenhang des Grundwortes -reuth und —grün mit dem oberdeutschen Raum. Der Vergleich mit außerostmitteldeutschen Forschungen auf dem Gebiet der Onomastik kann hierbei von größtem Nutzen sein und regt die Konzipierung des NAOD weiterhin an. Dies sei nur an zwei Beispielen aufgezeigt. 5. Der Mainzer Germanist Wolfgang Kleiber und der Saarbrücker Romanist Max Pfister legten eine gemeinsam verfaßte Monographie zur römisch-germanischen Sprachkontinuität an Mosel, Mittel- und Oberrhein sowie im Schwarzwald vor (Kleiber/Pfister 1992), die 28 aufschlußreiche Karten enthält und auch Reliktwörter berücksichtigt. Albrecht Greule lieferte im Rahmen des „Geschichtlichen Atlasses der Rheinlande" ein Beiheft (X/3) über die Verbreitung von Gewässernamen und somit einen originellen Versuch auch der kartographischen Darstellung der sprachlichen Herkunft von Fluß- und Bachnamen (Greule 1992). Die Gewässernamenschichten werden durch unterschiedliche Farbgebung ,visualisiert': Durch die Benennung der Gewässer zu verschiedenen Zeiten und die Tradition der Benennungen durch die Zeiten kann auf diese Weise die Raumgliederung aus der Karte abgelesen werden (Greule 1992, 8). Eine entsprechende Darstellung der Gewässernamen wäre auch für den NAOD zu empfehlen. 6.
In diesem Zusammenhang muß eindringlich darauf hingewiesen werden, daß es erforderlich ist, die kartographische Darstellung unbedingt mit einem Namenverzeichnis, historische Karten auch mit urkundlichen Zeugnissen und etymologischen Hinweisen mit Bezügen auf die entsprechende Literatur zu ergänzen und die Namen genau durch Ziffern mit dem Verzeichnis in Ubereinstimmung zu bringen. Diesem Rezept folgen bereits manche Karten, so auch Greules (1992) Karte der Gewässernamen. Sein ergänzendes Namenverzeichnis geht von den heutigen schriftsprachlichen Namenformen aus, gibt die Lokalisierung
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auf der Karte und schließt dann die historisch-urkundlichen und etymologischen Informationen an, wobei auch Verweise auf Mundartwörter zu finden sind, so ζ. B. are f. im Westflämischen als Appellativum für ,Bach, Wasserlauf beim Bachnamen Ahr (Greule 1992, 9). Zusammenfassende Arbeiten über einzelne Namentypen bieten zuweilen ebenfalls solche Namenverzeichnisse bzw. Kommentare zu einer summierenden Karte, wie ζ. B. der Verfasser zu altsorbischen Ortsnamentypen (Eichler 1965). 7. Die kartographische Darstellung von Namengruppen und Namentypen in einem NAOD soll auch die Traditionen der in Leipzig in den 30er und 40er Jahren unseres Jahrhunderts entwickelten Methode der kulturmorphologischen Forschung wieder aufnehmen und die daran beteiligten Disziplinen zusammenführen, weil die neuesten Erkenntnisse auch der Dialektologie (Gliederung der Mundarten), der historischen Geographie (ζ. B. Waldverbreitung) sowie der Archäologie (Karten über Funde) wichtige Ergänzungen im Rahmen einer synthetisierenden Betrachtung des gesamten ostmitteldeutschen Raumes, auch ausgreifend auf die von ihm aus besiedelten Gebiete (wie z.B. zum Teil Böhmen, Schlesien), in den Blick zu nehmen sind und kartographisch darzustellen wären. Aus der Interpretation der Kartenbilder darf m a n neue wichtige Erkenntnisse erwarten und könnte die sprachgeographisch-kulturhistorischen Ausführungen von Theodor Frings und anderer Forscher weiterführen, dort ansetzen, wo der Krieg diese in Leipzig konzipierte Richtung jäh beendet hatte; nach dem Ende des Krieges wurde sie mit neuer Aufgabenstellung weitergeführt (Frings 1956 ff., Große 1990, Lerchner 1986). An die Seite der ,Germania Romana', wie sie Frings seinerzeit untersucht h a t t e und wie sie heute noch ein Anliegen der historisch ausgerichteten Germanistik und Romanistik ist (Kleiber/Pfister 1992, Haubrichs 1992 usw.), hat das östliche Gegenstück, die ,Germania Slavica', zu treten. Dabei können die seit ca. 1960 in Leipzig in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Nachbarländer (Tschechische und Slowakische Republik, Polen usw.) betriebenen konzentrierten Forschungen zum Slawischen Onomastischen Atlas (SOA) eine wertvolle Hilfe sein (Eichler 1964, 1970, 1993 usw.; siehe Abb. 2), da sie ehemals slawische Namentypen, die heute nur noch in eingedeutschter Gestalt vorhanden sind (z.B. Radegast aus altsorb. *Radogosc ,Ort eines Mannnes namens Radogost, dies ein alter zweigliedriger slawischer, wohl urslawischer Personenname; Vertreter eines wichtigen Typs possessivischer Ortsnamen), aufzeigen und somit die Gliederung des heutigen ostmitteldeutschen Raumes, der damals slawisch besiedelt war, in slawischer Zeit erhellen (Eichler 1965, 1985), bei allen Problemen der Rekonstruktion dieses für diesen R a u m alten Sprachgutes, dem allerdings auch eine indogermanische (zum großen Teil alteuropäische) Namenschicht vorausging (Eichler 1991).
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Die bereits vorhandenen Arbeitskarten für den SOA bilden somit eine wichtige Vorarbeit für den NAOD und können in diesen Plan direkt integriert werden, natürlich unter dem Aspekt einer einheitlichen Methodologie und übereinstimmender kartographischer Verfahren. In Kommentaren wären sowohl deutsche als auch slawische Namentypen weiter zu erläutern, mit Ergänzungen zu versehen und auch etymologisch kurz zu kommentieren. In vieler Hinsicht könnte hier der leider nicht weitergeführte Thüringische Dialektatlas, der Tschechische Sprachatlas (Cesky JA I, 1992 ff.), der Sorbische Sprachatlas (1965 ff.) sowie der Schlesische Sprachatlas Günter Bellmanns (1971) fürs Deutsche und das entsprechende polnische Gegenstück für die polnischen Mundarten Schlesiens (Zar^ba 1970 ff.) einbezogen werden, u m Vergleiche in größeren Räumen zu wagen und das ostmitteldeutsche Gebiet entsprechend als einen Raum der Sprachüberschichtungen, der Begegnung verschiedener Kulturen, deutlicher als bisher herauszuheben und die interdisziplinären Anliegen, wie sie ζ. B. von seiten der Archäologie beim Vergleich von Keramiktyp und Namengeographie (Brachmann 1978) formuliert worden sind, zu fördern. So würde der NAOD zwar im Wesen ein sprachgeographisches Werk bleiben, aber mit deutlicher interdisziplinärer Ausrichtung. 8.
Als feste Komponenten des NAOD möchte man - im Rahmen eines ersten Vorschlages - folgende bestimmt vertreten wissen: (1) Onomastilche Karten - Alteste Namen (indogermanische bzw. alteuropäische Namen, vor allem Gewässernamen) - Alteste, ältere und jüngere slawische (altsorbische) Namentypen, wie ζ. B. Ortsnamen vom Typ Radogosc; Kosobody/Zornoseky, Ortsnamen mit dem Suffix -jane, -ici/-ovici (mit entsprechenden Subtypen, vgl. Körner 1972) sowie entsprechende Namentypen nach dem Projekt des SOA (Eichler/Srämek 1988) - in enger Abstimmung mit einem Altsorbischen Namenatlas und dem SOA - Karten der sogen.,Mischnamen' vom Typ slaw. Arnoltici, dt. Arntitz, sowie Lautendorf, Siedlung eines L'ubotd (altsorb. PN) - Karten der ältesten und jüngeren deutschen Namentypen nach den entsprechenden Grundwörtern (-leben, -hain usw.), auch nach entsprechenden Subtypen (2) Nichtonomastische Karten - Verbreitungskarten archäologischer Fundgruppen - Geomorphologische Gliederung - Alteste Wald Verbreitung - Siedlungs- und Flurformen - Urkundliche Erwähnungen für bestimmte historische Tatbestände u. a.
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Die Karten allein sind jedoch - bei allem Wert, den sie haben mögen - noch nicht das Endgültige, das wir von einem Atlas wie dem NAOD erwarten. Erst die abwägende, fundierte Interpretation des Kartenbefundes, vor allem der Verbreitung sprachlicher Erscheinungen in ihrer vielfältigen Bedingtheit, kann die Brücke zur Sprach- und Siedlungsgeschichte schlagen und gültige Erkenntnisse liefern. Dies ist der wichtigste, aber auch am schwierigsten zu gestaltende Teil eines solchen Werkes - genug Forderung und Aufgabe für die Zukunft, im Sinne des Jubilars, der immer Sprache in ihrer räumlichen, zeitlichen und sozialen Entfaltung im Blickfeld behält. Literatur Becker, Horst/Bergmann, Gunter (1969): Sächsische Mundartenkunde. Entstehung, Geschichte und Lautstand der Mundarten des obersächsischen Gebietes. Halle/Saale. Bellmann, Günter (1965): Schlesischer Sprachatlas. Bd. 2. Marburg. Bellmann, Günter (1971): Slavoteutonica. Lexikalische Untersuchungen zum slawisch-deutschen Sprachkontakt. Berlin, New York. Brachmann, Hansjürgen (1978): Slawische Stämme an Elbe und Saale. Zu ihrer Geschichte und Kultur im 6. bis 10. Jahrhundert auf Grund archäologischer Quellen. Berlin. Cesky JA (1992ff.): Cesky jazykovy atlas [Tschechischer Sprachatlas]. Bd. 1 ff. Bearbeitet unter der Leitung von Jan Balhar und Pavel Jancäk. Prag. Eichler, Ernst (1964): Materialien zum Slawischen Onomastischen Atlas. Berlin. Eichler, Ernst (1965): Studien zur Frühgeschichte slawischer Mundarten zwischen Saale und Neiße. Berlin. Eichler, Ernst u.a. (Hgg.) (1970): Beiträge zum Slawischen Onomastischen Atlas. Berlin. Eichler, Ernst (1985): Beiträge zur deutsch-slawischen Namenforschung (1955-81). Leipzig. Eichler, Ernst/Srämek, Rudolf (1988): Strukturtypen der slawischen Ortsnamen. Strukturni typy slovanske oikonymie. Leipzig. Eichler, Ernst (Hg.) (1991): Probleme der älteren Namenschichten. Leipziger Symposium. Heidelberg. Eichler, Ernst (1993): Zur Erarbeitung des Slawischen Onomastischen Atlasses im deutsch-slawischen Berührungsgebiet. In: Österreichische Namenforschung 21/1, VII-IX. Fleischer, Wolfgang (1990): Sprachwissenschaft und Kulturgeschichte. In: Große, Rudolf (Hg.): Sprache in der sozialen und kulturellen Entwicklung. Berlin. Frings, Theodor, u.a. (1935): Kulturnamen und Kulturströmungen im mitteldeutschen Osten. Halle/Saale. Frings, Theodor (1956ff.): Sprache und Geschichte. Bd. I-III. Halle/Saale. Göschel, Joachim (1965): Zur Frage eines deutschen Namenatlasses. In: Beiträge zur Namenforschung 16, 268-297. Greule, Albrecht (1992): Gewässernamen. (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Beiheft X/3). Köln.
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Ostmitteldeutschlands
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Ernst Eichler
Für einen Namcnatlas
Ostmitteldeutschlands
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VI. Sprachhandlung und Texttyp
RAINER R A T H , S a a r b r ü c k e n
Was ist aus der Erforschung der gesprochenen deutschen Sprache geworden? Anmerkungen zur Geschichte eines Wissenschaftsgebietes
1. Die Fragestellung Die Themenfrage scheint nichts Gutes zu verheißen. Konnotativ besagt sie: Da war doch mal was, ich erinnere mich dunkel; jetzt hört man aber nichts mehr davon. In der Tat, da war mal etwas - nämlich der Aufbruch zur empirisch geprägten Erforschung des gesprochenen Deutsch. Und dieser Forschungsbereich ist nicht untergegangen. (Dafür werden wir unten die Belege bringen.) Zu beobachten ist allerdings, daß sich der Fokus der sprachwissenschaftlichen Forschung verschoben hat: Gesprochene Sprache steht nicht mehr in ihm. Dies ist für mich Anlaß, im Rahmen dieser Festschrift, die einem der wichtigsten Protagonisten der Gesprochenen-Sprache-Forschung gewidmet ist, folgende Probleme zu diskutieren: - Provisorische und sicher unvollständige Situationscharakterisierung der deutschen Sprachwissenschaft der 60er Jahre. - Sehr kurze Darstellung der Gesprochenen-Sprache-Forschung bis Ende der 70er Jahre, kurz: da der Zeitraum durch zwei kleinere Zwischenberichte (Raettig 1973; Kaempfert 1973) und durch die umfassend informierende Arbeit von Betten (1977/1978) dokumentiert ist. - Gesprochene Sprache in den 80er Jahren und die Wende zur Schriftlichkeit. - Die Systemdebatte: gesprochene und geschriebene deutsche Sprache - Varietäten eines Systems oder zwei verschiedene Systeme? - Schließlich möchte ich der Frage nachgehen, um welche Art von Änderung es sich handelt: ein neues Paradigma oder eine übliche disziplinäre Erweiterung einer Fachwissenschaft. Am Ende soll kurz begründet werden, warum die Gesprochene-Sprache-Forschung nicht abgeschlossen ist. Die nun folgenden Beschreibungen stellen keinen Forschungsbericht dar. Weder ist Vollständigkeit angestrebt, noch werden durchweg einzelne Arbeiten besprochen. Es geht mir insgesamt darum darzustellen, wie sich der Stellenwert eines Forschungsgegenstands geändert hat. Damit sind durchaus subjektive Einschätzungen und Wertungen verbunden.
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Rainer Rath 2. Tendenzen der deutschen Sprachwissenschaft in den 60er Jahren 2.1. Problematik
Es gibt sie nicht - es hat sie noch nie gegeben - die deutsche Sprachwissenschaft. Zu allen Zeiten haben verschiedene Forscher und Forscherinnen zum Teil sehr unterschiedliche Gegenstände mit zum Teil sehr unterschiedlichen methodischen Werkzeugen bearbeitet. Andererseits ist auch deutlich zu erkennen, daß in einzelnen Zeitabschnitten bestimmte Gegenstände quantitativ bevorzugt behandelt werden. Man wird beispielsweise zur Zeit der Junggrammatiker einerseits unterschiedliche sprachwissenschaftliche Gegenstände behandelt finden, wie andererseits auch durchgängige Strömungen feststellen können, die es erlauben, eben von der Zeit der Junggrammatiker zu sprechen. Generell gilt, daß es in der Geschichte der Sprachwissenschaft immer Überschneidungen verschiedener Wissenschaftsbereiche ohne ,scharfe Ränder' gegeben hat. Weiterhin gilt: Die germanistische Sprachwissenschaft besteht aus einer Reihe invarianter Forschungsgegenstände. Es wären u. a. zu nennen: Dialektologie, Phonetik/Phonologie, Syntax, Morphologie, Semantik, sprachtheoretische Fragestellungen, Wortbildungslehre usw. Diese Bereiche sind immer Gegenstand der Sprachwissenschaft gewesen und werden es vermutlich auch bleiben. Dabei ist zu beobachten, daß zwischen bestimmten sprachwissenschaftlichen Gegenständen und bestimmten Personen Affinitäten bestehen. Viele dieser Forscherinnen und Forscher gelten als hochspezialisiert. Sie arbeiten vielfach zusammen, teils in lockeren Gruppen, ζ. B. auf Kongressen oder bei der Herausgabe von Büchern, teils sind sie auch organisatorisch als ,Gesellschaft für . . . ' verbunden. Es besteht hier natürlich die Gefahr, daß es zu hermetischen Diskussionen kommt, insbesondere, wenn sog. Grundsatzentscheidungen getroffen werden. Ein Beispiel dafür waren in der jüngeren Vergangenheit die zum Teil wenig flexiblen Diskussionen und einseitigen Festlegungen zu generativen Fragestellungen 1 .
2.2. Es dominieren in den 60er Jahren Fragen der geschriebenen deutschen Sprache und der historischen Grammatik. Arbeiten von Brinkmann, Eggers, Erben, Glinz, Moser, v. Polenz und vielen anderen bezeugen dies. Gerade die Untersuchungen „Zur Syntax der deutschen Sprache der Gegenwart" (so der Titel eines 1962 erschienenen und auch heute noch vielfach zitierten und diskutierten Aufsatzes von Hans Eggers) wurden möglich, nachdem das Forschungspotential der ,inhaltbezogenen Grammatik' sich nicht durch jüngere Forscher oder Forscherinnen ergänzte. Dies wiederum lag u. a. daran, daß 1
Zu der Problematik allgemein: Klein 1993. Die generativen Grammatiker befinden sich nach Klein (42) „intra muros". Ich selbst bevorzuge für die ,wirklichen' Generativisten den Ausdruck ,die Wissenden'.
Erforschung der gesprochenen deutschen Sprache
377
2.3. eine lebhafte Rezeption strukturalistischer Forschung einsetzte, die ihren Höhepunkt in der fast kritiklosen Aufnahme der ^klassischen' generativen Grammatik fand, vorbereitet und verbreitet durch die ,Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik' in Berlin. Diese Entwicklung erreicht einen glänzenden Kulminationspunkt im Strukturalismus-Aufsatz von Bierwisch (1966). Weitere Indikatoren für diese Rezeption sind Ubersetzungen amerikanischer Autoren, die Neuauflage des ,Cours' (Saussure) und vor allem die Verlagskarrieren einiger Chomsky-Bücher 2 . Die rasche und stürmische Ausbreitung dieser Rezeption hängt sicher auch damit zusammen, daß in Deutschland über mehrere Jahrzehnte eine hermetische Situation bestand: Auch die Sprachwissenschaften blieben von der nationalen Welle und der eigendeutschen Ausprägung der Wissenschaften Anfang der 30er Jahre nicht verschont; dann die Herrschaft des Nationalsozialismus, der Krieg - und die Generation der Nachfolger konnte nicht oder nur äußerst mühsam an europäische und nordamerikanische Entwicklungen anknüpfen 3 . 2.4. Erwähnt werden muß an dieser Stelle, daß in diesen Jahren die Linguistische Datenverarbeitung einen ungeheuren Aufschwung genommen hat 4 . Allerdings hat sich dieses zunächst in den Einzelwissenschaften verankerte Forschungsgebiet bald als eine eigenständige Forschungsdisziplin, die sich überwiegend (auch organisatorisch) von den einzelnen Sprachwissenschaften gelöst hat, etabliert. 2.5. In dieser Zeit nun tritt auch die gesprochene Sprache ins Blickfeld der Sprachwissenschaft. Wie bekannt, fällt das Erscheinen der ersten Arbeiten zur gesprochenen Sprache (Rupp 1965, Zimmermann 1965, Leska 1965) zeitlich ungefähr mit der Einrichtung der Forschungsstelle zur gesprochenen Sprache des Instituts für deutsche Sprache zusammen (1966 in Kiel, ab 1968 in Freiburg). Dieser Forschungsstelle unter der Leitung von Hugo Steger kommt eine zentrale wissenschaftliche Bedeutung zu. Denn von hier aus werden die ersten Ansätze der Gesprochenen-Sprache-Forschung fortgeführt, es werden grundlegende Kriterien für eine Textsortenbestimmung der gesprochenen Sprache entwickelt, um der empirischen Masse des Gesprochenen zunächst überhaupt einmal klassifikatorisch Herr zu werden. Transkriptionssysteme werden erarbeitet 2
3 4
Eine kleine Auswahl von Ubersetzungen strukturalistisch geprägter Werke: Greimas 1966/Übersetzung 1971; Lenneberg 1967/1972; Lyons 1968/1971; Chomsky 1957/1973; ders. 1965/1969; ders. 1968/1970; Katz 1966/1969. Zeitgenössisch und eher etwas euphemistisch dazu: v. Polenz 1967, 292. Dazu die frühen Arbeiten der Saarbrücker Forschungsstelle für maschinelle Sprachverarbeitung 1963ff., aus der sich 1971 der Sonderforschungsbereich 100 ,Elektronische Sprachforschung* entwickelt hat. Etwa gleichzeitig die Einrichtung des stärker auf die theoretischen Probleme der LDV orientierten Sonderforschungsbereichs 99 Konstanz ,Linguistik (formale Sprachwissenschaft, Grundlagenforschung)'
378
Rainer Rath
und - noch wichtiger fast - angewandt: Es entstehen die „Texte gesprochener deutscher Standardsprache" (1971-1979, Bd. I-IV), eine bis heute unverzichtbare Materialsammlung, eben das „Freiburger Korpus", inzwischen vielfach ausgewertet. Aber nicht nur die Anlage dieses Korpus, sondern auch die vielen Freiburger Untersuchungen zur gesprochenen Sprache (etwa ab 1970/71) haben diese in den Fokus sprachwissenschaftlicher Forschung gerückt. Die Gesprochene-Sprache-Forschung war bis dahin entgegen manchen Behauptungen und theoretischen Forderungen (etwa Saussure) nicht Gegenstand der Sprachwissenschaft 5 . Wie schwierig die Etablierung des neuen Forschungsgebietes war, berichtet Heinz Rupp - von Anfang an ,dabei' - in einem kurzen Rückblick anläßlich des Wiederabdrucks seiner frühen Arbeit von 1965: Seit dem Druck dieses Aufsatzes sind zwölf Jahre vergangen, [.,. ] eine kurze Zeit im Blick auf die Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft, die trotz Dialektologie, Sprachpsychologie u. a. diese Problematik nicht sah und vielleicht auch nicht sehen konnte. Ich erinnere mich noch gut an eine Sitzung des wissenschaftlichen Rats des Instituts für deutsche Sprache, kurz nach der Gründung des Instituts im Jahre 1964. Es wurde damals beraten, welche ständige Kommissionen für das Institut nötig seien. Als Peter von Polenz und ich vorschlugen, es solle eine Kommission für gesprochene Sprache gebildet werden, wurde dieser Vorschlag erstaunt zur Kenntnis genommen und überlegen belächelt, und die Kommission wurde wohl nur gebildet, weil man uns nicht verärgern wollte (Rupp 1979, 170). Die große Zahl der nach 1965 erschienenen Arbeiten zur gesprochenen Sprache ist in dem schon genannten Forschungsbericht von Betten (1977/1978) weitgehend beschrieben worden. Die beiden genannten kleinen Zwischenberichte zeigen, daß diese Forschungsrichtung auch zeitgenössisch wissenschaftsgeschichtlich begleitet wurde. Im übrigen: Die Archive sind voll von unveröffentlichten Staatsexamens- und Magisterarbeiten (etwa in Freiburg, Bochum und Saarbrücken). Generell kann festgehalten werden, daß in der ersten Phase der Forschung vorwiegend grammatisch-syntaktische (mit der Ausnahme Zimmermann 1965), später ab 1972/73 kommunikativ-dialogische Fragestellungen im Mittelpunkt standen. 2.6. Die dialogisch-interaktionelle Entwicklung bei der Erforschung der gesprochenen Sprache wurde außerordentlich begünstigt, wenn nicht gar ermöglicht aufgrund der 5
Ausgenommen natürlich in bezug auf phonologische und dialektale Untersuchungen. Die frühe Arbeit Behaghels (1899) ist an sehr entlegener Stelle erschienen. Sie enthält Überlegungen, die weit über das zeitgenössische wissenschaftliche Interesse an der gesprochenen Sprache hinausgehen, ist' aber in ihrer Zeit praktisch folgentos geblieben. Erst Mitte der 60er Jahre wird diese Arbeit wiederentdeckt.
Erforschung der gesprochenen deutschen
Sprache
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,pragmatisch-kommunikativen Wende' der Linguistik, d.h. der international beobachtbaren Abwendung von einer reinen System-Linguistik' und einer mit der Kommunikationsorientierung verknüpften Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Sprachwissenschaft, die sich nicht nur in der Einbeziehung ,systemexterner' Erscheinungen, sondern auch im Entstehen solcher Disziplinen wie Soziolinguistik, Psycholinguistik, Pragmalinguistik, Textlinguistik und Sprechakttheorie äußerte (Heibig 1980, 258). Heibig bezieht diese Feststellung vornehmlich auf die Entwicklung der Textlinguistik. Sie gilt gleichermaßen für die Entwicklung der Gesprochenen-SpracheForschung. Insgesamt zeigt sich, daß auf d e m Gebiet des gesprochenen Deutsch, ob mit grammatischer oder interaktioneller Fragestellung, durchschlagend neue Erkenntnisse gewonnen worden sind. Folgende Bereiche will ich nennen, in denen dies besonders deutlich zu erkennen ist: - Syntaktische Charakteristika; besonders die Erkenntnis, daß syntaktische Wahlen im gesprochenen und geschriebenen Deutsch quantitativ außerordentlich differieren. - Bedeutung u n d Funktion der Partikeln. Hier ist ein fast eigenständiger Forschungsbereich entstanden, mit regelmäßigen Kongressen u n d Berichten; ' „Partikeln landauf - landab" (Engel 1993). - Sämtliche K o r r e k t u r - und R e p a r a t u r p h ä n o m e n e im Dialog. - Sprecher- und Hörersignale im Dialog. -Segmentierungsprobleme: Satz versus Außerungseinheit (Rath 1990).
3. Fokusverschiebung in den 80er Jahren 3.1. Zur gesprochenen Sprache In den 80er Jahren fand eine Fokusverschiebung s t a t t : Nach einer phase, in der die gesprochene spräche und deren erforschung absoluten [!, R. R.] vorrang hatte, setzt gegenwärtig [1987!, R. R.] in den Sprachwissenschaften eine umorientierung ein: Schrift und schriftlichkeit sind [... ] nicht mehr länger nur sekundär oder nachgeordnet, sondern werden zum gegenständ intensiven forschens. (Baurmann/Gier/Meyer 1987, 81) Es ist allerdings festzuhalten, daß die gesprochene Sprache als ,neue Invariante' weiter behandelt worden ist, und zwar sowohl in grammatischer wie gesprächsanalytischer Hinsicht. Dabei ist zu beobachten, daß die bereits von Ramge (1977) festgestellte Konvergenz der Forschungsbereiche der G r a m m a t i k u n d der Konversationsanalyse sich weiter entwickelt h a t . Zur Dokumentation (und nicht mehr) sei hier die folgende Auswahl von Monographien bzw. Textbänden aufgeführt:
380
Rainer Rath Henne, H./Rehbock, H. (1979/1982): Einführung in die Gesprächsanalyse. Franck, D. (1980): Grammatik und Konversation. Gaumann, U. (1983): „Weil die machen jetzt bald zu". Angabe- und Junktivsatz in der deutschen Gegenwartssprache. Brons-Albert, R. (1984): Gesprochenes Standarddeutsch. Telefondialoge. Müller, K. (1984): Rahmenanalyse des Dialogs. [...]. Hallberg, P. (1985): Gesprochene Sprache. Gegenstand der Didaktik? Schröder, P. (1985): Beratungsgespräche - ein kommentierter Textband. Willkop, E.-M. (1988): Gliederungspartikeln im Dialog. LöfFelad, P. (1989): Das Adjektiv in gesprochener Sprache: Gebrauch und Funktion [...]. Thurmair, M. (1989): Modalpartikeln und ihre Kombinationen. Zahn, G. (1991): Beobachtungen zur Ausklammerung und Nachfeldbesetzung in gesprochenem Deutsch. 3.2. Zur Schriftlichkeit
Schriftlichkeit jedoch kommt: „Writing in focus", so der Titel eines einschlägigen Sammelbandes von 1983 (Coulmas/Ehlich). Augst/Müller (1986, 407) stellen fest, daß mit Beginn der 80er Jahre „das Interesse an Fragen des Komplexes ,Schrift-Schreiben-Schriftlichkeit' deutlich gewachsen" ist, wobei u . a . auf eine Reihe von Sammelbänden, die aus Fachtagungen hervorgegangen sind, verwiesen wird. Inzwischen sind weitere, zum Teil recht umfangreiche Werke erschienen. Hervorgehoben sei die gut informierende Arbeit von Karin Müller (1990). LiLi, meistens im aktuellen Trend liegend, die Hand am Puls der Wissenschaft, bringt 1985/86 mehrere Themenhefte, die direkt oder indirekt mit der Problematik zu tun haben 6 . Ahnliches in anderen Zeitschriften, etwa OBST H. 36, 1987. Sie zeigen ebenso wie die Arbeiten weiterer ,Trendsetter' (so Karin Müller (1990, 368) mit Bezug auf Kübler 1985, Coulmas 1985 und Feldbusch 1985), daß das T h e m a Schriftlichkeit die Gesprochene-Sprache-Forschung und die Dialoganalyse aus der Mitte verdrängt hat. Obwohl also die geschriebene Sprache der Gegenwart ziemlich gut, zumindest in grammatischer Hinsicht, beschrieben und erforscht ist, beginnt in jüngerer Zeit ein erneuter Boom der Schriftlichkeit.
3.3. Exkurs: Zur Situation in der Lehre 3.3.1. ,Einheit von Forschung und Lehre'? Nach dieser Formel, wenn sie denn Gültigkeit hat, ist zu vermuten, daß ein direkter Zusammenhang zwischen Forschung und Lehre an den Universitäten 6 Vgl. Heft 57/58: Lesen - historisch; Heft 59: Schriftlichkeit; Heft 62: Sprach verfall?, zugegeben etwas entfernter.
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besteht. ,Irgendwie' müßte sich die Forschung in der Lehre wiederfinden lassen, wenn die Lehrenden an den Hochschulen, die zumeist auch die Forschenden sind, die Formel als Handlungsanweisung für ihren Beruf verstehen. Gibt es zu dieser Vermutung eine Alternative? Denkbar wäre, daß heute die Lehre von der Forschung abgekoppelt ist. Was aber wäre das für eine Universität, die ihr Forschungswissen nicht weitergäbe, jedenfalls nicht an die Studierenden? Denkbar ferner: Es besteht zwar ein Zusammenhang, dieser erstreckt sich aber über einen längeren Zeitraum, so daß er in unserem Falle - 20 bis 25 Jahre - nicht nachweisbar wäre. Was aber wäre das für eine Universität, die über Jahrzehnte hinweg die neueren Forschungsschwerpunkte nicht oder nur unvollkommen in die Lehrpläne aufnähme? 3.3.2. Stichprobe Um die Frage des Zusammenhangs in einer ersten Annäherung zu prüfen, habe ich in einer Stichprobe die ,Neuere deutsche Sprachwissenschaft' (als Sammelname für alle germanistisch orientierten sprachwissenschaftlichen Bezeichnungen) untersucht 7 . Es wurden in einer Zufallsauswahl die Vorlesungsverzeichnisse für die Wintersemester 1966/67, 1971/72, 1977/78, 1981/82, 1990/91 der Universitäten Bochum, Bonn, Hamburg, München und Münster ausgewertet (insgesamt 25 Vorlesungsverzeichnisse). Die Zeitpunkte der Semester waren in etwa vorgegeben durch den untersuchten Zeitraum der GesprochenenSprache-Forschung: 1965 bis 1990. Die linguistischen Lehrveranstaltungen wurden nach einer ersten Durchsicht den folgenden zehn Teilgebieten zugeordnet: Sprachgeschichte; gesprochene Sprache; Schreiben/Schriftlichkeit; Einführung in die Linguistik; Grammatik; Semantik/Lexikographie; Textlinguistik; Psycholinguistik; Soziolinguistik; Pragmatik. • Diese Einteilung ist sicher nicht unproblematisch, und andere wären denkbar. Wo bringt man ζ. B. „Generative Transformationsgrammatik" (WS 71/72 Hamburg) oder „Einführung in die Dependenzgrammatik" (WS 81/82 Bonn) unter? Ich habe diese und ähnliche Veranstaltungen der Grammatik (dieses Teilgebiet weit fcissend) zugeordnet. Ebenfalls dorthin: Wortbildungslehre und morphologische Fragestellungen. Bei dieser Einteilung war für mich leitend, daß die Teilgebiete in ihrem Umfang und in ihrer Bedeutung vergleichbar waren (wenn auch nur ziemlich grob). Nur so können Tendenzen (und nicht mehr) erkannt werden. Bei einer ,feineren', möglicherweise sachgerechteren Einteilung wäre der Aussagewert der Zahlen wesentlich geringer und das Ergebnis unübersichtlicher. Der entscheidende Grund aber für diese Einteilung war, daß sich der ganz überwiegende Teil der Lehrveranstaltungen völlig problemlos den angeführten Teilgebieten zuordnen läßt. 7
Es ist eine umfangreichere Arbeit zu dieser Problematik geplant. Aus Zeit- und Platzgründen konnten die Fragen hier nur kurz angesprochen werden. Dies wurde überhaupt erst möglich durch die Mithilfe von Josef Schu und Stephan Stein, denen ich auch für weitere Hilfen herzlich danke.
382
Rainer Rath 3.3.3. Ergebnisse in Zahlen
Rang 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Teilgebiet
Bochum
Bonn
Hamburg
München
Münster
Gesamt
68 32 30 18 8 6 16 4 0
46 37 22 19 18 24 6 12 11
147 44 15 21 38 19 24 10 6
135 81 44 25 2 26 12 22 5
88 96 18 10 16 4 4 2 2
484 290 129 93 82 79 62 50 24
6
2
0
2
8
18
Einführung Grammatik Sem./Lexik. Textling. Sozioling. Pragmatik Sprachgesch. Psycholing. Gespr. Spr. Schreiben/ Schriftlichk.
In die Tabelle sind jeweils die Stundenzahlen pro Universität für die genannten Semester eingetragen. In der ersten Spalte ist die Rangfolge nach der Häufigkeit der angebotenen Lehrveranstaltungen, in der letzten Spalte die Gesamtzahl der Lehrveranstaltungen der fünf untersuchten Universitäten eingetragen. Die Tabelle ist also zu lesen: ,In Bochum sind in den Semestern 66/67, 71 /72, 77/78, 81/82, 90/91 im Bereich der germanistischen Sprachwissenschaft insgesamt 32 Stunden zur Grammatik angeboten worden. Dieses Teilgebiet steht auf Rang 2. Insgesamt sind in Bochum, Bonn, Hamburg, München und Münster 290 Stunden zu diesem Gebiet angeboten worden.'
3.3.4. Bielefeld komplett Da mir dieses Ergebnis hinsichtlich verschiedener Faktoren erstaunlich erschien (s. u.), habe ich, u m zumindest eine bescheidene Absicherung (oder auch nicht!) zu erhalten, die Zahlen für die Universität Bielefeld (wieder zufällig ausgewählt) von ihren Anfängen (1973) bis zur Gegenwart (1993) vollständig aufgeführt. Insgesamt sind 41 Vorlesungsverzeichnisse ausgewertet worden 8 : 1 2 3 4 5 8
Einführung Semantik/ Lexikographie Psycholinguistik Grammatik Pragmatik
424 326 306 299 269
6 7 8 9 10
Textlinguistik Gesprochene Sprache Soziolinguistik Schreiben/ Schriftlichkeit Sprachgeschichte
176 147 134 56 55
Die absoluten Zahlen geben natürlich im Vergleich zu den Zahlen der Stichprobe ein verzerrtes Bild: 25 vs. 41 Semester. Die Stichprobe müBte um den Faktor 1,64 hochgerechnet werden.
Erforschung der gesprochenen deutschen Sprache
383
Prinzipiell ergibt sich - bis auf zwei Ausreißer: Psycholinguistik nach oben und Sprachgeschichte nach unten - in der Rangfolge ein noch vergleichbares Bild. Einführung, Grammatik, Semantik/Lexikographie sind in der Spitzengruppe vertreten, Schreiben/Schriftlichkeit in der Schlußgruppe. Gesprochene Sprache liegt etwas höher gegenüber der Stichprobe. 3.3.5. Problematisierung Daß die Einführungsveranstaltungen am häufigsten vertreten sind, gerade auch in den Wintersemestern, entspricht den Erwartungen. Daß aber die Veranstaltungen zur Grammatik kontinuierlich bis zur Gegenwart (wie die einzelnen Semester zeigen) eine Spitzenposition halten, ist für mich einigermaßen überraschend. Denn Grammatik steht sicher nicht im Forschungsfokus der letzten 20 Jahre, wenngleich sie eine Invariante unseres Faches darstellt. Das gleiche gilt für Semantik/Lexikographie. Am meisten überrascht, daß in der Stichprobe die beiden Gebiete gesprochene Sprache und Schreiben/Schriftlichkeit, im Forschungsfokus der 70er und 80er Jahre stehend, in der Lehre eine untergeordnete (bis keine) Rolle spielen. Grammatik - u m es zu verdeutlichen - wird nach der Stichprobe 12 bis 13 mal häufiger angeboten als gesprochene Sprache. Für Bielefeld trifft dies nicht zu. Hier wird Grammatik doppelt so häufig wie gesprochene Sprache und etwas mehr als fünf mal so häufig wie Schreiben/Schriftlichkeit angeboten. Diese Unterschiede mögen auf zwei Faktoren zurückzuführen sein: Bielefeld ist als ,Forschungsuniversität' gegründet worden. Daher findet die Forschung möglicherweise in der Lehre stärkere Berücksichtigung. Hinzu kommt: Was aus der Forschung in die Lehre übertragen wird, ist - nolens volens - stark personenabhängig: Die Forscherin/der Forscher über gesprochene Sprache wird dieses Gebiet stärker in der Lehre vertreten als ein ihm forschungsfremdes Gebiet. In Bielefeld sitzt ein geballter Sachverstand für gesprochene Sprache! (Fiehler, Gülich, Kallmeyer (zeitweilig), Kindt, Quasthoff, die selbstverständlich auch in weiteren Gebieten forschen!) Wie ist dieses Ergebnis der Stichprobe einzuschätzen (das von Bielefeld im gesamten nicht widerlegt wird, hinsichtlich der gesprochenen Sprache etwas abweicht)? Offensichtlich stimmen die Lehrschwerpunkte mit den Forschungsschwerpunkten an den Universitäten nicht überein. Jedenfalls nicht zeitlich synchron oder fast synchron. Forschen ist eine Sache, Lehren eine andere. Gelehrt werden vorwiegend traditionelle invariante Gebiete der Sprachwissenschaft unabhängig von aktuellen Forschungsfokussierungen. Die Studierenden werden von neueren Forschungsgebieten weitgehend ferngehalten. Möglicherweise werden die neueren Gebiete methodisch noch nicht für lehrbar gehalten. Die Lehre folgt klar einem traditionellen Kanon von Teilgebieten. Dort aber, wo das Neue stärker in den Lehrkanon aufgenommen wird (Bielefeld), tun dies die Personen, die sich auch in der Forschung damit beschäftigen. - Nächstens mehr.
384
Rainer Rath 3.4. Neue Gebiete
Bereits in den 70er Jahren haben sich neue Forschungsgebiete entwickelt, die unmittelbar mit gesprochener Sprache zu tun haben. Betten (1978, 36 ff.) nennt Therapiegespräche und Interaktion in der Schule. Weiterhin hat sich das Gebiet entwickelt: Sprache in Institutionen (vgl. Becker-Mrotzek 1990/1991). Ganz wesentliche Neuentwicklungen (teils schon in den 70er Jahren) stellen die linguistische Erzählforschung und die Erforschung des ungesteuerten Spracherwerbs dar. In diesen beiden Bereichen werden Charakteristika der gesprochenen Sprache ebenso berücksichtigt wie interaktionelle Fragen im Gespräch. Denn diese 'beeinflussen - je unterschiedlich - den Spracherwerb und den Erzählverlauf. Beide Bereiche sind verbunden in der kürzlich erschienenen Monographie von Schu 1994. Die bis 1992 erschienene Literatur wird hier aufgearbeitet. Die Entwicklung dieser beiden Forschungsbereiche gehört zu den wichtigsten Konsequenzen, die sich aus der Beschäftigung mit der gesprochenen Sprache ergeben haben 9 .
4. Schriftlichkeit versus Mündlichkeit 4.1. Problematik Man sollte nun meinen, es fänden in den 80er Jahren Diskussionen statt, die einerseits die vorliegenden Ergebnisse der schriftsprachlich orientierten Grammatikforschung theoretisch fundierten, zumindest aber in die Untersuchung einbezögen, und die andererseits auf breiter Materialbasis - also empirisch fundiert - gesprochene und geschriebene Sprache miteinander verglichen. Diese Diskussionen haben bisher systematisch nicht stattgefunden. Statt dessen hat sich die Diskussion auf sehr grundsätzliche (zuweilen philosophische) Fragen verlagert (oder sollte man besser sagen: verengt?). Insbesondere wird immer wieder erörtert, ob gesprochene und geschriebene Sprache zwei verschiedene Systeme darstellen. Das Stichwort lautet ,Systemdebatte' 10 . Die Diskussion kreist im wesentlichen um folgende drei Hypothesen: - Abhängigkeitshypothese. Die „geschriebene Sprachform (ist) wesentlich von der gesprochenen Sprachform determiniert" (Glück 1987, 57). 9
Dabei ist daran zu erinnern, daß bereits 1967 in den USA aus ganz anderer wissenschaftlicher Tradition mündliche Erzählungen behandelt worden sind. Vgl. Labov/Waletzky 1967; Sacks 1971. Für den Bereich der linguistischen Erzählforschung wird auf die zahlreichen Arbeiten von Quasthoff verwiesen; zum ungesteuerten Spracherwerb vgl. Klein 1984 und Kutsch/Desgranges 1985. io Vgl. hierzu u. a.: Steger 1967, 1971, 1987; Rath 1979,1985; Klein 1985a, 1985b; Feldbusch 1985,1989; Günther/Günther 1983; Glück 1987; Nerius 1987; Coulmas 1985; Müller 1990. Dies ist nur eine kleine Auswahl aus dem „fast unübersehbaren Wust" (Glück 1987, 97) der Literatur zu diesem Problem.
Erforschung der gesprochenen deutschen Spruche
385
- Autonomiehypothese. Es bestehen keinerlei Abhängigkeiten: Die Schriftsprache stellt ebenso wie die gesprochene Sprache ein autonomes System dar. - Interdependenzhypothese. Gesprochene und geschriebene Sprache stellen zwei gleichberechtigte, in vielen Punkten übereinstimmende Existenzformen von ,Sprache' dar, die sich wechselseitig beeinflussen 11 . Andere Fragestellungen im Bereich der deutschen Sprache der Gegenwart spielen in der Systemdebatte kaum eine Rolle. Dabei liegt, so läßt sich vorgreifend sagen, bis jetzt für das Deutsche kein umfassender Vergleich geschrieben/gesprochen vor. Viele Einzelaspekte sind kontrastiv untersucht worden, zuweilen aber nur mit mäßigem Erfolg, wenn nämlich gesprochene Sprache zunächst von ,Fehlern gereinigt' und anschließend mit geschriebener Sprache verglichen wird (etwa Leska 1965 und Jecklin 1973). Typisch für Ergebnisse dieser kontrastiven Untersuchungen ist die Feststellung unterschiedlicher Gebrauchshäufigkeiten in geschriebener und gesprochener Sprache. 4.2. Systemdebatte Sie kann hier nur exemplarisch und ausschnitthaft besprochen werden. Hugo Steger ist einer der ersten (und letzten), die sich zu diesem T h e m a geäußert haben. Im Rahmen der Etablierung der Gesprochenen-Sprache-Forschung hat er sich 1967 zunächst ziemlich zurückhaltend geäußert. Später, in der Einleitung zum ersten Textband der Freiburger Forschungsstelle, heißt es: Im Bereich des grammatischen Systems werden die spezifischen Besonderheiten der gesprochenen deutschen Standardsprache gegenüber dem System des geschriebenen Deutschen, soweit man bisher sehen kann, nicht grundstürzend sein (Texte I, 1971, 11; Hervorhebung dort). 1987 hat sich Steger unter Einbeziehung der neueren Schriftlichkeitsforschung (Autonomiehypothese) erneut mit dieser Frage beschäftigt. Auf der Grundlage zum Teil manipulierter Texte von spontan gesprochen bis standardsprachlich geschrieben bekräftigt er seine bisherige Auffassung 1 2 . Als Fazit bleibt für ihn bestehen: Eigene Sprachvarietäten: gesprochene Sprache' vs. geschriebene Sprache' gibt es nicht, wenn man als Kriterium, wie bei den anderen Varietäten den langueBegriff benutzt und nach jeweils eigenen, nicht im anderen Medium zulässigen Strukturmitteln und Relationen fragt. Die heutigen Differenzierungen zwischen gesprochenen und geschriebenen Texten der deutschen Standardsprache sind als Abwahlregularitäten erklärbar. [...] n Klein 1985b, 11 f. weist meines Erachtens zu Recht daraufhin, daß diese Fragen prinzipiell nur einzelsprachlich diskutiert werden können. 12 Die maßvolle Kritik an der Manipulation der Texte, die Müller (1990, 414) übt, ist meines Erachtens berechtigt.
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Rainer Ruth Die Unterschiede werden [... ] konstituiert als Typisierungen auf der Ebene der Situationen und Texte und sind damit Stil (Steger 1987, 57).
Eine entschieden andere Ansicht vertritt (seit 1985 und danach öfter) Elisabeth Feldbusch. Ein Zitat aus ihrer Habilitationsschrift belegt dies: Die vorliegende Arbeit begreift das Geschriebene wie auch das Gesprochene als jeweils eine in System und Funktion eigenständige Existenzform der Sprache, bedingt durch [lies: durch die] und wirksam in der sie umfassenden Realität. Sie geht von der Tatsache aus, daß das Geschriebene sich entgegen allen Behauptungen der opinio communis in der Sprachpraxis als wesentlicher Bestandteil jeder wissenschaftlichen Untersuchung von Sprache erweist [...] (Feldbusch 1985, 65). Die Existenz von gesprochener Sprache wird damit nicht „übergangen", auch „die vielfältigen Beziehungen zwischen den beiden Existenzformen" werden nicht bestritten. Aber: „Für die Wesensbestimmung der geschriebenen Sprache ist das Verhältnis zum Gesprochenen jedoch weder eine zentrale Thematik noch gar ihr Ausgangspunkt" (Feldbusch 1985, 65). Mit dieser extremen Auffassung läuft die Verfasserin „Gefahr, im Zuge ihrer Propagierung einer absoluten Eigenständigkeit der geschriebenen Sprache die gemeinsame Basis beider Existenzformen aus dem Blick zu verlieren, wenn sie für beide ein eigenständiges System reklamiert." (Augst/Müller 1986, 409, Hervorhebung dort). Eine wesentlich zurückhaltendere Position als die von Feldbusch nimmt der ,Skriptizist' Coulmas (1985, 95) ein; obwohl für ihn ,Schrift' ein eigenständiger, überaus wesentlicher Gegenstand der Sprachwissenschaft ist, räumt er als mögliche Sichtweise ein, „daß eine Kompetenz sowohl mündlicher als auch schriftlicher Performanz zugrundeliegt" (1985, 96) 1 3 . Die Unterschiede liegen für ihn auf der Ebene von „Varietäten": Grammatische Unterschiede kann man auch zwischen geschriebenen und gesprochenen Varietäten nicht-diglossischer Sprachen beobachten. Ich meine damit nicht Anakoluthe, die in der gesprochenen Sprache oft vorkommen, aber leicht als Performanzdefekte gekennzeichnet werden können, sondern Strukturen, die in der gesprochenen Sprache benutzt und akzeptiert werden, in der geschriebenen aber als abweichend gelten, wie ζ. B. die Verbindung einer nebensatzeinleitenden Konjunktion mit einem Hauptsatz: Ich will mir noch die Zeitung kaufen, weil da soll ein Leserbrief von Dieter drinstehen. Andere Konstruktionen sind nicht ausschließlich auf die gesprochene oder geschriebene Sprache beschränkt, aber es gibt bezüglich ihrer große Unterschiede in der Vorkommenshäufigkeit. Passivkonstruktionen sind im Deutschen beispielsweise in der Schriftsprache häufiger (Coulmas 1985, 106). Varietäten, Vorkommenshäufigkeiten: Dies klingt nicht nach großen Systemunterschieden. Das genannte Beispiel ist wenig überzeugend als Beleg für solche Unterschiede 1 4 . Ahnliches gilt für die entsprechenden Beispiele bei Wolfgang 13
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Hervorhebung dort. Er nennt dies: „Naives Modell des Zusammenhangs von gesprochener und geschriebener Sprache" (Coulmas 1985, 96). Kübler 1985, 355 nennt diese „Spuren der mündlichen Erstproduktion [ . . . ] in vielem
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Klein (1985b, 25 iF.): Einen Bleistift brauche ich keinen. - Meinem Vater sein Haus. - Weil das weiß ich nicht. Eine Sichtung der weiteren Literatur ergibt: Sie läßt sich unter die bisher besprochenen Positionen einordnen. Sie bringt hinsichtlich der Systemdebatte keine anderen Erkenntnisse. Zu den genannten Beispielen, die von den Vertretern der ,zwei Systeme' beigebracht werden: Ihre geringe Zahl und ihre immer wiederkehrende Struktur weisen deutlich auf einen Erklärungsnotstand hin. Sie sind meines Erachtens auch anders zu bewerten. Sie könnten beispielsweise als syntaktische Idiosynkrasien eingestuft werden, die in den Systemen aller Sprachen eine Rolle spielen und nicht mit dem allgemeinen Regelinventar erfaßbar sind. Eine weitere Möglichkeit, mit den wenigen Fällen fertig zu werden, wird von Klein selbst angedeutet: Sie seien „von den normativen Grammatiken nicht oder noch nicht [!, R. R.] geduldet" (1985b, 25). Typische Konstruktionen der gesprochenen Sprache auf dem Wege zur Anerkennung als Standard?
5. Fortschritte in der Forschung? 5.1. Wie kommt es zur Fokusverschiebung? Seit Jahrzehnten oder fast seit einem Jahrhundert ist es der Sprachwissenschaft aufgegeben, die deutsche Orthographie, wie sie seit 1902 besteht, zu verändern, zu vereinfachen, zu reformieren. Es ist hier nicht der Platz, die unsägliche, bis in die jüngste Zeit anhaltende Debatte über eine Reform um ein weiteres Statement zu vermehren. Nur ein Satz: Für mich das größte Ärgernis: die gelenkte und geballte Inkompetenz, mit der Politiker und vor allem Journalisten und ihre claqueurenden Leserbriefschreiber eine sachliche und faire Auseinandersetzung verhindert haben (vgl. die Dokumentation von Zabel 1989). Seit Mitte der 70er Jahre wird darüber wissenschaftlich und linguistisch begründet diskutiert. Es besteht heute kaum noch ein Zweifel, daß die Veränderung orthographischer Systeme nur auf sprachwissenschaftlicher Grundlage Sinn macht (Äugst 1974; 1985; Eisenberg 1983; Glück 1987, 52-59). Schriftlichkeitsdiskussion und Orthographiedebatte werden zum Teil von denselben Autoren und Autorinnen geführt, sicher ein Anzeichen dafür, daß der Fokuswechsel mit der Orthographiedebatte in einem direkten Zusammenhang steht. Anders formuliert: Die inzwischen in der Sprachwissenschaft weitgehend geteilte Ansicht über die Notwendigkeit einer Reform der deutschen Gedruckten" - auch die obige Wortstellung - „Prädikate eines zeitgemäßen Stils". Vgl. auch Gaumann 1983, 153. Sie stellt für Nebensätze fest: „Zunehmend findet sich die Verbzweitstellung auch in schriftlich realisierten Texten. Hierbei handelt es sich zum einen um Texte moderner Prosa [...], zum anderen um solche Texte, die im weiteren Sinne der Textsorte Feuilleton zuzurechnen sind. Vor allem Texte der kommerziellen Werbung spielen eine zunehmend größere Rolle bei der Verbreitung des Zweitstellungstypus." (Hervorhebung dort)
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Orthographie (strittig ist der Umfang) und die Bildung von Kommissionen zur Erarbeitung von Reformvorschlägen sind gute Voraussetzungen dafür gewesen, daß sich eine Schriftlichkeitsforschung etablieren konnte. Einmal in Gang gekommen, entwickelte diese Diskussion eine Eigendynamik, die den Fokuswechsel beschleunigte. Hervorzuheben ist noch folgender Umstand: Die Beschäftigung mit der gesprochenen Sprache hat paradoxerweise mit dazu geführt, auch Schriftlichkeit und Schrift stärker in den Blick zu bekommen. Nachdem die Probleme spontan gesprochener Sprache im Blickfeld waren, war es kein weiter Weg, über Semioralität und „fingierte Mündlichkeit" zur Schriftlichkeit, oft mit kontrastivem Blick, zu gelangen 15 . Nachdem die ersten Sammelbände erschienen waren, Kolloquien und Kongresse (ab 1980 ff.) stattgefunden hatten, steht seit Mitte der 80er Jahre Schriftlichkeit im Fokus der Sprachwissenschaft 16 . „Herausragender Indikator für diesen ,trend in linguistics' ist [... ] die kaum noch überschaubare Fülle von Publikationen zu diesem Themenkomplex." 17 5.2. Weitere Erklärungsversuche (individuelle Gründe) Gibt es überhaupt allgemeine Erklärungen für Fokuswechsel dieser Art? Sind es willkürliche Erweiterungen, Hinzufügungen, etwa in dem Sinne: Sprachwissenschaftler auf der Suche nach neuen Themen, vor allem nach solchen Themen, mit denen sich „die von Politik und Öffentlichkeit mittlerweile gebeutelte Germanistik" (Kübler 1985, 339) legitimieren kann? Handelt es sich um Fortschritte' in der Wissenschaft? Ich denke, daß Begriffe dieser Art den Sachverhalt nicht treffen. Für die Naturwissenschaften nimmt Thomas Kuhn derartige Begriffe in Anspruch (1976, vgl. besonders 171 ff.). Allerdings untersucht er is Gründung des Sonderforschungsbereichs 321 Freiburg ,Ubergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit' 1985. 16 Vgl. zum gesamten Gebiet der Schreibforschung die ziemlich vollständige, allerdings additiv-taxonomische Darstellung von Antos 1989. 17 Müller 1990, 1. Der in einigen Varianten in vielen Arbeiten auftretende Topos der Unübersichtlichkeit der Literatur spiegelt u.a. den immer stärker werdenden Druck auf die nachwachsende wissenschaftliche Generation wider, sich ,umfangreich' qualifizieren zu müssen, um einen der wenigen begehrten Dauerarbeitsplätze an der Universität zu erobern. Es ist ein Teufelskreis: Die Universitäten werden immer größer; damit steigt auch die Zahl des wissenschaftlichen Nachwuchses - ein Ergebnis ist: der einschlägige Topos. Es ist äußerst unbefriedigend - auch für den, der eine Stelle' erobert hat dauernd im Gefühl zu schreiben, dafi eigentlich schon längst alles aufgeschrieben ist, man hat es nur nicht finden können, weil der „Wust" (Glück) nicht zu bewältigen war. Wie aber ist dies zu ändern? Obligatorische Kürze verlangen? Vollständige Bibliographien in Auftrag geben? Inanspruchnahme aller technischen Mittel, um systematische und fachlich gegliederte Forschungsberichte vorzulegen? Verbindliche Programme zur Forschungsrichtung, -Sicherung und -Steuerung entwerfen? Ein Aufschrei ginge durch die Menge: Die akademische Freiheit . . . Wir alle stehen dieser Entwicklung ziemlich hilflos gegenüber! Vgl. die Forderungen von Klein 1993, 47ff., die sich teilweise mit meinen Fragen überschneiden. Ein wichtiges (resignatives) Resümee: Forschungskoordinierung bei Sprachwissenschaftlern geht nicht: „dazu sind sie zu sehr Geisteswissenschaftler." (1993, 49).
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über die Jahrtausende hinweg die Veränderung der physikalischen Weltbilder des Menschen. Der Blick hingegen auf 30 Jahre Sprachwissenschaft in der dazu noch verengten Perspektive ,Schicksal der Gesprochenen-Sprache-Forschung 1 bringt einen anderen Befund zum Vorschein. Das Gebiet ist erweitert worden, an der Erweiterung waren externe (Orthographiediskussion) und interne (Interessenwechsel und Erschließung neuer Gebiete) Faktoren beteiligt 1 8 . Nicht zu unterschätzen sind in diesem Zusammenhang ,Interaktionen', die konventionell als schulenbildend bezeichnet werden. Wenn die richtige Frau oder der richtige Mann am rechten Ort und zum passenden Zeitpunkt die richtige Arbeit veröffentlicht, kann damit eine Kettenreaktion ausgelöst werden (natürlich in den der Wissenschaft gemäßen Zeitabständen). Die ,Trendsetter' und die wissenschaftlichen Meinungsmacher veranstalten Kongresse, geben Sammelbände heraus - der wissenschaftliche Nachwuchs findet hier ein profilverheißendes Arbeitsfeld. Wenn man sich im konkreten Fall die Erscheinungsdaten der Literatur zur Schriftlichkeitsdiskussion ansieht und verfolgt, wer auf wen folgt und wer wem antwortet, kann man auf gewisse personelle Dependenzen und Interdependenzen schließen. Am Ende haben wir es nicht mit einem Paradigmenwechsel im Sinne Kuhns zu tun, obwohl seine Charakteristik des Mechanismus eines Paradigmenwechsels auch auf den eines Fokuswechsels zutrifft: Ein Paradigma regiert zunächst nicht einen Gegenstandsbereich, sondern eine Gruppe von Fachleuten. Jede Untersuchung paradigma-gelenkter oder paradigma-zerstörender Forschung muß mit der Lokalisierung der verantwortlichen Gruppe oder Gruppen beginnen (Kuhn 1976, 191). Ehlich (1986, 74) vergleicht den Umstand wechselnder Themen in der Sprachwissenschaft mit Konjunkturen, „die noch weniger durchsichtig sind als die der Ökonomie". Und in der Tat, es ist nicht immer einfach, die „Lokalisierung der verantwortlichen Gruppe" verbindlich zu zeigen. Es ist ziemlich klar, daß der Fokuswechsel nicht einem wohlkalkulierten Programm folgt oder entspricht. Er ist an Einzelpersonen gebunden, die in schulenbildender Tradition stehen; vor allem sind Zufälligkeiten der Entwicklung 1 nicht auszuschließen: Bestimmte Vorlieben einzelner Forschenden oder Gruppen prägen wesentlich den Wandel, oft in Verbindung mit externen, gesellschaftlichen Einflüssen wie etwa der Orthographiediskussion.
is Klein 1993, 43 nimmt (ζ. B.) für die Biologie Erkenntnisfortschritte an, „nicht aber beispielsweise für die Philosophie". Auf einen einfachen Gegensatz gebracht: Neue Ergebnisse ersetzen alte vs. neue Ergebnisse treten zu alten hinzu. Widerlegung vs. Ergänzung. Für die germanistische Sprachwissenschaft nimmt Klein Erkenntnisfortschritte im Sinne von Widerlegung alter Erkenntnisse an. Allerdings nur „schulen-intern" (45). Dabei gelte: Die Ergebnisse sind entweder neu, aber unverständlich (außer für ,die Wissenden'), oder verständlich, aber bereits bekannt. Wo liegt der Fortschritt?
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Rainer Rath 6. Wie kann es mit der Erforschung der gesprochenen deutschen Sprache weitergehen?
Zu sagen: ,Es tröpfelt noch' wäre angesichts der oben zitierten neueren Monographien (und der nicht zitierten zahlreichen Aufsätze) sicher eine Untertreibung. Andererseits zeigen aber gerade die neuesten Arbeiten (etwa Zahn 1991) in ihrer Literaturdiskussion, daß die 70er Jahre für die Erforschung der gesprochenen Sprache weit ertragreicher waren als die 80er. Wollte man unser Thema über den eingeschränkten wissenschaftlichen Rahmen hinaus bekannt machen (etwa im gesamten Bildungsbereich) als ein überaus reflexionswürdiges Objekt, das den gesellschaftlichen Verkehr auf sehr vielen Ebenen wesentlich prägt, dann müßten folgende Fragen bearbeitet werden: - Korpus: Nach wie vor ist man für die Untersuchung gesprochener Sprache auf das (mit Tonträgern) publizierte Freiburger Korpus angewiesen (das bekanntlich auch seine Schwächen hat). An ihm sind viele wichtige Erkenntnisse gewonnen worden (so zuletzt über Ausklammerungen in gesprochener Sprache, Zahn 1991), aber es ist keineswegs repräsentativ für alle gesprochensprachlichen Aspekte. Es müßten für weitergehende Untersuchungen Korpora publiziert werden. Klein (1993, 49) beklagt, daß viele Korpora „angelegt und dann vergessen werden", „Datenfriedhöfe", die keinem nutzen. Eben, weil sie nicht zugänglich sind. (Hier müßten von projektbewilligenden Stellen programmatische und verbindliche Auflagen gemacht werden!) Obwohl die Notwendigkeit von publizierten Korpora einschließlich Tonträgern schon vor über zehn Jahren angemahnt worden ist (Rath 1981), hat sich an der empirischen Situation nicht viel geändert: „Im übrigen aber werden die mühselig erhobenen und mit endlosem Fleiß transkribierten Daten irgendwo gebunkert, wo niemand sie je wieder zu Augen bekommt" (Klein 1993, 49). Wer aber finanziert gegenwärtig eine solche Aufgabe? - Handbuch: Es fehlt das ,Große Handbuch zur gesprochenen Sprache und zur Dialogforschung1, auch das ein Unternehmen, das über die Kraft eines einzelnen hinausginge. Die bisherigen Forschungen - heterogen, verzweigt, wenig aufeinander bezogen, disparat - müßten zusammengebracht werden zu einer ,Grammatik des gesprochenen Deutsch' und einem ,Regelbuch der Gesprächsanalyse' , um Studierenden, Schülerinnen und Schülern sowie Lehrenden an Universitäten und Schulen, aber auch Nichtmuttersprachlern ein übersichtliches, einfaches und verläßliches Werk an die Hand zu geben, vergleichbar mit den (fast im Uberfluß vorhandenen) Grammatiken der deutschen Schriftsprache. Viele, wenn nicht die meisten Charakteristika des Gesprochenen sind bekannt: Von ersten Versuchen abgesehen, diese aus allgemeinen Gesichtspunkten der Existenzform gesprochene Sprache' abzuleiten (etwa Klein 1985b), stehen sie relativ isoliert und sind nur partiell erklärt. - Verbindung von Forschung und Gesellschaft: Schließlich sollten Forschungsergebnisse aus dem Bereich Gesprochene-Sprache- und Dialog-Forschung die Universitäten und Forschungszentren verlassen. Dazu wäre zunächst
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erforderlich, daß sie erst einmal systematisch (und nicht nur individuell und personenbezogen, vgl. obige Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse) Eingang in die universitäre Lehre finden. Weiterhin müßten diese Ergebnisse gezielt vereinfacht werden, damit sie auch von Nichtexperten überhaupt zur Kenntnis genommen werden können. Die bekannte Lieschen-Müller-Variante der Kritik im Zusammenhang mit Vereinfachungen ist mir ebenso bekannt wie die Rede von schrecklichen Vereinfachern': Aber wollen wir uns denn ewig im Elfenbeinturm unserer verdrehten Terminologie, der formalen Uberzogenheit und der fremdwortüberladenen Forschungstradition der Moderne verstecken? Dies hieße dann auch, nach dem grandiosen Scheitern der Chomsky-Bäumchen in unseren Deutschlehrwerken erneut den Versuch zu unternehmen, Forschungsergebnisse über die Sprache unseres Alltags durch die Schule und ihr Umfeld in unseren Alltag zu transportieren, sie nutzbar zu machen, wie es von Ramgefür ,Alltagsgespräche' (1978) begonnen worden ist. Dies in einer offenen, geplanten und exemplarischen Zusammenarbeit mit den Lehrern, die ja letzten Endes unsere Schüler waren! Die alltägliche Praxis der Interaktion durchschaubar für normale Menschen zu machen, diese Praxis damit auch zu verbessern: Auch darin sehe ich die Zukunft der Gesprochenen-Sprache-Forschuiig. Literatur Antos, Gerd (1989): Textproduktion: Ein einleitender Uberblick. In: Antos, Gerd/ Krings, Hans P. (Hgg.): Textproduktion. Ein interdisziplinärer Forschungsüberblick. Tübingen, 5-57. Äugst, Gerhard (1974): Die linguistischen Grundlagen der Rechtschreibung und Rechtschreibreform. In: Äugst, Gerhard (Hg.): Deutsche Rechtschreibung mangelhaft? Materialien und Meinungen zur Rechtschreibreform. Heidelberg, 9-47. Äugst, Gerhard (1985): Regeln der deutschen Rechtschreibung vom 1. Januar 2001. Entwurf einer neuen Verordnung zur Bereinigung der Laut-BuchstabenBeziehung. Frankfurt a. M. Äugst, Gerhard/Müller, Karin (1986): Rezension zu: Elisabeth Feldbusch: Geschriebene Sprache. Untersuchungen zu ihrer Herausbildung und Grundlegung ihrer Theorie. In: WW, 407-411. Baurmann, Jürgen/Gier, Eva-Maria/Meyer, Margret (1987): Schreibprozesse bei kindern - eine einzelfallstudie und einige folgerungen. In: OBST 36, 81-109. Becker-Mrotzek, Michael (1990/1991): Kommunikation und Sprache in Institutionen. Ein Forschungsbericht zur Analyse institutioneller Kommunikation. Teil I: Sammelbände mit Arbeiten zur Kommunikation in Institutionen und Monographien zu Beratungen in Institutionen. Teil II: Arbeiten zur Kommunikation in juristischen Institutionen. Teil III: Arbeiten zur medizinischen und schulischen Kommunikation. In: Deutsche Sprache 1990, 158-190 u. 241-259; 1991, 270-288 u. 350-372. Behaghel, Otto (1899): Geschriebenes Deutsch und gesprochenes Deutsch. In: Beihefte zur Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins, 3. Reihe, 213 ff.
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Pathos Vorläufige Überlegungen zu einer verpönten Kommunikationshaltung 1. Vorsatz Sofern sich der Adressat dieser Zeilen seiner frühen Jahre erinnert, der Zeit des Aufbruchs, der Hoffnungen und der Ängste, der Zeit fruchtbarster Arbeit und unbeschwertester Geselligkeit, so . . . Man könnte natürlich auch einfach sagen: Wenn Hugo Steger sich an seine Erlanger Assistentenjahre erinnert, wo viel gearbeitet, aber auch viel gelacht wurde, dann . . . . . . wird ihm auch einfallen, daß in der Erlanger Seminarsprache 1 der Stil des Eingangssatzes dieses Aufsatzes mit dem Wort wölben gekennzeichnet worden wäre. Wölben: Das meinte unangemessen große Worte, hoher Stil, anspruchsvolles Gehabe. Man distanzierte sich so von etwas, das man normalerweise als Pathos bezeichnen würde, freilich nicht mittels unmittelbarer Abwertung (Schwulst, hohle Phrasen), sondern mittelbar, indem man den ganzen Vorgang ironisierte. Andererseits: Selbst er, der Adressat, wirklich nicht der Pathetik verdächtig, hielt es für angemessen, folgenden Satz zu veröffentlichen: „So mag es berechtigt erscheinen, ihm (i.e. Ernst Schwarz) diese Blätter verehrungsvoll zu widmen" (Steger 1961, 225). ,Aus gegebenem Anlaß', z.B. zum 65. Geburtstag, ist eben ein gewisses Pathos nicht nur erlaubt, sondern durchaus am Platz. Wenn es fehlt, ,fehlt einem etwas', und zwar meistens zweierlei: die angemessene Würdigung des gefeierten Gegenstands und die gemeinschaftsfördernde Wirkung, die dem Pathos offensichtlich innewohnt. Auf Befragen gesteht jeder dem Pathos seinen Platz im kommunikativen Gefüge der Gesellschaft zu, die meisten geben ihre eigene gelegentliche Anfälligkeit dafür zu, und dennoch stehen Wort und Sache im Geruch des Abwegigen und tunlichst zu Vermeidenden. Dem mag es zuzuschreiben sein, daß es auch keine einzige neuere, schon gar keine linguistische Untersuchung dazu gibt 2 , was angesichts der wichtigen Rolle von Pathos in zentralen Lebensbereichen des Alltags, Religion, Justiz, 1
2
Eine manierierte, ironische und sehr exklusive Gruppensprache am Erlanger Deutschen Seminar in den frühen 60er Jahren (vgl. Steger 1964). Es gibt die alte poetologische Abhandlung von Emil Staiger (1944) und einige wenige Darstellungen pathetischen Sprachgebrauchs einzelner Schriftsteller, Schiller, Karl Kraus
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öffentliche Veranstaltungen, private Feiern doch erstaunt. Zieht man darüber hinaus die konstituierende Bedeutung des pathetischen Gestus in allen Sparten der Kunst, auch in ihren trivialen Ablegern, in Betracht, dann ergibt sich doch ein ganzes Bündel von bislang unbeantworteten Fragen: Was ist überhaupt Pathos? Wann und wozu wird es eingesetzt? Welche Wirkungen kann man damit erzielen? Kann man seine Mittel beschreiben? Und: Warum überlebt es trotz aller Desavouierungen und Pejorisierungen? Einige umrißhafte und sehr vorläufige Gedanken dazu sollen hier vorgestellt werden, wo Anlaß und Textsorte eine gewisse pathetische Gestimmtheit zumindest nicht verbieten. 2. Die semiotische Struktur Die intuitive Einsicht, mit Ironie schaffe man Distanz, mit Pathos Identifikation, weist zwar den beiden Phänomenen eine kategoriale Verwandtschaft zu, führt aber sonst nicht sehr weit. Weiß man doch nicht genau, wovon man sich distanziert und womit man sich identifiziert, dem geäußerten Sachverhalt, dem Kommunikationspartner oder gar etwas/jemand drittem. Es scheint daher angebracht, zunächst einfach zu untersuchen, wie sich pathetische Äußerungen von ,normalen' unterscheiden. 2.1 Die Doppelstruktur des pathetischen Zeichens Pathos erkennt man. Nicht alle erkennen es, und nicht immer erkennt man es. Auch der Effekt ist unterschiedlich, die einen finden es angemessen, die anderen nicht. Man selbst ist mal mehr, mal weniger pathetisch disponiert. Dies alles zugestanden, ist doch nicht zu leugnen, daß man irgendworan merkt, wenn ein anderer pathetisch ist oder geworden ist. Das muß an der Wirkung oder an der Erscheinungsform liegen, an den semiotischen Mitteln, und die müssen prinzipiell beschreibbar sein. Zu Beginn empfiehlt es sich, an einige Situationen oder Textstellen zu erinnern, deren Pathos niemand bestreiten würde 3 : John Maynards Tod: Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt. Gerettet alle. Nur einer fehlt. - Sheriff Karies Blechstern fällt in den Staub - Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot . . . - Flagge und Nationalhymne für das Siegertreppchen - Der Lord läßt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich - Der Kinderwagen auf der Treppe von Odessa - Ein Schwert verhieß mir der Vater - Scarlett vor dem glühenden Himmel von Tara
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u . a . Von linguistischer Seite sind Teilaspekte ins Blickfeld geraten, etwa die religiöse Sprache (vgl. Steger 1987). Bezeichnenderweise gibt es zum kategorial vergleichbaren Phänomen der Ironie viele ausführliche und ergebnisreiche Untersuchungen (vgl. zusammenfassend Rosengren 1986). Methodisch habe ich mich gelegentlich an die Ironiediskussion angelehnt. Für die gegenwärtigen Ausführungen ist es zweitrangig, ob man das jeweilige Pathos akzeptiert oder ablehnt.
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-Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke, von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebete, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf... - Das Orchestertutti zu den Worten „Und es ward Licht" in Haydns Schöpfung - . . . hat sich um das Vaterland verdient gemacht - Veni, Vidi, Vici. Aber auch: Und so erheben wir denn das Glas ... Und sogar: Happy birthday to you ... Gemeinsam ist allen Beispielen, daß klar zwei sich überlagernde Bedeutungsschichten auszumachen sind. Da ist zunächst die Schicht der normalen Handlung, bzw. Äußerung: Ein Rangabzeichen fällt zu Boden, jemand berichtet von der Abreise eines englischen Würdenträgers, oder es fordert jemand zum Trinken auf. Vermittels bestimmter Mechanismen aber erhalten diese (Sprach)Handlungen eine paradigmatische Überhöhung, den pathetischen Gestus, daß sie mehr bedeuten als sich selbst. Freilich kein eindeutiges ,Mehr': John Maynard ist nicht nur eine Allegorie des sich in Pflichterfüllung Opfernden, sein Tod ist gleichzeitig ein Fanal für soziale Verbundenheit, eine Mythisierung des Alltäglichen, ein Triumph des Menschen über die Maschine und wohl noch vieles andere. Der fallende Sheriffstern ist Zeichen für Resignation und Verachtung, für Unverläßlichkeit von Freundschaft, ein Appell an Solidarität, auch ein Sieg des Privaten über das Amtliche. Es handelt sich in dieser zweiten Schicht also um keine klar umrissene Bedeutung, nicht einmal um solche, die über Konnotationen beschreibbar wäre, sondern um ein unscharfes Bedeutungskonglomerat. Dafür gibt es im Deutschen den Begriff der ,Bedeutsamkeit' 4 . Darüber hat W. Dilthey (1944, 235) ausführlich gehandelt. Bedeutsamkeit entsteht, wenn Teile eines Ganzen eben dieses Ganze repräsentieren, indem sie über sich und ihre Partiellität hinausweisen, ein Zusammenhang mit dem Ganzen aber (noch) nicht explizierbar ist. Herstellbar ist dieses Verweisgefüge freilich nur für den, der eine Ahnung vom Ganzen und seinem Wert hat. Husserl (1913, §24f.) geht noch einen Schritt weiter, indem er die Bedeutsamkeit als von „hinsichtlich der Bedeutung schwankenden und wesentlich okkasionellen und vagen Ausdrücken" konstituiert sieht: Der subjektive Aussagewert reicht weiter als der objektive. Zwei wichtige Wesensbestimmungen des Pathetischen resultieren aus diesem Befund. Wo - nach Dilthey - ein Teil das Ganze repräsentiert bzw. evoziert, verliert er seinen Ausschnittcharakter, den Eindruck bloßer Funktionalität, wird somit Träger eines Sinns, den eigentlich nur das Ganze haben 4
Im Augenblick, wo die zweite Schicht zu konkretisierbarer Bedeutung wird, also ζ. B. bei der Flagge für eine Nation, beim Kruzifix für Christentum usw., paßt der Begriff ,Bedeutsamkeit' nicht. So ist ζ. B. eine Nationalflagge als solche keineswegs pathetisch, sondern ein dingliches Symbol, das seinerseits zur pathetischen Semiose herangezogen werden kann.
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kann. Umgekehrt wird das Ganze aus seiner Unüberschaubarkeit ins Absehbare, aus der Vagheit des Ideellen in die Konkretheit des sinnlich Manifesten überführt. Nicht zufällig münden idealistische Dramen und Balladen in den pathetischen Gestus, auf daß sich das Ganze von Handlung und Idee nochmals zum einprägsamen Bild fokussiert. Und ebensowenig zufällig sind die religiösen und gesellschaftlichen Rituale grundsätzlich einem Zentrum angelagert, wo das jeweilige Ideengebäude in einer herausgehobenen, manifesten Einzelhandlung pathetisch aufgipfelt. Sei es Taufakt oder Wandlung, sei es Urteilsspruch oder Eröffnungformel, Ernennungsurkunde oder Geburtstagshymne: Immer bündelt sich die Gesamtbedeutung in der pathetisch überhöhten b e d e u t s a m e n ' Teilhandlung. Der Husserlsche Hinweis auf den Überhang des Subjektiven über das Objektive kann die eigentümliche Intensität des pathetischen Vollzugs erklären. Intersubjektiv gültige Bedeutungen sind auf Absprachen angewiesen, damit auf konventionelle Beschränkungen. Sie fallen weg, wenn es nur auf Bedeutsamkeit, nicht auf konkrete Bedeutung ankommt. Jeder einzelne bezieht die manifesten Teile auf dasjenige Ganze, das ihm persönlich vorschwebt. Da er nicht zur Explikation gezwungen ist, bleibt diese Relation mangels Kontrolle solange stimmig, bis bewußte Selbstreflexion einsetzt. Diese (scheinbare oder echte) Stimmigkeit bedeutsamer Sachverhalte suggeriert Gültigkeit. Und diese wiederum bildet die Basis für den IdentifikationsefFekt, den wir dem Pathetischen zuschreiben. Daß trotz dieser Dominanz des Subjektiven jenes Gemeinschaftsgefühl im pathetischen Vollzug entsteht, das wir alle kennen, liegt daran, daß auf der Bedeutsamkeitsebene ein intersubjektiver Vergleich gar nicht gewünscht wird. In der Gestimmtheit des bedeutsamen Augenblicks ist Einvernehmen in der Haltung wichtiger als in der Sache. Ob m a n ein Jubiläum begeht, weil man von der Bedeutung des Festgegenstandes überzeugt ist oder weil man ,dazugehört' oder weil die Gesellschaft ein Anrecht darauf hat, ist zweitrangig gegenüber der gemeinsamen Feier, bzw. feierlichen Gemeinsamkeit. Die aufgezeigte Doppelstruktur des pathetischen Zeichens ähnelt dem, wie Barthes (1970, 93 f.) das Mythische (des Alltags) beschrieben hat: Ein Zeichenkomplex erster Ordnung mit konventioneller Bedeutungsrelation dient als Signifikant für eine zweite, höhere Ordnung, deren Signifikat als vorhanden gilt, auch wenn es nicht fixierbar ist. Die erste Ordnung schafft die Referenz, die zweite die Bedeutsamkeit. Während Barthes an diesem Phänomen vor allem die manipulative Verwendung durch die Bourgeoisie interessierte, die natürlich auch für das Pathetische von Relevanz ist, spielt für ihn die semiologische Frage eine zweitrangige Rolle, wie überhaupt die zweite Ordnung zustandekommt, wo es doch keine Vereinbarungen geben darf.
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Wie also werden ein alltagssprachlicher Ausdruck, eine ,normale' Handlung oder Situation aufgeladen mit Bedeutsamkeit? Zunächst müssen die zeichenvermittelten Einzelphänomene ja erst aus den semantischen und pragmatischen Beengungen ihres Alltagsgebrauchs und der referentiellen Fixierung befreit werden, damit sie dieses Mehr-als-sie-selbst aufnehmen können. Diese Öffnung, für sich genommen, hätte allerdings Unverbindlichkeit zur Folge ein vom Pathetiker ja gerade nicht gewollter Effekt. Also muß dem ersten ein zweiter Schritt folgen: In den für den Zustrom geöffneten Zeichenkomplex müssen nun Bedeutsamkeitssignale einer mehr oder weniger spezifischen Wertwelt einfließen. Dabei gilt es, Diffusität und Deutlichkeit in ein richtiges Verhältnis zu bringen: Uberwiegt die Deutlichkeit, dann gerinnt die Bedeutsamkeit zur Bedeutung, womit aus der pathetischen Gestimmtheit rationale Reflexion werden könnte. Überwiegt die Diffusität, dann entsteht das, was wir hohles Pathos nennen. Für den glücklichen Vollzug kommt es also darauf an, die sehr empfindliche Balance zu finden zwischen der Unverbindlichkeit des allzu Allgemeinen und der Banalität des allzü Konkreten. 2.2.1 Der erste Schritt: Begriffliche Öffnung Es geht also zunächst darum, die Sprache 5 aus ihren zu direkten Wirklichkeitsbezügen und aus allzu enger Begrifflichkeit zu lösen, damit sie offen für den Bedeutsamkeitszustrom wird. Weil es sich bei den beiden Schritten natürlich nur u m systematisch, nicht aber real zu trennende handelt, ist ein geeignetes Demonstrationsobjekt schwer zu finden. Wer agiert schon pathetisch ohne konkreten Anlaß oder ohne spezifischen Werthorizont? Wer produziert schon freiwillig hohles Pathos? Glücklicherweise gibt es in der Weltliteratur einen sehr berühmten ,hohlen' Pathetiker: Meine Herrschaften. - Gut. Alles gut. Erledigt. Wollen Sie jedoch ins Auge fassen und flicht - keinen Augenblick - außer acht lassen, - Doch über diesen Punkt nichts weiter. Was auszusprechen mir obliegt, ist weniger jenes, als vor allem und einzig dies, daß wir verpflichtet sind, daß der unverbrüchliche - ich wiederhole und lege alle Betonung auf diesen Ausdruck - der unverbrüchliche Anspruch an uns gestellt ist - Nein. Nein, meine Herrschaften, nicht so, daß ich etwa - Wie weit gefehlt, wäre es zu denken, daß ich - Erledigt, meine Herrschaften! Vollkommen erledigt. Ich weiß uns einig in alldem, und so denn: zur Sache. (Mann 1981, 771 f.) Stellen wir die verwendeten Mittel zusammen: (1) Syntaktische und semantische Ellipsen: Unvollständige Sätze (Wollen Sie ... nicht ... außer acht lassen, daß - Doch über diesen Punkt nicht weiter . . . ) , Unterdrückung der von der Wortvalenz geforderten Ergänzungen 5
Wegen des folgenden Beispiels ist hier nur von Sprache die Rede, obwohl alle Arten von Zeichenkomplexen gemeint sind.
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(... daß wir verpflichtet sind, ... daß der ... Anspruch an uns gestellt ist - Nein! Nein . . . ) Wozu verpflichtet? Worauf Anspruch? Die Hörer sollen selbst ergänzen, was fehlt. Das bedeutet Aktivierung des Rezeptionsprozesses mit der (erhofften) Folge, daß sich mit der Intensität des Rezipierens auch das Gewicht des Rezipierten steigert. Suggeriert wird, daß der Hörer selbst - und eben nicht der Sprecher - bestimmt, was sagens- und denkenswert ist. Daß das nur sehr vage sein kann, was er da - unreflektiert ergänzt, hebt nur die Bedeutsamkeit. (2) Merkmalsschwund durch Verallgemeinerung: Alles gut/dieser Punkt/in Alldem/zur Sache. Umfassender und ungenauer geht es wohl nicht. Da Alles alles umfassen kann und Sache so ungefähr das merkmalärmste Wort der deutschen Sprache ist, ist der Rezipient zur Konkretisierung auf sich selbst zurückverwiesen. (3) Referentielle Uneindeutigkeit: Textverweisende Proformen ( . . . weniger jenes, als vor allem, ... dies ... / Nein ... nicht so . . . ) versagen mangels Verweisobjekt ihren referentiellen Dienst 6 . Möglicher Effekt dieser Undeutlichkeit beim Hörer: Wenn ich es nicht verstehe, dann muß es an meiner Insuffizienz liegen, Harmloseres hätte ich j a verstanden. Wenn es nicht harmlos ist, muß es bedeutend, zumindest bedeutsam sein: „Er h a t t e nichts gesagt", dies aber so, „daß alle und auch der lauschende Hans Castorp höchst Wichtiges vernommen zu haben meinten." Die ironische Karikatur konnte deutlich machen, welche Mittel für die begriffliche Öffnung zur Verfügung stehen: Entkonkretisierung durch Verminderung der semantischen Merkmale, Zurückdrängen des denotativen zugunsten des konnotativen Potentials, Entbindung von allzu deutlichen referentiellen Zuordnungen. Peeperkorns Emphase wirkt vor allem deshalb so hohl, weil wir überhaupt nicht wissen, worum es geht. Dazu bedürfte es der - freilich nicht zu engen - referentiellen Zuordnung zu einem zuständigen Wertbereich, also Christentum, Recht, Nation, Humanität, Krankheit usw. Innerhalb eines so umrissenen Werthorizontes müßten dann Gradierungen erfolgen, Aufwertungen, Zuspitzungen, die die pathetische Bedeutungsaufladung leisten. Die Beschreibung solcher Möglichkeiten in spezifischen Wertbereichen kann nicht unsere Aufgabe sein. Dagegen erscheint es schon sinnvoll, die Mechanismen der Bedeutungsaufladung - ganz unabhängig vom jeweiligen Wertsystem - wenigstens ansatzweise aufzuzeigen. 2.2.2 Der zweite Schritt: Bedeutungsaufladung In pragmatischer Hinsicht kann Bedeutsamkeit natürlich schon dadurch suggeriert werden, daß der Partner einbezogen wird: Wenn du und ich das gleiche 6
Vor allem das letztgenannte Mittel verwendet etwa Bundeskanzler Kohl sehr gern: Das ist es doch, worum es hier geht, meine Damen und Herren, so ist doch die Lage.
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denken, kann es nicht unwichtig sein. Ich weiß uns einig in alldem, meinte ja auch Peeperkorn. Interessanter sind freilich die Mittel zur Sachaufwertung. Hier brauchte man nur den Lausberg aufzuschlagen, um eine riesige, wahrscheinlich umfassende Liste diesbezüglicher rhetorischer Figuren zu erhalten (vgl. Lausberg 1960, 248 ff.). Es erscheint mir allerdings sinnvoller, weniger auf die formalen als auf die funktionalen Regularitäten hinzuweisen, mittels derer der Bedeutsamkeitszustrom in die Wege geleitet wird. Zu unterscheiden sind (mindestens) drei: Bedeutungsverstärkung, Bedeutungsisolierung und Bedeutungsverschränkung. (1) Bedeutungsverstärkung: Ein Schwert verhieß mir der Vater. Hier sind gleich drei verschiedene sprachliche Mittel zur Bedeutungsverstärkung eingesetzt, die Topikalisierung des Objekts durch Anfangsstellung, die Entscheidung für das höchstwertige Wort eines Wortfeldes (verheißen statt versprechen oder ankündigen) und die Generalisierung durch den bestimmten Artikel (der Vater statt mein Vater). Die einfache Aussage, daß Sigmund von seinem Vater ein Schwert bekommen werde (erste Zeichenschicht), wird so in die zweite, bedeutsame, überführt. Quantitativ funktionierende Mittel dieser Art sind Superlative, Absolutheitspartikeln (unverbrüchlicher Anspruch/unerhört bedeutend/ganz und gar unerträglich), doppelte Verneinungen, Klimaxe usw., natürlich auch intonatorische und performative Hervorhebungen (ich betone ...) usw. Der qualitative Wechsel von Stilschichten (Peeperkorn muß nicht etwas tun, ihm obliegt vielmehr etwas), nutzt den paradigmatischen Abstand zwischen häufiger Normalform und seltener Hochwertform zur pathetischen Überhöhung aus. Ein weiteres Mittel sind Zeichenverdoppelungen. Sie sind Bestandteil nahezu jeden Rituals, wenn etwa der Ausgangssegen im Gottesdienst gleichzeitig gestisch und verbal vollzogen wird. Doppelt genäht hält besser. Oper und Film, Gattungen mit angeborener Disposition zur Pathetik, setzen Zeichenverdoppelungen ein, wenn Musik oder Lichteffekte das Handlungsgeschehen amplifizieren. Eine Sonderform der Zeichenverdoppelung ist die Serialität, wo die Akkumulation ins Zeitliche übersetzt ist. Das beginnt bei Alliterationen (Veni, Vidi, Vici) und führt von Wort- und Satzwiederholungen, wie sie Peeperkorn auffallend häufig benutzt, über Leitmotive aller Art bis zur Repetition ganzer Textsequenzen. So wirken die Wiederholungen von Sätzen und ganzen Strophen in Fontaneschen Balladen (noch ... Minuten bis Buffalo/Ich hob es getragen sieben Jahr/Wann treffen wir drei wieder zusammen) ebenso pathetisch wie die so oft eingeblendete Uhr in ,High Noon'. Wagners bündelnde Wiederholung aller Wälsungenmotive im Trauermarsch der ,Götterdämmerung' ist für den Pathetiker Höhepunkt des Geschehens; für denjenigen aber, der die Bedeutsamkeit nicht empfindet oder ablehnt, den Ignoranten oder den Zyniker also, ist das nichts anderes als ein Potpourri.
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(2) Bedeutungsisolierung: Anders einzuordnen ist, wenn in Ritualen immer der gleiche Ablauf einzuhalten ist. Die pathetische Insistenz, mit der auf die Wahrung vorgegebener Formen geachtet wird, ist nicht Verdoppelung, sondern Fokussierung. Der rituell festgelegte Verlauf gewährleistet, daß das Geschehen nicht durch die ephemeren Zufälligkeiten des Alltags gestört wird, er somit ,rein' bleibt. Die wechselnden Quisquilien würden doch nur das Gewicht des Vorgangs schmälern. Es handelt sich also u m eine Bedeutungsisolierung durch Eliminierung alles Unwichtigen und Zufälligen. In Jubiläumsfestreden werden die bedeutsamen P u n k t e der Vergangenheit unter Ausblenden des alltäglichen ,Krams' herausgestellt. Es entsteht die wirkungsvolle Lapidarität des Pathetischen, aber auch jene Lebensferne, die man dem Pathos immer vorwirft. In der Tat haben differenzierender Realismus und Pathos wenig miteinander zu tun. So funktioniert denn auch eine der geläufigsten Erscheinungsformen des Pathetischen durch Ausblendung, die Schwarz-Weiß-Malerei. Da wird j a nur in den allertrivialsten Fällen von der Zeichenverdoppelung Gebrauch gemacht, daß der Bösewicht auch noch finster blickt. Die üblichere und weniger banale Machart bedient sich der Aussparung von Zwischentönen, seien es untypische Verhaltensweisen, seien es gemischte Charaktere oder individualisierende Requisiten. Lapidarität prägt übrigens nicht nur die Western zwischen Aeschylos und Eastwood. Vorworte und Feierstunden leben davon, ebenso Plakate und Proklamationen. Ihr pathetischer Effekt ist semiologisch leicht zu beschreiben. Je mehr Merkmale ein Sachverhalt hat, desto eigenartiger, unverwechselbarer ist er. Je eigenartiger etwas ist, desto weniger läßt es Vergleiche zu. J e weniger Vergleichsmomente es gibt, desto kleiner ist das Identifikationspotential. Gerade darauf, auf Adaption und Identifikation hat es Pathos aber abgesehen, deshalb spart es aus. Die großen Pathetiker des Kinos, Murnau, Lang, Dreyer, Eisenstein, Ford wußten dieses Potential der Lapidarität zu nutzen: vor leeren Mauern einsame Gestalten, weite Räume, wenig Worte und gemessene Gesten. Das technische Defizit des schwarz-weißen Stummfilms prädestiniert ihn zum pathetischen Melodram: Weder Stimmen und Geräusche noch Farben konkretisieren die vorgestellte Welt, es bleibt die lapidare Geste. (3) Bedeutungsverschränkung: Warum leistet Scarlett vor blutrotem Himmel ihren Taraschwur, warum entschwindet Alida Valli auf einem unendlich langen Friedhofsweg aus ,Der dritte Mann' ? Warum bricht Fausts Verzweiflung in der Szene ,Trüber Tag. Feld' auf, und warum wird Hauke Haiens innerer Zusammenbruch mit dem Bersten des Deichs parallelisiert? Während bei der Zeichenverdoppelung die Bedeutsamkeit eher quantitativ mit dem semiotischen Holzhammer eingebläut wird, bedient sich die Bedeutungsverschränkung eines subtileren Mittels, das die Menschheit von Anbeginn fasziniert hat, der Synchronizität. Die Geburt des Herrn war begleitet von einem helleuchtenden Stern, sein Tod vom Zerreißen des Tempel-
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Vorhangs, das gleichzeitige Erscheinen eines Kometen und eines doppelköpfigen Kalbes ,bedeutete' etwas, und wenn der Freitag auf einen 13ten fällt, heißt es aufpassen. Man muß gar nicht so spekulativ wie C.G.Jung (1968, 475 if.) die tiefenpsychologische Relevanz der Synchronizität heraufbeschwören, um den rezeptionspsychologischen Mechanismus zu verstehen, der hier vorliegt. Wenn in Bunuels ,Andalusischem Hund' auf ein Bild ,Wolke passiert Vollmond' ein Bild ,Rasiermesser zerteilt Mädchenauge' folgt, also zwei Ikone erklärungslos aufeinandertreffen, die in der Erfahrung nicht zusammengehören, dann muß das etwas zu bedeuten haben. Die Ikone werden im Syntagma zu Indexen für etwas. Dieses ,etwas' aber obliegt ausschließlich dem Rezipienten, er muß selbst die Leerstelle füllen. So steht es auch um die Synchronizität: Zwei voneinander unabhängige Sachverhalte verschränken sich in einem Bedeutungssyntagma zu sich gegenseitig potenzierenden Verweisen, die jeder Rezipient auf seine Weise entschlüsseln kann. Für den, der die Parallelität wahrnimmt, ist der Deichbruch im ,Schimmelreiter' äußeres Zeichen für Haiens innere Katastrophe, die ihrerseits das Außengeschehen über den Status des bloßen, kontingenten Naturereignisses hinausführt. Wem die Parallelität nicht auffällt, für den erfolgt der Ablauf ohne ,Bedeutsamkeit'. Diese Verlagerung des pathetischen Vollzugs in den Rezipienten hat noch einen zusätzlichen Intensivierungseffekt. Wenn er die verweisende Beziehung zwischen zwei unabhängigen, synchronen Sachverhalten herstellt, dann kann er das nur vermittels seiner eigenen Erfahrungen, seinem Wertsystem, seinem Affektpotential. Niemand relativiert ihn, weder die Realität noch ein kontrollierender Partner. Unangefochten projiziert er sich in das fremde Geschehen. Kein Wunder, daß er sich dort wieder findet und sich damit identifizieren kann. Auf einer höheren Ebene findet nochmals der SynchronizitätsefFekt statt: Wenn das Außen und mein Ich so gleichlaufen, dann muß was dran sein. Die Folge: innere ,Erhebung 1 , das Rieseln über den Rücken usw. Es gibt auch intertextuelle Varianten der Bedeutungsverschränkung: Anspielung und Zitat. Siegfrieds Mich dürstet kurz vor seinem Tod bündelt die zahlreichen Heilandsanspielungen der ,Götterdämmerung' zu einer kaum mehr mittelbaren Gleichsetzung mit dem Erlöser. Säkularisiertem Denken mutet das eher lächerlich an, Wagner war es damit ernst. Für seine Zeit hatte die Bibel noch jenes unanfechtbare Bedeutungspotential, dessen man sich durch das Zitat zur Steigerung der eigenen Aussage bedient. Jesus selbst referierte mit seinem Eli, Eli, Lama asabthani auf den Psalmisten. Sein Todesschrei erhält so eine historische und funktionale Tiefendimension, die ihm ohne den Verweis fehlte. Feste, etwa Weihnachten oder Geburtstage, sind geradezu definierbar als Wieder-Holung einer Urszenerie durch Zitat und Anspielung. Die Chöre in der ,Braut von Messina' vertrauen wohl auch mehr der erinnernden Evokation des antiken Dramas als der eigenen dramaturgischen Kraft. Der Verweis als solcher ist wichtig, nicht die ja keineswegs vorhandene Vergleichbarkeit der Situationen: Die höhere Ordnung der zweiten Zeichenschicht ist Bedeutsamkeit,
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nicht Deutlichkeit. Selbst im ironischen Spiel versagt die Anspielung nicht ihre pathetische Wirkung: Da steht sie, hoch und fast finster, am Hang ihres Heimathügels und blickt [...] ins urbare Land hinaus, über dessen Fernen das Licht sich in türmenden Wolken zu breit hinflutender Strahlenglorie sich bricht (Mann 1983, 305). Thomas Manns Tamar und Selznicks Scarlett werden eins. Ein merkwürdiges Vexierspiel mit Zitaten, wenn sich zwischen den Urtext, die Bibel, und Thomas Manns wieder-holenden Spättext die triviale Epopoe schiebt, deren erwiesene pathetische Wirksamkeit vom Spätling adaptiert wird. Eine große Szene. Die große Szene, der große Auftritt, das große Wort, die große Geste gilt bis heute als Inbegriff pathetischer Überhöhung. Mag auch das Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann in der bildungsbürgerlichen Versenkung verschwunden sein und über dem Sire, geben Sie Gedankenfreiheit historischer Edelrost liegen - Willy Brandts Warschauer Kniefall hat Geschichte gemacht. Hier kumulieren alle drei Formen der Bedeutungsaufladung: die topikalisierende Wahl der Stilschicht und Zeichenverdoppelung (Knien, Schweigen, ernstes Gesicht, das statische Ambiente), die lapidare Ausblendung alles Ephemeren und Individuellen, schließlich die Anspielung, bzw. Zitierung des religiösen Szenarios mit seinem riesigen Bedeutungspotential. Die Wirkung blieb nicht aus - und dies, obwohl jeder wußte, daß sie kalkuliert war. Eher umgekehrt: Gerade weil man sie für kalkuliert hielt, wurde die Wirkung akzeptiert. Womit wir zur Funktion von Pathos kommen. 3. Funktion des Pathetischen 3.1 Die kommunikative Haltung Wenn man so auf die aktive Rolle gestoßen ist, die der Rezipient für den pathetischen Vollzug spielt, ist man für eine sprachtheoretische Einstufung auf den pragmatischen Begriff der Perlokution verwiesen. Sie wird normalerweise für Sprechakte oder Sprachhandlungen in Anspruch genommen. Aber d a r u m kann es sich wohl beim Pathos nicht handeln. Dagegen spricht schon, daß alle Arten von Sprachhandlungen pathetisch realisiert werden können, es also pathetische Mitteilungen, Aufforderungen, Fragen gibt, sogar Normativa und natürlich erst recht pathetische Kontaktiva und Expressiva 7 . Eine zweite Überlegung: Einzelne Sprachhandlungen lassen sich nicht zu menschlichen Wesenszügen verallgemeinern, es gibt keinen Frager oder Auf7
Vgl. Verstorben und in Gottes ewige Ruhe aufgenommen ist unser Bruder im Herrn ... / Tretet herzu, denn es ist alles bereit! / Willst du diese hier anwesende ... zur Frau nehmen, sie lieben und ehren, .. .bis daß der Tod euch scheidet? / Und ich als berufener Vertreter der Kirche verkündige dir die Vergebung all deiner Sünden / Friede sei mit euch!
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forderer (im Sinne einer anthropologischen oder psychologischen Kategorie), wohl aber gibt es den Ironiker, den Zyniker und den Melodramatiker und eben auch den Pathetiker: Schiller oder R. Wagner werden so genannt, im Alltag etikettiert man Mitmenschen so, Mynheer Peeperkorn ist die pathetische Persönlichkeit schlechthin. Auch wenn es intentional angelegt ist, muß also Pathos situations- und sprachhandlungsübergreifenden Status haben. Es muß auf einem sprechstrategischen Niveau über der Illokution angesiedelt sein, mit Steuerungsfunktionen nach unten: Weil man - generell oder im Moment pathetisch disponiert ist, formuliert man eine bestimmte aktuelle Sprachhandlung mit Pathos. Ich schlage den Begriff der kommunikativen Haltung 1 vor, der sowohl den situationsübergreifenden Charakter des Pathetischen ausdrückt als auch die Disposition, den Wunsch, sich nach außen zu wenden 8 . Wann wird man denn pathetisch? Doch wohl dann, wenn man einem Sachverhalt mehr Bedeutung beimißt als dem Alltagskram mit allen seinen Kontingenzen und weil man unterstellt, andere würden dieser Bedeutung in ihrem Verhalten nicht gerecht. Man setzt sich also deutlich ab (odi profanum vulgus). Uber die bloße Dokumentation hinaus will man aber mit dieser Haltung nicht allein sein: Wenn ein Sachverhalt wirklich wichtig ist, sollte er es für alle sein oder für die meisten oder für die besten 9 . Man hat also Mitstreiter oder hofft auf sie. Die Funktion der pathetischen Äußerung besteht im ersten Fall darin, den Schulterschluß einzuleiten, im zweiten, Proselyten zu gewinnen 10 : Miteinander gegen den Rest der Welt. Daß man den Partner wirklich braucht bzw. nur seinetwegen zum Pathos gegriffen hat, wird durch die Frustrationserscheinungen bestätigt, die bei Nicht-Verstehen ausgelöst werden. Anders als bei Ironie besteht das Problem für den Pathetiker nicht darin, daß seine Haltung als solche nicht verstanden würde, sondern daß er seine Mittel zu hoch oder zu niedrig eingesetzt hat. Greift er für den Geschmack des Rezipienten zu hoch, dann wird ihm je nach Thema Überdrehtheit, Aufschneiderei, Schwulst, pathetisches Gehabe, ,Wölben' u. dgl. vorgeworfen. Er wird zum Angeber oder zum Phrasendrescher. Greift er zu niedrig, dann lautet der Vorwurf auf Unangemessenheit oder Schnoddrigkeit. Er besitze nicht den nötigen Ernst, sehe nicht das Gewicht der Sache, sei mithin ein Ignorant, ein Zyniker, gar Blasphemiker. Entsprechend differenziert müssen seine Rück-Reaktionen sein. Er kann ja gerade nicht (wie der Ironiker) darauf hinweisen, er habe das ja nur pathetisch gemeint. Vielmehr muß er entweder nachgeben (Typ 1): da habe ich mich wohl falsch/übertrieben/unangemessen/zu schnoddrig ausgedrückt oder beharren (Typ 2): dieser Sachverhalt muß doch entsprechend gewichtig ausgedrückt werden/darf doch nicht so hoch gehängt werden. 8
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Rosengren (1983, 64) schlägt für Ironie den Begriff der propositionalen Einstellung vor. Da aber für Ironie wie für Pathos weniger die jeweilige Proposition als der Partner von konstituierender Bedeutung ist, greift dieser Vorschlag nicht weit genug. So definiert Aristoteles (1968, l f . ) die Zielgruppe rhetorischer Überzeugungsarbeit. Beides trifft auch für Ironie zu.
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Typ 1 bedeutet eine Selbstrelativierung, Typ 2 eine Partnerdesavouierung. Im Typ 1 muß man sich zumindest fehlender Ausdrucksfähigkeit, wenn nicht gar der Fehleinschätzung von Sache und Situation bezichtigen. Im Typ 2 wirft man implizit dasselbe dem Partner vor. Welcher Fall auch vorliegt, immer ist eine Störung der kommunikativen Symmetrie die Folge, weil die Angelegenheit von der Sach- auf die Personalebene wechselt. Und wie schnell ist m a n zur Generalisierung bereit; die pejorativen Begriffe Pathetiker, Zyniker, Phrasendrescher usw. belegen, wie leicht Verstöße gegen die Angemessenheitsnorm nicht der Situation, sondern der Haltung, und darüber hinaus dem Charakter zugewiesen werden. Soll Pathos also seine Aufgabe, das Gewicht einer Sache kommunikativ einzubringen, erfüllen, dann ist es für den Sprecher erforderlich, nicht nur die pathetischen Mittel zu beherrschen, sondern zuerst die gemeinsame Ebene zwischen sich und dem Partner zu finden, auf der m a n vor Fehlinterpretationen gefeit ist. Demnach muß für die kommunikative Haltung Pathos die Produzent/Rezipient-Beziehung als konstitutiver Bestandteil einbezogen werden. Das gegenseitige Einverständnis der Partner ist unabdingbare pragmatische P r ä - oder Postsupposition 1 1 . Erst wo ein solches Einverständnis bereits herrscht, mit Sicherheit erwartbar ist oder erhofft 1 2 wird, können sich Sprecher Pathos erlauben. Einverständnis steht als perlokutives Phänomen nicht zur Disposition des Sprechers allein. Sein Beitrag dazu besteht im Einnehmen und Anbieten einer bestimmten kommunikativen Haltung 1 3 , die vom Normal-Null-Fall abweicht und damit ein stark beziehungsträchtiges Signal setzt. Der ebenso konstitutive Beitrag des Partners besteht darin, daß er dieses Angebot zumindest versteht, darüber hinaus aber auch akzeptiert und womöglich goutiert.
3.2 Die kommunikationspsychologische Funktion Gemäß unserer Definition von ,Haltung' können mit Verstehen, Akzeptieren und Goutieren nicht nur momentane Reaktionen gemeint sein. Vielmehr ist zu zeigen, wie sehr mit diesen drei Reaktionsstufen eine wechselseitige Aufwertung der Gesprächsteilnehmer als Personen einhergeht, die weit über die aktuelle Sprechsituation hinausreicht. u Unter Postsupposition sei zu verstehen, daß ein Sprecher Einverständnis zwar nicht ohne weiteres voraussetzen darf, wohl aber davon ausgeht, es vermittels seiner Signale nachträglich zu erreichen. Postsuppositionen sind somit Konversationspostulate (vgl. Grice 1975), deren Erfüllung freilich nicht nur erwünscht, sondern notwendig ist. 12 Dieser Fall liegt dann vor, wenn man den Partner nicht kennt, aber in nähere Beziehung zu ihm treten möchte. Man muß nur sich oder seine Umgebung beobachten, um die beziehungsstiftende Rolle von Pathos oder Ironie beim Anbahnen und Aufrechterhalten von Freundschaften zu erkennen. 1 3 Neben Pathos und Ironie können Zynismus und Blasphemie, wohl auch Sentimentalität, Sarkasmus, vielleicht auch Leichtfertigekeit kommunikative Haltungen sein.
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3.2.1 Verstehen Am Anfang stehen eine Preisgabe und eine Zumutung. Mit der emphatischen Markierung gibt der Sprecher zunächst (freiwillig) zu erkennen, welche Wertordnung - im gewählten Sachhorizont - für ihn gilt. Man negiert j a nicht nur - wie bei der Ironie, sondern muß innerhalb eines Affirmationspotentials seine eigene Position aufdecken. Gleichzeitig aber mutet man dem Partner zu, sich für die Dauer der augenblicklichen Kommunikationssituation auf eben diese Wertordnung einzulassen. Während bei Ironie vorausgesetztes Verstehen überwiegend eine intellektuelle Leistung bedeutet, handelt es sich beim Pathos um eine gleichermaßen kognitive wie emotive Anforderung, für die wir im Deutschen einen Begriff haben: Der Sprecher wirbt um Verständnis 1 4 . Verständnis ist nur möglich, wenn der Rezipient sein eigenes Wertsystem aktiviert, um die Angemessenheit des pathetischen Angebots zu überprüfen. Dies sowohl hinsichtlich des Werthorizonts überhaupt, als auch hinsichtlich der Nuancierung zwischen ,zu hoch' und / u niedrig'. Für den kommunikativen Erfolg ist in erster Linie die Kompatibilität zweier Wertsysteme verantwortlich. Dann und nur dann, wenn hier fundamentale Ubereinstimmung 15 herrscht, kann Verständnis eintreten. Die kommunikative Haltung Pathos des Sprechers bietet somit einen gemeinsamen Verhaltensraum an, in dem man sich zu Hause fühlen kann. Gelingt das, dann sind beide Partner einer gegenseitigen Vorsicht enthoben, die den neutralen Kommunikationsprozeß immer durch den Spannungsprozeß zwischen wechselseitigen Intentionen und Erwartungen prägt. Gelungenes Pathos hat also eine ausgesprochen positive kommunikationshygienische Bedeutung. Um so problematischer, wenn es nicht gelingt. Treffen dann doch zwei Wertsysteme nicht mehr in Ruheposition, sondern in j e aktiviertem, folglich auch aggressivem oder apologetischem Zustand aufeinander. 3.2.2 Akzeptieren Ist vorsichtsfreies Handeln auf gemeinsamem Wertfeld gewährleistet, kann Pathos auch akzeptiert werden. Der Hörer ist bereit zu gemeinsamem Handeln. Dieses sehr weite Feld reicht vom einfachen vorbehaltlosen Sich-Einlassen auf und Gewinnziehen aus angebotenen pathetischen Sprachhandlungen und Textsorten (ζ. B. Predigten, Proklamationen, Traktaten, Festreden) über gemeinsame Aktionen, etwa Demonstrationen, Aufstände usw. bis zur einseitigen Gehorsamsaktion des Hörers ,im Sinne' oder ,im Namen' des Sprechers (Wollt ihr den totalen 14
15
Krieg).
Jch habe Verständnis für seine Situation': Das bedeutet ,ich verstehe ihn und kann mich in ihn einfühlen'. Auf diesen Satz kann ein affirmatives .deshalb', aber auch adversatives ,aber' folgen, was zeigt, daß wir mit ,Verständnis' erst auf der Stufe des Einsehens, noch nicht des Akzeptierens stehen. Differenzen in Gradierungsnuancen sind möglich, sollten aber nicht das Übergewicht haben.
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Es kommt nicht von ungefähr, daß sich pathetisches Sprechen besonders häufig in ritualisierten Handlungsfeldern zeigt, wie oben gezeigt wurde. Durch die institutionelle Sanktionierung sind im Ritual Sprecher und Hörer von vornherein auf eine gemeinsame kommunikative Haltung verpflichtet. Das Einverständnis muß nicht erst hergestellt werden, es ist a priori vorhanden. Da es in diesen Ritualsystemen auch immer um aktive Beteiligung der Partner 1 6 geht, bestätigt sich hier nochmals der gemeinsame Handlungscharakter pathetischen Sprechens. Konnten wir zeigen, daß auf der Stufe des Verstehens eine prinzipielle Symmetrie (gleiches Wertesystem!) der Partner sich etabliert, so im Bereich der Akzeptanz eine prinzipiell stabile Ordnung der Rollenverteilung. Das ist eine weitere Bedingung für reibungsfreie Kommunikation, mehr noch, für psycho- und sozialhygienisch problemfreies, weil freiwillig eingegangenes gemeinschaftliches Handeln. Schlimm aber, wenn dieses an sich stabile Gleichgewicht durch falsches Pathos oder durch ,Schnoddrigkeit' in Frage gestellt wird. Nicht nur die aktuelle Situation, sondern die durch sie definierten Personen und ihre Positionen stehen dann zur Disposition. Hier liegt der eigentliche Grund dafür, daß mißverstandene Pathetiker sich desavouiert fühlen, daß Sprecher, die sich nicht des angemessenen Pathos bedienen, sehr leicht als Zyniker oder Nestbeschmutzer gelten. Sie desavouieren j a nicht einen aktuellen Einzelfall, sondern ein ganzes Handlungsfeld. 3.2.3 Goutieren Zunächst ist damit gemeint, daß man über das Verständnis und die Akzeptanz hinaus seine Befriedigung am gehobenen Stil finden kann, sich der abgehobenen, seltenen Form erfreut. Angesichts der gemeinsam bezogenen Wertund Handlungsebenen könnte man dies als eiren ästhetischen ZusatzefFekt einschätzen, dergestalt, daß man die Wahl der pathetischen Mittel als besonders angemessen (feierlich, nachdrücklich, wirkungsvoll usw.) bewundert. Ich denke aber, es handelt sich um mehr. Wenn gemeinsame Wert- und Handlungsfelder nicht nur evident und virulent werden, sondern dies durch deutliche Signale auch noch dokumentiert wird, dann entsteht in der gemeinsamen Bewunderung ein Gemeinschaftserlebnis, das zur Selbstfeier von Gruppen werden kann. Das machen sich die Meister pathetischer Kunst (Schiller, Wagner, aber auch John Ford oder Eisenstein) zunutze, indem sie Feiern oder Gerichtsszenen, Sterbegänge oder Gemeinschaftsschwüre prononciert inszenieren. Der für das jeweilige Pathos (prä)disponierte Rezipient sieht solche Szenarios j a nicht nur im Kontext des Handlungsverlaufs oder als Dokumentation hoher Werte. Vielmehr findet eine viel stärkere Form von Identifikation ,aus dem Bauch' statt: Es entsteht das bekannte Rieseln über den Rücken, das Kribbeln im Kopf oder 16
Vgl. die festen Rollen der Beteiligten bei Gericht, bei feierlichen Eröffnungen, in der Kirche und - im privaten Bereich - im bürgerlichen Leben mit Tischsitten, Rangordnungen, Höflichkeitsritualen.
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der Tränenstrom 1 7 . Der nicht entsprechend aufnahmebereite Rezipient kann hier nur den Kopf schütteln oder mit Ironie reagieren. Mit (erheblichen) Gradunterschieden kann man den gleichen Effekt auch im Alltag erleben. Das reicht von der Träne oft völlig unbeteiligter Personen bei Beerdigungen und Hochzeiten bis zu der nachweisbaren positiven Wirkung von ritualisierten Trostworten, von Segenswünschen bis zu Geburtstagsfeiern und anderen Privatfesten. Man feiert zwar auch etwas, vor allem feiert m a n aber die Gemeinschaft.
4. Nachsatz Pathos wäre demnach eine Haltung, in der m a n Sachverhalten Bedeutsamkeit zuweist, auf daß m a n sich mit ihnen identifizieren kann u n d mittels dieser Identifikation ein Kommunikationsangebot macht, mit anderen eine auf Einverständnis beruhende, wertorientierte Erlebnis- oder gar Handlungsgemeinschaft zu bilden.
Literatur Aristoteles (1968): Topik. Hamburg. Barthes, Roland (1970): Mythen des Alltags. Frankfurt. Dilthey, Wilhelm (1942): Der Aufbau der Geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Leipzig. Grice, H.P. (1975): Logic and Conversation. In: Cole, P./Morgan, J. L. (Hgg.): Syntax and Semantics. Bd. 3. New York, 41-58. Husserl, Edmund (1913): Logische Untersuchungen. Halle. Jung, Carl Gustaf (1967): Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge. In: Jung, Carl Gustaf: Die Dynamik des Unbewußten. Zürich, 475-578. Lausberg, Heinrich (1960): Handbuch der Literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München. Mann, Thomas (1981): Der Zauberberg. Frankfurt. Mann, Thomas (1983): Joseph der Ernährer. Frankfurt. Rosengren, Inger (1986): Ironie als sprachliche Handlung. In: Sprachnormen in der Diskussion. Berlin, 41-71. Staiger, Emil (1944): Vom Pathos. Ein Beitrag zur Poetik. In: Trivium 2, 77-92. 17
Diese physiologischen Effekte bestätigen, in welch existentieller Weise man vom Pathos affiziert sein kann. Ebenso empirisch aufzuzeigen wäre, daß die gleichen Leute, die bei Scarletts Schwur vor glühendem Sonnenuntergang oder bei John Maynards Begräbnis in Tränen ausbrechen, bei entsprechenden Anlässen in der Realität durchaus unsentimental reagieren. Ein Zeichen, daß wir hier mit Recht von der ästhetischen Dimension des Pathetischen sprechen.
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Steger, Hugo (1961): Stand und Aufgaben ostfränkischer Mundartforschung. In: Institut für Fränkische Landesforschung an der Universität Erlangen (Hg.): Jahrbuch für Fränkische Landesforschung, Festschrift Ernst Schwarz II. Kallmünz, 225-266. Steger, Hugo (1964): Gruppensprachen. Ein methodisches Problem der inhaltsbezogenen Sprachbetrachtung. In: Zeitschrift für Mundartforschung 31,125-138. Steger, Hugo (1987): Probleme der religiösen Sprache und des religiösen Sprechens. In: Mönig, Klaus (Hg.): Sprechend nach Worten suchen. Probleme der philosophischen, dichterischen und religiösen Sprache der Gegenwart. München, 96-133.
B E R N H A R D K E L L E , F r e i b u r g i. B r .
Zur Kommunikationstypik in den Briefen Johannes Keplers Dann weil die Astrologi keine besondere Spraach haben / sondern die Wort bey dem gemeinen Mann entlehnen müssen / so wil der gemeine Mann sie nicht änderst verstehen / dann wie er gewohnet / weiß nichts von den abstractionibus generaltum, siehet nur auff die concreto [...] (J. Kepler, Tertius Interveniens 1610, 253)
1. Einleitung Anhand eines historischen Briefwechsels zwischen Johannes Kepler (1571-1630) mit Zeitgenossen über die Herstellung eines astronomischen Modells soll in diesem Aufsatz das Zusammenwirken der situativen Merkmale der Textart ,Brief' mit denen einer funktionalen/semantischen Beschreibung gezeigt werden. Es treten mit den Brieftypen kovariante sprachliche Erscheinungen zutage, die die nach Textsorten/Bezugsbereichen fein ausgesteuerten Beziehungen zwischen Deutsch und Latein belegen. Die Textart ,Brief' mit ihren verschiedenen Textsorten wie ,Bittbrief', ,Privatbrief', fachlicher Diskussions-/Mitteilungsbrief' zeigt sich als Quelle für den Transfer von fachlichen Inhalten in die ,Alltagssprache' , da Briefe häufig auf lebenspraktische Wirkungen hinzielen. Bei der sprachwissenschaftlichen und sprachhistorischen Betrachtung von Briefen mufi zunächst auf die Divergenz zwischen dem vorwissenschaftlichen AlltagsbegrifF (Brief) und seinem wissenschaftlichen P e n d a n t , dem (Brief) als Textart hingewiesen werden. Während der ,naive' Begriff über erlernte Gebrauchsbedingungen und Formkriterien eine hinlängliche Genauigkeit besitzt, m u ß der wissenschaftliche Begriff genauer über die kommunikative Rolle definiert werden, die Briefe spielen können. Als kommunikatives Modell soll hier die von H. Steger im Gegensatz zur Prager Funktionalstilistik (Steger 1991, 61 f.) entwickelte Theorie der „Kommunikativen Bezugsbereiche" verwendet werden (Steger 1984, 1988a, 1991). Frühere Versuche, die Textsorte Brief zu beschreiben, haben meist diesen funktionalen Aspekt zu sehr am Rande behandelt und sich an formale Kriterien und Situationsparameter gehalten (Ermert 1979, Nickisch 1969). Stegers Ansatz besteht darin, generell für die Einordnung von Texten neben den situationsabhängigen, redekonstellativen Merkmalen (Steger/Deutrich/Schank/Schütz 1974, Steger 1983) auch den semantischen Bezugsrahmen („kommunikative Bezugsbereiche") zu benutzen, der sich erschließt, wenn eine Gliederung der möglichen Situationen, in denen Texte entstehen, nach deren funktionaler Leistung vorgenommen wird. Während
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z.B. Schwitalla (1976) im Anschluß an Schütz (1971, „Alltagswelt", „mannigfaltige Wirklichkeiten") eine Gliederung in vier „Sinnwelten" versucht (in „die alltägliche, die religiöse, die wissenschaftliche und die dichterische Welt" (Kästner/Schütz/Schwitalla 1984, 1356), nimmt Steger Alltag, Institutionen, Technik, Wissenschaft, Religion und Literatur als „kommunikative Bezugsbereiche" an (Steger 1984, 187 ff.). Die so konstituierten Teilsemantiken erlauben ζ. B. eine gute Erklärung der Bedeutungsdifferenzierung (Monosemierung) in Fachsprachen ebenso wie die sprachlichen Veränderungen in bestimmten Textsorten je nach Zugehörigkeit zu den Bezugsbereichen. 2. Briefe Der Brief kann wie andere Textarten in allen o. g. kommunikativen Bezugsbereichen auftreten. Seine Definition mit dem konstitutiven Kriterium schriftlich' setzt ihn einerseits vom mündlichen ,Dialog4 ab, andererseits sind aber bereits die Ubergangs- und Veränderungsbereiche sichtbar, von denen oben die Rede war: ζ. B. der auf Tonband gesprochene Brief, zu dem als Variante wahrscheinlich auch das Sprechen von Nachrichten auf den Anrufbeantworter zählt (vgl. Naumann in diesem Band). Bisher erarbeitete Briefdefinitionen (vgl. Nickisch 1969, 1991) gehen meist auf die funktionale Bewertung nicht ein; dabei erlaubt doch gerade die Zuordnung der Texte zu bestimmten kommunikativen Bezugsbereichen die Erklärung der Vielfalt, in der Briefe auftreten. Die Tatsache, daß die Textart Brief zunächst funktional nicht eindeutig festgelegt ist, daß sie ferner an einen Adressaten gerichtet ist und i. a. die Möglichkeit zum ,Sprecherwechsel' in Form des Antwortschreibens besteht, begründet eine starke Verwandtschaft mit der Textart ,Dialog 1 . Briefe gelten als Mittelglieder zwischen gesprochenen und rein für den schriftlichen Gebrauch verfertigten Texten (Nickisch 1991, 12). Ihre quasi-dialogische Ausrichtung ist hierfür geltend gemacht worden, aber auch der Einsatz bestimmter, im mündlichen Dialog inhärenter sprachlicher Merkmale (Begrüßung, Schlußeinleitung etc., Metzler 1987, 32f., vgl. auch Ermert 1979, 55). Historisch interessant ist dabei, welche ,Durchsicht' ζ. B. die naive Typenbildung der populären Briefsteller im 16./17. Jh. auf den Zuschnitt der damaligen Welt erlaubt. So stehen am Anfang der frühneuzeitlichen Briefkultur des Deutschen die zahlreichen „Formularbücher", in denen neben dem Mitteilungsaspekt besonders der Rechtsaspekt (Vertrag: Schuldbrief, Geleitsbrief, Kaufbrief etc.) deutliches Gewicht hat ( E n n e r t 1979, 4). Der Brief als Träger privater Information entwickelt sich dagegen erst im Verlauf des 16. Jahrhunderts und ist vor dem 17. Jahrhundert nicht allgemein zugänglich (Klettke-Mengel 1973, 1986, Metzler 1987, 12ff.). Briefe der o.g. Art mußten meist von einem Schreiber verfertigt werden, was von vornherein die Privatheit einschränkte, umgekehrt aber ihren Zweck als vertragstaugliche Schriftstücke stärkte, da
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Zeugen den Inhalt und die rechtmäßige Abfassung bestätigen konnten. In dieser Funktion stellen Briefe eine frühe Nahtstelle zwischen den Bezugsbereichen Institutionen und Wissenschaft/Technik einerseits und deren Anwendung in der alltäglichen Praxis andererseits dar. Später, in den Briefstellern des 18. Jahrhunderts, wird dieser Alltagsbezug deutlich sichtbar: Visite, Bewerbung, Gratulation, Kondolenz, Einladung, Dank, Abschied, Bericht, Bittstellung, Obligationen/Quittungen/Wechsel, Liebe sind u . a . die dort genannten Themen (Bohse 1700). Briefe sind demnach zu einem großen Teil Instrumente des Alltags und berühren an verschiedenen Stellen die um den Alltag gruppierten, anderen kommunikativen Bezugsbereiche. Welche Auswirkungen hierbei auf die verwendete Sprache zu beobachten sind, soll die folgende Fallstudie belegen. Die behandelten Briefe Johannes Keplers zeigen den Entwicklungsstand der Textart im ausgehenden 16. Jahrhundert. 3. Johannes Kepler als Briefautor Johannes Kepler ist von der Germanistik bisher hauptsächlich wegen seiner deutschen Wortschöpfungen/Begriffsbildungen im Bereich der Mathematik, Geometrie und Physik (Optik) wahrgenommen worden (Götze 1919, Schwarz 1982, 100, vgl. Pörksen 1983, 252 f.). Wenig Notiz wurde dagegen von seinem weit verzweigten sonstigen Werk genommen, das eine große Anzahl weiterer deutscher Schriften neben dem weitgehend in Latein verfaßten wissenschaftlichen Werk enthält. Außer den im Druck erschienenen Werken liegt ferner eine große Hinterlassenschaft an handschriftlichen Notizen vor, sowie eine große Anzahl von ihm geschriebener oder an ihn gerichteter Briefe. Die Werkausgabe (KGW) verzeichnet in sechs Briefbänden diese Korrespondenz, die in vielen Punkten Einblick in den Sprachgebrauch des ausgehenden 16. Jh. geben kann. Keplers Schaffen fällt ζ. B. sprachgeschichtlich in einen Zeitraum, der von der zunehmenden Ablösung des Lateinischen geprägt ist. In den zahlreichen Texten und Briefen spiegelt sich dieser Umbruch und läßt sich vor allem den einzelnen Texttypen zuordnen: Der Ausbau des Deutschen gegenüber dem Lateinischen geschah nicht global und gleichmäßig in allen Funktionsbereichen, sondern schrittweise, abhängig von einzelnen Intentionen und Textsorten. Steger bemerkt hierzu in Hinblick auf Kepler: Entsprechend meiner Konzeption sehe ich die in der wortgeschichtlichen Literatur unterstrichene Zuordnung neuer deutscher Termini zu großteils alten mathematischen Begriffen wie „Würze/", „Zahl", „Bruch", „Nenner", „Kegelschnitt", „Querschnitt", „Sehne" oder auch das Festhalten an alten Termini wie Zirkel „Kreis", Triangel „Dreieck" durch Kepler [...] als Popularisierungsergebnisse, die mehr in den Zusammenhang der Geschichte des sich im 17. Jahrhundert ebenfalls stark wandelnden Begriffs „Sprache", „Einzelsprache" gehören, weniger zur Geschichte der entsprechenden Begriffe der Mathematik. [... ] Ich hebe
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aber besonders hervor, daß der zunehmende Übergang der Mathematiker und der Naturwissenschaftler zum Französischen und Englischen im 17. Jahrhundert [...] bewirkt hat, daß jeder gebildete Deutsche an der Begriffsentwicklung der Fachbereiche in der ihm gewohnten Konversationssprache teilnehmen konnte. (Steger 1988b, 99 ff., Hervorhebung des Orig.) Es ist die Zweiheit der Sprachen, des Deutschen neben dem Lateinischen, die bei der Betrachtung der Keplerschen Briefe sofort ins Auge springt. Die Verwendung der Sprachen ist adressatenabhängig: Mit wissenschaftlich gleichrangigen Kollegen korrespondiert Kepler in Latein. Für die Frage nach weiteren Motiven/Konventionen für die Sprachauswahl sind die Fälle interessant, in denen er von dieser zunächst offensichtlichen Adressatenabhängigkeit abweicht, wo innerhalb desselben Textes Schwankungen im Sprachgebrauch stattfinden. Schließlich spannt sich der Bogen zwischen dem Gebrauch des Lateinischen und des Deutschen so weit, daß am anderen Ende das Deutsche in Briefen überwiegt, die ζ. B. Rechtliches oder Verwaltungsbezogenes betreffen (vgl. Löffler 1989, „Schreib-Diglossie"). Hier steht das Lateinische nur mehr formelhaft und häufig eingedeutscht zur Verfügung. Der Wechsel zur jeweils anderen Sprache bleibt in diesen, wie auch allen anderen Fällen dem Autor offenbar bewußt 1 8 , da seine Schrift von der deutschen Kurrentschrift zur lateinischen Kursive wechselt (Delitsch 1928) 19 . Den äußeren Merkmalen (Schriftstil, Adressat) stehen inhaltliche gegenüber, die zur Frage der Zuordnung zu den kommunikativen Bezugsbereichen zurückführen.
4. Der Briefwechsel über ein „Opus astronomicum" Als Korpus wird hier ein in sich weitgehend abgeschlossenes T h e m a gewählt, die Korrespondenz über ein „Opus astronomicum", die sich über vier Jahre (1596-99) hinzieht, verschiedene Adressaten umfaßt und unterschiedliche Versprachlichungsmöglichkeiten auf der o. g. Skala Latein - Deutsch nutzt. Sie ist meist eingebettet in Briefe, die auch andere Gegenstände behandeln (s.u.). Kepler trat im Jahr 1594, direkt nach Studienabschluß, die Stelle eines Landschaftsmathematikers in Graz an und veröffentlichte bald darauf seine erste große wissenschaftliche Arbeit, das „Mysterium cosmographicum" (1596). In diesem entfaltet er seine grundlegende Entdeckung, den planvollen Aufbau 18 19
Zum Einfluß des Humanismus vgl. Rosenfeld 1974, 421. Glücklicherweise hat die Gesamtausgabe der Werke Keplers (KGW) auf dieses Detail Rücksicht genommen (vgl. Caspar 1945, XVf.). Vergleiche mit anderen Briefeditionen, wie ζ. B. der Weimarer Ausgabe der Lutherschen Briefe (Luther 1883), zeigen, daß dies leider nicht selbstverständlich ist. In den KGW werden typographisch alle Schriftwechsel (zwischen lateinischer Kursive und deutscher Kurrentschrift) wiedergegeben. Kepler ist hier sehr genau und wechselt häufig im Wort, wenn ζ. B. im Kompositum ein deutsches Glied auftritt („ Haupt inuenium",).
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der Welt nach den fünf platonischen Körpern, ein Schöpfungsplan, von dessen Einfachheit und Gültigkeit Kepler zeitlebens überzeugt bleibt und der von der Keplerforschung häufig als eigentliche Triebfeder für seine - aus heutiger Sicht - wichtigeren Entdeckungen gewertet wird (Koestler 1959, Gipper 1978, KrafFt 1988, Hamel 1989) 20 . Kepler ist von der Wichtigkeit seiner Entdeckung so eingenommen, daß er beschließt, sein enträtseltes Weltgeheimnis in Form eines in Metall gearbeiteten Modells seinem Landesherrn, Herzog Friedrich von Württemberg, anzudienen, der seinerseits die Mittel zur Herstellung des Modells zur Verfügung stellen sollte. Der Herzog stimmt dem Plan im großen und ganzen zu, übernimmt die ersten Kosten und Kepler veranlaßt in Stuttgart die Arbeiten in Zusammenarbeit mit einem ihm von der Hofkanzlei empfohlenen (aufgedrängten?) Goldschmied. Dieser erweist sich als völlig unfähig, die von Kepler in immer neuen Revisionen aufgestellten Pläne zu verwirklichen, so daß Kepler unverrichteter Dinge nach Graz zurückkehren muß. Von dort aus versucht er brieflich, seinen Tübinger Lehrer, den Astronomen Michael Mästlin, so weit zu instruieren, daß dieser den Fortgang der Arbeiten überwachen könne. Offenbar arbeitet der beauftragte Goldschmied nicht nur schlecht und langsam, sondern auch noch unredlich, so daß das eingesetzte Material Silber - schließlich verschwindet. Die Korrespondenz endet angstvoll, da Kepler befürchtet, vom Souverän zur Verantwortung gezogen zu werden, und schließlich verläuft alles im Sande, da Kepler nach Prag geht und Herzog Friedrich die Sache offenbar vergessen hat. Die briefliche Kommunikation entfaltet sich über diesen Gegenstand in folgende Richtungen: Kepler muß bei verschiedenen Stellen um Gewährung von Unterstützungen nachsuchen (i.e. die Genehmigung seines Planes, Reisegelder, Verpflegung bei Hofe etc.). Er tauscht sich mit Mästlin über die wissenschaftlichen, handwerklichen und politischen Probleme seines Unterfangens aus. Insgesamt sind hier 27 zum Thema zählende Briefe aufgenommen. Die folgende Tabelle führt auf, wer Absender bzw. Adressat ist und in welcher Sprache die Briefe verfaßt sind. Die Auswahl dieser Texte stützt sich auf das eng umgrenzte Teilthema, dessen sprachliche Bewältigung beurteilt werden soll. Die Festlegung auf ein Thema, das konstant im Texttyp ,Brief' behandelt wird, er20
Keplers Entdeckung besagt, daß die zu seiner Zeit bekannten Himmelskörper Sonne, Merkur, Venus, Erde mit Mond, Mars, Jupiter und Saturn zueinander so angeordnet sind, als wären zwischen ihnen die fünf regulären' platonischen Körper (Würfel, Tetraeder, Dodecaeder, Isocaeder und Octaeder) einschiebbar. Betrachtet man die Planetenbahnen im Aufriß, bedeutet dies, daß z.B. zwischen der Planetenbahn des Merkur und der Venus ein Quadrat (= Würfel im Aufriß) so gesetzt werden kann, daß die Merkurbahn der in das Quadrat eingeschriebene Kreis, die Venusbahn der umschreibende Kreis ist. Zu den äußeren Planeten hin wiederholt sich dieses Verfahren mit den anderen sphärischen Körpern. Das Modell schien konsistent zu sein, da es einerseits der auch nach Kopernikus noch gültigen traditionellen Idee der konzentrischen Sphären' folgt, andererseits die heliozentrische Auffassung als Werk Gottes darstellt und darüberhinaus mit der Vollkommenheit der regelmäßigen Vielflächner der neuplatonischen Denkweise Keplers und seiner Zeit entgegenkommt.
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leichtert die Vergleichbarkeit der Textabschnitte, welche nicht in so einfacher Weise gegeben wäre, wenn unterschiedliche Gegenstände aus verschiedenen Bezugsbereichen in voneinander abweichenden Texttypen abgehandelt würden 2 1 . Tabelle: Einbezogene Briefe 2 2 Nr. KGW Absender Adressat 28 30 31 32 34 38 42 47 49 50 51 67 71 75 80 85 12 NK 89 90 97 99 101 103 106 110 113 119
21
22
Κ Κ Μ Κ Κ Κ κ κ κ κ κ Μ Μ Κ Μ Κ Μ Κ F Μ Κ Μ Κ Κ Μ Κ Μ
F F F Μ F Μ F Μ F F Verordnete Κ Κ Μ Κ Μ F Μ Κ Κ Μ Κ Μ Μ Κ Μ Κ
Sprache Datum
Hand
d d d 1 d 1 d 1 d d d ld ld ld ld ld d 1 d ld ld ld 1 ld ld 1 ld
e a e e e e e e e e e e e e e e o.A. e a e e e e e e e e
17.2.1596 29.2.1596 12.3.1596 3.1596 3.1596 13.4.1596 28.5.1596 11.6.1596 27.6.1596 3.7.1596 11.9.1596 27.4.1597 11.7.1597 10.1597 30.10.1597 6. 1.1598 22.2.1598 15.3.1598 11.3.1598 2.5.1598 11.6.1598 4.7.1598 21.8.1598 8.12.1598 12.1.1599 26.2.1599 12.4.1599
Neben diesem gut umschreibbaren Thema enthalten Keplers Briefe und Werke zahlreiche weitere Themenkomplexe, die bisher sprach- und z.T. auch kulturgeschichtlich weitgehend unbeachtet geblieben sind: ζ. B. die Korrespondenz/Akten zum Hexenprozeß gegen seine Mutter, die in reichem Maße Rechtsterminologie im Gebrauch eines (gebildeten) Laien spiegeln, ferner die zahlreichen Äußerungen Keplers in verschiedenen Texten zum Verhältnis von Astronomie und Astrologie etc. Erläuterung der Abkürzungen in der Tabelle: Nr. des Briefs in KGW Absender/Adressat: Κ = Kepler; Μ = Mästlin; F = Friedrich; Verordnete = Verordnete des Landtages der Steiermark; vorwiegende Sprache: d = Deutsch; 1 = Latein; Hand: e = eigenhändig; a = andere Hand; NK = Nova Kepleriana (von Dyck 1934).
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Die Liste umfaßt alle Briefe zwischen den Hauptbeteiligten 2 3 , die sich, wenn ζ. T. auch nur in kurzen Passagen, mit dem oben beschriebenen Vorgang befassen. Involviert sind, neben Kepler selbst, die Kanzlei des Herzogs, sowie marginal der Herzog (Anmerkungen von seiner Hand), ferner Keplers Mentor und Lehrer in Tübingen, Mästlin, der als Mittler und Ratgeber tätig ist. Schließlich tauchen am Rande noch die ,Verordneten der Landschaft Steier(mark)' als Adressaten auf. Die unten angeführten Textbeispiele sind hier mit einer Ausnahme nur denjenigen Briefen entnommen, die Kepler geschrieben hat. 5. Versuch einer Zuordnung der Briefe zu Kommunikationsbereichen Im folgenden wird eine Einteilung des Briefkorpus nach der verwendeten Sprachform unter der Annahme versucht, daß sich als Ergebnis eine Zuordnung zu - einzelnen Briefsorten und deren außersprachlichen Merkmalen und - kommunikativen Bezugsbereichen ergibt. Eine oben bereits erwähnte Auffälligkeit in den hier ausgewählten Texten ist die unterschiedliche Verwendung von Latein und Deutsch. Dieser Unterschied gibt Anlaß zu einer ersten groben Gliederung. Es lassen sich drei Kategorien bilden: I Texte, die vollständig in Latein geschrieben sind: K G W 32 24 , 38, 47, 89, 103, 113 II Texte, die in Latein und Deutsch abgefaßt sind: K G W 67, 71, 75, 80, 85, 97, 99, 101, 106, 110, 119 III Texte, die im Grundsatz überwiegend Deutsch verwenden: KGW 28, 30, 31, 34, 42, 49, 50, 51, 90, 12NK Diese Gruppierung ist deshalb als grob zu bezeichnen, da vor allem die Kategorien II und III Mischformen sind, denn ζ. B. sind in III gewisse Anteile von Latein so gut wie immer vorhanden, jedenfalls in den ausgewählten Texten. Bringt man nun diese erste Klassifikation mit der Frage nach den Adressaten (vgl. Ermert 1979) zusammen, so zeigt sich, daß I alle Texte der Gruppe I von Kepler an Mästlin gerichtet sind; II Texte der Gruppe II a) erst ab Mitte 1597 auftreten und b) abwechselnd Kepler und Mästlin die Verfasser sind und es c) sich nur u m den Schriftverkehr zwischen diesen beiden handelt; III ausschließlich der Briefwechsel Keplers und Mästlins mit dem Herzog in Gruppe III fällt (zusätzlich der eine Brief Keplers an die Verordneten der Landschaft Steier(mark)). 23
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In von Dyck (1934) sind noch weitere Aktenstücke publiziert, die ζ. B. die Korrespondenz der Kirchenräte wiedergeben, welche für die Finanzierung des ,Opus' zuständig waren. Textstellen aus den Briefen werden wie folgt zitiert: Nummer des Briefes in KGW Bd. XIII, Zeilennummer im Brief; lateinische Textstellen werden kursiv, deutsche fett kursiv wiedergegeben.
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Obwohl, wie schon betont, die Gruppierung eine vorläufige und grobe ist, ergibt sich eine hohe Koinzidenz zwischen Sprachverwendung, Adressat und Intention der Briefe. 5.1. Briefkategorie I: Lateinische Briefe Kategorie I enthält alle Briefe Keplers an Mästlin, die ausschließlich in Latein abgefaßt wurden. Dabei fällt auf, daß Kepler vor seiner Rückkehr nach Graz (im Sommer 1596) kein Deutsch in seinen Briefen an Mästlin verwendet 2 5 . Bei der Durchsicht der behandelten Themen stellt sich heraus, daß - bezogen auf die Gesamtlänge der Briefe - der größte Teil sich wissenschaftlichen Fragen widmet. Meist sind diese wissenschaftlichen Hauptteile eingerahmt von Mitteilungen zum T h e m a „Opus" und solchen vollständig privaten Charakters, ζ. B. über Keplers geplante Verheiratung. Es scheint hierbei keine Themenbeschränkung gegeben zu haben. Zu den wissenschaftlichen Themen zählen u. a. ,Größe der Planetenabstände', ,Abstand des Merkur', ,Bahnbeobachtung von Sonne und Mond', ,Rotfärbung des Mondes', ,Mitteilung einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Tycho Brahe', ,die Chronologie der biblischen Geschlechter' etc. Die Bemerkungen über das „Opus" sind meist besorgt und häufig ironisierend, was auf noch tiefere Besorgnis schließen läßt, ζ. B. KGW 38, 11 f.: Opus argenteum ita tarde procedit, ut pluribus faber quam fabrile ictibus indigere videatur, ut procedat.
Insgesamt ist festzustellen, daß in den vollständig lateinisch gehaltenen Briefen Keplers an Mästlin sehr private Dinge in lateinischer Sprache abgehandelt werden, die weitgehend dem Alltag entspringen und keineswegs nur wissenschaftlicher Natur sind. Latein dient aber vornehmlich als Wissenschaftssprache und deckt alle wissenschaftlichen Gegenstände ab, denen sich Kepler in den Briefen zuwendet (Opus (technisch/praktisch), Astronomie (wissenschaftlich/theoretisch), Astrologie (wissenschaftlich/spekulativ) und der Altersbestimmung der Erde (wissenschaftlich/exegetisch)).
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Die Anzahl der Briefe ist zu gering, um hier mit großer Sicherheit Vermutungen anzustellen; denkbar wäre, daß Kepler vor seiner Rückkehr nach Graz bei seinen Treffen mit Mästlin in Tübingen genügend Gelegenheit hatte, jene Themen mündlich zu besprechen, die anschließend brieflich - in Deutsch - ausgetauscht werden mußten. Ein Einfluß der in den Briefen Mästlins fast regelmäßig gehandhabten Durchmischung von Latein und Deutsch als Vorbild ist ebenfalls nicht auszuschließen, da in der lateinischen Korrespondenz Keplers aus dieser Zeit mit anderen Partnern keine deutschen Einschübe festzustellen sind. Es könnte sich demnach um eine zulässige und durch die Distanz sachlich notwendige Norm im Briefwechsel mit dem Lehrer handeln.
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5.2. Briefkategorie II: Lateinische Briefe mit deutschen Einschüben Deutsch tritt in den Briefen dieser Gruppe nur in lange oder längere lateinische Sequenzen eingesprengt auf, entweder als kurzer Abschnitt im Umfang von einigen Sätzen, als kurzes Syntagma (Nominalgruppe) oder als Einzelwort. Eine der am deutlichsten wahrnehmbaren Funktionen des Wechsels vom Lateinischen zum Deutschen ist die Redewiedergabe, das Zitat. Kepler schreibt an Mästlin z.B. über die Unfähigkeit des Goldschmiedes und zitiert dabei ein Gerücht, dessen nicht gerichtsverwertbarer Teil auf Deutsch erscheint. KGW 85, 239 ff. Hie etiam meminerit D. Isengreinius, quid ipsi clam dixerim ex ore cujusdam alius aurifabrj Stuccardianj: hoc uno acquiescere aurifabrum Carolum, quod argentum accipiat, quod explicet se ex aere alieno, damit er alte viljährige verlegne arbaitt fertigen khönde. In manchen Fällen wird eine markante Äußerung, für die das Lateinische kein Gegenstück hat, bzw. deren spezieller Gehalt gerade darin liegt, daß sie deutsch ist, eingefügt. Zusammenfassend ließe sich hier von ,Redewendungen' sprechen. Z.B. zitiert Kepler ein Eigenzitat Mästlins über Keplers hohe Erwartungen in der Angelegenheit; zunächst Mästlin: KGW 80, 68 f. Ich hab besorgt, oblique etiam dixi, es werde zu hoch angefangen werden. Kepler antwortet darauf: KGW 85, 94 f. Deus inde me bond cum pace eruat, jch habs zu hoch angfangen. Eine weitere Funktion des Sprachwechsels scheint zu sein, daß Kepler bestimmte handwerkliche Aufgaben, die er Mästlin zur Weitergabe an den Goldschmied mitteilt, bereits in dessen Sprache niederlegt. Ebenfalls in dem sehr langen Brief KGW 85, in dem Kepler mehrmals abschnittsweise ins Deutsche wechselt, schreibt er zu unterschiedlichen Themen, auch über das Opus, zunächst in Latein. Dabei beginnt er mit Klagen über den Fortgang und dem Wunsch, das Silber dem Fürsten zurückzugeben. Damit das Opus trotzdem gemacht werden könne, will er eine genaue Beschreibung davon geben. Während weiterer Erläuterungen wechselt er ins Deutsche. Der erste deutsche Abschnitt ist etwa 20 Zeilen lang und gibt eindeutige Anweisungen, wie, in welcher Reihenfolge und zu welchem Zweck welche Arbeiten auszuführen sind 26 . Dabei wird jeweils in Latein eingesprengt, was astronomisch-fachlich zu bemerken ist. Z.B.: KGW 85, 38 ff. Damach feile man das gantze opus mitten entzwey, das es nur zwey stuck gebe vnd setze dan circulos pianos, repraesentantes viam planetarum, füeglich darein, das man es also zustürtzen khönde (· ad 26
Vgl. auch im gleichen Brief KGW 85, 348ff., wo, unterstützt von Zeichnungen, sehr ausführlich diese technisch-handwerkliche Beschreibung ins Detail geführt wird.
Die Briefe Johannes Keplers speculationem mej inventj ·) oder abstürtze, chen will.
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wan man es pro Theoria brau-
Der handwerklichen Erläuterung folgt eine wissenschaftliche, die nun wieder ganz in Latein gehalten ist und sich auf die Gradeinteilung der kreisförmigen Umlaufbahnen der Planeten u m die Sonne bezieht, sowie auf Fehler, die er, Kepler, und der Goldschmied gemacht hätten. Die Sterne, die auf der Kugel angebracht worden sind, befinden sich nicht an ihren genauen Ortern. Der lateinische Abschnitt leitet mit der Ankündigung eines Resümees ins Deutsche über: KGW 85: 79 ff. Summa: Der Goldschmid ist khein kupfferstecher, hatt sich zuvil vnderstanden. Wan der Hertzog also mit diser entschuldigung zufriden wäre, so schlüeg man den bettel zuhauffen, vnd gäbe das silber wider. Er macht Alternativen auf, daß a) die Sache aufgegeben wird, b) sie an anderem Orte neu begonnen oder c) von einem nur dafür arbeitenden Handwerker auch unter Keplers Aufsicht - fertiggestellt werde. Ein lateinischer Einschub ist eine harsche Beschuldigung des bisherigen Goldschmieds (s.o.): KGW 85: 85 ff. Der [der unabhängige neue Handwerker, B.K.] setzte sich zu Stutgartt oder Tübingen allein darüber, hett khein andere arbeitt, wie diser carl qui argento principis vetus aes alienum solvit, versuram faciens. Hier hat Latein offenbar, wie auch in der oben zitierten, späteren Textstelle, eine verhüllende Funktion, da die eigentlich ehrenrührige Anschuldigung (Betrug/Unterschlagung) in beiden Fällen nur in Latein genannt wird (vgl. Kästner/Schütz/Schwitalla 1990, 219 „bewußtes Verstehenshindernis"). Kepler äußert sich auch an anderer Stelle ausdrücklich über die Möglichkeit, mit einem lateinischen Text unbefugte Leser auszuschließen 27 . Die Briefkategorie ,Lateinische Briefe mit deutschen Einschüben' ist entweder über die gesamte Brieflänge hinweg in Latein verfaßt und wechselt nur in einigen kurzen Passagen ins Deutsche oder dieser Wechsel läßt innerhalb des Briefes zwar einen größeren deutschen Abschnitt entstehen, der jedoch nur einen kleineren Teil des gesamten - lateinischen - Briefes ausmacht. Wir unterscheiden zunächst folgende Bezugsbereiche, an denen sich die Sprachform zu orientieren scheint:
27
In KGW 106: Kepler, der vom Herzog aufgefordert worden war, genauere Details der weiteren Planung bekannt zu geben, verfaßt in KGW 99, einem Brief an Mästlin, ein offenbar zur Weitergabe an die herzogliche Kanzlei gedachtes deutsches Memorandum, dem ein langer, mehr für Mästlin bestimmter lateinischer Briefteil folgt. Mästlin reagiert darauf aus hier nicht relevanten Gründen verstimmt, was Kepler in KGW 106 veranlaßt, sich zu rechtfertigen, u.a. mit dem Hinweis, daß im lateinischen Text Informationen nicht jedermann zugänglich seien; wer ihn dennoch lese, werde jedoch von Keplers profunder Kenntnis des Gegenstandes überzeugt sein. Es spielt hier über die Funktion der punktuellen Verhüllung die weitergehende des Ideenschutzes hinein.
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- wissenschaftliche Themen, die generell nur in Latein verhandelt werden, darüberhinaus aber auch der volle Umfang anderer Bezugsbereiche - Themen, die dem Bereich der Technik oder den Institutionen zuzurechnen sind 2 8 . Damit ist nicht ausgeschlossen, daß auch die zweite Themengruppe in den lateinischen Textpcissagen auftritt. Zu den nicht-wissenschaftlichen Themen, die sowohl in Latein als auch in Deutsch auftreten, zählen alle Probleme, die sich im weitesten Sinne auf Geld beziehen. Ζ. B. die Frage, wie der Goldschmied mit dem ihm anvertrauten Silber umgeht, die Diskussionen u m die Finanzierung des Opus, die Bezahlung des Goldschmieds etc. brechen häufig ins Deutsche aus. Diese Fälle lassen sich daher näher als ,geschäftsbezogen-institutioneH' charakterisieren 2 9 . Das zweite Thema, das sich in den deutschen Einschüben findet und sich als eigener Bezugsbereich erkennen läßt, ist alles, was mit der Verfertigung der Gerätschaften durch Handwerker zu tun hat. Hier ist Technik in ihrer Umsetzung in konkrete Werkstücke betroffen. Es könnte sich also u m Jiandwerksbezogen-technische' Vermittlungssprache handeln, die aus dem Lateinischen ausscheren muß, weil sich die Texte direkt oder indirekt an den Ausführenden richten (der wahrscheinlich kein Latein beherrscht) und weil vielleicht im Lateinischen auch die sprachlichen Mittel nicht mehr genügend durchgebildet sind, um den handwerklichen Zusammenhang zu beschreiben. Zu beachten bleibt hier der hohe Anteil an unübersetzbaren lateinischen Nominalgruppen, die fachspezifisch-wissenschaftliche Terminologie darstellen (s.u.). In allen thematischen Bereichen finden sich Sprachwechsel, wenn Zitate aus anderen Kontexten wiedergegeben werden. Es können dies sowohl Brief- und Buchstellen als auch Zitate aus mündlichen Gesprächen sein, die evtl. unter dem Aspekt der ,Authentizität' in der Originalsprache wiedergegeben werden. Abgesehen von den deutlich auf bestimmte Bezugsbereiche ausgerichteten deutschen Textstellen, die in lateinischer Umgebung auftreten, findet sich auch eine beträchtliche Anzahl von Textstellen, wo sich der Wechsel ins Deutsche nur schwer einem bestimmten inhaltlichen Komplex zuordnen läßt. In einigen dieser Fälle scheint plausibel zu sein, daß es sich u m ein stilistisches, d.h. innerhalb einer Textsorte abwahlbedingtes Mittel handeln könnte, das allgemein zur Hervorhebung dient: 28
29
Hervorhebung von Resümees und Schlußfolgerungen Themenwechsel am Briefschluß - ausleitendes Thema, Schlußeinleitung das Einbringen kraftvoller, bildhafter Wendungen ironisierende Passagen Die Annahme von in heutiger Zeit gültigen und brauchbaren Kategorien wie institutionelle Sprache' für das ausgehende 16. Jahrhundert ist als Hypothese zu werten, die noch nichts über Geltungsweite, Ausbaugrad etc. aussagt. Vgl. zur Herausbildung der deutschen Wirtschaftssprache Hundt 1994.
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5.3. Briefkategorie III: Deutsche Briefe Die dritte Gruppe von Briefen, die sich nach dem vorwiegenden Sprachgebrauch unterscheiden läßt, ist von den anderen deutlich durch den grundsätzlich anderen Adressatenkreis abgehoben. Es handelt sich ausschließlich u m offizielle' Stellen, mit denen sowohl Kepler als auch Mästlin überwiegend in deutscher Sprache korrespondieren, bzw. im weitesten Sinne u m Texte, die für die Weitergabe an solche Stellen gedacht sind. Deutsch hat sich in dieser Briefsorte wohl parallel zur Einführung des Deutschen als Kanzleisprache etabliert. Trotzdem zeigt sich, daß in die deutschen Texte in unterschiedlichem Maße lateinische Ausdrücke und Sentenzen eingebettet sind. Das Augenmerk soll daher im folgenden wieder auf den behandelten Inhalten liegen, aber auch auf den Schnittstellen zwischen Deutsch und Latein, die Hinweise darauf geben könnten, welche spezielle Bedeutung die lateinischen Einsprengsel für die jeweilige Textsorte u n d / o d e r stilistische Absicht haben könnten. Als Problem ergibt sich, daß die Einschübe, die in lateinischer Kursive gegenüber dem deutschen Text abgesetzt sind, nur mehr teilweise als ,echtes' Latein anzusehen sind. Es fallen zunehmend Ausdrücke auf, die in unterschiedlichem Maße assimiliertes Latein darstellen. Eine Untersuchung und Unterscheidung dieses Ausdrucksmaterials, das auch im Rahmen der Frage nach dem ,Fremdwort' zu sehen ist, kann in diesem Aufsatz nur angedeutet werden; es sollen vor allem die Kategorien entfaltet werden, die eine Zuordnung der Texte zu den einzelnen Bezugsbereichen erlauben und sich damit als spezielle Merkmale der Textsorten herausstellen 3 0 .
6. Gliederung der Briefe aus Kategorie III nach den in lateinischer Kursive geschriebenen Ausdrücken Die in Kategorie III zusammengestellten Briefe, die sich durch ihre Sprachform und den Adressatenkreis deutlich von I und II abheben, sind nach der unterschiedlichen Verwendung lateinisch geschriebener Ausdrücke und Syntagmen weiter gliederbar. Es stechen ζ. B. das Gutachten Mästlins (12NK) und der Bericht Keplers (KGW 99) sowohl in Länge als auch Verwendung der Latinismen deutlich von den anderen Briefen der Gruppe ab, da in ihnen Wissen, Kenntnisse und fachmännische Beurteilung eingefordert werden, die gegenüber der einholenden Institution mittels gelehrter lateinischer Einschübe und Zitate untermauert, bewiesen und beglaubigt werden müssen. In den reinen Bittschriften ist dies nicht in dem Maße nötig. Die dort verwendeten lateinischen Ausdrücke sind mehr juristisch/kaufmännisch und richten sich an die institutionelle Verwaltung. 30
Die nachfolgenden Angaben berücksichtigen jeweils nicht die kanonisierten Textteile Anrede, Datumsangabe am Briefschluß, Anschrift u.a.
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Es deutet sich ein Zusammenhang zwischen Teilwortschätzen und Funktionsbereichen an, zu dessen genauerer Beschreibung folgende Kategorien gebildet und vorläufig benannt werden. Lateinische Ausdrücke: Die vollständig in lateinischer Kursive geschriebenen und mit korrekter lateinischer Morphologie verwendeten Ausdrücke sind danach zu trennen, ob es sich um einzelne Nomina oder Nominalgruppen handelt oder um längere Syntagmen. Neben hier nicht näher betrachteten Ortsund Personennamen, Datumsnennungen u. ä. handelt es sich um Fachbegriffe und Zitate aus lateinischen Quellen und Wissensbeständen. Beispiele: KGW 99, 5 f. Anfangs ist Vnnot, sondern auß meinen ersten supplicationibus zuersehen, was mich Irer Fürstl. Gnaden sollich Werckh anzutragen, sonderlich bewegt [...] KGW 99, 95 ff. Das solliche globi caelestesvnd himlische Vhrwerckh nichts new es, sondern vor 1600 Jahren im brauch gewest, jst vnder anderm auch auß Cicerone abzunemen, wöllicher zweyer sollicher Vhrwerckh gedenckt, erstlich Arehimedis mit folgenden Worten, Archimedes Lunae, Solis, quinque errantium motus in sphaeram alligavit, [... ] Werden die Ausdrücke auf Bezugsbereiche bezogen, so ergibt sich, daß Texte, welche dem Bezugsbereich ,Wissenschaft' (Astronomie, Geographie) zuzurechnen sind, die höchste Zahl an solchen Substantiven und Adjektiven enthalten. KGW 30,21 ff. Wirdt nun gefragt, warumb nur sechs orbes [...] Antworte jch aus fürhabendem Muster, dieweil Gott der Herr nicht mehr als fünff Regularia corpora, vnd in diser Ordnung, wie im Muster zu sehen, gefunden, da ie eines zwischen zwayen Orbibus stehet, vnd den eissersten mit allen spitzen, den jnnern mit allen centris anrühret. Lateinische Verben fehlen fast völlig, da die syntaktischen Beziehungen des Satzes (mit Ausnahme der längeren lateinischen Zitate) vom deutschen Verbum regiert werden. Texte mit dieser Ausdrucksstruktur finden sich in den Briefen/Briefteilen, die als ,Gutachten' Keplers oder Mästlins zur Vorlage bei Hofe gedacht sind. Lateinisch/deutsche Ausdrücke: Von der ersten Gruppe heben sich solche Ausdrücke ab, die in einer Mischform aus deutscher Kurrentschrift und lateinischer Kursive geschrieben sind (von Polenz 1991, 238 f. „hybride" Formen). Meist handelt es sich um Ausdrücke, die lateinisch oder deutsch beginnen und ab einer wortbildungsmäßig passenden Fuge deutsch oder lateinisch fortgesetzt werden. In einigen Fällen kann ein Erstglied und ein durch ein Spatium abgetrenntes anderssprachiges Zweitglied als (entstehendes) Kompositum aufgefaßt werden. Als Untergruppen sind folgende Erscheinungen hier einbezogen: Ausdrücke, die kein (klassisch) korrektes Latein darstellen, ζ. B. die Substant i a mit Endungen auf ,-on', ferner Verben, die - vollständig lateinisch geschrieben - deutsche Endungsmorphologie zeigen31. Beispiele: 31
Der Schriftgebrauch schwankt hier: Ζ. T . finden sich die Verben auch in der Gruppe der
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KGW 28, 5f. Demnach der Allmechtig verschinen Sommer nach langwüriger vngesparter mühe vnd vleiß mir ein Hauptinventum in der Astronomia geoffenbaret: [...] KGW 99, 1 f. Defi Hern schreibens jnhalt, da» Astronomische Werckh vnd Fürstlichen befehl betreffend hab jch gnuegsamlich vernommen, [...] KGW 28, 36ff. Wie dan auch Mir eine solliche commendation gereichen vnd dienen würde.
Gnad [...] zu
besonderer
KGW 50, 13 f. So befinde jch aber hingegen, daß jch die zwehn Monat, von der Zeitt an, da jch das Papyrene Muster gemacht, E. F. Gn. mir den tisch zu hoff assignirt, [...]
erste biß
Die Zuordnung zu Bezugsbereichen ergibt, daß in dieser Ausdrucksgruppe die Verben deutlicher heraustreten supplictm, praesentim, demonstrim, referim etc. Der angetroffene Wortschatz trägt überwiegend Züge der Institutionensprache. Der institutionelle Charakter steht im deutlichen Gegensatz zur Gruppe der lateinischen Ausdrücke mit ihrem wissenschaftlichen Gepräge. Die Ausdrücke tragen ζ. T. zur Textkonstitution insofern bei, als sie die Bedeutungsträger der Leitintentionen sind, ζ. B. in Bittbriefen. Als zusätzlicher Hinweis darauf könnte gewertet werden, daß die lateinische Schrift in der deutschen Umgebung auch eine optische Hervorhebung darstellt und so dazu geeignet ist, den Kern des Briefes, die Absicht hervorzuheben. Die umgekehrte Erscheinung, daß deutsche Ausdrücke in lateinischer Umgebung als besonders betonte Einheiten, Redewendungen u . ä . auftreten, ist ebenfalls belegt (s.o.). F r e m d — / L e h n w ö r t e r : Bei der letzten und am schwierigsten zu greifenden Gruppe handelt es sich u m Ausdrücke, die nur in deutscher Schrift auftreten, aber ,erkennbar' fremden Ursprungs sind 3 2 . Die Beobachtung solcher vollständig in deutscher Kurrentschrift geschriebener Ausdrücke bezieht sich nicht auf den ,Erbwortschatz', sondern auf den von Kepler deutsch geschriebenen Bestand an F r e m d - und Lehnwörtern, der sich häufig formal durch die abweichende Schreibung (ζ. Β . c statt k u. ä.) auszeichnet. Es wären jedoch auch Fälle zu berücksichtigen, wo die Eindeutschung graphematisch vollständig durchgeführt ist und der Lehnwortcharakter eventuell zu Keplers Zeit bereits nicht mehr durchsichtig war. Meist handelt es sich u m deutsch geschriebene Ausdrücke, die lexikalisch im Lateinischen wurzeln (häufig mit Umwegen über das Italienische oder Französische), meistens aber morphologisch adaptiert sind. Beispiele:
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nur in deutscher Kurrentschrift geschriebenen Ausdrücke, s. d. Die angedeuteten Schwierigkeiten ergeben sich aus der Frage, woran die Kandidaten für diese Gruppe e r k e n n b a r sein sollen. In der Fremdwortforschung ist das Problem bekannt (vgl. Kirkness 1990) und gefürchtet (vgl. das impressionistische Vorgehen bei Kettmann 1978, 348). Wir sind uns daher des vorläufigen Charakters der hier getroffenen Unterscheidung bewußt.
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KGW 28, 6 f. Wie solliches jch in eim besondern Tract&tl außgeführt, vnd allberaitt zupublicirn in willens: [...] KGW 30, 38 f. Dieuieil auch nun mehr dem fürnemisten jntent meiner anfangs gemeldten Supplication mit vberraichung dises Musters schon genug beschehen, [...] Eine genaue Behandlung dieser Ausdrucksgruppe würde den hier gegebenen Rahmen sprengen: Es ist aber auffällig, daß eine Reihe von Doubletten existieren, die sowohl in deutscher als auch in lateinischer Schrift erscheinen. Wieder finden sich wie oben Verben, ζ. B. formieren, datieren, offendierdn, procedieren, resolvieren etc., die sich alle dem ,höfisch-kanzlistischen' Gebrauch und damit dem institutionellen Bezugsbereich zuordnen lassen. Hier wird die Inkorporierung dieses Teilwortschatzes ins Deutsche und damit seine wichtige Rolle beim funktional gegliederten Ausbau des Deutschen nach Bezugsbereichen prozessual greifbar. 7. Zusammenfassung und Ausblick Die thematisch eng umgrenzten Ausschnitte des hier zugrundegelegten Korpus können naturgemäß keine Auskünfte über andere Bezugsbereiche als die angeschnittenen geben. Folgende Gesichtspunkte sind aber - mit dieser Einschränkung - abschließend hervorzuheben: Briefe erweisen sich als sehr interessante Textart, da sie prinzipiell allen Bezugsbereichen zugänglich sind. Sie sind eine autonome sprachgeschichtliche Quelle, da es mit ihrer Hilfe u. U. möglich werden kann, den jeweiligen historischen Zuschnitt der Bezugsbereiche und den Einsatz der dort angemessenen sprachlichen Mittel näher zu durchleuchten. Ein sprachlicher Indikator für die Zugehörigkeit zu bestimmten kommunikativen Bezugsbereichen (,Welten'), scheint die Verwendung von Latinismen, Fremdwörtern u. ä. zu sein. Dieses ζ. T. textkonstitutive Merkmal hat in dem betrachteten sprachgeschichtlichen Abschnitt Ausprägungen, die von vollständig lateinisch' über Mischformen bis hin zum ,gänzlich deutschen' Brief reichen. Ein besonders für die Zwischenstufen wichtiges Beurteilungskriterium ist der Wechsel zwischen deutscher Kurrentschrift und lateinischer Kursive. Anders als bei Drucken, bei denen immer ein nicht genau bezifferbarer Einfluß des Druckers zu unterstellen ist und bei denen meist die handschriftliche Vorlage fehlt, liegen Briefe häufig handschriftlich und eigenhändig vor, so daß es sich bei dem hier beobachteten Unterschied um den Schriftgebrauch des Autors und dessen mehr oder weniger bewußte Absicht handelt (s.o.). Mit der Untersuchung dieses Merkmals sind wesentlich genauere Ergebnisse zu erzielen als mit der rein statistischen Auszählung des Anteils von Fremdwörtern (vgl. Kettmann 1978); der Bezug auf den funktionalen Aspekt (Bezugsbereiche) ist für die Beurteilung ζ. B. der Tischgespräche Luthers (vgl. Stolt 1964, 1969, kritisch dazu Schildt 1970) oder der deutsch/lateinisch durchmischten Schriften des Paracelsus (vgl. Pörksen 1983, 250 f.) ein weiterführender Ansatz.
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Es ergibt sich daraus eine Quelle für die diffizile Beziehung zwischen Deutsch und Latein: Schon das kleine Korpus zeigt Regularitäten im Gebrauch, die bei der Sicht auf größere Längsschnitte - sehr genau aufschließen könnten, wie die Ausbauphasen und Ausbaustadien des Deutschen in der Ubergangszeit zwischen Latein und Deutsch beschaffen sind. Auch hier ist m. E. der Brief ein besonders günstiger Studiengegenstand, da er ganz parallel - wie hier gezeigt die gleichen Inhalte in verschiedenen ,Schreibkonstellationen' zeigt. Da Briefe bis zu einem bestimmten Grad immer auch einen Alltagsbezug haben, handelt es sich um eine der wenigen Quellen, die eine nicht literarisch überformte historische Alltagssprache transparent werden lassen. Literatur Bohse, August (Pseudonym: Talander) (1700): Gründliche Einleitung zum Teutschen Briefen. Jena. Caspar, Max (1945): Einleitung. In: Johannes Kepler. Gesammelte Werke. Bd. XIII. Briefe 1550-1599. Hg. v. Max Caspar. München, VII-XVII. Delitsch, Hermann (1928): Geschichte der abendländischen Schreibschriftformen. Leipzig. Dyck, Walther von (Hg.) (1934): Die Keplerbriefe auf der Braunschweigischen Landesbibliothek in Wolfenbüttel. II. Teil. Zusammen mit zugehörigen Aktenstükken der Landesbibliothek in Stuttgart. München. (=Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung. Neue Folge. Heft 23. Nova Kepleriana 8). Ermert, Karl (1979): Briefsorten. Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation. Tübingen. (=RGL 20). Gipper, Helmut (1978): Wechselwirkungen zwischen sprachlichem Weltbild, wissenschaftlichem Weltbild und ideologischer Weltanschauung in Forschungsprozessen. Fallstudie: Johannes Kepler (1571-1630). In: Gipper, H. Denken ohne Sprache. 2. Aufl. Düsseldorf, 125-165. Götze, Alfred (1919): Anfänge einer mathematischen Fachsprache in Keplers Deutsch. Berlin. (=Germanische Studien 1). Hamel, Jürgen (1989): Astronomie und Astrologie im 17. Jahrhundert. Zur Wechselbeziehung zwischen Empirie, Weltanschauung und technischem Fortschritt. In: Wendel, G. (Hg.). Naturwissenschaftliche Revolution im 17. Jahrhundert. Berlin. (=Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 7), 75-92. Hundt, Markus (1994): Modellbildung in der Wirtschaftssprache. Eine Untersuchung zu den Institutionen- und Theoriefachsprachen der Wirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Metaphorik zum Geldbegriff vom Ende des 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Diss. Freiburg. (Demnächst). Kästner, Hannes/Schütz, Eva/Schwitalla, Johannes (1984): Die Textsorten des Frühneuhochdeutschen. In: Besch, W. u.a. (Hgg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Berlin, New York. (=HSK 2.1), 1355-1368. Kästner, Hannes/Schütz, Eva/Schwitalla, Johannes (1990): ,Dem gmainen Mann zu guttem Teutsch gemacht''. Textliche Verfahren der Wissensvermittlung in
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BERND NAUMANN, E r l a n g e n
Dialog mit dem Anrufbeantworter: Eine Kommunikationsform der besonderen Art
1. Der Forschungszusammenhang Mit Dieter Wunderlich gehörte Hugo Steger in Deutschland zu den ersten, die sich systematisch mit der gesprochenen deutschen Gegenwartssprache befaßt haben. Doch während Wunderlich sich mit der exemplarischen Anwendung der empirischen Sprechakttheorie auf das Deutsche begnügte und deren Erweiterung zu einer umfassenden Diskursanalyse nur skizzierte (siehe zusammenfassend Wunderlich 1976), erarbeitete Steger mit seinen Mitarbeitern in Freiburg in den 70er Jahren auf der Grundlage ethnomethodologischer Forschungen (siehe dazu etwa die Beiträge in Schenkein 1978 und, zusammenfassend und kritisch, Meng 1985) Methoden und Grundlagen für die Analyse von Gesprächen (einführend siehe Steger/Deutrich/Schank/Schütz 1974). Dabei ging es um die systematische Herausarbeitung aller relevanten dialogischen Elemente, um Merkmalsbündel sozialer Situationen, um Redekonstellationstypen und um diesen zugeordnete Textmuster. In detaillierten Analysen ausgewählter Gesprächstypen, wie etwa dem Interview (Schwitalla 1977) oder dem Beratungsgespräch (Schänk 1981), wurden Segmentierungsverfahren, Steuerungsmittel, Eröffnungen und Abschlüsse erforscht. Um eine umfassende Gesprächstypologie ging es den Freiburgern m.W. jedoch nicht, daran arbeitet (auf anderer Grundlage und mit anderer Zielsetzung) seit den 80er Jahren eine Münsteraner Forschergruppe um Franz Hundsnurscher (zusammenfassend siehe dazu Weigand 1989). Auch in diesem Kontext ist eine Fülle von zumeist kürzeren, exemplarischen Einzeluntersuchungen zu unterschiedlichen Dialogtypen erschienen (siehe dazu die seit 1986 im Zweijahresabstand erscheinenden Tagungsbände, die alle den Terminus ,Dialoganalyse' im Titel tragen) 1 . 1
Bis Ende der 80er Jahre gab es in der ehemaligen DDR um Dieter Viehweger und Bärbel Techtmeier eine eigene Art der Gesprächsanalyse, die sich „tätigkeitsorientiert" nannte (siehe Techtmeier 1984). Diese Variante unterschied sich zwar im Anspruch, kaum jedoch in Arbeitsweise und Ergebnissen von den Arbeiten in Westdeutschland. In Braunschweig arbeitet unter Leitung von Helmut Henne eine kleinere Forschergruppe ebenfalls dialoganalytisch auf streng empirischer Grundlage. Zwischen ihnen und den Münsteranern kam es zu für Außenstehende etwas eigenartig anmutenden Irritationen über den Gebrauch des Terminus .Grammatik' im Zusammenhang dialoganalytischen Arbeitens, siehe Rehbock 1993 und Weigand 1993.
Dialog wit dem
Anrufbeantworter
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In den 70er und 80er Jahren erschienen auch allgemeine Einführungen in die Gesprächsanalyse (von Schank/Schoenthal 1976, Henne/Rehbock 1978 und Brinker 1989). 1983 kam dann die erste ausführliche deutsche Bibliographie zu dem neuen Forschungsgebiet heraus (Mayer/Weber 1983). Dennoch meinte Sucharowski noch 1984 den Titel eines Aufsatzes zur Gesprächsanalyse als Frage formulieren zu müssen: „Gespräch - ein Gegenstand der Linguistik?" (Sucharowski 1984). Bei der Lektüre stellt sich allerdings schnell heraus, daß das Fragezeichen hier unangebracht ist, denn Sucharowski versucht einen Forschungsüberblick über verschiedene Ansätze der Gesprächsanalyse zu geben, ohne diese selbst in Frage zu stellen. Beiden Ansätzen, dem Freiburger und dem Münsteraner Projekt, geht es in erster Linie um die Herausarbeitung der gesprächsrelevanten verbalen Handlungen der am Dialog beteiligten Personen. Die Bedeutung nonverbaler Elemente wird zwar nicht in Abrede gestellt, einige suprasegmentale Faktoren wie Intonation, Betonung und Pausen spielen auch bei der Notation und Transkription eine gewisse Rolle, aber die linguistische Dialoganalyse hat nonverbale Faktoren bisher kaum als gesprächskonstituierende, allenfalls als gesprächsbegleitende Elemente betrachtet 2 . Dabei gibt es unter dem Stichwort,Körpersprache' seit dem epochemachenden Werk von Charles Darwin (1872) eine Fülle von (allerdings zum großen Teil populärwissenschaftlicher) Literatur zur Rolle nonverbaler Elemente in der mündlichen Kommunikation. Erst ein neuerer Ansatz von Edda Weigand, der den bisherigen, auf die Analyse verbaler Elemente beschränkten Ansatz zugunsten eines weiter gefaßten ,dialogischen Handlungsspiels' verläßt (siehe Weigand 1992), berücksichtigt auch gesprächsrelevante nonverbale Faktoren. Nicht für alle Gesprächstypen sind nonverbale Elemente in gleicher Weise relevant, in beziehungsorientierten Dialogen (etwa bei einem Anbandelungsversuch eines Mannes bei einer Frau oder umgekehrt) sind sie wichtiger als in sachorientierten (also ζ. B. in einem Auskunftsdialog am Informationsschalter der Bundesbahn).
2. Modalitäten der Telekommunikation Bei Telephongesprächen sind Stimmlage, Stimmhöhe, Sprechrhythmus, Intonation, Betonung, Sprechpausen und andere akustische und auditive Faktoren 2
Die Verwendung des Fachwortes .nonverbal' ist nicht einheitlich. Normalerweise wird der Terminus im weiteren Sinne verstanden, also als Summe lautlicher (Intonation, Sprechrhythmus, Tonhöhe, Pausen etc.) und nichtlautlicher (Gestik, Mimik) Signale (siehe dazu etwa Schober 1990, 30f.). Wenn Hess-Lüttich aber behauptet, bei Telephongesprächen seien alle nonverbalen Codes ausgeklammert (1990, 245), dann kann er damit nur nichtlautliche Signale meinen, also Signale des visuellen Kanals. Er verwendet also den Terminus ,nonverbal' in eingeschränkterem Sinne. In dieser Arbeit wird er wie bei Schober e.a. im weiteren Sinne gebraucht.
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viel wichtiger als bei Dialogen von Angesicht zu Angesicht, die heute häufiger Face-to-face-Dialoge heißen, weil bei Telephongesprächen unser wichtigster Informationskanal, der visuelle, ausgeschaltet ist 3 . Auch Dialektfärbungen oder andere regional gebundene Aussprachegewohnheiten sind am Telephon viel deutlicher zu hören als bei einem normalen Gespräch, weil die ganze Aufmerksamkeit dem akustischen Kanal gilt. Bei einer neueren Form der Telephonkommunikation, der über Anrufbeantworter, kommen dazu weitere gesprächskonstituierende Faktoren. An die Stelle des gesprächseröffnenden Austausche von Begrüßungs- und Einleitungssequenzen tritt ein auf Band gesprochener, vorformulierter Standardtext des Angerufenen. Deshalb gehört die Kommunikation mittels Anrufbeantworter zum Randbereich der Gesprächsanalyse, denn um gesprochene Sprache nach der Freiburger Definition (siehe etwa Jäger 1976), nach der Spontaneität eine entscheidende Rolle spielt, handelt es sich hier nur zur Hälfte, d.h. in den ad-hoc formulierten Texten der Anrufer. Die programmierten Texte der Angerufenen sind nicht spontan, sondern vorbereitet und überlegt gestaltet, in vielen Fällen schriftlich konzipiert und erst danach auf Band gesprochen/gelesen. (Eine Ausnahme stellt hier nur der wohl seltenere Fall dar, daß der Anrufer von vornherein annimmt, sein Gesprächspartner habe seinen Anrufbeanworter eingeschaltet, weshalb er selbst einen geschriebenen oder auch auswendig gelernten Text vorbereitet hat, den er dann nach dem Piepston auf Band spricht). Dieses Ungleichgewicht macht diese Art der Kommunikation für viele Anrufer problematisch. 2.1. Der programmierte Text. Variante 1: Das ,Infotelephon' Anrufbeantworter gibt es schon lange, wenn man darunter auch allgemeine Ansagen der Post verstehen will, also Zeitansagen, Ansagen von Lottozahlen, Börsenkursen, Wettervorhersagen, Veranstaltungskalender etc. (siehe dazu Hess-Lüttich 1990, 252). Diese Art der Kommunikation ist im Gegensatz zu normalen Telephongesprächen eine unilaterale Kommunikationsform, d.h. der Anrufer kann zuhören, aber nicht selbst sprechen. Bei dieser traditionellen Variante des Anrufbeantworters als unilaterales Informationsmedium ist das Kommunikationsschema sehr einfach. Der Anrufer wählt eine Nummer und hört dann einen programmierten Text. Danach schaltet die Maschine wieder ab. Bei manchen Versionen kann man den Programmtext mehrmals anhören und selbst entscheiden, wann man wieder auflegen will. 3
Mit Telephondialogen (auf ethnomethodologischer Grundlage) hat sich zuletzt HessLüttich (1990) befaßt, mit den Modalitäten der Eröffnung und Beendigung, mit dem Problem der Kontaktsicherung und mit Telephongesprächen in unterschiedlichen öffentlichen und nichtöffentlichen Environments. Hier findet sich auch eine Fülle weiterführender Literatur aus den 70er und 80er Jahren. Um akustisch-technische Aspekte geht es Gierlich 1988.
Dialog mit dem Anrufbeantworter
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Ämter und Institutionen benutzen ihre Anrufbeantworter heute gewöhnlich ebenfalls als Informationsinstrument. Der Anrufer soll sich den programmierten Text anhören und dann auf einen eigenen Text verzichten, denn ein Rückruf ist bei derartigen Texten nicht vorgesehen. Als Beispiel 4 der Text eines größeren Pfarramts (St. Lorenz in Nürnberg): Grüß Gott - hier is der audomadische Anrufbeantworder der evangelischen Pfarrei Sangt Lorenz - das Büro is am Freidach von 8 bis 12 geöffnet - in dringenden seelsorgerischen Nodfällen is am Midwoch der Herr Diakon xy under der Nummer [...] zu erreichen - ich wiederhole - am Donnerstag der Herr Pfarrer xy under der Nummer [...] ich wiederhole - Ende der Durchsage - auf wiederhörn. Das Pfarramt gibt hier das bekannt, was erfahrungsgemäß von Anrufern erfragt wird, es eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, in dringenden seelsorgerischen Notfällen unter zwei anderen Nummern mit diensthabenden Ansprechpartnern verbunden zu werden (allerdings nur an zwei Tagen in der Woche, der Anrufer muß sich natürlich fragen, wohin er sich mit Notfällen wendet, die zwischen Samstag und Dienstag passieren). Das Pfarramt nimmt an, daß mit dieser Ansage das Informationsbedürfnis jedes Anrufers gedeckt ist. Es besteht jedenfalls nicht, wie bei anderen Anrufbeantwortern, die Möglichkeit zurückzurufen, denn nach derartigen Texten erfolgt keine Aufforderung zu sprechen und auch kein Piepston, der Aufnahmebereitschaft signalisiert, sondern die Maschine schaltet ab. In diesem Fall wird der Text auch nicht wiederholt: Wenn man die angegebenen Nummern trotz zweimaliger Ansage nicht mitbekommen hat (vielleicht weil man beim Anruf nicht daran gedacht hat, einen Stift bereitzulegen), muß man noch einmal anrufen. Es gibt jedoch auch Geräte, die den Ansagetext ein- oder mehrmals wiederholen. Auch politische Vereinigungen und Organisationen machen unter dem Stichwort ,Infotelephon' von dieser Kommunikationsform Gebrauch. Ansagetexte informieren über Versammlungen, Broschüren, Veranstaltungen, Kontaktadressen etc. Im Falle von Amtern und Behörden und Organsationen haben derartige Texte rein praktische Funktionen. Es gibt aber auch Fälle, in denen Informationstexte eher der Selbstdarstellung dienen als der Information des Anrufers. Im Dezember letzten Jahres veröffentlichten Alexander Stuart und Andrew Walpole im ,Observer' originelle Texte, die Literaten und Schauspieler auf ihre Anrufbeantworter gesprochen haben. Sie reichen von kurzen persönlichen Statements bis hin zu Witztexten wie etwa (mit der englischen Nationalhymne als Hintergrund):
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Die folgenden Beispieltexte sind alle authentisch, d.h. es handelt sich um in der Realität existierende Texte, die vom Autor durch mehrmaliges Abhören in lockerer Form transkribiert wurden. Auch die aus dem ,Observer' zitierten Texte sind nach Angaben der Verfasser des Artikels authentisch. Der Unterschied, den Müllerovä (1989, 182f.) zwischen authentisch' und arrangiert' macht, wird hier nicht übernommen.
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Bernd Naumann My Lords, Ladies and Gentlemen. We believe that the answering machine is now an integral part of our national heritage and that everyone should participate in this change. I ask you to rally to the cause. May God bless you all.
Hier findet sich auch ein Beispiel dafür, daß der Text auf einem Anrufbeantworter den Sinn des Geräts, für einen Anrufer trotz Abwesenheit dennoch erreichbar zu sein, in sein Gegenteil verkehren kann. Die amerikanische Autorin eines umstrittenen Sex-Bestsellers hat ihren Anrufbeantworter von ihrem Sekretariat so programmieren lassen: You have reached the voice mail line of Professor Camille Paglia. Due to present obligations as a teacher and scholar, Professor Paglia cannot personally return calls. American and Canadian media with official requests for interviews should contact her publishers. International media should contact her agent. Invitations to speak and all other business should be put in writing and sent to Professor Paglia at the Department of Humanities, University of Philadelphia. Do not send faxes. Professor Paglia does not accept them. All packages are opened and inspected by staff. Unsolicited materials without return post may be automatically discarded. Urgent messages outside above categories may be left on this machine. If you do not receive a letter or reply, please assume Professor Paglia is not interested in your proposal. The Department of Humanities regrets that our current staff does not allow us to respond personally to everyone who writes to Professor Paglia. Anstatt einzuladen, schreckt dieser Text bewußt ab. Es geht hier vor allem darum, dem Anrufer die Bedeutung des Angerufenen deutlich zu machen und ihn entsprechend einzuschüchtern. Nach diesem Text werden sich die meisten Anrufer hüten, ihrerseits einen Text auf Band zu sprechen. Natürlich müssen sich Personen des öffentlichen Lebens oder die, die sich dafür halten, davor schützen, von zu vielen Leuten belästigt zu werden. Gewöhnlich geschieht dies aber dadurch, daß sie privat ausschließlich über Geheimnummern zu erreichen sind. Die Anrufbeantworter ihrer Dienstellen sind normalerweise einladend programmiert (sie weisen etwa darauf hin, wohin m a n sich bei Autogrammwünschen wenden sollte), denn gerade dieser Personenkreis ist ja oft an der Pflege des eigenen Images interessiert. Deshalb gehört der zitierte Text wohl eher zu den Ausnahmen des Genres. 2.2. Der programmierte Text. Variante 2: Text mit Sprechaufforderung und Rückrufabsicht Die komplexere Variante des Mediums Anrufbeantworter bilden Versionen, die den Anrufer miteinbeziehen. Hierbei handelt es sich nicht u m eine unilaterale Kommunikationsform, denn es kommt hier zu einer verbalen Interaktion zwischen dem Sprecher des Programmtexts und den ad-hoc-formulierten Äußerungen des Anrufers. Ohne Programmtext funktionieren Anrufbeantworter nicht.
Dialog mit dem
Anrufbeantworter
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In Deutschland werden seit etwa zwanzig Jahren Anrufbeantworter von Firmen genutzt, die auch nach Dienstschluß und an Sonn- und Feiertagen erreichbar sein wollen. Seitdem auch Privatleute diese neue Kommunikationsform entdeckt haben, wächst die Zahl derer, die sich ein derartiges, inzwischen preiswertes und leicht zu bedienendes Gerät zulegen. Dafür gibt es sozialpsychologische Gründe: Der Besitzer eines Anrufbeantworters versäumt nichts oder glaubt zumindest, nichts zu versäumen. Man kann sich natürlich fragen, war u m die Zahl derer, die meinen, telephonisch immer erreichbar sein zu müssen, zunimmt. Noch vor wenigen Jahren war die Tatsache, daß man nicht immer erreichbar ist, allgemein akzeptiert, heute kann m a n schon Vorwürfe hören, wenn man keinen Anrufbeantworter hat. Einen weiteren Vorteil sehen viele darin, daß man seinen Anrufbeantworter einschalten kann, auch wenn man zu Hause ist. Man wird dann nicht durch Telephonanrufe gestört. Dies kann auch dazu dienen, belästigende (obszöne oder beleidigende) Anrufe zu verhindern, denn Texte dieser Art wird kaum jemand aufs Band sprechen, schon deshalb nicht, weil dies bei einer Anzeige als Belastungsmaterial gegen ihn verwendet werden kann. Diese komplexere Variante besteht nach der Nummernwahl aus (1) einem programmierten Text auf dem Band der Maschine, (2) einem Piepston, der den Anrufer dazu auffordert, seinen eigenen Text auf Band zu sprechen, (3) diesem ad hoc formulierten Text des Anrufers, und (4) einer programmierten Schlußbemerkung des Angerufenen. Die Teile 1 und 3 bieten eine Fülle von Möglichkeiten und erlauben Einsichten in psycholinguistische Aspekte dialogischen Verhaltens. Zunächst wurden Texte von Privatanschlüssen nach dem Muster von Firmentexten programmiert. Sie waren möglichst neutral formuliert, denn sie sollten ja jeden Anrufer ansprechen, also etwa Hier ist die Firma xy - unsere Geschäftszeiten sind ... wenn Sie uns außerhalb dieser Zeiten eine Nachricht auf Band hinterlassen wollen - rufen wir Sie gerne zurück - bitte sprechen Sie nach dem Piepston. Zum Teil sind derartige Text hoch standardisiert. Hess-Lüttich bemerkt am Beispiel von Ansagetexten in Arztpraxen dazu: Die formelhaften Wendungen, die syntaktische Gleichförmigkeit, die lexikalische Stereotypie, die nahezu festliegende Sequenzstruktur der Handlungen sind vielleicht, abgesehen von der Enttäuschung darüber, daß das gewünsche Gespräch nicht zustande kommt, eines der Motive dafür, daß nur wenige Leute die Kommunikation mit einem Anrufbeantworter als Vergnügen empfinden (Hess-Lüttich 1990, 253). Für Privatpersonen stellt sich das Problem der Textformulierung etwas anders als für Firmen. Natürlich kann man auch hier einen möglichst neutralen Text formulieren, und viele tun dies auch. Für anrufende Freunde und Bekannte sind derartige Text allerdings oft zu formell. Manche versuchen daher, zwischen
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neutralen und persönlich gehaltenen Texten Kompromisse irgendwelcher Art zu finden. Bei neutral formulierten Texten privater Anschlüsse ist wenigstens noch die Stimme des Angerufenen persönlich, der Wortlaut des Textes aber unpersönlich und neutral, also etwa Hier ist die Nummer von .. .(oder Hier ist der Anrufbeantworter von ... - leider bin ich im Moment nicht zu Hause - ich würde mich aber freuen - wenn Sie mir eine Nachricht hinterließen - ich rufe Sie dann gleich zurück. Derartige Programmierungen werden von Leuten bevorzugt, die im Berufsleben stehen, die also auch mit geschäftlichen Anrufen zu rechnen haben. Im Handel werden für diesen Personenkreis heute (nach amerikanischem Vorbild) fertig programmierte Standardtexte angeboten. Der Käufer muß bei Inbetriebnahme nur noch seine eigene Anschlußnummer auf Band sprechen. Texte können mit fünf Grundfunktionen eingesetzt werden, (1) (2) (3) (4) (5)
um um um um um
Kontakt zu einem Kommunikationspartner aufzubauen, Handlungen des Kommunikationspartners zu steuern, zu informieren, subjektive Einstellungen zu vermitteln und ästhetische Werte zu vermitteln (Blühdorn 1993, 22).
Bei der oben dargestellten Variante 1 (unilaterale Kommunikation) werden nur die Funktionen (2) und (3) aktiviert, bei der Variante 2 (bilaterale Kommunikation) die Funktionen (1), (2) und in eingeschränktem Maße (3), also Kontaktaufnahme und Handlungssteuerung. Ihre Informationsabsicht beschränkt sich auf die Kundgabe des persönlich nicht Verfügbarseins, Vermittlung subjektiver Einstellungen und ästhetischer Werte ist bei Texten dieser Art nicht beabsichtigt. Alle fünf von Blühdorn genannten Textfunktionen werden dagegen in den folgenden Varianten eingesetzt. Sachlich formulierte Texte wie die oben aufgeführten bilden, wie gesagt, die Norm der Gattung. Daneben kommt es aber hier zu einer Fülle individueller Varianten, denn vor allem jüngeren Leuten ist diese einfache Form nach dem Muster von Firmen zu wenig originell. Es entwickeln sich zunehmend komplexere Formen, bei denen die Vermittlung subjektiver Einstellungen und ästhetischer Werte mindestens so wichtig ist wie Kontaktaufnahme, Handlungssteuerung und Information. Inzwischen kommt es unter jungen Leuten zu Wettbewerben um den originellsten Text auf Anrufbeantwortern: Nummern werden ausgetauscht und Leute rufen an, nur um zu hören, was der oder jener auf das Band seines Anrufbeantworters gesprochen hat. Dabei begnügt man sich längst nicht mehr mit Worten, sondern man unterlegt den eigenen Text mit Musik oder mit Geräuschen. Einer, von dem seine Bekannten wissen, daß er öfters seinen Hund ausführen muß, hat die Lautäußerungen seines Vierbeiners in seinen Text auf dem Anrufbeantworter integriert:
Dialog mit dem
Anrufbeantworter
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Tut mir leid, aber ich bin grad nicht zu Hause - Hundegebell - um den Hörer abzunehmn - Hundegebell - wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassn - Hundegebell - ruf ich Sie gleich zurück - mehr Hundegebell. Ein junges Paar, stolze Eltern, hat seinen Anrufbeantworter von ihrer kleinen Tochter besprechen lassen: Hallo - hier is der Anrufbeantworter von Tine und Torsten - Mama und Papa sin ntch zu Hause - aber sie m/n zurück - wenn du was aufs Band sprichst. Ein anderer spricht über sanfter Musik im Hintergrund: Sie haben die Ziffern 123578 in der richtign Reihenfolge gewählt - trotzdem können Sie nicht mit uns sprechn, weil wir leider nicht zu Hause sind - wir würden uns aber freun, wenn ... Wieder ein anderer hat sogar eine kleine Szene arrangiert: Etwas entfernt ertönt eine keifende Stimme Dieses Miststück, dieser Abschaum, wo steckt der Kerl denn schon wieder? Dann, ganz nahe Aber, aber mein Freund, sprich lieber nach dem Pfeifton und warte auf unseren Rückruf. Oder untermalt von sanften Schnarchtönen der lakonische Text: Ich schlaf noch - rufn Sie später an. Oder ein ausgefalleneres, letztes Beispiel: Der Anrufbeantworter is kaputt - hier is der Kühlschrank - sagns was wolln ich schreibe auf und klemms mir an die Tür. Natürlich nutzt sich die Originalität derartiger Texte schnell ab, deshalb programmieren viele ihren Anrufbeantworter wöchentlich neu, was Zeit und Mühe kostet, was aber auch zeigt, welchen Wert die Angerufenen auf individuelle und originelle Texte legen. Texte dieser Art sind vor allem bei Jugendlichen verbreitet, also bei denen, die telephonisch vor allem mit ihren Freunden zu tun haben. Ausgefallenere Texte werden jedoch nicht ausschließlich von jungen Menschen benutzt, sie sind auch eine Frage der Mentalität. Hess-Lüttich meint: „Je routinierter der Umgang mit der neuen Medienkombination, desto spontaner und unbefangener die Ansage- und die Antworttexte" (1990, 253). Ob dies für die Antworttexte richtig ist, m u ß hier dahingestellt bleiben. Für die Ansagetexte gilt dies nicht, im Gegenteil: J e routinierter der Umgang mit der neuen Medienkombination, desto stilisierter, ausgefeilter, konstruierter, elaborierter, artifizieller etc. können die Ansagetexte werden. Alle oben zitierten Beispiele sind weder spontan noch unbefangen, sondern sehr überlegt erarbeitet. Inzwischen hat auch die Industrie die Bedeutung programmierter Texte für den Anrufbeantworter erkannt. In sogenannten ,Party-Shops', in denen man mehr oder minder witzige Artikel kaufen kann, die als Mitbringsel beliebt sind, gibt es Kassetten zu kaufen, auf denen Stimmenimitatoren Personen des öfFent-
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liehen Lebens nachahmen, etwa Boris Becker oder den gegenwärtigen Bundeskanzler. In England gibt es entsprechende Textimitate von Prinz Charles oder Maggie Thatcher. 2.3. Der ad-hoc-formulierte Text des Anrufers Nach dem automatisch ertönenden Piepston ist der Anrufer aufgefordert, seinerseits einen Text auf Band zu sprechen. Wenn ein konkreter Anlaß für den Anruf besteht, ist dies in vielen Fällen nicht besonders problematisch, komplizierter sind die Fälle, in denen ein Anrufer nur wieder mal Kontakt mit dem Angerufenen aufnehmen will. In jedem Fall ist der Anrufer aber in einer wenig angenehmen Lage, denn er muß sprechen, ohne Rückmeldungen seines Partners zu erhalten. Die Bedeutung des Rückmeldeverhaltens wird einem in normalen Gesprächen kaum bewußt, weil Rückmeldungen, also affirmierende oder abwehrende Mimik und Gestik, nonverbale und verbale Lautäußerungen etc. zum großen Teil unbewußt und ungesteuert erfolgen. Rückmeldungen sind, bis auf Mimik und Gestik, auch beim normalen Telephongespräch vorhanden, vor allem rückmeldende Partikel wie hm, bestätigende Satzwörter wie ja oder ein staunendes, nicht verneinendes nein! Deshalb können manche Leute stundenlang ganz zwanglos miteinander telephonieren. Erst wenn Rückmeldungen ganz fehlen, wird einem dies peinlich bewußt, der Sprecher fühlt sich alleingelassen und ausgesetzt und ist bestrebt, seinen Text so schnell wie möglich zum Ende zu bringen. Der Angerufene kann seinen Programmtext vielfach üben und stilisieren, bis er damit zufrieden ist, und erst dann auf dem Band festhalten. Der Anrufer kann keineswegs so lange sprechen, wie er will, denn seine Sprechzeit ist bei vielen Geräten begrenzt, oft auf etwa eine Minute. Danach schaltet die Maschine ab und spult den Absagetext ab. Zum anderen ist jedem Anrufer bewußt, daß alles, was er sagt, auf Band festgehalten wird. Er weiß auch, daß der Angerufene den aufgesprochenen Text so oft abhören kann, wie er will, und seine psychologischen Schlüsse daraus ziehen kann, was die Sache für den Anrufer nicht einfacher macht. Kein Anrufer kann sicher sein, daß der Angerufene tatsächlich nicht zu Hause ist. Es gibt Leute, die prinzipiell nie ans Telephon gehen, sondern immer ihren Anrufbeantworter einsetzen und dann von Fall zu Fall, je nach ihrer freien Entscheidung, entweder das Gespräch selbst übernehmen und damit offenbaren, daß sie doch zu Hause sind, oder sich den Text des Anrufers anhören und irgendwann später zurückrufen oder nicht. Auch wenn jemand den Rückruf unterläßt, führt dies kaum zu Sanktionen des Anrufers, denn der Angerufene kann sich immer darauf zurückziehen, daß sein Gerät nicht zuverlässig gearbeitet hat. Zudem: Anrufbeantworter haben einen Lautsprecher. Jeder, der ihn anstellt und zu Hause ist, kann hören, wer gerade anruft und dann entscheiden, ob er das Gespräch persönlich übernehmen möchte oder lieber doch nicht. Die
Dialog mit dem
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Möglichkeit, daß der Angerufene genüßlich zuhört, während sich der Anrufer hörbar bemüht, einen halbwegs akzeptablen Text auf Band zu sprechen, ist für viele Anrufer eine unerfreuliche Vorstellung. Dem Anrufer bleibt aber wenigstens eine kleine Möglichkeit, sich gewissermaßen am Angerufenen für seine als unfair empfundene Kommunikationsform zu rächen. Jeder ist natürlich neugierig, ob jemand und wer angerufen hat in der Zeit, in der man nicht zu Hause war. Ein wortloses Hörerauflegen nach dem Piepston wird von der Machine registriert, bei manchen Geräten auch das Datum und die genaue Uhrzeit. Jetzt kann der Angerufene darüber grübeln, wer das wohl war. Manchmal wird die Spannung für ihn dabei so groß, daß er nun von sich aus potentielle, von ihm vermutete Anrufer zurückruft. Viele Anrufbeantworter schalten nach längeren Pausen (normalerweise etwa acht Sekunden) ab. Das ist manchmal zu kurz, denn m a n muß sich j a angesichts der Tatsache, daß das, was man sagt, auf Band festgehalten wird, doch überlegen, was man wie sagen möchte. Auch im normalen Gespräch kommt es oft zu Pausen von acht Sekunden und zu längeren. Pausen werden in Telephongesprächen als länger empfunden als bei der Face-to-face-Kommunikation, auch wenn sie absolut gleich lang sind. Bei der normalen Telephonkommunikation kann aber einer der Partner immer fragen, ob der andere ,noch da' ist, der Anrufbeantworter bietet diese Möglichkeit der Rückmeldung natürlich nicht. 3. Kommunikationsschema Man kann die Besonderheiten der Kommunikation mittels Anrufbeantworter in etwa so schematisch darstellen: Modalität
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