Terrorismus und politische Gewalt [1 ed.] 9783666370755, 9783525370759


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Terrorismus und politische Gewalt [1 ed.]
 9783666370755, 9783525370759

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Sylvia Schraut

Terrorismus und politische Gewalt

Einführungen in die Geschichtswissenschaften. Neuere und Neueste Geschichte Herausgegeben von Julia Angster und Johannes Paulmann

Band 1

Sylvia Schraut

Terrorismus und politische Gewalt

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: USA / New York / WTC 11. September 2001. AKG1378330. © Jason Hook / akg-images. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2625-5170 ISBN 978-3-666-37075-5

Inhalt Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I . Einführung: Die allgegenwärtige Präsenz politischer Gewalt 9 II . Zentrale Begriffe und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1.

Politische Gewalt in der historischen Forschung . . . . . . . . 15

2.

Sicherheit als geschichtswissenschaftliches Thema . . . . . . . 32

3.

Terrorismus als geschichtswissenschaftliches Forschungsfeld . 48

III . Themen und Untersuchungsgegenstände . . . . . . . . . . . . 65

4.

Moderne Staatlichkeit und politische Gewalt als oppositionelle Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

5.

Frühformen des Terrorismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Politische Attentate als Botschaftsträger . . . . . . . . . . . . 81

6. Die Erfindung des Terrorismus im Anarchismus . . . . . . . . 97 7.

Die Delegitimierung staatlicher Ordnung durch oppositionelle Gewaltbereitschaft in der Zwischenkriegszeit . 114

8.

Antikoloniale politische Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

9.

Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren . . . . 146

10. Rechtsextremismus und politische Gewalt . . . . . . . . . . . 162 11. Politische Gewalt als Kommunikationsstrategie und die Rolle der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 12. Politische Gewalt und Terrorismus als Thema der Genderforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 IV. Coda: Die Herausforderung moderner Staatlichkeit in

der Gegenwart: asymmetrische politische Gewalt . . . . . . 209

6

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Personen- und Organisationsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Vorwort zur Reihe

Die in dieser Reihe erscheinenden Einführungen in die Geschichtswissenschaft behandeln zentrale Themen der europäischen Geschichte vom ausgehenden 18. bis ins frühe 21. Jahrhundert in einer nationsübergreifenden Perspektive. Die Grundidee für die Reihe ist aus einer Erfahrung entstanden, die wir im Alltag der akademischen Lehre gemacht haben: Einführungsliteratur für Bachelor- oder Masterstudiengänge stellt in der Regel entweder Faktenwissen oder einen theoretischen Ansatz in den Mittelpunkt. Wir wünschten uns hier eine Verbindung zwischen diesen Ebenen, die wir in der akademischen Lehre ja regelmäßig leisten müssen. Die »Einführungen in die Geschichtswissenschaft« sollen daher beides miteinander verknüpfen: Die Bände bieten jeweils anhand spezifischer Gegenstände eine Einführung in die Geschichtswissenschaft, also in die Arbeitsweise, die Methodik und die Denkweisen des Fachs. Geschichtswissenschaft als universitäres Fach soll zum wissenschaftlichen Arbeiten befähigen, also dazu, selbst Fakten zu analysieren, sie zu deuten und darzustellen. Es geht darum, selbständig Erkenntnisinteressen zu formulieren, und hierfür ist ein Überblick über die Pluralität und den Wandel der Zugänge des Fachs, über die Theorieentwicklung und die jeweils angemessenen Methoden unabdingbar. Diese Arbeitsweise lässt sich jedoch am besten am konkreten Beispiel vermitteln. Die Reihe bietet daher eine problemorientierte Vermittlung von Inhalten und einen theoriegeleiteten Zugang zu wichtigen historischen Themen. Ihr Ziel ist eine Einführung in wissenschaftliche Zugänge und Methoden, in Forschungsstand und Forschungskontroversen, und damit in die Arbeitsweise und das Wesen von Geisteswissenschaft. Gedacht ist diese Reihe jedoch durchaus auch für Lehrende als Handreichung zur Vorbereitung von Seminaren oder einzelnen Sitzungen. Der Aufbau der Bände folgt daher jeweils der möglichen Struktur einer Seminarveranstaltung und bietet eine argumentative oder analytische Gliederung, die nach einer kurzen thematischen Einführung zunächst Kontroversen und Theorien der Forschung behandelt, Leitfragen entwickelt und diese dann an Beispielen in mehreren Kapiteln systematisch anwendet. Wir hoffen, damit einen sinnvollen Beitrag zu Lehre und Studium zu leisten. Julia Angster und Johannes Paulmann

I.

Einführung: Die allgegenwärtige Präsenz politischer Gewalt

Das gesellschaftliche Phänomen politische Gewalt und mit ihm verbunden die Fragen von Sicherheit und Prävention beanspruchen in den letzten Jahren anwachsende Aufmerksamkeit. Seit dem Anschlag auf die Twin Towers in New York am 11. September 2001 finden die internationalen politischen Konflikte in Form von terroristischen Anschlägen mehr und mehr auch ihren Eingang in die öffentlichen Räume und Debatten europäischer demokratischer Gesellschaften. Am 1. Februar 2017 beispielsweise berichtete die ARD von einer Razzia gegen Islamisten und der Verhaftung eines Tunesiers, der einen Anschlag in Deutschland geplant haben soll. Zu den ARD -Nachrichten des gleichen Tages zählte die Information, das Bundeskabinett habe Fußfesseln für potentielle Gefährder beschlossen, und ein Feature nahm sich der 15-jährigen Safira S. an. Sie hatte im Auftrag des »Islamistischen Staates« (IS) einen Polizisten mit einem Messer angegriffen und war nun zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. WDR , NDR und »Süddeutsche Zeitung« nutzten den Anlass, um Rechercheergebnisse über die Kommunikationsstrategien des IS zu präsentieren. Einen Tag später, am 2. Februar 2017, publizierte die ARD in ihrer Internet-Rubrik »#kurzerklärt« einen Bericht der WDR-Journalistin Sarah Walzer über die sogenannten Reichsbürger. »Sie bestreiten die Existenz der Bundesrepublik und zeichnen sich durch ein beträchtliches Gewaltpotential aus«, so die Autorin, »Die Reichsbürger [H. i. O.] beschäftigen zunehmend Polizei und Behörden. Zumeist werden sie als Spinner abgetan. Aber sind sie auch eine Gefahr für die Demokratie?«1 Im Jahr 2017 hat die Bundesanwaltschaft ca. 1.200 Terrorismus-Verfahren eingeleitet; ein Jahr zuvor waren es nur 250 gewesen.2 Politische Gewalt und ihre Auswirkungen auf öffentliche Sicherheit und demokratische Freiheitsrechte, so scheint es, sind auf den Straßen Europas, in 1 Tagesschau. http://www.tagesschau.de/multimedia/kurzerklaert/kurzerklaert-reichs buerger-101.html (3.2.2017). 2 Vgl. Jansen, F., Islamismus: Der verkannte Ernst der Lage, in: Der Tagesspiegel, 16.02.2018, https://www.tagesspiegel.de/politik/terror-in-deutschland-islamismus-der-verkannteernst-der-lage/20971788.html (21.5.2018).

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Einführung

Einkaufszentren und öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch in den Medien derzeit allgegenwärtig. Doch politische Gewalt beschäftigt nicht nur die aktuelle Politik, sondern auch die Gesellschaftswissenschaften. Die Rolle der Geschichtswissenschaft ist es hierbei, die Geschichte eines Phänomens zu beleuchten, das keineswegs neu ist, sondern in Wellen die europäischen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts begleitete. Aufgabe dieses Bandes ist es, vergleichend die spezifischen Charakteristika politischer Gewalt in langer Zeitlinie herauszuarbeiten. Ziel ist es, die unterschiedlichen Facetten von politischer Gewalt und staatlichen Gegenmaßnahmen anhand historischer Fallbeispiele vertieft zu beleuchten und die geschichtswissenschaftlichen Zugänge zum Thema zu erläutern. Der Aufbau des Buches Eine Beschäftigung mit politischer Gewalt setzt zuvorderst die Klärung des Begriffes voraus: Auf den ersten Blick scheint dies unnötig. Die Begrifflichkeit ist in der medialen zeitgeschichtlichen Thematisierung allgegenwärtig und im politischen Sprachgebrauch fest verankert. Doch bei näherer Betrachtung wird schnell deutlich, dass schon in der Frage, was Gewalt eigentlich ist, die gängigen Definitionen beträchtlich voneinander abweichen. Die Analyse politisch motivierter Gewaltphänomene erfordert jedoch eine präzise Bestimmung und Eingrenzung des Themas, wenn historische Fallbeispiele zu einem Vergleich einladen und die Kernelemente der zugehörigen Gewaltphänomene charakterisiert werden sollen. Diesbezügliche Überlegungen und Definitionsvorschläge sind Gegenstand des ersten Kapitels. Ausgehend vom Instrumentarium der Begriffsgeschichte wird politische Gewalt auf politisch motivierte Gewalt von unten eingegrenzt, mithin auf eine Gewaltform, die sich gegen das staatliche Gewaltmonopol und gegen die Regelwerke und Normen der Mehrheitsgesellschaft richtet. Aber auch die Beschäftigung mit einem solchermaßen bereits eingegrenzten Gewaltbegriff macht rasch deutlich, dass eine Reihe weiterer Forschungsfelder mit der historischen Gewaltforschung verwoben sind. Nur selten ist politische Gewalt ein klar von anderen Forschungsgebieten abzugrenzendes Themengebiet. Dies wird beispielsweise sichtbar, wenn die Schnittmengen zwischen der derzeit höchst aktuellen Sicherheitsforschung und der historischen Gewaltforschung untersucht werden. Das Schlagwort Sicherheit beschäftigt derzeit alle Gesellschaftswissenschaften. Doch die Rechts- und Politikwissenschaften oder die Soziologie arbeiten mit höchst unterschiedlichen Ansätzen in ihrer Analyse von gesellschaftlichen Sicherheitsproblemen. Als eigenständiges Thema scheint Sicherheit in der Geschichtswissenschaft eine eher randständige Position einzunehmen. Zwar wird die Herstellung von Sicherheit beispielsweise in der geschichtlichen

Einführung

Betrachtung der Staatsentwicklung im Hintergrund immer mit behandelt, doch ein selbständiger Forschungszweig »historische Sicherheitsforschung« mit eigenständigen methodischen Ansätzen oder theoretischen Annahmen hat sich bislang kaum entfalten können. Kapitel 2 beschäftigt sich mit den Anleihen, die die Geschichtswissenschaft in den einschlägig befassten Nachbardisziplinen vornimmt. Das Erkenntnisinteresse in den Gesellschaftswissenschaften im Allgemei­ nen und in der Geschichtswissenschaft im Besonderen wird nicht selten durch aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen stimuliert. Dies zeigt sich auch in der historischen Gewaltforschung. In ihr nimmt aktuell – nicht weiter verwunderlich – die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus als einer spezifischen Ausprägung politischer Gewalt eine gewichtige Rolle ein. Doch auch im Falle der Charakterisierung von politischer Gewalt als Terrorismus können sich weder die einschlägig befassten Gesellschaftswissenschaften noch die internationale Politik oder die politische Wissenschaft auf einen Kern notwendiger Charakteristika einigen. Für die Historiker erschwerend kommt hinzu, dass im 19. Jahrhundert Phänomene, die wir heute als Terrorismus bezeichnen, anders benannt wurden, beispielsweise als Aufruhr oder »Propaganda der Tat«. Umgekehrt diente der Begriff Terror oder Terrorismus in erster Linie dazu, staatliche Gewaltherrschaft zu charakterisieren. In Kapitel 3 muss folglich erst einmal der Bedeutungsgehalt des Labels Terrorismus geklärt werden. Hierbei erweist sich ein spezifischer Zweig der Geschichtswissenschaft, die Begriffsgeschichte, als hilfreich. Ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der historischen Terrorismusforschung macht deutlich: Terrorismus wird zeitlich als Phänomen der Moderne seit der Französischen Revolution eingeordnet und es sind insbesondere die symbolischen Funktionen der terroristischen Gewalt sowie ihr Charakter als Botschaftsträger, die herausgearbeitet werden. Die folgenden Kapitel befassen sich mit Fallbeispielen und Untersuchungsgegenständen im Themenfeld der historischen politischen Gewaltforschung. Den Auftakt bildet mit Kapitel 4 das Spannungsverhältnis von Staats- und Herrschaftsverständnis, der staatlichen Aufgabe, Sicherheit herzustellen und zu gewährleisten und dem demokratischen Recht auf Opposition oder gar Widerstand im historischen Längsschnitt. Nur vordergründig scheint die Sachlage zumindest in Demokratien eindeutig. Das staatliche Gewaltmonopol verlangt den Verzicht aller gesellschaftlichen Gruppen auf individuelle Gewaltanwendung auch und gerade in der politischen Sphäre. Doch bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass Gewaltdefinition und Gewaltakzeptanz einem beträchtlichen zeitlichen Wandel unterliegen. In einen Rahmen von Längsschnitten eingebettet sind Kapitel, die sich mit historischen Fallbeispielen beschäftigen. Am Anfang stehen mit Kapitel 5 Frühformen politischer Gewalt zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das Attentat der französischen Girondisten Charlotte Corday auf den Jakobiner Jean Paul

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Einführung

Marat 1793 oder der Mordanschlag des deutschen Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand auf den konservativen Literaten August von Kotzebue 1819 stehen an der Epochenwende zwischen alter feudaler Welt und bürgerlichem Zeitalter. Es handelt sich auf den ersten Blick um klassische, politisch motivierte Attentate. Die historische Analyse fördert jedoch Charakteristika zu Tage, die den Phänomenen politischer Gewalt der Moderne eigen sind: den symbolischen Charakter der Anschläge und die politische Botschaft, die die Akteure mit ihnen verbanden. Gewichtiger noch: die nachfolgenden Generationen politischer Gewaltakteure begriffen Corday und Sand als Urmutter und Urvater des eigenen Tuns. Kapitel 6 hat den europäischen Anarchismus der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zum Thema. Spätestens jetzt gab sich politische Gewalt mit der »Propaganda der Tat« eine eigene theoretische Fundierung und Legitimationsmuster, die den Terrorismus als eigenständige politische Kampfform begründeten. Obwohl in seiner Epoche von großer gesellschaftlicher Bedeutung ist das geschichtswissenschaftliche Wissen über die Gewaltphase des Anarchismus eigentlich recht gering. Mit Hilfe des historischen Vergleichs soll dieses Kapitel dennoch zu den strukturellen Merkmalen der anarchistischen Gewalt vordringen. Im Zentrum von Kapitel 7 stehen politische Gewaltphänomene in der europäischen Zwischenkriegszeit. Wie in keiner anderen Phase der Neuzeit galt nicht nur in Deutschland politische Gewalt als, wenn nicht legitimes, so doch zumindest akzeptables Mittel politischer Auseinandersetzung. Die Bereitschaft zu politischer Gewalt wird als charakteristisches Merkmal einer Epoche begriffen, die sich in einer allumfassenden Modernisierungskrise befand. An den Exzessen politischer Gewalt in der Weimarer Republik lässt sich bestens das Demokratie gefährdende Potential gewaltbereiter Opposition verdeutlichen. Es kann letztlich dazu beitragen, eine Demokratie zu Fall zu bringen, wenn diese das staatliche Gewaltmonopol nicht mehr behaupten und damit verbunden Sicherheit nicht mehr gewährleisten kann. Als einer der zentralen Dreh- und Angelpunkte der Stabilität einer Demokratie erweist sich damit der gesellschaftliche Konsens auf Gewaltverzicht. In Kapitel 8 werden Formen des Terrorismus untersucht, die scheinbar von den Zentren Europas weg, in die europäische Peripherie oder in andere Kontinente führen. Es handelt sich um die gewaltbereiten Unabhängigkeitsbewegungen des 20. Jahrhunderts, die sich zum Ziel setzten, die fremden Herren aus ihren Kolonien zu vertreiben. Nur selten wird die Auflösung der europäischen Kolonialreiche unter dem Gesichtspunkt politische Gewalt und Terrorismus betrachtet. Doch es waren insbesondere terroristische Strategien, mit denen die Herrschaftspraktiken der Kolonialherren delegitimiert wurden. Ihre Kämpfe gewannen die Befreiungsgruppen nicht nur, indem sie in der Kolonie Angst und Schrecken verbreiteten, sondern auch oder gar vor allem in

Einführung

den Medien der kolonialen Mutterländer. Die Unabhängigkeitsbewegungen in Zypern und in Algerien gegen die britische bzw. französische Fremdherrschaft dienen als Beispiele. Im Zentrum des folgenden Kapitels steht der sozialrevolutionäre Terrorismus der 1970er Jahre. Er lässt sich in vielen westlichen Nachkriegsgesellschaften nachweisen. In Deutschland erlangte die Rote Armee Fraktion (RAF) in ihrer Hauptaktionszeit den Status eines zentrale gesellschaftliche und politische Diskussionen beherrschenden Phänomens. An den Mediendebatten der Epoche lässt sich veranschaulichen, wie sehr eine Demokratie um ihre rechtsstaatliche und freiheitliche, aber auch sichere Ausgestaltung ringt, wenn sie mit politischer Gewalt konfrontiert ist. Es sind vielfältige Überlegungen angestellt worden, um die Entstehung des sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre zu erklären. Dabei kommt dem Generationenansatz besondere Plausibilität zu. Als historische Längsschnitte sind die Kapitel 10 bis 12 aufgebaut. In Kapitel 10 geht es um rechtsextreme politische Gewalt zwischen 1945 und 1985. Der Zugang zum Thema ist nicht leicht. Dies ist zum einen dem Umstand geschuldet, dass schon der Begriff rechtsextrem näherer Erläuterungen bedarf. In vielen gängigen Definitionen fehlen Überlegungen zur vorhandenen oder vermuteten Gewaltbereitschaft rechtsextremer Gruppierungen. Der vermeintlich geringe Zusammenhang zwischen rechtsextremer Ideologie und politischer Gewalt prägte lange Zeit nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die politische Reaktion auf rechtsextreme Gewaltphänomene. Erst die aktuelle öffentliche Debatte um den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) hat in Deutschland breit die Sensibilität dafür erhöht, dass auch rechtsextreme politische Gewalt Demokratie gefährdet. Kapitel 11 und 12 greifen im zeitlich umfassenden Bogen auf Terrorismusphänomene zu. Im ersteren Kapitel steht die kommunikative Funktion politischer Gewalt zur Debatte. Wenn, wie zahlreiche Terrorismusdefinitionen betonen, diese Form der politischen Gewalt eigentlich nicht auf die faktischen Opfer der Anschläge zielt, sondern auf die Herstellung medialer Aufmerksamkeit, dann rücken die Medien ins Zentrum der Analyse. Sie lassen sich gleichermaßen als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzungen wie als selbständige Akteure in der medial geführten Debatte um Legitimität oder Verwerflichkeit von politischer Gewalt untersuchen. Das folgende Längsschnittkapitel, Kapitel 12, befasst sich mit politischer Gewalt im Fokus der historischen Kategorie Geschlecht. Das Thema erschöpft sich nicht in der Frage, ob Männer oder Männlichkeit bzw. Frauen oder Weiblichkeit ein engeres oder distanzierteres Verhältnis zu Gewalt aufwiesen oder -weisen. Ausgehend von der Überlegung, dass in der historischen Entwicklung Geschlecht unter anderem auch über Nähe und Ferne zur politischen Sphäre und zu politischem Einfluss definiert wird, lässt sich zeigen, wie sehr mit der

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Einführung

jeweiligen Debatte über Gewalt und Täter auch geschlechtsspezifische Normen verhandelt wurden und werden. Die Geschichte politischer Gewalt ist mit der Kette der hier präsentierten thematischen Zugriffe und Fallbeispiele nicht abgeschlossen. Doch bis sich die Geschichtswissenschaft mit dem aktuellen islamistischen Terrorismus befassen kann, wird es noch einige Jahrzehnte dauern. Denn die historische Wissenschaft benötigt Quellen, nicht zuletzt staatliches Behördenschriftgut, das erst nach Jahrzehnten in Archive abgeliefert und zugänglich gemacht wird.3 Vielleicht wird sich dann jedoch zeigen, dass die neuen Ausprägungen politischer Gewalt mit Hilfe des historischen Zugriffsinstrumentariums in einer Kette historischer Vorläufer zu verorten und die mit Terrorismus verbundenen Konfliktlagen und Lösungswege in langer Zeitlinie zu interpretieren sind.

3 Vgl. Kapitel 2.3.

II.

Zentrale Begriffe und Konzepte

1. Politische Gewalt in der historischen Forschung »Gewalt ist einer der schillerndsten und zugleich schwierigsten Begriffe der Sozialwissenschaften«, so der Soziologe Peter Imbusch im »Internationalen Handbuch der Gewaltforschung«.1 Mit der erneuten Zunahme gesellschaftlicher Gewaltphänomene in den 1960er Jahren nach der diesbezüglich relativ ruhigen Nachkriegsphase in der westlichen Welt setzte eine neue intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt ein, »ohne dass die Kontroversen um ihre angemessene Bestimmung und inhaltliche Differenzierung, ihre gesellschaftspolitische Einschätzung und moralische Bewertung in nennenswertem Umfang abgenommen hätten.«2 Politische Gewalt – Definitionsversuche Gewaltphänomene lassen sich grundsätzlich mit Hilfe der üblichen W-Fragen analysieren – Wer, Was, Wie, Wem, Warum, Wozu und Weshalb. Differenzierungen beispielsweise nach physischer Gewalt, institutioneller Gewalt, struktureller Gewalt, kultureller bzw. symbolischer Gewalt und ritualisierten Formen von Gewalt sollen eingrenzen helfen, welche Gewaltform im Fokus des Interesses steht. Unterscheiden lässt sich ferner individuelle, kollektive und staatliche Gewalt. Dabei wird deutlich, dass die »Verwendungsweisen des Gewaltbegriffs im Zusammenhang mit dem politischen Gebilde Staat … jeweils außerordentlich unterschiedliche Typen und Formen der Gewalt« bezeich­ nen und vom legitimen staatlichen Gewaltmonopol über staatsterroristische Formen der Gewalt bis zum Krieg reichen.3 Schließlich kann quer zu den 1 Imbusch, P., Der Gewaltbegriff, in: Heitmeyer, W. u. J.  Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 26–55, hier: S. 26. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 47.

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Zentrale Begriffe und Konzepte

genannten Typisierungsversuchen eine Unterscheidung zwischen legitimer bzw. legaler und illegitimer bzw. illegaler Gewalt getroffen werden. Für gewaltsame Aktionen in der Sphäre des Politischen, auf der Ebene des Staates oder gegen diesen gerichtet hat sich zunehmend die Bezeichnung politische Gewalt eingebürgert. Doch »der Begriff der politischen Gewalt«, schreibt Birgit Enzmann in ihrer Einführung zum »Handbuch politische Gewalt«, »ist selbst ein Politikum« und man kann ergänzen: er ist keineswegs konsensfähig geklärt.4 Die Politikwissenschaftlerin startet wie viele andere Autoren mit ihrem definitorischen Überblick beim weitgefassten Gewaltbegriff Johann Galtungs. Der Friedens- und Konfliktforscher hat 1971 den Begriff der strukturellen Gewalt in die Debatte eingeführt. Gewalt liegt Galtung zufolge »dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung«, mithin bereits, wenn ihre Handlungsspielräume und Chancen durch gesellschaftliche Begrenzungen eingeschränkt werden.5 Während der 1970er und 1980er Jahre war der strukturelle Gewaltbegriff besonders einflussreich in der Analyse von gesellschaftlichen Benachteiligungen. Doch die Auslegung von sozialer Ungleichheit als Gewaltverhältnis liefert nicht zwingend eine Erklärung dafür, warum und ob strukturelle Gewalt zur Anwendung von physischer Gewalt bzw. Gegengewalt führt. Die politikwissenschaftliche Gewaltforschung im engeren Sinne bzw. Terrorismusforschung nutzt daher in ihren Analysen seit den 1990er Jahren oft einen weniger weit gefassten Gewaltbegriff. Häufig wird auf den Soziologen Heinrich Popitz verwiesen. Darum bemüht, interpretatorische Aspekte zur strukturellen Gewalt von Herrschaft und Gesellschaft möglichst auszuschließen, formulierte er 1986: »Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt«.6 Die Definition erlaubt, auf die körperliche Verletzung von Menschen ausgerichtete Aktionen begrifflich eindeutig von anderen Formen der Machtausübung zu unterscheiden. Aus historischer Perspektive birgt jedoch der allzu enge Zuschnitt von Gewaltdefinitionen auf physische Gewalt eine Reihe von Problemen. Die Geschichtsforschung zu politisch motivierter Gewalt benötigt einen weiteren Gewaltbegriff, wenn beispielsweise Gewalt gegen Sachen als Aktionsform in einschlägige Untersuchungen mit einfließen soll. Kritisch gegen einen zu engen Gewaltbegriff ist auch einzuwenden, dass die Genese

4 Enzmann, B., Politische Gewalt. Formen – Hintergründe – Überwindbarkeit, in: Dies. (Hg.), Handbuch politische Gewalt. Formen – Ursachen – Legitimation – Begrenzung, Wiesbaden 2013, S. 44–66, hier: S. 44. 5 Galtung, J., Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: Senghaas, D. (Hg.), Kritische Friedensforschung, Frankfurt a. M. 1971, S. 55–104, hier: S. 57. 6 Popitz, H., Phänomene der Macht: Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik, Tübingen 1986, S. 73.

Politische Gewalt in der historischen Forschung

gewaltbereiter Gruppierungen in der Regel nicht mit plötzlichen Gewaltaktionen gegen Menschen begann oder beginnt. Häufig ist ein Eskalationsweg von friedlichen Protestformen über die Anwendung von Gewalt gegen Sachen hin zur Gewalt gegen Menschen zu beobachten, wenn für die Ziele der Akteure scheinbar anderweitig kein Gehör gefunden wird bzw. sie anderweitig nicht durchsetzbar erscheinen. Dass einerseits der strukturelle Gewaltbegriff Galtungs zu weit, die körperbetonte Gewaltdefinition von Popitz zu eng ist, hat auch die Gewaltkommission berücksichtigt, die 1987 von der Bundesregierung eingesetzt wurde. Das Expertengremium aus Politik- und Sozialwissenschaften, Kriminologie, Jura und Psychologie hatte den Auftrag, die Ursachen der politisch motivierten Gewalt, von Gewalt im öffentlichen Raum und in der Familie zu untersuchen und Handlungskonzepte zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt zu entwickeln. Anlass der Bildung der Kommission war insbesondere die Beunruhigung der Regierung über »Gewalttätigkeiten unterschiedlichster Art im Zusammenhang mit Demonstrationen, Überfälle auf Büroräume, Brandund Sprengstoffanschläge, Anschläge auf den Bahnverkehr und Versorgungseinrichtungen, Sitz- und Verkehrsblockaden, Gelände- und Hausbesetzungen, Massenkrawalle und Vandalismen verschiedenster Prägung.«7 Es ging mithin vorrangig um politisch motivierte Gewalt in innenpolitischen Auseinandersetzungen und diese Thematik bewegte die Kommissionsarbeit dann auch in besonderem Maße. In ihrer Suche nach einem konsensfähigen Gewaltbegriff hob die Expertenrunde den keineswegs wertfreien Charakter der Konnotation einer Aktion mit Gewalt hervor. »Gelingt es, ein Verhalten als Gewalt einzustufen, ist es negativ besetzt und abgewertet … Daneben ist das Bekenntnis zur oder gegen die Gewalt zu einem Indikator des (politischen) Standorts [H. i. O.] geworden und entscheidet über den Verbleib bzw. Ausgrenzung aus der jeweiligen (politischen) Gruppierung.«8 Sowohl auf staatlicher wie auf oppositioneller Seite sei das Bestreben erkennbar, einen möglichst weitgreifenden Gewaltbegriff anzuwenden. Um eine interdisziplinäre Zusammenarbeit überhaupt erst zu ermöglichen, einigten sich die Kommissionsmitglieder auf einen restriktiven Gewaltbegriff. Er klammerte ausdrücklich strukturelle Gewalt aus und wurde aus der »Sicht des staatlichen Gewaltmonopols« bestimmt. »Dabei soll es primär um Formen physischen Zwanges als nötigender Gewalt sowie Gewalttätigkeiten gegen Personen und / oder Sachen unabhängig von Nötigungsintentionen gehen.«9 Der Gewaltbegriff der Kommission war ge7 Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt, hrsg. von Schwind, H-D., Bd. 1, Berlin / New York 1990, S. 28. 8 Ebd., S. 35 f. 9 Ebd., S. 38.

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Zentrale Begriffe und Konzepte

schickt gewählt. Er lässt die grundsätzlichen Debatten über Macht, Herrschaft und Gewalt in Gesellschaft und Staat außen vor. Doch er erlaubt, alle Mischformen von politischer Gewalt anzusprechen, die sich gegen das staatliche Gewaltmonopol richten. Birgit Enzmann hat in dem von ihr 2013 herausgegebenen »Handbuch politische Gewalt« den Begriff der Gewaltkommission der Bundesregierung nicht aufgegriffen. Sie favorisiert den engen Gewaltbegriff von Popitz. Doch selbst der Gewaltbegriff, der in erster Linie auf physische Gewalt abzielt, bedarf weiterer Eingrenzungen, wenn geklärt werden soll, was unter politischer Gewalt zu verstehen ist. Birgit Enzmann rechnet zur politischen Gewalt: »(1) die direkte physische Schädigung von Menschen durch Menschen, die (2) zu politischen Zwecken stattfindet, d. h. darauf abzielt, von oder für die Gesellschaft getroffene Entscheidungen zu verhindern oder zu erzwingen oder die auf die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens zielt und versucht bestehende Leitideen zu verteidigen oder durch neue zu ersetzen, die außerdem (3) im öffentlichen Raum, vor den Augen der Öffentlichkeit und an die Öffentlichkeit als Unterstützer, Publikum oder Schiedsrichter appellierend stattfindet.«10 Die Definition verbindet physische Gewalt mit politischem Zweck und öffentlicher Debatte. Sie lässt aber offen, ob politische Gewalt von Herrschaftsträgern oder Oppositionsgruppen, von breiten gesellschaftlichen Bewegungen oder extremistischen Außenseitern angewendet wird. Enzmann unterscheidet in der Analyse von politischer Gewalt weiter nach Tätern, Zielen, Opfern und Adressaten, Legalität und Legitimität und benennt als Erscheinungsformen Widerstand, Revolution, Extremismus, Terrorismus, Staatsterror, Krieg und Bürgerkrieg. Der Zugriff der Autorin auf das Thema politische Gewalt ist einerseits sehr eng, weil nur physische Gewalt berücksichtigt wird und alle Mischformen mit Gewalt gegen Sachen oder beispielsweise Beschaffungskriminalität ausgeschlossen werden. Wenn andererseits die Definition von politischer Gewalt derart weit gefasst wird, dass jegliche Form politisch motivierter physischer Schädigungsabsicht vom Attentat bis zum Weltkrieg Eingang findet, dann sind Zweifel anzumelden, ob überhaupt noch gemeinsame Charakteristika, gesellschaftliche Hintergründe und Reaktionen oder Bekämpfungsmöglichkeiten herausgearbeitet werden können. Für eine präzise Eingrenzung des Terminus politische Gewalt scheint die Begriffsbestimmung der Gewaltkommission daher wesentlich tragfähiger. Sie definierte auf der Basis ihres grundsätzlichen Verständnisses von Gewalt: »Als politisch motiviert [H. i. O.] ist … die Gewalt einzustufen, die von Bürgern zur Erzwingung oder Verhinderung von Entscheidungen, die für die Gesellschaft oder Teilbereiche von ihr verbindlich getroffen werden, eingesetzt wird oder

10 Enzmann, Politische Gewalt. Formen – Hintergründe – Überwindbarkeit, S. 46.

Politische Gewalt in der historischen Forschung

mittels der gegen Zustände und Entwicklungen protestiert wird, die solchen Entscheidungen angelastet werden.«11 Mit dieser Definition sind unter politischer Gewalt Aktionen zu verstehen, die 1. nicht im staatlichen Auftrag ausgeführt werden (Krieg und Staatsterror scheiden folglich aus), 2. von Einzelpersonen und Gruppierungen ohne Auftrag oder Legitimation der Mehrheitsgesellschaft ausgeübt werden, 3. sich gegen geltendes Recht und / oder geltende gesellschaftliche Normen richten und 4. das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellen. Die solchermaßen eingegrenzte Definition von politischer Gewalt erlaubt, Grenzziehungen zu historischen Prozessen vorzunehmen, in denen sich die gewaltbereite Protestbewegung einer Minderheit zur Bewegung einer breiten Bevölkerungspartei oder der Mehrheit entwickelt (Bürgerkrieg, Revolution) und solche gesellschaftlichen Gewaltphänomene anderen gesellschaftswissenschaftlichen bzw. historischen Untersuchungsfeldern zuzuweisen. Zwar klammerte das Expertengremium in der Beschreibung der Erscheinungsformen der politischen Gewalt Terrorismus aus, weil dieser im Arbeitsauftrag der Gewaltkommission nicht enthalten war, doch die Definition erlaubt ohne Probleme, alle Formen des Terrorismus zu subsumieren. Ehrhard Eppler hat in seiner Überblicksdarstellung »Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt?« für eine solchermaßen definierte politische Gewalt den Begriff »privatisierte Gewalt« benutzt, die er als deutsche Übertragung des englischen violence verstanden wissen will. Er definiert diese Gewaltform »als eine verletzende, verletzenwollende und damit illegale Gewalt, die sich aber als irgendwie legitimierte, wenn auch nicht legale Gewalt ausgibt. Es geht um eine violence, die gerne power sein möchte, zumindest aber force [H. i. O.].«12 Dabei ist, so Eppler, privatisierte Gewalt von privater Gewalt deutlich zu unterscheiden. Es geht beispielsweise nicht um häusliche Gewalt oder sexuelle Gewalt gegen Frauen, sondern um die Brechung des staatlichen Gewaltmonopols durch nichtstaatliche Akteure aus politischen Gründen. Diese Form der Gewalt steht im Fokus der folgenden Kapitel.

11 Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, S. 52. 12 Eppler, E., Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt? Die Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt, Frankfurt a. M. 2002, S. 11.

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Zentrale Begriffe und Konzepte

Politische Gewalt im Fokus der Geschichtswissenschaft Was hat die Geschichtswissenschaft zur Definition von Gewalt im Allgemeinen und von politischer Gewalt im Besonderen beizutragen? In erster Linie liefert sie Bausteine zur historischen Kontextualisierung des Gewaltbegriffs. Allein das Verständnis, was eigentlich unter Gewalt zu verstehen sei, wandelte sich im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts beständig. Aus historischer Perspektive liefern die »Geschichtlichen Grundbegriffe« einen detailreichen Überblick über den beobachtbaren Bedeutungswandel. Der Artikel »Macht, Gewalt«, verfasst von Karl Georg Faber, setzt der Konzeption des Werkes entsprechend in der Antike ein und konstatiert für die Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts ein »überaus breites Spektrum von Bedeutungen«.13 Der Autor beobachtet aber auch allmähliche sprachliche Kontraktionsprozesse, die zu einer »Verwendung von Gewalt im verfassungsrechtlichen Sinne nur noch mit entsprechenden Zusätzen – höchste Gewalt, Civil-Gewalt, Gewalt der Reichsstände, weltliche oder geistliche Gewalt u. a.« führen, während andererseits »Gewalt ohne Zusatz den Verdacht des Unrechtmäßigen oder des bloßen Zwanges mit sich führt [H. i. O.]«.14 Gewalt als physischer Zwang wird nur noch den staatlichen Organen zugesprochen und »außerhalb dieses Kreises diskriminiert«.15 Spätestens im Kontext der Französischen Revolution erhielten die Begriffe Macht und Gewalt jedoch zusätzliches normatives Beigepäck und es hing zunehmend von der politisch-philosophischen Grundhaltung der Autoren ab, ob und wie sie staatliche Macht definierten und wie sie staatliche und nichtstaatliche physische Gewalt deuteten. Es kennzeichnete den Liberalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass er ein höchst ambivalentes Verhältnis zu Gewalt entwickelte. Einerseits Revolution bejahend, andererseits physische Gewalt kritisch betrachtend, wird letztere »nur als notwendiges Übel in Kauf genommen oder als Gegengewalt gegen die unrechtmäßige Gewaltausübung der politischen Reaktion begründet«.16 In der liberalen Argumentation des 19. Jahrhunderts finden sich die Legitimationsmuster, die sich im weiteren 19. und 20. Jahrhundert alle Protagonisten politischer Gewalt zu Eigen machen sollten. Marx brachte um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Verhältnis von Staatsgewalt, oppositioneller Rhetorik und oppositioneller gegenstaatlicher politischer Gewalt präzise auf den Punkt: »Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt 13 Faber, K.-G., Macht, Gewalt, in: Brunner, O., W. Conze u. R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 817–935, hier: S. 882. 14 Ebd., S. 884. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 921.

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werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.«17 Insgesamt machen sowohl die politik- wie die geschichtswissenschaftlichen Debatten um den Terminus politische Gewalt deutlich, dass das Auftauchen dieses Politikphänomens eng mit der Ausbildung moderner Staatlichkeit und des staatlichen Gewaltmonopols verwoben ist. Eine vergleichende geschichtswissenschaftliche Analyse von politischer Gewalt kann daher ihren Anfang frühestens im Vorfeld der Französischen Revolution ansetzen. Formen politisch motivierter Gewalt hat es zweifellos auch in der Antike und im Mittelalter gegeben. Doch die politischen und gesellschaftlichen Determinanten sind zu unterschiedlich, um Entwicklungen in langer Zeitlinie vergleichend analysieren zu können. »Zu suchen ist nach Ansätzen mittlerer Reichweite [H. i. O.] …, die das neuartige Bedingungsgefüge von Gewaltsamkeit in den letzten zweihundert Jahren angemessen reflektieren.« Denn, so der Historiker Dirk Schumann, »der Eintritt der Massen in die Politik, auch im Zeichen neuer organisatorischer Möglichkeiten, und der weitreichende Funktionszuwachs der Staaten, zu dem neben wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben und den mit ihnen entstehenden Erwartungen der Aus- und Umbau des staatlichen Gewaltmonopols gehörte, setzten zumindest kollektiver Gewalt [und nicht nur dieser d. Vf.] ganz neue Rahmenbedingungen.«18 Welchen Beitrag leistet die Geschichtswissenschaft zur Erforschung politischer Gewaltphänomene in der Neuzeit? Ein Überblick über den fachspezifischen Forschungsstand zum Thema Gewalt fördert ein disparates Bild zu Tage. Mit den Formen von Gewalt, die außerhalb der oben getroffenen Definition von politischer Gewalt anzusiedeln sind, hat sich die Geschichtswissenschaft intensiv beschäftigt. Revolutionen, vor allem europäische, sind ein beliebtes historisches Forschungsthema. Insbesondere runde Jahrestage inspirieren die Geschichtsschreibung. Anlässlich des 200-jährigen Jubilä­ ums der Französischen Revolution 1989 gehörten die Ereignisse, die die Epochen­wende von der Frühen Neuzeit zum 19. Jahrhundert einleiteten, zu den beliebtesten Tagungs- und Publikationsthemen nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland.19 Ähnlich verhielt es sich mit dem 150-jährigen Jubiläum der gescheiterten Revolutionen 1848/1849. Hatte das Thema an seinem 50. Geburtstag kaum Aufmerksam erregt, so wurde es auch 1948 unter dem Eindruck von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Nachkriegsproblemen marginalisiert. Dass der europäische Revolutionsversuch 17 Marx, K., Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, Berlin 1956, S. 385, zitiert nach Faber, S. 921. 18 Schumann, D., Gewalt als Grenzüberschreitung, in: AfS 37 (1997) S. 366–395, hier: S. 367 f. 19 Vgl. den einführenden Überblick zur einschlägigen Geschichtsschreibung in: Schulin, E., Die Französische Revolution, München 2004 4, S. 21–58.

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1998 in Deutschland zu dem geschichtswissenschaftlichen Forschungsgegenstand schlechthin avancierte, zeigt, wie sehr auch die Geschichtsforschung politischen Konjunkturen unterliegt. Es gab offensichtlich Nachholbedarf im Problemfeld Demokratiegeschichte, der nun endlich befriedigt werden sollte. Im Kontext der Revolutionsgeschichte spielt selbstverständlich auch politische Gewalt immer eine Rolle, aber sie besetzt höchstens einen Nebenschauplatz. Eigenständige Fragestellungen, etwa zu den Ursachen, dem Ausmaß und den Formen politischer Gewalt in Revolutionszeiten finden ihren Niederschlag eher in der historischen Protestforschung als in der Revolutionsgeschichte. Auch die Geschichte von Kriegen hat ihren eigenständigen Platz in der Geschichtsforschung. Wie im Falle der Revolutionsgeschichtsschreibung befördern runde Jahrestage nicht nur die Erinnerungspolitik und -kultur, sondern auch einschlägige Forschungsprojekte. So entfaltete sich 2014, 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs, eine breite historische Debatte um die politischen und gesellschaftlichen Ursachen und Ausgangsbedingungen des europäischen Krieges, um Kriegsalltag an der Front und in der Heimat, den Einfluss der Ereignisse auf Geschlechterrollen und Politikverständnis.20 Nicht zuletzt wird auch die Gewalterfahrung im Kontext des Krieges thematisiert, in der Regel aber in erster Linie verengt als Determinante antidemokratischen Denkens und Handelns in der Zwischenkriegszeit.21 Eine Reihe weiterer Forschungsfelder weist Berührungspunkte mit dem Thema politische Gewalt auf. Zu nennen sind hier die Forschungen zum Widerstand im Nationalsozialismus, zur Kriminalitätsgeschichte und die historische Protestforschung. Doch die Fragestellungen in den genannten Schwerpunkten gewichten den Aspekt politische Gewalt recht unterschiedlich und sie sind nur in begrenztem Umfang kompatibel mit den geschichtswissenschaftlichen Zugriffen auf politische Gewalt. In den letzten Jahrzehnten ist insbesondere das Feld des politischen Widerstandes im Nationalsozialismus breit beackert worden. Eine Reihe von Studien beschäftigt sich mit den Trägern und Formen des Widerstandes, den Repressionen des Systems und der politischen Strafjustiz.22 Das Themenfeld ist inzwischen höchst erfolgreich in die Erinnerungspolitik und -kultur eingeschrieben worden. Strenggenommen gehört auch die Gewalt, die von Gegnern des nationalsozialistischen Systems ausgeübt wurde, in den Forschungsbereich Widerstand. Doch sie findet in der Regel keine spezifische 20 Vgl. als Überblicke z. B. Epkenhans, M., Der Erste Weltkrieg: Jahrestagsgedenken, neue Forschungen und Debatten einhundert Jahre nach seinem Beginn, in: VfZ 63 (2015), S. 135–165 und Neitzel, S., Der Erste Weltkrieg und kein Ende, in: HZ 301 (2015), S. 121–148. 21 Siehe Kapitel 7. 22 Vgl. u. a. Steinbach, P. u. J. Tuchel (Hg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945, Berlin 2004 und Ueberschär, G. (Hg.), Handbuch zum Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Europa 1933/39 bis 1945, Berlin 2011.

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Aufmerksamkeit. Hier zeigt sich implizit die lange normative Traditionslinie, in der »Gewalt [H. i. O.] ohne Zusatz den Verdacht des Unrechtmäßigen oder des bloßen Zwanges mit sich führt«, wie Faber in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« ausführte, oder wie die Gewaltkommission der Bundesregierung erläu­terte: »Gelingt es, ein Verhalten als Gewalt [H. i. O.]einzustufen, ist es negativ besetzt und abgewertet.«23 Da jedoch heute der Widerstand gegen den National­sozialismus zweifelsfrei positiv besetzt ist, bleibt der Themenbereich Gewalt in der Widerstandsforschung weitgehend außen vor. Eine ähnliche Fehlmeldung ergibt die Bestandsaufnahme bei der Überprüfung der Berührungspunkte zwischen Gewaltgeschichte und historischer Kriminalitätsforschung. Von kulturgeschichtlichen Ansätzen inspiriert, stehen in letzterer Fragen der gesellschaftlichen Normenfindung und Verbrechensdefinition, des vorgerichtlichen Aushandelns von Konflikten oder der Entwicklung von Gerichts- und Strafverfahren im Vordergrund. Es sind insgesamt viele spannende Fragestellungen, in denen aber Gewalt kaum und noch weniger politisch motivierte Gewalt eine Rolle spielen.24 Ein Forschungsbereich, der in der Auseinandersetzung mit gewaltsamen Aktionen größere Verbindungen zum Thema politische Gewalt aufweist, stellt die historische Protestforschung dar. Sie erlebte, nicht weiter verwunderlich, einen ersten Aufschwung im Gefolge der nordamerikanischen und europäischen 68-Bewegungen. Nicht selten ist die Untersuchung historischer Protestformen in die übergeordneten Zusammenhänge der Revolutionsgeschichte des 19. Jahrhunderts eingebettet. Zu nennen sind hier beispielsweise die Arbeit von Heinrich Volkmann über Protestformen im Vormärz, publiziert 1975, oder die Studie von Manfred Gailus aus dem Jahr 1990 über soziale Protestbewegungen in Deutschland 1847–1849.25 Doch Gailus konstatierte 15 Jahre später: »Historische Forschungen über Protest befinden sich hierzulande seit ca. eineinhalb Jahrzehnten in einem beklagenswerten Dämmerzustand. Oder, mehr fachwissenschaftlich gesprochen: historische Protestforschung bewegt sich am Rande der historiographischen Aufmerksamkeiten und Themenagenden, der dominanten Fragestellungen, Debatten und vorherrschenden Themenkonjunkturen. Sie fristet nach meinem Eindruck ein bedauerliches und zugleich kaum zu rechtfertigendes Schattendasein. Und dies angesichts einer global anschwellenden Welle von Rebellionen, Gewalt, Protest, von traditionellen (alten)

23 Faber, S. 884; Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, S. 35. 24 Vgl. einführend: Schwerhoff, G., Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt a. M. /  New York 2011. 25 Vgl. Volkmann, H., Die Krise von 1830. Form, Ursache und Funktion des sozialen Protests im deutschen Vormärz, Berlin 1975 und Gailus, M., Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens 1847–1849, Göttingen 1990.

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und neuen sozialen Bewegungen [H. i. O.].«26 Gailus sucht nach den Ursachen der Marginalisierung der historischen Protestforschung und sieht sie in der Hinwendung der Geschichtswissenschaft zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen und Diskursanalyse oder zur Geschichte der Geschichtsschreibung. Aber er fragt ergänzend: »Lag es vielleicht auch an methodischen und theoretischen Stagnationen der älteren Protestforschung selbst, für die Protest vorwiegend sozialer Protest hieß, Ausdruck von gesellschaftlichen Krisen und sozialen Ungleichheitsverhältnissen war und vorwiegend im 19. Jahrhundert stattfand [H. i. O.]?«27 Historische Protestforschung und historische politische Gewaltforschung haben zweifellos Schnittstellen. Proteste richten sich an die Öffentlichkeit und sie wollen »Entscheidungen, die für die Gesellschaft oder Teilbereiche von ihr verbindlich getroffen werden«, verhindern oder erzwingen bzw. richten sich »gegen Zustände und Entwicklungen,  … die solchen Entscheidungen angelastet werden«, so die zentralen Aspekte der Definition von politischer Gewalt der Gewaltkommission der Bundesregierung von 1990.28 Doch, wie Gailus in seinem Forschungsüberblick zur Protestgeschichte zu recht feststellt: »Gewalt ist eine häufige Begleiterscheinung von Protesterscheinungen, aber keine notwendige Bedingung von Protest. … Historische Gewaltforschung und Protestforschung haben wichtige gemeinsame Schnittmengen, sind aber nicht deckungsgleich. Gewaltlose Massenkundgebungen, Demonstrationen, Petitionsbewegungen, Boykottaktionen und zahlreiche neu erfundene Formen gewaltloser Aktion müssen wesentliche Bestandteile historischer Protestforschungen sein, zumal für das späte 19. und 20. Jahrhundert, und nicht nur in den pazifizierten, zivilisierten Demokratien des Westens.«29 Bei der Marginalisierung der Protestforschung, die Gailus 2005 konstatierte, ist es indes im letzten Jahrzehnt nicht geblieben. Inzwischen hat die Zeitgeschichte das Themenfeld Protest entdeckt. 1968er Bewegung, die Anti-AKW-Bewegung seit den 1970er Jahren oder die Auseinandersetzung mit dem Nato-Doppelbeschluss in den 1980er Jahren werden in zahlreichen neuen Publikationen aufgegriffen.30 Häufig geht es um die rechtlichen Rahmenbedingungen, um die Frage, welche Protestformen erlaubt, geduldet oder kriminalisiert werden, aber auch um die gesellschaftlichen und politischen Ausgangslagen von Pro26 Gailus, M., Was macht eigentlich die historische Protestforschung? In: Mitteilungsblatt des ISB 34 (2005), S. 127–154, hier: S. 127. 27 Ebd., S. 129. 28 Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, S. 52. 29 Gailus, S. 131. 30 Als wenige Beispiele seien genannt: Frei, N., 1968: Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; Balz, H. (Hg.), »All we ever wanted …«: Eine Kulturgeschichte europäischer Protestbewegungen der 1980er Jahre, Berlin 2012; Löhnig, M., M. Preisner u. Th. Schlemmer (Hg.), Ordnung und Protest: Eine gesamtdeutsche Protestgeschichte von 1949 bis heute, Tübingen 2015.

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testbewegungen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen. »Es interessiert, ob Protest ein Motor sozialen Wandels sein kann, inwieweit dies im Deutschland der letzten gut 60 Jahre der Fall war, oder ob es sich ganz im Gegenteil um ein Symptom eines bereits erfolgten Wandels handelt.«31 Direkt oder indirekt werden gewaltsame Aktionsformen zumeist auch behandelt oder zumindest mitgedacht. Im Vordergrund steht in diesem Forschungszweig politische Gewalt nach wie vor jedoch nicht. Neben den breit erforschten klassischen Gewaltthemen Revolution und Krieg hat insgesamt die historische Forschung politische Gewalt als eigenständiges Thema lange Zeit vernachlässigt. Es war vor allem das Phänomen des erstarkenden Terrorismus, zuerst in den 1970er Jahren als sozialrevolutionäre Bewegung, dann insbesondere seit 9/11 als islamistische Strömung, das Impulse freigesetzt hat, sich auch historisch mit dem Phänomen Gewalt als solchem bzw. mit politischer Gewalt auseinanderzusetzen. Angesichts der zeitlichen Nähe zum sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre braucht es nicht verwundern, dass die neue Gewaltthematik in der Bundesrepublik vorderhand nicht von Historikern aufgegriffen wurde. Symptomatisch ist beispielsweise die Zusammensetzung der Autoren des von Manfred Funke 1977 für die Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Bandes »Terrorismus. Untersuchungen zur Strategie und Struktur revolutionärer Gewaltpolitik«. Unter den 15 Autoren finden sich fünf Journalisten, zwei Juristen, drei Politologen, der Präsident des Verfassungsschutzes in Hamburg, Hans Josef Horchem, der Dozent für Kriminalistik und Kriminologie an der Polizei-Führungsakademie in Münster, Robert Krumpach, und der viel zitierte vormalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Günther Nollau, schließlich ein Militärhistoriker sowie als einziger Zeithistoriker Walter Laqueur, der im Themenfeld ausgewiesen war und es in den folgenden Jahren fachhistorisch nahezu allein besetzte. Walter Laqueur fiel in seinem Überblick »Interpretationen des Terrorismus: Fakten, Fiktionen und politische Wissenschaft« die Rolle zu, das »äußerst kompliziert[e]« Problem des Terrorismus zu historisieren.32 Doch der Schwerpunkt seiner Analyse lag nicht auf dem historischen Phänomen Terrorismus, sondern auf den Terrorismusbildern der Belletristik. Auch in den 1980er Jahren besaßen nicht Historiker die Deutungsmacht über terroristisches Geschehen im Umkreis der RAF -Thematik oder bezogen auf weiter zurückliegende Beispiele für Terrorismus und politische Gewalt. Historische Fallbeispiele untersuchten seit den 1980er Jahren eine Reihe von Angehörigen anderer Disziplinen, die sich durch die aktuellen Ereignisse zur historischen 31 Löhnig, M., M. Preisner u. Th. Schlemmer (Hg.), Einführung, S. 1 f. 32 Laqueur, W., Interpretationen des Terrorismus: Fakten, Fiktionen und politische Wis­senschaft, in: Funke, M. (Hg.), Terrorismus. Untersuchungen zur Strategie und Struktur revolutionärer Gewaltpolitik, Bonn 1977, S. 37–82, hier: S. 37.

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Spurensuche provoziert fühlten. Zu den positiven Beispielen historisch angelegter Analysen durch Nichthistoriker zählt vor allem die Studie des Juristen Joachim Wagner »Missionare der Gewalt. Lebensläufe deutscher Terroristen im Kaiserreich« aus dem Jahr 1980, 1981 erweitert unter dem Titel »Politischer Terrorismus und Strafrecht im Deutschen Kaiserreich von 1871« vorgelegt.33 Der Verfasser verfolgte drei Schwerpunkte: die gesellschaftlichen Ursachen des politischen Terrorismus, individuelle Ursachen, die der Autor anhand der Persönlichkeiten und Lebensläufe der politischen Gewalttäter herausfiltern wollte, und schließlich die gesellschaftlichen Reaktionen auf die Gewaltakte. Wie der Leiter des Ressorts Recht und Zeitgeschichte beim Norddeutschen Rundfunk in seinem Vorwort erläutert, ging es ihm vor allem darum, über den historischen Vergleich aus der Geschichte für die gegenwärtige Terrorismusforschung sozialwissenschaftliche Einsichten zu gewinnen. Erkenntnisleitend war für ihn ein sozialwissenschaftlicher bzw. sozialgeschichtlicher Ansatz, der vor allem die ungleiche Verteilung des Zugangs zu politischer Macht und gesellschaftlichen Ressourcen sowie die Eskalation der gesellschaftlichen Konflikte über Aktion und Reaktion in den Mittelpunkt rückte. Ein weiterer Jurist, Josef Grässle-Münscher, seines Zeichens Verteidiger in Terrorismusverfahren, publizierte 1991 eine historisch angelegte Monografie über den »Staat und seine Feinde« im Kontext des Tatbestands der kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung. Der Autor zog eine historische Linie vom einschlägigen Preußischen Edikt von 1798 bis zur RAF -Strafgesetzgebung. Weitere historische Verankerungsversuche lieferten am Rande Soziologen wie Peter Waldmann, der die jüdischen Zeloten in ihrem Kampf gegen die römische Fremdherrschaft genauso als historische Vorläufer deutete wie »die Denkfigur und Praxis des Tyrannenmordes« oder die russischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts.34 Er interpretierte mithin jedwede nichtstaatliche politische Gewalt in der Geschichte als Terrorismusvorläufer. Auch Politologen, so beispielsweise Andreas Bock, verweisen auf die historischen Wurzeln von gegenwärtiger politischer Gewalt. Er benennt die Phase des staatlich verordneten terreur in der Französischen Revolution als diejenige Epoche, in der »Terrorismus als systematische Form brutaler, willkürlicher politischer Gewalt im öffentlichen Bewusstsein« verankert wurde.35 Weiter subsumiert er politische Theorien und Bewegungen in der Geschichte, die auf die Verbreitung von Angst und Schrecken als Mittel der Herrschaft oder des Systemumsturzes setzten, gleichermaßen den Tyrannenmord und den Anarchismus als historische Wurzeln des aktuellen Terrorismus. Deutlich wird insgesamt: Die Blickrichtung und das Erkenntnis33 Vgl. Wagner, J., Politischer Terrorismus und Strafrecht im Deutschen Kaiserreich von 1871. Heidelberg 1981. 34 Waldmann, P., Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998, S. 40. 35 Bock, A., Terrorismus, Paderborn 2009, S. 25.

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interesse der Nichthistoriker auf historische Phänomene politischer Gewalt gingen und gehen wohl noch immer grundsätzlich vom Gegenwartsphänomen Terrorismus aus. Auch die wenigen Historiker, die in den 1980er Jahren das Thema politische Gewalt aufgriffen, waren dazu vom zeitgenössischen Terrorismus inspiriert. 1982 publizierten Wolfgang Mommsen und Gerhard Hirschfeld einen Tagungsband zum Thema »Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert«. Der Band beinhaltet Beiträge über den politischen Mord in der Neuzeit, gewaltsame Protestformen in (vor)revolutionären Zeiten, über anarchistische und nationale gewaltbereite Bewegungen, aber auch über die Gewaltexzesse im Faschismus. Die Beiträge des Bandes machen deutlich, dass politische Gewalt in der Moderne keinesfalls selten auftrat. Sie schwoll in Zeiten beschleunigten sozialen Wandels und der Auflösung traditioneller Normen mehr oder weniger spontan an, konnte das Erscheinungsbild von Gegengewalt gegen andere gewaltbereite Gruppierungen oder gegen die Staatsmacht annehmen oder sich zu einer bewussten politischen Strategie ausformen, wenn der erhoffte politische Einfluss auf die Massen ausblieb. Letztlich ging es den Herausgebern wohl darum, den gesellschaftlichen Hintergrund von politischen Gewaltausbrüchen historisch auszuloten. Der Band liefert insgesamt eine breite Bestandsaufnahme des Forschungsstandes zu politischen Gewaltphänomenen in der Neuzeit, bleibt in der Begriffsbestimmung von politischer Gewalt allerdings noch sehr offen. Beispielsweise faschistische Gewalt unter Randgruppenphänomenen einzuordnen, erscheint problematisch, handelte es sich doch um Terror von Massenbewegungen, die schließlich den Staat übernahmen. Bemerkenswert ist das Resümee, das Mommsen in einem abschließenden Überblick zieht: Historische wie gegenwärtige gewaltbereite Protestbewegungen seien geprägt von einem schematischen Schwarz-Weiß-Denken. »Sie alle gehorchen einem Primat der Praxis« und »Sie alle hoffen, durch Gewalt Signale setzen zu können, die Veränderung bewirken werden, obschon sie selbst bei weitem nicht genug Rückhalt in der Bevölkerung besitzen, um ernstlich eine Politik der Rekonstruktion auf neuer Grundlage durchführen zu können.«36 Der Sammelband entfaltete in der Geschichtswissenschaft eine beachtliche Wirkungsgeschichte und besetzte für rund ein Jahrzehnt das historische Themenfeld politische Gewalt nahezu allein. Zu den wenigen Historikern, die sich ebenfalls mit politisch motivierter Gewalt auseinandersetzten, zählt Dirk Blasius. Er legte 1983 eine Geschichte 36 Mommsen, W. J., Nichtlegale Gewalt und Terrorismus in den westlichen Industrie­ gesellschaften, in: Mommsen, J. u. G. Hirschfeld (Hg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. u. 20. Jh., Stuttgart 1982, S. 441–463, hier: S. 462.

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der politischen Kriminalität in Deutschland zwischen 1800 und 1980 vor. Ihn interessierte besonders das Wechselverhältnis zwischen politischer Gewalt und einer Justiz, die sich von politischen Einflüssen nicht freihalten kann oder gar zur politischen Justiz verkommt. »Indem der Verzahnung von politischer Justiz und politischer Kriminalität nachgegangen wird, kann Geschichte zur Gewinnung von Maßstäben beitragen: für die Aktionen und Selbstrechtfertigungen des politischen Terrorismus heute und für die Reaktionen eines Staates, dem der Vorwurf des Abgleitens von den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats gemacht wird«, schreibt Blasius in der Vorbemerkung.37 Es folgen ein systematisches Kapitel zum Wechselverhältnis von Rechtsstaat und politischer Gewalt und ein in vier Epochen gegliederter Längsschnitt, beginnend mit der Restaurationsphase nach der Französischen Revolution, über das Wilhelminische Kaiserreich und Weimar, endend mit dem Staatsterror des Nationalsozialismus. Ohne eine teleologische Linie hin zum NS -Unrechtsstaat zu ziehen, ist es doch das obrigkeitlich Antidemokratische der politisch agierenden Justiz, das der Autor unter die Lupe nimmt. »Erst im historischen Rückblick erschließt sich das Verantwortungslose jener Lässigkeit, mit der heute von links Begriffe wie Zwang, Repression und Widerstand in die Debatte geworfen werden. Die Geschichte zeigt aber auch, daß die Selbstgefährdung des Rechtsstaats immer größer gewesen ist als seine Gefährdung von außen [H. i. O.]«, so das Resümee von Blasius, das auf die einschlägigen Debatten in der Entstehungszeit des Buches über den juristischen Umgang mit der RAF verweist.38 Trotz dieser ersten historischen Studien über politische Gewalt blieb das Thema letztlich weiterhin randständig in der Geschichtswissenschaft. Erst das »Erschrecken über die Gewaltausbrüche im Golfkrieg, in den Bürgerkriegen in Afrika und Jugoslawien und nicht zuletzt auch über die fremdenfeindlichen Anschläge in Deutschland« habe dazu geführt, dass sich auch in der Geschichtswissenschaft Fortschrittsskepsis und Geschichtspessimismus breitmachten, so Dirk Schumann in einem Forschungsüberblick 1997.39 »Gewalt, die roheste Form des Umgangs von Menschen miteinander, wird damit erneut zu einem Forschungsgegenstand von besonderer Relevanz, denn sie scheint sich als eine wesentliche, weitgehend zivilisationsresistente Konstante des menschlichen Verhaltens und der Konfliktaustragung zu erweisen«, so der Autor, der wenige Jahre später eine profunde Studie zu politischer Gewalt in der Weimarer Republik vorlegte. Schumann befand zu Recht, dass es bislang keine eigenständige Disziplin Historische Gewaltforschung gäbe, »die versuchen würde, die theoretischen Modelle, methodischen Zugänge und empirischen Befunde 37 Blasius, D., Geschichte der politischen Kriminalität in Deutschland 1800–1900, Frankfurt a. M. 1983, S. 7 f. 38 Ebd., S. 140. 39 Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung, S. 366. Hieraus auch die folgenden Zitate.

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der verschiedenen historischen Untersuchungsgebiete zu bündeln, in denen Formen und Hintergründe von Gewalt berührt werden«. Entsprechend unterschiedlich waren auch die Ansätze, mit Hilfe derer sich historische Studien seit den 90er Jahren dem Phänomen der politischen Gewalt annäherten. Thomas Lindenberger und Alf Lüdtke legten beispielsweise 1995 einen Sammelband über »Physische Gewalt« als »Kontinuität der Moderne« vor.40 Sie benannten einerseits das Erleiden von Gewalt, andererseits den Aufstieg des staatlichen Gewaltmonopols als Leitperspektiven. Kriegsgewalt, öffentliche Regulierung von Gewalt, Gewalt im Haushalt und Nachbarschaft bilden die Schwerpunkte des Bandes. Es wird mithin mit einem breit gefassten Gewaltbegriff gearbeitet. Staatliche, politische und private Gewalt werden behandelt und die Bei­träge letztlich nur durch das Phänomen physische Gewalt zusammengehalten. Schumann selbst schlägt in dem bereits genannten Forschungsbericht vor, politische Gewalt als Grenzüberschreitung zu begreifen, zu der oppositionelle Kreise griffen, wenn der moderne Staat seine wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben in den Augen seiner Kritiker nicht adäquat erfülle. Seine 2001 veröffentlichte Dissertation über die alltägliche politische Gewalt in der Weimarer Republik lässt sich als veranschaulichende Erläuterung dieser Überlegung lesen.41 Mit dem Anwachsen des islamistischen Terrorismus um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert und der allmählichen Hinwendung der Zeithistoriker zur Erforschung der RAF und ihrer Nachfolgeorganisationen erlangte die Geschichte der politischen Gewalt schließlich endgültig einen Platz in der Geschichtswissenschaft. Dem sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre und der inzwischen breit ausdifferenzierten historischen Erforschung dieses Phänomens ist weiter unten ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier ist vorderhand nur darauf hinzuweisen, dass sich die zeitgeschichtliche Schwerpunktsetzung auf Terrorismus als kommunikatives Ereignis neuerdings stimulierend auf eine historische Gewaltforschung in langer Zeitlinie auszuwirken scheint. So legten beispielsweise Ingrid Gilcher-Holtey und Heinz-Gerhard Haupt, beide engagiert in der historischen RAF -Forschung, zusammen mit dem MittelalterHistoriker Neithard Bulst 2008 einen Sammelband zu Gewalt im politischen 'Raum vor, der sich mit Gewaltphänomenen seit dem Mittelalter beschäftigt und Gewalt als »Form der kommunikativen Auseinandersetzung über gesellschaftliche Probleme versteht«.42 Dabei beschäftigen sich die Autoren am Beispiel etwa von krisenbedingter Gewalt im mittelalterlichen Flandern, 40 Vgl. Lindenberger, T. und A. Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt: Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995. 41 Vgl. Schumann. D., Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933: Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001. Vgl. auch Kapitel 7. 42 Bulst, N., I. Gilcher-Holtey u. H.-G. Haupt (Hg.), Gewalt im politischen Raum. Fallanalysen vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. / New York 2008, S. 8.

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Teuerungsprotesten 1844 und 1866 in München oder der gewaltsamen Proteste um den Bau der Startbahn West am Flughafen Frankfurt mit der Frage, »welche Folgen die Diskussionen um Gewalt und Gewalteinsatz für die Konstruktion des politischen Raumes hatten«.43 Schließlich befeuerte die wachsende historische Auseinandersetzung mit der RAF und ihren Nachfolgeorganisationen auch die geschichtswissenschaftliche Wurzelsuche in Sachen Terrorismus. Dieses Forschungsfeld steht im Zentrum der folgenden Kapitel. Schon 2009 formulierte Martin Schulze Wessel in einem Themenheft von Geschichte und Gesellschaft, das der »historische[n] Terrorismusforschung« gewidmet ist, den Anspruch: »In der Tat sollte historische Terrorismusforschung  … eine wichtige Rolle in der politischen Diskussion spielen.«44 Das Heft präsentiert in Fallstudien den Umgang von Herrschern bzw. von Staaten des 19. und 20. Jahrhunderts mit der Herausforderung des Terrors. Es will damit zur Historisierung der politikwissenschaftlichen Terrorismusforschung beitragen und belegt mit seinem Ansatz, wie sehr Gegenwartsimpulse die einschlägige historische Gewaltforschung stimulieren. Den Abschluss des Forschungsüberblicks soll ein Sammelband aus dem Jahr 2014, herausgegeben von José Brunner, Doraon Avraham und Marianne Zepp bilden. Die Herausgeber starteten einen neuerlichen Versuch, »Politische Gewalt in Deutschland« unter einer gemeinsamen Leitidee vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart zu untersuchen. Der Band versammelt Beiträge von der militärischen Praxis in der Zivilgesellschaft des Wilhelminischen Kaiserreiches über Antisemitismus im Nationalsozialismus bis zur friedlichen Revolution 1989 und verbindet die historischen mit literaturwissenschaftlichen Beiträgen zu Autoren des 19. bis 21. Jahrhunderts. Wie die Herausgeber erläutern, geht es ihnen »nicht um den Nachweis eines vorgeblich universellen Charakters von Gewalterfahrung, auch nicht um die Erforschung allgemeiner Ursachen von Gewalt, weder um ein Erklärungsmuster für gewaltsame Eruptionen, noch um das Herausarbeiten von langfristigen Strategien zur Gewaltausübung oder -bekämpfung.«45 Ihr Ziel ist vielmehr »Zusammenhänge von Legitimationsstrategien und kulturellen Deutungsmustern herauszuarbeiten, die sich unterschiedlichen Methoden bedienen, in ihrer Zeit verortet sind und in die Gesellschaft zurückwirken.« Es geht darum, darauf hinzuweisen, dass Gewalt »immer in diskursive Konstruktionen und gesellschaftliche Interaktionen eingebettet ist und auch auf sie wirkt.« Jenseits der Frage, ob und wie plausibel die Sammelbandbeiträge diese Leitidee im Einzelnen umsetzen, ist 43 Ebd. 44 Schulze Wessel, M., Terrorismusstudien. Bemerkungen zur Entwicklung eines Forschungsfeldes, in: GG 35 (2009), S. 357–367, hier: S. 365. 45 Brunner, J., D.  Avraham u. M.  Zepp (Hg.), Politische Gewalt in Deutschland. Ursprünge – Ausprägungen – Konsequenzen, Göttingen 2014, S. 7. Hieraus auch die fol­ genden Zitate.

Politische Gewalt in der historischen Forschung

festzuhalten, dass sie die geschichtswissenschaftlichen Ansätze der letzten zwanzig Jahre zur Erforschung politischer Gewalt miteinander zu verbinden suchen. Überlegungen zum grenzüberschreitenden Charakter von politischer Gewalt hinsichtlich der Delegitimation des staatlichen Gewaltmonopols können auf diese Weise mit Überlegungen zu politischer Gewalt als kommunikativer Strategie verbunden werden. Derzeit dürfte in einer solchen Kombination der spezifische Beitrag der Geschichtswissenschaft zur aktuellen Erforschung politischer Gewaltphänomene liegen.

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2. Sicherheit als geschichtswissenschaftliches Thema »Das Interesse der Bewohner welchen politischen Gebildes auch immer an ihrer persönlichen Unversehrtheit ist geradezu konstitutiv für alle Formen von Gemeinschaftsbildung«, so die Historiker Martin Dinges und Fritz Sachs in einem historischen Überblick zur Sicherheit in der Stadt.1 Sicherheit sei »heutzutage ein umfassendes Konzept«, befinden die Autoren, »das zunächst die Unversehrtheit von Leib, Leben und Eigentum umfaßt«, aber längst nicht bei diesen Schwerpunkten stehen geblieben sei.2 Das Thema Sicherheit ist ein »Dauerbrenner«, so auch Karl-Ludwig Kunz. »Sicherheit ist zu einem Bestandteil des kulturellen Rahmens der Gesellschaft geworden: Wir leben in einer Sicherheitskultur. … Der Diskurs um Sicherheit wirft einen stets zurück auf die von der Gesellschaft gewünschte Gesellschaftsgestaltung als solche und dient damit der Selbstfindung der Gesellschaft.«3 Dem Befund des Juristen und Kriminologen ist hinzuzufügen: Die sicherheitspolitische »Selbstfindung der Gesellschaft« beschäftigt mehr oder weniger alle Gesellschaftswissenschaften auf vielfältige Weise. Dabei stellt die Sicherheit vor politischer Gewalt nur ein Thema unter vielen anderen dar. »Es wird eng in der Sicherheitsforschung«, schreibt der Politikwissenschaftler Christopher Daase in einem Aufsatz über »die Historisierung der Sicherheit«. »Immer mehr wissenschaftliche Disziplinen entdecken die Sicherheit als Thema und analysieren die vielen Formen der Unsicherheit – wie Gefahren, Bedrohungen, Risiken oder Katastrophen.«4 Tatsächlich ist seit den 1970er Jahren Sicherheit »zu einem Wert- und Leitbegriff moderner Gesellschaften« aufgestiegen.5 Sicherheit bezeichnet, so ist im Brockhaus zu erfahren, »ein Programm, eine Zielbestimmung, die sich in sozialem Handeln, in politischen Aktionen, in psychischen Reaktionen, techni­ schen Vorkehrungen, wissenschaftlichen Berechnungen, moralischen Appellen, gesetzlichen Regelungen, und gesellschaftlichen Institutionen ausdrücken kann«.6 Gefühlte Sicherheit verbindet individuelle Vorstellungen und biogra1 Dinges, M. u. F. Sachs, Unsichere Großstädte? In: Dies. (Hg.), Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zu Postmoderne, Konstanz 2000, S. 9–65, hier: S. 12. 2 Ebd. 3 Kunz, K.-L., Sicherheitskultur ohne Sicherheit? in: MschKrim 97 (2014), S. 294–304, hier: S. 294 und 296. 4 Daase, Ch., Die Historisierung der Sicherheit. Anmerkungen zur historischen Sicherheitsforschung aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: GG 38 (2012), S. 387–405, hier: S. 387. 5 Kaufmann F-X., Sicherheit: Das Leitbild beherrschbarer Komplexität, in: Lessenich S. (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt a. M. / New York 2003, S. 73–104, hier: S. 74. 6 Artikel Sicherheit, in: Brockhaus, Enzyklopädie online, 2015, https://ezproxy.bibl.unibwmuenchen.de:4624/brockhaus/sicherheit (20.3.2016).

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fische Erfahrungen mit gesellschaftlichen Debatten und staatlichen Maßnahmen. Es handelt sich mithin um einen Begriff, der die Sozial­w issenschaften, politische Wissenschaft, Psychologie und Anthropologie, technischen Wissenschaften, Philosophie, Ethik und Rechtswissenschaft gleichermaßen beschäftigen muss. Da es sich zudem um eine gesellschaftliche Leitidee handelt, die dem historischen Bedeutungswandel unterliegt, ist auch die Geschichtswissenschaft betroffen. Es bietet sich folglich an, den Themenkomplex Sicherheit interdisziplinär zu bearbeiten. Doch der Begriff wird in den einzelnen Forschungsdisziplinen unterschiedlich definiert und gewichtet. Das erschwert die fachübergreifende Zusammenarbeit. Sicherheitsforschung in der Soziologie Eine Vorreiterrolle in der Analyse von Sicherheit und Unsicherheit übernahm schon seit den 1970er Jahren die Soziologie.7 Franz-Xaver Kaufmann legte 1973 eine Studie vor, auf die sich heute immer noch bezogen wird. Er begriff Sicherheit als eine der zentralen Leitideen des menschlichen Handelns. Unter normativen Gesichtspunkten bestimmen Kaufmann zufolge drei Wertorientierungen nicht nur menschliche Verhaltensweisen, sondern auch die fachwissenschaftlichen Debatten um Sicherheit: »eine retrospektive Konzeption verlorener Sicherheit, die sich offenbar auf eine Einschätzung vormoderner Verhältnisse bezieht, … eine Konzeption herstellbarer Sicherheit, die sich als Systemsicherheit präzisieren lässt … [und] eine personenbezogene Konzeption von Sicherheit als Zustand des Bewusstseins und Gemütes, die  … hier abkürzend als Selbstsicherheit bezeichnet sei [H. i. O.].«8 Seit Kaufmanns Pionierstudie hat sich die sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung beträchtlich ausdifferenziert. Sicherheit wird in den Sozialwissenschaften in der Regel als Sicherheit vor einem Risiko, einer Gefahr oder Bedrohung definiert, Unsicherheit hingegen als Angst vor einem als bedrohlich wahrgenommenen Ereignis. Üblich ist eine Unterscheidung zwischen allgemeiner oder kollektiver Sicherheit und persönlicher oder individueller Sicherheit. Untersucht werden beispielsweise Sicherheitstraditionen und -ansprüche, Sicherheitsmanagements und ihre Nebenwirkungen, Sicherheitsakteure, die Wahrnehmung von Ereignissen als bedrohlich, die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung von Sicherheitskonzepten und -managements, Sicherheitsarchitekturen und -indikatoren, schließlich Sicherheit als Diskursthema. Viele der aktuellen so7 Einführend: Beck, U., Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1999; Bonß, W., Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995. 8 Kaufmann, Sicherheit: Das Leitbild beherrschbarer Komplexität, S. 88.

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zialwissenschaftlichen Forschungsprojekte gehen vom Individuum aus und befassen sich damit, welche drohenden oder als bedrohlich wahrgenommenen Ereignisse als Sicherheitsgefährdungen interpretiert und welche Sicherheitsmanagements gefordert bzw. akzeptiert werden. Den theoretischen Hintergrund für die besondere Betonung des Individuums im Kontext von Unsicherheitswahrnehmung liefert die Vorstellung von der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung in Richtung Individualisierung oder Subjektivierung. Dem einzelnen individuellen Subjekt wird eine gesteigerte Bedeutung zugeschrieben; aber auch gleichzeitig sein Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse betont. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels vom 20. zum 21. Jahrhundert (Globalisierung, Transnationalisierung sozialer Lebenswelten, Individualisierung) beobachtet die Soziologie, dass traditionelle gesellschaftliche Institutionen (Familie, Arbeit, Sozialstaat) zunehmend unter Druck geraten und sich ihr Einfluss auf die Subjektbildung des Individuums abzuschwächen scheint. Werden diese gesellschaftlichen Institutionen als Kerninstitutionen interpretiert, in denen sich die Identitäten der Individuen entwickeln, dann stellt nicht nur die aktuell festzustellende Erosion etwa von Familie oder Sozialstaat ein Problem dar, vielmehr werden Identitätsprobleme »bezüglich einer kulturell als gelungen, natürlich oder erstrebenswert (an-)erkannten oder auch verworfenen Subjek­tivierung [H. i. O.]« zur Leitidee von sozialwissenschaftlicher Sicherheitsforschung, so beispielsweise die Soziologin Andrea D. Bührmann.9 Zunehmend scheint das Individuum aufgerufen, als eigeninitiatives Subjekt, homo oeconomicus oder unternehmerisches Selbst seine Interessen selbst in die Hand zu nehmen, auch und vor allem in Fragen der Sicherheitsherstellung. Damit geraten gesellschaftliche Diskurse um Sicherheitskonzepte als Schnittstelle zwischen individuellem Sicherheitsverständnis bzw. Sicherheitshandeln und staatlichen sicherheitlichen Aktionen bzw. Reaktionen in den Blick. Im Vordergrund steht dabei das Individuum mit seinen Sicherheitserwartungen und seinen Anforderungen an begleitendes staatliches Handeln. Dass die soziologischen Subjekte sicherheitsgeleitete Forderungen an den Staat stellen, lässt sich beispielsweise aus einer europaweiten Befragung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ableiten. Demnach bedingen »die Stabilität des staatlichen Gewaltmonopols und der Grad der Sozialstaatlichkeit bzw. Verteilungsgerechtigkeit« das Ausmaß der Sicherheits- bzw. Unsicherheitsgefühle der Befragten.10 Der Befund macht deutlich, wie eng Sicherheits9 Bührmann, A. D., Das unternehmerische Selbst: Subjektivierungsform oder Subjektivierungsweise? In: Keller, R., W. Schneider u. W. Viehöfer (Hg.), Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012, S. 145–164, hier: S. 149. 10 Blinkert, B., Unsicherheitsbefindlichkeit als ›sozialer Tatbestand‹, in: MschKrim 93 (2010), S. 106–125, hier: S. 106.

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oder Unsicherheitsgefühle einerseits mit Aspekten sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit, andererseits mit Kriminalitätsangst und der politischen Gewaltfrage verknüpft sind und wie deutlich aus einem Unsicherheitsempfinden heraus Forderungen an das staatliche Gewaltmonopol gestellt werden. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive können aus der soziologischen Debatte Impulse für eine Kulturgeschichte von Gewalterfahrung und -deutung, von Sicherheits- und Unsicherheitsgefühlen gewonnen werden. Doch die historische Quellenlage ist sperrig; historische Vergleiche zur soziologischen Analyse der gegenwärtigen Sicherheitsdiskurse sind daher nicht leicht zu bewerkstelligen. Juristische Sicherheitsforschung Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Staat greift die Rechtswissenschaft im Gegensatz zur Soziologie primär aus der Perspektive staatlichen Handelns in der Innen- wie in der Außenpolitik auf. Aus rechtshistorischer Sicht stellt sich Sicherheit als Legitimationsgrundlage staatlichen Handelns und gleichermaßen als staatliche Aufgabenstellung dar. Zum Staatszweck im Innern entwickelte sich in der Neuzeit unter anderem oder gar vor allem die Herstellung und Garantie öffentlicher Sicherheit mithilfe des Rechts und der Polizei. Spätestens im 20. Jahrhundert tritt die Vorstellung hinzu, dass dem Staat die Aufgabe zufalle, die Rechtssicherheit des Bürgers und seiner Freiheitsrechte, schließlich gar seiner sozialen Rechte zu gewährleisten. Rechtssicherheit hat sich neben Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit zu einer juristischen Leitidee entwickelt. Ableitbar scheint aus dem Konzept der Rechtssicherheit sogar die Idee eines Grundrechts auf Sicherheit des Bürgers. Diese Vorstellung führt beispielsweise Josef Isensee aus. Sicherheit und Freiheit erscheinen dem Autor zufolge vordergründig als gegensätzlich. Staatliche Sicherheitsmaßnahmen gelten als Bedrohung der Freiheitsrechte des Bürgers, denn Menschenund Bürgerrechte, wurden, historisch gesehen, als Abwehrmaßnahme von staatlichen Übergriffen entworfen. Doch, so der Autor, »die grundrechtliche Freiheit wird entwertet, wenn sie nicht ein Fundament in der Sicherheit findet. Es ist ein Lehrsatz für Anfänger unter den Berufsrevolutionären, daß der Terrorakt, der dem Bürger das Gefühl der Unsicherheit vermittelt, das beste Mittel zur Entlegitimierung eines freiheitlichen Staates ist.«11 In der dem Staat die Legitimation entziehenden Funktion der Unsicherheit schlage sich nieder, dass nicht nur die Sicherung der Freiheitsrechte vor staatlichen Eingriffen einen Staatszweck darstellt, sondern auch die Sicherung des Bürgers

11 Isensee, J., Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin 1983, S. 19.

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vor illegitimer Gewalt. Dem staatlich zu garantierenden Schutz des Lebens, so habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung bezüglich der Abtreibungsgesetzgebung 1975 entschieden, komme ein fundamentaler Stellenwert zu. »An dem Gebot, das Leben zu schützen, hätten sich die einzelnen Bereiche der Rechtsordnung  … auszurichten«.12 Isensee zufolge erschöpft sich der Staatszweck deshalb nicht in der Garantie von Rechtstaatlichkeit und Freiheitsrechten, sondern er beinhaltet auch oder gerade die Aufgabe, die grundlegende Sicherheit, verstanden als Schutz vor Lebensgefahr, zu gewährleisten. Doch auch Isensee weiß: »Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind nicht auf totale Sicherheit angelegt. … Die Allgegenwart des staatlichen Sicherheitsgaranten ist mangels Verwaltungskapazität nicht realisierbar. Sie ist auch um der Freiheit willen unzumutbar.«13 Der frühe Text Isensees (1983) lässt sich als Reaktion auf den sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre interpretieren. Der Sicherheitsherstellung als Staatsaufgabe wird vom Autor ein hoher gesellschaftlicher Wert zugewiesen. Doch die anvisierte Verrechtlichung staatlicher Sicherheitsgewährleistung spiegelt auch die Tendenz, gesellschaftlichen Debatten um Sicherheit und Unsicherheit und dem individuellen Umgang mit Unsicherheit administrative Grenzen zu ziehen. Wie die aktuellen medialen Diskussionen um Sicherheitsgefährdungen zeigen, haben sich die öffentlichen einschlägigen Auseinandersetzungen jedoch keinesfalls beruhigt, im Gegenteil. Der Provokateur Terrorismus forderte und fordert bleibend auch die Rechtswissenschaft heraus, sich mit dem Verhältnis von Staatsaufgaben, Freiheit und Sicherheit auseinanderzusetzen. »Die tragischen Ereignisse des 11. September 2001 haben zwar möglicherweise nicht alles, wohl aber Sicherheitsdiskurse und Sicherheitsrecht erheblich verändert«, so der häufig auch historisch arbeitende Jurist Christoph Gusy. »Statt der Alltagsfragen von zero tolerance [H. i. O.] erscheinen die Ausnahmeereignisse des internationalen Terrorismus als neue Paradigmata der Diskussion. Damit stellt sich das ewige Thema der Zuordnung von Freiheit und Sicherheit ein weiteres Mal unter neuen Vorzeichen.«14 Doch Gusy betont den gegenläufigen Charakter des staatlichen Freiheits- und Sicherheitsauftrags. »Sicherheit ist die Abwesenheit von Risiken; Freiheit hingegen verursacht und steigert Risiken. Und die Staatsaufgabe Freiheit individualisiert Entscheidungszuständigkeiten; die Staatsaufgabe Si­cherheit kollektiviert Entscheidungszustän­ digkeiten [H. i. O.].«15 Sicherheit in Freiheit und Freiheit in Sicherheit ließen sich

12 Ebd., S. 27. 13 Ebd., S. 41. 14 Gusy, Ch., Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDSt RL 63 (2004), S. 151–190, hier: S. 153. 15 Ebd., S. 155.

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als gesellschaftliche und juristische Aufgabenstellungen letztlich nicht deckungsgleich vereinigen. Trotz des beobachtbaren Übergangs vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat müsse klar sein: »Freiheit setzt stets ein gewisses Maß an Unsicherheit voraus. Diese ist Chance und Preis der Freiheit zugleich. Die maßgebliche Frage ist stets neu, welchen Preis die Träger der Freiheit für diese Chance zu zahlen bereit sind [H. i. O.].«16 Und Gusy resümiert: »Sicherheit stabilisiert und garantiert die Verkehrsregeln der Freiheit. Ihre konkrete Zu­ordnung ist durch das demokratisch legitimierte Recht zu leisten. … Die bisweilen postulierte Staatsaufgabe einer umfassenden Risikosteuerung [H. i. O.] greift zu weit. … Dem Grundgesetz lassen sich nur einzelne normative Vorgaben eines differenzierten staatlichen Risikomanagements entnehmen.«17 Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht bietet die juristische Debatte um Sicherheitsaufgaben des Staates und das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit vielfältige Anknüpfungspunkte für den historischen Vergleich von staatlichen Gewaltmanagements in langer Zeitlinie. Politikwissenschaftliche Sicherheitsforschung Die Soziologie rollt derzeit das Sicherheitsproblem mit besonderer Betonung der gesellschaftlichen Folgen aus der Perspektive der Individuen auf, während die Rechtswissenschaft das Sicherheitsproblem als Spannungsverhältnis unterschiedlicher Staatsaufgaben begreift. Demgegenüber interessiert sich die Politikwissenschaft vorrangig für staatliches Handeln bezogen auf das Ziel, Sicherheit herzustellen. Traditionell galt in der Politikwissenschaft Sicherheit als Themenfeld der Außen- und Militärpolitik. Im Zentrum stand die Frage, wie sich Staaten vor militärischen Angriffen schützen könnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich Sicherheitspolitik rasch zu einem eigenständigen politikwissenschaftlichen Forschungsfeld. Mehr und mehr lösten sich die Security Studies von ihrer militärischen Anbindung, beließen aber in ihrem Fokus »the study of the threat, use, and control of military force«.18 Auch wenn sich der Zugriff allmählich von der nationalen Sicherheit auf Fragen sicherheitsbezogener Innenpolitik und der internationalen Sicherheit weitete, rückten gewaltlose und gewaltsame Bedrohungen im Innern verstärkt erst in den 1990er Jahren in den Fokus der Security Studies. Als Startpunkt einer beträchtlichen Erweiterung des politikwissenschaftlichen Zugriffs auf Sicherheit gelten die Arbeiten der sogenannten Kopenhagener Schule um

16 Ebd., S. 180. 17 Ebd., S. 189. 18 Walt, St., The Renaissance of Security Studies, in: ISQ 35 (1991), S. 211–239, hier: S. 212.

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Barry Buzan und Ole Wæver.19 Der von ihnen entwickelten Theorie der Versicherheitlichung (Securitization) zufolge entsteht Sicherheit bzw. Unsicherheit als soziale Konstruktion erst im Rahmen des einschlägigen gesellschaftlichen Diskurses. Wenn ein Thema im Sprechakt zum Sicherheitsproblem gemacht worden ist, wird es versicherheitlicht und (staatliche) Maßnahmen zu seiner Lösung können entwickelt werden. Ins Zentrum der Überlegungen zur Versicherheitlichung rücken damit die Akteure, die ein zu versicherheitlichendes Problem in die gesellschaftliche Debatte einführen. Interesse findet aber auch das Publikum und die Frage, welche Maßnahmen der Bürger akzeptiert, wenn er sich durch diese einen Zuwachs an Sicherheit verspricht. Der SecuritizationAnsatz erlaubt einerseits die Erweiterung der sicherheitsrelevanten Themen über militärische Fragen hinaus, beschränkt aber andererseits das Forschungsfeld auf diskursorientierte Fragestellungen. Somit bleibt das zu untersuchende Feld der Versicherheitlichung überschaubar. Gesellschaftlich harte Fakten von Bedrohung werden allerdings marginalisiert. Das ist in einem weiteren politikwissenschaftlichen Ansatz der Sicherheitsforschung, dem Problemfeld der Human Security gänzlich anders. Dieser Begriff der menschlichen Sicherheit entstammt ursprünglich der Sphäre der angewandten internationalen Politik, nicht der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Sicherheit. 1994 legte die UNO im Rahmen ihres Entwicklungsprogramms einen »Human Development Report« vor, der einen Paradigmenwechsel von staatlicher zu individueller menschlicher Sicherheit vornahm. Sicherheit erfordert demnach nicht nur die staatliche oder internationale Verhinderung von Kriegen, sondern die Herstellung menschlicher Entwicklungschancen. Der Bericht benennt sieben Dimensionen menschlicher Sicherheit: Wirtschaft, Nahrung, Gesundheit, Umwelt, individuelle persönliche, Gemeinschafts- und politische Sicherheit. Selbstverständlich gehört auch der Schutz vor politischer Gewalt und Terrorismus zu den zu sichernden menschlichen Gütern. Das Konzept wird seit 1994 breit rezipiert und diskutiert. Es spiegelt ähnlich wie der Securitization-Ansatz den Eingang sozialwissenschaftlichen Denkens in die politikwissenschaftliche Debatte, bleibt aber der Analyse gesellschaftlicher Bedingungen verpflichtet und verbindet individuelle mit staatlicher Sicherheit und den Bemühungen um internationale Friedenssicherung. Wie die benannten Sicherheitsdimensionen zu hierarchisieren sind, wird in der politischen und politikwissenschaftlichen Debatte unterschiedlich beantwortet. Häufig werden die Sicherung der Menschenrechte und die individuelle Freiheit vor Furcht ins Zentrum der Überlegungen gestellt. Von hier aus ist der Weg nicht weit, staatliche Souveränität in Frage zu stellen, wenn die Menschenrechte

19 Vgl. beispielsweise Buzan, B., O. Wæver, u. J. Wilde, Security. A new framework for analysis, London 1998.

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missachtet werden. Noch weiter greift der Ansatz der »Commission on Human Security« der UNO von 2003. Hier wird Human Security als umfassendes Entwicklungskonzept interpretiert. »It means creating political, social, environmental, economic, military and cultural systems that together give people the building blocks of survival, livelihood and dignity.«20 Die Besonderheit des wissenschaftlichen Konzepts Human Security, so der Politikwissenschaftler Manuel Fröhlich, »liegt in dem Umstand begründet, dass es sich parallel und simultan zur politischen Diskussion (und teilweisen Implementation) entwickelt hat. … Diese Parallelität von Theorie und Praxis wird auch die weitere Ausformung wesentlich bestimmen.«21 Das Konzept fördert neue Steuerungsinstrumente auf der Ebene der internationalen Politik und bietet vielfältige Schnittstellen zwischen Politik auf staatlicher Ebene, der Arbeit von NGOs und individuellen Sicherheitsfragestellungen. Nicht zuletzt wird die Idee der Human Security auch von der Genderforschung aufgegriffen. Anders als die scheinbar geschlechtsneutrale Menschenrechtsdebatte erlaubt der Ansatz der Human Security danach zu fragen, wie Geschlecht und Gewalt miteinander verknüpft sind, wie mittels Gewalt Geschlechterhierarchie (wieder) hergestellt wird und wie einer solchen Verknüpfung auf der Bühne der internationalen Politik gegengesteuert werden kann.22 Sowohl der Securitization- als auch der Human Security-Ansatz bieten Anknüpfungspunkte für die Geschichtswissenschaft bei der Erforschung politischer Gewalt. Der Sicherheitsdiskurs wie die breite gesellschaftliche Analyse von Sicherheitsgefährdungen lassen sich historisch vergleichend aufgreifen. Sicherheit in historischer Perspektive Wie stellt sich die Geschichtswissenschaft zum Thema Sicherheit? Ein erster Überblick über geschichtswissenschaftliche Publikationen fördert scheinbar Erstaunliches zu Tage. Sicherheit findet vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit in der historischen Forschung. Interessieren sich Historiker tatsächlich nicht für Fragen menschlicher Unsicherheit und Sicherheit? Vermutlich verhält es sich eher umgekehrt. In der Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung von Herrschafts- und Staatsformen sind Fragen der Herstellung 20 Commission on Human Security, New York 2003, S. 4, zitiert nach Fröhlich, M., Human Security – Ein Perspektivenwechsel in der Sicherheitspolitik? In: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hg.), Die UN als Friedenswahrer und Konfliktschlichter, Berlin 2007, S. 11–22, hier: S.16 f. 21 Ebd., S. 19. 22 Vgl. hierzu: Tripp, A. M., Towards a gender perspective on human security, in: Tripp, A. M., M. M. Ferree u. Ch. Ewig (Hg.), Gender, violence, and human security. Critical feminist perspectives, New York / London 2013, S. 3–32.

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von Sicherheit so selbstverständlich integriert, dass sie anscheinend kaum eigenständig benannt werden. »Sicherheit«, schrieb Werner Conze 1984 in den »­Geschichtlichen Grundbegriffen«, »ist ein mit dem Fürstenstaat der europäischen Neuzeit entstandenes Abstraktum, das seit dem 17. Jahrhundert in immer neuen Bedeutungsfeldern konkretisiert und, meist affirmativ gebraucht, zu einem normativen Begriff wurde [H. i. O.].«23 Conze zitiert wie die Sozial­ wissenschaften Franz Xaver Kaufmann. Der Soziologe schrieb 1973 von dem »sich erst neuerdings verbreitenden Glauben, daß einer der tiefsten Wünsche der Menschen Sicherheit [H. i. O.] sei«, und das Schlagwort immer größere Verbreitung fände. Aus politik- und sozialgeschichtlicher Perspektive setzt Sicherheit »Schutz oder Garantien voraus, die auf konkreten Rechtsgrundlagen beruhen und durchsetzbar sein müssen. Die Abhängigkeit jeglicher [solchermaßen definierter, d. Vf.] Art von Sicherheit von einer Schutzgewalt weist auf den Staat hin, der beim Rechtsschutz des Individuums, bei den sozialen Sicherungen in der industriellen Arbeitswelt, bei der Verbrechensbekämpfung und schließlich bei der Verteidigung der Grenzen überall als Sicherheitsgarant erscheint.« In den »Geschichtlichen Grundbegriffen« liegt der Fokus auf der Sicherheitsherstellung als Aufgabe des Staates und dem sich diesbezüglich wandelnden Staatsverständnisses. Tatsächlich lässt sich die Entfaltung des modernen Staates als ein Prozess beschreiben, in dem das Staatswesen immer mehr Sicherheitsaufgaben übernommen hat. Im Mittelalter ging es vorderhand um die Durchsetzung des inneren Friedens im adeligen oder fürstlichen Herrschaftsgebiet und die Sicherung des Territoriums gegen fremde Ansprüche. In der Frühen Neuzeit trat der Ausbau staatlicher Verwaltung bzw. von Verwaltungsaufgaben sowie staatlich garantierten Rechts und die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols hinzu. Auch dieser Prozess diente unter anderem der Absicherung der Rechte der Einwohner des Herrschaftsgebiets. Mit der Aufklärung und der Französischen Revolution wurden die Sicherung der Freiheitsrechte des Bürgers vor dem Staat und die Sicherung staatsbürgerlicher politischer Partizipation durch Verfassungen und staatliche Rechtsgarantien relevant. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sollte der moderne Staat zunehmend auch soziale Sicherungsaufgaben (Gesundheitsfürsorge, soziale Sicherung) übernehmen. Mehr und mehr mussten sich Herrschafts- und Staatsformen nun auch daran messen lassen, wie erfolgreich sie in Sachen Sicherheit operierten. Aus historischer Langzeitperspektive kann es sich folglich keinesfalls um einen Entwicklungsprozess handeln, in dem Menschen mit immer mehr Risiken und Gefahren konfrontiert wurden. Im Gegenteil: Heute sind die Lebensumstände zumindest breiter Bevölke23 Conze, W., Sicherheit, Schutz, in: Brunner, O., W.  Conze u. R.  Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862, hier: S. 831. Hieraus auch die folgenden Zitate.

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rungskreise in Westeuropa oder den USA wesentlich abgesicherter als sie es in der Frühen Neuzeit oder im 19. Jahrhundert waren. Lebensbedrohende Unwägbarkeiten wie Hungerkrisen und Seuchenzüge sind aus dem Alltag der westlichen Hemisphäre weitgehend verschwunden. Tödliche Krankheiten erwarten die meisten Menschen dieser Weltregion erst in fortgeschrittenem Alter. Die soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod hat sich deutlich verringert und die durchschnittliche Lebenserwartung ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Dass der allgemeine Prozess der Sicherheitsgewinnung keine lineare Entwicklung darstellt, sondern beispielsweise durch Wirtschaftskrisen, Kriege, politische Gewalt oder Terrorismus unterbrochen, kurzfristig in sein Gegenteil verdreht oder ausgebremst werden kann, ist offensichtlich. Doch die Tatsache bleibt bestehen, dass ein Vergleich der frühneuzeitlichen Welt mit der heutigen im Schnitt eine beachtliche Zunahme an individueller Gesundheit, Lebenserwartung oder sozialer Absicherung zu Tage fördert. Die genannten Bereiche stellen ebenso wie die Ausformung des modernen (Sicherheits-)staats eigenständige, breit beackerte Forschungsfelder der Geschichtswissenschaft dar, ohne dass sie sich als Teilgebiete einer über­ geordneten Sicherheitsforschung begreifen. Darauf, dass auch viele sozial- und politikwissenschaftliche Konzepte zur Herstellung von Sicherheit keinesfalls neu sind, hat die Historikerin Emma Rothschild 1995 verwiesen. Sie führt das politische Verständnis von Sicherheitsfragen der 1990er Jahre auf das liberale Denken insbesondere des späten 18. Jahrhunderts zurück. Zwar werde immer davon ausgegangen, dass es sich beim aktuellen Sicherheitsdiskurs um eine fundamentale Erweiterung traditioneller Sicherheitskonzepte handle, doch Rothschild zufolge waren die modernen Erweiterungsideen schon im 18. Jahrhundert nachweisbar. Heutige Sicherheitsvorstellungen, Deutungen, was zu verschiedenen Zeiten eigentlich unter Sicherheit verstanden wurde, Überlegungen, inwieweit Sicherheit als internationales Thema aufzufassen sei, weiterhin die Ausweitung des Sicherheitsbegriffs und der Zusammenhang von Sicherheit und bürgerlicher Gesellschaft (Civil Society) oder das Konzept der Meinungsfreiheit als Grundlage von Sicherheit könnten auf Ideen des 18. Jahrhunderts zurückgeführt werden. Emma Rothschilds Aufsatz gehört zu den bibliographischen Standardverwei­ sen historischer Sicherheitsforschung.24 Im Kontext der wachsenden terroristischen Herausforderungen seit 9/11 und des sozial-, rechts- und politikwissenschaftlichen Forschungsbooms in Sachen Sicherheit greift neuerdings auch die Geschichtswissenschaft das Thema verstärkt auf. 2012 war ein Heft von »Geschichte und Gesellschaft« der historischen Sicherheitsforschung gewidmet. Eckart Conze überprüfte den

24 Vgl. Rothschild, E., What is security? In: Daedalus 124 (1995), S. 53–98.

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Securitization-Ansatz auf seine methodische Tragfähigkeit für die historische Forschung. Ausgehend von der politischen und gesellschaftlichen Erweiterung des Sicherheitsbegriffs, aber auch der Sicherheitsanforderungen des Bürgers an den Staat seit den 1970er Jahren verwies er auf die langen historischen Traditionen, in denen Sicherheit schon im 17. Jahrhundert zum wesentlichen Staatszweck und seiner Herrschaftslegitimation herangezogen wurde. Doch Sicherheitsvorstellungen und Sicherheitskulturen unterliegen dem historischen Wandel. Conze sieht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft darin, die Faktoren zu erforschen, die zur Veränderung von gesellschaftlichen Sicherheitskonzepten führen. »Wie aber entwickelten sich in der Geschichte Vorstellungen von Sicherheit? Wie wurde über diese Vorstellungen gestritten? Wie gelangten sie unter unterschiedlichen historischen Bedingungen in den politischen Prozess (verstanden als kommunikativer, auf kollektive Verbindlichkeit zielender Prozess), um sich dort zu institutionalisieren? Man muss sich dabei von der Annahme lösen, dass objektive Bedrohungen für diese Institutionalisierung verantwortlich sein müssen. Vielmehr ist die politische Konzeptualisierung und Institutionalisierung von Sicherheit das Ergebnis historischer Prozesse, von Auseinandersetzungen innerhalb von Gesellschaften, von Konflikten und Spannungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen mit divergierenden Interessen.«25 Die Historisierung des Sicherheitsbegriffs eröffnet Schnittstellen insbesondere zu diskursorientierten Arbeiten in den Politik- und Sozialwissenschaften. Der historisierende Zugriff »geht aber insofern über diese hinaus, als  – zumindest potentiell  – der üblicherweise knappe Zeitrahmen politikwissenschaftlicher Analysen (nämlich die Nachkriegszeit oder maximal das 20. Jahrhundert) überschritten wird und dadurch größere Zeiträume untersucht und Epochen verglichen werden können. Die Wandelbarkeit dessen, was als schutzbedürftig angesehen wird, und der Wandel von Strategien, die für diesen Schutz für zweckmäßig gehalten werden, wird in zeithistorischen und begriffsgeschichtlichen Analysen greifbar.«26 Eckart Conze wirbt für den Securitization-Ansatz, denn: »Versicherheitlichung wird damit als ein akteursgesteuerter kommunikativer Prozess gefasst und als solcher lässt er sich auch historisieren.«27 Zwar sei für ein historisches Verlaufsmodell der Forschungsstand noch zu disparat. Doch man könne jetzt schon fragen, ob die wachsenden gesellschaftlichen Debatten um Sicherheit und Unsicherheit nicht mit der Zunahme der medialen Informationsmöglichkeiten zusammenhingen. Conze bietet hier als Überlegung für die einschlägige Forschung eine weitere Schnittstelle zwischen individuellen Bedrohungs- und 25 Conze, E., Securitization. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz? In: GG 38 (2012), S. 453–467, hier: S. 457. 26 Daase, S. 396. 27 Conze, Securitization, S. 457.

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Sicherheitsgefühlen, staatlichem und gesellschaftlichen Handeln an: der Zugang zu Information – auch dies ein Thema, das sich bestens historisieren ließe. Er selbst hat eine Geschichte der Bundesrepublik unter dem Fokus Sicherheitsdebatten vorgelegt, die zumindest zeigt, dass in vielen politischen Entscheidungslagen das Thema Sicherheit eine große Rolle spielte. Auch andere Historikerinnen und Historiker nutzen zumindest implizit, wenn nicht explizit den Securitization-Ansatz bzw. einen diskurstheoretischen Zugang für historische Fallbeispiele. Zu nennen ist hier beispielsweise Beatrice de Graaf.28 Ausgangspunkt ihres Aufsatzes über den »Kampf gegen die Schwarze Internationale [H. i. O.]« und die Sicherheitsdebatten zwischen 1870 und 1910 ist ein Roman des britischen Autors Giles Keith Chesterton »The Man who was Thursday«, erschienen 1908. Der Roman schildert die – neudeutsch definiert – V-Mann-Tätigkeit eines britischen Staatsdieners in einer anarchistischen Terroristengruppe. Am Ende stellt sich heraus, dass auch die anderen Mitglieder der Terrorzelle Staatsschützer unterschiedlicher Staaten waren. Anders als in den heutigen Debatten um die V-Mann-Tätigkeit im Kontext des NSU-Skandals verschwindet im Roman Chestertons überdies die leitende Figur der Organisation im religiös überhöhten Nirwana zwischen Gut und Böse. Der Roman, der offenbar den Zeitgeist der Wende zum 20. Jahrhundert traf und breit rezipiert wurde, dient De Graaf als Grundlage für Überlegungen, warum die politisch motivierte Ermordung von ca. 160 Personen in Europa zeitgenössisch derart große Aufmerksamkeit erregte und das Sicherheitsdispositiv Verschwörung so wirkungsvoll staatlicherseits eingesetzt werden konnte.29 Zwar handelte es sich bei den Mordopfern in der Regel um politisch prominente Personen, doch die eigentliche Ursache für die allgemein herrschende Verschwörungsangst sieht die Autorin in der Rolle der Medien. Sie interpretierten Arbeiterunruhen, Streiks und kommunistische Konferenzen zusammen mit den politischen Morden als Teil einer weltweiten anarchistischen Verschwörung und sprachen ihr weitaus mehr Wirkungsmacht zu, als den tatsächlich vorhandenen anarchistischen Zirkeln gebührt habe. Die Medien nutzten das Sicherheitsdispositiv Verschwörung, um ihre Auflagen zu steigern. Anarchistische Zirkel bedienten die medialen Vorgaben zur Erhöhung der eigenen Bedeutsamkeit und den staatlichen Ordnungskräften verhalf die Debatte zur Legitimation ihrer polizeilichen Gegenmaßnahmen. Die Zuschreibung Verschwörung lieferte Deutungsangebote für soziale Missstände und die Verfolgung jedweder politischen Opposition; sie gab dem politischen Gegner ein Gesicht. Schließlich beförderte sie auch die Professionalisierung der 28 De Graaf, B., Der Kampf gegen die ›Schwarze Internationale‹. Konspiration als Sicherheitsdispositiv um 1870–1910, in: Zwierlein C. (Hg.), Sicherheit und Krise, Paderborn u. a. 2012, S. 41–62. 29 Vgl. Kapitel 6.

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Polizei und die Herausbildung von Organisationsformen transnationaler oder internationaler Terrorismusbekämpfung. De Graaf verortet die analysierten gesellschaftlichen Prozesse vor dem Hintergrund des massiven gesellschaftlichen Wandels der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Offenbar, so lässt sich aus De Graafs Aufsatz schlussfolgern, stellt Versicherheitlichung auch eine Strategie dar, nicht oder wenig bearbeitbare komplexe politische und gesellschaftliche Problemlagen in bewältigbare gesellschaftliche Aufgabenstellungen umzumünzen. In die gleiche Richtung gehen zeitgeschichtliche Forschungsarbeiten, die sich mit der Funktion des Sicherheitsdispositivs in der Hochphase des sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre in Deutschland beschäftigen. So hat beispielsweise Stephan Scheiper die These aufgestellt, dass die Modernisierung des westdeutschen Staates im Sinne einer Orientierung an westlichen Demokratiemodellen und der administrativen Planbarkeit von staatlichen und gesellschaftlichen Reformen in den 1960er und 1970er Jahren an ihre Grenzen gestoßen sei und zunehmend in die (mediale) Kritik geriet.30 »Die Terrorismusbekämpfung kanalisierte diese Kritik und ließ sie in öffentlichkeitswirksamer Weise in den Hintergrund treten.«31 Ausgangspunkt von Scheipers Überlegungen ist die Feststellung, dass die Bundesrepublik durch den sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre »niemals ernsthaft … gefährdet war. Dennoch sahen sich Regierung und Legislative gezwungen, die Exekutivgewalt in ihren Kompetenzen zu stärken und mit zusätzlichen Handlungsmöglichkeiten gegenüber den beschuldigten Verbrechern zu versehen.«32 Der Bereich der Inneren Sicherheit wurde »in materieller und persönlicher Hinsicht gigantisch ausgebaut« und die Innere Sicherheit »zur letzten Bastion staatlicher Allzuständigkeit und unumschränkter Handlungsfähigkeit«.33 Fazit: Staatliche Handlungsfähigkeit im Sinne zukunftsorientierter Fortschrittsplanung geriet in den 1970er Jahren in die Krise, aber die Effektivität staatlichen Handelns konnte in der Frage innerer Sicherheitspolitik ihre Relevanz belegen. Auch Markus Lammert nutzt den Securitization-Ansatz in seinem historischen Vergleich staatlicher Gegenmaßnahmen in Deutschland und Frankreich auf dem jeweiligen Höhepunkt der terroristischen Bedrohung 1977 bzw. 1986. Er fragt, »ob und in welchem Ausmaß die von den Terroristen ausgeübte politische Gewalt als existentielle Bedrohung für die

30 Vgl. hierzu die Kapitel 4 und 9. 31 Scheiper, St., Der Wandel staatlicher Herrschaft in den 1960er/70er Jahren, in: Weinhauer, K., J. Requate u. H.-G. Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik, Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 188–216, hier: S. 190. 32 Ebd., S. 189 f. 33 Ebd., S. 210.

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jeweilige Gesellschaft wahrgenommen wurde und welche Folgen dies für die staatliche Reaktion auf die terroristische Herausforderung hatte«.34 Für beide Länder kann er zeigen, dass die Gefährdung durch Terrorismus als existentielle Bedrohung für Staat und Gesellschaft interpretiert wurde. Das Bedrohungsszenario stieß in den verglichenen Ländern auf breite öffentliche Akzeptanz und führte zu einem Burgfrieden zwischen den politischen Lagern in der Frage der staatlichen Gegenmaßnahmen. Auf den Prozess der Versicherheitlichung folgte aber auch in beiden Ländern eine rasch einsetzende Desecuritization. Sie ermöglichte »die für demokratische verfasste Systeme zentrale Rückkehr in den Rahmen der parlamentarischen und öffentlichen Auseinandersetzung« und schließlich gar zur kritischen Hinterfragung des vorausgegangenen Versicherheitlichungsprozesses.35 Auch die historische Medienanalyse von Hanno Balz über den Terrorismus der 1970er Jahre lässt sich mit dem SecuritizationAnsatz verbinden. Der Autor hat diesbezüglich herausgearbeitet, wie sich Medien und staatliche Apparate in der zeitgenössischen Konstruktion von Unsicherheit und in der Erzeugung einer Moral Panic gegenseitig ergänzten. So versorgten BKA und Bundesanwaltschaft die Medien »mit einer immer größeren Anzahl an gezielten Spekulationen über das Bedrohungspotenzial durch die RAF« und die örtlichen Polizeibehörden beteiligten sich aktiv an einem medial vermittelten allumfassenden Bedrohungsszenario.36 Zwei Beispiele aus dem Jahr 1972 seien genannt: Ein zweifelhaftes und später als nicht echt bewertetes Bekennerschreiben der RAF mit Bombendrohungen und die entsprechende Berichterstattung in der »Bild-Zeitung« führten in Stuttgart zu Schulschließungen und einer massiven Polizeiaktion. Die Stadt schien in den Mittagsstunden des 2. Juni wie ausgestorben und der Spiegel kommentierte im Nachhinein: »Dies war keine Stadt in Angst. Eher eine Gemeinde in Erwartung.«37 So wusste nach der Verhaftung von Andreas Baader und Holger Meins die »Bild« zu berichten: »Die Frankfurter Polizei warnte die Bevölkerung davor, Massenversammlungen zu besuchen. Freibäder wurden geschlossen, Theaterversammlungen abgesagt«.38 Und Hanno Balz kommentiert: »Die

34 Lammert, M., Ein neues Analysemodell für die historische Terrorismusforschung? Securitization-Prozesse in Frankreich und Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren, in: Hürter, J. (Hg.), Terrorismusbekämpfung in Westeuropa. Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren, Berlin / München / Boston 2015, S. 201–215, hier: S. 205. 35 Ebd., S. 214. 36 Balz, H., Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, Frankfurt a. M. / New York 2008, S. 185. 37 Brügge, P., »s näschte Mal Kanonenschläg«, in: Der Spiegel 24, 5.6.1972, S. 67, zitiert nach Balz, ebd., S. 179. 38 Baader im Bomben-Lager überwältigt, in: Bild, 2.6.1972, S. 4, zitiert nach Balz, ebd., S. 186.

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Angst vor Verbrechen ist entscheidendes Element eines Diskurses der Ordnung und der Inneren Sicherheit [H. i. O.]. In Zeiten der Krise und Verunsicherung ist die Möglichkeit einer klaren Benennung von Täter und Opfer zusammen mit der Kontextualisierung von Verantwortlichen ein wesentliches Element beim staatlichen Streben nach der Durchsetzung von sozialer Ordnung.«39 Nicht nur die Historisierung des gesellschaftswissenschaftlichen Konzepts der Versicherheitlichung, auch die Anwendung des Human Security-Ansatzes wird geschichtswissenschaftlich erprobt. So hat Cornel Zwierlein 2010 mit Kollegen ein Heft von »Historical Social Research« vorgelegt, das historische Beispiele für Sicherheitsmaßnahmen und -debatten seit der Frühen Neuzeit beispielsweise in den Sektoren Verkehr, Technik, Nahrung und Wohlfahrt vereint. Politische Gewalt spielt hier wie bei anderen geschichtswissenschaftlichen Anwendungen des Human-Security-Konzepts jedoch eine marginale Rolle.40 Das mag damit zusammenhängen, dass »dieses Konzept dezidiert Teil eines politischen und wissenschaftlichen Fortschrittsnarrativs [ist], das unter kosmopolitischen Vorzeichen der Gewährleistung globaler Menschenrechte Vorrang vor staatlicher Souveränität einräumt«, wie Christopher Daase schreibt.41 Der Politologe regt an, mit Hilfe des Human Security-Ansatzes könne problematisiert werden, »was jeweils historisch als grundlegende menschliche Bedürfnisse angesehen wurde und wie sich die Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse gewandelt haben«.42 Eine solche Historisierung von Human Security ist zweifellos möglich. Aus Sicht der historischen Forschung über politische Gewalt ist allerdings festzustellen, dass das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und entsprechendem Schutz vor Gewalt eher eine anthropologische und damit relativ statische Größe darstellt als ein Bedürfnis, das dem historischen Wandel unterliegt. Zu untersuchen wäre folglich im Kontext historischer politischer Gewaltforschung mit Hilfe des Human Security-Ansatzes eher, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen der Ruf nach Schutz vor politischer Gewalt stärker oder schwächer artikuliert wurde oder wird. Auch eine Analyse der Auswirkungen von politischer Gewalt auf andere Geltungsbereiche der Human Security anhand historischer Fallbeispiele ist denkbar. Zu fragen wäre hier etwa: Wie wirkt sich die Angst vor politischer Gewalt auf räumliche und soziale Mobilitätschancen betroffener Bürger aus? Welche Folgen hat das Anwachsen bzw. Verschwinden der Angst vor politischer Gewalt auf die Akzeptanz oder Diskriminierung von Minderheiten oder von abweichendem Verhalten? Welche menschlichen Entwicklungspotenziale werden eingeschränkt, wenn gesell39 Balz, ebd., S. 186. 40 Vgl. Zwierlein, C., R. Graf u. M. Ressel (Hg.), The production of human security in premodern and contemporary history, Köln 2010. 41 Daase, S. 399. 42 Ebd.

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schaftlich der Sicherheit vor politischer Gewalt höchste Priorität eingeräumt wird? Die Beispielfragen zeigen, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Sicherheitsforschung der Geschichtswissenschaft zukünftig noch viele Impulse geben kann.

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3. Terrorismus als geschichtswissenschaftliches Forschungsfeld Terrorismus als spezifische Ausprägung politischer Gewalt hat lange in der Geschichtswissenschaft keinerlei Aufmerksamkeit erfahren. Dies mag umso mehr verwundern, als die einschlägige politikwissenschaftliche Forschung seit dem späten 20. Jahrhundert sichtlich expandierte. Erst im letzten Jahrzehnt hat sich auch die Zeitgeschichte vor allem dem Thema »Rote Armee Fraktion« (RAF) verstärkt gewidmet. Bezogen auf den aktuellen islamistischen oder rechtsextremen Terrorismus ist die Zurückhaltung der Geschichtswissenschaft nicht weiter verwunderlich. Historische Forschung benötigt Quellen. Bis jedoch das Aktenmaterial staatlicher Behörden, der Polizei, der Gerichte oder gar des Verfassungsschutzes, in den Archiven landet, vergehen mindestens Jahrzehnte, nicht selten ein halbes Jahrhundert. Und es kann weitere Jahrzehnte dauern, bis datenschutzrechtliche Bestimmungen nicht mehr greifen und die Akten entsprechend für eine Benutzung aufbereitet sind. Überdies sind hinsichtlich des Umgangs der einschlägigen Behörden mit staatlichen Sicherheitsgefährdungen durchaus Zweifel anzumelden, ob die relevanten Diskussionen und Entscheidungsfindungen überhaupt detailliert verschriftlicht ihren Eingang in die Archive gefunden haben bzw. finden. Auch das nichtstaatliche Quellenmaterial ist sperrig. Hauptquelle für Ter­ roranschläge ist neben dem kargen Behördenschriftgut in erster Linie die Medienberichterstattung. Zwar sind die zumeist nicht über bekannte Fakten hinausgehenden Meldungen der Nachrichtenagenturen für die Forschung benutzbar. Doch journalistische Hintergrundberichte, Interviews mit involvierten Akteuren und ähnliche Formate sind in der Regel auf ihre Seriosität oder ihren Wahrheitsgehalt kaum zu überprüfen. Wie sehr es der Geschichtsund auch der Politikwissenschaft letztlich an Quellen fehlt und dann trotz aller Vorbehalte auf die mediale Berichterstattung zurückgegriffen wird, lässt sich an der Geschichtsschreibung zum Thema RAF veranschaulichen. Lange Zeit galt »Der Baader-Meinhof-Komplex« von Stefan Aust, erstmals publiziert 1985 und seitdem vielfach neu aufgelegt, als Standardwerk zur Geschichte der RAF. Zwar hatte der spätere »Spiegel«-Herausgeber Kontakte in die Szene, doch der Journalist legte seine Quellen nicht offen. So kann ein zentrales Kriterium geschichtswissenschaftlicher Quellenkritik und Arbeit nicht greifen: die Überprüfbarkeit. Ferner sollte nicht vergessen werden, dass es sich bei gewaltbereiten politischen Oppositionsgruppierungen in der Regel um geheime Verbindungen handelte und handelt, die aus dem Untergrund heraus agieren. Es braucht daher nicht verwundern, dass auch seitens der terroristischen Akteure

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kein schriftliches Material etwa über Gruppenorganisation, Mitgliedschaft oder Entscheidungsfindungsprozesse den staatlichen Archiven zur Verfügung gestellt wurde. Terrororganisationen waren und sind bestrebt, die Medien zur Verbreitung ihrer politischen Programme zu nutzen. Ähnlich wie die publizierten Berichte und Autobiografien von Aussteigern sind terroristische Botschaften an die Medien als historische Quelle für das Selbstverständnis der Verfasser und ihre Medieninstrumentalisierung verwertbar. Als tiefer greifende Quelle etwa für die Binnengeschichte der entsprechenden Organisationen sollten sie jedoch mit Vorsicht behandelt werden. Definitionsprobleme Doch die zögerliche Annäherung der Historiker an das Thema Terrorismus lässt sich auch aus der Schwierigkeit heraus erklären, zu definieren, was eigentlich unter Terrorismus zu verstehen ist. Das Definitionsproblem belastet die Geschichtswissenschaft aus zweierlei Richtungen. Zum einen ist sie damit konfrontiert, dass weder auf den internationalen politischen Bühnen noch in der Politikwissenschaft Konsens über die Merkmale des Terrorismus herrscht. Zum anderen agierten im 19. und frühen 20. Jahrhundert gewaltbereite Untergrundgruppierungen, die sich nach heute aktuellen Definitionen terroristischer Methoden bedienten, ohne dass zeitgenössisch für ihre Aktivitäten die Bezeichnung Terrorismus in Anwendung kam. Überdies konnte bereits seit dem späten 19. Jahrhundert mit dem Kampfbegriff Terrorismus das Verhalten des politischen Gegners charakterisiert bzw. diffamiert werden, wenn dies opportun schien. Dabei spielte die Frage keine Rolle, ob überhaupt und wenn ja, welche Form politisch motivierter Gewalt angewendet worden war. Deshalb eignet sich die jeweils zeitgenössische Charakterisierung eines Ereignisses als Terrorismus nicht als Grundlage für eine historische Analyse. Die Geschichtswissenschaft ist mithin zwingend auf eine tragfähige Terrorismusdefinition angewiesen, wenn sie vergleichend einschlägige Organisationen, ihre Aktivitäten, deren Auswirkungen und Rezeption in langer Zeitlinie untersuchen will. Die internationale Politik ist bei der Lösung dieses Problems wenig hilfreich. Symptomatisch für die Schwierigkeiten, eine konsensfähige globale Terrorismusdefinition zu finden, ist das Scheitern des Völkerbundes 1937, zu einer grundsätzlich akzeptierten Terrorismusdefinition zu gelangen. Nach langen Vorverhandlungen hatte 1934 die Ermordung des jugoslawischen Königs Alexander I. dazu geführt, endlich eine entsprechende Vereinbarung zu erarbeiten. Doch die 1937 verabschiedete »Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism« fand keine Akzeptanz. Dies mag nicht zuletzt an der Definition von Terrorismus gelegen haben, die der Konvention zugrunde lag: »… acts of terrorism [H. i. O.] means criminal acts directed against a State and intended

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or calculated to create a state of terror in the minds of particular persons, or a group of persons or the general public.«1 Damit war als Kern von Terrorismus die gegen ein bestehendes Herrschaftssystem gerichtete Verbreitung von Schrecken festgemacht worden. Eine solche Definition konnte den zahlreichen nationalen Bewegungen, die sich in der Zwischenkriegszeit tummelten und die sich um Grenzrevisionen bemühten, kaum zufrieden stellen. Auch die zeitgenössischen Widerstandsbewegungen gegen autoritäre Regime und die mit ihnen sympathisierenden Staaten dürften die Kriminalisierung jeglicher (gewaltbereiter) Opposition nicht unterstützt haben. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass nur ein Staat die Konvention ratifizierte. Auch die UNO scheiterte seit den 1970er Jahren, angesichts des zeitgenössisch auffällig anwachsenden Terrorismus eine Konvention zu seiner Bekämpfung vorzulegen. Zahlreiche Versuche insbesondere seit den 1990er Jahren, einschlägige Vereinbarungen auf UNO -Ebene zu verabschieden, kamen in dem Bemühen um eine differenzierte Terrorismusdefinition nicht voran. Der vormalige Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, bezeichnete 2005, anlässlich des Jahrestages des Terroranschlags in Madrid, jede Aktion als Terrorismus, »if it is intended to cause death or serious bodily harm to civilians or non-combatants, with the purpose of intimidating  a population or compelling  a Government or an international organization to do or abstain from any act.«2 Er war mit dieser Definition nicht weit von der des Völkerbundes von 1937 entfernt und begriff pauschal die gewaltbereite Gefährdung von Zivilbevölkerung zum Zwecke des Unterdrucksetzens einer Regierung als Terrorismus. Mit einer solchen Definition wird offensichtlich gegenwärtig auf UNO -Ebene jede gewaltsame Bekämpfung eines bestehenden Staates bzw. einer überstaatlichen Organisation, die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zieht, als Terrorismus bezeichnet. Ist damit beispielsweise ein gewaltbereiter tibetischer Widerstand in China als Terrorismus zu interpretieren, oder in historischer Perspektive gefragt: Waren die Attentatsversuche auf Hitler terroristische Akte? Die Definitions­bemühungen des Völkerbundes bzw. der UNO zeigen, dass auf der internatio­nalen Politikbühne der Versuch scheitern muss, Terrorismus zu charakterisieren, ohne Aussagen über die (Il)legitimität von gewaltberei­ tem Widerstand gegen Unrechtssysteme zu tätigen. Terrorismuscharakterisie­ rungen als Grundlage für politisches Handeln, aber auch für die historische 1 Artikel I.2 der Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism (Genf, 16.11.1937.), League of Nations, Series of Publications: 1937.V.10. Official No.: C.546. M.383.1937.V.0. http://legal.un.org/avl/pdf/ls/RM /LoN_Convention_on_Terrorism.pdf. (6.11.2015). 2 Annan. K., A Global Strategy for Fighting Terrorism. Madrid, Spain, 10 March 2005, Secretary-General’s keynote address to the Closing Plenary of the International Summit on Democracy, Terrorism and Security, http://summit.clubmadrid.org/keynotes/aglobal-strategy-for-fighting-terrorism.html (26.10.2015).

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Analyse erfordern folglich in- oder explizit eine Reflexion über das Staats- und Rechtsverständnis der Definierenden. Dass die Definition von Terrorismus vom politischen Standort des Betrachters beeinflusst wird, war schon für die frühen Befürworter politischer Gewalt im 19. Jahrhundert offensichtlich. Dem Studenten Karl Ludwig Sand (1795–1820), der 1819 für die auf eine Verfassung beruhende deutsche Nation mit der Ermordung des konservativen Staatsrats und viel gespielten Theaterautors August von Kotzebue (1761–1819) ein Fanal setzen wollte, bezeugen seine Anhänger, er habe oft gesagt, »daß Überzeugung von der Sittlichkeit eines Mittels dieses Mittel gerecht mache.«3 Karl Heinzen (1809–1880), Revolutionär und früher Befürworter terroristischer Gewalt, schrieb 1849 im, laut Walter Laqueur, »wichtigste[n] ideologische[n] Text über den frühen Terrorismus«:4 »1) Es scheint, daß bei der geschichtlichen Beurtheilung eines Mordes hauptsächlich das Motiv maßgebend ist, daß das geschichtliche Urtheil nicht den Mord an sich verwirft. 2) Es scheint, daß die moralische Auffassung eines Mordes eng verknüpft ist, mit dem Interesse des Beurtheilers, indem den Alten Tugend nachgerühmt wird, was man unserer Zeit, unter der Herrschaft der Polizei, als Verbrechen anrechnen würde.«5 Doch ohne klare Terrorismusdefinition lässt sich weder eine nationale, noch eine transnationale bzw. internationale Terrorismusbekämpfung organisieren. Diese Überlegung spiegelt sich in den einschlägigen Beschlüssen der Europäischen Union. Im Kontext der zeitgenössischen Hochphase der linken und palästinensischen Anschläge wurde 1977 vom Europarat beschlossen, dass Flugzeugentführungen, Geiselnahmen und Attentate auf völkerrechtlich geschützte Personen »nicht als politische Straftat, als eine mit einer politischen Straftat zusammenhängende oder als eine auf politischen Beweggründen beruhende Straftat anzusehen« seien.6 Und die Bundesregierung erläuterte in ihrer Übernahme der Vereinbarung in deutsches Recht, solche Straftaten seien dann nicht als politische zu bewerten, »wenn die Tat kein angemessenes Mittel ist, das mit ihr erstrebte Ziel zu erreichen«.7 Als nicht angemessen galt, so

3 Anonym, Karl Ludwig Sand, dargestellt durch seine Tagebücher und Briefe von einigen seiner Freunde, Altenburg 1821, S. XI . 4 Laqueur, W. (Hg.), Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg 1978, S. 39. 5 Heinzen, K., Der Mord, in: Die Evolution, 26. Januar 1849, abgedruckt in Laqueur, Zeugnisse politischer Gewalt, S. 44–53, hier: S. 47. 6 Europäisches Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Januar 1977, in: BGBl 1978 II , S. 322–327, hier: S. 322. 7 Gesetz zu dem Europäischen Übereinkommen, vom 27. Januar 1977 zur Bekämpfung des Terrorismus vom 28. März 1978, in: BGBl 1978 II , S. 321.

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wurde weiter erläutert, jeglicher Mord und jegliche Körperverletzung bzw. die Gesundheitsgefährdung einer großen Zahl von Menschen oder »wenn die Tat grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln begangen worden ist«.8 Damit war der Interpretationsspielraum äußerst weit gesetzt. Die genannten Taten rechtfertigten dem Vertrag zufolge eine Auslieferung der Akteure. Das Vertragswerk spiegelt die definitorische Unsicherheit der europäischen Partner, denn ausdrücklich wurde auch festgehalten, dass der Vertrag die Auslieferung zwar rechtfertige, aber keine Auslieferungspflicht festlege. Seit 9/11 beschäftigte sich die Europäische Union wiederholt mit dem Thema Terrorismus und bemühte sich nun auch um eine tragfähige Terrorismus­ definition. Laut EU-Rahmenbeschluss 475/JI aus dem Jahr 2002 werden in der EU politisch motivierte Gewalttaten als Terrorismus eingestuft, »wenn sie mit dem Ziel begangen werden, – die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern oder – öffentliche Stellen oder eine internationale Organisation rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder – die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören.«9 2002 blieb der Rat der Europäischen Union in der Bestimmung des bekämpften politischen Systems über den Aspekt der Rechtsstaatlichkeit hinaus noch recht allgemein, doch 2008 präzisierte er: »Terrorismus stellt einen der schwersten Verstöße gegen die universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität, der Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten … [und] einen der schwersten Angriffe auf die Grundsätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit dar.«10 Hier wird zu Recht das besondere Bedrohungspotential terroristischer Akte gegen Demokratien betont und quasi durch die Hintertür ermöglicht, nicht jede gewaltbereite Bewegung, die in der Zivilbevölkerung Schrecken verbreitet und »die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes« bekämpft, als Terrorismus zu kennzeichnen bzw. zu brandmarken. Diese Klarstellung stellt zweifellos eine gute Grundlage dar, heutige Formen des Terrorismus in seinen Wirkungen auf Demokratien zu charakterisieren. Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft verschließt sich die aktuelle Definition der EU jedoch der Historisierung, denn im 19. Jahrhundert – und erst 8 Ebd. 9 EU -Rahmenbeschluss 2002/475/JI des Rates vom 13. Juni 2002, http://eur-lex.europa. eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri= CELEX :32002F0475:DE :HTML (18.1.2017). 10 Rahmenbeschluss 2008/919/JI des Rates vom 28. November 2008 zur Änderung des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI zur Terrorismusbekämpfung, http://eur-lex.europa. eu/legal-content/DE /TXT/HTML /?uri= CELEX :32008F0919&from=DE (18.1.2017).

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recht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – haben wir es in Europa in der Regel noch nicht mit bekämpften Demokratien zu tun. Eher waren politische Gewaltakte, die auch die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zogen, dann anzutreffen, wenn ein politisches System wie etwa das zaristische Russland sich den Demokratisierungsforderungen entgegenstellte, oder beispielsweise eine Besatzungsarmee bzw. Kolonialmacht bekämpft wurde. Die Frage, was Terrorismus eigentlich ist, beschäftigt nicht nur die politischen Akteure, sondern auch seit langem die Politikwissenschaft. Neuere Terrorismus-Studien werden nicht müde zu betonen, dass es unzählige Definitionen von Terrorismus gäbe, die letztlich nur einen vage umrissenen Kern von Gemeinsamkeiten aufwiesen. Dem Historiker drängt sich der Verdacht auf, dass gemeinhin immer die Ausprägungen von politischer Gewalt zur Gewinnung von Kriterien herangezogen werden, die in der jeweiligen aktuellen Tagespolitik als Terrorismus gekennzeichnet werden. Dies lässt sich beispielsweise am einflussreichsten deutschem Lexikon, am Brockhaus veranschaulichen. Für die CD -Ausgabe 2001 erarbeitete der Extremismusforscher Uwe Backes eine Definition. Demnach handelt es sich bei Terrorismus um »eine bestimmte Strategie zur Eroberung politischer Macht. Seine Anhänger verfügen über keine Herrschaftsmittel, sind politisch relativ einflussschwach, streiten dabei die Legitimität der bestehenden Ordnung radikal ab und streben als Minderheit den Umsturz an. Dafür setzen sie systematisch und massiv Gewalt gegen Sachen und / oder Personen ein. Die als Überraschungsschläge durchgeführten Gewalttaten sollen ein Gefühl existenzieller Verunsicherung bei den zu bekämpfenden sozialen Gruppen erzeugen sowie der Bewusstseinsformung, Mobilisierung und Revolutionierung unterdrückter [H. i. O.] und zu gewinnender gesellschaftlicher Schichten dienen.«11 Nach 9/11 präzisierte der Brockhaus ohne Nennung des Autors: Bei Terrorismus handle es sich um »politisch motivierte Gewaltanwendung v. a. durch revolutionäre oder extremistische Gruppen und Einzelpersonen, die aufgrund ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit gegenüber dem herrschenden Staatsapparat mit auf herausragende Vertreter des herrschenden Systems, zunehmend aber auch auf Zufallsopfer zielenden, meist grausamen direkten Aktionen die Hilflosigkeit des Regierungs- und Polizeiapparats gegen solche Aktionen bloßstellen, das Gewaltmonopol des Staates infrage stellen sowie Loyalität von den Herrschenden abziehen und Angst und Schrecken verbreiten wollen. … Als ausschlaggebend für den terroristischen Kampf erweist sich die Existenz eines Umfelds von Sympathisanten, die zu Hilfsdiensten wie Finanzierung, Gewährung von Unterschlupf, Wohnungsanmietung, Nachrichtenübermittlung oder zu logistischer

11 Backes, U., Terrorismus, CD Ausgabe des Brockhaus 2001, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG .

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Unterstützung bereit sind.«12 2015 heißt es in der aktuellen Online-Ausgabe: Bei Terrorismus handle es sich um eine »politisch motivierte Form der Gewaltkriminalität; die Androhung und Anwendung von Gewalt gegen Repräsentanten staatlicher Legislative oder Exekutive, gegen gesellschaftliche Funktionsträger und im politisch-religiösen Terrorismus hauptsächlich gegen Zufallsopfer, um im Rahmen längerfristiger Strategien politischen Einfluss zu gewinnen. Eine international anerkannte Definition des Terrorismus gibt es nicht, da der Begriff heute politisch negativ belegt und beliebig interpretierbar ist.«13 Ferner ist zu erfahren, der zeitgenössische Terrorismus werde in der Wissenschaft als »fortgesetzte und organisierte Gewaltausübung mit im weitesten Sinne politischer Zielsetzung« definiert, »um den Gegner durch die Verbreitung von Angst und Verunsicherung zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. … Beim Terrorismus handelt es sich um die letzte Eskalationsstufe von (politischem) Extremismus.« Als spezifische Charakteristika terroristischer Gewalt werden benannt: »1. Sie ist vorsätzlich und systematisch geplant. 2. Sie verfolgt eine psychologische Wirkung und richtet sich daher an eine breitere Öffentlichkeit als nur an die Opfer eines Anschlages. 3. Von den Terroristen werden Angriffe auf selbst gewählte symbolische Ziele (auch Personen) verübt. 4. Es werden durch die Terroristen soziale Normen gebrochen, wodurch die Aktionen als Gräueltaten wahrgenommen werden.« Offensichtlich schlagen sich im aktuellen Brockhaus-Eintrag die Erfahrungen mit dem Islamischen Staat (IS) nieder. Dabei handelt es sich bei IS um eine zu Gewaltexzessen neigende Bürgerkriegspartei, die streng genommen mit Terrorismusdefinitionen gar nicht mehr zu greifen ist, da sie staatliche Organisationsformen angenommen hat. Das Bemühen, alle aktuellen Ausprägungen des Terrorismus, definitorisch einzufangen, muss zwangsläufig in der politischen Wissenschaft zur beob­ achtbaren Vielfalt von Terrorismusdefinitionen führen. Die Unzufriedenheit über die Schwammigkeit des Begriffs mag dann auch erklären, dass sich neuerdings eine Tendenz abzeichnet, die Bezeichnung Terrorismus einfach aus der aktuellen Tagespolitik zu übernehmen und überhaupt nicht mehr zu definieren.14 Nicht selten gehen in der Folge viele Formen politischer Gewalt

12 N. N., Terrorismus, CD, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG , 2004. 13 N. N., Terrorismus, F. A. Brockhaus / w issenmedia in der inmediaONE GmbH, Gütersloh / München (27.10.2015). Hieraus auch die folgenden Zitate. 14 So beispielsweise Jarrod Hayes in einem kleinen Beitrag für das International Rela­ tions and Security Network (ISN) vom 23.1.2015 mit dem bezeichnenden Titel »Is the concept of terrorism still useful?« Er argumentiert »that there is nothing analytically distinctive about the tactics, perpetrators and psychology of ›terrorism‹. As a result, he thinks scholars and policymakers should stop using the term, particularly since it tends to undermine our efforts to tackle political violence.« https://www.files.ethz.ch/ isn/187968/ISN_187180_en.pdf (13.2.2017).

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gegen bestehende Regierungen und Herrschaftssysteme gleichrangig in die politikwissenschaftlichen Untersuchungen ein. Dabei haben bereits 1988 die auch historisch arbeitenden Konfliktforscher Alex P.  Schmid und Albert Jongman einen umfassenden Forschungsüberblick über Terrorismuserscheinungen und -definitionen vorgelegt, der eine tragfähige Analysegrundlage bietet: Terrorismus ist demnach »an anxietyinspiring method of repeated violent action, employed by (semi-)clandestine individual, group or state actors, for idiosyncratic, criminal or political reasons, whereby  – in contrast to assassination  – the direct targets of violence are not the main targets. The immediate human victims of violence  … serve as message generators. Threat- and violence-based communication processes between terrorist (organization), (imperiled) victims, and main targets are used to manipulate the main target (audience(s)), turning it into a target of terror, a target of demands, or a target of attention, depending on whether intimidation, coercion, or propaganda is primarily sought«.15 Diese für Historiker äußerst brauchbare Definition beinhaltet einige wesentliche Elemente, um Terrorismus von anderen Formen politischer Gewalt abzugrenzen. Sie macht neben den bekannten Elementen des Schrecken Verbreitens durch Gewalt klar, dass als Terroristen charakterisierte Akteure Gewalt gegen Adressaten einsetzen, die nicht die eigentlichen Ziele darstellen. Der Zweck der Gewaltaktionen stellt die Herstellung öffentlicher Wahrnehmung dar. Terroristische Gewaltakte erzwingen eine mediale Öffentlichkeit, in der für die eigenen Botschaften Aufmerksamkeit erregt, die bestehende Regierung delegitimiert und Anhängerschaft gewonnen werden kann. Die Definition von Alex P. Schmid und Albert Jongman ist viel zitiert worden – sie gilt noch immer als die wis­ senschaftliche Basis von Terrorismusanalysen  – ohne dass sie immer konsequent zur Eingrenzung der Untersuchungsobjekte angewendet wird. Deutsche politikwissenschaftliche Extremismus- und Terrorismusforscher wie Uwe Backes und Armin Pfahl-Traughber haben jüngst den Kanon der TerrorismusCharakteristika um den Aspekt der Angemessenheit des Gewalteinsatzes zu erweitern versucht, um so Freiheitsbewegungen von Terrororganisationen zu unterscheiden. Doch welche Instanz soll darüber entscheiden, wieviel Gewalt zur Erreichung der jeweiligen Ziele angemessen ist?16

15 Schmid, A. P. u. A. J. Jongman, Political terrorism. A new guide to actors, authors, concepts, data bases, theories and literature, Amsterdam u. a. 1988, S. 28. 16 Backes, U., Auf der Suche nach einer international konsensfähigen Terrorismusdefinition, in: Möllers, M. H. W. u. R. Chr. Van Ooyen (Hg.), Jahrbuch öffentliche Sicherheit 2002/2003, Frankfurt a. M. 2003, S. 153–165; Pfahl-Traughber, A., Von den »Aktivisten« über die »Kommunikation« bis zur »Wirkung«. Das AGIKOSUW-Schema zur Analyse terroristischer Bestrebungen, in: Hansen, St. u. J. Krause (Hg.), Jahrbuch Terrorismus 2013/2014, Opladen 2014, S. 401–423, hier: S. 402 f.

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Die Begriffsgeschichte des Phänomens Terrorismus Benötigt die Geschichtswissenschaft Erweiterungen der Definition von Schmid und Jongman für ihre historischen Terrorismusuntersuchungen? Mit der Begriffsgeschichte stellt die Geschichtswissenschaft ein Instrumentarium zur Verfügung, das zumindest dabei helfen kann, die historische Entwicklung des Terminus Terrorismus nachzuvollziehen und die Aufnahme spezifischer Charakteristika in die Terrorismusdefinition zu historisieren. 1990 legte der Historiker Rudolf Walther einen 120 Seiten umfassenden Beitrag über Terror und Terrorismus in den von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck konzipierten »Geschichtlichen Grundbegriffen« vor. Der Verfasser stellt zu Beginn des Artikels klar, »daß im Prinzip jede Gewaltanwendung Terror genannt werden kann. … Terror und Terrorismus verschlissen sich – vor allem im Laufe dieses Jahrhunderts – zu enthistorisierten, beliebig beziehbaren Feindbegriffen. In dieser Funktion sind sie Vehikel, mit denen Schuldzurechnungen und Entlastungsgewinne im ideologisch gesättigten Raum hin und her geschoben werden können. Beide Begriffe sind Synonyme für das negativ besetzte, sonst aber beliebige Andere und decken einen Bereich ab, der umgangssprachlich lärmende Umtriebe (›Terror machen‹) ebenso meint wie Mord [H. i. O.].«17 Der Autor verfolgt terreur oder Schrecken zurück bis ins Alte Testament. Von dort ausgehend, beschreibt er den engen Zusammenhang von Staat, Herrschaft, Terror und Folter über die politische Theorie der Antike und der Frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution, freilich ohne zu problematisieren, dass sich in den verschiedenen Zeitaltern hinter Staatlichkeit, Schrecken und Folter gänzlich Unterschiedliches verbergen konnte. In der Epoche der Aufklärung und der nachfolgenden Französischen Revolution wuchs offenbar erstmals die Anwendung von Terror inflationär an. Terror oder terreur wurden zu einem »Kristallisationspunkt der Angriffe« von Konservativen und aufklärerischer Kritik, um unter Robespierre gar zur Staatsdoktrin des Jakobinismus zu avancieren.18 Für das 19. und 20. Jahrhundert, die Epoche der entwickelten oder sich entwickelnden westlichen Nationalstaaten und sich entfaltenden Demokratien sowie der ihnen zugehörigen politischen Theorien, zeigt Walther auf, dass historische Terrorismusphänomene zeitgenössisch nicht immer als solche begriffen wurden und mit Terrorismus etikettierte Ereignisse dem heutigen Terrorismusverständnis nicht standhalten können.

17 Walther, R., Terror, Terrorismus, in: Brunner, O., W.  Conze u. R.  Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 323–443, hier: S. 323 f. 18 Ebd., S. 336.

Terrorismus als geschichtswissenschaftliches Forschungsfeld

Nebenbei und keineswegs prominent ausgeführt, kann der Autor in der Epoche der europäischen Revolutionen von 1848/1849 einen Wandel in der Anwendung des Terrorbegriffs ausmachen. Terror begann sich von der Schreckensherrschaft der Französischen Revolution zu lösen und mutierte im Kontext der Pluralisierung politischer Strömungen zur abwertenden Charakterisierung des jeweiligen politischen Feindes und seiner Kampfmethoden. In der Revolutionsepoche trat aber in der politischen Praxis neben den Terror als Instrument staatlicher Gewalt auch der Einsatz von Gewalt durch politische Gruppen und Parteien zum Zwecke der nationalen oder sozialen Befreiung. »Terror sollte die herrschende Staatsgewalt verunsichern, erpressen oder zu Reformen zwingen … Systematisch sind die beiden Epochen – vergröbernd – dadurch zu unterscheiden, daß in der zweiten die Wirkung solcher Gewaltausübung auf das Publikum, die Motive der Handelnden und die Fragen nach dem cui bono zur Hauptsache werden. Die Wirkung der Taten auf Dritte wird wichtiger als die Taten selbst. Die Publikumswirkung erscheint als unmittelbarer Zweck, während der eigentliche Zweck zur Tat in unbestimmter zeitlicher und sachlicher Relation steht. Die Tat dient als Vehikel geschichtsphilosophischer Erwartungen. Sie schert aus einer eindeutigen Ziel-Mittel-Relation aus. Was sie damit an Rationalität verliert, soll sie im diffus bleibenden Adressatenkreis an Achtung und Nimbus gewinnen, beim Publikum an Angst und Entsetzen hervorrufen.«19 Der Autor benennt mithin die revolutionsgetränkte Mitte des 19. Jahrhunderts als Startpunkt des modernen Terrorismus. Er selbst hat diese Perspektive in einem zusammenfassenden Artikel von 2006 nicht wieder aufgegriffen.20 Doch seine knappen Anmerkungen zum Begriffswandel um die Mitte des 19. Jahrhunderts scheinen wesentlich für die historische Einordnung des Terrorismus zu sein. Dafür, einen historischen Startpunkt für den Beginn des Terrorismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, kulminierend in der Jahrhundertmitte, anzunehmen, sprechen mehrere Gründe. Wenn (nichtstaatlicher) Terrorismus auf eine öffentliche Auseinandersetzung um die Legitimität der bestehenden Staats- oder Herrschaftsform, auf die Bekanntmachung des eigenen Programms und auf die Gewinnung von Sympathisanten zielt, dann ist aus historischer Perspektive Terrorismus als gewaltbereite Politikstrategie – zumindest in der westlichen Welt – in mehrerlei Hinsicht mit der bürgerlichen Gesellschaft verwoben, wie sie sich mit Aufklärung und Französischer Revolution auszubilden begann. Terrorismus setzt eine Regierungsform voraus, in der Herrschaft nicht mehr als gottgewollte, von den Untertanen kaum zu hinterfragende Instanz 19 Ebd., S. 385. 20 Vgl. Walther, R., Terror und Terrorismus. Eine begriffs- und sozialgeschichtliche Skizze, in: Kraushaar, W. (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 1, Hamburg 2006, S. 64–77.

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begriffen wird. Frühneuzeitliche Herrschaftsmodelle, etwa von Gott übertragene oder durch dynastisches Recht erworbene Herrschaft, bedurften der Legitimierung durch Mehrheiten noch nicht und so lässt sich als historischer Startpunkt für Terrorismus die Epoche der Französischen Revolution benennen. Erst im Zeitalter der sich entfaltenden Nationalstaaten haben wir es mit mehr oder weniger verfassten, rechtsstaatlichen Systemen zu tun, die politische Partizipationsangebote für zumindest einen Teil der Bevölkerung zur Verfügung stellten und die mehr und mehr auf die Akzeptanz und Loyalität der Mehrheit der Staatsbürger aufzubauen bemüht waren. Es ist zudem die Phase, in der der »säkularisierte Staat, der seine religiöse Rechtfertigung verloren hat«, erstmals mit »klar identifizierbaren Institutionen und Machtinstrumentarien des Gewaltmonopols (Polizei) ausgestattet ist«, die eine Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols trennscharf erkennbar machen.21 Terrorismus setzt des Weiteren einen öffentlichen, idealerweise allen zugänglichen Raum voraus, in dem zum Zweck der Sympathisantengewinnung über staatliche Legitimität, die Rechtmäßigkeit etwaiger Angriffe auf das System und die Berechtigung der terroristischen Akteure verhandelt werden kann. Wir finden diesen Ort in der medialen Öffentlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich seit der Aufklärung zu entfalten begann. Dessen waren sich bereits die frühen Akteure auf terroristischer und staatlicher Seite bewusst. So nutzte der Deutsche Bund das Attentat des Studenten Karl Ludwig Sand auf August von Kotzebue 1819 zur Einführung einer radikalen Pressezensur. So war in der »Freiheit«, dem Presseorgan des Anarchismus, in einem programmatischen Artikel 1887 zu lesen: »Nie und nirgends ist einem Anarchisten eingefallen, sich einzubilden, daß durch Vernichtung einzelner Personen vorläufig an und für sich Wesentliches im Sinne der sozialen Revolution gewonnen werden könnte. Es war stets angenommen worden, daß jede diesbezügliche That nur dann von praktischem Werthe sei, wenn der damit erzielte praktische Effect geeignet ist, Propaganda [H. i. O.] zu machen, d. h. bei den Volksmassen Beifall zu erwecken, sie für die Thäter und mithin für die Partei, welcher dieselben angehören, zu begeistern, ihren Mannesmuth zu erwecken, ihre Kühnheit anzufachen und überhaupt solche Eigenschaften in ihnen zur Entwicklung zu treiben, welche für die Sache der Revolution unentbehrlich sind und mithin dieselbe im hohen Grade fördern«.22 Man müsse sich zu Nutzen machen, »daß Aktionen der angedeuteten Art augenblicklich in der ganzen Welt zur Kenntniß kommen und damit allgemein zu Diskussionen inclusive Agitationen führen [H. i. O.]«.23 Es ist dann auch die Deutung des 21 Weinhauer, K., Terrorismus in der Bundesrepublik der 70er Jahre, in: AfS 44 (2004), S. 219–242, hier: S. 220, Fußnote 5. 22 Anonym (Most, J.), Die Propaganda der That, in: Freiheit 16.4.1887. 23 Ebd.

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Terrorismus als gewaltbereiter Kommunikationsprozess, als gewaltsamer Botschaftsträger, die in der historischen Terrorismusforschung besonders häufig Anwendung findet. »Wenngleich es nach wie vor schwierig ist, Terrorismus [H. i. O.] so zu definieren, dass der Begriff analytisch problemlos verwendbar ist, gewinnt es derzeit immer mehr an Plausibilität, Terrorismus als eine Form von Gewalt zu verstehen, die über die Zerstörungs- bzw. Tötungsabsicht hinaus mit der Gewalt Botschaften aussenden und eine möglichst große Aufmerksamkeit erreichen will,« so Klaus Weinhauer und Jörg Requate in einer Darstellung des Terrorismus in Europa seit dem 19. Jahrhundert.24 Diesen Überlegungen folgend widmet die historische Terrorismusforschung besondere Aufmerksamkeit den kommunikativen Anteilen derjenigen Variante politischer Gewalt, die im strengen Sinn nicht auf die Tötung der anvisierten Opfer zielt, sondern in erster Linie Angst und Schrecken verbreiten, eine Debatte über ihre politischen Ziele eröffnen und Anhänger gewinnen will. Auf der Basis des gewählten definitorischen Zugangs erscheinen öffentliche Debatten über Ausprägungen des Terrorismus als Diskurs, in dem Überlegungen zur Legitimität des Regierungssystems, zu Sicherheitsvorstellungen, Konzepten politischer Partizipation und Regularien des Umgangs mit politischen Minderheiten oder Außenseitern über das 19. und 20. Jahrhundert hinweg mit einander verschmelzen. Damit geraten Formen der Generierung, Tradierung und Kanonisierung von Wissen und Deutungsmustern im Kontext terroristischen Geschehens in langer Zeitlinie in den Blick. Diese und ähnliche Überlegungen zur historischen Verankerung des Terrorismus in den gesellschaftspolitischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts hat Carola Dietze 2016 in einer breit angelegten historischen Studie zur Formation des Terrorismus 1858–1866 in Westeuropa, Russland und den USA konkretisiert. Ihre Definition von Terrorismus mit Verweis auf den Soziologen Peter Waldmann benennt mit Unsicherheit und Unterstützungsbereitschaft erzeugender politischer Gewalt die in der Forschung konsensfähigen Kernelemente des Begriffs. Carola Dietze ergänzt jedoch erweiternd: »… dass Terrorismus der Machtausübung dient und dass … das Element der Provokation mit dem Ziel der delegitimierenden Entlarvung machtvoller Gegner ein wichtiger Bestandteil terroristischer Taktik ist.«25 Dabei sind, Dietze zufolge, Gesellschaften im politischen, ökonomischen und kulturellen Modernisierungsprozess besonders anfällig für Terrorismus. Und es ist »festzuhalten, dass diese Gewalt

24 Weinhauer, K. u. J.  Requate (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommu­ nikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2012, S. 11. 25 Dietze, C., Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA ­1858–1866, Hamburg 2016, S. 62.

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insbesondere dort die Form von Terrorismus annimmt, wo gesellschaftliche Eliten Missstände wahrnehmen, die sie für veränderbar halten, legale Verän­ derungsmöglichkeiten über politische Institutionen jedoch blockiert oder zumindest ihnen verschlossen sind und Formen kollektiver Gewalt keine Option darstellen.«26 In den jeweiligen mit Gewalt angereicherten Konfliktsituationen kommt den diesbezüglichen Mediendebatten besonderes Gewicht zu. Entwicklung Terroristischer Aktionsformen Es gibt etliche Versuche, terroristische Erscheinungsformen zu gliedern. Gängig sind Unterteilungen nach den Zielen der Akteure, nach den Ideolo­gien, die zur Rechtfertigung von Gewalt herangezogen werden oder ein chronologischer  Zugriff. Für die historische Analyse scheint eine Mischform der genannten Kriterien am hilfreichsten. Von den Überlegungen zum historischen Anfangspunkt und zu den kommunikativen Aspekten des Terrorismus ausgehend, lassen sich sechs Phasen der Entwicklung terroristischer Aktions­ formen in Europa, aber durchaus auch im außereuropäischen Kontext unterscheiden: 1. Eine Startphase von der Französischen Revolution bis zum Vormärzmit Frühformen symbolischer Gewalt. Zum traditionellen Attentat tritt nun ein politisch motivierter Mord, der die Legitimität des bestehenden Herrschaftssystems in Frage stellen will. Er dient als Botschaftsträger für das Programm der Mörder, soll Sympathisanten gewinnen und den Gegner durchaus auch in Angst versetzen. Zu nennen ist hier beispielsweise Charlotte Corday ­(1768–1793), die 1793 den Jakobiner Jean Paul Marat (1743–1793) erstach. Sie begriff ihr Attentat als Fanal, um den drohenden Bruderkampf zwischen Girondisten und Jakobinern zu verhindern. Auch der bereits erwähnte Anschlag des liberalen Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand auf den berühmten Konservativen August von Kotzebue kann als Vor- oder Frühform des Terrorismus begriffen werden. Der Burschenschaftler glaubte ein weit sichtbares Zeichen zu setzen, das zum kampfbereiten Aufstand des Liberalismus gegen die restaurativen Weichenstellungen des Wiener Kongresses führen sollte. Beide Protagonisten der neuen Gewaltform wurden im Übrigen von nachfolgenden terroristischen Akteuren als Vorbilder für das eigene Tun begriffen. 2. Eine anarchistische Phase des frühen Terrorismus von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg mit einem aktionistischen Gipfel in den drei Jahrzehnten vor 1914. Die theoretische Untermauerung dieser Form des Terrorismus lieferten die oppositionellen, gewaltbereiten Bewegungen im

26 Ebd., S. 72.

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zaristischen Russland. Doch auch in Frankreich, Spanien, der Schweiz oder Deutschland hatte die Propaganda der Tat zahlreiche Anhänger. Eine Reihe spektakulärer Attentate und Dynamitanschläge erregten öffentliche Aufmerksamkeit und zwangen die europäische Sozialdemokratie dazu, ihr Verhältnis zu politischer Gewalt zu klären. Die Anhänger einer Politik gewaltsamer Herausforderung der bestehenden Herrschaftssysteme waren organisatorisch und medial bestens vernetzt und suchten die medienwirksame spektakuläre Aktion. Die erfolgreiche Durchführung beispielsweise des geplanten Sprengstoffattentats anlässlich der Eröffnung des Niederwalddenkmals bei Rüdesheim (1883) hätte dem 19. Jahrhundert ein erstes 9/11 beschert, doch die Zündschnur des versteckten Dynamits war feucht geworden und versagte. 3. Eine Phase nationalistischer terroristischer Bewegungen. Sie setzte zeitgleich zur Hochphase des gewaltbereiten Anarchismus ein, mündete in der Zwischenkriegszeit im allgegenwärtigen zumeist rechten nationalistischen Terror ein und fand nach dem Zweiten Weltkrieg in entsprechenden nationalen terroristisch agierenden Befreiungsbewegungen ihre Fortsetzung. Hier sind vor allem gewaltbereite Gruppierungen zu nennen, die sich die zeitgenössische Utopie des idealen Nationalstaats – ein Volk, eine Sprache, eine Kultur, ein Territorium – zu Eigen machten. Sie forderten für die eigene ethnische Gruppe einen separaten Nationalstaat und suchten das von ihnen beanspruchte Territorium aus multinationalen oder -ethnischen staatlichen Gebilden herauszulösen. Spektakuläre Gewaltaktionen und Attentate und deren mediale Repräsentanz, nicht zuletzt die Kreierung von Märtyrern der Bewegung – angesichts wachsender staatlicher Gegengewalt – dienten vor allem der Gewinnung von Sympathisanten. Zu nennen sind hier viele Beispiele, so etwa die irische Nationalbewegung »Irish Republican Army« (IRA) oder die baskische »Euskadi Ta Askatasuna« (ETA). Das Attentat des Serben Gavrilo Princip, eines Mitglieds der serbisch-nationalistischen Bewegung Mlada Bosna, auf das österreichische Thronfolgerpaar löste 1914 die politische Krise aus, die in den ersten Weltkrieg einmündete. 4. Der rechte und nationalistische Terrorismus in der Zwischenkriegszeit. Er ist charakteristisch für eine Epoche, zu deren Kennzeichen ein durchgängig festzustellendes ungeklärtes Verhältnis zu individueller Gewalterfahrung und zu politischer Gewalt als Mittel der Politik gehört und in der sich Modernisierungsskepsis und Demokratiekritik miteinander verbanden. Zunehmend an Einfluss gewinnende faschistische Organisationen entstanden in Deutschland, Österreich, Italien oder Spanien. Hier sind jedoch nicht nur die großen faschistischen Bewegungen zu nennen. Auch kleine Geheimgruppierungen wie die »Organisation Consul« in Deutschland bedienten sich der Strategie des terroristischen Attentats, um die herrschenden wirtschaftlichen und politischen Eliten zu verunsichern. Die größeren Gruppierungen trugen erfolgreich den gewaltbereiten politischen Kampf auf die Straße mit dem Ziel, das

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herrschende politische System zu destabilisieren. Geheimorganisationen wie offen agierende faschistische Bewegungen konnten sich rasch breiter medialer Sympathie erfreuen. Unter der Definition von Terrorismus sollten jedoch nur die kleinen gewaltbereiten Geheimorganisationen gefasst werden. Deren Übergang zu gewaltsam agierenden politischen Bewegungen und Bürgerkriegsparteien lässt sich jedoch am Beispiel der Spielarten des Faschismus analysieren. 5. Eng verbunden mit dem unter 3. charakterisierten nationalistischen Terrorismus sind die Terrorakte antikolonialer Befreiungsbewegungen im Gefolge des Zweiten Weltkriegs. Zu nennen sind hier beispielsweise die Terroraktionen der israelischen »Irgun« gegen die britische Protektoratsmacht in Palästina in den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, die Gewaltaktionen in Algerien gegen die französische Kolonialmacht oder die Anschlagsserie auf Zypern gegen die britischen Kolonialherren in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Bei den antikolonialen gewaltbereiten Akteuren fällt die Unterscheidung zwischen Terroristen und Befreiungsbewegungen besonders schwer. Es scheint, als entscheide im populärwissenschaftlichen Sprachgebrauch allein der Erfolg und die Zugehörigkeit zur Täter- oder Opfergruppe darüber, ob von Terroristen oder Befreiungsbewegungen gesprochen wird. So feiert beispielsweise das Museum des Nationalen Kampfes in Nikosia, Zypern die Attentäter als Befreier, während sie gleichzeitig im British War Museum in London als Terroristen charakterisiert werden. Dafür, Befreiungs­ bewegungen, die sich terroristischer Gewalt bedienen, im Kontext von Terrorismusforschung zu behandeln, spricht, dass ihre Gewaltaktionen in erster Linie auf die mediale Öffentlichkeit der Kolonialmächte zielen. Mit jedem britischen Soldaten, der auf Zypern starb, sank in Großbritannien die öffentliche Akzeptanz der britischen Zypernpolitik. 6. Der linke Terrorismus der 1970er Jahre. In dieser Epoche treffen in vielen Ländern Europas, so in Frankreich, Italien oder der Bundesrepublik, aber auch in den USA oder Japan, der Generationenwechsel von der Kriegs- bzw. Nachkriegsgeneration zur Friedensgeneration, damit verbunden der Wandel der politischen Kultur und das Aufleben vielfältiger linker Reformbewegungen aufeinander. Im Schatten der öffentlich heftig geführten Diskussionen um die zukünftige kulturelle und politische Ausgestaltung der westlichen Demokratien und ihrer Aktionen auf der internationalen politischen Bühne, mitbefeuert durch die Aggressivität der Mediendebatten entwickeln sich gewaltbereite Gruppierungen, die sich selbst als Speerspitze zukünftiger linker Revolutionen interpretieren. Zu nennen sind hier beispielsweise die »Rote Armee Fraktion« in der Bundesrepublik, in Italien die »Roten Brigaden« oder in den USA die »Weathermen«, schließlich in Japan die »Japanische Rote Armee«. Trafen die anfangs als symbolische Gewalt vorrangig gegen Sachen interpretierten Aktionen durchaus auf Sympathie breiter Kreise der Generation der Akteure, so zwang die zunehmende Gewalt gegen Menschen die zeitgenössischen

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politischen Reformbewegungen, ihr Verhältnis zu politischer Gewalt in der Demokratie zu klären. In den letzten Jahrzehnten macht zunehmend der vordergründig religiös begründete islamistische Terrorismus von sich Reden. Doch bis sich die Geschichtswissenschaft diesem Thema vertieft annähern kann, bedarf es eines deutlichen zeitlichen Abstands.

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III.

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4. Moderne Staatlichkeit und politische Gewalt als oppositionelle Strategie Gewalt ist auch ein zentraler Begriff des modernen Staatsverständnisses. Begriffe wie Staatsgewalt oder öffentliche Gewalt, Gewaltenteilung und Amtsgewalt sind mit der historischen Entwicklung des Verfassungsstaats eng verbunden. Dabei wird unter Gewalt stets legale Gewalt in der Bedeutung von Verfügen dürfen verstanden. »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt«, lautet Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes. Impliziert und nicht eigens erwähnt ist in dieser Rechtsübertragung auch der Verzicht des Volkes auf Gewalttätigkeit. Die Staatsbürger haben das Recht auf Anwendung physischer Gewalt auf den Staat übertragen. Wenn es um die Sicherung von Recht und Ordnung und die körperliche Unversehrtheit der Einwohner geht, dürfen staatliche Organe, rechtstaatlich abgesichert, körperliche Gewalt ausüben. Aber, so der Jurist, Politologe und ehemalige Richter des Bundesverfassungsgerichts, Dieter Grimm, »die öffentliche Gewalt wird dem Staat … nicht als Selbstzweck eingeräumt, sondern im Interesse des Gemeinwohls. Daraus zieht sie ihre Legitimität, die wiederum bewirkt, dass die Staatsgewalt normalerweise nicht zu Gewaltmitteln greifen muss, um ihren Anordnungen Achtung zu verschaffen.«1 Staatliche Gewalt steht mithin unter Legitimationsdruck, denn: »Die öffentliche Gewalt ist geradezu dadurch charakterisiert, dass sie das Recht zur Gewaltanwendung allein für sich beansprucht, um ihre Primärfunktion, die Aufrechterhaltung äußerer und innerer Sicherheit, und im Weiteren ihren Gemeinwohlauftrag erfüllen zu können.«2 Mehrere Jahrhunderte hat 1 Grimm, D., Das staatliche Gewaltmonopol, in: Anders, F. u. I.  Gilcher-Holtey (Hg.), Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 18–38, hier: S. 19. 2 Ebd., S. 20.

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es gedauert, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Doch seine Anwendung steht in den heutigen Demokratien unter der wachsamen Aufmerksamkeit einer kritischen Öffentlichkeit. Schon die Verfasser der »Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte« der Französischen Revolution von 1789 hielten die Verankerung eines Widerstandsrechts des Bürgers gegen staatliches ungerechtfertigtes Handeln für nötig. Und so kennzeichnet die Entwicklung des modernen Verfassungsstaates in der Gewaltfrage das Spannungsverhältnis zwischen Sicherung des staatlichen Gewaltmonopols und den widerständigen Handlungsspielräumen einer Opposition, die ihrer Staatskritik (zu Weilen auch mit Gewalt) öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen will. Nicht zuletzt spiegeln sich in den diesbezüglichen Debatten die Wandlungsprozesse, denen das staatliche Herrschaftsverständnis in den letzten Jahrhunderten ausgesetzt war. Insbesondere mit ihrer diachronen Methode des historischen Längsschnitts kann die Geschichtswissenschaft zur Kontextualisierung und historischen Relativierung von gesellschaftlichen Debatten beitragen, die stets aufs Neue und nicht selten scheinbar geschichtslos geführt werden.3 Die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols Herrschaft und das Recht, Gewalt auszuüben, sind, historisch gesehen, auf das Engste miteinander verwoben. Vor der Entwicklung des europäischen frühneuzeitlichen Territorialstaats beanspruchten Herrschaftsverbände un­ terschiedlichster Reichweite das Privileg, ihr Recht notfalls mit Waffengewalt zu behaupten. Mangels des Fehlens einer allgemein akzeptierten zentralen Rechtsdurchsetzungsinstanz diente gelegentlich die Fehde dazu, einen Rechtsstreit auf legitime Weise mit Waffengewalt auszutragen. Doch bereits 1495 ist die Fehde im Deutschen Reich endgültig verboten worden. Die unübersichtliche Gemengelage personal und / oder an feudale Grundherrschaft gebundener Herrschafts- und Gewaltausübungsrechte begann sich mit der Entfaltung des frühneuzeitlichen Territorialstaats allmählich zu klären. Zunehmend beanspruchten nun die Landesherren im Interesse der inneren Friedenssicherung das Monopol, Gewalt ausüben zu dürfen. Parallel zu diesem Prozess entwickelte sich seit dem 18./19. Jahrhundert aus der frühneuzeitlichen für das Gemeinwohl zuständigen Policey die moderne Verwaltung und Polizei mit ihrem Auftrag, für öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Im modernen Verfassungsstaat wurde das herrschaftliche Gewaltmonopol entpersonalisiert und auf den Staat übertragen. »Die Schaffung dauerhaft be3 Vgl. hierzu die geschichtsdidaktischen Überlegungen beispielsweise bei Melichar, F. G. (Hg.), Längs denken: Förderung historischer Kompetenzen durch Längsschnitte, Neuwied 2006.

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friedeter Räume hängt mit der Organisierung des sozialen Zusammenlebens in der Form von Staaten zusammen«, schrieb Norbert Elias 1981.4 Man mag aus globalgeschichtlicher Perspektive anmerken, dass diese Sichtweise einem eurozentrischen Zugriff entspringt. Nichtsdestoweniger trifft die Beobachtung auf die europäische Staatenwelt und ihre hegemonialen historischen Beeinflussungsversuche der zweiten und dritten Welt zu. Elias bezeichnet die mit der Staatenbildung verbundene Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols als eine »zweischneidige Errungenschaft« mit »Janushaupt«. Denn das staatliche Gewaltmonopol kann einerseits als Machtquelle gegen Teile der Bevölkerung verwendet werden. Andererseits dient es dem inneren Frieden eines Landes, und es kennzeichnet die zivilisatorische Verwandlung des Staatsbürgers, dass er im Konfliktfall darauf verzichtet, gewaltsam zu agieren. Die aktuelle Forschung zum staatlichen Gewaltmonopol betont nicht nur seinen zivilisatorischen oder zivilisierenden Aspekt, den Elias im Blick hatte, sondern auch die enge Verbindung, die zwischen staatlichem Gewaltmonopol und der Entwicklung eines modernen Staates mit seinen ausdifferenzierten Aufgaben besteht. »Ohne erfolgreiche Implementation des staatlichen Gewaltmonopols (d. h. Beanspruchung und Durchsetzung) ist die evolutionäre Umstellung auf funktionelle Differenzierung nicht möglich, weil dieser Vorgang in eminenter Weise abhängig war bzw. noch immer ist von der Ausdifferenzierung des politischen Systems, dies wiederum ist nur möglich, wenn sich im Zentrum eines jeden einzelstaatlichen System[s] der Institutionenkomplex des modernen Staates etablieren kann, mit diesem jetzt auch das staatliche Gewaltmonopol.«5 Manche Forscher, so beispielsweise der Soziologe Trutz von Trotha, sehen im 21. Jahrhundert das staatliche Gewaltmonopol nach den Jahrhunderten seiner fortschreitenden Etablierung in der Krise. Mit Blick auf die derzeit geringe Leuchtkraft des westlichen Staatenmodells in Teilen Asiens und Afrikas scheint der Befund jedoch eher eine Folge zerfallender Staaten denn eine eigenständige Krise des staatlichen Gewaltmonopols zu markieren. Doch die Beobachtung verdeutlicht, wie sehr der Ausbau moderner Staatlichkeit und die Behauptung des staatlichen Gewaltmonopols mit einander verwoben waren und sind und wie sehr das Funktionieren eines Staates letztlich davon abhängt, dass seine Bürger dazu bereit sind, das exklusive Recht des Staates auf Gewalt zu akzeptieren. Gemeint ist mit der Übertragung des Gewaltmonopols an die Obrigkeit in erster Linie der Verzicht des Bürgers, sein Recht mit Gewalt behaupten zu wollen. Keinesfalls jedoch stellte und stellt das staatliche Gewaltmonopol einen 4 Elias, N., Zivilisation und Gewalt. Über das Staatsmonopol der körperlichen Gewalt und seine Durchbrechungen, in: Ders., Studien über die Deutschen, Frankfurt a. M. 1989, S. 223–270, hier: S. 227. 5 Wimmer, H., Gewalt und das Gewaltmonopol des Staates, Berlin 2009, S. 357.

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Freibrief für staatliche Organe im Verfassungsstaat und der Demokratie dar, nach Belieben Gewalt zur Durchsetzung öffentlicher Interessen einzusetzen. Mit der Stärkung fürstlicher und später staatlicher Gewalt ging daher stets die Debatte um die Einhegung herrschaftlicher Befugnisse und ordnungspolitischer Aufgaben einher. Nach den meisten frühneuzeitlichen Staatsvertragslehren galt die Übertragung des Gewaltausübungsrechts an den Staat nur dann als gerechtfertigt, wenn die Obrigkeit im Gegenzug die Sicherheit von Leben und Eigentum garantieren konnte. Diese Vorstellung ist bis heute wirkmächtig. Andererseits lässt sich historisch beobachten, dass selbst demokratisch legitimierte Exekutivorgane nicht immer davor zurückschreckten, mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols unerwünschte gesellschaftliche Protestformen zu unterdrücken oder gegebenenfalls zu kriminalisieren. Im öffentlichen Recht des modernen Verfassungsstaats wurde daher ergänzend festgelegt, dass staatliche Zwangsmaßnahmen nur auf der Grundlage bestehender Gesetze erfolgen dürfen. Sie müssen überdies verfassungskonform sein, die Grundrechte der Bürger und das Gebot der Verhältnismäßigkeit bzw. Angemessenheit beachten. Mit der Verwaltungs- und der Verfassungsgerichtsbarkeit stehen heute in vielen Demokratien dem Bürger überdies rechtliche Instanzen zur Verfügung, die er zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit staatlichen (gewaltsamen) Handelns beanspruchen kann. Dieter Grimm zufolge wird »mit diesen rechtlich eingeräumten Verteidigungsmöglichkeiten … das Recht, gewaltsam gegen den Staat vorzugehen, hinfällig und bleibt nur noch für den Fall, dass die rechtlichen Verteidigungsmittel ausfallen, in Reserve.«6 Grimm nimmt aus dieser Überlegung mit gutem Grund den Bereich des zivilen Ungehorsams heraus. »Der zivile Ungehorsam als minderer Ableger des Widerstandsrechts, der sich in begrenzten Regelverletzungen äußert, stellt das Gewaltmonopol nicht in Frage, sondern will nur bestimmte Anwendungen der Gewalt als illegitim brandmarken.«7 Doch in der historischen Konkretisierung stellt sich das Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Gewaltmonopol und legitimem zivilen Ungehorsam oder als illegitime Gewalt verurteiltem Handeln des widerständigen Bürgers nicht ganz so eindeutig auflösbar dar, wie von Dieter Grimm dargestellt. Zwar lässt sich in historischer Perspektive beobachten, dass gewaltsame Protestformen im sich allmählich konstituierenden Verfassungs- und Partizipationsstaat des 19. Jahrhunderts kontinuierlich zurückgingen. Subsistenzproteste und Nahrungsmittelkrawalle angesichts von Hungerkrisen und Teuerungswellen, auch die keinesfalls gewaltfreien Maschinenstürmereien durch Handwerker, die sich von der Industrialisierung bedroht sahen, wurden durch das politische Kampfmittel des legalisierten Streiks ersetzt. Doch die europäische Geschichte der Zwischenkriegszeit war durch eine erhebliche Zunahme von Gewalt im 6 Grimm, S. 26. 7 Ebd.

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Kontext politischer Protestformen geprägt. »Wie dünn die kulturelle Schicht der Zivilisation ist, hat der Erste Weltkrieg gezeigt, der die bürgerliche Gesellschaft im Verbund mit dem nachfolgenden Aufstieg nicht-staatlicher Gewaltorganisationen derart brutalisieren konnte, daß sich eine ›unbewußte Militarisierung des politischen Habitus‹ (Weisbrod) der Zivilgesellschaft entwickelte und sich die politische Gewalt bis hin zum Selbstzweck steigern konnte.«8 Die nationalsozialistische Diktatur führte schließlich »Massenmobilisierung, Öffentlichkeit und Terrorismus zusammen.«9 Aber auch stabile Demokratien sind vor phasenweise zunehmender politischer Gewalt trotz aller verfassungsgemäßen Partizipationsangebote und allen rechtstaatlichen Agierens der politischen Eliten nicht gefeit und es scheint, als seien Demokratien nach 1945 von Terrorakten häufiger bedroht gewesen als undemokratische politische Systeme. Sollte eine historische Analyse diesen Befund verifizieren, so wäre Sven Reichardt zufolge zu fragen, »worin der Grund für diese Anfälligkeit der Zivilgesellschaften liegt. Etwa darin, daß die verbürgten Grund- und Freiheitsrechte dem politischen Gewaltprotest einen guten Nährboden liefern? Ermöglichen und erleichtern demokratische Institutionen durch den Schutz der Privatsphäre, die Garantie der individuellen Freizügigkeit und das Assoziationsrecht die Chance zur Gewaltanwendung? Bildet die Meinungs- und Pressefreiheit einen guten Resonanzboden für Terrorattacken? Es ist auch zu untersuchen, ob es nicht gerade die Friedfertigkeit der demokratischen und gewaltsensiblen Zivilgesellschaften ist, die dem kommunikativen Appell des Terroranschlages seine mediale Aufmerksamkeit verschafft.«10 Widerstand und ziviler Ungehorsam Das komplexe Zusammenspiel von staatlichem Gewaltmonopol und politisch motivierten Kampfmaßnahmen außerhalb der parlamentarischen Spielregeln erfordert eine präzise Bestimmung der erwünschten oder doch zumindest geduldeten Infragestellung des staatlichen Anspruchs auf exklusive Gewaltanwendung. Zu klären ist vor allem der Bedeutungsgehalt der Begriffe Widerstand und ziviler Ungehorsam. Wie schon Gewalt und politische Gewalt werden auch die beiden Konkretisierungen von Opposition höchst unterschiedlich und abhängig von historischen Kontexten interpretiert. Widerstand stellt ein eigenständiges Forschungsgebiet der Geschichtswissenschaft dar und berührt das Themenfeld politische Gewalt allenfalls am Rande. Doch für die defini8 Reichardt, S., Zivilgesellschaft und Gewalt, in: Kocka, J. u. a. (Hg.), Neues über Zivilge­ sellschaft. Aus historisch-sozialwissenschaftlichem Blickwinkel, WZB Discussion Paper, No. P 01-801, 2010, S. 45–80, hier: S. 65, http://hdl.handle.net/10419/49759 (4.5.2016). 9 Ebd., S. 66. 10 Ebd., S. 67.

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torische Abgrenzung von zivilem Ungehorsam ist eine knappe Beschäftigung mit dem Widerstandsbegriff notwendig. Der Politikwissenschaftler Karl Graf Ballestrem definiert im »Handbuch politische Gewalt« Widerstand »als eine Form der politischen Opposition, die sich illegaler Methoden bedient, … d. h. wer Widerstand ausübt, nimmt es bewusst auf sich, gegen die geltenden Gesetze eines Staates zu verstoßen. … Wer aktiv Widerstand leistet, ist demnach bereit, Gewalt gegen Personen anzuwenden (bis hin zum Mord an Amtsträgern), wer passiv Widerstand leistet, übt … gewaltlosen Ungehorsam gegen Gesetze und Anordnungen [H. i. O.].«11 Unter welchen Bedingungen der (gewaltsame) Widerstand gegen geltende Gesetze zu rechtfertigen sei, wurde bereits in der Antike diskutiert. Seit dem 16./17. Jahrhundert gewann zunehmend die Idee Anhänger, dass sich das Individuum oder ein Kollektiv gegen Herrschaftsmissbrauch aktiv zur Wehr setzen darf. Dabei hängt die Legitimation von Widerstand grundsätzlich davon ab, ob von Rechtsprinzipien ausgegangen wird, die den Gesetzen eines Landes übergeordnet werden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich – gerade in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus – zunehmend die Vorstellung durch, dass den international verankerten Menschenrechten gegenüber staatlichem Recht der Vorrang gebührt. Doch der Begriff Widerstand war und bleibt ambivalent. Historisch gesehen, wurde er in unterschiedlichsten Situationen angewandt und in Abhängigkeit des Herrschaftsstils des bekämpften Systems konnten und können vermeintlich gleiche Widerstandsaktionen zu gänzlich unterschiedlichen staatlichen Gegenreaktionen führen. Im Kulturkampf beispielsweise, in dem Bismarck den Stellenwert des politischen Katholizismus im jungen protestantisch geprägten Kaiserreich auslotete, verweigerten große Teile der katholischen Geistlichkeit explizit den Gehorsam gegenüber den Kulturkampfgesetzen. Papst Pius IX . ließ aus dem fernen Rom die deutschen Gläubigen wissen, dass sie die neuen weltlichen Gesetze nicht befolgen müssten. Ihr Widerstand brachte zahlreichen katholischen Geistlichen Gefängnisstrafen ein. Auch in demokratischen politischen Systemen konnte es durchaus zu Widerstands-Aktionen kommen. So leisteten beispielsweise Angehörige der Arbeiterbewegung, vorzugsweise der KPD und der USPD, 1920 im Ruhrgebiet erbitterten (auch gewaltsamen) Widerstand gegen den Kapp-Putsch. Otto Wels (1873–1939), Parteivorsitzender der SPD, rief zum Generalstreik auf: »Streikt! Schneidet dieser reaktionären Clique die Luft ab. Kämpft mit jedem Mittel um die Erhaltung der Republik. Laßt allen Zwist beiseite.«12 Die anfängliche Zustimmung der Regierung zu den Kampfmaßnahmen der Arbeiterbewegung 11 Ballestrem, K., Widerstand, ziviler Ungehorsam, Opposition. Eine Typologie, in: Enzmann, B. (Hg.), Handbuch Politische Gewalt, Wiesbaden 2013, S. 67–74, hier: S. 69. 12 Wels, zitiert nach Glotz, P. Am Widerstand scheiden sich die Geister, in: Ders. (Hg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt a. M. 1983, S. 7–16, hier: S. 13.

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verwandelte sich jedoch nach der Niederlage der Putschisten in ihr Gegenteil, als die »Rote Ruhrarmee« sich ihrerseits als politischen Machtfaktor in der jungen Republik zu etablieren versuchte. Schließlich rief die Regierung die Reichstruppen zu Hilfe, auf deren Loyalität sie wenige Wochen zuvor im Kapp-Putsch nicht hatte bauen können. Widerstand ist, wie Ian Kershaw 1985 ausführte, »Produkt und Reflexion des Herrschaftssystems selbst; die Art der Herrschaft bestimmt die Art des Widerstands; und je umfassender der Herrschaftsanspruch, desto mehr [H. i. O.], nicht weniger Widerstand ist die Folge.«13 Insbesondere die Variationen des Widerstands gegen das nationalsozialistische Unrechtssystem sind in Deutschland intensiv und differenziert erforscht worden. Wie schwer es der Forschung fällt, den positiv konnotierten Widerstand gegen die Diktatur mit zumindest implizit negativ bewerteten gewaltsamen Widerstandsformen zusammenzubringen, lässt sich daran ermessen, dass die breite NS -Widerstandsforschung sich relativ wenig mit der Frage des gewaltsamen Widerstands gegen das Nazi-Regime befasst. Zu den Berührungsängsten eines Großteils der deutschen Forschung mit Gewalt im Widerstand passt, wie lange es in der jungen Bundesrepublik dauerte, bis beispielsweise die Attentäter des 20. Juli den Geruch des Vaterlandsverrats verloren. Auch die geschichtswissenschaftlichen und medialen Debatten um die Bewertung des Hitler-Attentäters Georg Elser (1903–1945) sind hier anzuführen. Dessen Anschlag verletzte 1939 eine Reihe Restaurantbesucher, nicht jedoch sein eigentliches Ziel: Hitler und die Führungselite des Regimes. Es dauerte bis in die 1990er Jahre, bis Elsers Attentat endgültig in den Kanon des deutschen Widerstandes aufgenommen wurde. Doch Autoren wie der Politologe Lothar Fritze kritisieren, dass Elser die Verletzung Unbeteiligter in Kauf genommen habe. Ist gewaltsamer Widerstand gegen ein Unrechtssystem nur dann gerechtfertigt, wenn er ausschließlich die Haupttäter trifft? Ähnlich vielschichtig wie die Definition und Bewertung von Widerstand ist der Bedeutungsgehalt von zivilem Ungehorsam. Wird diese Form politischer Aktion kritisch gesehen und als Gewaltform interpretiert, dann gilt sie als »einseitige Aufkündigung des Rechtsfriedens« als »Schreckbild einer Erosion des Gewaltmonopols und einer zunehmenden Unregierbarkeit«.14 Nach Meinung des Moralphilosophen John Rawls handelt es sich bei zivilem Ungehorsam um eine politisch gesetzwidrige Handlung, die zwar gewaltlos ist, aber nichtsdestoweniger eine Änderung der Regierungspolitik mit außerparlamentarischen Formen herbeiführen will. Karl Graf Ballestrems Definition im »Handbuch 13 Kershaw, I., »Widerstand ohne Volk?« Dissens und Widerstand im Dritten Reich, in: Schmädeke, J. u. P. Steinbach (Hg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, München 1985, S. 779–798, hier: S. 781. 14 Celikates, R., Ziviler Ungehorsam – zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt, in: Martinsen, F. u. O.  Flügel-Martinsen (Hg.), Gewaltbefragungen: Beiträge zur Theorie von Politik und Gewalt, Bielefeld 2014, S. 211–225, hier: S. 211.

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politische Gewalt« zufolge ist »Der zivile Ungehorsam [H. i. O.] … eine neuere Form des passiven Widerstandes, mit der  – unter den Bedingungen einer demokratischen Öffentlichkeit  – der Versuch unternommen wird, die Meinung der Mehrheit bzw. der Mehrheit der Regierenden zu einer bestimmten Frage umzustimmen.«15 Es geht also um gewaltlosen Widerstand. So neu, wie Ballestrem schreibt, ist ziviler Ungehorsam allerdings nicht. Die Erkämpfung des Streikrechts der Arbeiterbewegung über das lange 19. Jahrhundert und seine Begrenzung auf wirtschaftliche Ziele über das kurze 20. Jahrhundert hinweg, bezeugen, dass gewaltfreier Widerstand nicht immer als gewaltlos interpretiert und diesem keineswegs immer gewaltfrei begegnet wurde. Im Kontext der 68er-Bewegung, vor allem aber der Friedens- und der AntiAKW-Bewegung der 1970er und 1980er Jahre entwickelte sich ziviler Ungehorsam in der Bundesrepublik Deutschland zur breiten außerparlamentarischen Kampfmethode. Jürgen Habermas (geb. 1929) benannte 1985 eine Reihe von Kriterien, die diese politische Kampfform erfüllen muss. Ziviler Ungehorsam ist »ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrundeliegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im ganzen zu affizieren [sprich zu beeinflussen, d. Vf.]; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protestes [H. i. O.].«16 Ziviler Ungehorsam setzt mithin die grundlegende Anerkennung des bestehenden politischen Systems und seiner Rechtsform voraus und er kann nur in einem Rechtsstaat zum Tragen kommen. Für Habermas erweist sich die Flexibilität des demokratischen Rechtsstaats im Umgang mit dieser Protestform als Testfall für seine Legitimität. »Wenn die Repräsentativverfassung vor Herausforderungen versagt, die die Interessen aller berühren, muß das Volk in Gestalt seiner Bürger, auch einzelner Bürger, in die originären Rechte des Souveräns eintreten dürfen. Der demokratische Rechtsstaat ist in letzter Instanz auf diesen Hüter der Legitimität angewiesen.«17 Die Habermas’sche Definition betont wie viele andere die notwendige Gewaltfreiheit des zivilen Ungehorsams. Die physische und psychische Integrität des Gegners müsse gewahrt bleiben. Aber Habermas betont auch: »Gewaltfreiheit schließt  … Momente der Nötigung nicht in jedem Falle aus, sie ist mitvereinbar.«18 Aber 15 Ballestrem, S. 69. 16 Habermas, J., Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: Glotz, P. (Hg.), Ziviler Ungehorsam,, S. 29–52, hier: S. 35. 17 Ebd., S. 41. 18 Ebd., S. 35.

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sind physischer Druck und Nötigung nicht auch Formen von Gewalt? Genau an dieser Frage entzündeten sich in der politischen Arena Westdeutschlands der 1970er/1980er Jahre und nachfolgend vor den Gerichten, heftige Debatten. Überdies hält beispielsweise Robin Celikates das Postulat der Gewaltfreiheit für eine zu idealistische Vorannahme. Ziviler Ungehorsam stellt nach Meinung des Politologen und Philosophen eine demokratische Protestvariante dar, die sich gegen Erstarrungstendenzen staatlicher Institutionen wendet. Celikates zufolge kann aber ziviler Ungehorsam als symbolische Protestform nur wirksam werden, wenn sie »mit (potentiell gewaltförmigen) Momenten der realen Konfrontation verknüpft ist – eine Verknüpfung, die das Verhältnis zur Frage der Gewalt verkompliziert«.19 In diese Richtung deuten auch die einschlägigen Urteile deutscher Gerichte. Sie zeugen von den Schwierigkeiten, präzise zu definieren, ab wann gewaltloser Protest dann doch als gewaltsame Nötigung interpretiert, wie der Übergang zwischen gewaltfreien und gewaltsamen Protestformen definiert und wie viel ziviler Ungehorsam als kompatibel mit Demokratie gedeutet werden. Einige Fallbeispiele sollen diese Probleme komplex veranschaulichen. Ist gewaltloser Widerstand Gewalt? Die kleine Gemeinde Wyhl am Kaiserstuhl steht symbolisch für den zivilen Ungehorsam gegen den Bau von Atomkraftwerken (AKW), der sich in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik erhob. 1975 besetzten Bauern aus den Nachbarorten und Sympathisanten aus der Universitätsstadt Freiburg den von der Landesregierung Baden-Württemberg mit Einverständnis der Gemeinde Wyhl geplanten Standort eines neuen AKWs. Kurzfristig wurde der Bauplatz von der Polizei geräumt, um danach erneut von den Kernkraftgegnern besetzt zu werden. Zeitgleich begann eine juristische Auseinandersetzung um das Bauvorhaben, die sich vor allem mit Sicherheitsfragen des geplanten Kraftwerks beschäftigte. Das Freiburger Verwaltungsgericht verhängte einen vorläufigen Baustopp. Er wurde vom Verwaltungsgerichtshof in Mannheim wieder aufgehoben. Das Angebot der Landesregierung, bis zur endgültigen juristischen Klärung auf weitere Bauarbeiten zu verzichten, führte Ende 1975 zur Beendigung der inzwischen neunmonatigen Bauplatzbesetzung. 1977 untersagte das Verwaltungsgericht in Freiburg erneut den Bau, ein Urteil, das 1982 vom Mannheimer Verwaltungsgerichtshof wieder aufgehoben werden sollte. Als sich erneute bürgerschaftliche Proteste formierten, verzichtete die Landesregierung 1983 endgültig auf die Wiederaufnahme der Bauarbeiten.

19 Celikates, S. 220.

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Nicht das juristische Gezerre um die Bauerlaubnis und die Verrechtlichung von Atomkraftsicherheitsfragen, sondern der Erfolg des zivilen Ungehorsams in Wyhl machte die kleine badische Gemeinde weit über die Region bekannt und die regionalen Protestformen wirkten stilbildend für die deutsche AntiAKW-Bewegung: »Massenaufmärsche, Tumulte und Pfeifkonzerte bei Erörterungsterminen, Bauplatzbesetzungen, gewalttätiger Widerstand gegen die Polizei, Errichtung von Barrikaden und Straßensperren in einer Weise, die zuvor unvorstellbar gewesen war. Auf dem Baugelände für das geplante Kernkraftwerk am Oberrhein bei Wyhl war bei entschlossenem Widerstand der Massen und der Bindung der Staatsgewalt an den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel die rechtsstaatliche Ordnung monatelang nicht durchsetzbar gewesen«, so die Bewertung des ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Paul Laufs.20 Der Autor verortet die Geschehnisse in den »wilden 70er Jahren«, in denen oppositionelle Bürgerinitiativen, gewaltsame Proteste und Terrorismus beständig von sich Reden machten. Umso erstaunlicher mag es anmuten, dass die damalige baden-württembergische Landesregierung auf eine strafrechtliche Ahndung der Geschehnisse verzichtete. Vermuten lässt sich, dass die kritische Haltung gegenüber der Kernkraft zeitgenössisch zu verbreitet war, um ein hartes Durchgreifen der Staatsgewalt zu legitimieren. Selbst die regionalen CDU-Abgeordneten sympathisierten teilweise mit der Protestbewegung, und die Haltung der Gerichte war nicht kalkulierbar. Zweifellos überschritten die Aktionen der Bürgerinitiativen die bis dato gesellschaftlich akzeptierten Protestformen. Trotz dieses Tatbestands bemühte sich die Landesregierung darum, die Bauplatzbesetzung auf friedlichem Wege zu beenden. Am 31. Januar 1976 kam es zu einer bis dahin zumindest in Baden-Württemberg unbekannten Rechtskonstruktion. Die CDU-Landesregierung und die Bürgerinitiativen unterzeichneten die sogenannte Offenburger Erklärung. Die Landesregierung versprach nicht nur einen Bauaufschub bis zum November des Jahres und der weiteren Klärung von Sicherheitsfragen. Sie garantierte überdies den Bauplatzbesetzern die Einstellung aller Strafverfahren und die Rücknahme aller Schadensersatzanträge. Im Gegenzug räumten die Bürgerinitiativen das Baugelände und verpflichteten sich zur Gewaltlosigkeit. Dass letztlich eine deeskalierende staatliche Politik, wenn auch um den Preis des Verzichts auf das umstrittene Ziel, erfolgreich der politischen Gewalt und der Kriminalisierung von Bürgerprotesten entgegenwirken konnte, war damit unter Beweis gestellt. Die Auseinandersetzungen um andere AKW-Standorte wie beispielweise das Kernkraftwerk Brokdorf zeigen, wie rasch sich in den 20 Laufs, P., Reaktorsicherheit für Leistungskernkraftwerke. Die Entwicklung im politischen und technischen Umfeld der Bundesrepublik Deutschland, Berlin / Heidelberg 2013, S. 94.

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1970er Jahren im Falle des obrigkeitlichen Agierens als starker Staat eine Gewaltspirale entwickeln konnte. Die anlässlich des geplanten AKWs Wyhl bewiesene Flexibilität der Politik, aber auch der Justiz war wenige Jahre später, anlässlich der Bürgerproteste gegen die geplante Stationierung von Pershing-II-Raketen als Folge des NatoDoppelbeschlusses von 1979 nicht erkennbar. Die Friedensbewegung setzte zu Beginn der 1980er Jahre mit wachsender Intensität auf zivilen Ungehorsam gegen die geplante Raketenstationierung und sie konnte auf einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung bauen. »Gegenwärtig«, schrieb der SPD -Politiker und Kommunikations-Wissenschaftler Peter Glotz 1983, »sind zwar 83 Prozent unserer Bürger für eine Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis; aber eine knappe Mehrheit (50,3 Prozent) lehnt – gegen die Politik dieses Bündnisses – die Stationierung neuer Raketen bedingungslos ab – ›egal, was der Osten tut‹. 75 Prozent der Menschen wollen, daß die Verhandlungen in Genf weitergehen sollen, wenn es bis zum Herbst zu keiner Einigung gekommen ist. Trotzdem meinen 52 Prozent der Deutschen, daß noch in diesem Jahr neue Raketen aufgestellt werden.«21 Den »Krefelder-Appell« an die Bundesregierung, ihre Zustimmung zur Raketenstationierung zurückzuziehen, haben zwischen 1980 und 1983 über vier Millionen Deutsche unterschrieben. Bei Großkundgebungen wurden in der heißen Kampfphase bis zu einer halben Million Menschen gezählt. Die Ordnungsbehörden sicherten in den protestreichen frühen 1980er Jahren pflichtschuldig verfassungsrechtlich legitimierte öffentliche Fastenaktionen, Mahnwachen, Menschenketten, Kundgebungen und Großdemonstrationen – von den politischen Entscheidern wurden sie geflissentlich ignoriert oder die Pazifisten als Steigbügelhalter sowjetischer Interessen gebrandmarkt. Schärfer fiel die Reaktion der Regierungsparteien und der Justiz auf Protestformen aus, deren Legalität zur Disposition stand. So ließ Roman Herzog (1934–2017), damaliger CDU-Innenminister in Baden-Württemberg, später Bundesverfassungsrichter und Bundespräsident, beispielsweise 1982 eine kleine Blockade der Kommandozentrale der US -Streitkräfte (EUCOM) in Stuttgart räumen. Die Protestierenden hatten jede volle Stunde für fünf Minuten eine Hälfte der Zufahrtsstraße symbolisch blockiert. Für Herzog erfüllte die Aktion eindeutig den Tatbestand der Nötigung nach § 240 Strafgesetzbuch. Dort ist geregelt: »(1) Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.«22 21 Glotz, Am Widerstand, S. 7. 22 Strafgesetzbuch. https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__240.html (23.1.2017).

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Zahlreiche ähnliche Protestformen, vor allem aber die dreitägige »Mutlanger Prominentenblockade« Anfang September 1983 vor den dortigen RaketenDepots, erregten öffentliche Aufmerksamkeit. Die Gruppe »Friedens-Manifest« hatte in Kooperation mit einer beachtlichen Zahl bekannter Persönlichkeiten die Blockade organisiert und erhoffte sich medienwirksame Bilder von Polizisten, die Prominente wie den Nobelpreisträger Heinrich Böll, den Kabarettisten Dieter Hildebrand, den Filmemacher Volker Schlöndorff oder den Theologen Helmut Gollwitzer vom Tor der Raketenbasis wegtrugen. Doch Politik und Ordnungsbehörden verzichteten auf die Räumung. Offensichtlich scheute man die mediale Wirkung eines solchen Einsatzes. In den folgenden Jahren sollten die Mutlanger Blockaden beispielsweise in Form von Seniorenblockaden, Blockaden einzelner Berufsgruppen und Manöverblockaden immer wieder aufleben und genauso regelmäßig von den Ordnungsbehörden geräumt werden. Größtenteils blieben die Proteste in Deutschland friedlich. Aber es gab auch Aktionsformen, die mit Sachbeschädigung einhergingen. Neben der öffentlichen Debatte, die durch den Bürgerprotest angeheizt wurde, stellten die Gerichte einen zentralen Ort der Auseinandersetzung um die Legitimität des praktizierten zivilem Ungehorsam dar. Bei Sachbeschädigung war die Rechtslage eindeutig. Anders sah es im Falle von Blockaden aus, deren nötigender Charakter umstritten war. Ein gerichtlicher Präzedenzfall lag mit dem sogenannten Laepple-Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) von 1969 vor. Damals hatte der BGH als Berufungsinstanz geurteilt, dass die Blockade der Kölner Straßenbahn im Rahmen von Preisprotesten als Nötigung bzw. »psychischer Zwang«, mithin als Gewalt zu interpretieren gewesen sei. Die Gerichte erster Instanz entschieden in den 1980er Jahren in der Frage der friedensbewegten Blockaden unterschiedlich und bestätigten oder wiesen die Verwerflichkeit der Aktionen zurück. Das für Mutlangen zuständige Amtsgericht in Schwäbisch Gmünd schlug sich auf die Seite derer, die Blockaden als Gewaltform interpretierten. In einer Prozesslawine in den Jahren 1984 und 1985, die bis 1995 allmählich auslief, verurteilte es in rund 2.000 Strafprozessen ca. 3.000 in Mutlangen Verhaftete zumeist zu zwanzig Tagessätzen. »Für die Angeklagten und Verurteilten, aber auch für viele Beobachter war klar, dass in Schwäbisch Gmünd in Sachen Sitzblockade noch politische Urteile im Sinne eines konservativen Verständnisses von Staatserhaltung gesprochen wurden, als an anderen deutschen Gerichten schon längst Freisprüche erfolgten«, so der Historiker Reinhold Weber in einem Überblick über die Mutlanger Blockaden.23 Im Instanzenweg und über Verfassungsbeschwerden landete die Blockadenfrage schließlich auch beim Bundesverfassungsgericht (BVerG). Wie 23 Weber, R., Mutlangen – Mit zivilem Ungehorsam gegen Atomraketen, in: Ders. (Hg.), Aufbruch, Protest und Provokation. Die bewegten 70er und 80er Jahre in Baden-Württemberg, Darmstadt 2013, S. 141–164, hier: S. 156.

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umstritten die Bewertung dieser Form zivilen Ungehorsams in den 1980er Jahren war, lässt sich daran ermessen, dass eine erste Entscheidung des BVerGs 1986 mit vier gegen vier Stimmen gefällt wurde.24 Das Gericht verwies darauf, dass die Beurteilung der Blockaden als Nötigung vor dem Hintergrund der richterlichen Ausweitung des Gewaltbegriffs zu verstehen sei. Anfangs hätten die Gerichte »bevorzugt auf die Entfaltung körperlicher Kraft durch den Täter abgestellt, später mehr auf eine Einwirkung auf den Körper des Opfers und schließlich allgemein auf das Merkmal der Zwangseinwirkung.« Vor diesem Hintergrund sei es nicht falsch, Blockaden als Gewaltform auszulegen, so die Meinung von vier Richtern der achtköpfigen Kammer. Angesichts der Pattsituation stellten die Richter die im Nötigungsparagraphen angesprochene Verwerflichkeit der Nötigung ins Zentrum ihrer weiteren Überlegungen. Es sei bei einer grundsätzlichen Interpretation von Blockaden als Gewaltform eine konkrete Einzelfallprüfung angezeigt, die die spezifische Verwerflichkeit der beanstandeten Blockade feststellen müsse. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verwarf damit zwar die pauschale Einordung von politisch motivierten Blockaden in den Strafbestand der Nötigung. Letztlich schuf es aber keine Rechtssicherheit, sondern ließ die jeweils zuständigen Richter alleine mit der Frage, was an friedensbewegtem zivilem Ungehorsam denn verwerflich sei. Mehr Klarheit brachte schließlich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1995.25 Nun entschieden fünf gegen drei Richter, dass die in der Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte erfolgte allzu weite Auslegung des Gewaltbegriffs keinerlei Rechtsicherheit darüber mehr böte, welche Protestformen als strafbare Nötigung ausgelegt würden. Es sei deshalb Aufgabe der Strafgerichte, mit einem klar definierten, eingegrenzten Gewaltbegriff für neuerliche Rechtssicherheit zu sorgen. Die höchstrichterliche Entscheidung schuf die Grundlage, zahlreiche Verfahren gegen Protestformen zivilen Ungehorsams einzustellen. Sie zeigt auch, dass die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber zivilem Ungehorsam in den 1980er/1990er Jahren allmählich zunahm. Von grundlegender Rechtssicherheit in der Frage, welche Formen zivilen Gehorsams als Gewalt eingestuft werden, ist indes auch heute noch nicht die Rede. Derzeit gilt beispielsweise vor Gericht eine Sitzblockade, die einen Autokonvoi blockiert nach wie vor als Nötigung, zwar nicht gegenüber dem ersten, wohl aber gegenüber den nachfolgenden Wagen.

24 BVerG Urteil, 11.11.1986, Sitzblockade I, 1 BvR 713/83, 921, 1190/84 u. 333, 248, 306, 497/85, https://de.wikisource.org/wiki/Bundesverfassungsgericht_%E2 %80 %93_Sitz blockade_I (26.5.2016). 25 BVerG Urteil, 10.11.1995, Sitzblockade III , 1 BvR 718/89, 1 BvR 719/89, 1 BvR 722/89, 1 BvR 723/89. https://de.wikisource.org/wiki/Bundesverfassungsgericht_%E2 %80 %93_ Sitzblockade_III (26.5.2016).

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Gewaltmonopol und Herrschaftsverständnis im Wandel Am Beispiel der Auseinandersetzungen um das staatliche Gewaltmonopol kann im historischen Längsschnitt auch untersucht werden, welche staatlichen Maßnahmen gegen die Opposition gesellschaftlich akzeptiert wurden und wie sich die Vorstellungen über Verhältnismäßigkeit bei der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols im Laufe der Moderne veränderten. »Die Fragen … stellten sich auch schon in der Vergangenheit: Inwieweit und mit welchen Mitteln dürfen bestehende Gewalten die Unterwerfung und den Gehorsam derer erzwingen, die ihren moralischen Anspruch und ihre Zukunftsperspektive nicht teilen?«, so Dirk Blasius in seinem Überblick über die Geschichte der politischen Kriminalität.26 Der historische Längsschnitt zeigt, dass in der Restaurationsphase nach Französischer Revolution und Napoleonischer Ära die obrigkeitlichen Vorstellungen über korrektes gewaltfreies politisches Agieren des Staatsbürgers bzw. angemessene staatliche Reaktion auf entsprechendes Fehlverhalten und die diesbezüglichen Konzepte breiter gesellschaftlicher (oppositioneller) Kreise weit auseinanderklafften. Schon die Forderung nach Ausbau der Verfassung im demokratischen Sinn konnte einem Oppositionellen im Vormärz eine Gefängnisstrafe einbringen. Nach den revolutionären Zeiten um die Jahrhundertmitte und der anschließenden Restaurationsphase, die das oppositionelle Leben mehr oder weniger zum Erliegen brachte, blieben die Sachverhalte im autoritär geprägten Obrigkeitsstaat der von Bismarck geprägten Ära eindeutig. Es gab jetzt zwar ein allgemeines Wahlrecht zum Reichstag, der immerhin Gesetzgebungsbefugnisse besaß. Aber nach Meinung der konservativen politischen Elite war klar: Wer die Regierung kritisierte, dem war mit äußerstem Misstrauen zu begegnen. So standen bereits die in der Frage politischer Gewalt durchaus braven Abgeordneten des Zentrums im Kulturkampf als potentielle Landesverräter unter verschärfter Beobachtung. »Das Wesen der Sozialdemokratie besteht darin, daß sie die staatliche Ordnung negiert«, erläuterte Bismarck schließlich in der Auseinandersetzung mit den oppositionellen Sozialisten. Die Partei hatte sich zwar dem Sozialismus als Ziel verschrieben, wolle den Weg dahin jedoch parlamentarisch und friedlich beschreiten. Für Bismarck ergab sich jedoch aus dieser Zielsetzung »für den Staat das Recht und die Pflicht, seinerseits die Sozialdemokratie nicht nur in ihren Wirkungen, sondern in ihrer Berechtigung zur Existenz im Staate zu bekämpfen. Dieselbe befindet sich mit dem Staat im Kriegszustande, und der Staat ist befugt und seinen gegen die Sozialdemokratie schutzbedürftigen Angehörigen gegenüber verpflichtet, sie nach Kriegsrecht 26 Blasius, D., Geschichte der politischen Kriminalität in Deutschland 1800–1900, Frankfurt a. M. 1983, S. 11.

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zu behandeln. So wenig der in das Land einfallende Feind auf den Schutz des einheimischen Rechtes Anspruch hat, ebensowenig kann vom Staate gefordert werden, daß er die auf seinen Umsturz gerichteten Bestrebungen der Sozial­ demokraten unter den Schutz seiner Gesetze nehme.«27 Erst die demokratischen Verfassungen Deutschlands räumten mit einem Staatsverständnis auf, das eine parlamentarische demokratische Fundamentalopposition nah an der politischen Kriminalität verortete. Für kurze Zeit ließ die erste deutsche Demokratie der (gewaltbereiten) parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition (zu) viel Raum. Die zweite deutsche Demokratie indes reagierte auf die 68er-Bewegung und den nachfolgenden Terrorismus mit dem Methodenreservoir des starken Staates oder genauer: mit der Stärkung der Exekutive gegenüber den anderen Gewalten – Parlament und Justiz. Die Forschung hat für Deutschland gezeigt, dass in den 1960er Jahren neben der staatlicherseits zu gewährleistenden äußeren Sicherheit die innere Sicherheit zum Regierungsprogramm avancierte. Damit waren einerseits sozialstaatliche Maßnahmen gemeint, andererseits aber auch der Ausbau des staatlichen Instrumentariums für den Fall innenpolitischer Krisen. Die im Mai 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze erweiterten das staatliche Eingriffsinstrumentarium im Falle des Notstands beträchtlich. Insbesondere in der Konfrontation mit dem Erscheinen des sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre wurde auch die Polizei modernisiert und ausgebaut. So verdreifachten sich nahezu beispielsweise die Planstellen des Bundeskriminalamts zwischen 1970 und 1980. Die Einführung des parteiübergreifenden sogenannten Kleinen und Großen Krisenstabs anlässlich der Schleyer-Entführung 1977 diente einerseits der Effizienz staatlichen Handelns, entzog aber auch die ergriffenen Maßnahmen der parlamentarischen Kontrolle und der öffentlichen Debatte. Letzterer wird in der Demokratie eine wesentliche Kontrollfunktion zugeschrieben. »Orientiert an einem autoritären Staatsverständnis«, schrieb der Historiker Klaus Weinhauer, »dominierten militärisch ausgerichtete Denkmodelle.«28 Einigkeit herrschte über alle Mitglieder der Krisenstäbe hinweg, dass das staatliche Gewaltmonopol in jedem Fall gesichert werden müsse. Wie der damalige Justizminister Hans-Jochen Vogel rückblickend kommentierte, seien jedoch einige Gesetzesbestimmungen »überinterpretiert und nicht immer sorgfältig genug beachtet worden«.29 Das Primat der Exekutive angesichts der terroristischen Herausforderung lässt sich auch für andere westliche Demokratien in den 1970er Jahren belegen. Dass die Bedrohung durch politische Gewalt und insbesondere Terrorismus demokratisch legitimierte Herrschaft besonders 27 Bismarck 1889, zitiert nach Blasius, S. 17. 28 Weinhauer, K., Terrorismus in der Bundesrepublik der 70er Jahre, in: AfS 44 (2004), S. 219–242, hier: S. 237. 29 Vogel zitiert nach Weinhauer ebd.

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herausfordert, hat auch der Historiker und Politologe Bernd Greiner herausgearbeitet. Seine 2015 angestellten Überlegungen zum fundamentalen Gegensatz von Zeit beanspruchenden demokratischen Spielregeln – »Demokratie lebt von der Entschleunigung der Beschlussfassung« – und dem Gebot des schnellen Handelns in der politischen Krise münden in letzter Konsequenz in eine Demokratieskepsis.30 Sie bezieht auch die Rolle der öffentlichen Debatte und ihrer Akteure mit ein. Zwar, so der Autor, treten in gesellschaftlichen Krisen häufig Akteure auf, die von der Politik Transparenz und mehr politische Partizipation einfordern. Aber: »Eine zumindest ebenbürtige, oft überlegene Konkurrenz findet sich jedoch im diffusen Raum selbstmobilisierender Affekte und Ressentiments. Die Akklamation der starken Hand und die Denunziation des schwachen Parlaments markieren den Kern ihres plebiszitären Populismus. Dass davon nicht zuletzt Eliten profitieren, die im Namen der Effizienz für eine Suspendierung demokratischer Regeln und Verfahren werben, unterstreicht den ambivalenten Form- und Strukturwandel von Öffentlichkeit in Zeiten der Krise. [H. i. O.]«31

30 Greiner, B., Demokratien in Stresstest. Zum historischen Ort staatlicher Terrorismusbekämpfung, in: Hürter, J. (Hg.), Terrorismusbekämpfung in Westeuropa, Berlin 2015, S. 81–89, hier: S. 82. 31 Ebd., S. 89.

5. Frühformen des Terrorismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Politische Attentate als Botschaftsträger Politisch motivierte Attentate kennt die Geschichtswissenschaft schon in der Antike. Berühmt ist der Mordanschlag von Marcus Iunius Brutus Caepio (85–42 v. Chr.) auf den römischen Diktator Gaius Julius Cäsar (100–44 v. Chr.), dem er Machtmissbrauch vorwarf. Eine Reihe weiterer Attentate in Antike und Mittelalter sind wohl eher den Machtkämpfen unterschiedlicher Eliten oder Streitigkeiten in den Herrscherfamilien zuzurechnen. In der Frühen Neuzeit konnten auch religionspolitische Auseinandersetzungen in Mordversuche an regierenden Herrschern und an ihren Familienmitgliedern einmünden. Doch in der Epoche der Französischen Revolution entstand zum ersten Mal eine historische Situation in Europa, in der sich Herrschaft nicht vor Gott, sondern vor der aufgeklärten Vernunft, vor Menschen- und Bürgerrechten und in der öffentlichen Debatte legitimieren musste. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass zeitgleich mit der Entwicklung der terreur als Herrschaftsform in Frankreich 1793 auch ein Attentat stattfand, das eben diese Herrschaftstheorie in Frage stellte. Es handelt sich um den Mordanschlag der Girondistin Charlotte Corday (1768–1793) auf einen der Protagonisten des neuen Regierungsprogramms, auf den Jakobiner Jean Paul Marat (1743–1793). Die Attentäterin wollte ihren Anschlag als Aufforderung an die Franzosen verstanden wissen, den drohenden Bruderkrieg zwischen den revolutionären Parteien zu verhindern. Der Mord erregte die europäische Öffentlichkeit ungemein. Bald schon lieferten sich Befürworter und Gegner mediale Schlachten. Charlotte Corday entwickelte sich zur gefeierten Ikone des gemäßigten Reform- und Revolutionslagers. Ähnlich erging es 16 Jahre später einem deutschen Attentäter, dem Studenten Karl Ludwig Sand (1795–1820). Er wollte mit der Ermordung des viel gespielten konservativen Theaterautors und russischen Konsuls August von Kotzebue (1761–1819) auf die Folgen der restaurativen Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress (1814/1815) aufmerksam machen und eine neue Revolution befeuern. Charlotte Corday und Karl Ludwig Sand – Die Geschichte zweier Attentate Die Ereignisgeschichte der beiden Anschläge wurde zeitgenössisch intensiv erforscht und medial breit überliefert. Die Quellen zum Leben von Marie Anne Charlotte Corday d’Armont vor ihrem Mordanschlag sind jedoch rar.

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Die Tochter eines nichterbenden verarmten normannischen Adeligen lebte, soweit historisch belegbar, das typische Leben einer unverheirateten kleinen Adeligen des Ancien Regime. Als 13-Jährige hatte sie einen Freiplatz in der Abtei Sainte-Trinité in Caen einnehmen können. Hier erhielt sie die zeittypische religiös geprägte Erziehung höherer Töchter, kam aber auch mit den Ideen der Aufklärung in Kontakt. Als die Abtei im Zuge der Französischen Revolution 1791 aufgelöst wurde, übernahm sie die Rolle einer Gesellschafterin bei einer Verwandten. Politisch verstand sie sich als Sympathisantin der gemäßigten Revolutionspartei der Girondisten. Caen, Zentrum der Opposition gegen das jakobinische Paris und die Bergpartei um Robespierre, Danton und Marat war auch der Rückzugsort der Girondisten nach ihrem Machtverlust in der französischen Hauptstadt. Die Provinzstadt bot im Juni 1793 der politisch interessierten jungen Adeligen die Chance zur Teilhabe an den heftigen Debatten um die Zukunft der Revolution. Als Anhängerin des neuen französischen bürgerlichen Verfassungsstaats misstraute sie der Radikalisierung der Revolution. Die Sammlung oppositioneller freiwilliger Truppen in Caen und ihre Angst vor dem drohenden Bürgerkrieg zwischen den revolutionären Parteien führten schließlich zu ihrem Entschluss, JeanPaul Marat als Repräsentanten des terroristischen Flügels der Revolution zu töten. Charlotte Corday plante ihr Vorhaben im Detail. Am 9.7.1793 reist sie mit Empfehlungsschreiben ausgestattet nach Paris, erkämpfte sich nach einem vergeblichen Versuch am 13. Juli – am Vortag der Wiederkehr des Sturms auf die Bastille – unter einem Vorwand den Zugang zu Marats Wohnung und verwundete ihn mit einem Messerstich tödlich. Ihrer sofortigen Festnahme, gegen die sie keinen Widerstand leistete, folgten eine rasch anberaumte Gerichtsverhandlung und die Enthauptung Cordays nur vier Tage nach ihrem Attentat. In ihrem beim Anschlag mitgeführten Bekennerschreiben, der »Adresse an die Franzosen«, schrieb sie: »Wie lange noch, o unglückliche Franzosen, wollt ihr in Wirrwarr und Spaltungen fortfahren! … Machenschaften und Parteiungen brechen überall aus; der Berg triumphiert durch Verbrechen und Gewalttat. … Franzosen! Ihr kennt Eure Feinde, erhebt euch! Vorwärts marsch! Der Berg werde vernichtet, auf daß es nur noch Brüder und Freunde gebe!«1 Sechzehn Jahre später scheint sich Karl Ludwig Sand Cordays Attentat zum Vorbild genommen zu haben. Anders als im Falle der Französin sind die Lebensumstände des deutschen Nachahmers breit erforscht. Karl Ludwig Sand, 1795 im fränkischen Wunsiedel als Sohn eines Staatsbeamten geboren, erfuhr in seiner Heimat drastisch die Folgen der Französischen Revolution. 1791 hatte der letzte Markgraf von Ansbach-Bayreuth in einem Geheimvertrag seine Territorien gegen eine lebenslange Rente an Preußen verkauft. Als nun1 Corday, C., Adresse an die Franzosen, in: Landauer, G., Briefe aus der Französischen Revolution, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1919, S. 181–184, hier: S. 181, 182 und 183.

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mehr preußisches Gebiet 1806 französisch besetzt, 1810 von Bayern erworben, spiegelte die Bayreuther Provinzstadt im Kleinen die politischen Wirrnisse der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege. Dass sich Sand 1815 als junger Student der protestantischen Theologie in Tübingen angesichts der Rückkehr Napoleons von Elba freiwillig zum Militärdienst meldete, spricht für sein patriotisches Engagement. Sein Corps kam jedoch nicht mehr zum Einsatz. Sand teilte die große Enttäuschung der politisierten Studentenschaft über die Weichenstellungen des Wiener Kongresses 1814/1815. Er wechselte 1817 an die Universität Jena, deren liberaler Geist von sich Reden machte. Hier schrieb sich der Student im September 1817 in die neu gegründete Burschenschaft ein und gehörte bald schon zum studentischen Ausschuss für das im gleichen Jahr stattfindende Wartburgfest. Mit einem kruden Text gemischt religiösen und politischen Inhalts machte er bei den zeitgenössisch als Aufruhr gewerteten Feierlichkeiten auf sich aufmerksam. Ob er zu diesem Zeitpunkt schon einen politischen Mord plante, ist nicht zweifelsfrei geklärt. Doch sein zukünftiges Opfer, August von Kotzebue, gehörte zu denjenigen Autoren, deren Werke die aufmüpfige Studentenschaft im Zuge des Festes meinte verbrennen zu müssen. Der erfolgreiche Publizist hatte sich erst mit Goethe und den Romantikern literarische Fehden geliefert, war dann gegen das Napoleonische Frankreich mit der Feder zu Felde gezogen und widmete sich als erklärter Konservativer nach dem Wiener Kongress dem publizistischen Kampf gegen den burschenschaftlerischen Freigeist. Dass Kotzebue auch noch als russischer Staatsrat fungierte und Berichte über die politische Stimmung und Zeitgeistströmungen im Deutschen Bund nach Moskau schickte, stellte einen weiteren Stachel in der ohnehin wunden nationalen burschenschaftlichen Seele dar. Das Maß scheint für Karl Ludwig Sand voll gewesen zu sein, als Kotzebue im Herbst 1818 auch noch eine warnende Schrift Alexander Stourdzas (1791–1854) über den revolutionären Geist der deutschen Universitäten verteidigte.2 Ähnlich wie Corday plante Sand sein Attentat akribisch. Versehen mit genügend Reisegeld und einem Bekennerschreiben wanderte er zum Wohnort des ausgesuchten Mordopfers. Am 23. März 1819 traf er in Mannheim ein. Nach einem vergeblichen Versuch am Morgen gelang es ihm am Nachmittag, Kotzebue in dessen Privaträumen aufzusuchen. Mit den Worten »hier Du Verräter des Vaterlandes« stürzte sich Sand auf den Schriftsteller und verwundete ihn mit mehreren Dolchstichen tödlich.3 Zwischen Flucht- und Selbstmordgedanken hin- und her schwankend entschied sich Sand für den Freitod, stach sich selbst 2 Vgl. Stourdza, A., Denkschrift über den gegenwärtigen Zustand Deutschlands, Frankfurt a. M. 1818. 3 Hohnhorst, L. K. Staatsrath von, Vollständige Übersicht der gegen Carl Ludwig Sand wegen Meuchelmordes verübt an dem K. Russischen Staatsrath von Kotzebue, geführten Untersuchung. Aus den Originalakten ausgezogen, geordnet und herausge­geben, Bd. 1, Stuttgart 1820, S. 65.

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in die Brust und brach von Passanten umringt vor dem Kotzebue’schen Haus zusammen. Der Ohnmächtige führte ein Flugblatt bei sich, das er offenbar in Erinnerung an Luthers Thesenanschlag an ein Tor hatte nageln wollen. Darin hieß es unter anderem: »Todesstoß dem August von Kotzebue. … Unsere Tage fo[r]dern Entscheidung für das Gesetz, das Gott seinen Menschen flammend in die Brust geschrieben hat. Bereitet Euch, entscheidet Euch auf Leben und Tod!  … Auf! Ich schaue den großen Tag der Freiheit! Auf, mein Volk, besinne dich, ermanne, befreie dich!«4 Arretiert und halbwegs wieder ins Leben zurückgepflegt, erwartete Sand eine langwierige Kriminaluntersuchung. Sie endete mit dem Todesurteil und der öffentlichen Hinrichtung durch Enthaupten am 20. Mai 1820. In seinem Gepäck hatte man ein Exemplar von »Dr. Katzenbergers Badereise« von Jean Paul gefunden. Dieser hatte sich um die Wende zum 19. Jahrhundert intensiv mit Charlotte Corday auseinandergesetzt und seiner übermenschlichen Heldin in dem von ihm, Friedrich Gentz und Johann Heinrich Voss herausgegebenen Taschenbuch 1801 einen Altar errichtet. Eine zweite überarbeitete Fassung »über Corday« hatte er 1809 im dritten Anhang zu Dr. Katzenbergers Badereise der Öffentlichkeit präsentiert.5 Soweit die historischen Fakten. Frühformen terroristischer Attentate? Was spricht dafür, speziell diese beiden Attentate als Frühformen des Terrorismus zu begreifen? Schmid und Jongman zufolge handelt es sich bei Terrorismus um eine »anxiety-inspiring method of repeated violent action, employed by (semi-)clandestine individual, group or state actors, for idiosyncratic, criminal or political reasons, whereby – in contrast to assassination – the direct targets of violence are not the main targets. The immediate human victims of violence … serve as message generators.«6 Eine Überprüfung der Kriterien zeigt Übereinstimmungen und Abweichungen. Angsterregend waren die beiden Attentate zweifellos. Schon die Rede, mit der der jakobinische Abgeordnete François Chabot (1757–1794) den Nationalkonvent über die Ermordung Marats informierte, zeugt davon, dass Cordays Mordanschlag als Beginn einer entsprechenden oppositionellen Gewaltwelle interpretiert oder zumindest als solche der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Chabot versicherte, »dieser Mord wäre nur der Anfang des gottlosen Anschlages, alle Patrioten des Berges zu erwürgen 4 Ebd., Beilage III Todesstoß dem August von Kotzebue, S. 187–191. 5 Jean Paul, Dr. Katzenberger’s Badereise, Heidelberg 1809. 6 Schmid, A. P. u. A. J. Jongman, Political terrorism. A new guide to actors, authors, concepts, data bases, theories and literature, Amsterdam u. a. 1988, S. 28. Vgl. zur Terrorismusdefinition Kapitel 3.

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und so dann eine Gegenrevolution zu bewürken«.7 Charlotte Corday selbst ließ bei ihrem Verhör vor dem Kriminalgericht keinen Zweifel daran, dass ihr Attentat den Zweck hatte, die girondistische Bürgerkriegspartei zu stärken. Auch Karl Ludwig Sand wollte durchaus mit seiner Tat die Repräsentanten des herrschenden politischen Systems in Angst und Schrecken versetzen. In der für sein Denksystem typischen Vermengung politischer und religiöser Anschauungen wünschte er sich von »seinem teutschen Volk«: »Hasse die Verräther, die Knechtesseelen, die falschen Seher, die dieses nicht wollen; hasse die feilen Dichter der Halbheit, die Prediger der Feigheit, die Söldlinge, die dich von jedem kühnen Entschluß abhalten; hasse, morde alle die, so sich in frevler, muthwilliger Gesinnung, so sehr überheben, daß sie des Göttlichen in dir vergessen, und dich, die tolle Menge, als ein vielgegliedertes Kunstrad in ihren hochweisen Händen halten und treiben wollen.«8 Doch bei beiden Attentaten handelte es sich nicht um Formen wiederholter gewaltbereiter Aktionen (so die gängigen definitorischen Anforderungen an Terrorismus), sondern um als Einzeltaten gewertete Anschläge, die nicht die erwünschte Nachfolge erzeugten. Trotz aller Bemühungen der untersuchenden Behörden ließen sich auch keine Gruppenverschwörungen aufdecken. Dieser Befund wirft die Frage auf, ob angesichts der nicht nachweisbaren klandestinen oder semiklandestinen oppositionellen Gruppierungen hinter den Attentätern ein nach der Definition von Schmid und Jongman notwen­ diges Element von Terrorismus fehlt. Betrachten wir die überlieferten Indizien zum politischen Hintergrund von Corday und Sand genauer: Charlotte Corday lebte in einer zum Zentrum der Revolution in Paris oppositionellen Region. Sie kannte die girondistischen Abgeordneten, die aus Paris geflohen waren persönlich. Nach eigenen Aussagen schmiedete sie ihre Mordpläne alleine und zwar an demjenigen Tag  – 31. Mai 1793  –, an dem in Paris die ersten giron­distischen Abgeordneten verhaftet wurden. Von ihrer alleinigen Verantwortung wich sie in den Verhören nie ab. Anders als bei der heutigen Vernehmung Verdächtiger beispielsweise in Guantanamo handelte es sich bei den Pariser Kriminaluntersuchungen tatsächlich um reine Befragungen und die Behörden gaben sich mit Cordays Aussagen vorerst zufrieden. Mittelfristig ging es den Gegnern Robespierres ohnehin auch ohne Nachweis eines Komplotts an den Kragen. Doch Charlotte Corday verfasste nach ihrer Verhaftung zwei Briefe. Einer von ihnen war an Charles Jean Marie Barbaroux (1767–1794) gerichtet. Der Abgeordnete der Girondisten hatte sich gegen die Machterweiterung des Wohlfahrtsausschusses gewehrt und war am 2.6.1793 unter Hausarrest gestellt worden. Nach seiner Flucht nach Caen begann er 7 Schmidt-Phiseldeck, K. F. v. [Übersetzer]: Aktenstücke, Charlotte Corday betreffend, in: Deutsches Magazin, 6. Bd. (1793), S. 1353–1390, hier: S. 1354. 8 Hohnhorst, Beilage III , Todesstoß dem August von Kotzebue, S. 189.

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eine Widerstandsgruppe gegen die Bergpartei aufzubauen. »Bürger! Sie haben gewünscht, daß ich Ihnen die Begebenheiten meiner Reise aufs genaueste mittheilen möchte. Ich halte Wort, und werde Ihnen auch nicht den kleinsten Umstand schenken«,9 schrieb sie in der Einleitung, um anschließend ausführlich ihre Aussage, die Verdächtigungen der Untersuchung und die Rolle der anklagenden und beklagten Personen zu schildern, wohl wissend, dass ihr Brief von der Untersuchungskommission gelesen wurde. Ob der Brief, der rasch in der französischen Tagespresse abgedruckt wurde, verschlüsselte Botschaften enthielt? Wie sollte das heute noch geklärt werden können? Ist hieraus auf ein girondistisches Komplott zu schließen? Zumindest der Billigung ihres Anschlags im oppositionellen Lager in Caen konnte sich Corday wohl sicher sein. Ähnlich ist der politische Hintergrund des Attentats auf Kotzebue 1819 einzuschätzen. Mit seinem Wechsel an die Universität Jena war Karl Ludwig Sand in ein überregional bekanntes Zentrum des oppositionellen Liberalismus gezogen. Hier, an der Universität des 1809 neu gegründeten und 1815 in den Rang eines Großherzogtums erhobenen Sachsen-Weimar-Eisenach, belegte die 1816 verabschiedete liberal anmutende Verfassung, dass sich manche französische Errungenschaft mit deutschem Patriotismus bestens vereinen ließ. In Jena war 1815 die erste gesamtdeutsche, politisch auf einen verfassten Nationalstaat zielende Burschenschaft gegründet worden. Hier erlaubte die nur wenig eingeschränkte Pressefreiheit eine vergleichsweise freie politische Debatte. In der Universitätsstadt lehrten Galionsfiguren des politischen Liberalismus wie der Naturforscher Lorenz Oken (1779–1851) Gesellschaftskritik. Der Philosoph Jakob Friedrich Fries (1773–1843) und der Historiker Heinrich Luden (1778–1847) dozierten über aktive Beteiligung am politischen Geschehen und Volkssouveränität. Der Jurist Karl Follen (1796–1840) propagierte den politischen Mord als legitimes Kampfmittel. In Gießen, Darmstadt, Heidelberg und Jena gab es überdies Gruppierungen des später als hochverräterisch eingestuften radikaldemokratisch orientierten Geheimbundes der »Unbedingten«, zu dessen prominenten Mitgliedern Karl Follen zählte. Auch Sand hatte den Anschluss an die Verschwörer gefunden. Zwar bestand Sand darauf, seine politischen Freunde über sein Vorhaben im Ungewissen gelassen zu haben, doch Follen unterstützte Sands Reise finanziell. Auf einem Zwischenaufenthalt bei den Gesinnungsgenossen in Darmstadt diskutierte Sand über seine politischen Grundsätze und der im Anschluss an den Mord zunächst inhaftierte, später Deutschland verlassende »Unbedingte« Lehrer Christian Sartorius (1796–1872) bot ihm dort nicht nur Unterkunft, sondern ließ es sich auch nicht nehmen, den Freund noch ein Stück des Weges nach

9 Schmidt-Phiseldeck, S. 1380.

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Mannheim zu begleiten. Die Sands Verbindungen erforschende Kriminalkommission bemühte sich zwar intensiv darum, die Mordtat als Auftragstat der »Unbedingten« zu enttarnen, doch der Beweis gelang nicht. Das hinderte die Behörden allerdings nicht, alle als Sympathisanten enttarnten Studenten oder Professoren zu verhaften und gegebenenfalls ihrer Ämter zu entkleiden. Ähnlich wie im Falle Cordays lässt sich auch aus heutiger geschichtswissenschaftlicher Perspektive keine terroristische Vereinigung, sondern nur ein politischer Dunstkreis verorten, in dem die Tat verankert war. Doch in der Epoche der Französischen Revolution und des Wiener Kongresses sind ohnehin die politischen Organisationsformen, die sich im Laufe des bürgerlichen Zeitalters herausbilden – z. B. Verein und Partei – erst im Entstehen. Bekannte wie geheime Verbindungen stellen eher noch lose Gruppierungen mit rasch wechselnder Mitgliedschaft ohne Satzungen und Vereinsordnungen dar. Genügen damit die beiden Attentate den Kriterien von Schmid und Jongman für Terrorismus? Weitere Kriterien der zugrunde gelegten Terrorismusdefinition treffen zweifellos zu: Es handelte sich um symbolische Morde und die direkten Anschlagsziele stellten nicht die eigentlichen Ziele der Attentäter dar. Wichtiger noch, die Anschläge dienten als Botschaftsträger für die Programme der Akteure. Sie sollten eine öffentliche Debatte um die angeklagten Missstände erzeugen und um Sympathisanten werben. Beides gelang, hierauf wird noch zurückzukommen sein. Zunächst soll jedoch geklärt werden, wie die Geschichtswissenschaft die beiden Attentate einordnet. Die geschichtswissenschaftliche Bewertung der Attentate In Frankreich legte bereits 1838 der Historiker und Dichter Louis Du Bois (1773–1855) eine erste Biografie der Marat-Mörderin vor.10 Der mit den ­Girondisten sympathisierende Zeitzeuge der Ereignisse schrieb die in der Tradition des gemäßigten Revolutionslagers verankerte, zwischen Faszination und Schrecken changierende Darstellung der Heroine Corday fort. Zwei Drittel seines Buches bestehen aus abgedruckten Quellen, zeitgenössischen Presse­ artikeln, Verhörprotokollen, Briefen usw. Sein Werk konnte daher gut für spätere Bearbeitungen des Themas als Materialfundus herangezogen werden. Die weitere geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit Charlotte Corday ist vor allem in die Geschichtsschreibung über die Französische Revolution eingebettet. Im 19. Jahrhundert prägten in Frankreich der Schriftsteller, Politiker und Verfasser historischer Darstellungen Alphonse Lamartine (1790–1869)

10 Vgl. Du Bois, Louis, Charlotte de Corday, Paris 1838.

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und der Historiker Jules Michelet (1798–1874) das Bild der Französischen Revolution. Lamartine erarbeitete eine ausführliche Geschichte der Girondisten, die 1847 publiziert wurde. In dieser ist Charlotte Corday und ihrem Attentat ein eigenes umfangreiches Kapitel gewidmet. Der Autor zitierte aus Cordays schon zeitgenössisch publizierten Briefen, aber auch aus ihrer »Adresse an die Franzosen«, die wohl bis dahin im genauen Wortlaut noch nicht veröffentlicht war und vermengt romanhafte biografische Elemente mit dem Quellen­ material. In der Beschreibung ihrer Person griff er etliche Elemente der frühen Apotheose der Mörderin auf und präsentiert ein Bild Cordays, das bis heute wirksam ist: »Was uns betrifft«, schrieb Lamartine zwischen Mordverurteilung und Bewunderung für die Täterin hin und her schwankend, »wenn wir für diese erhabene Befreierin ihres Landes und für diese hochherzige Mörderin der Tyrannei einen Namen finden sollten, der zu gleicher Zeit unsere Begeisterung für sie und die Strenge unseres Urtheils über ihre That in sich schließen sollte, so würden wir ein Wort erfinden, daß den Ausdruck der höchsten Be­w underung und des tiefsten Abscheus in der Sprache der Menschen in sich vereinigt und würden sie den Engel des Mordes nennen.«11 Lamartines Urteil zeigt, wie wenig sich bis zur Jahrhundertmitte der Liberalismus von der Vorstellung lösen konnte, dass ein hehres Ziel auch Gewalt rechtfertige. Darüber hinaus war der frühe Text des bekannten populärhistorischen Autors Schule bildend, was die Einschätzung der Wirkung des Attentats betrifft. Lamartine zufolge erreichte Corday gerade das Gegenteil ihres Zieles. In der Folge der Ermordung Marats setzte demnach eine neue Form kultureller Überhöhung (toter) Revolutionshelden ein, die Bergpartei fühlte sich bedroht und der terreur entgrenzte sich (deswegen) zur schrankenlosen Todesmaschine. Sein zeitgenössischer Kollege Jules Michelet publizierte zwischen 1847 und 1853 ein siebenbändiges Werk über die Französische Revolution und schob 1854 einen Band über die Frauen der Französischen Revolution nach. In beiden Darstellungen sind auch, aus den Quellen und der Phantasie Michelets geschöpfte, Kapitel Charlotte Corday gewidmet. Der Autor entkleidete die Darstellung Lamartines von den girondistischen Sympathien, folgte im Urteil der Auswirkungen des Attentats aber seinem Vorgänger. Bekannte Revolutionshistoriker wie Alber Soboul oder François Furet und Denis Richet haben im 20. Jahrhundert diese Einschätzung beibehalten. Charlotte Corday indes war ihnen keine besondere Behandlung mehr wert und von einer faszinierenden revolutionären Mörderin konnte keine Rede mehr sein. Doch mit dem 200-jährigen Geburtstag der Französischen Revolution knüpften mehrere französische Autoren an Publikationen des 19. Jahrhunderts an. Sie legten unter anderem kulturhistorische oder populärhistorische Darstellungen vor,

11 Lamartine, A. de, Geschichte der Girondisten Bd. 6, Leipzig 1847, S. 190 f.

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die nun wieder in der Tradition des überlieferten Corday-Bilds der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen bzw. dieses analysieren.12 Auch in der deutschen Geschichtsschreibung zum Anschlag des Burschenschaftlers Sand auf den Literaten Kotzebue sind eigenständige geschichtswissenschaftliche Behandlungen des Themas rar. Das Attentat wird meist im Kontext der Karlsbader Beschlüsse zur Überwachung der Universitäten und zur Pressezensur behandelt. Einig sind sich die Autoren, dass der Mord Metternich und seinen Kollegen eine willkommene Gelegenheit bot, die erwünschte Pressezensur zu legitimieren. Kleine historische Abhandlungen zum Burschenschaftler Sand lassen sich in den 1880/1890er Jahren nachweisen. Sie rückten, getragen von der zeitgenössischen nationalen Begeisterung, den heldenhaften studentischen Kämpfer für die deutsche Nationalstaatswerdung in den Mittelpunkt. Ein Anstieg erster breiter angelegter geschichtswissenschaftlicher Aufsatzpublikationen um die Wende zum 20. Jahrhundert ist auf das erhöhte lokal- bzw. regionalgeschichtliche Interesse rund um das 1907 mit großem Aufwand betriebene 300-jährige Stadtjubiläum Mannheims zurückzuführen. Ernsthafte fachwissenschaftliche Monographien sind dennoch vergleichsweise rar. Auf die sorgfältig erarbeitete populäre Darstellung des Münchner Professors für Bayerische und Deutsche Geschichte, Karl Alexander von Müllers 1923,13 folgte lediglich die ungedruckte Dissertation Ernst Abbühls im Jahr 1978, die sich mit der Rezeption des Ereignisses und nicht mit der Tat selbst beschäftigt. Die letztere und etliche einschlägige historische Aufsätze, zumeist in populärwissenschaftlichen Sammelbänden zu politischen Attentätern seit der Antike, beruhen im Wesentlichen auf dem Forschungsstand von Müller aus dem Jahr 1923, ohne das durchaus vorhandene Quellenmaterial einer neuerlichen Sichtung unterzogen zu haben oder mit neuem Erkenntnisinteresse zu einer über das Fallbeispiel hinausreichenden Deutung politischer Gewalt in der vormärzlichen Restaurationsphase vorzudringen. Corday und Sand in der traditionsstiftenden medialen Rezeption Der relativ geringen Behandlung der beiden Anschläge in der geschichtswissenschaftlichen Literatur steht dennoch eine schier unübersehbare Fülle von Veröffentlichungen erst in der zeitgenössischen politischen Auseinandersetzung, dann in künstlerischer Bearbeitung der Attentate und schließlich in deren literaturwissenschaftlichen Würdigung gegenüber. Ihre Auswertung 12 Vgl. Vatel, Ch., Charlotte de Corday et les Girondins, 3 Bde., Paris 1864–1872 und z. B. Mazeau, G., Corday contre Marat. Deux siècles d’images, Versailles 2009; Debriffe, M., Charlotte Corday, Paris 2005. 13 Vgl. Müller, K. A. von, Karl Ludwig Sand, München 1923.

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mit Hilfe der Rezeptionsgeschichte kann einiges zur Klärung der Wirkung der Attentate und der mit ihr verbundenen Traditionsstiftung im Terrorismus und zum Umgang mit Terrorismus beitragen. Die Rezeptionsforschung oder Wirkungsgeschichte gehört eigentlich zum Methodenrepertoire der Literaturwissenschaft. Ausgehend von Überlegungen der Kommunikationsforschung entwickelte sich in den 1970er Jahren eine Debatte über die Frage, wie vor dem Hintergrund politischer Ereignisse und kultureller Strömungen die Wirkung von Printmedien auf ihre Leserschaft überprüft werden könne.14 Ein Blick in aktuelle Publikationsverzeichnisse verdeutlicht, dass heute zahlreiche Veröffentlichungen Rezeptionsgeschichte im Titel aufgreifen, nicht selten ohne sich ausführlicher damit zu befassen, wie dieser methodische Zugang konkret zu bewerkstelligen ist. Aus historischer Perspektive ist anzumerken, dass sich in der Regel das Lesepublikum vergangener Jahrhunderte nicht mehr auf seine Reaktionen und Eindrücke hin befragen lässt. Was Historiker jedoch durchaus ähnlich wie Literaturwissenschaftler leisten können, ist die Analyse der Genese und Tradierung von Interpretationsmustern historischer Ereignisse in nachfolgenden Publikationen des geschichtswissenschaftlichen, aber auch des literarischen Genres. Insbesondere die Wechselwirkung zwischen beiden Publikationsarten kann durchaus erhellend sein. Die Attentate auf Marat und Kotzebue erregten zeitgenössisch ungeheure mediale Aufmerksamkeit und entzündeten heftige Diskussionen um die Legitimität solcher Anschläge. In Frankreich setzte nahezu unmittelbar nach dem Mordanschlag Cordays ein Prozess mythischer Überhöhung von Opfer und Täterin ein. Stilisierte das jakobinische Frankreich Marat schlechthin zum Märtyrer der Revolution, so erwies sich Charlotte Corday insbesondere im Ausland als bestens geeignete schillernde Projektionsfläche für die liberalen Revolutionsfreunde, welche die revolutionären Ziele, nicht jedoch die gewalt­samen Methoden zu ihrer Durchsetzung begrüßten. Betrachten wir die un­mittelbaren Reaktionen beim deutschen Nachbarn auf die Ereignisse im Frankreich des Jahres 1793: In einer Reihe von Zeitschriften gemischt historischen und politischen Inhalts wie »Minerva«, »Deutsche Monatsschrift«, »Der neue Teutsche Merkur«, »Philosophisches Archiv« oder »Deutsches Magazin« erschienen schon kurz nach der Hinrichtung Cordays größere und kleinere Abhandlungen über die Tat und die Gerichtsverhandlung. Die detaillierten Nachrichten über das Geschehen vermischten sich von Anfang an mit poetischen Bearbeitungen des Themas und rasch entworfenen Trauerspielen oder Nachrichten über solche. Nahezu einhellig waren sich die Autoren einig, dass die Sympathie der Betrachter auf Seiten Cordays zu liegen habe. Charlotte Corday selbst hatte sich in ihren Abschiedsbriefen auf den herr14 Einführend: Zens, M., Rezeptionsforschung, in: Baasner, R. und M. Zens, (Hg.), Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Berlin 20053, S. 179–190.

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schaftskritischen Mörder Cäsars, Brutus, berufen. Der Vergleich wurde gerne aufgegriffen. Anderen Autoren erschien Corday als Judith, die ihr Volk verteidigte. Viele vergöttlichten die weltliche Mörderin. Dass die Attentäterin den Kampf gegen die revolutionären Gewaltexzesse aufgenommen hatte, indem sie eben diese Gewalt selbst anwandte, tat der beginnenden Heldinnenverehrung wenig Abbruch. Am Anfang der Apotheose Charlotte Cordays stand ein Text von Adam Lux (1765–1793). Der Abgeordnete der Mainzer Republik war Zeuge der Fahrt Cordays zum Schafott und berichtete über seine Eindrücke: »Der so sanfte und so durchdringende Blick! … Die lebhaften und nassen Funken, die in ihren schönen Augen glänzten, aus welchen eine eben so zärtliche als unerschrockene Seele sprach. … Blicke eines Engels, die ins Innerste meines Herzens drangen … Sie bestieg das Schaffott, … sie starb, … und die große Seele erhob sich zu den Catonen, zu den Brutus, und den wenigen andern, deren Verdienste sie gewiß besitzt, und vielleicht gar übertrifft.«15 Viele weitere bekannte zeitgenössische Autorinnen und Autoren fühlten sich in Deutschland bemüßigt, zumindest einen kleinen Beitrag zur künstlerischen Bearbeitung des Corday-Stoffes zu leisten. Um nur einige zu nennen: Christoph Martin Wieland nahm sich des Themas als Herausgeber an,16 Christine Westphalen veröffentlichte 1804 eine breit rezipierte Corday-Tragödie,17 Caroline Philippine de la Motte Fouqué lieferte einen Roman über das »Heldenmädchen aus der Vendée«.18 Am bekanntesten dürfte die bereits erwähnte Bearbeitung des Corday-Stoffes durch Jean Paul sein. Auch Karl Ludwig Sand entfachte im Zeitalter der strikten Zensur einen medialen Sturm um die Frage, ob denn dieser Mörder als Held der Freiheit oder als gemeiner Verbrecher zu deuten sei. Jenseits der heftigen Diskussionen in der Tagespresse erschienen allein zwischen 1819 und 1821 um die fünfzig selbstständige Schriften, die sich mit der Mordtat Sands auseinandersetzten. Sand, so bemühten sich viele Autoren zu belegen, avancierte bereits während seiner Gefängniszeit zur lokalen Ikone des liberal gesinnten Teils der Mannheimer Stadtbevölkerung. »Die Bewohner Mannheims suchten ihm so viel als möglich seine Lage zu erleichtern. Sie schickten ihm ausgesuchte Speisen, (welche aber, da er deren nicht bedurfte und eine einfache Kost vorzog, gewöhnlich wieder zurückgegeben wurden,) und, besonders während der Winter-Monate, Äpfel, welcher er, wie sie gehört hatten, besonders liebte. Jeden Morgen erhielt er,

15 Luchs (Lux), A., Ueber Charlotte Corday, in: Minerva 7 (1793), S. 302–312, hier: S. 308 f. 16 Vgl. Gaum, J. F., Brutus und Corday. Eine Unterredung. Nebst einem Anhang über die französische Revolution; und über Charlotte Corday, von Wieland, Frankfurt a. M. 1793. 17 Vgl. Westphalen Engel, Chr., Charlotte Corday. Tragödie in fünf Akten, Hamburg 1804. 18 Vgl. Fouqué, C. de La Motte, Das Heldenmädchen aus der Vendée. Ein Roman, Leipzig 1816.

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so lange es Blumen gab, einen frischen Straus in das Zimmer gestellt.«19 Die Mannheimer Kutschenvermieter weigerten sich, so lauteten die Berichte, eine Kutsche für die Fahrt zum Hinrichtungsplatz zur Verfügung zu stellen. Das zahlreich vorhandene Publikum des blutigen Hinrichtungsspektakels, beeilte sich der Publizistik zufolge, Devotionalien in Form von blutgetränkten Taschentüchern, Haaren des Delinquenten oder Holzsplittern der Hinrichtungsbühne zu ergattern. Der Henker soll aus deren Holz ein Gartenhäuschen gebaut haben, in dem sich die Heidelberger Burschenschaftler anlässlich des sich jährenden Todestages Sands zu versammeln pflegten. Der Ort der Hinrichtung erhielt im Volksmund den Namen »Himmelfahrtswiese«. Sollten die vielen zeitgenössischen Berichte über die Reaktionen der Bevölkerung dazu dienen, den Mord zu legitimieren? Ein Teil der Publikationen, die begleitend zur kriminalistischen Untersuchung und zur Hinrichtung veröffentlicht wurden, lassen die Handschrift Mannheimer Zeitzeugen erkennen. Hier ist in erster Linie die Dokumentation des Staatsrats von Hohnhorst zu nennen.20 Er hatte den Vorsitz über die badische Untersuchungskommission inne. Sein in zwei Bänden vorgelegter Aktenauszug und Rechenschaftsbericht zielte offenbar mehr auf die Beruhigung liberaler Kritiker als auf das konservative Lager und bildete die Grundlage vieler nachfolgender Schriften. Neben dem Beleg, dass es sich bei dem Verfahren um ein rechtsstaatliches gehandelt habe, war Hohnhorst vor allem bemüht, den Texten und Aussagen des Delinquenten jegliche politische Brisanz zu nehmen. Auch andere weit verbreitete Büchlein wie der Bericht über die letzten Lebenstage Sands von Carl Courtin,21 der anonym veröffentlichte, Carl Nicolai zugeschriebene »Authentische Bericht über die Ermordung des Kaiserlich-Russischen Staatsraths« (1819) oder eine erste anonyme Biografie über Kotzebue aus dem gleichen Jahr, die diesem mehr oder weniger deutlich die Verantwortung für seine eigene Ermordung zuschreibt, wurden von Zeitzeugen in Mannheim verfasst.22 Anders als Hohnhorst sangen sie vor allem das Lob des liberalen Helden. Aber nicht nur in der Region regte das Attentat zu schöngeistiger oder politischer Beschäftigung mit dem Anschlag an. Rasch entstand eine polare Gegenüberstellung von Täter und Opfer. Im Gegensatz zum jugendlichen patriotischen und liberalen männlichen Helden Sand wird Kotzebue als Vielschreiber zumeist populärer, dennoch schlechter Theaterstücke beschrieben. Er erscheint als bösartiger Kritiker, dem nichts heilig ist und der es sogar wagt, die großen Werte des Liberalismus zu bespötteln. 19 Anonym, Ausführliche Darstellung von Karl Ludwig Sand’s letzten Tagen und Augenblicken, Stuttgart 1820, S. 13. 20 Vgl. Hohnhorst. 21 Courtin, C., Carl Ludwig Sand’s letzte Lebenstage und Hinrichtung. Geschichtlich dargestellt, Frankenthal 1821. 22 Anonym, Vollständige Biographie oder Leben, Thaten, Schicksal und trauriges Ende des großen teutschen Dichters, Aug. Friedr. Ferd. von Kotzebue, Mannheim 1819.

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Kotzebue glänzt, seinen Kritikern zufolge, vor allem durch anzügliche Begierde nach Ruhm. Er ist eitel und geltungssüchtig, nur an Geld interessiert, undeutsch in seiner Tätigkeit, gar ein Spion. Was lässt sich aus den jeweiligen zeitgenössischen Diskussionen um ­Corday und Sand schließen? Den beiden Attentätern ist es mit ihren Anschlägen zweifellos gelungen, (nicht nur) in Deutschland Debatten um die politische Lage in ihren Heimatländern loszutreten. Es waren öffentlich geführte Diskus­ sionen um die Legitimität politischer Gewalt. Zwar äußerten sich viele Autoren grundsätzlich ablehnend gegenüber Mordanschlägen. Dennoch legitimierten sie nachfolgend die Selbstjustiz der Akteure und stilisierten die Täter zu übermenschlichen Heroen. Zumindest für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist festhalten, dass das staatliche Gewaltmonopol von oppositioneller Seite in Frage gestellt werden konnte, wenn das Ziel der Attentäter zustimmungswürdig schien. Für beide Attentäter lässt sich überdies nachzeichnen, dass die Rezeption ihrer Anschläge bis heute nicht abriss. Der Corday-Stoff blieb während des gesamten 19. und auch im 20. Jahrhundert nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland Thema zahlreicher literarischer und dramatischer Bearbeitungen. Zwar mutierte die Heldin aus politischer Überzeugung im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zur Täterin aus weiblich konnotierten Motiven, aber das Interesse an der politischen Mörderin versiegte nie ganz. Selbst in der populären Zeitschrift »Die Gartenlaube« fand sie zweimal Eingang. In Deutschland legte zuletzt 1988 Sybille Knauss einen Roman über Charlotte Corday bei Hoffmann und Campe vor. Er wurde 1989 vom Deutschen Bücherbund aufgenommen und erschien 1995 bei dtv, was wohl als Hinweis auf großes Publikumsinteresse interpretiert werden darf. Daneben ist der Corday-Stoff vielfach im Kontext der Frauengeschichte und der feministischen Traditionssuche aufgegriffen worden. 1865 legte die frühe Frauenrechtlerin Luise Büchner die zeitgenössisch wohl profundeste geschichtswissenschaftliche Darstellung über Corday und ihr Atten­ tat in deutscher Sprache vor.23 Die Autorin zeigte sich irritiert davon, dass eine Frau so gewaltsam agierte. Nicht selten aber wurde von frauenbewegten Autorinnen eine Entwicklungslinie von der Urmutter des Terrorismus Corday zu feministisch untermauertem Terrorismus der Gegenwart gezogen. Auch die Auseinandersetzung mit dem Burschenschaftler Sand lässt sich über das gesamte 19. und 20. Jahrhundert verfolgen. Zwar ließ seit Mitte der 1820er Jahre das öffentliche Interesse nach, doch erstaunlicher Weise kam es immer wieder von neuem auf und verlor sich nie ganz. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne Berücksichtigung unselbständiger Veröffentlichun23 Büchner, L., Charlotte Corday (1865), abgedruckt in: »Gebildet, ohne gelehrt zu sein«. Essays, Berichte und Briefe von Luise Büchner zur Geschichte ihrer Zeit, ausgewählt und vorgestellt von Margarethe Dierks, Darmstadt 1991, S. 68–115.

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gen etwa im Kontext autobiografischer Erinnerungen oder von einschlägigen Zeitungsartikeln in der Tagespresse lassen sich bis heute mehr als 140 selbständige politische Schriften, wissenschaftliche Aufsätze in unterschiedlichen Disziplinen, wenige geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzungen und mehr als dreißig poetische, literarische oder dramatische Bearbeitungen nachweisen. Auf eine ruhige Phase ab 1821 und vergleichsweise wenig gesteigerter, einschlägiger Publikationstätigkeit im Vormärz erhob sich erst in den 1880er Jahren deutlich neues Interesse, das sich in den 1890er Jahren noch verstärkte und nach der Jahrhundertwende wieder nachließ. Insbesondere in den wenigen Jahren der Weimarer Republik, aber auch im Dritten Reich erhielt die Sandrezeption neuen Auftrieb, diesmal aus national-chauvinistischer Richtung. Danach fand das Attentat erst seit den 1960ern, verstärkt seit den 1970er Jahren erneute Aufmerksamkeit, ein Sand-Boom, der bis heute anhält. In langer Zeitlinie lässt sich mit dem Publikationsanstieg in den 1880er/1890er Jahren, der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus, schließlich seit den 1970er Jahren durchaus ein Zusammenhang mit der jeweils aktuellen Zunahme von politischer Gewalt und Terrorismus beobachten. Es ist – wie zu erwarten – das tagespolitisch motivierte Interesse an politischer Gewalt, das die historische Wurzelsuche antrieb und antreibt. Dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend mutierte Sand vom liberalen Freiheitskämpfer zum Held der nationalen Einigung im Wilhelminischen Kaiserreich, dann zum völkisch angehauchten Infragesteller des demokratischen Verfassungsstaats und seines Gewaltmonopols während der Weimarer Republik, um anschließend als Wegbereiter des Nationalsozialismus vereinnahmt zu werden. Einige wenige Versuche, Sand als demokratischen Freiheitskämpfer oder gar Widerständler nach dem Zweiten Weltkrieg zu lancieren, versandeten rasch. Doch mit dem Aufleben des Terrorismus seit den 1970er Jahren wuchs auch das Interesse an Sand wieder an. So lässt sich insgesamt auch für die den unmittelbaren zeitgenössischen Auseinandersetzungen nachfolgende Rezeption der Morde aufzeigen, dass letztlich die Fragen des staatlichen Gewaltmonopols und des Widerstandsrechts die Deutungslinie bestimmten. Die hier aufgezeigte publizistische Entwicklung ist eng mit einem weiteren Rezeptionsmuster verwoben, das Corday und Sand als Urmutter und Urvater des Terrorismus begriff. An diesem Deutungsmuster strickten gleichermaßen gewaltbereite Attentäter des weiteren 19. und 20. Jahrhunderts und ihre Historiographen, die Kriminalistik, aber auch die feministische Geschichtsschreibung. Bekannt und viel zitiert ist das Gedicht Alexander Puschkins (1799–1837) über den Dolch aus dem Jahr 1821, in dem vermutlich erstmals eine Verbindung zwischen Corday und Sand hergestellt wurde. »Du blanker Rachestahl, der Freiheit stummer Wart«, schwärmt der Dichter und konstruiert eine Traditionslinie vom Cäsarmörder Brutus über Charlotte Corday, »die jungfräuliche Eumenide«, zum »edlen Jüngling Sand«, die im Auftrag eines

Frühformen des Terrorismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts

»höheren Gerichts« bzw. des »Geschicks« mordeten.24 Die Traditionslinie wurde von Lamartine mit seiner Darstellung Cordays aufgegriffen. Er lässt sein Kapitel über den Engel des Mordes mit folgendem Resümee enden: »Die Poesie aller Völker bemächtigte sich ihres Namens, um daraus einen Schrecken der Tyrannen zu machen. … Als Vergniaud25 in seinem Gefängnisse die That, die Verurtheilung und den Tod Charlotte Corday’s erfuhr, rief er aus: ›Sie bringt uns den Tod, aber sie lehrt uns sterben!‹ »26 Wenige Jahre später knüpfte Michelet an der Vorlage an und befand: »Eine Religion erwächst aus dem Blut Charlotte Cordays: die Religion des Dolches. … An wen denkt der junge Mann heute, der eine große Tat träumt, heiße er Alibando oder Sand? Wen sieht er in seinen Träumen? Das Phantom des Brutus? Nein, die hinreißend schöne Charlotte, so wie sie war, in dem düsteren Glanz des roten Mantels, in dem blutigen Widerschein der Julisonne, im Purpur des Abends.«27 Insbesondere die zeitgenössischen Literaten, die sich mit dem russischen Anarchismus des späten 19. Jahrhunderts befassten, zogen eine Traditionslinie von Charlotte Corday zu den russischen Anarchistinnen. Bekannte Kriminalforscher des späten 19. Jahrhunderts wie Cesare Lombroso (1835–1909) stellten Sand und Corday an den Anfang der politischen Kriminalität und des Terrorismus und wir erfahren: »Karl Sand war sehr schön«, und weiter: »Wer bewundert nicht die harmonische, robuste Schönheit von Charlotte Corday, die der Peroskaja, der Kulischew, Orsinis?«.28 Hier ist nicht der Raum, den frauenbewegten Beitrag zur terroristischen Traditionslinie auszuführen. Deshalb sei nur ein Beispiel genannt: Schon Carry Brachvogel (1864–1942), viel gelesene feministische jüdische Autorin der Weimarer Republik, 1942 in Theresienstadt verstorben und heute relativ unbekannt, legte 1920 eine populärwissenschaftlich gehaltene Darstellung mit dem Titel »Eva in der Politik« vor. Darin heißt es: »Politische Mörderinnen sind seltene Erscheinungen. … Man muss schon in sagenhafte Zeiten zurückgehen, bis zur Judith, die in der Brautnacht den Holofernes tötete, um eine richtige politische Mörderin aufzuspüren. Allerdings hat Judith in modernsten Tagen Nachfolgerinnen gefunden, in den russischen Nihilistinnen, die immer wieder, hauptsächlich aber vor dreißig, fünfunddreißig Jahren, mit Bomben und Revolver gegen die Bedrücker ihres Vaterlandes losgingen. Zwischen der hebräischen Judith und der russischen Nihilistin steht einsam 24 Puschkin, A. S., Der Dolch, abgedruckt in: Puschkin, A. S., Gedichte, Poeme, Eugen Onegin, hrsg. von W. Neustadt, Berlin 1947, S. 40 f. 25 Pierre Victurnien Vergniaud (1753–1793) war ein wichtiger Repräsentant der Girondisten, der wie die anderen girondistischen Abgeordneten 1793 hingerichtet wurde. 26 Lamartine, S. 191 f. 27 Michelet, J., Die Frauen der Revolution, Frankfurt a. M. 1984, S. 190. 28 Lombroso, C. und Laschi, R., Der Politische Verbrecher und die Revolutionen in anthropologischer, juristischer und staatswissenschaftlicher Beziehung, 2 Bde., Hamburg 1891/1892, hier: Bd. 2, S. 62 f.

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Charlotte Corday, das Mädchen aus Caën, die ungewöhnliche Tochter einer ungewöhnlichen Zeit.«29 Auf den Punkt brachte es schließlich der Terrorismusforscher Walter Laqueur. Er schrieb: »Charlotte Corday is the first truly modern terrorist heroine.«30 Fazit: Jenseits der Frage, ob es sich bei den Atten­ taten von Corday und Sand um terroristische Anschläge oder Frühformen solcher Aktionen gehandelt hat, wird eines deutlich. Die Attentäter wurden in der Rezeption zu Terroristen gemacht. Überdies erwiesen sich die Bilder, die sich die Zeitgenossen von ihren Persönlichkeiten machten, stilbildend für spätere Vorstellungen von dem Terroristen und der Terroristin.31

29 Brachvogel, C., Eva in der Politik. Ein Buch über die politische Tätigkeit der Frau, Leipzig 1920, S. 64 f. 30 Laqueur, W., A history of terrorism, New Brunswick 2001, S. 169. 31 Vgl. hierzu Kapitel 12.

6. Die Erfindung des Terrorismus im Anarchismus Am 14. Januar 1858 unternahm der italienische Anwalt und 1848er-Revolutionär Felice Orsini (1819–1858) in Paris einen Attentatsversuch auf Kaiser Napoleon III . Die Bombenexplosion vor der Pariser Oper hinterließ acht Todesopfer und 156 Verletzte. Napoleon III . trug nur ein paar Schürfwunden davon. Der bald darauf hingerichtete Attentäter und seine Mitverschwörer hatten Aufmerksamkeit für die italienische National- und Unabhängigkeitsbewegung von Österreich gesucht. Napoleon III ., so wird berichtet, soll Sympathie für die Ziele Orsinis empfunden und das Todesurteil nur aus Gründen der Staatsraison akzeptiert haben.1 Am 24. Januar 1878 schoss die russische Sozialistin und Anarchistin Wera Sassulitsch (1849–1919) auf den Staatshauptmann von St. Peterburg, General Alexander Fjodorowitsch Trepow. Er hatte sich zweifellhaften Ruhm durch die Niederschlagung der polnischen Aufstände von 1830 und 1863 erworben. Obwohl sie geständig war, wurde sie in der nachfolgenden Gerichtsverhandlung freigesprochen. »Es ist etwas Furchtbares, die Hand gegen das Leben eines Menschen zu erheben, ich weiß es«, soll sie in ihrer Verteidigungsrede gesagt haben.2 »Aber ich wollte zeigen, daß es nicht möglich ist, einen Menschen nach so viel Greueltaten ungestraft zu lassen, ich wollte die allgemeine Aufmerksamkeit auf diese Dinge lenken, um zu verhindern, daß sie sich wiederholen.« Am 10. September 1898 verwundete Luigi Lucheni (1873–1910) Kaiserin Elisabeth von Österreich mit einer Feile. Als er im Gefängnis erfuhr, dass sein Opfer gestorben war, brach er in einen Hochruf auf die Anarchie aus. Anarchisten zugeschriebenen Attentaten fielen zwischen 1870 und dem frühen zwanzigsten Jahrhundert unter anderem zum Opfer: Nikolai Wladimirowitsch Mesenzow, der Chef der zaristischen Geheimpolizei (1878), Zar Alexander  II . von Russland (1881), Marie François Sadi Carnot, Staatspräsident von Frankreich (1894), Antonio Cánovas del Castillo, Ministerpräsident von Spanien (1897) und König Umberto I. von Italien (1900). Dazu traten eine ganze Reihe von anarchistischen Anschlägen auf unliebsame Angehörige staatlicher Behörden oder verhasste Unternehmer, ergänzt durch Beschaffungskriminalität und gewaltsame Aktionen, die in erster Linie der Propaganda für die anarchistische Bewegung dienen sollten. Terrorismus als politische Strategie, als Propaganda der Tat erlebte eine erste Hochphase, als sich das Ende der rigiden Überwachung jeglicher Opposition abzeichnete, die der Niederschlagung der europäischen Revolutionen 1 Zum Anschlag Orsinis vgl. Dietze, C., Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858–1866, Hamburg 2016, S. 107–195. 2 Zitiert nach Liman, P., Der politische Mord im Wandel der Geschichte, Berlin 1912, S. 244. Hieraus auch das folgende Zitat.

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1848/49 gefolgt war. In der Restaurationsphase war vor allem England das Fluchtziel europäischer linker Oppositioneller gewesen. Anschließend, in den 1860er Jahren, beförderte die Lockerung des politischen Koalitionsverbots in manchen Ländern des Deutschen Bundes die Entfaltung der sozialistischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Auch in Frankreich, wo sich die nachnapoleonische Geschichte als immer wieder aufflackernde politische Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung der konstitutionellen Monarchie bis hin zum sozialistischen Aufstand der Pariser Kommune 1871 darstellen lässt, hatte frühsozialistisches Gedankengut eine breite Basis gewonnen. Die Geschichte der europäischen sozialistischen Bewegungen, wie sie sich in der »Ersten Internationalen« (1864–1872) manifestiert, zeugt von großer programmatischer Vielfalt und heftigen Richtungskämpfen zwischen den einzelnen Strömun­ gen der sozialistischen Bewegungen. Denn sozialistische und anarchistische Interpretationen staatlicher Herrschaft und divergierende Deutungen des einzuschlagenden Wegs zur Revolution schienen letztlich unvereinbar.3 Die meisten Marx nahen Theoretiker setzten mehr oder weniger auf die Überwindung des bürgerlichen Staates und des Kapitalismus durch das Anwachsen der Arbeiterbewegung und zumindest vorderhand auf den parlamentarischen Weg. Dagegen drängten viele Repräsentanten des Anarchismus auf die unmittelbar zu beginnende Revolution, sei sie initiiert über Geheimgesellschaften oder sofort zu bewerkstelligende Volksaufstände. Die Debatten über Herrschaftskonzepte und Revolutionswege sprengten schließlich die »Erste Internationale« und machten den Weg frei für eine Phase des Anarchismus, in der sich dieser der direkten terroristischen Aktion, der Propaganda der Tat, zuwandte. Der hier gelieferte, äußerst grobe Überblick über die Frühgeschichte des europäischen Sozialismus erhebt keinesfalls den Anspruch, der Geschichte der jungen Arbeiterbewegung und der »Ersten Internationalen« gerecht zu werden. Ziel ist es, so knapp wie möglich in die politikgeschichtlichen Hintergründe anarchistischer Debatten etwa zwischen 1860 und 1890 einzuführen. Denn über eines waren sich die Gegner anarchistischer Tendenzen in diesem Zeitraum klar: Der Anarchismus war schuld an der deutlich anwachsenden Zahl von Attentaten, die nach heutigen Definitionen als Formen von Terrorismus interpretiert werden können.

3 Vgl. Nimtz, A. H., Marxism versus anarchism: The first encounter, in: Science & Society 79 (2015), S. 153–175.

Die Erfindung des Terrorismus im Anarchismus

Anarchistische Theorie und die Propaganda der Tat Nicht nur von den Zeitgenossen der Propaganda der Tat, sondern auch heute noch wird häufig »anarchistisch [H. i. O.] mit terroristisch, Dolch, Bombe und Lunte, Mord und Verbrechen« gleichgesetzt.4 Dieses (Vor-)urteil hat viel damit zu tun, dass es immer noch an wissenschaftlichen Synthesen zur Geschichte des europäischen Anarchismus fehlt. Auch für seine terroristische Phase liegen keine neueren Gesamtdarstellungen vor, die historische Hintergründe, Akteure und Anschläge vergleichend analysieren.5 Selbst an wissenschaftlichen Nationalgeschichten der Propaganda der Tat herrscht nicht gerade Fülle. Diese Forschungslücke lässt sich zum einen auf den Anarchismus als politische Theorie selbst zurückführen. Herrschaftskritisch, häufig das Individuum und Individualität gegen Organisation und geformte Politik ins Feld führend, hat der Anarchismus kein konsensfähiges einheitliches Theoriegebäude entwickelt. Anarchismus besteht aus vielen Anarchismen und wird repräsentiert von sich keinesfalls immer einigen anarchistischen Theoretikern. Schon die Begriffsgeschichte des Anarchismus füllt in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« sechzig Seiten. Peter Lösche hat in seinem immer noch lesenswerten Überblick von 1977 folgende Charakteristika des Anarchismus aufgelistet: Anarchismus lehnt jegliche Organisationsform gesellschaftlichen Zwangs ab. Ideologien, interpretiert als Legitimationskonzepte bestehender Herrschaftsverhältnisse werden kritisch gesehen, was bis zur eigenen Theoriefeindlichkeit führen kann. Ziel des Anarchismus ist eine herrschaftsfreie Gesellschaft mit Hilfe der Selbstorganisation der mündigen Bürger. In dieses gewalt(en)freie Konzept sickert Gewalt am antizipierten Entstehungszeitpunkt der anarchistischen Gesellschaft ein. Denn wie soll der Übergang zur anarchistischen Gesellschaftsordnung stattfinden, wenn die erlaubten politischen Partizipationswege der bestehenden Staaten abgelehnt werden? Implizit oder explizit kann die erhoffte gesellschaftliche Utopie nur über eine Revolution bewerkstelligt werden. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren sich etliche anarchistische Theoretiker und viele Akteure darin einig, dass die Propaganda der Tat, die direkte terroristische Aktion, ein 4 Lösche, P., Anarchismus, Darmstadt 19872, S. 1. Vgl. auch Ders., Terrorismus und Anarchismus, Internationale und historische Aspekte. Gewerkschaftliche Monatshefte 29 (1978), S. 106–116. 5 Nach wie vor eine frühe, wenn auch deskriptiv geschriebene Fundgrube: Nettlau, M., Geschichte der Anarchie, Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen zum Jahre 1864, Berlin 1924; Ders., Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859–1880, Berlin 1927; Ders., Anarchisten und Sozialrevolutionäre. Die historische Entwicklung des Anarchismus in den Jahren 1880–1886, Berlin 1931.

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probates Mittel sei, die Volksmassen für den revolutionären Weg zu gewinnen. Wie Andrew R.  Carlson in seiner Überblicksdarstellung über »Anarchism in Germany« ausführt, diskutierte die anarchistische Bewegung seit ihrem internationalen Kongress in Bern 1876 kontinuierlich über die Zweckmäßigkeit direkter terroristischer Aktionen und erklärte sie in den 1880er Jahren zur zentralen Aktionsform.6 Es war, wie Ulrich Linse betont, diejenige Phase, in der »der Anarchismus jede Hoffnung aufgeben mußte, Einfluß auf die Mehrheit der Land- und Industriearbeiter in Europa zu nehmen.«7 Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert sollte sich die anarchistische Bewegung allmählich wieder vom Terrorismus distanzieren. Theoretische Begründungen terroristischer Gewalt seitens der Bewegung nahestehender oder ihr zugeschriebener Autoren lassen sich bis zu den scheiternden europäischen Revolutionen 1848/1849 zurückverfolgen. Frühsozialisten wie der Franzose Louis Auguste Blanqui (1805–1881) oder die Gallionsfigur des russischen Anarchismus, Michail Bakunin (1814–1876), entwickelten die Vorstellung des legitimen gewaltsamen Widerstandes gegen Unrechtssysteme. Sie begriffen Geheimgesellschaften als adäquate Organisationsform zur Vorbereitung einer dann von breiten Bevölkerungskreisen zu tragenden Revolution. Bakunin verwandte auch den Begriff Terrorismus für die erhofften Volkserhebungen und die sie begleitende Ermordung von Repräsentanten des zu überwindenden Systems.8 Etlichen sozialistischen / anarchistischen Theoretikern, so auch dem russischen Fürsten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921), wird die Erkenntnis zugeschrieben, dass spektakuläre Anschläge eine wirksame Methode seien, das revolutionäre Programm zu verbreiten, denn: »Durch Tatsachen, die sich der allgemeinen Aufmerksamkeit aufzwingen, dringt die neue Idee in die Köpfe ein und erobert Anhänger. Manche Tat macht in einigen Tagen mehr Propaganda als Tausende von Broschüren.«9 Im deutschen Sprachraum waren als Propagandisten direkter Gewaltaktionen vor allem Karl Heinzen (1809–1880) und Johannes Most (1846–1906) bekannt. In seinem Zeitschriftenartikel »Mord« vom Januar 1849 legte Heinzen, früher USA-Emigrant und nach Deutschland zurückgekehrter Unterstützer der ba­ dischen Aufstände 1848/1849, eine Theorie des politisch gerechtfertigten Mordanschlages vor, die von zahlreichen nachfolgenden Terroristen aufgegriffen 6 Vgl. Carlson, A. R., Anarchism in Germany, Bd. 1, Metuchen N. J. 1972, S. 249–282. 7 Linse, U., »Propaganda der Tat« und »Direkte Aktion«. Zwei Formen anarchistischer Gewaltanwendung, in: Mommsen, W. J. u. G.  Hirschfeld (Hg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 237–269, hier: S. 241. 8 Bakunin, abgedruckt in Laqueur, W. (Hg.), Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg 1978, S. 55. 9 Kropotkin 1881 zitiert nach Waldmann, P., Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998, S. 48.

Die Erfindung des Terrorismus im Anarchismus

wurde. Heinzens Artikel ist zweifellos von der Erkenntnis mitgeprägt, dass die europäischen Revolutionen von 1848/1849, verstanden vor allem als parlamentarische Prozesse, zu scheitern drohten. Drei Elemente terroristischer Theorie sind bereits in diesem Artikel und weiteren frühen Texten Heinzens angelegt: Die Legitimation des Mordes als politische Strategie, das Konzept des symbolischen Mordes und schließlich seine mediale Verbreitung zur Agitation der Massen. »Das Hauptmittel der geschichtlichen Entwicklung ist der Mord [H. i. O.]. … Ist alles Tödten ein Verbrechen, so ist es Allen gleich sehr verboten; ist es kein Verbrechen, so ist es Allen gleich sehr erlaubt«, schreibt Heinzen mit Verweis auf staatlich legitimiertes Töten im Krieg und den gefeierten Tyrannenmord.10 »Wir sehen also, daß, wenn man einmal das Tödten zuläßt, in der Praxis der moralische Gesichtspunkt völlig haltlos, der rechtliche wirkungslos und nur der politische von Bedeutung ist. Wird der Zweck erreicht? Das ist die einzige Frage, die Ihr, Pfleger und Organisateurs des Mordes, uns übrig läßt, indem ihr uns nöthigt, die Mordtheorie zu adoptieren [H. i. O.].«11 1853, nun erneut im Exil in den USA , schob er eine selbständige Broschüre nach, die seine Mordüberlegungen ausweitete. Hier empfiehlt er als Strategie: »Es kommt also vor allen Dingen darauf an, das Uebergewicht an massenhaften Zerstörungsmitteln, die wir nicht zur Verfügung haben und haben können, aufzuheben durch gleichsam homöopathische Anwendung drastischer Zerstörungsstoffe, deren Beschaffung oder Zubereitung nicht zu kostspielig ist und wenig Gefahr der Entdeckung mit sich führt. Diese Stoffe müssen sowohl beim Auswahlsmord gegen einzelne, besonders wichtige Personen, wie beim Massenmord angewandt werden können.«12 Mit einer Reihe fiktiver Presseartikel aus der nahen Zukunft endet die Broschüre. Der Leser erfährt von einer Zugentgleisung, verursacht durch Sprengstoff, die zahlreiche deutsche Fürsten in den Tod riss, von verbesserten Waffen, mit denen die anschließende Rebellion in Berlin verteidigt wurde, von der Nachricht: »Jeder, der für die Ordnung und Moralität der Gesellschaft irgend eine Bedeutung hat, muß Tag und Nacht für sein Leben zittern. Gift ist das allgemeine Losungswort der Revolutionäre geworden.«13 Mit dem Sieg der Revolution endet schließlich die Heinz’sche Mord-Utopie. Als Erfinder des Slogans Propaganda der Tat werden in der einschlägigen Literatur unterschiedliche Autoren genannt. Dass es in Sachen Revolution nicht um Worte, sondern Taten gehe, wurde zeitgenössisch im sozialistischen Lager häufig formuliert. Explizit unter der Überschrift »Propaganda der Tat« feierte 1877 der französische Arzt, Sozialist und Anarchist Paul Brousse (1844–1912) 10 11 12 13

Heinzen, K., Der Mord, in: Die Evolution 1 Jg. 26.1.1849, S. 1–3. Ebd., S. 2. Heinzen, K., Mord und Freiheit, New York 1851, S. 42. Ebd., S. 45.

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den Propagandawert des Aufstands der Pariser Kommune von 1871. Brousse hatte noch offengelassen, ob unter Taten grundsätzlich immer Gewaltakte zu verstehen seien. Andere wie Johannes Most wurden da deutlicher. Most sollte sich in der Epoche des »Sozialistengesetzes« zur Gallionsfigur zumindest des deutschen Strangs des terroristischen Anarchismus entwickeln. Der Buchbinder und Redakteur hatte eine typische Karriere sozialistischer Agitatoren zwischen politischen Versammlungen, Pressearbeit und Gefängnisaufenthalten hinter sich und war 1874 in den Reichstag eingezogen. Nach dem Erlass des »Sozialistengesetztes« 1878 gehörte er zu denjenigen, die sich mit dem gewaltlosen Kurs der Parteiführung nicht abfinden wollten. Er emigrierte nach London, gab dort die in oppositionellen Kreisen viel gelesene sozialistische Parteizeitung »Freiheit« heraus, die sich aber rasch zum Organ des Anarchismus entwickelte. Most, der viele Artikel in der »Freiheit« ohne Autorennennung selbst verfasste, nutzte Nachrichten über stattgefundene Attentate nicht nur dazu, deren Erfolge zu feiern, sondern erläuterte an den Fallbeispielen auch das nicht allzu elaborierte Theoriegebäude der Propaganda der Tat. Der Aktionist mit der Feder war anfangs insbesondere bei den sozialistischen deutschen Exilanten im europäischen Ausland äußerst einflussreich. Letztlich setzte sich die Parteiführung aber gegen ihn durch. Auf dem Parteitag der Sozialdemokraten in Wyden wurde er 1881 aus der Partei ausgeschlossen. Ein begeisterter Artikel über die Ermordung des russischen Zaren im gleichen Jahr brachte ihm einen längeren Gefängnisaufenthalt in England ein. Anschließend wanderte er in die USA aus. Die »Freiheit« erschien nach Mosts Emigration von 1882 bis 1906 in New York. Der Wandel ihres Untertitels von »Sozialdemokratisches Organ« über »Organ der revolutionären Sozialisten« zum »Internationalen Organ der Anarchisten deutscher Sprache« spiegelt Mosts politischen Weg. Im Januar 1879 ließ Most die Leser der »Freiheit« noch wissen, dass der »Attentats Humbug« im Stile der gescheiterten Attentate auf den Kaiser von 1878 in erster Linie der Reaktion nütze, weil diese aus den Anschlägen die Legitimation bezöge, die Sozialdemokratie zu verfolgen.14 Zwei Wochen später waren in der »Freiheit« Auszüge der Anwaltsrede zu lesen, mit der dieser den Anarchisten Giovanni Passannante (1849–1910) verteidigte. Der anarchistische Aktivist hatte im November 1878 vergeblich versucht, König Umberto I. von Italien umzubringen. Wir erfahren über den Attentäter, der Anwalt glaubte: »einen Cyniker zu finden«.15 Er fand stattdessen »einen Unglücklichen«, der ihm »Theilnahme und fast Achtung einflösste. … Es ist in ihm zugleich etwas Mystisches und Einfaches«. Und er kam zu dem Schluss, »daß es schwierig ist, 14 Attentats-Humbug und kein Ende, in: Freiheit, 4.1.1879, S. 3. 15 Socialpolitische Rundschau, in: Freiheit, 18.1.1879, S. 3. Hieraus auch die folgenden Zitate.

Die Erfindung des Terrorismus im Anarchismus

so viele Gedanken zusammen zu finden, die zu gleicher Zeit edler, gerechter und mehr von Liebe zur Menschheit und Sittlichkeit erfüllt wären.« Anlässlich der Ermordung des Gouverneurs von Charkow konstatierte Most im März 1879 in der »Freiheit«: »Natürlich ist alle Welt entrüstet über den Streich, wir vermögen es nicht zu sein. Und wenn man uns deshalb als Vertheidiger des Meuchelmords hinstellen sollte, so ists uns einerlei. In Ländern, wo die nackte Tyrannei herrscht, ist … die Lynchjustiz im Einzelnen allein im Stande, den empörten Gefühlen der geknechteten Menschheit einigermassen Genug­ thuung zu gewähren. Gegen Räuber, Mörder und Tyrannen ist Alles erlaubt und zwar aus humanitären Gründen. Das ist wenigstens unsere Ansicht.«16 Die »Freiheit« feierte in der Folge jeden bekannt werdenden anarchistischen Anschlagsversuch. Aber Most lieferte darüber hinaus eine theoretische Begründung der Propaganda der Tat. »Nie und nirgends ist einem Anarchisten eingefallen, sich einzubilden, daß durch Vernichtung einzelner Personen vorläufig an und für sich Wesentliches im Sinne der sozialen Revolution gewonnen werden könnte«, erläuterte er in einem Artikel 1887. »Es war stets angenommen worden, daß jede diesbezügliche That nur dann von praktischem Werthe sei, wenn der damit erzielte Effekt geeignet ist, Propaganda [H. i. O.] zu machen, d. h. bei den Volksmassen Beifall zu erwecken, sie für die Thäter und mithin für die Partei, welcher dieselben angehören, zu begeistern, ihren Mannesmuth zu erwecken, ihre Kühnheit anzufachen und überhaupt solche Eigenschaften in ihnen zur Entwickelung zu treiben, welche für die Sache der Revolution unentbehrlich sind und mithin dieselbe im hohen Grade fördern.«17 Man müsse sich zu Nutzen machen, »daß Aktionen der angedeuteten Art augenblicklich in der ganzen Welt zur Kenntniß kommen und damit allgemein zu Diskussionen inclusive Agitationen führen, welche kein Buch, keine Zeitung, kein Flugblatt, keine Rede erzielen kann, weil die anregende Wirksamkeit solcher Agitationsmittel auf den Leser- oder Hörerkreis, der davon erreicht wird, beschränkt ist [H. i. O.].«18 Mit diesen Überlegungen stand Most keineswegs allein. Er teilte sie mit einflussreichen zeitgenössischen Repräsentanten der europäischen /  amerikanischen anarchistischen Bewegung. Doch den Propagandawert des politischen Mordes hat besonders er betont und die entsprechende Propaganda in seiner Zeitung umgesetzt.

16 Socialpolitische Rundschau, in: Freiheit, 1.3.1879, S. 3. Most schreibt Charkon, meint aber wohl Charkow. 17 Propaganda der That, in: Freiheit, 16.4.1887, S. 1. 18 Ebd.

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Die Trägergruppen des gewaltbereiten Anarchismus und ihre Anschläge Was ist über anarchistische Untergrundgruppierungen mit mehr oder weniger terroristischem Programm und ihre Aktionen in Europa bekannt? Gesichertes Wissen ist rar. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts sollen sich politische Geheimgesellschaften in Europa verdoppelt haben. Anarchistische Gruppierungen gab es in den meisten europäischen Ländern und in den USA . Den Überwachungsberichten der preußischen Polizei zufolge verdienten in der Epoche des Wilhelminischen Kaiserreichs vor allem belgische, französische und rus­sische Anarchisten – neben den selbstverständlich intensiv beobachteten deutschen – besondere Aufmerksamkeit.19 Die Polizeiberichte bestätigen im Übrigen die internationale Vernetzung der Aktivisten. Viele wechselten wohl vor allem wegen der üblichen staatlichen Verfolgung beständig zwischen den einzelnen europäischen Ländern hin und her. Sie publizierten transnational und organisierten internationale Kongresse. Mancher, so beispielsweise Bakunin, machte auf seinen Fluchtwegen Umwege über die USA , um wieder in Europa einreisen zu können. Als Beispiele ausgewählte anarchistische Milieus im Deutschen Reich, Frankreich und Russland können helfen, die Szenerie zu veranschaulichen. Im frisch gegründeten Wilhelminischen Kaiserreich gab es anscheinend vor allem in den späten 1870er und 1880er Jahren eine Reihe von kleinen anarchistischen Gruppierungen, die eine Serie von Anschlägen planten und auch durchführten. Es soll sich um etwa 50 Zellen mit 200 bis 300 Mitgliedern und höchstens 1.000 bis 2.000 Sympathisanten gehandelt haben. Die staatlichen Überwachungsbehörden gingen im Jahr 1910 von ca. 2.000 Anarchisten aus. Davon sollen rund 400 in Berlin gelebt haben. Als weitere Zentren galten im deutschen Süden Ludwigshafen, München und Nürnberg, ohne dass diese Gruppierungen in gewaltsamen Aktionen nennenswert auf sich aufmerksam machten. Genaueres ist nicht bekannt. Um der Entdeckungsgefahr und Verfolgung seitens der staatlichen Behörden zu entgehen, hielt meist nur ein Mitglied der jeweiligen anarchistischen Zelle Kontakt zur nächsten Gruppierung. Als konspirative kleine Gemeinschaften formierten sie sich nicht unter einer gemeinsamen in den Quellen manifestierten Organisation. Entsprechend mahnte Most in Anlehnung an den »Katechismus eines Revolutionärs« Sergei Nechaevs (1847–1882) in der »Freiheit«: »Wir haben es schon oft gesagt und wir wiederholen es heute wieder: Revolutionäre Thaten müssen aus individu19 Vgl. Dokumente aus geheimen Archiven. Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung 1878–1913, Bd. 1, 1878–1889, bearbeitet von D. Fricke und R. Knaack, Weimar 1983.

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eller Initiative hervorgehen. Eine Aktion, die ein Einzelner vollbringen kann, braucht ein Zweiter, wer derselbe auch immer sei, nicht eher zu kennen, als bis er sie als vollendete Thatsache durch die Blätter erfährt [H. i. O.].«20 Brauche man Mittäter, so seien diese erst unmittelbar vor der Tat einzuweihen und hätten dann ohne Zögern ans Werk zu gehen. Allzu lange Diskussionen seien ein Beweis, dass die Aktion zum Scheitern verurteilt sei. »Mitwisser, die nicht gleichzeitig Mitthäter sind, haben starke Anlage Verräther zu werden.« Flogen die Täter von Anschlägen oder Anschlagsversuchen auf, so bemühten sie sich in der Regel vor Gericht, die Verantwortung alleine zu übernehmen und etwaige Mittäter und Mitwisser soweit irgend möglich zu entlasten. Bekannt wurden im Deutschland vor allem die Attentatsversuche von Max Hödel (1857–1878) und Karl Eduard Nobiling (1848–1878) auf den deutschen Kaiser. Beide hatten nachweislich Kontakte ins sozialistische und anarchistische Milieu. Bismarck bemühte sich, die Taten als Auftragsmorde der deutschen Sozialdemokratie belegen zu lassen. Obwohl dies misslang, dienten die beiden Anschläge als Legitimation des »Sozialistengesetzes«. Most sah in Hödel einen Jünger August Reinsdorfs, von dem noch zu berichten sein wird. Doch die Belege für diese Verbindung sind schwach. Vage Kontakte Nobilings zu Gal­ lionsfiguren des Anarchismus wie Paul Brousse, von denen Carlson berichtet,21 hat die Berliner Polizei nicht verfolgt und so gelten die beiden Attentäter noch heute als Einzeltäter mit nicht eindeutig zu verortenden oder einzuordnen­ den politischen Kontakten. Aber: »Ohne ein Mindestmaß an Solidarität und logistischer Unterstützung aus dem Milieu (Unterschlupf, Informations­ beschaffung, Besorgen von Sprengstoff, Finanzierung usw.)« wären solche und ähnliche Gewaltakte nicht durchführbar gewesen.22 Die Anlage zu einem Anschlag von »unabsehbarer Tragweite« hatte ein ebenfalls scheiternder Mordplan des in der anarchistischen Szene bekannten August Reinsdorf (1849–1885).23 Er bereitete einen Sprengstoffanschlag anlässlich der Enthüllung des Niederwalddenkmals am 28.9.1883 vor. Das monumentale Denkmal bei Rüdesheim am Rhein hatte eine 6-jährige Bauzeit hinter sich und sollte an den Sieg über Frankreich 1870/1871 und die Reichseinigung unter Führung Preußens erinnern. An den Eröffnungsfeierlichkeiten wollten Kaiser Wilhelm I. und zahlreiche weitere deutsche Fürsten teilnehmen. Reinsdorf plante eine Dynamitexplosion, übte einige Wochen zuvor mittels einer Explosion in Elberfeld und besorgte das nötige Dynamit. Durch einen 20 Die Propaganda der That, in: Freiheit, 30.7.1887, S. 1. Hieraus auch das folgende Zitat. 21 Vgl. Carlson, S. 144–149. 22 Lemmes, F., Der anarchistische Terrorismus des 19. Jahrhunderts und sein soziales Umfeld, in: Malthaner, St. u. P.  Waldmann, Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen, Frankfurt a. M. 2012, S. 73–117, hier: S. 82. 23 Wagner, J., Missionare der Gewalt. Lebensläufe deutscher Terroristen im Kaiserreich Heidelberg 1980, S. 81.

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Krankenhausaufenthalt an der Aktion gehindert, übertrug er die Durchführung zwei Gesinnungsgenossen. Doch der Plan scheiterte. Die Lunte war durch Regen nass geworden und ließ sich nicht entzünden. Frankreich gilt neben Spanien als das Land mit den meisten anarchistischen Anschlägen in Europa. Wie in einem Land mit zentralistischer Tradition nicht anders zu erwarten, fanden die meisten terroristischen Aktionen in Paris statt, aber es kam auch zu Anschlagserien beispielsweise in Lyon und Attentaten in den Ardennen. Sie häuften sich in den 1880er und 1890er Jahren. Vielfach handelte es sich um Täter, die einmal gefasst, vor Gericht in gewohnter anarchistischer Manier die alleinige Verantwortung übernahmen. Doch die Forschung geht davon aus, dass sie jeweils auf kleine anarchistische Unterstützergruppen hatten bauen können. Den Berichten der Überwachungsbehörden zufolge handelte es sich in Frankreich um 2.000–3.000 gewaltbereite Aktivisten. Einer der bekanntesten und Mythen umsponnenen Attentäter, François Claudius Koënigstein, genannt Ravachol (1859–1892), verstand sich als Rächer der Entrechteten. Am 1. Mai 1891 hatte im nordfranzösischen Fourmies das Militär in eine Kundgebung geschossen, neun Menschen getötet und zahlreiche weitere verwundet. Am gleichen Tag hatte sich die Polizei eine Schießerei mit demonstrierenden Anarchisten in Clichy gelieferte, was zu drakonischen Strafen gegen die beteiligten Aufrüher führte. Ravachol antwortete mit Bomben in den Häusern des vorsitzenden Richters und des Staatsanwalts in Clichy, legte auch eine Bombe in die Kaserne der militärischen Einheit, die für das Massaker von Fourmies verantwortlich war. Diese und weitere Anschläge, auch Morde, der ihm zugerechnet wurden, zu denen er sich aber nicht bekannte, führten 1892 schließlich zu seiner Hinrichtung. Vage Angaben zum russischen Anarchismus gehen ohne rechten Nachweis von rund 1.000 Akteuren aus. Dort spaltete sich aus dem sozialistischen Oppositionslager in den späten 1870ern die bald berühmt-berüchtigte radikale Gruppierung »Narodnaja Volja« ab und verschrieb sich der Propaganda der Tat. Im Unterschied zu den nur lose mit einander verbundenen anarchistischen Individuen oder kleinsten Zirkeln im sonstigen Europa nutzte mit »Narodnaja Volja« eine bekannte politische Organisation politische Gewalt als Aktionsform. Sie machte durch aufsehenerregende Attentate von sich Reden. Ihr spektakulärster Anschlag dürfte die Ermordung Zar Alexander  II . am 1. März 1881 gewesen sein. Doch schon zuvor waren viele Mitglieder der Gruppe verhaftet worden. Die übrigen wurden 1881 gestellt und hingerichtet oder zu langen Haftstrafen verurteilt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts häuften sich in Russland erneut terroristische Aktionsformen. Etliche Minister fielen Anschlägen von Sozialrevolutionären zum Opfer. Die gewaltbereite Bewegung verstärkte sich wohl deshalb erneut, weil sich nun die »Sozialrevolutionäre Partei« zur politischen Gewalt als Aktionsform auf dem Weg zur Revolution bekannte und so insgesamt den gewaltbereiten Aktionismus stützte. In der sogenannten

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heroischen Periode vor der Revolution 1905 fielen u. a. ein Bildungs-, zwei Innenminister, ein Generalgouverneur und ein Mitglied der Zarenfamilie Anschlägen zum Opfer. Europäische anarchistische Zirkel im Vergleich Angesichts der raren Quellen zu den Hintergründen der Gewaltaktionen fällt eine über die Ereignisgeschichte hinausreichende geschichtswissenschaftliche Untersuchung der anarchistischen Gewaltakte und ihrer Träger schwer. In begrenztem Umfang mag eine vergleichende Analyse dazu beitragen, das historische Wissen zu vertiefen. Die Methode des transnationalen oder internationalen Vergleichs gilt als eine Königsdisziplin in der Geschichtswissenschaft.24 Der Vergleich erfordert, Kategorien zu bestimmen, die zur Deutung der Untersuchungsgegenstände wesentlich sind. Er setzt voraus, dass auf jeweils nationaler Ebene genügend Informationen vorhanden sind und diese überhaupt einen Vergleich ermöglichen. Sind diese Vorbedingungen erfüllt, dann befördert ein Vergleich grundsätzlich zweierlei: die Herausarbeitung von Typischem oder national Besonderem und ggf. das Überbrücken von Überlieferungslücken mit Hilfe von Analogieschlüssen aus anderen Fallstudien. Von zentraler Bedeutung bei diesem methodischen Ansatz ist also die Frage, welche Aspekte für eine Thesenbildung in einem historischen Vergleich des europäischen Anarchismus in der Phase der Propaganda der Tat aufgenommen werden können. Vergleichen lassen sich die politischen, sozialen und kulturellen Ausgangslagen und Hintergründe der Anschläge in den betroffenen Ländern. Komparativ analysiert werden können weiterhin recht konkrete zeitgenössische Versuche, Täterprofile zu erstellen bzw. den typischen Terroristen zu charakterisieren. Schließlich lassen sich die Aktionen selbst vergleichen, ihre nationale und geschichtswissenschaftliche Rezeption und die nationalen bzw. internationalen politischen Folgen des anarchistischen Terrorismus. Eine Analyse der politischen und kulturellen Hintergründe der Propaganda der Tat lässt den Eindruck entstehen, dass der gewaltbereite anarchistische Aktionismus dann besonders aktiv und erfolgreich war, wenn seine Deutung des bestehenden Herrschaftssystems als Unrechtsystem zumindest von relativ großen Teilöffentlichkeiten mitgetragen wurde. Dabei scheint die Frage, wie viel politische Partizipation den Staatsbürgern gewährt wurde, durchaus relevant gewesen zu sein. Für das Wilhelminische Kaiserreich lässt sich jenseits der Frage, ob sich das politische System auf dem Weg zur Demokratie befand oder nicht, konstatieren, dass die junge Arbeiterbewegung auf massive Ablehnung 24 Vgl. Kaelble, H., Historischer Vergleich, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 14.08.2012, http://docupedia.de//zg/ (20.2.2016) und die dort genannte Literatur.

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der staatstragenden Eliten stieß. Viele Karrieren später höchst honoriger, sozialdemokratischer Abgeordneter begannen als Wechselspiel zwischen politischer Agitation und Gefängnisaufenthalten. Das »Sozialistengesetz« sorgte 1878 zusätzlich dafür, einen, wenn auch kleinen, Teil der sozialdemokratischen Aktivisten dem friedlichen Weg zur Revolution zu entfremden. In Frankreich hat die Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 ein Jahrzehnt eingeleitet, in dem sich die Kommunarden, unter ihnen auch viele Anarchisten, starken Repressalien ausgesetzt sahen. Doch wohl auch aufgrund des großen Rückhalts der sozialistischen und anarchistischen Bewegung in breiten Bevölkerungskreisen, lockerte sich der polizeiliche Druck schon bald wieder, wobei im Einzelfall die Ordnungsbehörden besonders hart zuschlagen konnten. Zumindest äußerten sich die deutschen Überwachungsbehörden entsprechend kritisch über die grundlegende Laxheit der französischen Polizei. Es mag dem schwankenden Kurs der französischen Ordnungshüter einerseits, andererseits dem breiten Unterstützermilieu geschuldet sein, dass sich die Propaganda der Tat bald großer Zustimmung erfreuen konnte. In Russland stieß in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das Fehlen eines rechtsstaatlichen Systems und verfasster Partizipationsangebote auf breite Kritik in der kleinen, gebildeten Elite. Eine militarisierte staatliche Sicherheitspolitik als Prävention gegen friedliche wie gewaltbereite Opposition, ein eingeschränktes Versammlungsrecht und rigide Pressezensur trugen dazu bei, dass weite Kreise der Aristokratie und des Bürgertums das zaristische Herrschaftssystem in Frage stellten. »Der Nihilismus ist spezifisch russisch«, schrieb Paul Liman 1912 in seiner Überblicksdarstellung über den »politische[n] Mord im Wandel der Geschichte«.25 »Er konnte nur in diesem Lande der halben Bildung und der halben Tatkraft, des Hungers nach Ideen und der geistigen Unreife erwachsen, dort, wo seit den Tagen des Boris Godunow die Geister in Fesseln lagen, während im Westen, im Süden Europas eine neue glänzende Kultur entstand.«26 Aus welchen Kreisen stammten die anarchistischen Täter? Die These liegt nahe, dass in Abhängigkeit vom Ausmaß des antidemokratischen Kurses der jeweiligen Regierungen schmalere oder breitere Sektoren der Gesellschaft dem aktiven terroristischen Milieu zuzurechnen waren. In den Debatten der »Ersten Internationalen« über den richtigen Weg zum Sozialismus setzte die Mehrheit der deutschen Sozialisten zumindest vorderhand auf den parlamentarischen Weg. Die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) schloss die bekanntesten, dem Anarchismus nahestehenden Parteimitglieder in den 1880er Jahren aus und distanzierte sich eindeutig vom Gewaltweg als politischer Strategie. Doch das »Sozialistengesetz« verschaffte dem Anarchismus Zulauf. Nach Linse war der deutsche Anarchismus eine Großstadtbewegung und die meisten Anarchisten 25 Liman, S. 238. 26 Ebd., Boris Godunow (1552–1605), Zar von Russland.

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Handwerker oder gelernte Arbeiter, ergänzt von einer kleinen Gruppe Intellektueller. Die schriftstellerisch Tätigen unter ihnen entstammten häufig Gewerben rund um den Buchdruck. Ein spezifisches Profil des gewaltbereiten Anarchisten zeichnet Linse nicht. Den zeitgenössischen Strafrechtlern erschienen die anarchistischen Gewalttäter, inspiriert durch Cesare Lombrosos bekanntes Buch über die Anarchisten als krankhafte Individualisten, die »mehr den Psychiater und Kriminalisten als den Staatsmann angingen«, eben als »gemeingefährlich geisteskrank«.27 Angeregt durch den aktuellen Terrorismus der 1970er Jahre recherchierte der Jurist Joachim Wagner Biografien von deutschsprachigen (männlichen) Anarchisten der Kaiserreichepoche und versuchte, ein typisches Anarchistenprofil zu erstellen.28 Seinen Untersuchungen zufolge kamen alle aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Sie kennzeichnete eine enge Bindung an die Mutter und schon in der Kindheit aggressive Reaktionen auf familiäre und soziale Probleme. Wagner schloss aus den Kindheitsverläufen auf eine nachhaltig gestörte kindliche Sozialisation. Eine Handwerkslehre und nachfolgende Wanderschaft stellten weitere Lebensetappen der meisten Untersuchten dar. Konfrontiert mit den sozialen Problemen ihrer Zeit wandten sich viele der Sozialdemokratie zu und machten bald als radikale Agitatoren auf sich aufmerksam. Ebendiese Radikalität brachte den meisten späteren Anarchisten gleichermaßen Konflikte mit der Arbeiterbewegung und der Polizei ein und sie führte zur Isolation im eigenen Milieu. Wagner zufolge trieb die konstatierte Isolierung die Radikalisierung der anarchistischen Akteure voran. Nur schwach in familiäre Beziehungen eingebunden, religionskritisch und nur in den eigenen engen Zirkeln sich bewegend, charakterisiere zwar nicht geistige Krankheit, aber Realitätsverlust den typischen Anarchisten. Gewalt erscheine schließlich als einziges Mittel, das propagierte Ziel zu erreichen, selbst um den Preis des eigenen Lebens. Auch in Frankreich setzte sich das Sympathisantenlager des Anarchismus mehrheitlich aus selbständigen Handwerkern und Arbeitern, unter ihnen besonders viele Buchdrucker, zusammen. Doch zahlreiche Intellektuelle machten den Anarchismus salonfähig. Wie im Deutschen Reich formierte sich der Anarchismus als Abspaltung der sozialistischen Bewegung. Viele kleine selbständige Gruppierungen waren lose miteinander vernetzt und organisierten die Verbreitung von Druckerzeugnissen, Diskussionszirkel und die Unterstützung von Flüchtigen. Welcher Teil der Bewegung sich zu Gewalttaten bereitfand, ist wenig untersucht. Ein Sozialprofil des typischen französischen Aktivisten der Propaganda der Tat lässt sich nicht beschreiben. Es gab Einzeltäter und 27 Lenz, Der Anarchismus und das Strafrecht, in: ZStW 16 (1896), S. 3 und Seuffert, H., Anarchismus und Strafrecht, Berlin 1899, S. 8, zitiert nach Wagner, Missionare der Gewalt, S. 127. Vgl. auch Lombroso, C., Die Anarchisten. Eine kriminalpsychologische und sociologische Studie, Hamburg 1895. 28 Vgl. Wagner, Missionare der Gewalt.

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gewaltbereite Gruppen. Bekannte Attentäter wie Ravachol handelten bei ihren Anschlägen nicht ohne Unterstützung. Auch wenn die zeitgenössischen Berichte nicht selten das Bild von Attentätern als Exzentrikern und aufgrund individueller persönlicher Schicksalsschläge Verzweifelter malen, waren sie doch eng mit der breiten anarchistischen Bewegung verbunden und wurden von dieser mit Sympathie getragen. In Russland, das in der Frage der demokratischen Ausgestaltung des politischen Systems zweifellos das Schlusslicht der betroffenen Länder bildete, gehörten terroristische Akteure allen Gesellschaftsschichten an und es gab »eine recht breite Unterstützerszene [H. i. O.] in der zaristischen Gesellschaft«.29 Die relativ bekannte Aktivistengruppierung der »Narodnaja Volja« bestand in ihrem harten Kern aus etwa vierzig Angehörigen des Komitees, rund 500 weiteren Mitgliedern. Astrid von Borcke schätzt die Sympathisantenzahl auf 3.000–4.000. Es waren überwiegend Menschen in einem Alter unter dreißig Jahren. Sie gehörten dem Adel oder dem gehobenen Bürgertum an. Die meisten von ihnen verfügten über eine höhere Bildung und hatten in Russland oder im Ausland studiert. Es gab eine ganze Reihe von Frauen in der Bewegung, was zeitgenössisch besonders auffiel. Insgesamt macht der Vergleich mit dem deutschsprachigen und französischen Anarchismus deutlich, dass der frühe russische Anarchismus nicht aus der Arbeiterbewegung entstand, was angesichts der wirtschaftlichen Rückständigkeit Russlands auch nicht weiter verwunderlich ist. Die Opposition zum Herrschaftssystem wurde im Zarenreich der 1870er und 1880er Jahre von den gesellschaftlichen Eliten getragen und so nimmt es nicht Wunder, dass auch die anarchistischen Akteure dieser Gesellschaftsformation entstammten. Erst in der neuen Welle politischer Gewalt um die Wende zum 20. Jahrhundert findet sich unter sozialen Gesichtspunkten ein breiteres Akteursfeld. Jetzt wurden die Anschläge auch von Kreisen der Arbeiterbewegung getragen, die sich im Zuge der wachsenden Industrialisierung Russlands zu formieren begannen. Die Vergleichbarkeit mit den deutschen Anarchisten der 1870/1880er Jahre ist offensichtlich. »In addition to the fact that they often lived in miserable e­ conomic conditions, psychological adjustment was exceedingly slow. It was these people, then, who were most susceptible to radical agitation and propaganda following the outbreak or revolutionary events in 1905.«30 Anna Geifman geht davon aus, dass rund die Hälfte der Anschläge in dieser Epoche von Arbeitern ausgeführt wurde, Frauen spielen nun nicht mehr die Rolle, die sie zu Beginn des russischen Anarchismus eingenommen haben. Im europaweit publizierten 29 Häfner, L., Russland als Geburtsland des modernen Terrorismus oder: Das classische Land des politischen Attentats, in: Weinhauer, K. und Requate, J. (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2012, S. 65–97, hier: S. 78. 30 Geifman, A., Thou shalt kill. Revolutionary terrorism in Russia. 1894–1917, Princeton 1995, S. 11.

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»Katechismus eines Revolutionärs« hatte 1869 der Freund Bakunins, Sergei Nechaev, das Idealprofil eines Anarchisten gezeichnet. Zu lesen war: »Der Revolutionär ist ein Verdammter. Er hat kein Interesse an sich selbst, keine Affairen, keine Gefühle, keine Beziehungen, keinen Besitz nicht einmal einen Namen.«31 Sein Interesse ist einzig auf die Revolution gerichtet und er hat »jede Verbindung zur bürgerlichen Ordnung und der gesamten zivilisierten Welt gelöst.« Alle seine Beziehungen sind dem Nutzen für die Revolution untergeordnet. »Alles und Jeder muß für ihn gleich hassenswert sein. Schlimm für ihn, wenn er eine Familie hat in dieser Welt, Freunde und Beziehungen; er ist kein Revolutionär, wenn sie seine Hand lähmen können.« Hier wird das mythisch überhöhte Bild des Berufsrevolutionärs entworfen, der sein Leben den politischen Zielen unterordnet und den die eigene konspirative Identität zur sozialen Vereinsamung verurteilt. Ob die russischen Anarchisten sich an Nechaevs Charakteristik orientierten, sei dahingestellt. Die Ähnlichkeiten mit den Überlegungen Wagners zur gesellschaftlichen Isolation des deutschen Anarchisten sind jedoch auffällig. Wie wurden die anarchistischen Attentate in den Medien aufgenommen? Der Vergleich zeigt, dass die jeweilige anarchistische Gewaltszene von medialer Sympathie zumindest in Teilöffentlichkeiten abhängig war und mit dem Verschwinden dieser Unterstützung auch eine wesentliche Legitimationsbasis verlor. Dass die mit der Propaganda der Tat sympathisierenden Milieus in der Regel gelingende Anschläge in den einschlägigen Zeitungen feierten und die Akteure misslingender Attentate zu Märtyrern stilisierten, ist für alle von Terrorismus betroffenen Länder belegt und nicht weiter verwunderlich. Aber auch in den Zeitungen, die nicht dem sozialistischen oder anarchistischen Lager zugerechnet werden, traf Terrorismus auf eine gewisse Sympathie, wenn es sich bei den Zielen der Anschläge um antidemokratische Führungsgruppen handelte. Insbesondere die deutschen sozialdemokratischen Medien hatten sich immer dem Spagat zwischen Verurteilung von Gewalt und Sympathiekundgebung angesichts der konstatierten sozialen und politischen Ursachen zu stellen. Ähnlich reagierte die französische linke Öffentlichkeit auf Gerichtsurteile gegen Anarchisten, die häufig als zu hart kritisiert wurden. In Frankreich sangen vermutlich nicht nur gewaltbereite Anarchisten »La Ravachole« mit dem Refrain: »Dansons la Ravachole, Dansons la Ravachole, Vive le son, vive le son, vive le son de l’explosion, vive le son de l’explosion, ça ira, ça ira.«32 Die mediale Zustimmung trifft im Falle Russlands nicht nur für 31 Nechaev, Katechismus eines Revolutionärs, abgedruckt in: Laqueur, Zeugnisse politischer Gewalt, S. 56–59. Hieraus auch die folgenden Zitate. 32 Zitiert nach Requate, J., Die Faszination anarchistischer Attentate im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in: Weinhauer, K. u. J.  Requate (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2012, S. 99–120, hier: S. 100.

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die innerrussischen Medien, sondern für die gesamte europäische liberale Medienlandschaft zu. »Wenngleich Gewaltexzesse verurteilt wurden, zeigte man doch ein gewisses Verständnis, ja äußerte sogar Bewunderung für die jugendlichen Idealisten, die um hehrer Ziele willen die bestehende, in vielerlei Hinsicht als ungerecht empfundene Ordnung und deren politische Vertreter angriffen.«33 Welche politischen Folgen zeitigte die Propaganda der Tat? Jenseits der Reaktion der Sympathisanten und der Medien lieferte der gewaltbereite Anarchismus überall Legitimationsmuster für staatliches Handeln. In den meisten Ländern, deren Herrschaftseliten sich nicht eben auf dem Weg zur Demokratie befanden, nutzten konservative Kreise die terroristischen Anschläge, um Menschenrechtsforderungen zurückzuweisen, die Pressfreiheit einzuschränken und die Opposition zu kriminalisieren. »Nahezu überall in Europa wurden Sondergesetze erlassen, die die Grenze zwischen der Verfolgung von Tätern und der Verfolgung politischer Gesinnung verwischten oder überschritten.«34 Andrew Carlson kommt zu dem Ergebnis, dass die Propaganda der Tat Bismarck überhaupt erst die Legitimation geliefert habe, den preußischen Überwachungsstaat im später so häufig kritisierten Maße auszubauen.35 So kamen im eben frisch gegründeten Wilhelminischen Kaiserreich und seinem sich erst noch entfalten müssenden parlamentarischen System Bismarck die obskuren Attentatsversuche auf den Kaiser gerade recht, um die sozialistische Bewegung in ihre Schranken zu weisen und mit Hilfe des »Sozialistengesetzes« zu kriminalisieren. In Frankreich schaukelten sich in den 1890er Jahren staatlicher Druck auf die Arbeiterbewegung und anarchistische Gewaltakte wechselseitig hoch. In Russland forderten (erfolgreich) regierungstreue Kreise nach jedem spektakulären Anschlag eine stärkere Gesinnungskontrolle in Schulen und Universitäten, einen Ausbau der Zensur und die Stärkung polizeilicher Überwachung der Oppositionskräfte. Doch das Ansteigen anarchistischer Gewalt provozierte nicht nur erhöhten staatlichen Druck, sondern auch heftige Debatten im anarchistischen und sozialistischen Lager. Wie Lemmes schreibt, führte »überall in Europa … terroristische Gewalt – je nach Kontext eher als Ursache, Anlass oder Katalysator – früher oder später zu Konflikten innerhalb der anarchistischen Bewegung«.36 Auf lange Sicht scheint aber erst das Nachlassen staatlichen Drucks, eine Deeskalation von Oben wie die Integration der Arbeiterbewegung in die bestehenden politi33 Waldmann, Terrorismus, S. 53. 34 Lemmes, S. 77. 35 Vgl. Carlson, A. R., Anarchismus und individueller Terror im Deutschen Kaiserreich, 1870–1890, in: Mommsen, W. J. u. G. Hirschfeld (Hg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 207–236, hier: S. 218–220. 36 Lemmes, S. 102.

Die Erfindung des Terrorismus im Anarchismus

schen Systeme der zentrale politische Weg gewesen zu sein, dem gewaltbereiten Anarchismus die gesellschaftliche Basis zu entziehen. Nicht nur im Deutschen Reich und in Frankreich gingen spätestens nach der Jahrhundertwende die Anschläge kontinuierlich zurück. Selbst in Russland ist ein Abschwung der Propaganda der Tat nach der zweiten Hochphase zwischen 1905 und 1907 zu verzeichnen, um erst in der Revolutionsphase 1917 wieder anzusteigen. Doch es fehlt insgesamt an Forschung, die die gesellschaftlichen Ursachen des Abschwungs des anarchistischen Terrorismus vertieft untersucht.

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Die Delegitimierung staatlicher Ordnung durch oppositionelle Gewaltbereitschaft in der Zwischenkriegszeit

»Kein Versuch, … den historischen Ort der Weimarer Republik im Zusammenhang der deutschen Geschichte zu bestimmen, kann abstrahieren von dem, was nach Weimar kam [H. i. O.].«1 Mit diesen Worten leiten Eberhard Kolb und Dirk Schumann einen Überblick über »Grundprobleme und Tendenzen der Forschung« zur ersten deutschen Demokratie ein und erklären, Karl Dietrich Erdmanns Feststellung aus dem Jahr 1955 zitierend: »Alle Forschung zur Geschichte der Weimarer Republik steht mit Notwendigkeit  – ausgesprochen oder unausgesprochen – unter der Frage nach den Ursachen ihres Zusammenbruchs.«2 Die historische Forschung hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Fülle von Erklärungsansätzen zur Verfügung gestellt, die das Scheitern der ersten deutschen Demokratie beleuchten. Als wichtig erachtet werden u. a. Rolle und Potential antidemokratischer Kräfte, die sozialen und kulturellen Belastungen durch die Versailler Friedensordnung, auch Inflation und Weltwirtschaftskrise. Kolb und Schumann benennen als zentrale Wegbereiter des Scheiterns der Demokratie institutionelle Rahmenbedingungen wie etwa die starken verfassungsmäßigen Rechte des Reichspräsidenten, die ökonomische Entwicklung, die politische Kultur und die Demokratieferne der Eliten, Veränderungen im sozialen Gefüge, so z. B. die Destabilisierung im Mittelstand, ideologische Faktoren wie die autoritären Traditionen und der extreme Nationalismus, massenpsychologische Faktoren und die Rolle einzelner Persönlichkeiten wie Hindenburg, Schleicher oder Papen.3 Im Kontext von politischer Gewalt und Terrorismus steht die Chiffre Weimar vor allem für eine historische Epoche, in der politische Gewalt allgegenwärtig war und in der die gesellschaftliche Gewaltbereitschaft sowie die damit verbundene Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols viel zum Untergang der Republik beitrugen.

1 Kolb, E. u. D. Schumann, Die Weimarer Republik, München 20138, S. 155. 2 Erdmann zitiert nach ebd. 3 Vgl. zum Themenkomplex Scheitern der Weimarer Republik: Kolb u. Schumann, ­S. 155– 166 und S. 255–278 und die dort genannte Literatur.

Die Delegitimierung staatlicher Ordnung in der Zwischenkriegszeit

Die Schwächung des staatlichen Gewaltmonopols Es misslang den Akteuren in Politik, Verwaltung und Justiz nahezu vollständig, das staatliche Gewaltmonopol zu sichern. Schon im Übergang vom Kaiserreich zur Republik fielen politische Entscheidungen, die einem Verzicht gleichkamen, die Herstellung von Sicherheit und Ordnung einzig staatlich kontrollierten Organen vorzubehalten. Infolge des Ebert-Groener-Bündnisses vom 10. November 1918 konnte die Oberste Heeresleitung mit dem Aufbau von Freiwilligenformationen, Vorläufern der späteren Freikorps, beginnen, die sich letztlich jeder staatlichen Kontrolle entzogen. Ihr Einsatz bei der Niederschlagung des Spartakus-Aufstandes und der Münchner Räterepublik zu Beginn des Jahres 1919 stärkte die paramilitärischen Verbände in ihrem Selbstverständnis als vaterländische Ordnungsmacht außerhalb der verfassten staatlichen Ordnung. Die in ihrer Führung antirepublikanisch eingestellte Reichswehr operierte bis 1923/1924 mit den paramilitärischen Bündnissen weitgehend selbständig in einer undurchsichtigen Grauzone. Mehrheitlich fühlten sich auch die Entscheidungsträger in Justiz und Verwaltung nicht der Republik verpflichtet, sondern dem wie auch immer definierten Vaterland. Es schien durch Reichswehr und paramilitärische Verbände eher repräsentiert als durch die Verfassung und die Arbeit der Parlamente. Im Kapp-Putsch 1920 zeigte sich, dass Teile der Reichswehr auch vor innenpolitischen Machtproben nicht zurückschreckten. Der Hitlerputsch 1923 und der gnädige juristische Umgang mit den nationalsozialistischen Umstürzlern veranschaulichten, welch zweifelhafte Stützen der jungen Demokratie in Verwaltung und Justiz zur Verfügung standen. Die Forschung geht von einigen ruhigeren Jahren in der Mitte der 1920er Jahre aus. Putsch-orientierte Kräfte hielten sich merklich zurück und setzten verstärkt auf den Aufbau von antidemokratischen parteipolitischen Massenbewegungen. Doch deren Gewaltpotential stand mit Nichten hinter den gewaltsamen Ausschreitungen der Anfangsjahre der Republik zurück. Die wenigen Jahre zwischen 1919 und 1933 waren insgesamt geprägt durch eine Eskalation politisch motivierter Gewalttaten, deren Endziel der Systemwechsel darstellte. Legt man die gängigen Terrorismusdefinitionen zugrunde, dann bedienten sich systemkritische Linke wie Rechte in dieser Epoche beständig terroristischer Methoden als politisch verstandene Kampfmittel. Letztlich trifft die unterschiedlichen Formen alltäglicher politischer Gewalt eine Mitschuld am Untergang der Weimarer Republik. Die Forschung ist sich einig: »Die Republik von Weimar befand sich die längste Zeit ihres Bestehens in einer bürgerkriegsähnlichen Situation.«4 Politische und insbesondere ter4 Grässle-Münscher, J., Kriminelle Vereinigung: Von den Burschenschaften bis zur RAF, Hamburg 1991, S. 57.

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roristische Gewalt gab es in vielfältigen Erscheinungsformen. Bekannt sind neben den Putschversuchen und Aufständen zahlreiche Attentate. Auffällig ist in der Früh- und Endphase die überall vorhandene Gewalt auf der Straße. Die weitaus meisten Akte politisch motivierter Gewalt gehörten zur schwer fassbaren Form der Unruhen. Sie entstanden vergleichsweise spontan, waren von kürzerer Dauer und wiesen unterschiedliche Verläufe auf. Sie stehen nicht im Zentrum dieses Kapitels, sollen aber als Destabilisierungsmomente des staatlichen Gewaltmonopols zumindest in knapper Form benannt werden. Zur politischen Gewaltform der Unruhen zählten Zusammenstöße zwischen Gruppen politischer Gegner sowie zwischen politischen Gruppierungen und der Polizei, etwa im Zusammenhang mit öffentlichen Kundgebungen und Umzügen. Nahezu alltäglich waren Saalschlachten bei politischen Versammlungen. Dazu traten Überfälle auf politische Gegner, die häufig nachts stattfanden. Es ging den gewaltbereiten Akteuren nicht nur darum, den politischen Gegner zu bekämpfen. Linke wie Rechte untergruben das staatliche Gewaltmonopol und sie nutzten jede Chance, die parlamentarische Demokratie als Staatsform zu diskreditieren. Gemeinsam ist all diesen Gewaltformen, dass die Akteure den Kampf mit Waffengewalt zur Unterdrückung bzw. Eliminierung des politischen Gegners oder des Systems als selbstverständliches politisches Recht interpretierten.5 Und sie begriffen die gewaltsamen Auseinandersetzungen auf der Straße als Mittel der öffentlichen Meinungsbeeinflussung. 354 politische Morde von rechts gegenüber 22 von links zählte der engagierte Mathematiker Emil Julius Gumbel (1891–1966) allein zwischen 1919 und 1922. Dazu kamen unzählige Tötungsdelikte und Verletzungen im Gefolge von Demonstrationen und Straßenschlachten. Der Reichstag schuf sich 1922 eigens ein Gesetz zum Schutz der Republik, um der ausufernden Gewaltbereitschaft Herr zu werden.6 Seit 1930 ergoss sich ergänzend eine Flut von Notverordnungen über die deutschen Staatsbürger. Unerlaubter Waffenbesitz und politisch motivierte Gewalt gegen Sachen und Menschen sollten damit eingehegt werden. Dass der Reichstag den autoritär verhängten präsidialen Notverordnungen 1930 und 1932 mit politischen Amnestiegesetzen begegnete, welche die Straftäter wieder der Strafverfolgung entzogen, wirft ein bezeichnendes Licht auf die gesellschaftliche Situation. Letztlich blieben alle Versuche, das Gewaltmonopol des Staates zu retten, wirkungslos. Grundlegende Voraussetzungen für die allgegenwärtige politische Gewalt waren die konsequente Aushöhlung der Idee, dass dem Staat automatisch der Gehorsam aller rechtschaffenen Bürger zustehe, und der »Rückzug des Staates« aus seiner innen-

5 Vgl. hierzu Schumann, D., Politische Gewalt in der Weimarer Republik, 1918–1933, Essen 2001. 6 Gesetz vom 21. Juli 1922, in: RGBl 1, S. 585.

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politischen Sicherungsaufgabe.7 »Die Entlegitimierung eines Staatsgefüges, dem man feindlich gegenüberstand, machte den Widerstand gegen ihn zur moralischen Pflicht.«8 Politische Gewalt und das staatliche Gewaltmonopol als Thema des Reichstags Wie sehr die fragwürdige Haltung gegenüber politischer Gewalt nicht nur die Repräsentanten der extremistischen Parteien des linken und rechten Lagers prägte, sondern auch die politische Mitte charakterisierte, zeigen beispielsweise die Reichstagsdebatten um das geplante Amnestiegesetz im Jahr 1928. Amnestien für politische Straftäter waren in der Weimarer Republik eine verbreitete Praxis. Sie sollten dazu dienen, nach vorausgegangen Unruhen, Aufständen und deren Bekämpfung den sozialen Frieden wiederherzustellen. Andererseits waren sie dazu geeignet, die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber dem Einsatz von politischer Gewalt zu bestärken. Schon vor 1928 hatte es 1918, 1920, 1922 und 1925 anlässlich der Wahl Paul von Hindenburgs zum Reichspräsidenten vier Amnestien auf Reichsebene gegeben. Dazu traten immer wieder Einzelbegnadigungen. Seit 1927 machten sich die Parteien des linken und rechten Spektrums erneut für eine Amnestie politischer Gewalttäter stark. Im Juni 1928 beriet der Reichstag von neuem über diesbezüglich eingebrachte Gesetzesentwürfe der KPD, der NSDAP und der DNVP. Mit Hilfe eines Gesetzes sollten nun alle politischen militanten Aktionen mit Todesfolgen und der gezielte politisch motivierte Totschlag oder Mord, häufig als Fememord bezeichnet, begangen vor 1924, amnestiert werden.9 Interessant sind für die Frage der Gewaltakzeptanz in der Weimarer Republik die Deutungsmuster, die in der Gesetzesdebatte im Reichstag vorgebracht wurden. Friedrich Everling (1891–1958), Rechtsanwalt und Abgeordneter der DNVP, – er war wegen der Weigerung, einen Eid auf die Verfassung zu leisten, 1919 aus dem Vorbereitungsdienst des Auswärtigen Amtes entlassen worden  – führte in der Debatte aus, die Angehörigen der sog. Erfassungskommandos und Freikorps seien »Soldaten« gewesen, »nicht Arbeiter, Offiziere, nicht Angestellte, und daß sie sich mindestens als Soldaten fühlen durften,« mithin im staatlichen

7 Southern, D. B., Antidemokratischer Terror in der Weimarer Republik: Fememorde und Schwarze Reichswehr, in: Mommsen, W. J. u. G. Hirschfeld (Hg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror, Stuttgart 1982, S. 381–393, hier: S. 382. 8 Ebd., S. 384. 9 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Wahlperiode 1,1920/24–7.1932 = Bd. 344– 456, Berlin.

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oder halbstaatlichen Auftrag gehandelt hätten.10 »Sie, die Femeverurteilten, haben in nationaler Notwehr gehandelt. Das müssen wir immer und immer wieder feststellen, weil wir davon überzeugt sind, und weil wir diese nationale Notwehr dem System der Femehetze entgegenstellen wollen.  … Denken Sie denn nie daran, daß Sie, wenn Sie mit dem Ausdruck ›Feme‹ kommen, nach der historischen Anwendung dieses Wortes doch dem Staat, in dem Sie damals die Herrschaft in der Hand hatten, den Vorwurf machen, daß er Rechtsschutz und Rechtsfrieden nicht gewähren konnte? Wissen Sie nicht, dass der Begriff ›Feme‹ dadurch entstanden ist, daß im Mittelalter der Staat den Rechtsschutz nicht gewähren konnte und dieser Rechtsschutz von der Selbstjustiz übernommen wurde?« Der politische Mord und die politisch motivierte Gewalttat werden in dieser Deutung bewertet als das soldatische Eingreifen vaterlandsliebender Männer zur Beseitigung des nationalen Notstands angesichts eines Staates, der nicht in der Lage ist, für Rechtsschutz und Rechtsfrieden zu sorgen. Wilhelm Frick (1877–1946), Oberamtmann in München, NSDAP-Mitglied, ab 1933 Reichsminister des Innern, interpretierte die politischen Morde der Weimarer Anfangsjahre gar als Kampf gegen Hochverräter im nationalen Notstand. Er empfand es als »ungeheuren Skandal«, dass man »jene deutschen Männer, die uneigennützig, aus reinsten vaterländischen Motiven gehandelt haben«, dass man »solche Männer für die Unschädlichkeitsmachung von Verrätern, die damals in jenen Notstandszeiten auf legalem Weg nicht erfolgen konnte, zum Tode und zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt« habe.11 Der Abgeordnete Albrecht Wendhausen (1880–1945), Jurist und Rittergutsbesitzer in Mecklenburg, Mitglied der »Christlich-nationale[n] Bauern- und Landvolkpartei«, sekundierte: »Wer sein Vaterland liebt und wer aus dieser Liebe zu seinem Vaterlande Handlungen begeht, die sich gegen das geltende Strafrecht wenden mögen, verdient, daß ihm die höchste Vertretung des Landes Freiheit gewährt.«12 Auch der Vertreter der KPD, Emil Höllein (1880–1929), Redakteur und Schriftsteller, nutzte das Argument, angesichts des Versagens des Staates hätten die gewaltbereiten Akteure das Recht selbst in die Hand genommen. Seinen imaginierten Kämpfern in Sachen Recht ging es jedoch nicht um die Verteidigung des Vaterlandes, vielmehr legitimierte ihr Kampf um soziale Rechte den Einsatz von politischer Gewalt. Höllein, der für seinen Protest gegen den französischen Einmarsch ins Ruhrgebiet 1923 drei Monate in französischer Untersuchungshaft verbracht hatte, ging es darum »den Opfern der deutschen Klassenjustiz, den Proletariern, die für die Lebensinteressen ihrer Klasse gekämpft haben, die Freiheit wiederzugeben.«13 10 Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 4. Wahlperiode, 3. Sitzung, 15.6.1928, S. 16. Hieraus auch die folgenden Zitate. 11 Ebd., S. 19. 12 Ebd., S. 23. 13 Ebd., S. 12.

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Festzuhalten bleibt: Bei aller Unterschiedlichkeit der Perspektiven arbeiteten die Parlamentarier der KPD, DNVP und NSDAP in der Gegnerschaft zur Republik gemeinschaftlich an der Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols. Auch die Redner der Regierungsparteien zeigten großes Verständnis für das Amnestie-Anliegen.14 Ihnen lag vor allem die Wiederherstellung des politischen Friedens am Herzen. Den Redebeiträgen von SPD und Zentrum zufolge schien die Grenze des Tolerablen lediglich bei politischem Mord erreicht. Und so sah der schließlich zur Verabschiedung vorliegende Gesetzesentwurf für politische Tötungsdelikte zwar keine völlige Amnestie, aber Strafverkürzungen vor. Wie Justizminister Erich Koch-Weser (1875–1944) (DDP) erläuterte, sei die Regierung der Meinung, »daß die Zeiten der Rechtsverwirrung, der Verbitterung und Enttäuschung, wie sie der unglückliche Kriegsausgang und die Inflation mit sich gebracht haben, endgültig in Deutschland überwunden sind, daß die Republik heute die nötige Festigkeit hat, um zu wissen, daß sich eine solche gewalttätige Auflehnung gegen die Republik in Zukunft nicht wiederholen, oder, wenn sie sich wiederholen würde, erfolglos bleiben wird.«15 Am 13. Juli 1928 nahm der Reichstag das »Gesetz über die Straffreiheit« mit Zwei-Drittel-Mehrheit an und erteilte grundsätzlich Straferlass für alle begangenen Straftaten aus »politischen Beweggründen«. Ausgenommen war lediglich Landesverrat. Politischer Mord und Totschlag wurden zwar nicht gänzlich amnestiert, erfuhren jedoch nun eine andere Bewertung als entsprechende Taten aus unpolitischen Motiven. § 5 legte fest, dass im Falle von bereits verurteilten »Straftaten gegen das Leben« die Haftdauer zu halbieren und Zuchthausstrafen in Gefängnisstrafen umzuwandeln seien. Im Falle noch nicht verurteilter einschlägiger Straftaten wurde als Höchststrafe sieben Jahre, sechs Monate festgelegt.16 Das Gesetz ging den Parteien auf der Linken und Rechten nicht weit genug. Dass sich das Regierungsbündnis aus SPD, Zentrum, DVP und DDP auf die Amnestie hatte verständigen können, zeigt wie weit die grundsätzliche Akzeptanz politischer Gewalt in die politische Mitte der Weimarer Republik vorgedrungen war. Die Laissez-faire-Haltung der bürgerlichen Regierung der Mitte ist umso bemerkenswerter, als die Jahre 1927/1928 keineswegs im Zeichen friedlicher Stabilisierung standen. Der rechtskonservative nationalistische Wehrverband »Stahlhelm« erweiterte in diesen Jahren seine lokalen Organisationen. Heftige gewaltsame Zusammenstöße des linken »Rotfrontkämpferbundes« mit den staatlichen Ordnungshütern waren 1927/1928 alltäglich. Seit 1925 wurde auch die kurzzeitig verbotene SA mit SS und Hitlerjugend erfolgreich ausgebaut. Selbst die Führung des SPD -nahen »Reichs14 Die Regierung wurde zur Zeit der Gesetzesdebatte und -verabschiedung aus SPD (29,8 %), Zentrum (12,1 %), DVP (8,7 %) und DDP (4,8 %) gebildet. 15 Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 4. Wahlperiode, 10. Sitzung, 13.7.1928, S. 242. 16 Vgl. Gesetz über Straffreiheit, 15.7.1928, in: RGBl 1, 16. Juli 1928, S. 195 f.

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banner Schwarz-Rot-Gold« hatte im Juli 1927 angekündigt, »den Kampf gegen Monarchisten und Kommunisten künftig kraftvoller und planmäßiger als bisher zu führen [H. i. O.].«17 Angesichts dieser Vorzeichen des Kommenden erscheint die oben zitierte Stellungnahme des Justizministers zur geplanten Amnestie politischer Gewalttaten zumindest naiv. Dass die herrschende Betriebsblindheit der Mitte der Gesellschaft in der Frage politisch motivierten Gewalteinsatzes das Ihre dazu beigetragen hat, die Ausbreitung von Gewalt in der Endphase der Republik zu begünstigen, steht wohl außer Frage. Die »Organisation Consul« Die mangelnde Sensibilität in der Frage des staatlichen Gewaltmonopols zeigte sich nicht nur in der parlamentarischen Arbeit. In der Umbruchzeit der Anfangsjahre, in der grundlegend geklärt werden musste, wie sich die erste deutsche Demokratie zum staatlichen Gewaltmonopol stellen wollte, waren eine Reihe von Geheimorganisationen entstanden, die Gewalt selbstverständlich zu den adäquaten politischen Methoden zählten. Zu den bekanntesten zählt die »Organisation Consul« (O. C.). »Mit Untersuchungen im Milieu konspirativer Geheimorganisationen der deutschen Rechten zu Anfang der Weimarer Republik wird ein unübersichtliches Gelände betreten«, so Martin Sabrow 1994 in seiner Dissertation über den Mord an Walther Rathenau.18 Es fehle an staatlichen Erhebungen. Die späteren autobiografischen Schriften von Anhängern Hermann Ehrhardts (1881–1971), einer Schlüsselfigur des Weimarer Terrorismus, seien wenig brauchbar, die Meinungen in der Forschungsliteratur oft wenig präzise und nicht selten weit auseinander. Sie schwanken zwischen der Einschätzung der O. C. als Freikorps mit selbst gegebenem Auftrag, das Vaterland gegen innere und äußere Feinde zu schützen und einer Organisation, die mehr oder minder für jeden politischen Mord in den Anfangsjahren der Weimarer Republik zumindest mitverantwortlich gewesen sei.19 Sabrow hat mit akribischer Archivrecherche und der Auswertung von Gerichtsakten der 1980er Jahre eine Schneise in dieses »unübersichtliche Gelände« geschlagen. Als gesichert kann demnach gelten: Die »Organisation Consul« entstand aus den Reihen der »Brigade Ehrhardt«. Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt hatte in der Umbruchzeit vom Wilhelminischen Kaiserreich zur Weimarer Republik aus ehemaligen Angehörigen der Kaiserlichen Marine eine paramilitärische Truppe um sich gesammelt. Bei der Niederschlagung der Münchner 17 Kluge, U., Die Weimarer Republik, Paderborn u. a. 2006, S. 229. 18 Sabrow, M., Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994, S. 27. 19 Vgl. Stern, H., The Organisation Consul, in: JMH 35 (1963), S. 20–32 und Gumbel, E. J., Vier Jahre politischer Mord, Berlin-Fichtenau 1922.

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Räterepublik und den Grenzkämpfen in Oberschlesien 1919 erlangte der Freikorps Ruhm als schlagkräftige Ordnungskraft. Die Verwicklung des politisch im Lager der nationalistischen Gegner der Republik zu vorortenden Verbandes in den Kapp-Putsch (1920) führten zur Auflösung der Brigade und der Flucht ihres Gründers nach Ungarn. Doch das Führungspersonal der Organisation setzte sich nicht ins Privatleben ab. Zwei Nachfolgegruppierungen der »Brigade Ehrhardt« verdienen besondere Aufmerksamkeit: In der »Vereinigung ehemaliger Sturmsoldaten« sammelte der Ehrhardt-Offizier Manfred von Killinger (1886–1944) Männer, die in einem nicht näher definierten Ernstfall eingreifen könnten. Ebenfalls 1920 gegründet wurde ein »Bund ehemaliger Ehrhardt-Offiziere« unter dem Vorsitz Alfred Hoffmanns (1890–1933). Unter seinen Mitgliedern finden sich etliche Führungsfiguren der späteren »Organisation Consul«. Ergänzend lassen sich eine Reihe von soldatischen Ortsgruppen an der Nordsee und Arbeitsgemeinschaften im Süden ausfindig machen, in denen sich ehemalige Ehrhardt-Soldaten zu gemeinsamen Arbeitseinsätzen zusammenfanden und ein Reservoir für spätere Aufgaben der O. C. bildeten. Damit bestand Sabrow zufolge »seit Spätherbst 1920 eine reichsweit operierende Geheimorganisation, die die in Ortsgruppen zusammengeschlossenen Ehrhardt-Männer mit Richtlinien versorgte und deren Vorstände in regelmäßigen Abständen nach München beorderte, um besonders die Werbung neuer Mitglieder zu besprechen.«20 In den Dezember 1920 datiert die Gründung einer Tarnorganisation, der »Bayerischen Holzverwertungsgesellschaft mbH«, in München. Eine erste Einsatzmöglichkeit bot sich für alle Nachfolgeorganisationen der »Brigade Ehrhardt« im Mai 1921, als das nicht eindeutige Volksabstimmungsergebnis über den Verbleib Oberschlesiens bei der deutschen Republik mit einem Einfall polnischer Aufständischer beantwortet worden war. Neben zahlreichen anderen Freiwilligen nahmen auch Gefolgsleute Ehrhardts an den Abwehrkämpfen teil, die allerdings rasch durch einen Waffenstillstand ihr Ende fanden. Doch die Beteiligung des geheimen Bündnisses an der Bekämpfung der polnischen Aufstände stärkte die paramilitärische Gruppierung erneut und brachte ihr zahlreiche weitere Mitglieder ein. Ihre Mitgliedsstärke wird für Herbst 1921 auf ca. 5.000 Mann geschätzt. Seit diesem Jahr sich nach dem Decknamen Ehrhardts »Organisation Consul« nennend, gab sich der Geheimbund sogar eine Art Satzung. Unter dem Wahlspruch »Kampf für Deutschlands Wiedergeburt« verpflichteten sich die Mitglieder zu absolutem Gehorsam gegenüber dem Führungspersonal und zu totaler Geheimhaltung. Als Ziele der Vereinigung wurden u. a. angegeben: »Weiteste Pflege und Verbreitung des nationalen Gedankens«, die Bekämpfung von Judentum, Sozialdemokratie und aller linker

20 Sabrow, S. 31.

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Parteien, schließlich der Weimarer Verfassung.21 Konkret wurde aufgefordert zur »Sammlung von entschlossenen nationalen Männern zu dem Zweck: 1.) die vollständige Revolutionierung Deutschlands zu verhindern, 2.) bei: großen inneren Unruhen deren vollständige Niederwerfung zu erzwingen und durch Einsetzen einer nationalen Regierung die Wiederkehr der heutigen Verhältnisse unmöglich zu machen, 3.) die durch den Versailler Vertrag angestrebte Entmannung und Entwaffnung unmöglich zu machen und dem Volke seine Wehrmacht und die Bewaffnung – soweit wie möglich – zu erhalten.« Angesichts der Zielvorgaben der Satzung wird deutlich, dass die O. C. gleichzeitig zur Unterstützung der Regierung an den deutschen Grenzen und gegen linke Aufstände wie zum Sturz der Regierung eingesetzt werden konnte. Dass in § 11 der Satzung jedem Mitglied im Falle des Verrats die Ermordung angedroht wurde, verdeutlicht, wie wenig es der O. C. um Lippenbekenntnisse ging. Einerseits von der Polizei argwöhnisch beobachtet, andererseits durchaus in Kontakt mit Regierungskreisen stehend, genoss die Geheimorganisation insbesondere in Bayern den besonderen Schutz der Ordnungsbehörden. Damit agierte die O. C. in einer politischen Grauzone, die eine rechtstaatliche Umgangsweise mit dem Gewaltpotential der Untergrundgruppierung nahezu unmöglich machte. Was die politische Strategie des Geheimbundes betrifft, so war den Einsatzplanern der Organisation der gescheiterte Kapp-Putsch eine Lehre. Man beschloss vorderhand, einen Aufstand oder Putsch von linken Kräften abzuwarten, um dann selbst loszuschlagen. »Von hier war es nur noch ein Schritt bis zu der Überlegung, daß die O. C. diesen revolutionären Aufstand der Linken ja keineswegs tatenlos entgegensehen müsse, sondern seine Auslösung durch eigene Aktivitäten beschleunigen könne.  … Es kam also darauf an, das Gewaltpotential der Linken in Deutschland zu einem Aufstand zu reizen.«22 Die schließlich auf Druck der Alliierten erfolgende Auflösung der paramilitärischen Verbände (1921) verschob die Aufmerksamkeit der O. C.-Strategen endgültig auf innenpolitische Aktionen. Auf der Basis der Provokationstheorie entwickelte die Geheimorganisation den Plan, mittels der Ermordung von Mitgliedern der republikanischen Regierung, einen linken Aufstand hervorzurufen. Er sollte die Legitimation für eigene Aktionen schaffen. Zu den prominenten Opfern der nun einsetzenden Anschlagserie gehören der Zentrumspolitiker und vormalige Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (1875–1921), Karl Gareis (1889–1921), Fraktionsvorsitzender der USPD im bayerischen Landtag, sowie der liberale Politiker und Außenminister Walther Rathenau (1867–1922). Ein Attentat auf den SPD -Politiker Philipp Scheidemann (1865–1939) misslang im gleichen Jahr. 21 Zitiert nach Jasper, G., Aus den Akten der Prozesse gegen die Erzberger-Mörder, in: VfZ 10 (1962), S. 430–439, hier: S. 439. Hieraus auch die folgenden Zitate. 22 Sabrow, S. 41.

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Charakteristisch für die Anschlagserie ist zum einen, dass sich die O. C. nie offiziell zu ihr bekannte. Angesichts des strategischen Hintergrunds der Attentate braucht dies allerdings nicht zu verwundern. Eine anonyme, schwer einzuschätzende Gefährdung von republiktreuen Politikern versprach vermutlich sehr viel mehr Unruhe und Angst im linken Lager und öffnete Tor und Tür für Verschwörungstheorien über die konspirative Zusammenarbeit von Reichswehr und konservativen gewaltbereiten Kräften. Im Anonymen zu agieren, ließ eher auf einen linken Aufstand hoffen als eine Anschlagserie, die einer kleinen rechtsradikalen Terrororganisation zugeschrieben wurde. Überdies hätte die Offenlegung der Verantwortlichen die staatlichen Behörden genötigt, gegen die O. C. vorzugehen. Charakteristisch für die Anschlagserie war weiterhin, dass sich die Täter mit Unterstützung der Behörden und der Justiz weitgehend einer Strafverfolgung entziehen konnten. Die Mörder von Matthias Erzberger beispielsweise, Heinrich Schulz (1893–1979) und Heinrich Tillessen (1894–1984), waren beide Mitglieder der O. C. Von ihrem Führungsoffizier Manfred von Killinger hatten sie persönlich den Mordauftrag enthalten. Dieser organisierte auch ihre anschließende Flucht über Österreich nach Ungarn. Es war Ehrhardts Kontakten zur Münchner Polizeiführung zu verdanken, dass diese die Attentäter erst warnte, bevor sie nach ihnen fahnden ließ. Schulz wurde 1924 in Ungarn erkannt, doch die ungarische Regierung lehnte seine Auslieferung ab. 1933 amnestiert, kehrte er nach Deutschland zurück und avancierte schließlich zum Obersturmbannführer der SS . Nach 1945 von der Besatzungsmacht inhaftiert und 1949 an die deutschen Behörden überstellt, wurde er 1950 vom dem Landgericht Offenburg wegen Mordes angeklagt. Das Verfahren endete mit einer Verurteilung wegen Todschlags zu zwölf Jahren Haft, von denen Heinrich Schulz tatsächlich zwei Jahre im Gefängnis verbringen musste. Auch das Beispiel Heinrich Tillessens veranschaulicht, wie leicht es gewaltbereiten rechtsextremistischen Antidemokraten in der Weimarer Republik und nachfolgend in der jungen Bundesrepublik gemacht wurde, Demokratie und Rechtsstaat ad absurdum zu führen. Bei Tillessen dürfte es sich um einen typischen Repräsentanten der gewaltbereiten Akteure der O. C. gehandelt haben. Aufgewachsen in einer Offiziersfamilie strebte er nach dem Abitur 1912 mangels finanzierbarer adäquater Alternativen die Marineoffizierslaufbahn an. Wie sein Biograf, Cord Gebhardt, schreibt, begegnete er der Revolution 1918 »völlig fassungslos« und den Waffenstillstandsverhandlungen »mit der Verbitterung eines desillusionierten jungen Offiziers«.23 1920 aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen, veranlasste ihn der Kapp-Putsch nach Berlin zu reisen, um sich »der nationalen Sache« anzunehmen und »Deutschland vor der Kom-

23 Gebhardt, C., Der Fall des Erzberger-Mörders Heinrich Tillessen, Tübingen 1995, S. 18 f.

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munisten- und Spartakistengefahr« zu retten.24 Es folgte ein kurzes Intermezzo im bald aufgelösten Freikorps unter der Führung seines früheren Flottillenchefs Ehrhardt, schließlich 1921 die Aufnahme in die O. C. und der Erzbergermord. Wie sein Mord-Kompagnon in Ungarn enttarnt und weiter geschützt, kehrte Tillessen 1932 nach Deutschland zurück. 1933 amnestiert, führte sein weiterer Weg in die SA und die Kriegsmarine. 1944 im Range eines Korvettenkapitäns aus dem Militärdienst entlassen, geriet auch er 1945 in die Fänge der Besatzungsmacht. Er wurde an das Landgericht Offenburg überstellt und mit Verweis auf die Amnestiegesetze von 1933 freigesprochen. Ein von der französischen Besatzungsmacht erzwungenes zweites Verfahren endete 1947 mit einer Verurteilung schuldig des Mordes und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach Kontrollratsgesetz Nr. 10. und einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren. Doch bereits fünf Jahre später, 1952, erhielt Heinrich Tillessen Haftverschonung. Als ein Beispiel für den blinden Umgang mit politischer Gewalt in der Weimarer Republik und die personellen Kontinuitäten zum Führungspersonal der jungen Bundesrepublik mag auch der Lebensweg Wilhelm Krichbaums (1896–1957) gelten,25 ein Mann, der wohl eher als gewaltbereiter Mitläufer der O. C. denn als Attentäter einzuordnen ist. Aus konservativem kleinbürgerlichem Haus stammend, durchlief Krichbaum bis zum Beginn des Ersten Weltkrieg Volks- und Mittelschule, besuchte anschließend ein Jahr eine Handelsschule und absolvierte eine Forstgehilfenlehre. Mit der Mitgliedschaft im »Wandervogel« (1906) und in der »Freideutschen Jugend« (1913) unterschied er sich wenig von anderen Jugendlichen seiner Generation. Als Kriegsfreiwilliger (1914) machte er im Militär rasch Karriere in der »Geheimen Feldpolizei« und wurde nach Kriegsende im Rang eines Unteroffiziers, versehen mit etlichen Auszeichnungen, entlassen. Wie viele andere Patrioten schaffte er den Übergang in die Friedensgesellschaft nicht. Zunächst tätig im Freikorps »Grenzschutz-Ost« war er auch an der Niederschlagung des Spartakus-Aufstands (1919) und der Zerschlagung der Münchner Räterepublik (1919) beteiligt. Danach organisiert im »Selbstschutz Oberschlesien« und in der »Brigade Ehrhardt« führte Krichbaums Weg nahezu folgerichtig in die »Organisation Consul«. Zwischen 1921 und 1923 war er nach eigenen Angaben im entmilitarisierten Rheinland für den »Verband Nationalgesinnter Soldaten« im Sinne der Spionageabwehr tätig. In diesem und ähnlichen Engagements unterhielt Krichbaum enge Verbindungen zu Führungsfiguren der O. C. Dass sich in seinem Lebensweg der Eintritt in den »Bund Wiking« (1922), in die NSDAP (1922) und 1928 die Übernahme der Geschäftsführerposition im »Bund Oberland« findet, kennzeichnet einen typischen Weg in die rechtsradikale Szene über 24 Aussage Tillessens, Freiburg 18.7.1946, zitiert nach ebd., S. 19. 25 Das Folgende nach Winter, R., Täter im Geheimen. Wilhelm Krichbaum zwischen NS -Feldpolizei und Organisation Gehlen, Leipzig 2010.

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die in der Republik geduldeten paramilitärischen Organisationen. Schon zu Weimarer Zeiten immer wieder auch in enger Tuchfühlung zur militärischen bzw. paramilitärischen Abwehr, führte Krichbaums weiterer Werdegang nach 1933 in die SS , Gestapo und »Geheime Feldpolizei«. Angesichts der personellen Kontinuitäten im westdeutschen Geheimdienst der jungen Bundesrepublik muss es nicht weiter verwundern, Krichbaum in den 1950er Jahren als Mitglied der »Organisation Gehlen« wieder zu begegnen. Was hat dieser Lebenslauf mit politischer Gewalt zu tun? Nach eigenen Angaben war Krichbaum an keinen politischen Gewaltverbrechen beteiligt. Auch die amerikanische Besatzungsmacht, die ihn 1945 festnahm und in die Gruppe I der Haupttäter einordnete, konnte ihm offenbar keine Verbrechen nachweisen. Im deutschen Spruchkammerverfahren wurde er 1948 schließlich entlastet. Von besonderem Interesse sind hier nicht seine Aktivitäten während des Nationalsozialismus, sondern in den Jahren zuvor. Da sich die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte der Weimarer Republik für den unrechtmäßigen Einsatz von Gewalt der in der rechtlichen Grauzone operierenden paramilitärischen Organisationen nicht interessierten und auch kein sonderliches Engagement an den Tag legten, die Mitglieder der O. C. dingfest zu machen, braucht es nicht zu verwundern, dass es keine Gerichtsverfahren gegen Krichbaum wegen seiner Aktivitäten zwischen 1919 und 1933 gab. Dass das Mitglied der O. C. zumindest Mitwisser und Mitorganisator rechtsextremer politischer Gewalt gewesen war, darf man indes nahezu zweifelsfrei vermuten. Wie wenig kritisch Politik und Justiz auch noch nach der Diktaturerfahrung der rechten Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols in der Weimarer Zeit begegneten, belegt Krichbaums weitere berufliche Verwendung in der BRD nunmehr in der Abwehr, die eine Demokratie schützen sollte. Zur »Organisation Consul« ist abschließend noch nachzutragen, dass nach dem Rathenaumord 1922 eine Welle von Verhaftungen einsetzte und die Strukturen der Vereinigung in vielen Teilen Deutschlands zerschlagen wurden. Die Münchner Zentrale gab die Losung aus, vorerst auf weitere Aktivitäten zu verzichten. Im Gefolge des neu erlassenen »Republikschutzgesetzes« wurde die O. C. schließlich verboten, eine Organisation, deren Hauptvertreter behaupteten, dass sie seit 1921 gar nicht mehr existiere. »Die Zeit der gewaltsamen Restaurationsversuche, der Attentate und Putsche, war vorüber«, resümierte Gabriele Krüger in einer ersten Studie über die »Brigade Ehrhardt« 1971.26 Und mit Blick auf die nachfolgenden Jahre formulierte Sabrow: »Die Zukunft auf der radikalen Rechten gehörte den nationalsozialistischen Demagogen, nicht den nationalrevolutionären Freikorpsführern.«27 Aus losen Zusammenhängen mit der Ehrhardt-Organisation befreite sich die SA im Laufe des Jahres 1923. 26 Krüger, G., Die Brigade Ehrhardt, Hamburg 1971, S. 119. 27 Sabrow, S. 201 f.

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Und so blieben die Ehrhardt-Anhänger beim Hitlerputsch am 8./9. November passiv, in der berechtigten Annahme, dass sich die Reichswehr nicht auf die Seite Hitlers schlagen würde. Mit der Stabilisierung der Republik nach der Ruhrkrise (1923) schwand im rechten Lager vorerst tatsächlich die Überzeugung, mit Attentaten und Putschismus das verhasste demokratische System niederringen zu können. Gegen die »Organisation Consul« wurde 1924 nach langen Voruntersuchungen ein Verfahren eröffnet. Die Vertreter der Reichsanwaltschaft befanden alle Belastungszeugen, die die Organisation mit den politischen Morden in Verbindung brachten, als unzuverlässig und engagierten sich auch sonst vehement in der Frage der Entlastung der Angeklagten. Im Verfahren erhielten 16 Angeklagte Gefängnisstrafen von drei bis sechs Monaten. Wenige Wochen später wurden diese Strafen in Festungshaft umgewandelt und nachfolgend zur Bewährung ausgesetzt. Ehrhardt, der seit dem KappPutsch steckbrieflich gesucht, zwischenzeitig auch inhaftiert und von Gesinnungsgenossen wieder befreit worden war, wurde 1925 amnestiert. Erklärungsansätze für das Ausmaß der politischen Gewalt Die historische Forschung hat sich mit der politischen Gewalt in der Weimarer Republik auf vielfache Weise beschäftigt. Sie hat sich im Kontext der Analyse der europäischen Diktaturen der Zwischenkriegszeit mit der Frage auseinandergesetzt, welchen Anteil die allenthalben vorhandene Gewaltbereitschaft an dem Untergang der ersten deutschen Demokratie hatte. In diesem Zusammenhang ist darauf verwiesen worden, dass Gewaltbereitschaft ein wesentliches Merkmal links- oder rechtsextremer totalitärer Bewegungen sei. Ausgehend von der These Ernst Noltes, dass das Gewaltpotential des rechten politischen Lagers als Reaktion auf die linke Gewalt der Anfangsjahre der Weimarer Republik zu interpretieren sei, hat beispielsweise Andreas Wirsching eine vergleichende Studie zur links- und rechtsextremen Gewalt in Frankreich und Deutschland vorgelegt und die These von der zentralen Bedeutung des Antikommunismus als rechtsextremes Legitimationsmuster bekräftigt. Wirsching kommt zum Ergebnis: »Das Grundempfinden der Bedrohung durch den Kommunismus, wieder und wieder geäußert, privat und öffentlich, wurde zu einer bewegenden Kraft rechtsextremen Denkens und Handelns. Und es wäre unangemessen, dieses Grundempfinden als bloß hysterischen [H. i. O.] Anti­ kommunismus abzutun. Denn es war keineswegs grundlos angesichts der kommunistischen Propaganda und Agitation, die beständig auf Bürgerkrieg und gewaltsamen Umsturz hindeutete.«28 28 Wirsching, A., Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 617.

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Die These Wirschings ist nicht unwidersprochen geblieben. Dirk Schumann hat in seiner Untersuchung der politischen Gewalt in Weimar herausgearbeitet, dass sich die »politische Gewalt des ritualisierten Terrainkampfes … seit 1921 Schritt für Schritt zu einem ubiquitären [bed. allgegenwärtigen, d. Vf.], aber nicht unkontrollierbaren Phänomen« entwickelte.29 Doch die extreme Rechte sei in diesem Prozess die treibende Kraft gewesen, während die Linke oft nur reagiert habe. Auch Sven Reichardt betont die Unterschiede in der kommunistischen und nationalsozialistischen Gewaltanwendung und die Eigendynamiken der Gewaltbereitschaft in beiden Lagern.30 Für die Klärung der Frage, ob und inwieweit die grundsätzliche Verweigerung breiter Gesellschaftskreise, das staatliche Gewaltmonopol zu akzeptieren, den Untergang der Republik herbeigeführt habe, ist diese Debatte jedoch wenig hilfreich. Hier scheint die Deutungskraft von Ansätzen größer, die die politische Gewaltbereitschaft dieser Epoche als kulturelles europäisches Phänomen zu interpretieren versuchen. Ausgangspunkt solcher Überlegungen ist das in mehr oder weniger allen europäischen Ländern feststellbare Anwachsen politischer Gewalt nach 1918. Überprüft wird, ob sich die Generationen der Kriegsteilnehmer nach der traumatisierenden Erfahrung des Ersten Weltkrieges nicht mehr in der zivilen Nachkriegswelt beheimaten konnten. Grundlage solcher Überlegungen ist die Interpretation des Ersten Weltkriegs als Urkatastrophe oder fundamentale Krise Europas. Der Krieg ließ eine von politischen und sozialen Krisen geschüttelte Staatenwelt zurück. Nicht nur in Deutschland, auch in vielen weiteren Ländern Europas musste die Demokratie vor gewalttätigen Massenbewegungen kapitulieren. Diese Gewaltbereitschaft sei während des Krieges eingeübt worden und letztlich nicht mehr zu bändigen gewesen. Auf Deutschland bezogen lässt sich so für die Frontsoldaten eine Entwicklungslinie von der kriegerischen Gewalt- und Kameradschaftserfahrung über die Konstruktion und Stabilisierung von Feindbildern hin zur Affinität zu nationalistischen und rechtsextremen politischen Einstellungen ziehen, welche die vormaligen Soldaten für die Programme der paramilitärischen Freikorps und nachfolgend der NSDAP empfänglich machten. Die Versuche, die These anhand von konkreten Fallbeispielen zu überprüfen, liefern jedoch eine große Bandbreite von Ergebnissen. Offenbar konnte die Kriegserfahrung genauso in Pazifismus wie in erhöhter Gewaltbereitschaft münden. Überdies lassen sich unter den gewalttätigen Akteuren viele Jüngere nachweisen, die keine kriegerische Vorerfahrung hatten. Für die Erklärung der politischen Gewalt der antidemokratischen Massenbewegungen »gewinnen somit die Deutungs29 Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik, S. 359. 30 Vgl. Reichardt, S., Totalitäre Gewaltpolitik? Überlegungen zum Verhältnis von nationalsozialistischer und kommunistischer Gewalt in der Weimarer Republik, in: Hardtwig, W. (Hg.), Ordnungen in der Krise: zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 377–402, hier: S. 385–394.

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prozesse in der politischen Kultur gegenüber dem Krieg selbst an Bedeutung.«31 Vor diesem Hintergrund stellt Dirk Schumann einen Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsstand der betroffenen Nationalstaaten und den Formen ausgeübter politischer Gewalt in der Zwischenkriegszeit her. Demnach gelang es den alten europäischen Nationalstaaten, die politische Gewalt in der Nachkriegszeit einzuhegen, während die aus Einigungsbewegungen spät entstandenen Nationalstaaten mit paramilitärischer, Demokratie bedrohender Gewalt konfrontiert waren. Entgrenzte Gewalt kennzeichne schließlich diejenigen Nationalstaaten, die oft im Gefolge des Ersten Weltkrieges erst aus Separationsbewegungen entstanden waren. Im Kontext von Überlegungen zur Entwicklung des Nationalstaatsmodells und nationaler Kultur rücken weitere Erklärungsmodelle ins Zentrum, die im Zusammenhang mit politischer Gewalt nach längerfristigen Prozessen gesellschaftlichen Wandels suchen und die Bedeutung der Kriegserfahrung relativieren. Zu nennen sind hier zum Beispiel Forschungsansätze, die einen engen Zusammenhang zwischen der demokratiekritischen Haltung des Bürgertums und der zunehmenden Gewaltakzeptanz knüpfen. So kommt Detlev Peukert zum Ergebnis: »Bevor die nationalsozialistische Sammlungsbewegung zwischen 1930 und 1933 und das Elitenkartell der nationalen Konzentration [H. i. O.] vom Januar 1933 erfolgreich sein konnten, mußte die politische Kultur der Republik erst einmal in jene Bruchstücke zerfallen, die dann zu einer gewalttätigen Mischung wieder zusammengefügt wurden.«32 In diesem Zersetzungsprozess hätten die traditionell staatstragenden Eliten gemeinschaftlich am Untergang der Republik gearbeitet. »In der kombinierten Wirkung ihrer Einstellungen und Handlungen türmten sie wachsende Hindernisse für einen republikanischen Kurs auf.«33 Doch Peukert zufolge ging die Republik nicht nur »an der Obstruktion ihrer Eliten zugrunde, sondern auch an der Abwendung ihrer Bürger.«34 Gemeinsam war traditionellen Eliten und großen Teilen der Bevölkerung vor allem in der Provinz der Hass auf das Weimarer System, auf die Arbeiterbewegung und die Infragestellung traditioneller Ordnungsvorstellungen. »Im Treibhausklima der Krisen- und Endzeitstimmungen wuchsen Rassismus und Nationalismus, Antimarxismus und Antibolschewismus, Antiliberalismus und Führerkult.«35 Dabei verbanden sich der schleichende Systemwechsel und die Hinwendung zum Nationalsozialismus in der »Bereitschaft zur Anwendung und Tolerierung von – illegaler – politischer Gewalt«, so Bernd Weisbrod in einem inspirieren31 Vgl. Schumann, D., Europa, der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit: eine Kontinuität der Gewalt? In: JMEH 1 (2003), S. 24–43, hier: S. 32. 32 Peukert, D., Die Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1987, S. 218 f. 33 Ebd., S. 219. 34 Ebd., S. 226. 35 Ebd., S. 227.

Die Delegitimierung staatlicher Ordnung in der Zwischenkriegszeit

den Aufsatz über Gewalt und Politik zwischen den beiden Weltkriegen.36 Die Gewaltakzeptanz charakterisierte nicht nur die proletarischen Straßenkämpfe, sie fand ihre ideologische Untermauerung in der elitären bürgerlichen Kultur. Sinnstiftung mittels Gewalt lässt sich in der Staatslehre Carl Schmitts genauso nachweisen, wie im autobiografischen Roman des Freikorpsanhängers Ernst von Salomon oder in der Ästhetisierung der Kriegserfahrung durch Ernst Jünger. »Aus der Verweigerung des inneren Friedens« schon in der Anfangszeit der Weimarer Republik »entwickelte sich jene politische Kultur der Gewalt, mit der den Nationalsozialisten am Ende der WR eine wirkungsvolle Angststeuerung gelang. … Diese Flucht in den Mythos der Gewalt, dessen Faszination gerade das sich auflösende Bürgertum erlag, war nicht die unausweichliche Folge der typisch deutschen Erblast, jener strukturellen Demokratiefeindlichkeit  … Das Versagen der konventionellen Moral setzte eine Zersetzung des Gewissens voraus, das nach Norbert Elias primär auf die Zersetzung des staatlichen Gewaltmonopols in der Weimarer Republik zurückzuführen ist [H. i. O.].«37 Während sich im Arbeiterlager Gegner und Befürworter von Gewalt wechselseitig bekämpften, entstand »im bürgerlichen Lager ein stilles Einverständnis, das  … die Akzeptanz von außerstaatlicher politischer Gewalt zum Zwecke des Systemwechsels nicht prinzipiell ausschloß«.38 Ähnlich argumentiert Shulamit Volkov. Das ungeheure Ausmaß der politischen Gewalt seit der Revolution 1918 habe zu einer Gewöhnung an Gewalt als Mittel der Politik geführt. »Political violence was the hallmark of the Weimar Republic. When the Nazis began to take over, they only made it more widespread and more radical. Above all they insisted on making it appear legitimate. They managed to integrate it into their system.«39

36 Weisbrod, B., Gewalt in der Politik: Zur politischen Kultur in Deutschland zwischen d. beiden Weltkriegen, in: GWU 43 (1992), S. 391–404, hier: S. 392. 37 Ebd., S. 403. 38 Ebd., S. 404. 39 Volkov, Sh., On the primacy of political violence: the case of the Weimar Republic, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 42 (2014), S. 55–68, hier: S. 67.

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8. Antikoloniale politische Gewalt Das 18. und insbesondere das 19. Jahrhundert sind in der europäischen und der Globalgeschichte als Epoche der sich ausbreitenden kolonialen Weltreiche und des Imperialismus eingegangen. Es waren die von Europa ausgehenden Weltkriege, die die Verteilung der Welt unter den europäischen Großmächten stoppten. Der Anfang vom Ende der europäischen Kolonialreiche war mit dem Ersten Weltkrieg erreicht. Das Deutsche Reich verlor mit Kriegsende seine wenigen jungen kolonialen Eroberungen vollständig. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sich auch die traditionellen Kolonialimperien gezwungen, mehr oder weniger freiwillig ihre Satellitenstaaten in die Unabhängigkeit zu entlassen. Innerhalb von zwei Jahrzehnten nach Ende des Krieges löste sich das französische Imperium in Afrika und Asien nahezu vollständig auf. Etwas verlangsamt, aber im Grunde ähnlich, vollzog sich der Auflösungsprozess des Britischen Empire. Portugal behauptete seine Kolonien Angola und Mosambik bis Mitte der 1970er Jahre. Anschließend gerieten die von weißen Siedlern dominierten Länder im Süden Afrikas unter Druck. Dabei trugen die Konkurrenz der Großmächte auf der internationalen Bühne und der Kalte Krieg durchaus zum Erfolg der antikolonialen Befreiungsbewegungen bei. Kolonialismus und Gewalt Jürgen Osterhammel hat bei der Analyse kolonialer Strukturen den Blick auf das große Gewaltpotential gerichtet, das die Geschichte der Kolonienbildung und -auflösung begleitete. »Die eigentliche Koloniebildung«, so betont er, »war bei Siedlungs- wie bei Beherrschungskolonien stets mit Gewaltanwendung verbunden.«1 Für die erstgenannte Kolonieform beobachtet er ein kontinuierlich offenes »Gewaltverhältnis zwischen bewaffneten Kolonisten und Eingeborenen [H. i. O.]«, für die zweitgenannte Kolonialphase Eroberungskriege, die auf eine dauerhafte Unterwerfung der indigenen Bevölkerung ausgerichtet waren.2 Gegen die Wilden galten nicht selten auch Methoden der Kriegsführung als erlaubt, deren Legitimität nach geltendem Kriegsrecht in Zweifel zu ziehen war. Dabei beförderte Uneinigkeit der indigenen Bevölkerung die europäischen Eroberungszüge, auch wenn es zu vielfältigen Varianten von Widerstand kam: so z. B. zu primärem gewaltsamen Protest gegen die Besitznahme durch die 1 Osterhammel, J. u. J. C. Jansen, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 20127, S. 47. 2 Ebd.

Antikoloniale politische Gewalt

Eroberer und zu (gewaltsamer) Opposition gegen die neue Ordnung oder gegen einzelne Maßnahmen wie die Rekrutierung von Soldaten. Die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten vielerorts entwickelnden antikolonialen nationalen oder Unabhängigkeitsbewegungen, getragen von europäischen Kolonisten oder Natives, mündeten schließlich nicht selten erneut in gewaltsamen Auseinandersetzungen. Tatsächlich verlief in den meisten Fällen die Loslösung der Kolonien von den Mutterländern nicht gewaltfrei. Die Vereinigten Staaten erkämpften sich schon im 18. Jahrhundert ihre Selbständigkeit in einem Krieg. Ein Paradebeispiel für einen vergleichsweise gewaltfreien Übergang stellt dagegen die Loslösung Pakistans und Indiens von Großbritannien 1947 dar. Hier wurden im Wesentlichen Formen zivilen Ungehorsams angewendet, um die Unabhängigkeit zu erreichen. In Indochina und Malaya jedoch kennzeichneten lang andauernde bewaffnete Auseinandersetzungen den Kampf für die Unabhängigkeit. Ähnlich sah der Weg in die Loslösung Algeriens von Frankreich aus. Solche gewaltreichen Konflikte sind am präzisesten mit dem Begriff der »kleinen Kriege« zu fassen. Begrenzt eingesetzte militärische Verbände aus dem europäischen Zentrum trafen in Afrika und Asien auf Partisanengruppen und Befreiungsarmeen. Letztlich jedoch zwangen der Heimvorteil der Aufständischen und nicht selten Legitimationsdefizite in den Kolonien, aber auch in den Parlamenten und Öffentlichkeiten der Mutterländer die Kolonialmächte in die Knie. Doch nicht Kriege und Bürgerkriege sind Thema dieses Bandes zu politischer Gewalt und Terrorismus. Geht man von der Definition von politischer Gewalt aus, die hier als Basis dient, dann handelt es sich bei politischer Gewalt um eine Gewaltform, »die von Bürgern zur Erzwingung oder Verhinderung von Entscheidungen, die für die Gesellschaft oder Teilbereiche von ihr verbindlich getroffen werden, eingesetzt wird oder mittels der gegen Zustände und Entwicklungen protestiert wird, die solchen Entscheidungen angelastet werden.«3 Es sind Gewaltformen, die nicht im staatlichen Auftrag ausgeführt werden, von Einzelpersonen und Gruppierungen ohne Auftrag oder Legitimation der Mehrheitsgesellschaft ausgeübt werden, sich gegen geltendes Recht und / oder geltende gesellschaftliche Normen richten und das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellen. Erweiternd ist im Falle antikolonialer Konflikte anzumerken, dass sich  – ähnlich wie bei separatistischen Bewegungen in Europa  – die mittels Gewalt unterstützten politischen Auseinandersetzungen nicht auf einen Wandel des gesellschaftlichen und politischen Systems des bekämpften Mutterlandes bezogen. Sie zielten vielmehr in erster Linie auf die Ablösung eines räumlich eindeutig zu definierenden Territoriums vom angegriffenen 3 Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt, hrsg. von Schwind, H-D., Bd. 1, Berlin / New York 1990, S. 52. Vgl. auch Kapitel 1.

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Kolonialreich. Auf die politische Gewalt in Dekolonisierungsphasen bezogen, heißt das, es geraten nationale oder regionale Loslösungsprozesse in den Blick, bei denen zum einen der Einsatz von politischer Gewalt im engen Sinn bereits zur Unabhängigkeit führte. Zum anderen geht es um Fallbeispiele, bei denen Methoden aus dem Repertoire der politischen Gewalt und des Terrorismus einen politischen Brandherd entfachten, der sich anschließend zu einem kriegerischen Flächenbrand ausbreitete. Es stehen mithin begrenzte gewaltsame politische Auseinandersetzungen oder die Initialzündungsphase eines kleinen Krieges zwischen Kolonialmacht und Kolonialkräften im Fokus. Dabei liegt die Besonderheit der antikolonialen politischen Gewalt im Vergleich zu bisher untersuchten Fallbeispielen darin, dass eine spezifische Herrschaftsform, der Kolonialismus, bekämpft wurde. Kolonialismus bezeichnet, so Philip Curtin, die »Beherrschung durch ein Volk aus einer anderen Kultur«.4 Osterhammel ergänzt präzisierend: »Kolonialismus [H. i. O.] ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden. Damit verbinden sich in der Neuzeit in der Regel sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen.«5 Legt Osterhammel aus globalgeschichtlicher Perspektive besonderes Gewicht auf die ungleiche Verteilung von Macht und Einfluss in kolonialen Abhängigkeitsverhältnissen, so betont der Forschungszweig der Postcolonial Studies die wechselseitige Beeinflussung der Kulturen der Herrscher und der Beherrschten in kolonialen Beziehungen. Seit den 1980er Jahren entwickelte sich insbesondere im angloamerikanischen Raum der neue Forschungszweig der Post-colonial oder Postcolonial Studies. Er beschäftigt sich mit den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Kolonialismus auf kolonisierende Nationen bzw. kolonisierte Kulturen vor und nach deren Unabhängigkeit. »Deutlich anders als zuvor werden diese Prozesse als eine verflochtene, reziproke Geschichte des Westens und des globalen Südens analysiert und nicht mehr als die eines einseitigen Ein­flusses Europas oder des Westens beziehungsweise einer defizitären Entwicklung oder einer nachgeholten Moderne im Rest der Welt [H. i. O.]«, so Ulrike Lindner in einem Forschungsbericht über »neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies«.6 Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen seit der kritischen 4 Courtin zitiert nach Osterhammel, S. 18. 5 Ebd., S. 20. 6 Lindner, U., Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 15.4.2011, S. 2, URL : http://docupedia.de/zg/ (7.6.2016).

Antikoloniale politische Gewalt

Wertung europäischer Vorrangstellungsfantasien durch Edward Said Ende der 1970er Jahre beispielsweise Aspekte des kolonialen Rassismus oder die Entwicklung sogenannter hybrider, transkultureller politischer und kultureller Phänomene in geographischen und kulturellen Räumen, in denen Kolonialherren und Kolonisierte aufeinandertrafen. Hier wurden kulturelle Praktiken und Politikformen der Eroberer seitens der Eroberten nicht nur übernommen, sondern mitunter auch eigenständig eingefärbt oder unterlaufen. Im Spannungsverhältnis zwischen grundlegender kultureller Fremdheit und Rassismus auf der einen Seite und andererseits hybrider Durchdringung der Kolonialgesellschaft mit politischen Konzepten und Praktiken der Eroberer sind schließlich auch die Formen politischer Gewalt zu verorten, die in den antikolonialen Kämpfen angewendet wurden. Es ist einerseits zu erwarten, dass in den Konflikten um die Lösung der kolonialen Bindung, vor allem aber in deren Deutung die kulturelle Fremdheit der Kolonisierenden bzw. der Kolonisierten eine große Rolle spielten. So mag zwar der rechtliche und gesellschaftliche Status der kolonialen Natives als einflussschwache Bürger zweiter Klasse keine spezifische Besonderheit antikolonialer politischer Gewalt darstellen, denn als solche interpretierten sich auch die Akteure des europäischen Terrorismus im 19. Jahrhundert. Doch die Legitimationsmuster und gewaltsamen Praktiken der Konfliktparteien dürften durch eine spezifische rassistische Aufladung gekennzeichnet gewesen sein. Denn kennzeichnend für die Gewaltanwendung der Kolonialmächte war ihre »Legitimation durch einen Diskurs der zivilisierten Vertreter der Imperialmächte über die Anderen, der diesen die Zivilisation und damit die Voraussetzung für eine humane Behandlung absprach – eine Debatte mit oftmals verheerenden Folgen [H. i. O.]«.7 Aus der Perspektive der Postcolonial Studies und ihres Konzepts der wechselseitigen Beeinflussung von Kolonisierenden und Kolonisierten ist andererseits zu fragen: Welche Staatsideen und Strategien politischer Gewalt seitens der antikolonialen Akteure wurden vom Gegner erlernt und gegebenenfalls transformiert? Handelt es sich bei der Adaption und Aneignung von Formen politischer Gewalt um die Übernahme europäischer Erfahrungen und Strategien aus dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Oder wurden hybride Formen politischer Gewalt und des Terrorismus entwickelt, die – angesichts des Fehlens einer bürgerlichen Öffentlichkeit und einer freien Presse in der Kolonie  – nicht auf die eigene Anhängerschaft, sondern auf die öffentliche Debatte in der zentralen Metropole des Kolonialreiches zielten? Vieles spricht für den Transport der Ideen und Konzepte politischer Gewalt aus den politischen Systemen der Mutterländer der Kolonien, denn von dort wurden neben den Staatskonzepten auch die gewaltfreien Strategien zur Erreichung gesell7 Klein, Th. und F. Schumacher, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 7–13, hier: S.11.

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schaftlicher Ziele, so etwa Streiks und Medienkampagnen, übernommen. Untersucht sind die Lernprozesse in Sachen politischer Gewalt mit den Ansätzen der Postcolonial Studies bislang jedoch erst wenig. Ein Überblick über den Forschungsstand zeigt ohnehin, dass das Thema politische Gewalt im Kontext der Auflösung der Kolonialreiche nur begrenzte Aufmerksamkeit erregt hat. Zwar wird auch in der klassischen Kolonialgeschichte oder in den Nationalgeschichten der kolonialen Imperien und der sich neu entfaltenden Nationalstaaten gegebenenfalls den kriegerischen Auseinandersetzungen aus der Perspektive der Kolonialmächte oder der neuen unabhängigen Staaten Aufmerksamkeit geschenkt, doch im Zentrum stehen Überlegungen zur Funktion der politischen Gewalt oder des Terrorismus im antikolonialen Kampf in der Regel nicht. Anhand zweier Beispiele, der Rolle politischer Gewalt bei der Loslösung Zyperns von Großbritannien und der Rolle politischer Gewalt bei der Entfachung des algerischen Unabhängigkeitskriegs, soll im Folgenden politische Gewalt und Terrorismus als antikoloniale Strategie beleuchtet werden. Zypern: Befreiungskampf oder Terrorismus? Die Besiedlung Zyperns reicht unter wechselhaften Oberhoheiten benachbarter Mächte in die Antike zurück. Erst dem Reich Alexander des Großen einverleibt, dann unter römischer und byzantinischer Herrschaft, schließlich Spielball der italienischen Republiken Genua und Venedig, geriet die Insel im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts unter osmanische Herrschaft. Unter Einfluss des Britischen Empire stand Zypern erst seit 1878. Im Gerangel der europäischen Großmächte um die europäischen Besitzungen des Osmanischen Reiches suchte Großbritannien einen Stützpunkt im östlichen Mittelmeer, um die Versorgung seiner Kolonien zu sichern. In einer Art Bündnisvertrag mit dem Osmanischen Reich versprach Großbritannien 1878 im Falle russischer Expansionsgelüste Unterstützung und erhielt im Gegenzug das Recht, Zypern zu besetzen und zu verwalten, was Großbritannien auch als Privileg interpretierte, die Insel finanziell auszuplündern. Mit der endgültigen Zerschlagung des Osmanischen Reiches im Gefolge des Ersten Weltkrieges stand einem weiteren Ausbau der britischen Herrschaft über Zypern nichts mehr im Wege. 1925 erhielt Zypern den Status einer britischen Kronkolonie – was die Zyprioten selbst wollten, interessierte ohnehin keine der Großmächte. 1881 zählte man 235.539 Bewohner. Knapp 20 Prozent von ihnen gehörten der muslimischen Religionsgemeinschaft an. Neben wenigen Katholiken, Protestanten und Juden stellten die Angehörigen der griechisch-orthodoxen Kirche den größten Teil der Bevölkerung. Trotz der Zuwanderung eines beachtlichen Teils von Türken in den türkischen Norden nach der Teilung Zyperns 1983 zählt

Antikoloniale politische Gewalt

auch heute noch der größte Teil der Zyprioten zum griechisch-orthodoxen und griechisch sprachigen Bevölkerungsteil der Insel. Die Bevölkerungszählung 2014 ergab ca. 900.000 überwiegend griechisch-orthodoxe Einwohner in der Republik Zypern und ca. 300.000 meistenteils muslimische Bewohner des türkisch besetzten Nordteils der Insel, von denen allerdings nur 135.000 als Türkenzyprer gelten. Angesichts der Bevölkerungszusammensetzung muss es nicht verwundern, dass sich die junge britische Erwerbung schon im späten 19. Jahrhundert mit griechischen Begehrlichkeiten konfrontiert sah, denn auch Griechenland hatte sich aus der osmanischen Erbmasse bedienen wollen. Und die Mehrheit der griechisch sprachigen Zyprioten befürwortete ihrerseits einen Anschluss an Griechenland. Entsprechende Hoffnungen verstärkte schließlich das Angebot Großbritanniens 1915, Zypern an Griechenland abzutreten, wenn letzteres die Alliierten in Ersten Weltkrieg unterstütze. Die zögerliche Haltung Griechenlands und sein erst spät erfolgender Eintritt in das alliierte Lager (1917) nutzte die britische Regierung als Legitimation für einen Rücktritt von diesem Angebot. Als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der noch engeren Einbindung Zyperns in das britische Kolonialreich die Hoffnungen auf eine Angliederung an Griechenland auf dem Vertragswege schwanden, kam es Ende der 1920er Jahre zur Bildung der »Enosis-Bewegung« (Unabhängigkeitsbewegung). Das Bündnis zwischen hohem orthodoxen Klerus und weltlichen rechten wie linken politischen Kräften setzte auf die Mobilisierung der Bevölkerung, war jedoch in der Zielrichtung – Autonomie innerhalb des Britischen Empire oder Unabhängigkeit – uneinig. Doch die strikte Ablehnung der Kolonialherren, in Verhandlungen einzutreten, stärkte die Radikalen. Mit der Entstehung der »Ethniki Rizospastiki Enosis Kyprou« (EREK) bildete sich eine vorerst noch gewaltfrei operierende Geheimgesellschaft, die sich der Durchsetzung der Unabhängigkeit verschrieb und die als Vorläufer der späteren »Ethniki Organosis Kyprion« (EOKA) gelten kann. Die Anschlussbewegung mündete 1931 erstmals in eine große Teile der Insel umfassende Protestbewegung ein, anlässlich derer auch der britische Regierungssitz niedergebrannt wurde. Der Kolonialregierung war es ein leichtes, die Unruhen mit Hilfe des Militärs in den Griff zu bekommen. Insgesamt kamen bei den Protesten relativ wenig Menschen zu Schaden. Auf Seiten der Aufrührer wurden 6 Tote und dreißig Verwundete gezählt. Ihnen standen 38 verwundete Polizisten gegenüber. Die »Enosis-Bewegung« mag aus den Aufstandsversuchen von 1931 gelernt haben, dass auf dem Weg des von breiten Bevölkerungskreisen getragenen (größtenteils) friedlichen Protests die Kolonialherrschaft nicht abzuwälzen war. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die territoriale Neuordnung der Welt auch Chancen für die Beendigung der Kolonialherrschaft über Zypern zu eröffnen. Ein 1950 von der orthodoxen Kirche organisiertes, auch von der Kommunistischen Partei Zyperns unterstütztes und vom türkischen Bevölke-

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rungsteil weitgehend boykottiertes Plebiszit über den Anschluss an Griechenland ergab eine 96-prozentige Unterstützung für die »Enosis-Bewegung« in der griechisch sprachigen zypriotischen Bevölkerung. Doch dieser Versuch, Druck auf Großbritannien auszuüben, blieb erfolglos. Ergebnislos verliefen in den folgenden Jahren auch diplomatische Bemühungen des kirchlichen und des linken Lagers, auf dem internationalen Parkett Unterstützung zu finden. Großbritannien wusste geschickt den Interessengegensatz zwischen Griechenland und der Türkei in der Zypernfrage zu nutzen. Schließlich verkündete 1953 Erzbischof Makarios III . (1913–1977) auf einer Versammlung vor 15.000 Menschen, »dass die Briten die Freiheit nur jenen gäben, die sie erkämpften«.8 Spätestens zu diesem Zeitpunkt begannen in Zypern Pläne für einen gewaltsamen Kampf, der ganz gezielt auf terroristische Methoden setzte. Unter der Führung des vormaligen zypriotischen Offiziers Georgios Grivas (1898–1974), auch Dighenis genannt, der im Zweiten Weltkrieg in der griechischen Armee gekämpft hatte, formierte sich die »Ethniki Organosis Kyprion« (EOKA), die »Nationale Organisation zypriotischer Kämpfer« zum Träger einer terroristischen Nadelstichpolitik. Am 1. April 1955 machte die EOKA schließlich mit einer Serie von Explosionen in Nicosia, Limassol und Larnaka auf sich aufmerksam. In Bekennerschreiben verkündete Dighenis (der Name verwies auf einen byzantinischen Krieger des 12. Jahrhunderts), dass nun mit Gottes Hilfe und der Unterstützung der hellenischen Welt der Kampf zur Befreiung der Insel von der britischen Besatzung begonnen habe. Weitere Sprengstoffanschläge in den Folgemonaten, die sich in der Regel gegen britische Besitzungen und Symbole, nicht gegen Menschen richteten, wurden seit Mitte Juni von gezielten Anschlägen gegen Angehörige der britischen Armee, Verwaltung oder sie unterstützende, vor allem türkische Zyprioten abgelöst. Grivas gab als Ziel vor: »Durch heroische und selbstaufopfernde Taten das Interesse der internationalen öffentlichen Meinung, vor allem der Verbündeten, auf die Zypern-Frage zu lenken … [und] durch fortwährende, wirksame Beunruhigung der Engländer auf Zypern unsere Entschlossenheit und den Willen zu bekunden, daß wir keine Opfer scheuen und nicht nachgeben … Der Kampf wird fortgesetzt, bis die internationale Diplomatie – die UNO  – und insbesondere die Engländer sich genötigt sehen, die Zypern-Frage zu untersuchen …«9 Vorerst schien der Plan nicht aufzugehen. Großbritannien setzte auf dem internationalen Parkett auf die Strategie, die Zypernfrage durch Stärkung des Gegensatzes zwischen Griechenland und der Türkei auf die lange Bank zu schieben. Auch im Innern Zyperns engagierten sich die Kolonial8 Makarios zitiert nach Richter, H. A., Geschichte der Inseln Zypern, Band 2: 1950–1959, Mannheim und Möhnsee 2006, S. 84. 9 Grivas, G., Partisanenkrieg heute. Lehren aus dem Freiheitskampf Zyperns, Frankfurt a. M. 1964, S. 131.

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herren vor allem als Brandstifter in den Konflikten zwischen griechischen und türkischen Zyprioten, indem sie größtenteils türkische Polizeikräfte gegen die griechischen Widerständler einsetzten. Hier ist nicht der Raum die Eskalation der gewaltsamen Konflikte im Einzelnen nachzuzeichnen. In den vier Jahren des EOKA-Terrors bis zum Februar 1959 wuchsen die Gewaltanwendungen kontinuierlich an. Durchschnittlich zehn Tote pro Monat durch EOKA-Attacken wurden im Sommer 1956 gezählt, im Frühjahr 1957 wurden bereits 26 Tote pro Monat aufgelistet. »Gegen die britische Kolonialmacht gerichtete Kämpfe und Überfälle wechselten sich mit Gräueltaten ab, die griechische Zyprioten an der türkischstämmigen Bevölkerung Zyperns  – und umgekehrt begingen.«10 Die Kolonialmacht reagierte mit der Verhängung des Ausnahmezustands, mit Ausgangssperren, Geldstrafen, kollektiver Bestrafung durch die Zerstörung des Eigentums der unterstützenden Bevölkerung und der Deportation Erzbischofs Markarios III ., des kirchlichen Führers der »EnosisBewegung«. Anders als im Mutterland der Kolonie erlaubte die Gesetzeslage in Zypern, gefangengenommene EOKA-Mörder mit der Todesstrafe durch Erhängen zu bestrafen. Als 1956 Beschuldigungen laut wurden, dass Angehörige der auf 30.000 Mann aufgestockten britischen Armee EOKA-Gefängnisinsassen folterten, begann sich in Großbritannien und auf internationaler Ebene Protest gegen das Verhalten der Kolonialmacht auf Zypern zu erheben. Den Kampf um Unterstützung der eigenen Politik in der zypriotischen Bevölkerung hatte Großbritannien zu diesem Zeitpunkt schon längst verloren. Insbesondere im Jahr 1958 eskalierte die Gewalt zwischen griechischen und türkischen Zyprioten und dem britischen Militär wurden zumindest einseitige, wenn nicht gar eskalierende Interventionen unterstellt. In diesem Jahr knickte die britische Regierung schließlich endgültig ein. Zähe Verhandlungen zwischen Großbritannien, Griechenland und der Türkei mündeten in den Verträgen von Zürich und London (19. Februar 1959), die Erzbischof Markarios III . für die griechischen Zyprioten unterschrieb. Sie beendeten die Terror-Attacken der EOKA und bereiteten den Übergang Zyperns in die Selbständigkeit vor. Am 16. August 1960 wurde Zypern selbständig. Von Anfang an war der antikoloniale Kampf der EOKA in Zypern und in Großbritannien mit einer medialen Auseinandersetzung um die Deutung der Gewaltanwendung verbunden gewesen. Auf Seiten der Kolonialmacht setzte sich rasch die Benennung der EOKA-Kämpfer als Terroristen durch. Betont wurde in den britischen Medien die Brutalität der EOKA-Gewalt. Die Zeitungen berichteten über Bomben unter dem Bett des Gouverneurs, von 10 Koureas, G., Das Unsichtbare sichtbar machen. Auf den Spuren des Bildes vom Terroristen im zypriotischen Unabhängigkeitskrieg (1955–1959), in: Hikel, Ch. u. S. Schraut (Hg.), Terrorismus und Geschlecht. Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2012, S. 257–278, hier: S. 257.

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der Erschießung einen 18-jährigen britischen Soldaten auf einem Badeausflug oder der Entführung eines 70-jährigen Briten. Sie bescheinigten der zypriotischen Bevölkerung die politische Reife von Kindern, denen die britischen Werte nicht gut genug vermittelt worden seien, und zeichneten insgesamt das Bild eines Kampfes der unsichtbaren brutalen zypriotischen Terroristen gegen die netten britischen Jungen von nebenan. Umgekehrt wurde in der zypriotischen Öffentlichkeit den EOKA-Kämpfern der Status von Helden zugesprochen. Insbesondere die Bilder, die über erhängte EOKA-Mitglieder kursierten, waren dazu angetan, die Attentäter in von der britischen Übermacht ermordete Märtyrer zu verwandeln. Der symbolische Wert dieser Bilder zeigt sich bis heute. Die Fotos der geschwächten Leiber der Freiheitshelden werden in großer Menge im Museum des Nationalen Kampfes in Nicosia gezeigt. Sie veranschaulichen den normativen Wandel, dem terroristische Gewalt unterliegt, wenn sie sich gegen einen zahlenmäßig überlegenen Gegner wendet, der sich anderen – zivileren – Auseinandersetzungsformen verweigert, sich aber als Träger höherwertiger Zivilisation geriert. Wie Benjamin Grob-Fitzgibbon mit Blick auf die vormalige britische Kolonialmacht schreibt, »the terrorism and insurgency that plagued the British Empire in the postwar period cannot be separated from its larger historical context  – from the legacies of World Wars I and II , from the grievances and causes of the insurgent groups themselves, and from Britain’s, struggles to manage its own imperial decline and de-colonization«.11 Algerien: Der Weg in die Gewalteskalation Die Geschichte Algeriens als französische Kolonie reicht in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts zurück. Das 1830 in Besitz genommene Territorium und seine Erweiterungen in den folgenden Jahrzehnten war nur unter massivem Gewalteinsatz zu erobern und stieß von Anfang an und bis zum bitteren Ende immer wieder auf gewaltsame Widerstandsbewegungen. »Registering its impact cumulatively (by quantity) and longitudinally (over time), violence became integral to the political culture of an intensely conflicted society.«12 In der Epoche der dritten französischen Republik (1870–1940) erlebte die Kolonie eine Phase intensiver Einwanderung europäischer, insbesondere französischer Siedler und eine Verdrängung der indigenen Bevölkerung aus den fruchtbaren Gebieten des Landes. Zu einer Französisierung der Kolonie kam es dennoch 11 Grob-Fitzgibbon, B., The Empire strikes back, 1952–1968, in: Law, R. D. (Hg.), The Routledge history of terrorism, London / New York 2015, S. 190–203, hier: S. 200. 12 Thomas, M. C., Violence in the Algerian war of independence, in: Law, S. 218–238, hier: S. 218.

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nicht. Bis 1954 stellte der Anteil der europäischen Siedler nie mehr als 14 % der Bevölkerung. Diese weiße Minderheit entwickelte jedoch eine spezifische Kolonialidentität als »Algériens«. Sie war durch Misstrauen gleichermaßen gegenüber Paris wie gegenüber der muslimischen indigenen Bevölkerung gekennzeichnet und schlug sich in deutlichem Rassismus bzw. einer Benachteiligung der Natives in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft nieder. Organisiert in drei Departements galt Algerien seit 1871 als Bestandteil Frankreichs. Zwar setzte Paris einen Generalgouverneur zur Verwaltung der Kolonie ein, doch die europäischen Siedler konnten Abgeordnete ins französische Parlament entsenden. Sie wählten in der Kolonie Stadträte und Bürgermeister und vertraten ihre Interessen in der 1898 institutionalisierten »Délégation financière« gegenüber dem Generalgouverneur. Bis 1947 war die indigene Bevölkerung aus den politischen Partizipations- und Selbstverwaltungsinstanzen ausge­ schlossen. Dem assimilationswilligen Teil der muslimischen Einwohner hatte Frankreich zwar die französische Staatsbürgerschaft in Aussicht gestellt, doch zwischen 1865 und 1937 befand die Kolonialmacht lediglich 4.298 muslimische Algerier dieses Privilegs würdig. Gegen diese Benachteiligungen begann sich etwa seit der Wende zum 20. Jahrhunderts ein algerischer Nationalismus in unterschiedlichen Strömungen zu formieren. Er erhielt durch die Beteiligung algerischer indigener Soldaten am Ersten Weltkrieg und die ausbleibenden wirtschaftlichen und politischen Belohnungen in den 1920er Jahren Auftrieb. Die Forderung, zumindest die politischen Partizipationsrechte der indigenen Algerier zu erweitern, war jedoch in Frankreich nicht durchsetzbar. Es bedurfte der Beteiligung algerischer muslimischer Soldaten am Zweiten Weltkrieg, um im Mutterland der Kolonie ein begrenztes Einlenken zu befördern. Zwar wurden alle Forderungen nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zurückgewiesen, doch seit 1947 erhielten die indigenen Algerier die französische Staatsbürgerschaft. Auch in der neu geschaffenen »Assemblée Algérienne«, dem Regionalparlament der Kolonie, war der mus­ limische Bevölkerungsteil nun vertreten. Dass die damals etwa acht Millionen Muslime im Parlament genauso von sechzig Abgeordneten repräsentiert wurden wie die eine Million zählenden europäischen Siedler, verdeutlicht ebenso wie massive Wahlfälschungen den eher kosmetischen Charakter der eingeleiteten Demokratisierungsprozesse. Die Zugeständnisse gingen Teilen der algerischen Nationalbewegung nicht mehr weit genug. Anders jedoch, als in den zeitgleichen antikolonialen Auseinandersetzungen etwa in Vietnam oder Tunesien, wo die Unabhängigkeitsbewegungen sichtbare Erfolge erzielten, scheinen die französischen Reformen in Algerien dazu beigetragen zu haben, die dortigen politischen Parteiungen der Unabhängigkeitsbewegung in sich zerstritten und handlungsunfähig zu halten. So waren »die akkulturierten Notabeln und Intellektuellen, die sich um die ›Union démocratique du manifeste algérien‹ (UDMA) von Ferhat Abbas (1899–1985) gruppierten, nicht gänz-

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lich« bereit, die Beziehungen Algeriens zur Kolonialmacht zu lösen.13 Auch herrschte im radikaleren Flügel der Nationalbewegung Uneinigkeit darüber, ob die Zeit für einen bewaffneten Aufstand schon reif sei. Über diese Debatte hatte sich die »politische Heimat [H. i. O.] der Aufständischen, das ›Mouvement pour le triompe des libertés démocratiques‹ (MTLD) … gespalten«.14 In dieser Situation formierte sich 1954 aus Vorläuferorganisationen die »Front de Libération Nationale« (FLN) unter Ahmed Ben Bella (1918–2012), einem algerischen vormaligen Angehörigen der französischen Armee. Die FLN propagierte von Anfang an das Ziel, den bewaffneten Kampf mit der Kolonialmacht aufzunehmen. Am 1. November 1954 verübte die »Armee de libération nationale« (ALN), der militärische Arm der FLN eine erste, aufsehenerregende Anschlagserie an dreißig Orten des Landes. Die koordinierte Aktion galt ca. siebzig Einrichtungen der französischen Verwaltung und Infrastruktur. Weitere Anschläge folgten in den nächsten Monaten. Zwei Ziele waren mit den Anschlägen verbunden: Zum einen sollte das Kolonialsystem geschwächt, zum andern mit den Gewalttaten die Internationalisierung der Algerienfrage erreicht werden. Allzu erfolgreich scheint die Bewegung mit der Entfachung eines Volksaufstands anfangs nicht gewesen zu sein. Der Zulauf an gewaltbereiten Aktivisten hielt sich vorerst in Grenzen. Vermutlich verfügte die ALN in der Anfangsphase höchstens über 1.500 Kämpfer. Taktisch orientierte sich die Gruppierung an den Strategien der französischen Résistance und des Viet Minh, »indem sie überraschend zuschlug und sich schnell wieder zurückzog, um einer offenen Auseinandersetzung mit den überlegenen Sicherheitskräften aus dem Weg zu gehen … Der Bevölkerung sollte die Hilflosigkeit der französischen Kolonialmacht, in Algerien Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, vor Augen geführt werden.«15 Aus der zögerlichen Unterstützung der terroristischen Aktionen der Anfangsphase entwickelten sich angesichts der französischen Gegenreaktionen in kurzer Zeit ein Flächenbrand und schließlich ein Kolonialkrieg. David Mollenhauer unterscheidet drei Phasen in den gewaltsamen Auseinandersetzungen, die 1962 schließlich zur Unabhängigkeit Algeriens führten: Die erste Phase, vom November 1954 bis Ende 1956, »ist vor allem von der langsamen, aber scheinbar unaufhaltsamen Ausbreitung des Aufstands und der Durchsetzung des »Front de Libération Nationale (FLN) als der dominierenden Kraft des algerischen Nationalismus gekennzeichnet«.16 In der zweiten Phase, die sich bis zur Machtübernahme De Gaulles 1958 in 13 Mollenhauer, D., Die vielen Gesichter der pacification: Frankreichs Krieg in Algerien (1954–1962), in: Klein u. Schumacher, S. 329–366, hier: S. 333 f. 14 Ebd., S. 334. 15 Klose, F., Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien 1945–1962, München 2009, S. 105 f. 16 Mollenhauer, S. 333.

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Frankreich erstreckte, »suchte die Kolonialmacht Frankreich sowohl politisch als auch militärisch nach Mitteln und Wegen, jenseits des Mittelmeers die Initiative wieder an sich zu reißen und die Kontrolle über die Bevölkerung zurückzubekommen«.17 Die dritte Phase bis zur Unabhängigkeit 1962 lässt sich als militärisches Patt charakterisieren, in der die geschwächte Kriegspartei FLN wieder zur Methode des Terrorismus zurückkehrte und De Gaulle letztlich einsehen musste, dass der Widerstand in Algerien mit kriegerischen Mitteln nicht zu brechen war. Für die folgenden Überlegungen ist nur die erste Phase des Algerienkriegs von Interesse. Wie gelang es der ALN bzw. FLN, mit terroristischen Mitteln die Kolonialmacht und die weißen Kolonisten zu derart gewaltbereiten Gegenmaßnahmen zu provozieren, dass hieraus einerseits ein (Bürger-)krieg entstehen, andererseits eine breite Unterstützung der indigenen Bevölkerung gewonnen werden konnte? Der Wandel von einer Terrorgruppe zur Guerillatruppe und schließlich zur Kriegspartei hat viel mit den Charakteristika des Kolonialismus als Herrschaftsmethode zu tun. Im fernen Paris hatte Innenminister Francois Mitterrand bereits anlässlich der ersten Anschläge im November 1954 erklärt: »Die Aktionen der fellaghas [H. i. O.] erlauben es nicht, in welcher Form auch immer, an Verhandlungen zu denken« und die Reaktion darauf »kann nur eine letzte Form finden, den Krieg«.18 Regierungschef Mendès-France zufolge handelte es sich um Anschläge, verursacht durch die »kriminelle Energie einiger Männer«, denen mit »rückhaltloser Repression« begegnet werden müsse. Diese »stelle kein Unrecht dar«.19 Die Legitimation der kriegerischen Reaktion des Mutterlandes beleuchtet prägnant die Widersprüche, in die sich die französische Politik verwickelte. Einerseits Algerien als festen Bestandteil Frankreichs begreifend und die Einwohner Algeriens zu französischen Staatsbürgern erklärend, genossen diese offenbar dennoch nicht Rechtsgleichheit mit den weißen Einwohnern des französischen Imperiums. Wie sonst ließe sich erklären, dass nicht das Repertoire des Rechtsstaats gegen Terrorismus in Gang gesetzt wurde, sondern die Militärmaschinerie? Zwar sah sich das französische Militär einer doppelten Aufgabenstellung verpflichtet – zum einen der militärischen Bekämpfung der ALN, zum andern dem entwicklungspolitisch interpretierten Kampf um die Köpfe und Herzen der indigenen Algerier – doch in der Praxis fühlte sich der Kriegsapparat wenig an Konventionen der Rechtstaatlichkeit oder des Kriegsrechts gebunden. Die französische Armee setzte – begründet oder unbegründet – die indigene muslimische Bevölkerung Algeriens mit dem 17 Ebd., S. 335. 18 Mitterrand zitiert nach Renken, F., Kleine Geschichte des Algerienkrieges, in: KohserSpohn, Ch. u. F. Renken (Hg.), Trauma Algerienkrieg. Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 25–50, hier: S. 32. 19 Kohser-Spohn, ›Ch., Vorwort, in: Ebd., S. 19–23.

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kampfbereiten Flügel der FLN gleich und behandelte sie angesichts der Bedrohungsszenarien als rechtlose Feinde. In Durchkämmungsaktionen wurden zahlreiche Verdächtige festgenommen, befragt und gefoltert, insgesamt Maßnahmen, die den französischen Werbefeldzug diskreditierten. Im Gegenzug töteten die Aufständischen in Gefangenschaft geratene Soldaten. Französische Vergeltungsmaßnahmen gegen die nahegelegenen Dörfer, ihre Bombardierung und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung trieben der ALN und FLN die Unterstützer in die Arme, auf die sie mit ihrer Nadelstichpolitik gehofft hatten. Die Anschlagserie schwoll zunehmend an. Im August 1955 gelang es der FLN, in Constantinois einen gewaltsamen Aufstand der verarmten Landbevölkerung zu entfachen. 123 französische Zivilisten und einheimische Aufstandsgegner wurden getötet. Die französische Armee antwortete mit einem entsprechenden Gegenschlag in Philippeville. Nach französischen Angaben fielen ihm 1.273 Personen zum Opfer. Die FLN zählte 12.000 Tote. Nun begannen sich auch viele politisch eher moderate Moslems der FLN anzuschließen und die französische Armee rüstete auf. Aus diesen Anfängen sollte ein blutiger Krieg der FLN gegen die Kolonialmacht und ihre indigenen Hilfstruppen, die Harkis, entstehen. Doch die FLN kämpfte nicht nur gegen die Kolonialherren, sondern auch mit den konkurrierenden nationalistischen Strömungen im eigenen Volk. Da auch die französischen Siedler eigene bewaffnete Truppen bildeten, stellte sich phasenweise die Gewaltexzesse als eine Mischung aus Bürgerkrieg, Kolonial- und Antikolonialkrieg dar. Frank Renken geht insgesamt von 250.000 bis 300.000 getöteten Moslems, einer unbekannten Vielzahl von Gefolterten und Verletzten und über zwei Millionen Moslems aus, die von der französischen Armee in Lagern gefangen gehalten wurden. Ihnen stehen rund 24.000 bis zum Kriegsende 1962 gefallene Franzosen gegenüber. »Die verheerende Wirkung des Krieges auf die algerische Gesellschaft lässt sich erahnen, wenn man bedenkt, dass die moslemische Gesamtbevölkerung im Oktober 1954 nicht mehr als 8,5 Millionen zählte. … Der Algerienkrieg war eine der letzten großen Militäroperationen des europäischen Kolonialismus.«20 Doch dessen Verlauf, seine Rückwirkungen auf die französische Innenpolitik und die französischen Staatskrisen oder der lange Weg in Frankreich vom tabuisierten Thema zur politischen Aufarbeitung im Wesentlichen erst nach der Jahrtausendwende stehen hier nicht mehr zur Debatte. »Im Falle der FLN war Terrorismus ein wesentlicher Bestandteil der Strategie und wurde völlig kalkuliert zum Einsatz gebracht. Allerdings erfolgten die Terroranschläge im Gesamtzusammenhang eines von beiden Seiten äußerst brutal geführten Krieges und ergaben sich zu einem Gutteil aus dem ungleich verteilten Kräfteverhältnis.«21 »More than 20 Renken, Kleine Geschichte, S. 29. 21 Riegler, Th., Terrorismus. Akteure, Strukturen, Entwicklungslinien, Innsbruck u. a. 2009, S. 50.

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anything else«, so Martin C. Thomas, »it was this French counter-terror that set the violence of the Algerian war apart.«22 Kennzeichnend für den algerischen Unabhängigkeitskampf war jedoch nicht nur die Strategie der gewaltsamen Provokationen. Parallel engagierten sich die Terroristen intensiv auf der internationalen politischen Bühne. Wie Fabian Klose schreibt, gelang es der FLN, »unabhängig von der militärischen Entwicklung in Algerien …, auf internationaler Ebene die öffentliche Meinung für ihre Zwecke zu mobilisieren und Frankreich dadurch massiv unter Druck zu setzen.«23 Schon zu Beginn der gewaltsamen Auseinandersetzung richtete die FLN in Ägypten ein Auslandsbüro ein, das den Kontakt zu den jungen afrikanischen und arabischen Nationalstaaten halten sollte und erfolgreich um deren Unterstützung in der UNO warb. Bereits im Januar 1955 rief Saudi-Arabien den UN-Sicherheitsrat wegen der Algerienfrage an. Im Juli des gleichen Jahres beantragten 13 afroasiatische Staaten, das Algerienproblem auf die Tagesordnung der UN-Generalversammlung zu setzen. Bis 1961 beanspruchte der Algerienkrieg immer wieder Platz auf der Agenda der UN-Generalversammlung. Dabei wurde die Verletzung der Menschenrechte bei der militärischen Bekämpfung der Aufständischen zum stets aufs Neue betonten Synonym für die Unrechtmäßigkeit der französischen Politik in Algerien. Die konkreten Erfolge der FLN auf UNO -Ebene waren gering, doch in der internationalen medialen Öffentlichkeit setzte sich mehr und mehr die Gleichsetzung der französischen Militärinterventionen in Algerien mit Menschenrechtsverbrechen durch. Zwar versuchte Frankreich im Gegenzug die Gräuel der Aufständischen publik zu machen, doch angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses der Konfliktparteien brachte diese Strategie Frankreich weder bei Kritikern im eigenen Land noch in der internationalen Öffentlichkeit Vorteile ein. Es waren vor allem bekannt gewordene Fälle von Folter, die zur Diskreditierung des französischen Militärs in Frankreich und auf internationaler Ebene beitrugen. Als Beispiel mag die mediale Aufarbeitung des Schicksals von Djamila Bouhired dienen. Die 22-jährige FLN-Kämpferin war im April 1957 nach einem Schusswechsel in die Hände des französischen Militärs gefallen und in einem Militärkrankenhaus mehrere Tage gefoltert worden. Als sie von einem Militärgericht wegen ihrer Beteiligung an Bombenanschlägen zum Tod verurteilt wurde, erhob sich eine internationale Protestwelle. Djamila Bouhired, auf Plakaten dargestellt als französische Marianne mit algerischer Fahne, avancierte zur Ikone des antikolonialen algerischen Kampfes. Schließlich gab die französische Regierung nach und wandelte das Todesurteil in eine Haftstrafe um. »Djamila Boupacha [H. i. O.] ist, wie viele aufständischen Algerier, soeben aus der französischen Haft entlassen worden. Sie ist frei«, schrieb 1962 »Die Zeit« über die 22 Thomas, S. 219. 23 Klose, S. 257.

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algerische gewaltbereite Aufständische. »… Picasso hat eine Zeichnung von ihr gemacht, Er tat dies, um ihr zu helfen. Simone de Beauvoir, die Schriftstellerin und Gefährtin des Philosophen Sartre, hat für sie gezeugt; desgleichen André Philip, ein Prominenter im Lager der Sozialisten, und Jules Roy, der Fliegeroberst außer Dienst, der – wie der einstige Fliegergeneral Jouhaud – ein Pied noir ist, also ein gebürtiger Algerier; auch Françoise Sagan schrieb zu ihren Gunsten, die Romanautorin, und schließlich Monsieur de Bollardière, der jüngste General der französischen Armee, der seinen Dienst aufkündigte. Diese alle und viele andere haben sich für Fräulein Boupacha eingesetzt [H. i. O.].«24 Fazit: Den Kampf um seine Kolonie Algerien verlor Frankreich nicht militärisch, sondern im Menschenrechtsdiskurs in und außerhalb Frankreichs. Die Beispiele Zypern und Algerien bieten anschauliches Material für die Charakterisierung antikolonialer Gewalt nach dem Zweiten Weltkrieg. Offenbar weichten die koloniale Gewalttradition und die Klassifizierung der Kolonialbürger als Bürger zweiter Klasse, der damit verbundene Rassismus und die Selbststilisierung zu kulturell überlegenen Erziehern der minderwertigen, politisch kindlichen Anderen die Selbstbeschränkungen auf, denen Militäreinsätze nach geltendem Kriegsrecht genügen sollten. Weder in Zypern, noch in Algerien waren die britischen bzw. französischen Militärinterventionen mit den zeitgenössisch geltenden rechtstaatlichen Vorstellungen über militärische Einsätze  – noch dazu im eigenen Herrschaftsgebiet  – vereinbar. Es waren diese gewaltsamen Rechtsverletzungen der Kolonialherren, die den anfangs keineswegs breit unterstützten gewaltbereiten Aufständischen den Zulauf der indigenen Bevölkerung sicherten. Doch neben der Verschärfung der Konflikte durch Gewalt und Gegengewalt war es vor allem das politische und kulturelle Selbstverständnis der Kolonialmächte als rechtstaatliche Demokratien, an dem sie sich von ihren Kritikern messen lassen mussten, und das den Herrschaftsanspruch der Kolonialherren diskreditierte. Lassen sich Belege für die hybride Durchdringung der antikolonialen Strategien mit Wissen und Kenntnissen, die den Kolonialherren entlehnt wurden, belegen? Als ein Beispiel für solche Lernprozesse könnten die indigenen algerischen Journalisten herangezogen werden, die in ihren Bildungsgängen reichlich westeuropäische Kultur genießen durften. Zwar spielte die indigene Presse in Algerien keine große Rolle, doch der indigene Pressediskurs hatte bereits in der Zwischenkriegszeit beträchtlich zur Identitätsbildung in der muslimischen Bevölkerung beigetragen und ein Fundament dafür gelegt, »dass eine Ideologie wie die des Nationalismus, welche Algerien bis dahin kaum gekannt hatte, ab den dreißiger Jahren rapide an Popularität gewinnen konnte.«25 Auch die 24 Müller-Marein J., Das arabische Mädchen Djamila, in: Die Zeit, 27.4.1962. 25 Zessin, Ph., Die Stimme der Entmündigten. Geschichte des indigenen Journalismus im kolonialen Algerien, Frankfurt a. M. / New York 2012, S. 325.

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zweigleisigen Kampfmethoden – die Verschärfung der Widersprüche durch Gewalt und der mediale Kampf auf den internationalen Bühnen – konnten die Befreiungsbewegungen von ihren europäischen Gegnern erlernen. Nicht wenige Führer der Terrorgruppen hatten im Zweiten Weltkrieg ausreichend eigene Kampf- und Strategieerfahrungen auf dem europäischen Kriegsschauplatz sammeln können.

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9. Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren In den 1960er und 1970er Jahren erreichte eine neue terroristische Welle die Industrieländer der westlichen Einflusssphäre, Westeuropa, die USA und Japan. Für sie wird in der Forschung häufig die Bezeichnung linker oder sozialrevolutionärer Terrorismus verwendet. Ihre Träger waren gewaltbereite Bewegungen, die an die marxistischen oder auf den Marxismus aufbauenden Gesellschaftsanalysen anknüpften und eine sozialistische bzw. kommunistische Umgestaltung der bürgerlichen parlamentarischen Demokratien anstrebten. Sich selbst als Avantgarde und Speerspitze der zukünftigen antikapitalistischen Revolution definierend, begriffen sie ihre gewaltsamen Übergriffe auf Symbole und Repräsentanten der wirtschaftlichen und staatstragenden Eliten als Provokationen mit Initialzündungscharakter gegen das jeweilige angegriffene System. Die zu erwartenden staatlichen Gegenreaktionen sollten die gesellschaftlichen Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit offenlegen, gegebenenfalls zu ihrer Eskalation beitragen und zur Revolutionierung der Massen führen. In gewisser Weise in der Tradition des Anarchismus stehend, gingen die Gesellschaftsanalysen der neuen sozialrevolutionären terroristischen Bewegungen über die entsprechenden Bestandsaufnahmen des 19. Jahrhunderts hinaus, denn sie rückten häufig den Imperialismus der Westmächte und die Globalisierungseffekte des Kapitalismus ins Zentrum ihrer politischen Analysen. Die Entstehung der, historisch gesehen, zweiten Welle des linken oder sozialrevolutionären Terrorismus ist eng mit den Protestbewegungen verwoben, die dieser Epoche ihren Stempel aufdrückten. Eine gesellschafts- und kulturkritische Jugend- und Studentenbewegung begann sich von den tradierten politischen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen abzugrenzen. Sie traf mit einer in weiten Gesellschaftskreisen verankerten kritischen Haltung zum kriegerischen Vietnamengagement der USA zusammen. Beide Strömungen überlappten bzw. verstärkten sich und beförderten eine staats-, herrschafts- und kulturkritische Haltung in der ersten, vom Zweiten Weltkrieg unberührten Generation. Zumeist wird das Auftauchen des Linksterrorismus als Zufallsprodukt des zeitgenössischen Protestklimas angesehen. Doch es gibt eine große Bandbreite von Deutungen. Autoren wie der Politikwissenschaftler und CDU-Politiker Gerd Langguth begreifen die Entstehung des sozialrevolutionären Terrorismus als logische Konsequenz der genannten Protestbewegungen. Nicht als Folge, sondern als Zerfallsprodukte dieser Bewegungen bezeichnen andere Forscher, so z. B. der Politikwissenschaftler Alexander Straßner, die Organisationen des sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre: die »Brigate Rosse« in Italien, die »Cellules Communistes Combattantes« in Belgien, die »Action Directe« in Frankreich, die »Weathermen« in den USA , die »Rote Armee Faktion« in Japan und die »Rote Armee Fraktion« (RAF) in der Bundesrepublik Deutsch-

Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren

land.1 In Westdeutschland prägte die politische, gesellschaftliche und rechtliche Auseinandersetzung mit der RAF und ihren Nachfolgeorganisationen die 1970er Jahre. Die RAF gilt als »die bedeutendste terroristische Organisation in der Bundesrepublik Deutschland«.2 Bei dieser Bewertung steht nicht die Zahl der Opfer im Vordergrund. Betont werden vielmehr die politischen und kulturellen Nachwirkungen der Auseinandersetzungen um die (Il-)Legitimität politischer Gewalt, die Angemessenheit staatlicher Gegenmaßnahmen und die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik. Die RAF fand Eingang in zahlreiche künstlerische Beschäftigungen mit dem Thema Terrorismus. Sie war Gegenstand etlicher, zum Teil umstrittener Ausstellungen und provozierte eine Reihe der deutschen Filmemacher zu filmischen Auseinandersetzungen mit politischer Gewalt. Selbst in die Werbung – so z. B. der Marke Benetton – fand die RAF Eingang. Auch heute noch entfacht beispielsweise die Frage, ob die Gesellschaft von Terroristen Reue für ihre Taten verlangen könne, mediale Debatten, etwa wenn es um die Haftzeitverkürzung von Mitgliedern der kriminellen Vereinigung nach langen Gefängnisstrafen geht. Die Geschichte der RAF im Überblick Die Entstehungsgeschichte und die nackten Fakten zur Entwicklung der RAF sind rasch benannt: Am 2./3. April 1968 erregten als Proteste gegen den Vietnamkrieg deklarierte Brandanschläge in zwei Frankfurter Kaufhäusern die Öffentlichkeit. Kurz darauf verhaftete die Polizei den Bauarbeiter mit Verankerung im Protestmilieu, Andreas Baader (1943–1977), die in der Protestbewegung engagierte Germanistin Gudrun Ensslin (1940–1977) sowie Thorwald Proll (geb. 1941) und Horst Söhnlein (geb. 1943), beide erfahren in der außerparlamentarischen Opposition. Dass sich der »Sozialistische Deutsche Studentenbund« (SDS), der zentrale Träger der außerparlamentarischen studentischen Opposition, von der Aktion sofort distanzierte, verdeutlicht die zu diesem Zeitpunkt beginnende Spaltung der Protestbewegung hinsichtlich der Beurteilung politischer Gewalt als legitimes Mittel. Weniger Monate später wurden die vier Brandstifter zu jeweils drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Urteil bestätigte nach Meinung des Schriftstellers Uwe Nettelbeck (1940–2007) in der »Zeit« »das Marschziel des Prozesses, den vier Angeklagten auf Biegen und Brechen mit einer drastischen Strafe zu kommen, weil es galt, einen Angriff auf die herrschende Ordnung zu ahnden, im Rahmen des juristisch vielleicht noch

1 Straßner, A., Sozialrevolutionärer Terrorismus: Typologien und Erklärungsansätze, in: Ders. (Hg.), Sozialrevolutionärer Terrorismus, Wiesbaden 2008, S. 9–33, hier: S. 21. 2 Ebd., S. 209.

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eben Möglichen«.3 Als der Bundesgerichtshof im Oktober 1969 die Revision des Urteils verwarf, entzogen sich Baader, Ensslin und Proll dem Haftantritt durch Abtauchen in den Untergrund. Der erneuten Verhaftung Baaders 1970 folgte seine gewaltsame Befreiung durch die »konkret«-Journalistin Ulrike Meinhof (1934–1976) und andere am 14. Mai 1970. Das Datum gilt als die Geburtsstunde der RAF. »Ohne gleichzeitig die Rote Armee aufzubauen«, heißt es im Gründungsdokument, »verkommt jeder Konflikt, jede politische Arbeit im Betrieb und im Wedding und im Märkischen Viertel und in der Plötze und im Gerichtssaal zu Reformismus, d. h.: Ihr setzt nur bessere Disziplinierungsmittel durch, bessere Einschüchterungsmethoden, bessere Ausbeutungsmethoden. … Die Konflikte auf die Spitze treiben heißt: Daß die nicht mehr können, was die wollen, sondern machen müssen, was wir wollen.«4 Zum Zeitpunkt ihrer Gründung scheinen der RAF ca. zwanzig Personen angehört zu haben. Sie werden in den Medien und der Forschung gerne als »Erste Generation« der RAF bezeichnet. Eine Reihe von Banküberfällen, die auf das Konto der RAF gingen, spektakuläre Fahndungs- und Verhaftungsmaßnahmen, in denen RAF -Mitglieder wie Petra Schelm (1950–1971) und Polizeiangehörige wie Hans Eckhardt (1922–1972) im Schusswechsel zu Tode kamen, begannen zunehmend die mediale Öffentlichkeit zu beherrschen. Bombenanschläge auf Justizangehörige, die für die Ermittlungen zuständig waren, wie Bundesrichter Wolfgang Buddenberg (1911–1997), auf das Verlagshaus »Springer« (1972) oder das Heidelberger Hauptquartier der US -Streitkräfte (1972) machten deutlich, dass die RAF der Bundesrepublik Deutschland den Krieg erklärt hatte. Mit der Inhaftierung der zentralen Initiatoren der RAF im Jahr 1972 schien ein Ende des sozialrevolutionären Terrorismus absehbar. Doch die politische Indienstnahme der Haftbedingungen als Isolationsfolter, Hungerstreiks der Inhaftierten und medienwirksame Auftritte vor Gericht führten zu einer neuerlichen Rekrutierungswelle im gewaltbereiten politischen Umfeld. Mitte der 1970er Jahre wuchsen die gewaltsamen Aktivitäten einer neuen Mitgliedsgruppe an, die als »Zweite Generation« der RAF begriffen wird. Auf ihr Konto geht beispielsweise der Überfall auf die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm (1975), mit dem Ziel, die Freilassung von RAF -Mitgliedern zu erpressen. Der Höhepunkt ihrer Anschläge war im Jahr 1977 erreicht. Innerhalb weniger Monate ermordeten RAF -Mitglieder Generalbundesanwalt Siegfried Buback (1920–1977), Jürgen Ponto (1923–1977), Vorstandssprecher der Dresdner Bank, und Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer (1915–1977). Die Terror­ welle endete vorerst mit dem Scheitern des Versuchs palästinensischer Ter3 Nettelbeck, U., Die Frankfurter Brandstifter, in: Die Zeit, 45, 1968 http://www.zeit.de/ 2006/09/II__1968_45_nettelbeck_prozess/komplettansicht (22.4.2016). 4 Die Rote Armee aufbauen. Erklärung zur Befreiung Andreas Baaders vom 5. Juni 1970, abgedruckt in: Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 24–26, hier: S. 26.

Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren

roristen, mittels einer Flugzeugentführung, RAF -Mitglieder freizupressen (Oktober 1977) und dem Selbstmord Baaders, Ensslins und Jan-Carl Raspes (1944–1977) im Gefängnis. Knapp eineinhalb Jahre zuvor war ihnen bereits Ulrike Meinhof mit Selbstmord vorausgegangen. Insgesamt war der RAF -Terrorismus der 1970er Jahre mit seinem Kulminationspunkt 1977 durch eine beispiellose mediale Präsenz der Ereignisse, heftigste Debatten über rechtsstaatliche Gegenmaßnahmen und oppositionelle Grundrechte sowie den Ausbau der staatlichen Sicherheitsmaßnahmen und zugehöriger rechtlicher Regelungen begleitet. Doch mit den gewaltsamen Aktionen des Jahres 1977 demontierte die RAF »ihren eigenen politischen Anspruch und Teile selbst der extremen Linken wurden vor den Kopf gestoßen«.5 Einer relativ ruhigen Phase, in der sich die »zweite Generation« desillusioniert zurückzog oder inhaftiert wurde, folgte schließlich Mitte der 1980er Jahre eine »dritte RAF -Generation«. Auch sie begriff Sprengstoffanschläge und die Ermordung von Mitgliedern der wirtschaftlichen und politischen Elite der Bundesrepublik als probates Mittel auf dem Weg zur Revolution. Doch erstaunlicher Weise gelang es den Enkeln der Gründergeneration der RAF nicht mehr, die mediale Aufmerksamkeit des Terrorismus der 1970er Jahre zu entfachen. Insgesamt wirkten die Reaktionen in den Medien, seitens der staatlichen Ordnungsbehörden, aber auch des linken politischen Lagers in den 1980er und 1990er Jahren vergleichsweise entemotionalisiert und versachlicht. Das in den Medien repräsentierte Deutschland fühlte sich offenbar nicht mehr durch Terrorismus in seiner Existenz bedroht und die Haftbedingungen der RAF -Mitglieder im Gefängnis ließen sich nicht mehr als Rekrutierungsargument im angeblich faschistischen Staat nutzen. In der politischen Bedeutung marginalisiert und im linken Milieu isoliert, erklärte die RAF am 20. April 1998 in einem Schreiben an die Nachrichtenagentur Reuters ihre Auflösung. Einer Bilanz zufolge, die »Der Spiegel« 2007 zog, gehen 33 Tote auf das Konto der RAF und mehr als 200 Menschen wurden bei RAF -Anschlägen verletzt.6 21 Mitglieder der Baader-Meinhof-Bande starben im Hungerstreik wie beispielsweise Holger Meins (1941–1974), durch Selbstmord im Gefängnis, so z. B.  Ulrike Meinhof, oder bei ihrer Festnahme wie Horst Ludwig Meyer (1956–1999). 26 RAF -Mitglieder erhielten lebenslange Freiheitsstrafen. Laut dem »Spiegel« ergingen gegen rund 1.500 Menschen Gerichtsurteile wegen Mitgliedschaft oder Unterstützung der Vereinigung, wobei vermutlich mehrfach Verurteilte aus der Bilanz nicht herausgefiltert wurden. Dabei schwanken die Zahlenangaben über die Mitglieder des harten Kerns der RAF in der 5 Wunschik, T., Aufstieg und Zerfall. Die zweite Generation der RAF, in: Kraushaar, W. (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 1, Hamburg 2006, S. 472–488, hier: S. 475. 6 Vgl.: RAF: Eine Bilanz des Terrors, in: Spiegel Online, 25.4.2007, http://www.spiegel.de/ panorama/zeitgeschichte/raf-eine-bilanz-des-terrors-a-479483.html (25.4.2016).

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wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Literatur beträchtlich. So geht beispielsweise Tobias Wunschik davon aus, dass nie mehr als zwanzig Angehörige der RAF zur gleichen Zeit aktiv waren. Stefan Aust beziffert die Gesamtzahl der RAF -Mitglieder auf 250. Die RAF in der historischen Forschung Welchen Niederschlag hat der sozialrevolutionäre Terrorismus in der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung gefunden? Es waren nicht die Historiker, die sich in der Bundesrepublik der 1970er Jahre des Themas RAF in der ersten großen Welle der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem neuen alten Gewaltphänomen bemächtigten. Auch in den 1980er Jahren hielten sich Zeithistoriker mit Interpretationen des aktuellen terroristischen Geschehens im Umkreis der RAF -Thematik noch sehr zurück. Die Debatte über Ursachen, Verläufe und Folgen des heimischen sozialrevolutionären Terrorismus wurde vorerst vor allem von Politik- und Sozialwissenschaftlern mit Nähe zur Politikberatung bestimmt. Besonders einflussreich waren die zwischen 1981 und 1983 publizierten, noch heute häufig erwähnten »Analysen zum Terrorismus«, welche sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse zu Ursachen und Folgen des bundesdeutschen Terrorismus präsentierten und nach angemessenen Methoden eines politischen oder juristischen Umgangs mit der RAF suchten.7 Auffällig ist, dass in diesem frühen politik- und sozialwissenschaftlichen Standardwerk zur bundesdeutschen Terrorismusgeschichte eine vergleichende historische Kontextualisierung des bundesdeutschen Terrorismus unterblieb, so als sei die RAF gänzlich ohne Vorläufer und der historische Vergleich ohne Erkenntniswert. Die allmählich auch einsetzende Darstellung, oder genauer die Erzählung der Geschichte der RAF, blieb vor allem dem Fachjournalismus überlassen. Schule machend war für lange Zeit »Der »Baader-Meinhof-Komplex« des späteren »Spiegel«-Herausgebers Stefan Aust aus dem Jahr 1985, ein Werk, das sich vor allem dadurch auszeichnete, dass »die auf wenige Akteure reduzierte Kerngeschichte des bundesdeutschen Terrorismus wie aus einem Guss erzählt« wurde.8 Zahlreiche weitere journalistische, in der Regel weniger erfolgreiche Werke, folgten den Spuren Austs. Ob Resümees wie beispielsweise dasjenige Willi Winklers, Journalist bei der »Zeit«, dem »Spiegel« und der »Süddeutschen Zeitung«, in seiner Darstellung der RAF aus dem Jahr 2007: 7 Vgl. Analysen zum Terrorismus, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, 5 Bde. Opladen 1981–1983. 8 Kraushaar, W., Zwischen Popkultur, Politik und Zeitgeschichte. Von der Schwierigkeit, die RAF zu historisieren, in: Zeithistorische Forschungen / Studien in Contemporary History, Online-Ausgabe 1 (2004), H. 2. URL : http://www.zeithistorische-forschungen. de/16126041-Kraushaar-2-2004., Abschnitt 4 (15.3.2016).

Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren

»Der Sinn der Organisation RAF war ihr Scheitern« geschichtswissenschaftlich tatsächlich weiterhelfen, sei dahingestellt.9 Seit den 1990er Jahren dominierten schließlich der biografische Ansatz und die Autobiografien der Mitglieder der RAF die Geschichtserzählung(en) zum bundesdeutschen Terrorismus. Bislang sind die zweifellos mit Rücksicht auf den Ermittlungsstand der staatlichen Ermittlungsbehörden verfassten Selbstdeutungen keiner nennenswerten wis­ senschaftlichen Analyse unterzogen worden. Eine Kontrastierung von Selbstinszenierung mit historischen Forschungsergebnissen steht noch aus, zumal »der geringe Erkenntnisstand«, aber auch die »Verweigerungshaltung« vie­ler Aktivisten gegenüber den Gesellschaftswissenschaften wissenschaftlichen Biografien letztlich die Grundlage entzieht.10 Die zeitgeschichtliche Aufarbeitung des bundesdeutschen Terrorismus zeichnete sich folglich bis Ende der 1990er Jahre eher durch Leerstellen als durch gesicherte Ergebnisse aus und sie blieb thematisch auf sich selbst bezogen. Insgesamt zeigte sich, dass »die Suche nach der ›wahren Geschichte der RAF‹ selbstreferentiell geworden … [war] und immer mehr um die selbst- und fremdentworfenen Bilder und Konstruktionen kreist[e]«.11 Und so benannte im Jahr 2004 der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, zwei Jahre später selbst Herausgeber eines beeindruckenden, aber ohne historische Vergleiche auskommenden neuen zweibändigen (Standard-) Werkes zur Geschichte der RAF, eine ganze Reihe von Forschungslücken: Historisch aufzuklären gelte es unter anderem die Gründungsgeschichte der RAF, der Einfluss der DDR wie des palästinensischen Widerstandes und Terrorismus auf die Entwicklung des bundesdeutschen Terrorismus, die näheren Umstände mancher Attentate, die bislang unaufgeklärt seien, oder die Bedeutung des Terrornetzwerkes der 1970er Jahre für den heutigen palästinensischen Terrorismus. Schließlich forderte Kraushaar die längst fällige historische Typisierung des bundesdeutschen Terrorismus der 1970er Jahre zumindest für einen Vergleich mit dem gegenwärtigen islamistischen Terrorismus ein, wenn er feststellte: »Die Differenzen zwischen dem Terrorismus-Verständnis, das für die Zeit der RAF maßgeblich war, und jenem, das sich in Reaktion auf die Anschlagserie islamistischer Selbstmordattentäter mittlerweile abzeichnet, müssen genauer herausgearbeitet werden, um einer unkontrollierten Verwendung von Grundkategorien entgegenzutreten«.12 Viele der genannten Desiderata sind bis heute nicht vertieft aufgearbeitet. Inspiriert durch den neuen islamistischen Terrorismus ist das Interesse an der RAF aber immer noch groß 9 Winkler, W., Die Geschichte der RAF, Berlin 2007, S. 454. 10 Straßner, Biographisches Porträt: Birgit Hogefeld, in: Jahrbuch Extremismus und Demokratie 15 (2003), S. 209–222, hier: S. 209. 11 So Jörg Requate in einer Rezension von H. Balz: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat bei H-Soz-Kult, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ 2009-2-077 30.1.2017). 12 Kraushaar, Zwischen Popkultur, Politik und Zeitgeschichte, Abschnitt 5.

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und die Analyse des sozialrevolutionären Terrorismus noch immer »in vollem Gange«.13 Nach wie vor wird sie überwiegend von Politikwissenschaftlern betrieben. Aber auch Historiker melden sich in den letzten Jahrzehnten mit einer Reihe von Analyseansätzen zu Wort. Untersucht wurden beispielsweise die Veränderung der Maßnahmen zur Gewährleistung der inneren Sicherheit, der Ablauf der Gerichtsverfahren und die einschlägigen Gesetzgebungsprozesse. Insbesondere die kommunikativen und medialen Aspekte des RAF -Terrorismus haben das Interesse der Geschichtswissenschaft gefunden. Die erste ernsthafte geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der RAF stellt der 2006 von Klaus Weinhauer, Jörg Requate und Heinz-Gerhard Haupt herausgegebene Tagungsband über »Terrorismus in der Bundesrepublik dar.14 Der Band versucht die politik- wie die medienwissenschaftliche Forschung zur RAF mit gesellschaftsgeschichtlichen Ansätzen zu verbinden. 2008 forderte Klaus Weinhauer in einem Überblick zum RAF -Forschungsstand, die kommunikativen Aspekte des Terrorismus in den Mittelpunkt der Forschung zu rücken.15 Eine Reihe eigenständiger geschichtswissenschaftlicher Forschungsarbeiten zur RAF ist in den letzten Jahren publiziert worden, die das Kommunikations- und Medienthema im Kontext des bundesdeutschen Terrorismus ausleuchten.16 Sie zeigen, dass der sozialrevolutionäre Terrorismus der 1970er Jahre die Klaviatur der Mediennutzung ähnlich wie seine Vorläufer und Nachfolger exzellent zu nutzen wusste.17 Nicht selten waren und sind an dem Medienereignis RAF ausgerichtete Tagungen und einschlägige Publikationen interdisziplinär angelegt. So verbinden sich beispielsweise im Herausgeberteam des 2008 publizierten Sammelbandes über den »›Deutsche(n) Herbst‹ und die RAF in Politik, Medien und Kunst« literatur- und politikwissenschaftliche sowie zeithistorische Kompetenzen. Hier wird Terrorismus verstanden als »soziale Konstruktion, die erst durch einen Kommunikationsprozess zwischen

13 Hans-Georg Golz im Editorial des Themenhefts der APuZ zu »1977 und die RAF«, APuZ 40–41 (2007). 14 Weinhauer, K., J. Requate, und H.-G. Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren. Frankfurt a. M. / New York 2006. 15 Weinhauer, K., Terrorismus und Kommunikation: Forschungsstand und -perspektiven zum bundesdeutschen Linksterrorismus der 1970er Jahre, in: Colin, N., B. de Graaf, J. Pekelder u. J. Umlauf (Hg.), Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst, Bielefeld 2008, S. 109–123, hier: S. 114. 16 Vgl. u. a. die einschlägige Darstellung des Medienwissenschaftlers und Historikers Andreas Elter: Elter, A., Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt a. M. 2008 oder die des Historikers und Kulturwissenschaftlers Hanno Balz: Balz, H., Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt a. M. / New York 2008. 17 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 11.

Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren

den Terroristen und dem Rest der Gesellschaft entsteht«.18 Untersuchungsgegenstände sind die internationale RAF -Rezeption, der Deutsche Herbst als Kommunikationsereignis sowie Zeitzeugenberichte. Anders als in den 1970er und 1980er Jahren findet mithin heute bei der Analyse von Terrorismus als gewaltsame Kommunikationsstrategie die Zeitgeschichte Eingang in die einschlägigen Forschungsansätze. Letztlich kann die Geschichtswissenschaft in diesem Forschungsgebiet die Rolle übernehmen, dem herausgehobenen einmaligen Kommunikationsereignis Gewalt in den 1970er Jahren mit Hilfe des historischen Vergleichs das Besondere bzw. das Alleinstellungsmerkmal zu nehmen. Generationenkonflikte als Ursache der Entstehung des sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre Neben dem kommunikationstheoretischen Ansatz hat die Geschichtswissenschaft auch das Themenfeld der Ursachenforschung aufgegriffen und dem Generationenbegriff eine spezifische Bedeutung zugewiesen. Schon die Akteure der zeitgenössischen Politik und Medien zogen gerne den Generationenansatz heran, um das Entstehen des sozialrevolutionären Terrorismus in der Bundesrepublik zu erklären. Nicht zuletzt haben die Mitglieder der RAF und ihrer Nachfolgegenerationen selbst dazu beigetragen, ihren Kampf als gewaltbereite Generationenbewegung zu inszenieren. Die Abgrenzung der jungen Linken von den Vorgängergenerationen wurde bereits in den Anti-SchahDemonstrationen 1967 deutlich. Die »konkret«-Journalistin Ulrike Meinhof verfasste damals einen offenen Brief an Farah Diba: »Sie wundern sich, daß der Präsident der Bundesrepublik Sie und Ihren Mann, in Kenntnis all dieses Grauens[,] … hierher eingeladen hat? Wir nicht. Fragen Sie ihn doch einmal nach seinen Kenntnissen auf dem Gebiet von KZ -Anlagen und Bauten. Er ist ein Fachmann auf diesem Gebiet.«19 Gerne wird auch in der einschlägigen Forschungsliteratur die folgende Szene aufgegriffen: In der Nacht nach der Tötung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 fielen im Berliner SDS -Büro folgende Worte: »Sie werden uns alle umbringen – ihr wisst doch, mit was für Schweinen wir es zu tun haben – das ist die Generation von Auschwitz, mit der wir es zu tun haben – … man kann mit Leuten, die Auschwitz gemacht haben nicht diskutieren.«20 Der empörte Ausbruch wird Gudrun Ensslin zugeschrieben. Jenseits der fragwürdigen Umstände des Todes Ohnesorgs, zu denen die Agententätigkeit des schießwütigen Polizisten Karl-Heinz Kurras 18 Colin, N., B. de Graaf, J. Pekelder u. J. Umlauf, Der »Deutsche Herbst«, S. 9. 19 Meinhof 1967, offener Brief an Farah Diba, Internet, zitiert nach Elter, S. 93. 20 Zitiert nach Balz, Terroristen, S. 232.

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(1927–2014) für die DDR gehört, wirft die Anekdote ein Licht auf das Selbstverständnis der Studentenbewegung. Sie kämpfte nicht nur für die Reform der Universitäten oder gegen die als Imperialismus gebrandmarkte internationale Politik der USA und ihrer Verbündeten. Sie grenzte sich auch dezidiert von der Generation ihrer Eltern und mehr noch ihrer Großeltern ab. Erstere waren im kulturellen Klima der nationalsozialistischen Ära zumindest sozialisiert worden, wenn sie nicht wie die Großeltern zur Generation der Täter zu zählen waren. Auch der Jugendprotest in Frankreich oder in den USA formulierte sich in Abgrenzung von der Kultur der Kriegsgenerationen, deren restaurativer kultureller Habitus, politischer Konservatismus und Antikommunismus ins Feuer der Kritik geriet. Doch in Westdeutschland wirkte sich die nur lasch durchgeführte Entnazifizierung in der Nachkriegsepoche verschärfend auf den Generationenkonflikt aus. Das Konzept der Generation zur Erklärung des Habitus, der politischen Einstellungen und Aktionen einer spezifischen durch Alter oder Zeitzeugenschaft gebildeten Kohorte geht auf den Soziologen Karl Mannheim (1893–1947) zurück. Er legte 1928 einen Text über »Das Problem der Generationen« vor, der noch heute zwingend zitiert wird, wenn sich in den Gesellschaftswissenschaften mit dem Thema Generation auseinandergesetzt wird.21 Mannheim interpretierte das Generationenphänomen als »eines der grundlegenden Faktoren beim Zustandekommen der historischen Dynamik«. Durch ihre Geburt gehören Menschen einer spezifischen Generationslagerung an. Doch Mannheim will seinen Ansatz nicht biologistisch verstanden wissen. »Gäbe es nicht das gesellschaftliche Miteinander der Menschen, gäbe es nicht eine bestimmt geartete Struktur der Gesellschaft, gäbe es nicht die auf spezifisch gearteten Kontinuitäten beruhende Geschichte, so entstünde nicht das auf dem Lagerungsphänomen beruhende Gebilde des Generationszusammenhanges, sondern nur das Geborenwerden, das Altern und das Sterben.« Ein Generationenzusammenhang wird demnach erst hergestellt, wenn sich Individuen ihrer spezifischen Generationslagerung bewusst werden. Agieren Menschen mit gleicher Lagerung und gleichem Generationszusammenhang im Rahmen einer einheitlich denkenden bzw. handelnden Gruppierung, so bilden sie eine Generationseinheit, die ihrerseits historisch wirkmächtig werden kann. Das Modell Mannheims ermöglicht, Geburtsjahrgang und damit Lebensalter mit soziologischer Gruppenbildung, Zeitgeist und Zeitereignissen in Zusammenhang zu bringen und wird deshalb in den Gesellschaftswissenschaften gerne aufgegriffen. Doch es kann letztlich nicht klären, ob es für die Analyse nötig ist, dass eine Generationseinheit – auf welcher Argumentationsbasis auch immer 21 Mannheim, K., Das Problem der Generationen, in: KVfS 7 (1928), S. 157–184, 309–330, http://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0100_gen_ru.pdf, Bayerische Staatsbibliothek München, (30.1.2017). Hieraus auch die folgenden Zitate.

Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren

beruhend – sich selbst als solche begreift oder welche Rolle Zuschreibungen von außen spielen. Gerade letztere Überlegung wird heute in den einschlägigen Debatten besonders betont.22 »So ist Generation zum einen eine diskursive Kategorie, die Zusammenhänge schafft, Konflikte an Gruppen bindet und letztlich zu einem Großteil das Ergebnis hegemonialer Zuschreibungen darstellt. Zum anderen ist das methodische Modell der Generationen eine mögliche Kategorie, Vergesellschaftungsprozesse über spezifische Gruppenzugehörigkeit beziehungsweise Gruppenbekenntnisse zu untersuchen.«23 Der Historiker Ulrich Herbert hat für die 1968er Bewegung und den nachfolgenden Terrorismus die Interaktionen dreier politischer Generationen beschrieben.24 Er unterscheidet die Generation der nach der Wende zum 20. Jahrhundert Geborenen von den 1920er und 1940er Jahrgängen und benennt sie analog zu den jeweiligen zeitgenössischen (Selbst-)Zuschreibungen als Kriegsjugendgeneration, skeptische Generation oder »45er« und die 68er Generation. Härte und Sachlichkeit, völkischer Radikalismus, Absage an die Demokratie und Antisemitismus charakterisiere die erste Generation des 20. Jahrhunderts. Die »vornehmliche Trägergruppe der NS -Diktatur« habe nach 1945 unter großem Anpassungsdruck gestanden und die Eingliederung in die bürgerliche Welt der jungen Demokratie geschafft, »allerdings mit dem Verlust der politischen Identität und auch der persönlichen Geschichte«. Die zweite von Herbert identifizierte Generation der »45er« charakterisiere ein positives Erlebnis der NS Jugendorganisationen, die traumatisierende Kriegserfahrung, die Betonung des radikalen Wandels mit Kriegsende und die hieraus abgeleitete Politikferne und Orientierungskrise. Erst als die politische und wirtschaftliche Stabilität der jungen Bundesrepublik hergestellt war, begann diese autoritär erzogene Generation, mit neuen, an Amerika und westlichen Demokratien orientierten Leitbildern, die politische Reformkultur der 1950er und besonders 1960er Jahre zu gestalten. Die nachfolgende Generation der »68er« trat schließlich nicht nur in Deutschland an, obrigkeitliche und autoritäre, illiberale politische und gesellschaftliche Strukturen in Frage zu stellen. Sichtbar wurden nun die Widersprüche zwischen den radikalen Wandlungsprozessen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik und den »durch den Zweiten Weltkrieg und die Rekonstruktionsphasen womöglich verzögerten Prozessen der Anpassung der Normen und Lebensweisen an diese Veränderungen … Zugleich erlebte die sich konstituierende 68er Generation die zunehmend aufbrechenden Wider22 Vgl. einführend: Jureit, U., Generation, Generationalität, Generationenforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010, https://docupedia.de/zg/Generation (18.4.2016). 23 Balz, Terroristen, S. 234. 24 Vgl. Herbert, U., Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Reulecke, J. u. E. Müller-Luckner (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95–114, hieraus auch die folgenden Zitate.

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sprüche in der Gesellschaft, das begrenzte Tempo der Reformen und die in den tradierten zivilen Verkehrsformen befangenen 45er als Agenten der Veränderung.«25 Es war vor allem die »idealistische Attitüde«, in der sich »45er« und »1968er« unterschieden. Der Konsens zwischen den beiden jüngeren Generationen zerbrach radikal, als die Protagonisten der Studentenbewegung »die tradierten Grenzen der Opposition – Rationalität, Systemtreue, Gewaltmonopol des Staates – zu überwinden begannen«.26 Die teils panische Gegenreaktion der staatlichen Akteure sollte anschließend dazu beitragen, dass sich Aktion, Reaktion und Gegenreaktion gegenseitig hochschaukelten. »Politische Generationen«, sind keine »Prädestinationskategorie«, mithin keine generationelle Vorbestimmung, so das Fazit Herberts, aber sie werden »als Sinnbild, als Ausdruck werdenden politischen und kulturellen Hegemoniewandels erkennbar. Als solche sind sie geschichtsmächtig und analysierbar.«27 In diesem Sinne hat die gesellschaftswissenschaftliche Forschung zur RAF den Generationenbegriff vielfach angewendet. Der Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth z. B. erläuterte: »Im Protest gegen den Vietnam-Krieg der Amerikaner klagte die junge Generation unbewußt auch die Nazi-Vergangenheit der Eltern-Generation an. Nur so läßt sich die Schärfe der Auseinandersetzungen über den Krieg in Vietnam, die außerhalb Amerikas nur in Deutschland einen solch unversöhnlichen Charakter annahmen, erklären.«28 Für den »übersteigerten Widerstand« der RAF kommt er zum Ergebnis: »Bei ihnen ist sehr deutlich nachweisbar, daß sie im unbewußten Auftrag ihrer Eltern handelten, als sie die aus ihrer Sicht faschistische BRD [H. i. O.] mit terroristischer Gewalt bekämpften. Auf einer unbewußten Ebene holten die Terroristen der RAF das nach, was ihre Eltern seinerzeit versäumt hatten zu tun: Widerstand leisten.«29 Das Deutungsmuster des politischen Protests und nachfolgend des Terrorismus als Generationenkonflikt wurde bereits von zeitgenössischen Gesellschaftswissenschaftlern aufgegriffen oder gar platziert. So interpretierte schon Herbert Marcuse (1898–1979), der kritische Vordenker des Studentenprotests, diesen als Abgrenzung der Jungen von den durch den Nationalsozialismus diskreditierten falschen Vätern. Der Soziologe Norbert Elias setzte sich 1977/1978 intensiv mit der Frage auseinander, warum gerade in Deutschland der Studentenprotest im Terrorismus eskalierte und machte hierfür einen besonders heftigen Generationskonflikt verantwortlich. Konkurrenzkämpfe zwischen den Jüngeren und den etablierten Älteren seien üblich. »Aber dieses vielleicht 25 26 27 28

Ebd., S. 110 f. Ebd., S. 112. Ebd., S. 114. Wirth, H.-J., Versuch, den Umbruch von 68 und das Problem der Gewalt zu verstehen, in: Ders. (Hg.), Hitlers Enkel – oder Kinder der Demokratie? Die 68er-Generation, die RAF und die Fischer-Debatte, S. 13–44, hier: S. 27. 29 Ebd., S. 30.

Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren

gar nicht scharf artikulierte Gefühl verband sich nun für eine ganze Reihe jung-bürgerlicher Menschen mit dem Bewußtsein, daß dieselben Väter Vertreter der Generation waren, die direkt oder indirekt für den Aufstieg Hitlers und der Seinen verantwortlich war.«30 Die Sorge der Jungen, dass Deutschland erneut in der Diktatur lande, habe schließlich auch die Gewaltbereitschaft der Terroristen befördert. Die Protagonisten der »45er« und der Studentenbewegung bezogen sich gleichermaßen auf den postulierten Generationenkonflikt. Auch die zeitgenössischen Medien griffen das Thema bereitwillig auf, wenn sie politische Proteste und politische Gewalt kommentierten. Hanno Balz hat in seiner diskursorientierten Studie über die öffentliche RAF -Debatte mehrere mediale Muster herausgearbeitet, mit denen der postulierte Generationenkonflikt beschworen wurde. Wenn etwa die protestierenden Studenten die Universitäten vom »Muff der tausend Jahre« und damit vom Muff des vom Nationalsozialismus propagierten »tausendjährigen Reiches« befreien wollten und die RAF bevorzugt NS -diskreditierte Repräsentanten des politischen und wirtschaftlichen Establishments als Angriffsziele auserkor, griffen die gescholtenen Väter und Großväter bereitwillig das Generationen-Thema auf und rekurrierten ihrerseits auf ihre Kriegserfahrungen, die es nun zu revitalisieren galt. So antwortete beispielsweise der Hamburger Polizeisprecher 1971 auf die Frage eines »Spiegel«-Redakteurs, warum beim Versuch, das RAF -Mitglied Petra Schelm zu stellen, nicht auf die Füße, sondern auf den Kopf geschossen wurde: »Waren Sie eigentlich schonmal im Krieg?«31 »Bild« portraitierte den Chef des BKA , Horst Herold, als ehemaligen »Panzer-Hauptmann, dem die Armverletzung aus Rußland heute noch Schwierigkeiten machte« oder das RAF -Opfer Jürgen Ponto als Soldaten, der Stalingrad überlebt habe: »Selten gab es einen Mann, der Deutschlands Geschichte dichter erlebt und erlitten hat.«32 Auch die in den Medien beliebte Inszenierung des Terroristen vor seinem familiären Hintergrund trug zur Etablierung der Deutung des Terrorismus als GenerationenThema bei: »Der Terrorismus [H. i. O.] wird, vor allem im konservativen Diskurs, zu einer Elternproblematik, letztlich auch zu einer Frage möglicherweise falscher Erziehung« und damit auch entpolitisiert.33 Das Generationen-Thema bedienten schließlich auch mediale Akteure, die den an die vorausgegangenen Generationen herangetragenen Vorwurf der 30 Elias, N., Der bundesdeutsche Terrorismus  – Ausdruck eines sozialen Generationskonflikts, in: Ders., Studien über die Deutschen, Frankfurt a. M. 1989, S. 300–389, hier: S. 331. 31 Fahndung: Kennwort Kora, in: Der Spiegel 20, 19.7.1971, S. 28–31, zitiert nach Balz, Terrorismus S. 246. 32 Unser Polizist Nr. 1, Bild, 20.6.1972 und Bild 1977 ohne nähere Angabe, zitiert nach Balz, Terrorismus, S. 246. 33 Balz, Terrorismus, S. 238.

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Diskreditierung durch den Nationalsozialismus auf die Ankläger zurückspiegelten. »Hitlers Kinder?« heißt der Titel einer populärwissenschaftlichen biografischen Analyse der RAF -Mitglieder von Jillian Becker aus dem Jahr 1977, in der die politische Gewalt der RAF mit der politischen Gewalt in Weimar und im Nationalsozialismus gleichgesetzt wird. Das Buch hilft laut der »Süddeutschen Zeitung« dem Leser zu verstehen, warum die Terroristen »nicht die unglücklichen Kinder einer angeblich faschistischen Bundesrepublik, sondern geistige Nachkommen Hitlers sind«.34 Die Chiffre »Hitlers Kinder« für die Charakterisierung der RAF wurde von den Medien nicht selten aufgegriffen. Sie rundete die facettenreiche Beschäftigung mit der RAF als Generationenthema ab. Auch Historiker bedienen sich zuweilen des Generationenansatzes, wenn es um die Interpretation der RAF -Geschichte geht. So hat Jörg Hermann einen Aufsatz vorgelegt, der sich mit der Verbindung der ersten Generation der RAF mit sozial engagierten Protestanten der Vätergeneration befasst. Bekannte Repräsentanten des linken Protestantismus wie der Theologe und Wissenschaftler Helmut Gollwitzer (1908–1993), der Theologe und SPD -Politiker Heinrich Albertz (1915–1993) oder der evangelische Bischof Kurt Scharf (1902–1990) – alle mit Vermittlungsversuchen in die zeitgenössische mediale Auseinandersetzung mit der RAF involviert – hatten eigene Erfahrungen mit Widerstand im Nationalsozialismus gesammelt. Hermann interpretiert die Widerstandserfahrung der geistigen Eltern als Generationen verbindendes Element zum Studentenprotest und zu den Terroristen. »Dabei gab es neben den Protestierern, die gegen das Schweigen der Eltern rebellierten, auch einige, die den Widerstandsgestus ihrer Eltern mimetisch aufnahmen und radikalisierten, die an den mehr oder weniger ausgeprägten Antifaschismus der Eltern anknüpfen versuchten, ihn auf Vietnam übertrugen und auf diesem Weg zum Teil Versäumtes nachholen wollten.«35 So lässt sich insgesamt eine Tendenz beobachten, die abstrakten, zeitgenössischen politischen Debatten und ihre höchst konkreten, gewaltsamen Ergebnisse mithilfe ihrer Einordnung in Generationskonflikte fassbarer oder verstehbarer zu machen. Protagonisten der Protestbewegungen, ihre politischen und medialen Gegner sowie die gesellschaftswissenschaftliche Forschung haben gleichermaßen an diesem Erklärungsmuster gestrickt.

34 Flottau, H., Immun gegen alle Arten von Skrupel, in: SZ , 9.9.1977, S 3, zitiert nach Balz, Terrorismus, S. 251. 35 Herrmann, J., »Unsere Söhne und Töchter« Protestantismus und RAF -Terrorismus in den 1970er Jahren, in: Kraushaar, RAF, S. 644–656, hier: S. 647.

Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren

Das Gewaltverständnis der 68er-Bewegung Als Unterkapitel der Interpretation der Studentenbewegung und nachfol­ gend des sozialrevolutionären Terrorismus als Generationenthema kann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gewaltverständnis der Studentenbewegung angesehen werden. Viele Autoren, die sich kritisch mit der Studentenbewegung auseinandersetzen, unterstellen der Protestgeneration ein problematisches Verhältnis zu politischer Gewalt. Von hier aus werden Verbindungslinien zur RAF gezogen. In »Mythos 68«, erschienen 2001, befasste sich beispielsweise Gerd Langguth mit der Gewaltphilosophie der Studentenbewegung und begriff diese als Wurzel des Terrorismusübels mit bedrohlicher Überlebensfähigkeit. »Eine der wesentlichen Folgen der Studentenrevolte«, so der Autor, »ist  … gerade eine Enttabuisierung der Gewalt bis hin zum Terrorismus. Die Gewalt wurde zunehmend als eine taktische Frage eingeschätzt, die von der Reife des Klassenkampfes abhing.36 In der Folge müsse die deutsche Gesellschaft »mit einer organisierten und langfristig wirksamen politischen Gewalt rechnen. Trotz des Auflösungsbeschlusses der einstigen RAF ist nicht klar, ob nicht doch eines Tages wieder eine Reaktivierung stattfinden kann [H. i. O.].«37 Auch für Wolfgang Kraushaar ist unbestreitbar, »daß es einen Zusammenhang zwischen der 68er-Bewegung und der RAF gibt«.38 Der Autor macht den postulierten Zusammenhang an den einschlägigen politischen Äußerungen Rudi Dutschkes fest. Der habe sich zwar klar gegen den Terrorismus der RAF ausgesprochen, aber Gewalt in den Diktaturen Lateinamerikas und Gewalt gegen Sachen als Grenzüberschreitung im politischen Protest in Deutschland befürwortet. Wenn Dutschke vom »politischen Kampf gegen eine Ordnung« schrieb, »die sich mit der amerikanischen Machtelite solidarisiert, die Herrschaft über uns und die Völker in der 3. Welt aufrechtzuerhalten sucht«,39 so interpretiert dies Kraushaar letztlich als Aufruf zu politischer Gewalt. Die Vorstellung, dass das ungeklärte Gewaltverhältnis der Studentenbewegung das Aufkommen des Terrorismus beförderte, ist nicht unwidersprochen geblieben. Belinda Davis beispielsweise meint: »Neuere Studien über die Protestbewegungen der 1960er/1970er Jahre tendieren dazu, Stereotypen über diese Bewegungen zu bestätigen, die von ihren damaligen Gegnern geprägt wurden: So wird oft konstatiert, dass die Bewegungen vor allem vom Dogma36 Langguth, G., Mythos 68, München 2001, S. 185. 37 Ebd. 38 Kraushaar, W., Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, in: Ders., J. Ph. Reemtsma u. K. Wieland, Rudi Dutschke Andreas Baader und die RAF, Hamburg 2005, S. 13–50, hier: S. 13. 39 Ebd., S. 33.

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tismus einerseits sowie von Terror und Gewalt andererseits geprägt waren.«40 Dabei sei die große Mehrheit der linken Aktivisten durch ein ambivalentes Verhältnis zur terroristischen Gewalt geprägt gewesen. Gewalt ging nach Meinung der Protestbeteiligten vor allem von den staatlichen Ordnungshütern aus und die Eskalation der terroristischen Gewalt wurde als Reaktion auf staatliche Verfolgung interpretiert. Daraus zu folgern, dass die Protestbewegung mehrheitlich die Gewaltaktionen der RAF gutgeheißen habe, sei jedoch ein Fehlschluss. Vielmehr habe die 68er-Generation auf vielfältige Weise und unterhalb der Grenze des rechtlich Erlaubten diejenigen Protestformen entwickelt, die zur Demokratisierung der westlichen Gesellschaften in den 1970er und 1980er Jahren wesentlich beitrugen. Ähnlich kritisch äußert sich Ingrid Gilcher-Holtey über Ansätze, die die Eskalation der Gewalt auf Seite der Protestierenden aus den Kontexten staatlicher Reaktionen und gewaltsamen Ordnungsmaßnahmen lösen wollen. »Die Gewaltfrage ist«, so die Autorin, »vom alternativen Ordnungsentwurf der Bewegung sowie von deren Praktiken, die Gesellschaft durch Subversion ihrer Teilbereiche zu verändern, nicht zu trennen.«41 Die Janusköpfigkeit des Gewaltbegriffs, die den Staat als Inhaber des Gewaltmonopols gleichzeitig zum Anwender wie zum Ziel von Gewalt mache, habe dazu beigetragen, dass Gewalt sich 1968 zum Kampfbegriff entwickelte, mit dem sich wechselseitig Staatsvertreter und Oppositionelle zu delegitimieren trachteten. Überdies habe sich die Studentenbewegung intensiv mit den gesellschaftlichen Dimensionen von Gewalt befasst. In Anlehnung an Marx begriff sie gesellschaftliche (Eigentums-)Verhältnisse als materielle Gewaltverhältnisse und sie kritisierte auch Sprachgewalt und sprachliche Entfremdung als Gewalt der Sprache, der nur mit einer Sub- und Transformation der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse begegnet werden könne. Auf der Aktionsebene kennzeichnete die Neue Linke »eine Handlungspraxis im Grenzbereich von Legalität und Illegalität«.42 Sie sollte dazu dienen, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse durch eine Politisierung von unten zu verändern. Letztlich sei es der Studentenbewegung gelungen, die gesellschaftliche Akzeptanz von Widerstandsformen gegen die Staatsgewalt zu erweitern und sie habe eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff angestoßen. Hieraus eine Entwicklungslinie zum Terrorismus ziehen zu wollen, hält Gilcher-Holtey für verfehlt. 40 Davis, B., Jenseits von Terror und Rückzug: Die Suche nach politischem Spielraum und Strategien im Westdeutschland der siebziger Jahre, in: Weinhauer, Requate, S. 154–186, hier: S. 154. 41 Gilcher-Holtey, I., Transformation durch Subversion: Die Neue Linke und die Gewaltfrage, in: Anders, F. und I. Gilcher-Holtey (Hg.), Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 198–220, hier: S. 201. Hieraus auch die folgenden Zitate. 42 Ebd., S. 212.

Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren

Welches Fazit lässt sich aus den Debatten um den Zusammenhang von Studentenbewegung und RAF ziehen? Dass der sozialrevolutionäre Terrorismus vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Gewaltdebatten entstand, sollte nicht dazu führen, Gewaltdebatte und die Anwendung von Gewalt gleichzusetzen. Die Mehrheit auch der Angehörigen der Studentenbewegung lehnte die Anschläge der RAF auf Menschen ab. Andererseits lesen sich »die einzelnen Stationen von der friedlichen Studentenbewegung hin zum Terrorismus … wie ein sukzessive Aneignung militanter Strategien.«43 Ob sich jemals zweifelsfrei klären lassen wird, wie groß oder klein der Schritt terroristischer Akteure von der Kritik gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse, materieller, symbolischer, kultureller, ritueller oder sexueller Gewalt hin zur terroristischen aktiven Gewaltanwendung war, ist fraglich. Auffällig ist jedoch, dass auch die Vorläufer-Terrorismen des 19. und 20. Jahrhunderts in Zeiten entstanden, in denen die Legitimität staatlichen Handelns und das staatliche Gewaltmonopol von breiten oppositionellen Kreisen in Frage gestellt wurden.

43 Straßner, A., Perzipierter Weltbürgerkrieg: Rote Armee Fraktion in Deutschland, in: Ders., Sozialrevolutionärer Terrorismus, S. 209–236, hier: S. 211.

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10. Rechtsextremismus und politische Gewalt »Kaum ein Thema bewegt die deutsche und internationale Öffentlichkeit seit Ende der 80er Jahre so stark wie der Rechtsextremismus«, befanden die Politologen Wolfgang Kowalsky und Wolfgang Schroeder in ihrer 1994 publizierten Forschungsbilanz. Und nahezu seismographisch fragten sie: »Werden sich rechtsextreme Parteien in den – deutschen wie europäischen – Parlamenten etablieren und zu einer Veränderung des Parteiensystems beitragen? Gibt es eine Kontinuitätslinie von den gegenwärtigen rechtsextremen Denk- und Handlungsmustern zu jenen der Epoche des historischen Faschismus, speziell der NS -Zeit?«1 Insbesondere mit der Aufdeckung des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) im Jahr 2011 erhöhten sich noch einmal das öffentliche und das Forschungsinteresse in Deutschland. »Es durfte nicht sein, was nicht sein sollte: mordende Gruppen von Rechtsextremen, tragende Netzwerke für den Untergrund«.2 So oder ähnlich bewerteten zahlreiche Kommentatoren die vorausgegangenen Fehlurteile der deutschen Sicherheitsbehörden im Umgang mit rechtsextremem Terror in der Bundesrepublik. Konfrontiert mit den zehn Morden, die der NSU, begangen seit 1998, zur Last gelegt werden, entbrannte eine heftig geführte Debatte über die Frage, ob schon wieder Ordnungsbehörden und Justiz in Deutschland auf dem rechten Auge blind handelten. Zwar werden gemeinhin Verfassungsschutz, Polizei und Justiz nicht wie zu Zeiten der Weimarer Republik Sympathien mit dem rechtsextremen politischen Lager unterstellt. Doch es scheint offensichtlich, dass rechte politische Gewalt nicht die gleiche sicherheitspolitische Aufmerksamkeit erfuhr, die linker politischer Gewalt entgegengebracht wurde. Die Hoffnung, dass Deutschland angesichts seiner nationalsozialistischen Vergangenheit von rechtsradikalen Phantasien für immer geheilt sei, scheint eine unheilige Allianz mit der gängigen Bekenntnislosigkeit der rechtsextremen Szene eingegangen zu sein. Denn es handelte und handelt sich um ein Milieu, das häufig meint, die Taten sprächen zielgruppenorientiert auch ohne Bekennerschreiben eine eindeutige Sprache. Gewaltbereite rechtsextreme Gruppierungen leisten mit dieser Einstellung beabsichtigt oder unbewusst ihrer Marginalisierung seitens der Ordnungsbehörden Vorschub. Dabei zeigt ein Überblick ein in Wellen sich steigerndes Anwachsen von Gewalt gegen Sachen und Menschen in Deutschland seit 1945, ausgeführt von Einzeltätern und Gruppierungen mit rechtsextremer Gesin1 Kowalsky, W. und Schroeder, W., Rechtsextremismus – Begriff, Methode, Analyse, in: Dies. (Hg.), Rechtsextremismus. Einführung und Forschungsbilanz, Opladen 1994, S. 7–20, hier: S. 7. 2 Maegerle, A., A. Röpke u. A. Speit, Der Terror von rechts – 1945–1990, in: Röpke, A. u. A. Speit (Hg.), Blut und Ehre. Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland, Berlin 2013, S. 23–60, hier: S. 23.

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nung.3 Doch nur selten wurden die gewaltsamen Aktionen unterschiedlicher Ausprägung und variierenden Ausmaßes als Elemente einer zu erstellenden Gesamtschau betrachtet. Die Definition von Rechtsextremismus Die Analyse politischer Gewalt von rechts setzt eine Klärung der Begriffe »politischer Extremismus« im Allgemeinen und von »Rechtsextremismus« im Besonderen voraus. Hierbei kann die Geschichtswissenschaft auf eine breit geführte Debatte in der Politikwissenschaft zurückgreifen. Doch Extremismusforscher wie Uwe Backes beklagen eine »heillose Begriffsverwirrung«. »Bezeichnungen wie Rechtsextremismus, extreme Rechte, radikale Rechte, Rechtsradikalismus, Nationalismus, Ultranationalismus, Rassismus, Faschismus, Neofaschismus, Neonazismus, Neue Rechte, Populismus, Neopopulismus, Nationalpopulismus, Rechtspopulismus oder Fundamentalismus konkurrieren miteinander und werden jeweils wiederum mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt.«4 Die Debatte kann hier im Einzelnen nicht nachgezeichnet werden. Für eine historische Analyse der politischen Phänomene ist es jedoch wichtig, den Bedeutungsgehalt des relational zu denkenden Begriffs »Extremismus« und die in der Forschung konsensfähigen Elemente des politisch rechts verorteten Extremismus zu kennen. Die Benennung hat eine lange Geschichte. Sie wird auf Aristoteles zurückgeführt. Ausgehend von einem in der Mitte platzierten positiv bewerteten politischen maßvollen Verhalten positionierte er alle Exzesse der Politik wie Tyrannis und Despotie am negativ bewerteten Rand der politischen Sphäre. In der Entwicklung der europäischen Verfassungstheorie der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts wurde dieses Konzept vielfach aufgegriffen, und es bildet die Grundlage der modernen Extremismusforschung. Kritiker dieses Ansatzes stören sich vor allem daran, dass er die Unterschiede zwischen linken und rechten, als extrem bezeichneten politischen Bewegungen verwischt. Uwe Backes will diesem Problem abhelfen, in dem er zwischen extremen Ideologien unterscheidet, die grundsätzlich von der sozialen und rechtlichen Gleichheit der Menschen (linke Ideen) und solchen, die grundlegend von ihrer Ungleichheit (rechte Ideen) ausgehen. Die Debatte über die Vergleichbarkeit von Links- und Rechtsextremismus hat sich 3 Vgl. zur Entwicklung rechtsextremer Straftaten und zur Problematik der einschlägigen Statistik Willems, H., Rechtsextremistische, antisemitische und fremdenfeindliche Straf­ taten in Deutschland: Entwicklung, Strukturen, Hintergründe, in: Grumke, Th. u. B. Wagner (Hg.), Handbuch Rechtsradikalismus, Opladen 2002, S. 141–157. 4 Backes, U., »Rechtsextremismus«  – Konzeptionen und Kontroversen, in: Ders. (Hg.), Rechtsextreme Ideologien in Geschichte und Gegenwart, Köln 2003, S. 15–52, hier: S. 15.

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in der Geschichtswissenschaft als heftiger Streit darüber niedergeschlagen, ob das nationalsozialistische Regime auf der Basis der Faschismus- oder aber der Totalitarismustheorien, die linke und rechte Diktaturen gleichsetzen, zu analysieren sei. Doch in den letzten Jahren hat sich die Kontroverse sichtlich beruhigt. Faschismustheorien werden herangezogen, um die rechtsextremen Bewegungen der Zwischenkriegsepoche insbesondere in ihren politischen und wirtschaftlichen historischen Kontexten sichtbar zu machen. Totalitarismustheorien werden häufig dann angewendet, wenn vergleichend das terroristische Herrschaftsinstrumentarium und die kulturellen Erscheinungsformen diktatorischer linker oder rechter Systeme analysiert werden. Problematisch für den geschichtswissenschaftlichen Vergleich, der über die Zwischenkriegszeit hinausreicht, ist nicht die vermutete oder tatsächliche Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus, sondern eher die historische Standortgebundenheit des Definierenden. Der liberale Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts beispielsweise verortete sich selbst in der Mitte und lehnte Jakobinismus, Demokratismus oder Ultraroyalismus als politische Extreme ab. Heutige (westlich geprägte) Auseinandersetzungen mit Rechtsextremismus setzen die Garantie der Menschenrechte und die parlamentarische Demokratie in die Mitte und bewerten von hier aus extreme politische Randerscheinungen. Dies mag aus der Perspektive beispielsweise eines arabischen Forschers zumindest hinterfragbar sein. Historiker, die den Extremismus-Begriff für geschichtliche Längsschnittanalysen benutzen, sollten folglich bedenken, dass in den jeweiligen historischen Fallbeispielen die gedachte Mitte von höchst unterschiedlichen politischen Vorstellungen geprägt gewesen sein kann. Im späten Wilhelminischen Kaiserreich beispielsweise galten wesentliche Elemente, die heute dem Rechtsextremismus zugerechnet werden – Nationalismus und Antisemitismus – keinesfalls als extreme politische Haltungen. Für eine solche Bewertung waren sie viel zu verbreitet. So bevorzugen Historiker in der Forschung zum Wilhelminischen Kaiserreich beispielsweise Benennungen wie völkische oder nationalkonservative Bewegung für politische Strömungen, die im gegenwärtigen politischen Spektrum vermutlich als rechtsextrem charakterisiert werden würden. Diese Überlegungen sollen nicht als Plädoyer missverstanden werden, die Bezeichnung Extremismus für historische Analysen zu verwerfen, sondern als Appell zur Vorsicht im Umgang mit den Begrifflichkeiten zeitgenössischer, heute im Extremismus verorteter politischer Debatten. Für eine Analyse des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik sind die historischen Relativierungen des Extremismus-Begriffs jedoch vernachlässigbar. Der historisch / politische Standort  – Menschenrechte und demokratische Verfassung –, von dem aus der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik untersucht wird, kann derzeit als selbstverständliche Gegebenheit vorausgesetzt werden. Zu fragen ist allerdings, ob der aktuell in Europa zu beobachtende wachsende Einfluss von rechtsextremen Ideen auf die politische Mitte, nicht

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zukünftig dazu führen wird, den Rechtsextremismus-Begriff zugunsten beispielsweise der Bezeichnung Rechtsradikalismus aufzugeben. Die Überlegungen zum Bedeutungsgehalt von Extremismus leiten über zur Frage, welche Elemente die heutige gesellschaftswissenschaftliche Forschung dem Rechtsextremismus zuschreibt. Eine Sichtung von gängigen Rechtsextremismus-Definitionen zeigt eine Vielfalt von Merkmalen, die, ähnlich wie bei Terrorismusdefinitionen, meistens aus der Analyse derjenigen Gruppierungen gewonnen werden, die es aktuell zu analysieren gilt. Der Politologe und Rechtsextremismus-Forscher Hans-Gerd Jaschke beispielsweise gab 2001 die folgende Definition: »Unter Rechtsextremismus verstehen wir die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, die von der rassisch oder ethnisch bedingten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der Menschenrechts-Deklarationen ablehnen, die den Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum betonen, von der Unterordnung des Bürgers unter die Staatsräson ausgehen und die den Wertepluralismus einer liberalen Demokratie ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen. Unter Rechtsextremismus verstehen wir insbesondere Zielsetzungen, die den Individualismus aufheben wollen zugunsten einer völkischen, kollektivistischen, ethnisch homogenen Gemeinschaft in einem starken Nationalstaat und in Verbindung damit den Multikulturalismus ablehnen und entschieden bekämpfen. Rechtsextremismus ist eine antimodernistische, auf soziale Verwerfungen industriegesellschaftlicher Entwicklung reagierende, sich europaweit in Ansätzen zur sozialen Bewegung formierende Protestform [H. i. O.].«5 Die Definition beschreibt umfassend Merkmale des heutigen Rechtsextremismus. Viele der genannten Elemente können im historischen Vergleich jedoch nicht herangezogen werden. Wie soll beispielsweise die Einstellung zu internationalen Menschenrechtskonventionen in historischen Epochen abgeprüft werden, in denen diese noch gar nicht verabschiedet waren, wie die Bewertung von Multikulturalismus in historischen Gesellschaften mit relativ homogenen kulturellen Konzepten oder die Bewertung von Demokratie vor deren Installation? Doch bei aller Heterogenität und Gegenwartsgebundenheit aktueller Rechts­ extremismus-Definitionen benennt Backes einen Kern meistens genannter Merkmale: Demnach gehören Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Antikommunismus, Law-and-order-Denken, Antipluralismus und Demokratiefeindlichkeit zu den unabdingbaren Wesenselementen des Rechtsextremismus. Backes scheint nicht davon auszugehen, dass erhöhte Gewaltbereitschaft zu den Kernelementen des Rechtsextremismus gehört. Aus der Perspektive der 5 Jaschke, H.-G. (Hg.), Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe, Positio­ nen, Praxisfelder, Wiesbaden 2001, S. 30.

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Verfassungsschutzberichte zählt jedoch die Bereitschaft, die Verfassung der Bundesrepublik überwinden zu wollen, zu den spezifischen Merkmalen des Extremismus. Implizit lässt sich wohl daraus schließen, dass Versuche, eine Verfassung zu überwinden, wenn nicht in der Regel, so doch zumindest häufig mittels Gewalt von statten gehen dürften. Der Erziehungswissenschaftler und Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer weist dann auch der Gewaltbereitschaft eine besondere Bedeutung zu. Er bezeichnet die Ideologie der Ungleichheit und die Gewaltakzeptanz als die zwei grundlegenden Elemente des Rechtsextremismus. Gewalt wird Heitmeyer zufolge von rechtsextremistischen Ju­ gendlichen als »zentraler Regelungsmechanismus gesellschaftlicher Verhältnisse und Konflikte« verstanden.6 Auch der Historiker Wolfgang Benz, der sich intensiv mit Antisemitismus beschäftigt hat, zählt neben allgemeinen und aus der Referenz auf den Nationalsozialismus gewonnenen Kriterien Gewaltbereitschaft oder Gewaltakzeptanz zu den wesentlichen Elementen des Rechtsextremismus. Seine Merkmalsliste beinhaltet Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus, Intoleranz, Militarismus und Führerkult, Verherrlichung des NS -Staates, Neigung zu Verschwörungstheorien und schließlich Gewaltbereitschaft bzw. -akzeptanz. Die Liste veranschaulicht, dass aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive die ideologische Bindung rechtsextremer Gruppierungen an die Epoche des Faschismus bzw. des Nationalsozialismus ein wichtiges Kriterium darstellt, um rechtsextreme Gruppierungen nach 1945 zu charakterisieren.7 Letztlich muss offenbleiben, ob es sich bei Gewaltbereitschaft um ein notwendiges Merkmal des Rechtsextremismus handelt. Der Vergleich von gewaltbereiten rechten Gruppierungen und ihren parlamentarischen Kooperationspartnern lässt zumindest die These zu, dass auch rechtsextreme, nicht verbotene Parteien und Gruppierungen bei allen Lippenbekenntnissen zur Demokratie ein uneindeutiges Verhältnis zu politischer Gewalt kennzeichnet. Im Folgenden werden jedoch nur solche Gruppierungen und gegebenenfalls Einzelpersonen des rechtsextremen Lagers im Fokus stehen, die in der Bundesrepublik tatsächlich zu politischer Gewalt gegriffen haben. Dabei wird ein zeitlicher Schnitt Mitte / Ende der 1980er Jahre, vor der deutschen Wiedervereinigung, vorgenommen, denn für den aktuellen gewaltbereiten Rechtsextremismus fehlt es an staatlichen Quellen, die der Geschichtswissenschaft bereits zugänglich wären.

6 Heitmeyer, W., Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen, Weinheim 1992, S. 15. 7 Vgl. Benz, W., Die Opfer und die Täter. Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, in: Ders. (Hg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Voraussetzungen, Zusammenhänge, Wirkungen, Frankfurt a. M. 1990, S. 9–37.

Rechtsextremismus und politische Gewalt

Rechtsextremismus und politische Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1985 Die Formierung rechtsextremer politischer Organisationen und Parteien be­ gleitete die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an. Zu nennen ist hier beispielsweise die »Sozialistische Reichspartei« (SRP), gegründet 1949. Sie schwor der jungen Demokratie den Kampf und machte mit gewaltbereiten Saalschutzkommandos von sich Reden. 1952 wurde die Partei wegen ihrer Verwandtschaft mit der NSDAP verboten. Wenige Monate später gründete sich die »Wiking-Jugend« (WJ), die sich der Erziehung und Ertüchtigung national gesinnter Jugend verschrieb. Erst 1994 wurde die Organisation mit ihren etwa 500 Mitgliedern wegen ihres verfassungsfeindlichen Gewaltpotentials verboten. Nach eigenen Angaben hatte sie zwischen 1952 und ihrem Verbot ca. 15.000 Kinder und Jugendliche geschult. Ob der 1953 dank der britischen Besatzungsmacht auffliegende »Gauleiter-Kreis« um den ehemaligen SS -Brigadeführer und letzten Staatssekretär des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels, Werner Naumann (1909–1982), geplant hatte, die Bundesrepublik Deutschland mit Gewalt zu übernehmen, ist nicht bekannt. Die Organisation war dabei, die FDP zu unterwandern und zur »NS -Kampftruppe« umzufunktionieren. Zwar wird der Hilfsarbeiter Josef Bachmann (1944–1970), der 1968 mehrere Schüsse auf das prominente Mitglied des »Sozialistischen Studentenbundes«, Rudi Dutschke (1940–1979), abgab, zumeist als Einzeltäter gewertet. Dass er ein Exemplar der »Deutschen National-Zeitung« mit sich führte, die die Überschrift »Stoppt Dutschke jetzt!« zierte, lässt jedoch zumindest Erinnerungen an entsprechende Hetze im völkischen Dunstkreis der Weimarer Republik aufkommen. Die Reihe auffliegender gewaltbereiter Gruppierungen und spektakulärer kleinerer oder größer Anschläge sollte seit den 1970er Jahren nicht mehr abreißen. Offenbar war es den Altnazis gelungen, den Anschluss an die nachfolgenden Generationen zu finden. Der generationelle Übergang ging mit einer Radikalisierung der politischen Kampfmethoden einher. Wie der Rechtsextremismusforscher Gideon Botsch schreibt, waren die 1970er Jahre für die extreme Rechte »deswegen so kritisch, weil sie den tiefgreifenden Änderungen in Politik, Gesellschaft und Kultur zunächst hilflos gegenüber stand«.8 Der Wandel in der politischen Kultur der Bundesrepublik, die neue Ostpolitik wie die zunehmende juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der NS -Verbrechen forderten jedoch die Rechte heraus. Eine Reihe neuer Splittergruppen und Diskussionszirkel entstanden, die sich nicht nur der nationalen Opposition 8 Botsch, G., Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute, Darmstadt 2012, S. 60.

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verschrieben, sondern dem durchaus auch gewaltbereiten Widerstand gegen die gesellschaftliche Entwicklung. Im Gefolge des Aufrufs zur Opposition gegen die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition im Jahr 1970 – verantwortlich zeichnete die »Aktion Widerstand«, ein rechtsextremes Bündnis parlamentarischer und außerparlamentarischer Repräsentanten des rechtsextremen Lagers – wurden Parolen laut wie die Folgende: »Deutsches Land wird nicht verschenkt, eher wird der Brandt gehenkt.«9 Deutlich wuchs auch die Gewaltneigung des rechtsextremen Lagers an und es mehrten sich paramilitärische Übungen für die nicht näher ausgeführte Bekämpfung der Demokratie. Die Zunahme politischer Gewalt von rechts in den 1970ern, eine als Beispiel ausgewählte einschlägige Gruppierung und ein besonders medienwirksamer Anschlag – die »Wehrsportgruppe Hoffmann« (WSG) und das OktoberfestAttentat 1980 – sollen im Folgenden ausgeführt werden. Dabei geht es nicht nur um Strategien und Aktionsmuster des gewaltbereiten Rechtsextremismus, sondern auch um die hohe Duldsamkeit oder zögerliche Reaktion der staatlichen Ordnungsinstanzen, die dem gewaltbereiten Rechtsextremismus in der Bundesrepublik der 1970er Jahre nicht selten zu Teil wurde. Nicht nur die paramilitärische Gruppierung und das spektakuläre Attentat beschäftigten den deutschen Verfassungsschutz relativ wenig. Insgesamt erschien rechte Gewalt bis in die 1980er Jahre hinein aus der Perspektive der Überwachungsbehörde wenig gefährlich. Erstmals wurde für das Jahr 1961 ein »Bericht nach Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörden über den Rechtsradikalismus« als Teil der Zeitschrift »Aus Politik und Zeitgeschichte« publiziert. Auch die Berichte zum Rechtsradikalismus der Folgejahre wurden in der Beilage zur Zeitung »Parlament« veröffentlicht. Seit 1968 erschienen die Verfassungsschutzberichte als eigenständige Publikationen. Sie bieten die Möglichkeit, die Entwicklung rechtsextremer Straftaten und ihre Bewertung seitens der Überwachungsbehörden kontinuierlich zu verfolgen. Spiegeln sich im Rahmen der Publikationsreihe spezifische Formen rechter Gewalt, deren Entwicklung und gegebenenfalls ein Wandel in der Beurteilung seitens der Überwachungsbehörden? Als Bereich der politisch motivierten rechtsextremen Gewalt gegen Sachen wurden kontinuierlich antisemitische Wandschmierereien, die Schändung jüdischer Gräber oder die Beschädigung von Synagogen verzeichnet. Zu einer ersten diesbezüglichen antisemitischen Welle kam es 1959. Besonderes Aufsehen erregte die Schändung der neuen Synagoge in Köln Ende dieses Jahres. Insgesamt wurden im Folgejahr im Kontext einer neonazistischen Schmierwelle über 1.100 antisemitische Wandschmierereien aktenkundig. Der Bundestag reagierte mit dem Gesetz gegen Volksverhetzung. Hat das Auftauchen einer antisemitischen Szene Behörden und Politik 9 Zitiert nach: Backes, U. u. E.  Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 19933, S. 89.

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auffällig alarmiert? »Regierungen und deren bürokratischer Apparat, zumal in Deutschland«, hätten die »Eigenart«, schreibt Wolfang Benz, »unangenehme Nachrichten, wenn sie schon nicht vermeidbar sind, in möglichst milder Form zu verabreichen. Und zu den widrigen Gegenständen gehören, dank der historischen Hypothek der Hitlerjahre und der entsprechenden Aufmerksamkeit im Ausland, rechtsradikale und gar neonazistische Umtriebe.«10 Die Schwierigkeiten staatlicher Behörden, gewaltbereiten Rechtsextremismus als politische Erscheinung, wenn auch Randerscheinung des bundesrepublikanischen politischen Spektrums zu benennen, zeigten sich bereits anlässlich der antisemitischen Schmierereien an der Kölner Synagoge 1959 und der anschließenden Schmierwelle. 17 Täter konnte die Polizei ermitteln. Im Folgejahr veröffentlichte die Bundesregierung eine Analyse der Vorfälle. Die Autoren waren sichtlich bemüht, die angeblich kommunistische Gesinnung einzelner Täter für die Aktionen verantwortlich zu machen. So waren zwei Beschuldigte in ihrer Jugend Mitglieder der FDJ gewesen und hatten 1951 die kommunistischen Weltjugendfestspiele in Berlin besucht. »Auf sieben Seiten wurde dann der allgemeine Nachweis kommunistischer Hintergründe der Vorfälle versucht. Als Hauptargumente dienten einzelne Propagandatorheiten der DDR-Publizistik, etwa des Kalibers, daß die antisemitischen Ausschreitungen vom Bonner ›Amt für Psychologische Kriegsführung‹ im Rahmen einer verordneten ›Nationalen Welle‹ verübt worden seien. Konkrete Anhaltspunkte, die über die Beweiskraft der Tatsache, daß auch die beiden Kölner Initialtäter Vergnügungsreisen nach Ost-Berlin und Leipzig unternommen hatten, hinausgingen, konnten nicht angeboten werden«, so Wolfgang Benz in seinem Überblick über den Rechtsextremismus in der Bundesrepublik.11 In den 1960er Jahren scheinen diese typischen Formen rechtsextremer Gewalt gegen Sachen eher zurückgegangen zu sein. Der Verfassungsschutzbericht von 1968 berichtet nur noch von 349 Ausschreitungen, die dem rechten Lager zugerechnet wurden. Meistenteils handelte es sich um »nazistische oder antisemitische Schmieraktionen« oder sonstige, nicht näher erläuterte »Störaktionen und Unfughandlungen«.12 Knapp die Hälfte der Straftaten konnte im gleichen Jahr bereits aufgeklärt werden. Wie die Täteranalyse ergab, wurden die meisten Aktionen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 15 und 25, gefolgt von der Altersgruppe bis 40 Jahre begangen. Es waren folglich nicht die Altnazis, die sich mit entsprechenden Betätigungen besonders hervortaten. Der Befund zeigt, dass sich insbesondere der Antisemitismus als Generationen überschreitende Klammer erwies. Kam es zu (den wenigen) 10 Benz, Die Opfer und die Täter, S. 30. 11 Benz, ebd., S. 29 f. 12 Bundesministerium des Innern (Hg.), Erfahrungsbericht über die Beobachtungen der Ämter für Verfassungsschutz im Jahre 1968, Bonn 1969, S. 46.

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Fällen von Gewalt gegen Menschen, dann richtete sich diese gegen den politischen Gegner im linken Lager, so das Attentat gegen Rudi Dutschke oder ein Überfall auf ein SDS -Büro und ein ebensolcher auf ein Büro der DKP. Zehn Jahre später, 1978, konstatierte der Verfassungsschutzbericht einen bereits seit dem vorausgegangenen Jahr zu beobachtenden Anstieg rechtsextremer Gewalt. Zwar sei der Rechtsextremismus durch eine ablehnende Bevölkerung, »staatliche Maßnahmen und eigenes Unvermögen … in seiner Wirksamkeit erheblich beeinträchtigt«.13 Trotzdem wusste der Bericht »erstmals« auch von terroristischen Gewalthandlungen zu berichten. Nunmehr wies die Statistik 992 Straftaten aus, wobei nach wie vor die antisemitischen Schmieraktionen überwogen. Mit heutigen Zahlen verglichen, wirkt das Bedrohungsszenario noch immer vergleichsweise harmlos. Doch es war auch zu sieben Raubüberfällen und 32 Körperverletzungen mit rechtsextremem Hintergrund gekommen. Bei den Raubüberfällen waren 1.100 Schuss Munition erbeutet worden. Dass überdies eine Bombe sichergestellt werden konnte und es ferner zu Prügeleien mit der Polizei gekommen war, verweist auf einen sich abzeichnenden Wandel der Kampfstrategien der extremen Rechten. Der Feind wurde nun nicht mehr nur im jüdischen und linken Lager verortet. Ins Visier scheint verstärkt auch das demokratische System gerückt zu sein, gegen das es mit Gewalt vorzugehen galt. Dabei erwies sich offenbar ähnlich wie der Antisemitismus der Bezug auf das »Dritte Reich« als einigendes Moment in dem ansonsten recht zerstrittenen Lager. Denn: »Besonders die Gedenktage des NS -Regimes waren für die NS -Gruppen der Anlaß zu stärkeren Aktivitäten. So wurden zum Gedenken an den 9. November 1923 bzw. 1938 (Marsch der NSDAP zur Feldherrnhalle in München bzw. Reichskristallnacht [H. i. O.]) an vielen Orten im Bundesgebiet vor allem Schmier- und Klebe-Aktionen mit NS -Emblemen und NS -Parolen durchgeführt. In Osnabrück, Essen und Offenbach richteten sich die Ausschreitungen gegen Synagogen.«14 Interessant ist die damalige Bewertung der rechtsextremen Gewaltentwicklung seitens des Verfassungsschutzes. Trotz der seit 1968 beachtlich gestiegenen Zahl der Übergriffe und der sich abzeichnenden Veränderung der Ziele kamen die Überwachungsbehörden zum Ergebnis: »Die rechsextremistischen Gruppen und ihre Anhänger bildeten auch 1978 keine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Die rechtsextremistischen Gruppen, die insgesamt auf ihrem bisher niedrigsten Mitgliederstand angelangt sind, verfolgen keine einheitliche Strategie, sind organisatorisch zersplittert und haben auch keine Führungspersönlichkeiten, die zu politisch wirksamen Aussagen oder zur Überwindung der Gruppenstreitigkeiten fähig

13 Bundesminister des Innern (Hg.), Verfassungsschutz ’78, Bonn 1979, S. 16. 14 Ebd., S. 58.

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wären.«15 Die Einschätzung liefert ein Indiz, dass sich zumindest noch zu diesem Zeitpunkt die Gefahrenanalysen des Bundesverfassungsschutzes an einer möglichen Infiltrierung des bundesdeutschen parlamentarischen Systems, nicht an einer kulturellen Beeinflussung der deutschen Gesellschaft oder an der eventuell drohenden rechtsextremen Eroberung der Straße orientierten. Bei dieser Einschätzung blieb der Verfassungsschutz grundsätzlich auch in den nächsten Jahren, obwohl schon 1979 die steigende rechtsextreme Gewaltbereitschaft »Anlaß zur Besorgnis« gab.16 Die Straftaten waren auf 1.483, die Gewaltaktionen seit dem Vorjahr von 52 auf 97 gestiegen. Der Bericht vermeldete drei Sprengstoffanschläge gegen Fernsehsendeanlagen und eine Fernmeldeanlage im Zusammenhang mit der Ausstrahlung der Serie »Holocaust«, eine Brandstiftung, 26 Körperverletzungen und 65 Sachbeschädigungen. Mit der in der Bewertung durchscheinenden geringen Besorgnis der Überwachungsbehörden stand die von der einschlägigen Forschung konstatierte beginnende »beispiellose Welle neonazistischen Terrors« zu Beginn der 1980er in Widerspruch, die erst 1982 wieder abebbte. »Während indes die Aktionen der RAF im kollektiven Gedächtnis der deutschen Bevölkerung ihren festen Platz haben, ist die Erinnerung an Terror von rechts weit weniger tief verankert [H. i. O.].«17 Botsch zählt für die frühen 1980er Jahre gewaltsame Übergriffe auf politische Gegner und zahlreiche Brand- und Sprengstoffanschläge auf, die zum Tod von über dreißig Menschen führten. Entsprechend wies auch der Verfassungsschutz in seinem Bericht über das Jahr 1980 auf das steigende rechtsextreme Gewaltpotential hin, ohne jedoch auf die bekannten stereotypen, nahezu beschwörend klingenden Hinweise auf die geringe Gefährdung des demokratischen Systems und die fehlende Akzeptanz der Anschläge in der Bevölkerung zu verzichten. Entsprechend erfuhr die interessierte Öffentlichkeit: »Die Gesamtzahl rechtsextremistischer Gesetzesverstöße und Gewalttaten stieg wie in den Vorjahren an. Die steigende Gewaltbereitschaft insbesondere im neonazistischen Bereich zeigte sich 1980 vor allem bei der Bombenexplosion auf dem Münchner Oktoberfest, den Anschlägen der terroristischen ›Deutschen Aktionsgruppen‹ (DA) und den Mordtaten des NS -Aktivisten Schubert an der deutsch-schweizerischen Grenze. Mit weiteren Gewalttaten muß gerechnet werden. Bei der ganz überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung fanden rechtsextremistische Bestrebungen nach wie vor keine Resonanz. Die freiheitliche demokratische Grundordnung wurde durch den Rechtsextremismus auch 1980 nicht ernsthaft gefährdet; die öffentliche Sicherheit und Ordnung war allerdings durch neonazistische Gewalttaten stärker als im Vorjahr beeinträch-

15 Ebd., S. 64. 16 Bundesminister des Innern (Hg.), Verfassungsschutz ’79, Bonn 1980, S. 51. 17 Botsch, S. 81.

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tigt.«18 Mitglieder der DA hatten im Berichtsjahr u. a. Sprengstoffanschläge auf das Landratsamt in Eßlingen, das »Ausländerlager« in Zirndorf, ein Asylantenheim in Lörrach und weitere Brandanschläge gegen »Ausländerunterkünfte« verübt. Der Befund zeigt, dass sich rechtsextreme Gewalt ähnlich wie die zeitgenössische rechtspopulistische Propaganda nun gegen einen neuen Feind – den Migranten bzw. Asylanten – zu richten begann. Bei Schubert handelte es sich um einen Aktivisten, der sich bei einem Versuch, Waffen aus der Schweiz nach Deutschland zu schmuggeln, in einen tödlichen Schusswechsel mit Schweizer Poli­zisten verwickelt hatte. Ein eigenes kleines Kapitel war im »Verfassungsschutzbericht ’80« auch dem Verbot der »Wehrsportgruppe Hoffmann« gewidmet. Viel Raum hatte man dieser paramilitärischen Organisation in den Berichtjahren zuvor nicht eingeräumt. Die »Wehrsportgruppe Hoffmann« und das Oktoberfest-Attentat 1980 »Generell kann man sagen, dass in dieser Zeit im Umfeld faktisch aller Neonazi-Gruppen Wehrsport getrieben wurde«, so Gideon Botsch. Er verortet diese Freizeitaktivität als eher »harmlose Kriegsspielchen«, will sie aber von den Aktionen der eigentlichen Wehrsportgruppen deutlich unterschieden wissen. Denn ein Teil der neonazistischen Wehrsportgruppen mit mehreren 100 Mitgliedern betrieb in den 1970er Jahren ernsthafte paramilitärische Trainings. Sie »verfügten über professionelle und semiprofessionelle Ausbilder, einen Grundstock an Waffen und Fahrzeugen und eine Kontinuität des Trainings, wie sie für einen realistischen Einsatz Voraussetzung ist«.19 Der größte paramilitärische Verband mit entsprechenden Trainings stellte die »Wehrsportgruppe Hoffmann« (WSG) dar. 1973 durch ihren Namensgeber Karl-Heinz Hoffmann (geb. 1937) gegründet, tat sich die Organisation mit gezielter Propaganda, kontinuierlichen Wehrübungen und einem erfolgreichen Finanzierungskonzept hervor.20 Die Organisation führte uniformiert und bewaffnet mit ausrangierten Militärfahrzeugen im freien Gelände Kampfübungen durch, die ihr nicht nur mediale Aufmerksamkeit, sondern auch den Zulauf einer Reihe jugendlicher Aktivisten bescherten. Den Überwachungsberichten zufolge zählte die WSG sechzig Aktivisten und rund 400 Mitglieder. Bald schon nach ihrer Gründung übernahm die Organisation Saalschutzaufgaben bei NPD -Parteiveranstaltungen. Schließlich tat sie sich 1976 mit Schlägertrupps 18 Bundesminister des Innern (Hg.), Verfassungsschutz ’80, Bonn 1981, S. 16. 19 Botsch, S. 80. 20 Die in der Forschungsliteratur genannten Gründungsdaten variieren zwischen 1973 und 1974.

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in Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Studenten in Tübingen hervor. Mediale, polizeiliche und nachfolgend juristische Aufmerksamkeit erregte die WSG spätestens seit 1974. Kritische Artikel im »Stern« führten zu Nachfragen im bayerischen Innenministerium seitens der SPD -Opposition, ob die Gruppierung nicht verboten werden müsse. Doch das Ministerium sah keine ausreichende rechtliche Grundlage. Zu einem ersten Prozess gegen Hoffmann kam es im Sommer 1975. Vorerst kam der Gründer der WSG mit einer Geldstrafe davon. Auf dem Weg in ein Manöver wurden uniformierte und bewaffnete Mitglieder der Wehrsportgruppe 1977 vorläufig festgenommen und entwaffnet. Weitere kleine Verfahren und Verurteilungen folgten. In Bayern blieb es vorerst bei kontinuierlichen kritischen Anfragen seitens der Opposition und eher abwiegelnden Antworten der Regierung. Nachdem die WSG seit 1976 nicht mehr nur in Bayern auffällig wurde, griff schließlich das Bundesinnenministerium die Verbotsfrage auf. Am 30. Januar 1980 verbot der Bundesminister des Innern, Gerhard Baum, die »Wehrsportgruppe Hoffmann«. Damit fand eine Organisation ihr legales Ende, die dem Extremismusforscher Armin Pfahl-Traughber zufolge »zumindest eine wichtige Durchlaufstation für Rechtsterroristen« darstellte.21 Als Begründung des Verbots wurden die verfassungsfeindlichen Ziele der Gruppe und ihre Gewaltbereitschaft genannt. Die WSG hätte das Ziel verfolgt, eine paramilitärische Kampftruppe aufzubauen. Hingewiesen wurde in der Verbotsbegründung auch auf die falschen Leitbilder, die die Organisation Jugendlichen vermittle und die das Image der Bundesrepublik schädigende Wirkung im Ausland. Versuche Hoffmanns, das Verbot gerichtlich zu kippen, scheiterten im Dezember 1980. Mit ihrem Verbot war indes das Ende der Gruppe noch nicht besiegelt. Im Gegenteil: der Entzug des legalen Aktionsraums scheint eine Radikalisierung der Gruppierung im Untergrund bewirkt zu haben. Hoffmann setzte sich im Frühjahr 1980 mit einigen Gefolgsleuten in ein PLO -Lager im Libanon ab. Hier trainierten die Aktiven den bewaffneten Kampf, planten Mordanschläge in Deutschland auf einen Staatsanwalt, mediale Kritiker der WSG und Juden, sammelten aber auch weitere deutsche Kampfgenossen um sich. Doch interne Streitigkeiten in der rechtsextremen Exilsammelbewegung um die Führerrolle und die ideologische Ausrichtung bereiteten dem Libanonabenteuer rasch ein Ende. Bis zum Herbst 1981 scheinen zumindest alle namentlich bekannten Mitglieder der Gruppe wieder nach Europa zurückgekehrt gewesen zu sein. Auch in Deutschland selbst hatten die Aktivitäten vormaliger WSG -Angehöriger mit dem Verbot der Gruppe nicht aufgehört. So wird u. a. der Ende des Jahres 1980 erfolgte Mord an dem Verleger und ehemaligen Vorsitzenden der 21 Pfahl-Traughber, A., Der organisierte Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945, in: Schubarth, W. u. R. Stöss (Hg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Opladen 2001, S. 71–100, hier: S. 84.

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israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, Shlomo Levin, und seiner Lebensgefährtin Uwe Behrendt (1952–1981), einem vormaligen Mitglied der WSG , angelastet. Auch Odfried Hepp (1958–1982), Kopf der »Hepp-Kexel-Gruppe«, die 1982 mit Banküberfällen und Sprengstoffanschlägen auf sich aufmerksam machte, hatte zuvor im Libanon mit Hoffmann erst zusammengearbeitet, dann sich mit diesem zerstritten. Zu den bekanntesten rechtsextremen Anschlägen, mit denen die WSG in Verbindung gebracht wird, dürfte der Bombenanschlag auf das Oktoberfest am 26. September 1980 gehören. Die Bombe töte 19 Menschen und verwundete über 200. Der bei dem Attentat selbst zu Tode gekommene Täter, Gundolf Köhler (1959–1980), hatte in den Jahren zuvor Kontakt zur WSG und zu Hoffmann unterhalten. Zweifelsfrei ließ sich nicht nachweisen, ob es sich um eine Auftragstat handelte oder Hoffmann zumindest von dem Plan wusste. Die Ermittlungen der Polizei führten zu dem Ergebnis, bei Köhler habe es sich um einen Einzeltäter mit rechtsextremem Gedankengut gehandelt. Ein Versuch des Opferanwalts Werner Dietrich, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erkämpfen, scheiterte vorerst 1984. Auch der Journalist Ulrich Chaussy hat der Einzeltäter-Deutung von Anfang an widersprochen und über viele Jahre hinweg Indizien für ein rechtsextremes Komplott im Dunstkreis der WSG zusammengetragen. Seine Publikation über das Oktoberfest-Attentat ist 2014 auch verfilmt worden.22 Ob die mediale Aufmerksamkeit, die sich Dietrich und Chaussy erkämpften, oder die durch den NSU-Skandal sensibilisierte Öffentlichkeit verantwortlich ist, lässt sich aktuell nicht zweifelsfrei klären, doch im Herbst 2014 hat die Bundesstaatsanwaltschaft die Untersuchung des Oktoberfest-Attentats von Neuem aufgerollt. Derzeit stehen die Endergebnisse der Überprüfung noch aus. Ein Zwischenbericht der Bundesanwaltschaft lässt jedoch die Vermutung zu, dass auch die neuerliche Untersuchung des Attentats keine eindeutige Klärung seiner rechtsextremen Hintergründe liefern wird. Karl-Heinz Hoffmann, der Gründer der WSG , wurde 1981 bei seiner Einreise nach Deutschland verhaftet und 1984 wegen Geldfälschung, Freiheitsberaubung, gefährlicher Körperverletzung sowie Vergehen gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. 1989 mit günstiger Sozialprognose entlassen, macht er seitdem gelegentlich als Geschäftsmann und Schriftsteller von sich Reden. Nach wie vor scheint er über gute Verbindungen in die rechtsextreme Szene zu verfügen. Insgesamt, so das abschließende Urteil Pfahl-Traughbers, könne bei der WSG »aufgrund der fehlenden Belege für systematische Anschlagpläne und -durchführungen aus der Organisation selbst heraus … nicht von einer terroristischen Struktur gesprochen werden, gleichwohl entwickelten sich terroristische Handlungen 22 Chaussy, U., Oktoberfest. Ein Attentat. Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann, Darmstadt 1985; Verfilmung: Der blinde Fleck (2014).

Rechtsextremismus und politische Gewalt

nicht zufällig aus der Wehrsportgruppe [H. i. O.] heraus.«23 Doch zu überlegen ist, ob eine solche und ähnliche Bewertungen rechte politische Gewalt nicht mit den an linker, theorielastiger politischer Gewalt gewonnenen Merkmalen messen und die mangelnde Systematik rechter Gewalt ähnlich wie die fehlenden Bekennerschreiben nicht eher als typische Kennzeichen des rechtsextremen Terrorismus in Geschichte und Gegenwart zu begreifen sind. Doch es sind letztlich nicht die konzeptuellen Grundlagen der gewaltbereiten Aktivitäten der WSG , die einer vertieften geschichtswissenschaftlichen Analyse bedürfen. Weitaus ertragreicher als die Untersuchung der Beschwörungen der vergangenen großen Tage des Dritten Reiches und der gegebenenfalls zugehörigen tradierten ideologischen oder konzeptuellen Versatzstücke sind die politischen und medialen Reaktionen, die die rechtsextreme Gewaltbereitschaft in den 1970er und 1980er Jahren provozierte. Rechtsextreme Gewalt als parteipolitisches und mediales Konfliktthema 1977 hatte der vormalige Bundeskanzler und Parteivorsitzende der SPD, Willy Brandt, öffentlich gefordert, den wachsenden Rechtsextremismus sorgsam zu beobachten und die Bedrohung durch rechtsextreme Gewalt nicht geringer als die Gefahr des linken Terrorismus einzuschätzen. Diese Mahnung brachte ihm heftige Kritik seitens der CDU / C SU ein. Auch die medialen Auseinandersetzungen um die »Wehrsportgruppe Hoffmann« veranschaulichen, dass  – anders als im Falle der RAF – klare parteipolitische Trennlinien im Umgang mit dem paramilitärischen Wehrsport ausgemacht werden können. Bundesinnenminister Gerhard Baum fing sich mit dem Verbot der WSG beispielsweise Kritik des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß ein, der die Hysterie im Umgang mit dem angeblichen Rechtsradikalismus anprangerte. Parteipolitisch aufgeladen war schließlich auch die Auseinandersetzung über das Oktoberfest-Attentat, das eine Woche vor der Bundestagswahl 1980 stattfand. Die Frage, ob Terroristen aus dem linken oder rechten Lager für den Anschlag verantwortlich waren, schien »von großer politischer Tragweite.«24 Im noch immer sichtlich von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um den Linksterrorismus erhitzten politischen Milieu hatte das Thema Innere Sicherheit im Wahlkampf eine große Rolle gespielt. Der Anschlag, entlarvt als linksterroristische Tat, drohte den Bonner Koalitionsparteien SPD und FDP Prozente zu kosten. Die Enttarnung einer Tätergruppe im rechten Lager 23 Pfahl-Traughber, Der organisierte Rechtsextremismus, S. 84. 24 Vinke, H., Mit zweierlei Maß. Die deutsche Reaktion auf den Terror von rechts, Hamburg 1981, S. 14.

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mochte andererseits den Stimmenanteil der Oppositionsparteien CDU und CSU verringern; zumindest finden sich zeitgenössisch entsprechende Überlegungen: »Das Duell Schmidt-Strauß bekam mit dem Bombenattentat auf dem Münchner Oktoberfest einen dramatischen Akzent.«25 Bereits am 27. September, ein Tag nach dem Anschlag, mahnte der bayerische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat die Stärkung der Sicherheitskräfte an. In einem Gespräch mit der »Bild am Sonntag« legte er seine Deutung der Ereignisse offen: »Der Terror hat links begonnen, hat sich in der Folgezeit nach rechts entwickelt, und nun schaukeln sich beide gegenseitig hoch.« Große Schuld an dieser Entwicklung trage der Bundesinnenminister Gerhard Baum: »Erstens durch die ständige Verunsicherung und Demoralisierung der Sicherheitsdienste, die sich heute ja nicht mehr trauen, im Vorfeld aufzuklären und den potentiellen Täterkreis festzustellen. Zweitens durch die Verharmlosung des Terrorismus.«26 In den medialen Debatten um die Nähe des Attentäters zur WSG wartete Franz Josef Strauß ergänzend mit der Information auf, dass viele Hoffmann-Leute aus der DDR (also von links) gekommen seien. Und der damalige sicherheitspolitische Sprecher der CSU, Carl-Dieter Spranger, ließ wissen, »daß im Dunstkreis von Gundolf Köhler auch Leute des Ministeriums für Staatssicherheit tätig waren«.27 Zum parteipolitisch hochgespielten Eklat kam es im Sicherheitsausschuss des Bundestages, als sich Strauß weigerte, dort seine Stasi-These zu untermauern. Er habe, so ließ er das Gremium wissen, »die Äußerungen nicht in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident, sondern als Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat gemacht«.28 Bis heute ist die »DDR-Agenten-Theorie« nicht gänzlich aus der Welt, auch wenn eine Analyse der Stasi-Akten wohl ein DDR-Interesse am bundesdeutschen Rechtsextremismus, nicht jedoch dessen aktive Unterstützung belegt hat.29 Umgekehrt berichteten Repräsentanten der SPD genüsslich, der bayerische Innenminister Gerold Tandler habe zu Beginn des Jahres ein Verbot der »Wehrsportgruppe Hoffmann« nicht aussprechen wollen. Die Frage, ob es sich bei Gundolf Köhler um einen politisch nicht ernst zu nehmenden Einzeltäter und Wirrkopf oder um das Mitglied einer aktiven rechten Terrorzelle gehandelt habe, und damit die Frage, ob die CDU die rechte Gefahr unterschätze, FDP und SPD diese aus Wahlkampfgründen überbetonten, rückten in den Tagen vor der Wahl am 5. Oktober ins Zentrum 25 Ebd. 26 Bild am Sonntag, 28.9.1980, zitiert nach Vinke, S. 19. 27 Spranger im Norddeutschen Rundfunk, 1.10.1980, zitiert nach Fromm, R., Die Wehrsportgruppe Hoffmann. Darstellung, Analyse und Einordnung, Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 478. 28 Fromm, S. 479. 29 Vgl. zur Stasi-Thematik: Heymann, T. von, Die Oktoberfest-Bombe. München, 26. September 1980 – Die Tat eines Einzelnen oder ein Terror-Anschlag mit politischem Hintergrund? Berlin 2008.

Rechtsextremismus und politische Gewalt

der öffentlichen Debatte. Es scheint, als habe die parteipolitische Aufladung der medialen Diskussion die kriminalistische Untersuchung des Attentats nicht eben begünstigt. »Die politische Auseinandersetzung um den Anschlag auf das Münchner Oktoberfest markiert einen Tiefpunkt in der politischen Kultur«, so das Fazit Rainer Fromms in seiner Darstellung der »Wehrsportgruppe Hoffmann«.30 Zwar verschwand die These der DDR-Verstrickung des Attentäters allmählich aus den Medien, doch die Festlegung auf die CSU-Lesart, es habe sich nicht um einen politisch motivierten Attentäter, sondern um einen geistig verwirrten Menschen gehandelt, beeinflusste schließlich selbst wissenschaftliche Autoren. Auch die Extremismusforscher Backes und Jesse konnten sich des Psychologisierens nicht enthalten. Der Leser erfährt in ihrer, seit 1989 mehrfach aufgelegten Darstellung des politischen Extremismus: »Die Sprengladung [auf dem Münchner Oktoberfest] war von dem 21jährigen Geologiestudenten Gundolf Köhler aus Donaueschingen gelegt worden  – nach den Ermittlungen der Sicherheitsbehörden aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Mittäter oder Hintermänner. Köhler hatte persönliche Schwierigkeiten und zeitweilig an Übungen der Wehrsportgruppe Hoffmann [H. i. O.] teilgenommen.«31

30 Fromm, S. 479. 31 Backes und Jesse, S. 210.

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11. Politische Gewalt als Kommunikationsstrategie und die Rolle der Medien »Auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung« betitelte die Medienhistorikerin Sonja Glaab im Jahr 2007 einen Sammelband zum Thema »Medien und Terrorismus«.1 Tatsächlich rückte nach 9/11 die Rolle der Medien im Umgang mit Terroranschlägen rasch in den Fokus der mit Terror befassten Forschung und der politischen Aufmerksamkeit. Das neu erwachende Interesse an der Verbindung zwischen Terroraktionen und Berichterstattung hatte erste Impulse unmittelbar während der Anschläge in New York und Washington erhalten. Wer von den Zeitgenossen kennt nicht die Life-Bilder von den Flugzeugen, die in die Twin Towers stürzten? Offensichtlich hatten die Drahtzieher besonders medienwirksame Aktionen geplant und umgesetzt. Rasch entwickelte sich eine Debatte darüber, ob und welche Funktion den Medien im Wechselspiel zwischen terroristischer Aktion, betroffener Bevölkerung und reagierendem Staat zuzuschreiben sei. Terrororganisationen profitieren offensichtlich von einer möglichst breiten Berichterstattung und nutzen diese, um ihre Botschaften der Öffentlichkeit zu präsentieren. Da terroristische Gewalt auf besonders hohe Aufmerksamkeit stößt, ziehen auch die Medien ihren Nutzen aus den Anschlägen. Terrorberichterstattung scheint sich günstig auf Auflagenhöhen und Einschaltquoten auszuwirken. Kann und soll Selbstbeschränkung von den Medien eingefordert werden und erfordert die Bekämpfung terroristischer Gruppen gar Zensurmaßnahmen zur Unterbrechung der postulierten Symbiose ? Eine Fülle politik- und kommunikationswissenschaftlicher Publikationen widmet sich seit 9/11 diesen Themen. Auch die Geschichtswissenschaft hat in den letzten Jahren den Zusammenhang von politischer Gewalt und Medien verstärkt aufgegriffen. Nicht zuletzt hat sie herausgearbeitet, dass es sich bei der symbiotischen Beziehung von Terrorismus und Journalismus keineswegs um ein neues Phänomen handelt. Schon in der Frühphase des Terrorismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzten die gewaltbereiten Akteure auf eine mediale Debatte, eine öffentliche Diskussion, die die Repräsentanten staatlicher Ordnung zu kontrollieren, wenn nicht gar zu unterdrücken wünschten. Überdies können die Medien selbst nicht nur heute, sondern auch in historischen Fallbeispielen als beteiligte Akteure begriffen werden, die ihrerseits auf staatliche Terrorbekämpfung und öffentliche Akzeptanz staatlicher Maßnahmen Einfluss ausüben.

1 Vgl. Glaab, S. (Hg.), Medien und Terrorismus  – Auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung, Berlin 2007.

Politische Gewalt als Kommunikationsstrategie und die Rolle der Medien

Die Nutzung der Medien durch den Terrorismus Betrachten wir zunächst die einschlägigen Strategien der Träger der politischen Gewalt: Aus Sicht der Terroristen lassen sich die Medien als Informationsmittel für eigene Zwecke und als Kommunikationskanal benutzen. Verschlüsselte Nachrichten mögen dazu geeignet sein, Botschaften an Mitglieder der Organisation weiterzugeben. Nicht erst im Zeitalter des Internet können Medien dazu dienen, mit dem eigenen Unterstützerkreis Nachrichten und Informationen auszutauschen. Berichte in Presse, Rundfunk und Fernsehen oder Internet über Gewaltanschläge sind ferner zur medialen Offenlegung der eigenen Programme brauchbar. Terrornachrichten sind darüber hinaus dazu geeignet, die Wirkung der Gewalt-Aktionen zu erhöhen. Sie erzeugen Angst bei den Gegnern und erleichtern die Nachwuchsrekrutierung. Schon die frühen Protagonisten des terroristischen symbolischen Mordes waren sich der Notwendigkeit bewusst, Medien für die Verbreitung ihrer Botschaften in Dienst nehmen zu müssen. Charlotte Corday hatte vor ihrem Anschlag auf Marat 1793 eine »Adresse an die Franzosen« formuliert, die sie bei ihrer Verhaftung mit sich führte.2 Hier brandmarkte sie Marat und die jakobinische Politik als gesetzlos. »O! Frankreich«, schrieb sie, »Dein Heil liegt in der Hand des Gesetzes; ich verletze es nicht, indem ich Marat tödte … O! mein Vaterland, Deine Leiden zerreißen mein Herz; nur mein Leben selbst kann ich Dir opfern, und ich danke dem Himmel, daß er mir die Freiheit gab, es Dir darbringen zu können; ich will, daß mein letzter Seufzer meinen Mitbürgern Heil bringe, daß, wenn man mein Haupt durch Paris trägt, es ein Zeichen werde, unter dem die Freunde der gesetzlichen Ordnung sich erheben mögen.«3 Der Burschenschaftler Karl Ludwig Sand, der 1819 Cordays mörderische Vorgehensweise kopierte und eine Verherrlichung Cordays, verfasst von Jean Paul, im Gepäck mit sich führte, verfeinerte die mediale Inszenierung. Im Stil ­Luthers – das Gedenkfest anlässlich des 300-jährigen Beginns der Reformation auf der Wartburg hatte Sand aktiv mitgestaltet  – plante er, nach erfolgtem Mordanschlag ein Bekennerschreiben an die Haustüre Kotzebues zu nageln. Die gewaltbereite europäische anarchistische Szene setzte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – ähnlich wie die im Deutschen Reich zwischen 1878 und 1890 verbotene Sozialdemokratie – auf den Propagandawert des gedruckten 2 Vgl. Kapitel 5. 3 Zitiert nach Anonym, Charlotte Corday, in: Westermann’s illustrirte deutsche Monatshefte 11 (1861), S. 560–567, hier: S. 566. Der ungenannte Autor war laut der Redaktion der Zeitschrift durch Charles Vatel zur Veröffentlichung autorisiert. Vatel hatte 1861 den Brief in seiner Dokumentation des Prozesses abgedruckt, vgl. Vatel, Ch., Dossiers du procès criminel de Charlotte Corday devant le tribunal re volutionnaire, extraits des archives impériales, Paris 1861, S. 60–62.

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Wortes.4 Zahlreiche oppositionelle anarchistische Zeitschriften, häufig von kurzer Lebenszeit, wurden beispielsweise in Frankreich oder der Schweiz gegründet und in Europa verbreitet. Für einige Jahre übernahm die »Freiheit«, von Johannes Most in England herausgegeben und gedruckt, die Rolle des Agitationsorgans für den deutschsprachigen Raum. Dass zwar der Vertrieb der Zeitschrift im Deutschen Reich verboten war, nicht jedoch ihr Bezug, mag die Verbreitung der »Freiheit« befördert haben. Von der RAF ist bekannt, dass sie bereits bei ihrer ersten spektakulären Aktion, dem Frankfurter Kaufhausbrand 1968, vorab die Deutsche Presseagentur informierte.5 Anschließend wurde »die gezielte Information der Presse … zu einem festen Bestandteil der medialen Terrorstrategie der RAF«.6 In der Traditionslinie der Propaganda der Tat heißt es in einem frühen programmatischen Text der RAF, der Horst Mahler zugeschrieben wird: Mittels umfassender Propaganda für den bewaffneten Kampf soll den potentiell revolutionären Massen nahegebracht werden, »warum dieser notwendig und unvermeidlich ist und wie er vorbereitet werden kann«.7 Die einschlägige Forschung zur RAF und ihrer Mediennutzung hat herausgearbeitet, dass die Terrororganisation die Medienberichterstattung genauestens beobachtete. Die RAF versuchte Richtigstellungen zu veröffentlichen, wenn ihrer Meinung nach über Vorgänge falsch berichtet wurde. Sie unterhielt, so weit möglich, Kontakte zu Journalisten und bemühte sich darum, ihre Erklärungen und Bekennerschreiben möglichst breit publizieren zu lassen. Spektakuläre Aktionen im Gefängnis wie beispielsweise Hungerstreiks dienten auch dazu, die Medienberichterstattung am Laufen zu halten. Die »Bewegung 2. Juni« ging sogar dazu über, Journalisten zu bedrängen, um eine breite Medienberichterstattung über die eigenen Ziele zu erzwingen. Wie stark die RAF und ihre Nachfolgeorganisationen den Einfluss der Medien auf die öffentliche Meinungsbildung gewichteten, lässt sich daran ermessen, dass bei der Schleyer-Entführung 1977 Videos aufgenommen wurden. Sie sollten nicht nur belegen, dass der Entführte noch lebte. Es wurden Bilder inszeniert, die dazu geeignet schienen, die Bundesregierung in ihrer Entscheidungsfindung öffentlichem Druck auszusetzen. Schleyer ist in einem Video zu sehen, wie er sich kritisch zur mangelnden Bereitschaft der Bundesregierung äußert, auf die Forderungen der Entführer einzugehen. Dass die Wirkung von Bildern aber letztlich nicht (nur) von ihren Erzeugern beeinflusst wird, sondern Bilder eine selbständige Wirkmacht entfachen können, hat der Medienwissenschaftler Andreas Elter am Beispiel dieses Videos herausgearbeitet. »Anstelle des beabsichtigten Solidarisierungseffekts und der Vorführung einer ›Bestie des 4 Vgl. Kapitel 6. 5 Vgl. Kapitel 9. 6 Elter, A., Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt a. M. 2008, S. 99. 7 Zitiert nach ebd., S. 112.

Politische Gewalt als Kommunikationsstrategie und die Rolle der Medien

Kapitals‹, die nur ihre gerechte Strafe ereilte, trat in der Öffentlichkeit das genaue Gegenteil davon ein. Schleyer … wurde nun als geschundener Mensch wahrgenommen. Das erzeugte in der Öffentlichkeit einen Mitleidseffekt mit dem Opfer Schleyer.«8 Es lässt sich darüber streiten, ob der mediale Mitleidseffekt den Terroristen oder der Regierung nützte. Wie sehr auch heute noch der aktuelle islamistische Terrorismus auf den Propagandawert der Medien setzt, lässt sich an den spektakulären Medienauftritten des »Islamischen Staats« (IS) verfolgen. Eine Zeitlang schien es, als würde der IS eine eskalierende Gewalt­ spirale mit gefilmten Enthauptungen und Verbrennungen von Gegnern auch deshalb bedienen, weil jede weitere Gewaltetappe das Interesse der Medien von neuem entfachte. Dass diese Strategie nach hinten losgehen kann, zeigt sich derzeit. Lassen sich die Gewaltexzesse nicht weiter steigern, scheint das mediale Interesse zurückzugehen. Medienkritik als Rekrutierungsmuster gewaltbereiter Oppositionsgruppen Die einschlägige Forschung beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der Nutzung der Medien seitens der Terroristen. Sie hat auch herausgearbeitet, dass die kritische Auseinandersetzung mit der Medienberichterstattung (nicht nur) gewaltbereiten Oppositionsgruppierungen die Chance zur Nachwuchsrekrutierung bieten kann. Aktuell macht die Pegida-Bewegung u. a. auch mit dem Schlagwort »Lügenpresse« auf sich aufmerksam. Sie stellt sich damit, gewollt oder ungewollt, in eine Traditionslinie mit der Propaganda der NSDAP in der Weimarer Republik und sucht ihre Anhängerschaft als vermeintlich von den Medien verfolgte Gemeinschaft gegen deren Berichte zu immunisieren. Der hohe Mobilisierungseffekt von Kritik an der Presse zeigte sich aber auch in der Studentenbewegung der 1960er Jahre und der nachfolgenden linksterroristischen Phase am Beispiel des Feindbilds der Axel Springer SE . Zweifellos hatte die Berichterstattung von »Bild« und anderen Zeitungen des Axel Springer Verlages im Sprachgebrauch und in einseitiger Berichterstattung alle Register gezogen, die dazu geeignet waren, die außerparlamentarische Opposition zu provozieren. Insbesondere »Die Bild« stand zeitgenössisch im Fokus medienwissenschaftlicher Kritik, die sich auch gegen die wirtschaftlichen Interessen von Medienkonzernen und deren Manipulationspraktiken mithilfe der Massenmedien wandte. Die heutige Medienforschung geht zumeist davon aus, dass Pressekonsumenten schlichtweg diejenigen Zeitungen erwerben, die sie in der eigenen Haltung bestärken. Damals unterstellte die zeitgenössische wissenschaftliche Medienkritik der Presse eine starke und manipulative Wir8 Elter, S. 175.

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kung auf das Handeln ihrer Leser. So forderten beispielsweise anlässlich des Attentats auf Rudi Dutschke 1968 14 Intellektuelle in einer Erklärung in der »Zeit« »endlich in die öffentliche Diskussion über den Axel Springer-Konzern, seine politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen und seine Praktiken der publizistischen Manipulation einzutreten.«9 Der SDS rief zum Boykott der Springerpresse und zu Blockaden der Auslieferung von Springer-Erzeugnissen auf. Protestveranstaltungen und die Kampagne »Enteignet Springer« sollte die RAF 1972 schließlich mit einem Anschlag auf den Axel Springer Verlag fortsetzen. Welch breite Kreise die kritische Haltung gegenüber dem Verlagshaus Axel Springer in dieser Zeit erreichte, lässt sich daran ablesen, dass die Bundesregierung eine Kommission einsetzte, die die Medienmacht des Axel Springer Verlags überprüfen sollte. Sie wies im Mai 1968 darauf hin, dass ein Medienkonzern, der einen Markt-Anteil von 33 Prozent am bundesdeutschen Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt innehabe, tatsächlich eine Gefährdung der Pressefreiheit und folglich der Demokratie darstelle könne. Die Kommission stellte sich damit in eine wissenschaftliche Traditionslinie, die u. a. auch die Pressekonzentration in Weimar für den Weg der Demokratie in die Diktatur verantwortlich gemacht hatte. Auch die in den 2000er Jahren an Heftigkeit gewinnende Debatte um die politisch genutzte Medienmacht des US -amerikanischen Medienmoguls Rupert Murdoch lässt sich hier einordnen. Die der kritischen Medienbetrachtung zugrundeliegenden Überlegungen gehen von der Aufklärungs- und Bildungspflicht der Presse in einer demokratischen Öffentlichkeit aus und sehen die Pluralität der Meinungsbildung durch Medienkonzentration gefährdet. Jenseits der Frage, ob manipulativ gestaltete Artikel Leser tatsächlich zu antidemokratischen Aktionen provozieren können, ist es offensichtlich, dass sie Sprachregelungen bekannt machen und den Stil beeinflussen, in dem über einen politischen Sachverhalt in der Öffentlichkeit debattiert wird. Auf die Bedeutung der Sprache wies schon der Sozialpsychologe Peter Hofstätter in der Auseinandersetzung mit der RAF 1979 hin: »Das Sagbarmachen des Unmöglichen macht das Unmögliche zu etwas, woran man sich gewöhnen kann.«10 Die diesbezügliche Kritik an der Axel Springer-Presse war in breitesten Kreisen des Bildungsbürgertums und der Studenten in den 1960er und 1970er Jahren konsensfähig. Zumindest in der Entstehungszeit der RAF dürfte die Anti-Springer-Kampagne Legitimationsmuster für Gewalt gegen Sachen geliefert haben. Es waren Argumentationsstränge, die nicht nur vom linksradikalen Teil der Studentenbewegung geteilt wurden und die zumindest das Verständnis, wenn nicht gar Sympathie für manche Aktionen der RAF gestärkt haben. 9 Zitiert nach Elter, S. 105. 10 Geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1979, S. 63.

Politische Gewalt als Kommunikationsstrategie und die Rolle der Medien

Ein verwandtes kommunikationswissenschaftliches Forschungsfeld stellen der Sprachgebrauch und der Umgang mit Terrorismus im Kontext politischer Kommunikation dar. So hat beispielsweise Andreas Musolff herausgearbeitet, dass es sich bei dem mittels Gewalt eroberten Zugang zur medialen Öffentlichkeit um eine erzwungene Kommunikationsform seitens der terroristischen Akteure handelt. Dabei bilde die Diskussion des Terrorakts »einen zentralen Bestandteil der Selbstverteidigung der Öffentlichkeit … Wenn die Terroristen auch ihren erklärten Krieg gegen die Herrschenden [H. i. O.] nicht gewinnen können, so bleibt immer noch die Gefahr präsent, dass die angegriffene Öffentlichkeit in Übernahme des Kriegsschemas der Interpretation politischer Konflikte die Zerstörung oder Einengung des Raumes der als legitim anerkannten politischen Debatte und Auseinandersetzung befürwortet und somit ihre eigenen Funktionsbedingungen in Frage stellt«.11 So lässt sich zeigen, dass bereits die seit der Französischen Revolution übliche Stigmatisierung einer gewaltbereiten Gruppierung als Terroristen und die Charakterisierung ihrer Bekämpfung als Krieg die Auseinandersetzung mit den politischen Hintergründen und Anliegen der Organisation behindert. Am Beispiel der medialen Auseinandersetzung mit der RAF in den 1970er Jahren kommt Musolff zum Ergebnis, »daß die gewaltbereiten Gruppen einer spezifischen Antwortbereitschaft der Gesellschaft bedürfen. Sie müssen von ihr als Kriegsgegner anerkannt werden«, um solchermaßen legitimiert agieren zu können.12 Im Gegenzug erlaube die Übernahme der Kriegsterminologie seitens der staatlichen Behörden und der Medien die Erweiterung des Feindfeldes auf Sympathisanten und sonstige als Kriegsgegner ausgemachte Gruppierungen. »Diese doppelte Identifizierung von politischen Konflikten mit einem Krieg [H. i. O.] … machte aus der Analogisierung von politischer und militärischer Auseinandersetzung eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.«13 Medien als Akteure in gewaltsamen Konflikten und die politischen Folgen Im Kontext solcher Überlegungen haben die Medien als eigenständige Akteure in der Auseinandersetzung zwischen Terroristen, Öffentlichkeit und Staat das Interesse der Geschichtswissenschaft gefunden. Am Beispiel des Terrorismus in Deutschland in den 1970er Jahren lässt sich zeigen, dass die Medien weit über Berichterstattung hinaus aktiv Einfluss auf den öffentlichen Diskurs, 11 Musolff, A., Krieg gegen die Öffentlichkeit. Terrorismus und politischer Sprachge­ brauch, Opladen 1996, S. 11 f. 12 Ebd., S. 217. 13 Ebd., S. 218.

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wenn nicht gar aktiv auf Entscheidungen und Stellungnahmen der Politiker nahmen. Zwei Beispiele mögen dieses Themenfeld veranschaulichen: der »Sympathisanten-Diskurs im Deutschen Herbst«14 und seine Eskalation in der sogenannten Mescalero-Affäre 1977. Der Sympathisantendiskurs entwickelte sich als mediale Schlacht rund um Fragen von Schuld und Mitverantwortung in Sachen Terrorismus in den 1970er Jahren. Er bestimmte eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Terrorismus mit, »die in ihrer Schärfe bis heute in der Bundesrepublik ihres Gleichen sucht«.15 Jenseits der generell schwer zu beantwortenden Frage, ob und wie die Medien die öffentliche Meinung beeinflusst haben, lässt sich zumindest belegen, dass sie in den 1970er Jahren »in erheblichem Maße politische Entscheidungen mitgeprägt haben«.16 In der Anfangs- und Hochphase des RAF -Terrorismus erfuhr der Begriff Sympathisant einen sichtlichen Bedeutungswandel. Ursprünglich wertneutral für eine Person stehend, die mit einer Sache oder einer Person sympathisiert, steht die Bezeichnung laut Duden 1974 für »jemand der einer [extremen] politischen oder gesellschaftlichen Gruppe oder Anschauung wohlwollend gegenübersteht und sie unterstützt«.17 Auch heute noch definiert der Duden den Begriff nahezu gleichlautend und gibt als Beispiel an: »Ein Sympathisant dieser Partei, der RAF«.18 Balz benennt einen vielzitierten Artikel von Heinrich Böll als ersten Kulminationspunkt der medialen Debatte. »Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?« lautete der Titel von Bölls Kolumne im »Spiegel«, veröffentlicht im Januar 1972. Hier wandte sich der Autor in höchst emotionaler Weise gegen Vorverurteilungen von RAF -Mitgliedern und manipulatorische Berichterstattung in der Springerpresse, vorzugsweise in der breitenwirksamen »Bild«-Zeitung und zog einen Vergleich zwischen nationalsozialistischer Pressepropaganda und Springerpresse. Die Angegriffenen schlugen in gleicher Weise zurück. Ging es erst nur um Heinrich Böll, dessen Engagement für Meinungsfreiheit rasch zum Eintreten für politische Gewalt uminterpretiert 14 So der Titel eines Aufsatzes von Hanno Balz aus dem Jahr 2006. Vgl. auch seine erweiterte Beschäftigung mit Thema Terrorismus und Medien in seiner Dissertation aus dem Jahr 2008: Balz, H., Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt a. M. / New York 2008. Und aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Husmann, D., Schon bist Du ein Sympathisant. Die rechtlichen und außerrechtlichen Wirkungen eines Wortgebrauchs im Spiegel der Literatur, Osnabrück 2015. 15 Balz, H., Der »Sympathisanten«-Diskurs im Deutschen Herbst, in: Weinhauer, K., J. Requate, u. H.-G. Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 320–350, hier: S. 320. 16 Ebd., S. 321. 17 Zitiert nach ebd., S. 322. 18 Eintrag »Sympathisant«, Duden-online, http://www.duden.de/rechtschreibung/Sympa thisant (4.3.2016).

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wurde, so weitete sich das Zuschreibungsspektrum in der konservativen Presse unversehens zur Gleichsetzung des Werbens für Rechtsstaatlichkeit und liberaler Pressekritik mit RAF -Sympathisanten, Unterstützern und Mittätern. Den einschlägigen Mediendebatten zufolge erschien das Sympathisantenlager gar als eigentlich Schuldiger in Sachen Terrorismus. Wie sehr zunehmend auch Politiker dazu übergingen, schon den Sprachgebrauch im Umgang mit der RAF zum Ausweis für Staatstreue umzudeuten, lässt sich aus dem Interview des damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel (CDU) in der »Bild« ersehen. Er verstieg sich zur Feststellung, Sympathisant könne schon sein, »wer Baader / Meinhof-Gruppe, statt -Bande sagt«.19 Auch in parteipolitischen Auseinandersetzungen ließ sich der Sympathisanten-Vorwurf benutzen. So bescheinigte beispielsweise der damalige Generalsekretär der CDU, Kurt Biedenkopf, dem Parteivorsitzenden der SPD, Willy Brandt, Mitverantwortung am Terrorismus, »die er in all den Jahren durch die Verniedlichung der Gefahren des Linksextremismus auf sich geladen« habe. »Der Spiegel« widmete dem Thema in den Oktober- und November-Heften 1977 eine eigene fünfteilige Serie. Sie suchte Klarheit zu schaffen zwischen Begrifflichkeiten wie Sympathisant (legitim), Unterstützer oder Helfer (beides strafrechtlich relevant) und begann mit dem Statement: »Der schwammige Begriff ist vielmehr zu einem Sprachknüppel des politischen Kampfes geworden«. Und der ungenannte Autor resümierte nach einer langen Reihe von Belegen der medialen Hetzkampagne: »Im neuen Verdachtsklima von Terror und Sympathisantensuche keimen klassische Züge des McCarthyismus: Verfolgungssucht und Rufmordkampagnen auf der einen Seite, Rechtfertigungszwang und Entschuldigungsmanie auf der anderen. Unter dem Stichwort Sympathisant alias Deutschenfeind alias Volksverräter alias vaterlandsloser Geselle gedeiht wieder einmal deutscher Aberwitz, wie er im Geschichtsbuch steht.« Im Resümee definierte »Der Spiegel« eindeutig, wo rechtstaatlich die Grenze zwischen erlaubter Sympathie und Strafbestand zu ziehen sei: bei der Anwendung von Gewalt bzw. deren aktiver Unterstützung durch Hilfeleistungen wie etwa das Einkaufen von Sprengstoff oder die Unterbringung flüchtiger Straftäter. Doch jenseits solcher Bemühungen um sprachliche Klarheit hatte der Bundestag im August 1976 – wohl auch getrieben vom medialen Sympathisanten-Diskurs – bereits das »Zweite Anti-Terror-Gesetz« als § 129a StGB verabschiedet. Darin wurde festgelegt, wer sich an einer terroristischen Vereinigung »als Mitglied beteiligt, für sie wirbt oder sie unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.«20 Dass mit dem Tatbestand des Werbens 19 Zitiert nach Der Spiegel 41, 3.10.1977, Mord beginnt beim bösen Wort, http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-40859177.html (4.3.2016). Hieraus auch die folgenden Zitate. 20 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Bundesrechtsanwaltsordnung, und des Strafvollzuggesetzes, 18.8.1976, Bundesgesetzblatt 1976, Teil 1, Nr. 102 I, S. 2181–2185, hier: S. 2181.

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ein breiter Spielraum für die Eröffnung von strafrechtlichen Verfahren gegen Sympathisanten geboten wurde, ist offensichtlich und stieß rasch auch auf Kritik in Juristenkreisen. Dagmar Husmann hat ihrer Studie zur literarischen Auseinandersetzung mit dem Sympathisanten-Begriff eine Darstellung der strafrechtlichen Rahmenbedingungen vorangestellt. Ihrer Recherche zufolge kam es allein zwischen 1981 und 1991 zu mehr als 3.000 Verfahren, in denen der Tatbestand der Werbung eine große Rolle spielte.21 Auf medialer Ebene lässt sich beobachten, dass bereits unmittelbar nach der Eskalation des RAF Terrorismus 1977 Repräsentanten von Politik und Medien begannen, den Umgang mit den Linksintellektuellen in der Sympathisanten-Debatte kritisch zu bewerten. Doch erst 2002 hat der Gesetzgeber den Begriff der Werbung präzisiert. Nun lautet Absatz 3 des Gesetzes: »Wer eine in Absatz 1 bezeichnete Vereinigung unterstützt, oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.«22 Aus heutiger Perspektive zeichnet sich ab, dass rund vierzig Jahre nach der Hochphase des RAF -Terrorismus in der Sympathisantenfrage eine »sprachliche Abrüstung« stattgefunden hat,23 und vielen Jüngeren die Verbindung zwischen Sympathisant und Linksterrorismus nicht mehr geläufig ist. Zensur als staatliche Abwehrmaßnahme gegen terroristische Mediennutzung In enger Verbindung mit dem Kampf um die Repräsentation politischer Gewalt in den Medien steht ein Thema, dass bislang in Fallstudien über Terrorismus nebenbei mit behandelt, aber nicht systematisch oder in langer Zeitlinie analysiert wird: der Einsatz von staatlicher Zensur als Gegenreaktion auf die mittels Gewaltakten erzwungene mediale Sichtbarkeit der terroristischen Gruppierung. Dabei liegt der Zusammenhang eigentlich auf der Hand. Stellt die mediale Öffentlichkeit den zentralen Schauplatz dar, auf den terroristische Aktionen zielen, dann musste oder muss es im Interesse des angegriffenen Staates liegen, diesen Öffentlichkeitsraum für die terroristische Opposition (erneut) zu beschränken. Die Medienstrategien der gewaltbereiten Oppositionellen blieben bereits seit ihrem ersten Auftreten staatlicherseits nicht unbeobachtet. Üblich war im 19. Jahrhundert als Gegenmaßnahme die Einschränkung der Pressefreiheit. Aber auch in den demokratischen Systemen des 20. Jahrhunderts, in denen die Verfassungen in der Regel Pressefreiheit 21 Vgl. Husmann, S. 18–33. 22 Vierunddreißigstes Strafrechtsänderungsgesetz  – § 129b StGB , 22.8.2002, Bundesgesetzblatt 2002, Teil 1, Nr. 61, S. 3390–3392, hier: S. 3390. 23 Balz, Der »Sympathisanten«-Diskurs, S. 330.

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garantierten, sind staatliche Einflussnahmen auf die Medienberichterstattung nachweisbar. So war bereits im revolutionären Frankreich die Veröffentlichung von Cordays »Adresse an die Franzosen« verboten. Im nachrevolutionären Europa zählte zwar Pressefreiheit zu den deutlich formulierten Zielen der Menschen- und Bürgerrechte. Es fiel den Regierungen aber relativ leicht, die Pressefreiheit einzuschränken, um unliebsamen Oppositionsbewegungen keine Plattform zu bieten. Berühmt-berüchtigt sind die »Karlsbader Beschlüsse«, die der Deutsche Bund 1819 im Kampf gegen die liberale Opposition verabschiedete. Die Forschung geht davon aus, dass die rigide Pressevorzensur auch ohne das Attentat von Karl Ludwig Sand eingeführt worden wäre. Doch der politische Mord und die ihn begleitende Umsturzangst trugen viel dazu bei, das Gesetz zu legitimieren. Die Verabschiedung des »Sozialistengesetzes« 1878 und seine Verlängerungen bis 1890 hätte Bismarck in seinem Kampf gegen die Sozialdemokratie zweifellos auch ohne terroristische Anlässe initiiert. In diesem Bestreben hätte der Reichskanzler sicherlich die seit 1874 gesetzlich abgesicherte Pressfreiheit zu umgehen gewusst. Aber die Attentatsversuche auf den Kaiser machten es ihm besonders leicht. Sie lieferten die Argumente, die sozialdemokratische Presse per Reichsgesetz kriminalisieren zu lassen. Wie der vormalige radikale Demokrat und Republikaner der Jahre 1848/1849 und nunmehrige nationalliberale Reichstagsabgeordnete Ludwig Bamberger (1823–1899) in einer Reichstagsdebatte 1878 zum »Sozialistengesetz« ausführte, versuchte das geplante Gesetz unter anderem zu klären, »ob dem gedruckten Wort der Charakter einer den Staat bedrohenden Handlung beizulegen ist«, und er kam zum Ergebnis: »Die ganze Charakteristik dessen was wir, allerdings als eine neue Art von Vergehen, ins Leben rufen, besteht nämlich eben darin, daß es eine Art wörtliche Äußerungen gibt, die schon an und für sich die Thatsache einer Handlung involvieren«.24 Es waren folglich mediale Aufrufe zur Untergrabung des staatlichen Gewaltmonopols mit politischer Gewalt gleichzusetzen. Auch die erste deutsche Demokratie schuf sich trotz bestehender Pressefreiheit mit dem »Republikschutzgesetz« (1922) ein Sondergesetz als Reaktion auf politische Attentate.25 Den Morden an Matthias Erzberger 1921 und Walter Rathenau 1922 war eine ungeheure Medienhetze von rechts vorausgegangen. Insgesamt ist sicherlich Christoph Gusy zuzustimmen, der schrieb: »Die Presse war in Deutschland zwischen 1918 und 1933 ein wichtiges Kampfmittel für und gegen die Republik. Berichterstattung und Kommentierung wiesen damals ein heute kaum noch vorstellbares Maß an Schärfe auf. Namentlich die Fundamentalopposition von rechts und links nutzte den Kampf 24 Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 4. Leg.-Periode, 4. Sitzung, 16.9.1878, Redebeitrag Ludwig Bamberger, S. 53. 25 Vgl. Kapitel 7.

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gegen republikanische Politik und republikanische Politiker zugleich zum Kampf gegen die Verfassung und die in ihre vorgesehene Staatsform selbst.«26 Nach Erzbergers Ermordung setzte eine rege mediale Auseinandersetzung um die Schuld der Medien an dem Mord ein. Von rechts wurde der politische Charakter des Mordes in Frage gestellt und gemutmaßt, die Linken würden den Mord nun in ihrem Sinne instrumentalisieren. Von links wurde rechten Kreisen und der konservativen Presse ein Anteil an dem Mord zugewiesen. Der vermutete Zusammenhang von Sicherheitsgefährdung durch politische Gewalt und het­zerische Medienberichterstattung entwickelte sich zu einem vielfach aufgegriffenen Stereotyp. Zu Fragen der nachweisbaren politischen Beeinflussung durch die Medien arbeiteten sich die Akteure in den einschlägigen Weimarer Debatten nicht vor. Vielmehr gingen die Befürworter einer gesetzlichen Regelung von der Möglichkeit der Beeinflussung wie selbstverständlich aus. Die Debatten bezogen sich stattdessen auf die Fragen: Was lässt die Meinungsfreiheit zu, was ist aus Sicherheitsgründen und -bedürfnissen zu verbieten? Eine nach der Ermordung Matthias Erzbergers 1921 erlassene Republikschutz-Verordnung nach § 48 der Reichsverfassung stellte dann nicht nur Mord und Morddrohungen an Regierungsmitgliedern unter Strafe, sondern erlaubte auch Presseverbote, wenn es in Artikeln zu entsprechenden Beschimpfungen und Bedrohungen von Regierungsmitgliedern kam. Doch die Verordnung wurde im September, ein Monat nach dem Attentat, bereits wieder aufgehoben. Der Mord an Walter Rathenau am 24. Juni 1922 trieb schließlich die Regierung endgültig zum Handeln. Bis weit ins bürgerliche Lager hinein war man sich diesmal einig, dass dem anhaltenden Politiker-Morden Einhalt geboten werden müsse. Die Folge dieser Stimmung war vorderhand die Verabschiedung von neuen Verordnungen zum Schutz der Republik nach dem Notstandsparagraphen § 48 der Reichsverfassung. Die erste Verordnung ermächtigte den Reichsminister des Innern, jegliche politische Vereinigung mit gewaltsamen Umsturzplänen, aber auch den Aufruf hierzu, ferner die Beleidigung von Regierungsmitgliedern unter Strafe zu stellen und regelte die Möglichkeit, Presse nachzuzensieren, und Zeitungen mit einem Erscheinungsverbot bis zu einem Monat nachträglich zu bestrafen, wenn sie denn Entsprechendes veröffentlicht hatten. Gleichzeitig wurde beim Reichsgericht ein Staatsgerichtshof eingerichtet, der für Verfahren nach der Republikschutz-Verordnung zuständig sein sollte. Der Verordnung folgte das vom Reichstag verabschiedete

26 Gusy, Ch., Pressefreiheit contra Republikschutz. Zur Abwehr republikfeindlicher Presse in der Weimarer Republik, in: Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag: Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, hrsg. von Gerald Kohl, Wien 2008, S. 137–155, hier: S. 137.

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»Republikschutzgesetz« nach. Es wird am 21. Juli 1922 für fünf Jahre erlassen, 1927 noch einmal verlängert und 1930 überarbeitet.27 Es orientierte sich in vielen Punkten an den vorausgegangenen Verordnungen und war insgesamt heftig umstritten. Schon bei seiner ersten Erklärung zum Mord an Rathenau am Tag des Ereignisses hatte Reichskanzler Josef Wirth (Zentrum) eine Interpretation des Geschehens vorgegeben, die den Medien eine gewichtige Rolle bei der Aufhetzung zu Mord zuwies. »Aber von dem Tage an, wo wir unter den Fahnen der Republik aufrichtig diesem neuen Staatswesen dienen, wird mit Millionengeldern ein fürchterliches Gift in unser Volk geleitet. Es bedroht von Königsberg bis Konstanz eine Mordhetze unser Vaterland, dem wir unter Aufgebot aller unserer Kräfte dienen. Da schreien sie es hinaus in großen Versammlungen, daß das, was wir tun, ein Verbrechen am Volk wäre … und dann wundert man sich, wenn verblendete Buben nachher zur Mordwaffe greifen.«28 Den konservativen und rechten Parlamentariern galt das Gesetz als Racheakt und neues »Sozialistengesetz« nun aus der Feder der Linken. Die Verteidiger des Gesetzes wiederum betonten, es gehe nicht um Gesinnungsschnüffelei, das Gesetz sei vielmehr ein »Werk der Verteidigung der Republik [H. i. O.], die von dunklen Mächten bekämpft wird, von Mächten, die sich zum Ziele setzen, die alte monarchische und militaristische Regierungsform, den Obrigkeitsstaat wieder entstehen zu lassen«, so der sozialdemokratische Ab­geordnete Ernst Hermann Silberschmidt (1866–1927).29 In den Parlamentsreden spielen die einschlägigen Paragraphen für die Presse nur begrenzt eine Rolle. Von den Regierungsparteien und vom linken Lager werden sie in der Regel gar nicht abgehandelt. Insbesondere die Abgeordneten der DNVP gefielen sich darin, Zentrum und SPD darauf hinzuweisen, dass sie im »Kulturkampf« und unter dem »Sozialistengesetz« unter Presseverboten zu leiden gehabt hätten. Und der Abgeordnete der DNVP, Landgerichtsdirektor Walther Graef (1873–1937), führte aus: »daß in dieser Opposition hier und da einmal in einem Presseorgan ein Wort unterläuft, das über diese Grenze [der zulässigen Kritik d.Vf.] hinausgeht, das läßt sich in der Tat nicht verhindern, wenigstens nicht immer verhindern; denn Sie müssen immer bedenken, meine Damen und Herren, wir leben nicht in einer ruhigen normalen Zeit, sondern wir leben  – das scheint man vielfach in Deutschland vergessen zu haben  – noch mitten in der Revolution, wir stehen mitten in einem gewaltigen Kampf

27 Vgl. NotVO vom 29.8.1921, RGBL S. 1239; NotVO vom 29.8.1921, RGBL S. 1271; NotVO vom 26.6.1922, RGBL S. 521; NotVO vom 29.6.1922; RGBl S. 532; Republikschutzgesetz, RGBl. 1922 I, S. 585–590. 28 Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 1. Wahlperiode, 234. Sitzung, 24.6.1922, S. 8035. 29 Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 1. Wahlperiode, 244. Sitzung, 5.7.1922, S. 8289.

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der Weltanschauungen und der Staatsauffassungen miteinander, ja, in einem Kampf der verschiedenen Gesellschaftsordnungen, in dem beispielsweise auch die große völkische Frage ihren Platz hat.«30 Diese Argumentationslinie lässt sich implizit wohl nur so interpretieren, dass in den Augen des Juristen und DNVP-Abgeordneten der Weltanschauungskampf in Weimar mediale Mordaufrufe rechtfertigte. Welche Folgen zeitigte insgesamt das »Republikschutzgesetz« für die Pressefreiheit? Christoph Gusy ordnet die Weimarer Eingriffe in die Presse zur Verhinderung von Terrorismus in die Instrumentarien ein, die sich die Republik zu ihrem eigenen Schutz schuf. Doch war »eben dieses Instrumentarium« Gusy zufolge »geeignet, auch einzelne Grundlagen der demokratischen Republik zu untergraben.«31 Bislang liegen keine Forschungsergebnisse vor, die eine Bilanz der nachfolgenden zahlreichen Zeitungsverbote auf lokaler, regionaler, landes- oder gar Reichsebene ziehen. Stichproben zeigen, dass das Gesetz sich als zahnloser Tiger erwies, was seine eigentlichen Ziele betraf. Die mehrheitlich republikkritischen Ordnungsbehörden und die politisch ebenso ausgerichtete Justiz nutzten das Gesetz eher dazu, linke Presse zu reglementieren als implizite oder explizite Aufrufe zur Untergrabung des staatlichen Gewaltmonopols von rechts einzuhegen. Mit Sicherheit führte das »Republikschutzgesetz« nicht zur Eindämmung der tatsächlichen Republikgefährdung. Zu einer differenzierten Klärung, ob und welches Presseverhalten die Republik bedrohen könne, arbeiteten sich die zuständigen Behörden und die Justiz mit Hilfe des »Republikschutzgesetzes« auf keinen Fall vor. Selbst in der zweiten deutschen Demokratie, in der insbesondere das Bundesverfassungsgericht sich als unbeugsamer Wächter über die bürgerlichen Freiheitsrechte versteht, lassen sich zumindest indirekte Beeinflussungs­ versuche der Presse beobachten, wenn sich der Staat im selbst erklärten oder aufgezwungenen Kampf gegen politische Gewalt und Terrorismus befindet. Während der Schleyer-Entführung verweigerte die Regierung die Erfüllung einer Forderung der Attentäter und verhinderte die Sendung von Videos, in denen Schleyer als Gefangener zu sehen war. Die im September 1977 verhängte Nachrichtensperre wurde von den Medien grundsätzlich akzeptiert. Erst als in der ausländischen Presse Schleyer-Bilder veröffentlicht wurden, knickten die deutschen Medien ein und gingen ihrerseits zur Veröffentlichung entsprechender Nachrichten und Bilder über.

30 Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 1. Wahlperiode, 248. Sitzung, 11.7.1922, S. 8414. 31 Gusy, Pressefreiheit, S. 137.

Politische Gewalt als Kommunikationsstrategie und die Rolle der Medien

Forschungsdesiderata Ein Forschungsfeld im Themenspektrum politische Gewalt und Medien, das insbesondere die einschlägig befasste Kommunikationswissenschaft beschäftigt – die Rezeption von Terrornachrichten – ist bislang von der Geschichtswissenschaft kaum aufgegriffen worden. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die Befragung, eine wesentliche Methode der Rezeptionsforschung steht dem Historiker zumindest für das 19. und das frühe 20. Jahrhundert nicht zur Verfügung. Doch die Ergebnisse der Kommunikationswissenschaft sind durchaus geeignet, das Wissen über historische terroristische Ereignisse zu erweitern. Wie der Medienwissenschaftler Nikolaus Jackob am Beispiel 9/11 herausgearbeitet hat, erhöht das Unerwartete, Überraschende und Erschreckende der Terrornachricht den Einfluss der Medien auf die öffentliche Debatte. Nicht selten fehlt es dem Publikum an Vorinformationen über die aus dem Untergrund heraus arbeitenden terroristischen Akteure. Die Medien liefern neben der aktuellen Nachricht Hintergründe, Einschätzungen und Entwicklungsprognosen, mithin Informationen, die angesichts des fehlenden Vorwissens der Rezipienten »beträchtliche Wirkungen auf ihr Publikum entfalten können«.32 Terrornachrichten diffundieren über Medien und nachfolgende zwischenmenschliche Kommunikation offenbar besonders rasch und beeinflussen die Emotionen der Rezipienten. Sie erzeugen Angstgefühle, stärken das Sicherheitsbedürfnis und erhöhen die Bereitschaft des Publikums, Einschränkungen von bürgerlichen Freiheitsrechten hinzunehmen, wenn diese geeignet scheinen, öffentliche Sicherheit zu stärken. Insbesondere eine übertriebene, unrealistische Terrorangst, die die Forschung in Befragungen zu 9/11 herausgearbeitet hat, scheint auf den Charakter der Medienberichterstattung zurückzuführen sein, die – immer auf der Suche nach der nächsten Sensation – zumeist nicht zur Versachlichung der öffentlichen Debatte beiträgt. Trotz aller Ergebnisse, die bislang zum Thema Terrorismus und Medien bereits vorliegen, lassen sich auch Fragestellungen benennen, die auf noch zu beackernde Forschungsfelder verweisen. Martin Steinseifer hat in einem Aufsatz 2006 eine Reihe solcher Fragen aufgeworfen; z. B.: »Mit welchen Mitteln (Darstellungstypen) wird welches Wissen (Deutungsmuster) von einem Ereignis vermittelt?«33 Bislang hat sich vor allem die einschlägige Geschlechterforschung mit dieser Frage beschäftigt und geschlechtsspezifische Terroristen32 Jackob, N., Die Diffusion von Terrormeldungen, die Wirkung von Anschlägen auf die öffentliche Meinung und die Folgen für das Vertrauen in der Demokratie, in: Glaab, S. (Hg.), S. 155–174, hier: S. 158. 33 Steinseifer, M., Terrorismus als Medienereignis im Herbst 1977: Strategien, Dynamiken, Darstellungen, Deutungen, in: Weinhauer, K., J. Requate, u. H.-G. Haupt,, S. 351–381, hier: S. 357.

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bilder herausgearbeitet.34 Doch es fehlt beispielsweise noch an Studien, die sich mit der Frage befassen, welche Bilder von der richtigen demokratischen oder doch zumindest rechtsstaatlichen Gesellschaft explizit oder implizit in kritischen medialen Auseinandersetzungen mit Terrorismus entworfen werden. So mangelt es bislang auch weitgehend an einer »Analyse der Dynamik massenmedialer Aufmerksamkeitsverteilung«.35 Welche terroristischen Aktionen provozieren mediale Aufmerksamkeit? Welche staatlichen Maßnahmen erzeugen Sympathie mit der Terrorgruppe und eine kritische Auseinandersetzung mit staatlichem Handeln und terroristischen Zielen. Was sind die Kulminationspunkte, an denen sich mediale Bewertungsmuster wandeln? Für solche und ähnliche Fragen bieten die vorhandenen Fallstudien vielfältiges Material, das vergleichend analysiert werden müsste.

34 Vgl. Malvern, S. u. G. Koureas (Hg.), Terrorist transgressions. Gender and the visual culture of the terrorist, London 2014. 35 Steinseifer, S. 357.

12. Politische Gewalt und Terrorismus als Thema der Genderforschung Politik- und Geschichtswissenschaft gehen seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts mehr und mehr dazu über, politische Gewalt und Terrorismus auch mit Hilfe der Kategorie Geschlecht zu analysieren. Ein Überblick über die politikwissenschaftliche Forschung seit 9/11 zeigt, dass insbesondere im angloamerikanischen Raum die Gender Studies und die gegenderte Sicherheitsforschung das Thema aufgegriffen haben. Offenbar inspirierten die traditionellen Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte im gewaltbereiten Islam, aber auch das Auftauchen muslimischer Terroristinnen entsprechende Forschungsvorhaben. Eine Reihe von einschlägigen Veröffentlichungen beschäftigt sich mit der Frage, wieso gerade unterdrückte Muslima als suicide bombers, als Selbstmordattentäterinnen, auf die politischen Ziele ihrer Bewegung aufmerksam machten. Untersucht werden weibliche Karrieren in terroristischen Organisationen, der strukturelle Wandel, den gemischtgeschlechtliche Terrorgruppen durchlaufen, die Veränderung weiblicher Handlungsspielräume, wenn Frauen zu Gewalt greifen und die Darstellung von Attentäterinnen in den Medien. Auch die Forschung zur Bekämpfung von Terrorismus und die Sicherheitsforschung haben neuerdings ihre Analysekategorien um Geschlecht erweitert und das Männlichkeitskonzept des männlichen islamistischen Terroristen gerät zunehmend in den Fokus.1 In der Regel weisen die Autorinnen darauf hin, dass die Darstellung von gegenwärtigen Terroristen und Terroristinnen keineswegs geschlechtsneutral ausfällt. Diese Erkenntnis trifft gleichermaßen auf autobiografisches Material, Presseberichterstattung und die Forschung zu, die sich mit den sozialen Hintergründen des islamistischen Terrorismus befasst. Häufig wird das Stereotyp bedient, dass Frauen und Männer aus anthropologischer Perspektive unterschiedliche Zugänge zu Gewalt charakterisieren und dass sie divergierende Rollen in Terrororganisationen übernähmen. Die Psychotherapeutin Cindy D. Ness brachte es auf den Punkt: »With few 1 Vgl. zur politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung zum aktuellen Terrorismus beispielsweise: Åhäll, L. u. J.  Shepherd (Hg.), Gender, agency and political violence, Basingstoke 2012; Aslam, M., Gender-based explosions: The nexus between Muslim masculinities, jihadist Islamism and terrorism, New York 2012; Brunner, C., Wissensobjekt Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung, Wiesbaden 2012; Ness, C. D. (Hg.), Female terrorism and militancy: agency, utility and organization, London 2008; Poloni-Staudinger, L. u. C. D. Ortbals, Terrorism and violent conflict: women’s agency, leadership, and responses, New York 2013; Sjoberg, L. u. C. E. Gentry (Hg.), Women, gender, and terrorism, Athens 2011.

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exceptions violence is cross-culturally considered a male arena – and therefore take as its point of departure that any social group that sanctions female violence, whether secular or religious, must explain itself to itself.«2 Und die Politologin Laura Sjoberg resümmierte: »Far from being irrelevant, gender is crucial to understanding agency in terrorism – women (and men) live in a gendered world. But sex is not an explanatory variable – women and men do not terrorism differently based on their biological makeup. Instead, terrorist live in and terrorism occurs in gendered worlds. Because of this feminists have suggested that terrorism itself is gendered.«3 Viele einschlägige politikwissenschaftliche und soziologische Studien über die Liberation Tigers of Tamil Eelam, kurz die »Tamil Tigers«, weibliche islamistische Selbstmordattentäter oder die »Tschetschenischen Schwarzen Witwen« verweisen auf eine lange historische Tradition, Gewalt männlich und Friedfertigkeit weiblich zu konnotieren. Aber die meisten dieser Publikationen begreifen Terrorismus als Phänomen, das höchsten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückzuverfolgen sei. Doch die herausgearbeiteten Geschlechterstereotypen sind wie der Terrorismus selbst wesentlicher älter. Aus historischer Perspektive ist daher zu fragen: Welche Rolle spielt Geschlecht seit der Entstehungsgeschichte des modernen Terrorismus? Welche Geschlechterstereotypen werden seit dem frühen 19. Jahrhundert im Kontext von politischer Gewalt konstruiert und tradiert? Und wie beeinflussen diese Bilder die heutigen Interpretationen von politischer Gewalt und Terrorismus? Aber sind solche Fragen für historische Terrorismusanalysen relevant? Die Anwendung der Kategorie Geschlecht erfordert zunächst, zu klären, worin ihre Erklärungskraft in Sachen Terrorismus besteht. Es ist der Verdienst der Frauengeschichte, die sich in den 1970er Jahren in den USA und Europa entfaltete, den zuvor überwiegend männlich besetzten Geschichtsraum mit Frauen angereichert, weibliche Handlungsspielräume und Sichtweisen überhaupt erst sichtbar gemacht zu haben. Deutlich wurde, dass das, was man dachte und wie man handelte, in der Regel nicht alle, sondern eben zumeist auch nur Mann betraf. Die Geschlechtergeschichte, die sich in den 1980er Jahren aus der Frauengeschichte heraus entwickelte, begreift das soziale Geschlecht als historische Konstruktion. Was unter rechter Männlichkeit und Weiblichkeit in unterschiedlichen Epochen verstanden wird, unterliegt historischen Wandlungsprozessen. Die Historikerin Joan Scott hat in einem viel zitierten Aufsatz 1984 ergänzend verdeutlicht, dass die jeweiligen historischen Geschlechterkonstruktionen Aussagen über die Beziehung der Geschlechter 2 Ness, C. D., In the name of the cause: women’s work in secular and religious terrorism, in: Studies in Conflict &Terrorism 28 (2005), S. 353–373, hier: S. 354. 3 Sjoberg, L., The study of women, gender, and terrorism, in: Sjoberg, L. u. C. E. Gentry, S. 227–239, hier: S. 235 f.

Politische Gewalt und Terrorismus als Thema der Genderforschung

zu einander, vor allem aber über den geschlechtsspezifischen Zugang zu politischer Macht enthalten.4 Was haben solche Überlegungen mit politischer Gewalt zu tun? Inwiefern ändert sich die Sichtweise auf Terrorismus, wenn die Kategorie Geschlecht in die Analyse eingebracht wird? Auf den ersten Blick gibt es keinen Grund das Verständnis von Terrorismus mit gender anzureichern. In der Regel sind Definitionen von Terrorismus geschlechtsneutral formuliert. Aber die Geschlechterforschung hat oft gezeigt, dass scheinbar neutrale Begrifflichkeiten geschlechtlich konnotiert sind. Das trifft auch auf die Gewaltforschung zu. Einige Beispiele mögen dies belegen: Eine für die Geschichtswissenschaft anwendbare Terrorismusdefinition, die auf die Wichtigkeit von Medien für terroristische Botschaften abhebt, sollte berücksichtigen, dass Frauen und Männer in spezifischen historischen Situationen unterschiedliche Chancen haben, sich den Zugang zu Presse und sonstigen Medien zu erobern. Es dauerte lange, bis im 19. Jahrhundert eine Frau überhaupt wagte, unter ihrem eigenen Namen zu publizieren. Nach wie vor sind zumindest die Chefredakteure von politischen Zeitschriften mehrheitlich männlich und im Fernsehen diskutieren in der Regel männliche Expertenrunden über politische Gewalt und Sicherheitsfragen. Auch die Frage, ob legale Wege zur politischen Partizipation zur Verfügung standen, stellte sich zumindest im 19. Jahrhundert für Frauen und Männer gänzlich anders. So scheint es beispielsweise abwegig, gewaltbereite Frauen im 19. Jahrhundert entsprechend gängiger Terrorismusdefinitionen als Angehörige einer spezifisch politisch einflussschwachen Gruppierung zu begreifen, denn Frauen hatten ohnehin kein aktives oder passives Wahlrecht. In historischen Analysen macht es wenig Sinn, Ordnungsbehörden und Gerichte als geschlechtsneutrale Instanzen zu benennen, denn gewaltbereite Frauen waren im 19. Jahrhundert in der Regel mit männlichen Repräsentanten des Staates und der Justiz konfrontiert, die ihrerseits genaue Vorstellungen hatten, was dem weiblichen Wesen entspricht und was nicht. Grundsätzlich müssen historische Analysen in Betracht ziehen, dass weibliche Handlungsspielräume im 19. Jahrhundert wesentlich beschränkter waren als sie es heute sind. Aber nicht nur die Dekonstruktion scheinbar geschlechtsneutraler Terrorismusdefinitionen kann mit Hilfe der Geschlechtergeschichte geleistet werden. Wenn die Kategorie Gender tatsächlich den Konstruktionscharakter von Geschlecht, die Beziehungen der Geschlechter zueinander, verbunden mit ihrer jeweiligen Ferne oder Nähe zu politischer Macht, sichtbar macht, dann spiegeln geschlechtsspezifische Zuschreibungen, die rund um das Thema Terrorismus in den Medien oder vor Gericht debattiert werden, nicht zuletzt

4 Vgl. Scott, J. W., Gender. Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Kaiser, N. (Hg.), Selbst Bewusst, Frauen in den USA , Leipzig 1994, S. 27–75.

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auch den jeweiligen Stand der Geschlechterverhältnisse und der Chancen zur Partizipation von Frauen und Männern an politischen, auch gewaltsamen Entscheidungsprozessen. Männliche und weibliche Anteile an politischer Gewalt Die Geschichtswissenschaft hat erst in ihrer neueren Auseinandersetzung mit der RAF begonnen, dem Faktor Geschlecht Aufmerksamkeit zu schenken und die politische Gewalt des 19. Jahrhunderts zumeist geschlechtsneutral abgehandelt.5 Unterscheiden sich aber männliche und weibliche Handlungsspielräume in spezifischen historischen Situationen, dann kann allerdings das, was gewaltbereite Männer und Frauen tun, eigentlich auch nicht das Gleiche sein. Doch als erstes gilt es zu überprüfen, inwieweit es sich bei Terrorismus und politischer Gewalt um ein männlich konnotiertes Aktionsfeld handelt(e) und welchen Anteil Frauen in terroristischen Gruppierungen einnahmen und -nehmen. Der Forschungstand zur Beteiligung von Frauen am Terrorismus ist zumindest für das 19. Jahrhundert äußerst lückenhaft. Zwar stehen beide Geschlechter am Anfang des Attentats als symbolische Tat. Charlotte Corday und Karl Ludwig Sand wurden nicht nur von den russischen Anarchisten als Urmutter und Urvater der gewaltbereiten Gesellschaftskritik gedeutet. Auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive lässt sich die Partizipation von Frauen am Terrorismus nicht erst seit dem sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre und seit 9/11 beobachten. Gewaltbereite Frauen kennen wir seit der Französischen Revolution. Die Propaganda der Tat des späten 19. Jahrhunderts wurde von Männern und Frauen getragen. Insbesondere der russische Nihilismus erschien den Zeitgenossen als eine Bewegung mit starken weiblichen Symbolfiguren. Rund 25 % der russischen Anarchisten sollen weiblich gewesen sein. Bekannt ist, dass Sergei Nechaev (1847–1882) im »Katechismus eines Revolutionärs« 1869 drei Haupttypen von Frauen unterscheidet, die für die Revolution wichtig seien. Zum ersten Typus zählt er Frauen, die auf Grund ihrer Prominenz, ihres gesellschaftlichen Einflusses oder ihres Vermögens der Bewegung nützen können, zum zweiten Typus rechnet er Frauen, »die begeistert, begabt und ergeben sind, aber noch nicht zu uns gehören«.6 Diese solle man gegebenenfalls agitieren, also anwerben. Vor allem aber haben es 5 Vgl. hierzu die Forschungsüberblicke in Hikel, Ch. u. S. Schraut (Hg.), Terrorismus und Geschlecht. Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2012 und: Schraut, S. u. K. Weinhauer, Terrorism, gender, and history. Introduction, in: HSR 39 (2014), S. 7–45. 6 Nechaev, Katechismus eines Revolutionärs, abgedruckt in: Laqueur, W. (Hg.), Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg 1978, S. 56–59, hier: S. 59.

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ihm die Frauen angetan, die zur eigenen Bewegung gehören. »Wir sollten diese Frauen als unsere wertvollsten Schätze betrachten, ohne deren Unterstützung wir nicht auskämen.«7 Schon einige Jahre zuvor hatte Bakunin in seinem »Revolutionären Katechismus« die Utopie einer anarchistischen Gesellschaft gezeichnet, in der Frauen und Männer grundlegend mit gleichen Freiheitsrechten ausgestattet, gleiche Bildungschancen genießen sollten und ihre politischen Partizipationsrechte von ihrer Einbindung in den Produktionsprozess abgeleitet wurden. Der Geschlechtsvormundschaft wie der bürgerlichen Ehe erteilte er eine rigide Absage. Beziehungen zwischen Mann und Frau sollten frei geschlossen und gelöst werden. Die Sorge für Kinder und ihre Erziehung begriff er als Aufgabe der Gesellschaft, aber er proklamierte auch: »Jede Mutter, die ihre Kinder nähren und erziehen will, wird gleichfalls von der Gesellschaft alle Kosten ihres Unterhalts und ihrer den Kindern gewidmeten Bemühungen erhalten.«8 Dieses Programm ging in der Frage der Gleichberechtigung weit über die Forderungen hinaus, welche die deutsche Sozialdemokratie im Laufe der 1870er Jahre entwickeln sollte. So mag es nicht verwunderlich sein, dass sich gerade im russischen Anarchismus zahlreiche Frauen nachweisen lassen. Dass grundsätzlich Frauen in der europäischen anarchistischen Bewegung ein politisches Mandat und ein Rederecht in politischen Versammlungen zugebilligt wurde, lange bevor entsprechendes Engagement in den sozialistischen Parteien als selbstverständlich akzeptiert wurde, lässt sich aus manchen Überwachungsberichten ersehen. So berichtete beispielsweise 1881 der preußische halbjährliche Überwachungsbericht aus London vom ersten formellen internationalen Anarchistenkongress seit dem Zusammenbruch der anarchistischen Schweizer »Juraföderation«, zwanzig Delegierte hätten rund 300 Gruppierungen vertreten und sich zu gewaltsamen Aktionen bekannt. Unter den Rednern traten der preußischen Überwachungsbehörde zufolge besonders hervor: »der Italiener Malatesta, die Französin Louise Michel und eine amerikanische Delegierte Lecompte«.9 Bei Errico Malatesta (1853–1923) und Louise Michel (1830–1905) handelte es sich um zeitgenössisch bekannteste Symbolfiguren des (gewaltbereiten) Anarchismus. Die genannte Amerikanerin dürfte die in Frankreich geborene und später ausgewanderte Marie Le Compte gewesen sein. Die in den 1880er Jahren international tätige Anarchistin, von der nicht einmal die Lebensdaten überliefert sind, hat unter anderem Texte von Bakunin übersetzt. 7 Ebd. 8 Bakunin, Revolutionärer Katechismus, abgedruckt in: Bakunin, M., Philosophie der Tat. Auswahl aus seinem Werk, hrsg. von R. Beer, Köln 1969. S. 316–352, hier: S. 349. 9 Dokumente aus geheimen Archiven. Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung 1878–1913, Bd. 1, 1878–1889, bearbeitet von D. Fricke und R. Knaack, Weimar 1983, S. 121 f.

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Der deutsche Anarchismus gilt dagegen in der einschlägigen Forschung als männliche Formation. Ulrich Linse, der 1969 bislang als einziger eine detaillierte Analyse des anarchistischen Milieus im Wilhelminischen Kaiserreich vorgelegt hat, bezeichnet geschlechtsneutral Arbeiter und Handwerker als Kerntruppe der Bewegung, ergänzt um einige Angehörige des intellektuellen Milieus. Charakterisiert Linse einzelne Protagonisten der Bewegung, so sind sie ausschließlich männlichen Geschlechts. Der historische Befund, sollte weitere Forschung ihn bestätigen, mag sich aus der im Vergleich zu Russland fortgeschritteneren Industrialisierung und den zeitgenössischen Ressentiments in der Arbeiterbewegung gegen weibliche Industriearbeit erklären. Auch das in Deutschland so wirksame bürgerliche Geschlechtermodell, das Frauen zumindest normativ außerhalb der aktiven politischen Arbeit im Privaten verortete, mag als Erklärung herangezogen werden. Doch gewisse Zweifel sind angebracht. Sind Frauen, die zumindest als Mütter und Ehefrauen gewaltbereite Akteure unterstützt haben, sind mitwissende und die Bewegung grundsätzlich mittragende Frauen in der Forschung vernachlässigt worden, weil es sich nur um Familienangehörige handelte? Dass es sie gab, lässt sich beispielsweise aus den zeitgenössischen, kritischen Kommentaren der Protagonisten der Propaganda der Tat ersehen. So genierte sich Johannes Most in seinem Hohelied auf den hingerichteten anarchistischen Helden August Reinsdorf nicht, einen mit Chauvinismus getränkten Brief seines Helden abzudrucken, den dieser ihm zur Veröffentlichung in der Zeitschrift »Freiheit« zugesandt hatte.10 Der Konzeptionist des geplanten Anschlags auf das Niederwalddenkmal äußert sich darin, ganz Anarchist, kritisch zur bürgerlichen Ehe und erklärt: »Mag es in anderen Ländern, namentlich in Rußland und Frankreich, wo die Frauen der Anarchisten größtenteils die Ansichten ihrer Männer teilen, nicht zutreffen – in Deutschland aber sind verheiratete Genossen für die anarchistische Propaganda fast immer untauglich.« Schuld seien der »grenzenlose Egoismus«, aber auch die »schrecklich blödsinnige Erziehung« der deutschen Frauen und der große Einfluss, den sie auf ihre Männer hätten. Sei man selbst verfolgt, dann fände man in Deutschland vorrangig bei einem verheirateten Gleich­ gesinnten Zuflucht. Doch bald schon gäbe es Probleme. Wirtschaftliche Not und freie Liebe hemmende Gesetze hätten den Genossen in eine Ehe getrieben. »Allerdings kommt ihm bald der Verstand – er wird revolutionär – aber seine Tatkraft ist durch harte Arbeit am Tage schon soweit erschlafft, daß die Frau bei Nacht leichtes Spiel hat, ihm kühne Vorsätze durch allerlei angenehme oder unangenehme Kniffe auszutreiben, so daß ihm nichts als eine platonische Liebe für revolutionäre Redensarten bleibt.« Die Frau des Hauses sorge dann dafür, dass der Gast auf der Flucht sich an den Haushaltskosten beteiligen müsse 10 Brief von August Reinsdorf, abgedruckt in: Most, J., August Reinsdorf und die Propaganda der That, New York 1890, S. 48–50, hieraus die folgenden Zitate.

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oder möglichst bald wieder verschwinde. Fazit: »Wie es in solchen Fällen – und der Ausnahmen gibt es nur wenige  – mit der tatsächlichen Unterstützung unserer Sache aussieht, ist leicht zu erraten; der langen Ausreden kurzer Sinn lautet stets: ›Ich habe mir eine Frau genommen, und darum kann ich nicht kommen.‹ » Reinsdorf sah den Ausweg aus der Misere in der freien Liebe und resümierte: »Finden sich für uns in ganz Deutschland keine Frauen, die stark genug sind, alle Vorurteile und Ungelegenheiten die Stirn zu bieten, so wollen wir unsern Idealen auch noch dieses Opfer bringen, darauf zu verzichten, und nur neue Kraft und neuen Trieb zum Kampfe daraus schöpfen gegen eine Gesellschaft, die uns alles versagt.« Jenseits der Reinsdorf’schen Empörung über die Forderung nach Beteiligung an den Haushaltskosten lässt sich aus dem Brief ableiten, dass auch in Deutschland im anarchistischen Milieu Frauen Mitwisserinnen von Anschlägen waren und die Flucht von Attentätern mitgetragen haben. Ihr Anteil an der Herstellung oder dem Unterhalt eines Unterstützermilieus lässt sich beispielsweise auch aus einem Tagebucheintrag Erich Mühsams (1878–1934) ableiten. Der Dichter malte 1910 nicht ohne bildungsbürgerlichen Snobismus das Bild des »Salons« des Schneiders und Anarchisten Jakob Losch. Hier traf sich ein anarchistischer Zirkel, Mühsam und Frau Losch trugen Gedichte vor. »Es war rührend, wie die einfache Frau, mit ihrem breiten oberbayerischen Dialekt, die Hände verlegen an der Schürze drehend, ohne eine Spur von Talent Mackays ›Unschuldig verurteilt‹ sprach, … sie geriet sichtlich in Erschütterung bei ihrem Vortrag und mich ergriff das Gedicht bei diesem ganz kümmerlichen Hersagen mehr, als hätte es Kainz gesprochen.«11 Auch im kleinen Kreis der deutschsprachigen Intellektuellen, die die anarchistische Bewegung unterstützten, lassen sich Frauen nachweisen. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg genoss beispielsweise die Schweizerin Margarethe Hardegger (1882–1963) große Popularität. Sie wurde nach ihrer Heirat mit dem Sozialisten und Anarchisten August Faas 1903 in der Schweizer Gewerkschaftsbewegung aktiv und 1904 zum ersten weiblichen Gewerkschaftssekretär der Schweiz gewählt. Ihre zunehmende Sympathie mit dem Anarchismus ließ sie dieses Amt bald wieder niederlegen. Die Freundin Gustav Landauers (1870–1919) und Erich Mühsams war nicht nur eine schillernde Figur der dem Münchner Anarchismus nahen Boheme, sondern betätigte sich auch schriftstellerisch und war an der Herausgabe etlicher anarchistischer Zeitschriften beteiligt. Ihr Engagement für die Entkriminalisierung von Abtreibung und Falschaussagen zur Entlastung für angeklagte Anarchisten brachten ihr schließlich auch Gefängnisaufenthalte ein. Eines lässt sich jedoch weder für die wenigen weiblichen deutschen anarchistischen Intellektuellen noch für die zahlreichen

11 Tagebucheintrag Erich Mühsams vom 21. und 22.9.1910, zitiert nach Linse, U., Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871, Berlin 1969, S. 70.

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unbekannten weiblichen Familienangehörigen des anarchistischen Arbeitermilieus belegen: die aktive Beteiligung an gewaltsamen Aktionen. Doch ist dabei auch das Fehlen einschlägiger Forschung zu berücksichtigen. Insgesamt scheint die dominante Stellung der sozialistischen Bewegung in Deutschland und die Schwierigkeiten der sozialistischen Gallionsfiguren, ihre Mitglieder auf die gleichberechtigte Aufnahme von Frauen einzuschwören, repräsentativer für das deutsche revolutionäre Milieu schon der 1880er Jahre gewesen zu sein als für die für Frauen offenere europäische anarchistische Bewegung. Doch so, wie der gewaltbereite Anarchismus die deutsche Sozialdemokratie zwang, ihr Verhältnis zu Gewalt eindeutig zu klären, so mag das frauenfreundlichere Programm des Anarchismus die Sozialdemokratie genötigt haben, sich eindeutig in Sachen Frauenrechten zu positionieren. August Bebel publizierte 1879 eine grundlegende Darstellung zur Rolle der Frau im Kampf für den Sozialismus. Auch für ihn stellte das Arbeitspaar die Grundlage für den gemeinsamen kämpferischen Weg zum Sozialismus und die politische Emanzipation der Frau dar. Zur Vorkämpferin der sozialistischen Frauenbewegung entwickelte sich in den 1890er Jahren Klara Zetkin ­(1857–1933). Die im französischen Exil mit russischen Anarchisten und Sozialisten bekannte deutsche Sozialdemokratin warb 1889 auf dem Gründungskongress der »Zweiten Internationalen« in Paris erfolgreich für das Recht der Frauen auf Lohnarbeit und politische Gleichberechtigung. Zwei Jahre später nahm die deutsche Sozialdemokratie das Frauenstimmrecht und den Anspruch auf politische, rechtliche und wirtschaftliche Gleichberechtigung im Parteiprogramm auf. Die patriarchalen Ordnungsprinzipien des Familienrechts, die die Ehefrau grundsätzlich unter die Oberhoheit des Ehemanns ansiedelten, stellte die Partei indes nicht in Frage. Da die Sozialdemokratie prinzipiell politische Gewalt und Terrorismus auf dem Weg zum Sozialismus ablehnte, musste sie sich auch nicht mit der Frage beschäftigen, ob Frauen an gewaltsamen Aktionen teilnehmen sollten oder nicht. So scheint es plausibel, für das deutsche revolutionäre Lager – sei es sozialistisch oder anarchistisch ausgerichtet – davon auszugehen, dass weibliche Gewaltbereitschaft mit einem Tabu belegt war. Erst während des sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre sah sich die westdeutsche Öffentlichkeit augenscheinlich in auffälligem Maße mit politischer Gewalt von Frauen konfrontiert. Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich, Italien und sogar in Japan wurde der Terrorismus nun von Männern und Frauen getragen. Eine Analyse aus den 1970er Jahren von 350 bekannten Terroristen, Angehörige von 18 terroristischen Organisationen, errechnet einen Frauenanteil von 10 Prozent.12 Die Forschung zur RAF geht von einem Drittel weiblicher Mitglieder aus. Einige terroristische Orga-

12 Vgl. Russel, Ch. A. u. B. H. Miller, Profile of a terrorist, in: Terrorism 1 (1977), S. 17–34.

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nisationen, so die japanische »Rote Armee Faktion«, standen unter weiblicher Führung. Andere wie die »Rote Zora« hatten nur weibliche Mitglieder und ein feministisch eingefärbtes Revolutionsprogramm. Diesem Befund folgend, avancierte das Geschlecht der Attentäter zum breit diskutierten Thema in den Medien. Nun wurde eine ganze Reihe von geschlechtsspezifischen Klischees über die politisch aktive und die gewaltbereite Frau wiederbelebt, die sich bereits in der Epoche der Französischen Revolution nachweisen lassen. Nicht selten wurden und werden Geschlechterstereotypen des 19. Jahrhunderts, die sich in den zeitgenössischen Quellen finden, auch von der Geschichtswissenschaft einfach fortgeschrieben. Solche Traditionslinien sind bis zu den aktuellen Terrorismusanalysen nachweisbar. Dieser Befund leitet zum zweiten Schwerpunkt der geschlechtergeschichtlichen Terrorismusforschung über: zum Themenfeld der Konstruktion und Tradierung geschlechtlich konnotierter Urteile über den Terroristen und die Terroristin. Geschlechtlich konnotierte Urteile über gewaltbereite Frauen und Männer Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive erscheint es sinnvoll, mit der Analyse des Images des politischen Attentäters und der Attentäterin in der Französischen Revolution zu starten.13 Es ist nicht nur diejenige Epoche, in der sich die bürgerliche Demokratie und Terrorismus als gewaltbereite politische Kampfform zu entfalten begannen. Auch das bürgerliche Geschlechtermodell formte sich im Kontext von Aufklärung und Französischer Revolution aus. Als Folge wurde Frauen der Eintritt in die politische Arena des verfassten bürgerlichen Staates verwehrt und der weibliche Griff zur Waffe diskreditiert. Die Frage, welche Rolle Frauen ihrem Wesen gemäß in der Revolution zu übernehmen hätten, beschäftigte die politischen Akteure in Frankreich bereits 1789. Seit 1790 hatten Frauen eigene politische Clubs, seit 1791 besaßen sie im Jakobinerclub Stimmrecht, aber vor allem hatten sie das Recht, an den öffentlichen Versammlungen der Nationalversammlung bzw. später des Konvents teilzunehmen und individuell wie kollektiv Petitionen einzureichen. Das waren politische Rechte, die ihnen im langen 19. Jahrhundert von Neuem größtenteils verwehrt blieben. Der Zugang zur öffentlichen Politik stand Frauen also nur wenige Jahre offen. Während der Phase des terreur und wenige Monate nach dem Attentat Cordays wurde 1793 ein generelles Verbot politischer Betätigung für Frauen erlassen. »Jedes Geschlecht ruft nach einer ihm eigenen Art von Beschäftigung, bewegt sich in diesem Kreis, den es

13 Vgl. Kapitel 5.

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nicht überwinden kann«, so die Begründung des Verbots.14 »Im allgemeinen sind Frauen kaum zu hohen Vorstellungen und ernsthaftem Nachdenken fähig«, erläuterte der Jakobiner André Amar (1755–1816). »Wenn wir davon ausgehen, daß die politische Erziehung erst am Anfang steht, daß noch nicht alle Grundsätze entwickelt sind und daß wir das Wort Freiheit erst stammeln, um wieviel weniger erst sind Frauen, deren moralische Erziehung gleich null ist, in den Grundsätzen aufgeklärt!  … Fügen wir hinzu, daß Frauen durch ihre Veranlagung mehr nach dem Gefühl handeln, was für die öffentlichen Angelegenheiten unheilvoll wäre, und daß die Staatsinteressen bald schon all dem, was die Lebhaftigkeit von Leidenschaften an Verwirrung und Unordnung zustande bringen kann, geopfert würden. Der Hitzigkeit öffentlicher Debatten ausgeliefert, flößten sie ihren Kindern nicht Vaterlandsliebe ein, sondern Haß und Voreingenommenheit.«15 Die hier grundgelegten Argumentationsmuster der Diskreditierung weib­ licher politischer Partizipation und die implizite kritische Bewertung weiblicher gewaltbereiter politischer Aktion waren konstituierend für die Debatten um die Politikfähigkeit von Frauen im 19. Jahrhundert. Sie fußten im Geschlechterkonzept der Aufklärung, das männliche und weibliche Handlungsräume nicht mehr entsprechend ständischer oder sozialer Gegebenheiten definierte, sondern in Anlehnung an Rousseau aus den grundsätzlich polar gedachten Geschlechtscharakteren von Männern und Frauen ableitete. Aber die Aufklärer ordneten nicht nur dem männlichen Geschlecht Verstand, Rationalität und Aktivität, dem weiblichen Geschlecht Gefühl, Irrationalität und Passivität zu, sie taten sich auch insbesondere schwer mit dem als Tabubruch empfundenen Griff der Frau zur Waffe. Spätestens seit der militärischen Aufrüstung des männlichen Geschlechts in der Epoche der Napoleonischen Kriege, in der die Vorstellung von rechter Männlichkeit mit Wehrhaftigkeit angereichert wurde, waren die Pole männlich / wehrhaft und weiblich / friedfertig konsensfähige gesellschaftliche Norm. Die Ablehnung politisch aktiver, potentiell gewaltbereiter Frauen durchzieht schon die Kommentare der Zeitgenossen der Französischen Revolution. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ging die Abwehr weiblicher Gewaltbereitschaft mit den Rechtfertigungsmustern des Ausschlusses von Frauen aus der politischen Sphäre eine enge Verbindung ein. Entsprechende Deutungsmuster durchziehen durchaus auch liberale und prorevolutionäre Schriften. So kam Jules Michelet (1798–1874) in seiner Darstellung Französischer Revolutionärinnen zum Ergebnis: »Während der ganzen Revolution sind sie zur Gewalttätigkeit geneigt, intrigant und sehr oft 14 Begründung des Verbots von Frauenklubs durch Amar u. a., 30.10.1793, abgedruckt in: Petersen, S., Marktweiber und Amazonen. Frauen in der Französischen Revolution, Köln 1991, S. 222. 15 Ebd., 223 f.

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schuldiger als die Männer. … sie stürzen die Gerechtigkeit, zerstören völlig deren Begriff, machen, dass man sie verneint und schmäht.«16 Letztlich seien die Frauen mit ihren politischen Ränkespielen am Untergang der Revolution schuld. Griffen sie gar selbst zum Säbel, so handelte es sich Michelet zufolge um Mannweiber, die ihre Geschlechterrolle ablehnten. Ihr Lohn für politisches Engagement war dann in der Regel der Wahnsinn. Fazit: Frauen bleiben besser der politischen Sphäre fern. Im anderen Fall drohen politisches Ungemach und Gewaltexzesse. Auf die hier angelegte Brechung akzeptierter Weiblichkeit durch Gewaltbereitschaft und dem nachfolgend im Analogieschluss als positiv bewerteter Männlichkeit durch den Einsatz unerlaubter Gewalt wird noch zurückzukommen sein. Welche Geschlechterstereotypen werden seit der Französischen Revolution mit terroristischen Frauen und Männern verknüpft? Am Anfang der Entwicklungslinie des Images der Terroristin und des Terroristen stehen Charlotte Corday und Karl Ludwig Sand. Von den Gegnern des jakobinischen terreur im In- und Ausland wurde das Attentat von Corday zwar begrüßt, doch als sperrig erwies sich der Umstand, dass es sich bei dem Verteidiger der revolutionären Freiheit um eine politisch und gewaltsam agierende Frau gehandelt hatte. Die liberalen sympathisierenden Zeitgenossen begeisterten sich für den angeblich sanften Charakter ihrer Heldin, so als könne der weibliche Charakterzug Sanftheit den Einsatz von Gewalt bereinigen. Mitunter retteten sie sich in eine Vermännlichung oder in eine metaphysische Entrückung ihrer engelsgleichen Heldenfigur. Solchermaßen der trivialen weltlichen Weiblichkeit entzogen, ließ sich Charlotte Corday leichter bewundern. Diese Strategien konnten im Verlaufe des 19. Jahrhunderts mit der Durchsetzung des bürgerlichen Geschlechtermodells und zunehmender Distanz zu revolutionärer Gewalt nicht ernsthaft aufrechterhalten werden. Was blieb, war zum einen der Versuch, typische weibliche Motive für die Mordtat zu finden, etwa die weibliche Rache für den jakobinischen Mord an einem Geliebten, Freund oder Verwandten, zum anderen die Strategie, die göttliche Entrücktheit der Heldin in eine verweltlichte Variante zu transformieren. Als Beispiel kann die Charakterisierung dienen, die Emma Adler (1858–1935), Sozialistin und breitenwirksame Schriftstellerin der Wende zum 20. Jahrhundert, in einer frühen und bemerkenswert fundierten Darstellung der Frauen der Französischen Revolution lieferte: »Das einzige Bildnis, das von ihr existiert, ist knapp vor ihrem Tode verfertigt worden. Es zeigt eine ungemeine Sanftheit. Nichts steht weniger im Zusammenhang mit der blutigen Erinnerung, die ihr Name heraufbeschwört, als ihr Äußeres. … Wenn man genau in ihre traurigen und sanften Augen blickt, fühlt man noch etwas, das vielleicht ihr ganzes Schicksal erklärt: Sie war immer einsam gewesen! Ja, das ist das einzige wenig Zuversichtliche, das man in ihr findet. In 16 Michelet, J., Die Frauen der Revolution, Frankfurt a. M. 1984, S. 236 f.

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diesem entzückenden, guten Wesen war jene unheilvolle Macht, der Dämon der Einsamkeit.«17 Ähnliche Charakterisierungen finden sich bis heute in zahlreichen weiteren sympathisierenden oder neutralen Darstellungen. Betont wird häufig, Charlotte Corday habe keine Liebe zu einem Mann gekannt, sie sei ganz dem heeren Ideal verpflichtet gewesen, letztlich keine Frau aus Fleisch und Blut. »So ist ihre Wesensverwandtschaft mit der Jeanne d’Arc sinnfällig«, erläuterte beispielsweise der zeitgenössisch viel gelesene Schriftsteller Friedrich Reck-Malleczewn in seinem 1937 erstmals publizierten Roman über Charlotte Corday. »Alle beide verträumten ihre Jugend in Wolken ahnungsvoller Schwermut, alle beide erscheinen sie in ihrer Unnahbarkeit wie Cherube gepanzert mit siebenfachem Erz gegen alles menschliche Begehren.«18 »Charlotte Corday, die Sanfte mit dem Dolch«, schrieb die Feministin Salomé Kestenholz noch in den 1980ern »bewegt durch das Schicksal Ulrike Meinhofs, anderer Frauen und die in der Folge entstandene Verketzerung der emanzipierten Frau«.19 In der Deutung von Kestenholz finden sich Anklänge der Interpretationslinien, die sich eigentlich die Kritiker der Attentäterin zu Eigen machten. Denn mit einer Entsexualisierung und Entrückung ihres Analyseobjekts begnügten sich die gegnerischen Kritiker der Mörderin Corday und ihrer Nachfolgerinnen nicht. Das weibliche politische Attentat drohte in ihren Augen die Grenzen der herrschenden Geschlechterrollen zu beschädigen. Bereits anlässlich der Gedenkfeier für Marat, die wenige Wochen nach dem Attentat stattfand, gab Marquis de Sade (1740–1814) die kritische Deutungslinie vor. »Die barbarische Mörderin Marats ähnelt den Mischwesen, denen man kein Geschlecht zuschreiben kann, wurde zur Verzweiflung beider Geschlechter aus der Hölle ausgespien und gehört keinem an. Für immer verhülle ein Leichenschleier ihr Andenken; vor allem wage man fortan nicht mehr, uns, wie es bisher geschah, ihr Bildnis im Zauberschmuck der Schönheit vorzuführen!«20 Zwar fiel Corday nicht dem Vergessen anheim, wie de Sade gehofft hatte, aber sein Deutungsangebot wurde aufgegriffen und auf spätere Terroristinnen übertragen. Der Kriminologe Cesare Lombroso (1835–1909) dozierte 1891 über die russischen Revolutionärinnen im Gefolge von Charlotte Corday: »Petersburg zählt 168 000 unverheirathete oder vom Mann getrennt lebende Frauen und 98  000 verheirathete, dagegen 112 geschiedene Frauen und 24 geschiedene 17 Adler, E., Die berühmten Frauen der französischen Revolution 1789–1795, Wien 1906, S. 26 f. 18 Reck-Malleczewen, F., Charlotte Corday. Geschichte eines Attentats, Wiesentheid 1947, S. 179. 19 Kestenholz, S., Die Gleichheit vor dem Schafott, Portraits französischer Revolutionärinnen, Darmstadt 1988, S. 7 und 16. 20 Sade, D. A. F. de, Rede zu Ehren von Marat und Le Pelletier, abdruckt in: D. A. F. Marquis de Sade. Schriften aus der Revolutionszeit (1788–1795), hrsg. von G. R. Lind, Frankfurt a. M. 1969, S. 144–148, hier: S. 146.

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Männer. Die Konsequenzen dieses Zustandes sind evident; den Frauen wird ihr natürlicher Wirkungskreis entzogen, und sie wenden sich der Politik zu. … Hier finden sich jene Studentinnen oder, wie sie sich nennen, ›Weib-Männer‹, die ernste Verschwörungen stiften, reichen Erben nachjagen, um die Bundeskasse zu füllen, die Gefangene entführen, die Schliesser bestechen, als Zofen oder Krankenpflegerinnen überall Eingang finden und eine Propaganda machen, in der sie einzig sind. Deshalb nennt sie BAKUNIN seinen ›kostbarsten Schatz‹.«21 Dem Wiener Psychoanalytiker und Schriftsteller Fritz Wittels gelang es 1908 schließlich die ursprünglich eher positiv konnotierte Einsamkeit der politischen Attentäterin und ihre geschlechtsspezifische Rollenverweigerung zusammenzufügen. Er war überzeugt: »Die weiblichen Attentäter sind die feuerspeienden Berge der eingeschmiedeten weiblichen Libido.« Und weiter: »Die Vereinsamung der weiblichen Attentäter politischer Observanz mag freiwillig oder unfreiwillig sein, das Endergebnis ist das gleiche und heißt Sexualablehnung: sie wollen [H. i. O.] nicht küssen.«22 Die hier konstruierte Interpretationslinie der freiwilligen oder unfreiwilligen Geschlechterrollenverweigerung war traditionsbildend. Dies lässt sich an den Auseinandersetzungen mit den Terroristinnen der 1970er Jahre in den populären Medien beobachten. Drei heiß diskutierte Erklärungslinien bestimmten die Darstellung der weiblichen RAF -Mitglieder in den 1970er Jahren, die bis heute fortwirken. Demnach werden Frauen zum einen zu Terroristinnen, weil sie auf Grund ihres Geschlechtscharakters nicht zu einer rationalen politischen Haltung fähig sind. Häufig hat der religiöse und sozial engagierte familiäre Hintergrund die Deutung der Terroristinnen als durch weibliche Emotionalität fehlgeleitete Frauen zu untermauern: »Gudrun Ensslin Mitte der Sechzige Jahre: eine etwas verträumte Germanistikstudentin mit Hang zum okkulten Kitsch, die vom Paradies auf Erden, einem ›Himbeerreich‹ träumte, wie sie es nannte. Als sie 1968 in einem Frankfurter Kaufhaus kokelte, erklärte sie: ›Ich habe das für die Kinder Vietnams getan.‹ Später veranstaltete die Pastorentochter Bibelkreise mit der roten Mao-Bibel und reiste mit dem gewalttätigen Baader ins imaginäre ›Reich der Freiheit‹«, so eine Charakteristik in einem »Spiegel«-Artikel aus dem Jahr 1997.23 Hat die solchermaßen beschriebene Frau schließlich zur Gewaltanwendung gefunden, dann gibt es für sie kein Halten mehr. Christian Lochte, Leiter des Hamburger Verfassungsschutzes wird mit folgenden Ausführungen zitiert: »Diese stärkere Verpflichtung an eine Sache und die Fähigkeit, ein gewünschtes Ergebnis ungeachtet aller anderen Aspekte zu erzielen, 21 Lombroso, C. u. R. Laschi, Der Politische Verbrecher und die Revolutionen in anthropologischer, juristischer und staatswissenschaftlicher Beziehung, 2 Bde., Hamburg 1891/1892, hier: Bd. 1, S. 230. 22 Wittels, F., Weibliche Attentäter, in: Die Fackel 9 (1908) H. 246/247, S. 26–38, hier: S. 32. 23 Homann, P., Volksgericht im Wüstenstand, in: Der Spiegel 21, 19.5.1997.

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sind Eigenschaften, die Frauen viel gefährlicher machen als Männer, wenn sie sich entscheiden, sich einer revolutionären oder terroristischen Gruppe anzuschließen. Frauen würden nicht zögern, … zu schießen, wenn sie sich in die Ecke gedrängt sähen … ›Wem sein Leben lieb ist, sollte zuerst auf die Terroristinnen schießen‹.«24 Die Nähe zum Verbot der politischen Partizipation von Frauen während der Französischen Revolution ist offensichtlich. Frauen werden in den Deutungslinien der 1970er Jahre weiterhin zu Terroristinnen, gerade weil sie die weibliche Rolle ablehnen; sie sind also keine richtigen Frauen und als solche falschen Frauen gewaltbereit. »Frauen und Gewalt« betitelte »Der Spiegel« im August 1977 ein Heft und kam zum Ergebnis: »Fast zwei Drittel aller mit Haftbefehl gesuchten Terroristen in der Bundesrepublik sind Frauen, höhere Töchter aus feinen Familien zumeist, die sich mit selbstzerstörerischer Lust in die Niederungen von Mord und Todschlag hinab begeben haben.«25 Als Erklärungsversuch für weibliche Gewalttätigkeit bot »Der Spiegel an: »Nur mit der Waffe, dem klassischen Symbol der Männlichkeit, und nur mit besonderer Härte hätten die weiblichen Gruppenmitglieder die Vorstellung verwirklichen können, ›gänzlich emanzipierte Frauen zu sein‹.« Die Gallionsfigur der zeitgenössischen deutschen Soziologie, Erwin K. Scheuch, vermutete der »Zeit« zufolge gar, Terroristinnen hätten lesbische Neigungen.26 Der Verfassungsschutzchef a. D. Günther Nollau, interpretierte den weiblichen Terrorismus als »Excess zur Befreiung der Frau«.27 Auch feministische Autorinnen lieferten Bausteine zur Interpretation der Terroristin als Frau, die ihre angestammte Geschlechterrolle ablehne. Frauen werden demnach zu Terroristinnen, weil sie besonders unter dem Patriarchat zu leiden haben. »Der Schlüssel«, so Eileen MacDonald, »ist das Bewußtsein, doppeltes Opfer zu sein«.28 Und Susanne v. Paczensky, Herausgeberin von rororo Frauen aktuell, kam bzgl. des Zusammenhangs von Geschlecht und Terrorismus zum Ergebnis, »daß Terrorismus eine Reaktion auf erlittene oder miterlebte Gewalt ist.  … Frauen erleben Gewalt ohnmächtig und verstärkt, als öffentliche, eheliche, legale oder illegale, aber immer einseitig gegen sich gerichtet. Wenn Terrorismus ohnmächtiger Wut gegen Gewaltandrohung entspringen sollte – dann ist der hohe Frauenanteil wohl verständlich.«29 24 Christian Lochte zitiert nach MacDonald, E., Erschießt zuerst die Frauen, Stuttgart 1992, S. 216. 25 Frauen im Untergrund: Etwas Irrationales, in: Der Spiegel 33, 8.8.1977. Hieraus auch das folgende Zitat. 26 Zitiert nach Rolf Zundel, Die Wege zur Gewalt, in: Die Zeit, 9.6.1978. 27 Ebd. 28 MacDonald, S. 215. 29 Paczensky, S. von, Thesen zu den ›Ursachen des Terrorismus‹, in: Geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1979, S. 54.

Politische Gewalt und Terrorismus als Thema der Genderforschung

Lassen sich entsprechende Muster für männliche politische Gewalttäter feststellen? Auch die zeittypischen Charakterisierungen Karl Ludwig Sands entfalteten eine ähnliche Wirkkraft wie die seines weiblichen Vorbildes. Nach den Darstellungen der sympathisierenden Zeitgenossen handelte es sich bei dem Attentäter um einen körperlich zarten, hochgebildeten, sensiblen Jüngling, dessen Liebe zum Vaterland, tief verankerte Religiosität und Tugendhaftigkeit sich mit der festen Überzeugung paarten, dass Tugend sich in Taten manifestieren müsse. Insgesamt wurde ein Bild wehrhafter Manneskraft entworfen, das die militarisierte Männlichkeit der Freiheitskriege mit politischer Religiosität einfärbte und mit Elementen romantischer Sensitivität beziehungsweise Sensibilität anreicherte. Dem männlichen Heldenbild der liberalen Unterstützer Sands schlossen sich die Kritiker des Mordes indes nicht an. Typisch ist die Bewertung, die der zeitgenössisch bekannte Strafrechtler und Staatswissenschaftler Carl Ernst Jarcke in einer umfassenden psychologisch-kriminalistischen Erörterung 1831 vorlegte.30 Demnach handelte es sich bei Sand um einen durch Krankheiten in der Kindheit in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung zurückgebliebenen und schwermütigen Jüngling, dessen Schriften nicht eben von Rationalität und logischem Denken zeugten. Jarcke zeichnete das Bild eines emotional geleiteten religiösen Fanatikers. Gemeinsam ist allen zeitgenössischen Sand-kritischen Schriften eine in den Grundlagen ähnliche Charakterisierung des Delinquenten, die sich in Bezeichnungen wie verwirrt, schwärmerisch oder fanatisch zusammenfassen lässt, mithin weiblich konnotierten Begriffen, die deutlich machen, dass Sand als politisch handelnder Mensch nicht ernst zu nehmen war. So stand in der zeitgenössischen Auseinandersetzung über die Persönlichkeit Sands ein männlich an den politischen Gegebenheiten leidender Held einem weiblich konnotierten verwirrten Un-Erwachsenen gegenüber. In dem Maße, in dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts politische Gewalt an Legitimität auch im oppositionellen politischen Lager verlor, konnten sich Gegner und Befürworter des Attentats auf die Deutung Sands als Schwärmer verständigen. Einig waren sich auch beide Lage darin, die Mutter Sands für seinen Werdegang zumindest mit verantwortlich zu machen. Dass die Mutter ihren Sohn zum Schwärmer erzogen habe, ist von historischen Darstellungen, vorzugsweise aber von den literarischen und für die Bühne gedachten Versionen des Sandstoffs in den nachfolgenden zwei Jahrhunderten, gerne aufgegriffen worden. In der Wahl zwischen der Sicht auf den Täter als weiblich anmutenden Schwärmer oder männlichen Helden entschieden sich insbesondere die deutschtümelnden, völkisch und nationalistisch beeinflussten Darstellungen Ende des 19. Jahr30 Vgl. Jarcke, C. E., Carl Ludwig Sand und sein, an dem kaiserlich-russischen Staatsrath v. Kotzebue verübter Mord. Eine psychologisch-criminalistische Erörterung aus der Geschichte unserer Zeit, Berlin 1831.

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Themen und Untersuchungsgegenstände

hunderts, während der Weimarer Republik und des Dritten Reiches für den positiv konnotierten heldenhaften männlichen Jüngling, dessen Wesen und Denksystem allerdings vielfältige weibliche Elemente aufweisen mochte und der seine Männlichkeit bisweilen durch deutliche Distanz zum weiblichen Geschlecht unter Beweis stellten musste. Der weiblich anmutende Schwärmer und Fanatiker dient auch heute noch zur Charakterisierung Sands. Welche Schlüsse sind aus der Entwicklung der medialen Auseinandersetzungen mit den weiblichen oder männlichen Prototypen des politischen Attentäters oder Terroristen in Genderperspektive zu ziehen? Jenseits zeitbedingter Besonderheiten belegen die Corday- und Sandrezeption, dass sich in der zeitgenössischen wie in der nachfolgenden Nutzung der Medien als politische Kampfarena viele geschlechtsspezifisch konnotierte Deutungs- und Legitimationsmuster abzeichnen, die noch in aktuellen Mediendebatten um terroristisches Geschehen wirksam sind. Auch gegenwärtig changiert das Terroristinnenbild zwischen der Täterin, interpretiert als rächendes Familienmitglied, das nur aus emotionalen Gründen gewaltbereit agieren kann, und der Frau, die die Grenzen ihrer Geschlechterrolle negiert. Und das Bild des typischen (islamistischen) Terroristen schwankt auch heute noch zwischen dem weiblich konnotierten emotionalisierten, manipulierten, auch verwirrten schwachen Verlierer (der Globalisierung) in der Perspektive seiner Gegner und dem männlich konnotierten mutigen, heldenhaften zu Tod und Märtyrerschaft bereiten Jüngling in der Perspektive seiner Anhänger. Doch es sind nicht nur die Begriffe und Bilder, die aus der Geschichte übernommen werden, sondern auch die ihnen innewohnenden Deutungskontexte und Normen. Sie färben mit ihrem historisch-politischen Beigepäck aktuelle Terrorismusdebatten zumindest ein.

IV.

Coda: Die Herausforderung moderner Staatlichkeit in der Gegenwart: asymmetrische politische Gewalt Am Morgen des 11. September 2001 lenkten islamistische Terroristen von ihnen entführte Passagiermaschinen in die Türme des World Trade Centers in New York und auf das Pentagon in Washington. »Stunden, die die Welt verändern«, titelte die »Süddeutsche Zeitung« am 12. September 2001 und »Der Spiegel« erklärte wenige Tag später: »Am 11. September 2001 ist eine neue, eine dunklere Zeit auf dem Planeten Erde angebrochen.«1 Weitere spektakuläre Anschläge folgten in den nächsten Jahren. So machten 2004 Terroranschläge mit zahlreichen Toten in Madrid, 2005 auf Bali und in London, 2008 in Mumbai von sich Reden. Rasch war als Verantwortlicher für 9/11 das islamistische Terrornetz al-Qaida um den saudi-arabischen Exilanten Osama bin Laden ausgemacht und Amerika eröffnete mit seinen Verbündeten den »Krieg gegen den Terror«, im Oktober 2001 in Afghanistan, im März 2003 im Irak. Doch der »Krieg gegen den Terror« war letztlich nicht zu gewinnen. Der Einsatz der konventionellen Militärapparate gegen die unsichtbaren, mit terroristischen Mitteln kämpfenden Gegner destabilisierte den Irak und konnte auch in Afghanistan keine Basis für eine gefestigte staatliche Ordnung schaffen. Inzwischen hat sich der Irak zur Ausgangsbasis des 2014 ausgerufenen sogenannten Islamischen Staats (IS) entwickelt, der sein Operationsgebiet rasch auf Syrien ausweitete und derzeit trotz seiner erfolgreichen Bekämpfung noch immer zur Destabilisierung einer ganzen Reihe arabischer Länder beiträgt. Nicht zuletzt verantwortet er eine zunehmende Zahl terroristischer Anschläge in der westlichen Welt. Dass mit konventionellen Armeen Terrorismus nicht zu bekämpfen ist, hatte »Der Spiegel« schon wenige Tage nach den Anschlägen in New York und Washington erläutert: »Die vermeintliche Stärke des reichen technologisch hoch gerüsteten Westens erweist sich als Schwäche. Die Industriegesellschaften  – zumal die offenen Demokratien  – mit ihren

1 Wir werden zurückschlagen, in: Der Spiegel 38, 15.9.2001.

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Kernreaktoren, hochgiftigen Chemiekomplexen und Riesenstädten sind nicht zu schützen gegen einen todesverachtenden Feind, der aus dem Hinterhalt zuschlägt.«2 Das Stereotyp von 9/11 als »Tag, der die Welt veränderte«, hat sich in den Medien bis heute gehalten. Aus politikwissenschaftlicher wie aus geschichtswissenschaftlicher Sicht sind die Veränderungen, die die Welt erfahren hat, jedoch längst nicht so gewaltig, wie in den Medien vielfach beschworen. Schon die Anarchisten des 19. Jahrhunderts begriffen nicht den einzelnen Nationalstaat als ihre Operationsbühne. Auch der sozialrevolutionäre Terrorismus der 1970er Jahre operierte trans- und international. Erinnert sei an den PLO Anschlag auf israelische Sportler anlässlich der Olympiade 1972 in München oder die Entführung einer Lufthansa-Maschine durch PLO -Aktivisten zur Freipressung von RAF -Mitgliedern aus deutschen Gefängnissen 1977. Auch die Wirkung von 9/11 auf die US -amerikanische Außen- und Kriegspolitik wird in der Forschung eher als Katalysator denn als Wandel charakterisiert. Selbst das ungeheure Ausmaß der aktuellen terroristischen Gewaltexzesse ist aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft zu relativieren. ETA- und IRA-Terrorismus hinterließen im Europa des 20. Jahrhundert mehr Tote als die islamistischen Anschläge in den letzten Jahren. Auch die aktuell weltweite Zunahme von politischer Gewalt und Kriegsgewalt kann an die Gewalteskalation des Ersten und Zweiten Weltkriegs nicht heranreichen. So scheint die gegenwärtige Gewaltbedrohung im Westen nicht sonderlich neu. Weit mehr als das eigentliche Ereignis und seine kriegerischen Folgen benennt das Schlagwort vom »Tag, der die Welt veränderte« wohl die neue Hilflosigkeit im Umgang mit einer politischen Kraft, die sich nicht mehr an das internationale Völkerrecht und internationale Kriegskonventionen hält, sondern ihren Feinden gezielt und spektakulär mit den Methoden politischer Gewalt und des Terrorismus begegnet. Die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon zeitigten zweifellos die von ihrem Auftraggeber erhoffte Wirkung. Sie verunsicherten die amerikanische Bevölkerung und provozierten nicht immer von Rechtstaatlichkeit und Menschenrechtsdenken getragene staatliche Gegenmaßnahmen im Zuge der Verfolgung der Attentäter und ihres ideologischen Dunstkreises. »Three years after 9/11, Americans are still thinking and talking about how to protect our nation in this new era. The national debate continues. Countering terrorism has become, beyond any doubt, the top national security priority for the United States. This shift has occurred with the full support of the Congress, both major political parties, the media, and the American people«, so der Abschlussbericht der »National Commission on Terrorist Attacks« des US -Kongresses, die mit der Analyse

2 Ebd.

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der Ereignisse rund um 9/11 befasst gewesen war.3 9/11 verschaffte al-Qaida und ihrem Führer Osama bin Laden in einem Maße internationale Aufmerksamkeit, wie sie ohne den Gewaltexzess niemals hätte erreicht werden können und die erfolgreichen Anschläge luden zur Nachfolge ein. Derzeit herrscht wohl kein Mangel an islamistischen Kämpfern, die bereit sind als Selbstmordattentäter Terrorismus über die gesamte Welt zu verbreiten. Vordergründig haben die Bürgerkriege und neuen Staatsbildungsprozesse rund um den IS nichts mit dem Thema »politische Gewalt und Terrorismus« zu tun. Doch der IS nutzt als Bürgerkriegspartei gezielt entgrenzte Gewalt. »Im Hinblick auf die zeitgleich sehr unterschiedlichen Arten des Gewalthandelns«, so die Politikwissenschaftlerin und Gewaltforscherin Miriam Müller, »scheint die Trennschärfe zwischen Terror von oben und Terrorismus von unten, zwischen staatstypischer und nichtstaatlicher Gewalt, vor unserem analytischen Auge zu verschwimmen. Was tun, wenn die soziale Realität den Rahmen bewährter Konzepte sprengt?«4 Der IS bediente sich totalitärer Gewaltmethoden im eigenen Staatsbildungsprozess, war und ist gleichzeitig Bürgerkriegs- und Kriegspartei und sucht mit terroristischen Methoden die Konflikte im Irak und Syrien in die Metropolen der westlichen Welt zu tragen. Dabei erweist sich der IS als Meister im Nutzen politscher Gewalt für Propagandazwecke. Doch auch diese Kriegsführungsmethode ist eigentlich nicht neu. »Der Partisanenkrieg«, schrieb der siegreiche Anführer des zypriotischen Unabhängigkeitskampfes, Georgios Grivas, in einer 1964 ins Deutsche übersetzten Kampfanleitung, »ist Völkern und Staaten ein geeignetes Mittel, ihre nationale Politik beim Angriff und in der Abwehr zu unterstützen.«5 Die Form politischer Gewalt, die Grivas Partisanenkrieg gegen die britischen Kolonialherren nannte, wurde und wird noch heute in England als Terrorismus charakterisiert. Grivas ging davon aus, dass es die gewaltsame Politik der Demoralisierung des innenpolitischen oder außenpolitischen Gegners, der Gewinnung von Sympathisanten und der internationalen (medialen) Öffentlichkeit »schon immer« gegebenen habe und ihr mehr denn je die Zukunft gehöre.6 Bezogen auf den Terrorismus im algerischen Unabhängigkeitskampf schrieb auch die Politikwissenschaftlerin Martha Crenshaw 1995: »The FLN became a powerful model for later national liberation organizations, such as the Palestine Liberation Organization. It inspired groups as diverse and distant as the Front de Libération du Québec in Canada and the Argentine ›urban guerilla‹ movement, as well as Palestine 3 THE 9/11 COMMISSION REPORT (2004), S. 361. http://www.9-11commission.gov/report/ 911Report.pdf. 4 Müller, M. M., Terror oder Terrorismus? Der »Islamische Staat« zwischen staatstypischer und nichtstaatlicher Gewalt, in: APuZ 24/25 (2016), S. 27–32, hier: S. 27. 5 Grivas-Dighenis, G., Partisanenkrieg heute. Lehren aus dem Freiheitskampf Zyperns, Frankfurt a. M. 1964, S. 19. 6 Ebd.

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nationalists. … Furthermore French policy in Algeria anticipated many aspects of the contemporary response to terrorism – the temptation to ascribe it to foreign intervention rather than indigenous discontent, discriminatory labeling of violence according to political interest, and elaboration of military doctrines to guide and justify the response.«7 Der Terrorist und Held des zypriotischen Freiheitskampfes Grivas hatte bereits in seiner Anleitung für die Kriege der Zukunft die Ursachen des Einsatzes politischer Gewalt präzise benannt: »Weil der Schwächere gegenüber einem sehr viel stärkeren Gegner nicht die klassische Form des Kampfes anwenden kann, muß er sich neuer Methoden bedienen, um seine Unterlegenheit an Zahl und Kampfmitteln auszugleichen.«8 Längst hat die politikwissenschaftliche Kriegsforschung die dem Terrorismus zugehörige Kriegsform gelabelt. Die Theorie über »Die neuen Kriege«, wie sie beispielsweise von Heribert Münkler vertreten wird, geht davon aus, dass sich moderne Kriege immer mehr von tradiertem Kriegsgeschehen und ihrem über das internationale Kriegsrecht verordnete Reglement entfernen.9 Zunehmend seien nichtstaatliche Akteure wie z. B. Söldnertruppen oder Warlords beteiligt und brutale Gewalt spiele eine immer größere Rolle. Als wesentliches Charakteristikum der »neuen Kriege« gilt ihre Asymmetrie. Reguläre Streitkräfte treffen auf (Bürger-)Kriegsparteien, die mit den Methoden des Guerillakriegs und Terrorismus das ungleiche Macht- und Kräfteverhältnis zwischen staatlichen Truppen und Aufständischen auszugleichen suchen. Dem Historiker geht es mit dieser Einschätzung vom neuen Kriegsgeschehen ähnlich wie mit der aktuellen Beschwörung des neuen Terrorismus. Alle für die »neuen Kriege« bemühten Charakteristika waren auch für die kriegerischen Auseinandersetzungen der Frühen Neuzeit kennzeichnend. In langer Zeitlinie stellen wohl eher die europäischen Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts die Ausnahme als die Regel dar. So scheint vielmehr zu vermuten, dass die Ressourcen-Schwäche der Aufstandsbewegungen diese nicht zu neuen, sondern zu tradierten Kampfmethoden greifen lässt. Ist also aus historischer Perspektive tatsächlich nichts Neues am islamistischen Terrorismus zu verzeichnen? Zwei Aspekte sollen abschließend benannt werden, die zumindest auf einen sich abzeichnenden Wandel im Terrorismus als politischer Kampfmethode verweisen: Der schwindende Einfluss von eskalierender Gewalt auf die Medien und die Entpolitisierung politischer Gewalt: Politische Gewalt erzeugt mediales Interesse. Dieses Zusammenhangs waren sich schon die frühen Terroristen des 19. Jahrhunderts bewusst und sie 7 Crenshaw, M., The effectiveness of terrorism in the Algerian war, in: Dies. (Hg.), Terrorism in context, Pennsylvania 1995, S. 473–513, hier: S. 474. 8 Grivas-Dighenis, G., Partisanenkrieg heute. Lehren aus dem Freiheitskampf Zyperns, Frankfurt a. M. 1964, S. 19. 9 Münkler, H., Die neuen Kriege, 2. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2005.

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nutzten die mediale Aufmerksamkeit für ihre Propagandaziele. Angesichts der heutigen Medienvielfalt, der Globalisierung der Medienwelt und ihrer Reichweite braucht es aktuell mehr als einen simplen politischen Mord, um der eigenen politischen Gruppierung die Medienaufmerksamkeit für längere Zeit zu erhalten. Der IS ist und war sich dieses Umstands durchaus bewusst und arbeitete mit sich beständig steigender Gewalt und wachsenden gewaltsamen Tabubrüchen gegen das Nachlassen des medialen Interesses an. Reichte 2014 noch die life gefilmte Enthauptung eines Gefangenen, so musst dieser 2015 schon lebendig verbrannt werden, um einen empörten medialen Aufschrei erzeugen zu können. Doch wie soll die mediale Aufmerksamkeit erhalten bleiben, wenn sich die personale Gewalt eigentlich nicht mehr steigern lässt? Diese Fragestellung beantworteten al-Qaida und der IS mit der Anweisung an ihre Anhänger, politische Gewalt kleineren und größeren Ausmaßes individuell zu veralltäglichen. Ergänzend zu gezielt geplanten und langfristig vorbereiteten politischen Gewaltaktionen sollen nun leicht zu organisierende individuelle, mehr oder weniger spontane Gewaltakte mit einfachst zu beschaffenden Waffen die westliche Welt in Angst und Schrecken versetzen. So vereinnahmte der IS allein in Deutschland im Juli 2016 einen Sprengstoffanschlag in Ansbach und einen Angriff auf Reisende in einer Regionalbahn bei Würzburg als Aktionen seiner Sympathisanten. Auch ein Amoklauf im gleichen Monat in München mit 10 Toten und vielen Verletzten wurde zumindest anfangs dem IS zugeschrieben. Der von einem IS -Anhänger mittels eines Lastwagens verübte Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 mit zahlreichen Toten und Verletzen beschäftigte tagelang die deutschen Medien und führte Ende 2017 zu intensiven Mediendebatten über öffentliche Sicherheit und den Umgang mit Terroropfern. Doch bei allen Tätern der genannten Gewaltakte dürfte es sich kaum um ideologisch gefestigte Anhänger des politischen Programms des IS gehandelt haben. »Noch nie war es einfacher als jetzt, Terror zu verbreiten«, kommentierte zutreffend die Tageszeitung »Die Presse«.10 »Diese Art von Anschlag bedarf keiner besonderen logistischen Vorbereitung. Es reicht, die Waffen im nächsten Baumarkt zu kaufen und wie jetzt im Fall Würzburg in einen Zug zu steigen. Ein direkter Kontakt zu einer jihadistischen Organisation wie dem sogenannten Islamischen Staat (IS) ist dafür nicht mehr nötig. Und der IS bucht die Aktion trotzdem propagandawirksam auf seinem Attentatskonto gut. … Nun mobilisiert der IS über seine Aufrufe zunehmend Menschen, die ihren amokartigen Taten einen politischen Sinn geben können.« Die inzwischen ansatzweise erstellten Täterprofile der genannten Aktionen verweisen eher auf psychisch gestörte Persönlichkeiten und misslungene Lebensläufe denn auf politisch motivierte Terroristen. Was aber 10 Schneider, W., Wie der IS »einsamen Wölfen« eine Bühne bietet, in: Die Presse, 20.7.2016. Hieraus auch das folgende Zitat.

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wird aus gewaltsamer Politik und politischer Gewalt, wenn sie des Politischen entkleidet werden und nur noch der Gewaltexzess als solcher ein wie auch immer geartetes politisches Programm ersetzt? Ob politische Gewalt ohne klar zu benennende politische Botschaft nicht zumindest ihre politische Wirkung als Botschaftsträger ihrer Sender verlieren muss, wird sich zukünftig zeigen.

Abkürzungsverzeichnis AfS

Archiv für Sozialgeschichte

AKW Atomkraftwerk ALN Armee de libération nationale

AuZ Aus Politik und Zeitgeschichte ABl. Amtsblatt der Europäischen Union BGBl Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BVerG Bundesverfassungsgericht CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands CSU Christlich-soziale Union in Bayern DA Deutsche Aktionsgruppen DDP Deutsche Demokratische Partei DKP Deutsche Kommunistische Partei DNVP Deutschnationale Volkspartei EOKA Ethniki Organosis Kyprion EOKA EREK Ethniki Rizospastiki Enosis Kyprou ETA Euskadi Ta Askatasuna EUKOM Europäisches Kommando der Vereinigten Staaten FDP Freie Demokratische Partei FLN Front de Libération Nationale GG Geschichte und Gesellschaft GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HSR Historical Social Research HZ Historische Zeitschrift IRA Irish Republican Army ISQ International Studies Quarterly IS Islamischer Staat ISB Institut für Soziale Bewegungen JMEH Journal of Modern European History JMH Journal of Modern History KVfS Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie KPD Kommunistische Partei Deutschlands MschKrim Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform MTLD Mouvement pour le triompe des libertés démocratiques NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands NotVO Notverordnung NS Nationalsozialismus NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

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Abkürzungsverzeichnis

NSU

Nationalsozialistischer Untergrund Organisation Consul Palästinensische Befreiungsorganisation Rote Armee Fraktion RGBL Reichsgesetzblatt SAP Sozialistische Arbeiterpartei SDS Sozialistischer Studentenbund SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SRP Sozialistische Reichspartei SZ Süddeutsche Zeitung UDMA Union démocratique du manifeste algérien UNO United Nations Organization USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands VfZ Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte VVDSt RL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Strafrechtslehrer WJ Wiking-Jugend WSG Wehrsportgruppe Hoffmann ZStW Zeitschrift für die gesamte Staatsrechtswissenschaft O. C. PLO RAF

Literaturverzeichnis 1.

Politische Gewalt in der historischen Forschung

Politikwissenschaftliche Grundlagentexte zum Thema politische Gewalt

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Gusy, Ch., Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, in: VVDStRL 63 (2004), S. 151–190. ➥➥ Der Autor repräsentiert die juristische Position, die das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit betont. Isensee, J., Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin 1983. ➥➥ Der Autor fordert ein staatlich zu garantierendes Grundrecht auf Sicherheit. Sicherheit als geschichtswissenschaftliches Thema

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3. Terrorismus als geschichtswissenschaftliches Forschungsfeld Quellen

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Backes, U., Auf der Suche nach einer international konsensfähigen Terrorismus­ definition, in: Möllers, M. H. W. u. R. Chr. Van Ooyen, (Hg.), Jahrbuch öffentliche Sicherheit 2002/2003, Frankfurt a. M. 2003, S. 153–165. ➥➥ Definitionsversuche aus politikwissenschaftlicher Sicht. Schmid, A. P. u. A. J. Jongman, Political terrorism. A new guide to actors, authors, concepts, data bases, theories and literature, Amsterdam u. a. 1988. ➥➥ Standardwerk zum Bedeutungsgehalt des Begriffs Terrorismus. Walther, R., Terror, Terrorismus, in: Brunner, O., W. Conze u. R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 323–443. ➥➥ Der einschlägige Artikel aus dem Standardwerk zur Begriffsgeschichte. Walther, R., Terror und Terrorismus. Eine begriffs- und sozialgeschichtliche Skizze, in: Kraushaar, W. (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 1, Hamburg 2006, S. 64–77. ➥➥ Gekürzte Version des Artikels in den Geschichtlichen Grundbegriffen. Historische Überblicksdarstellungen

Chaliand, G. u. Blin, Arnaud (Hg.), The History of Terrorism from Antiquity to Al Qaeda, Berkeley u. a. 2007. ➥➥ Die Autoren setzen mit ihrem Überblick in der Antike ein und begreifen breit angelegt Schrecken verbreitende Gewalt von staatlicher Seite bzw. gegen den Staat und das Phänomen des politischen Mordes als Bindeglied. Dietze, C., Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA ­1858–1866, Hamburg 2016. ➥➥ Die vergleichend angelegte Studie markiert das 19. Jahrhundert in Europa als Entstehungsphase des Terrorismus und weist den untersuchten Jahren eine spezifische Bedeutung für die Entstehung des Terrorismus zu.

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Literaturverzeichnis

Law, R. D., The Routledge history of terrorism, London u. a. 2013. ➥➥ Der Autor verfolgt breit angelegt staatliche Gewaltherrschaft und Gegengewalt seit der Antike. Laqueur, W., Terrorismus, Kronberg / Ts. 1977. ➥➥ Frühes Standardwerk zu modernen Terrorismusphänomenen mit historischen Hintergründen. Schraut, S., Terrorismus und Geschichtswissenschaft, in: Spencer, A., A. Kocks, u. K. Harbrich (Hg.), Terrorismusforschung in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 99–122. ➥➥ Überblicksdarstellung zur Befassung der Geschichtswissenschaft mit Terrorismus. Schulze Wessel, M., Terrorismusstudien. Bemerkungen zur Entwicklung eines Forschungsfeldes, in: GG 35 (2009), S. 357–367. ➥➥ Überlegungen zur Beschäftigung der Geschichtswissenschaft mit Terrorismus. Waldmann, P., Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998. ➥➥ Systematischer Zugriff auf unterschiedliche Typen von Terrorismus mit Berücksichtigung historischer Hintergründe. Weinhauer, K. u. J.  Requate, (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2012. ➥➥ Der Sammelband verfolgt historische Terrorismusphänomene als gewaltsame Kommunikationsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert.

4. Moderne Staatlichkeit und politische Gewalt als oppositionelle Strategie Anders, F. u. I. Gilcher-Holtey, (Hg.), Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols, Frankfurt a. M. / New York 2006. ➥➥ Sammelband mit historischen Fallbeispielen zum Spannungsverhältnis von staatlichem Gewaltmonopol und oppositionellem Handeln. Elias, N., Zivilisation und Gewalt. Über das Staatsmonopol der körperlichen Gewalt und seine Durchbrechungen, in: Ders., Studien über die Deutschen, Frankfurt a. M. 1989, S. 223–270. ➥➥ Gern zitierter Standardtext zur zivilisatorischen Wirkung des staatlichen Gewaltmonopols. Grimm, D., Das staatliche Gewaltmonopol, in: Anders, F. u. I. Gilcher-Holtey (Hg.), Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 18–38. ➥➥ Komprimierter Überblick über die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols aus der Perspektive des Verfassungsrechts.

Literaturverzeichnis

Glotz, P. (Hg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt a. M. 1983. ➥➥ Sammelband, der hervorragend die Debatten um zivilen Ungehorsam in den 1970er und frühen 1980er Jahren spiegelt. Habermas, J., Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: Glotz, P. (Hg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt a. M. 1983, S. 29–52. ➥➥ Häufig zitierter Standardtext zum Thema Ziviler Ungehorsam. Weber, R., Mutlangen  – Mit zivilem Ungehorsam gegen Atomraketen, in: Ders. (Hg.), Aufbruch, Protest und Provokation. Die bewegten 70er und 80er Jahre in Baden-Württemberg, Darmstadt 2013, S. 141–164. ➥➥ Darstellung der gesellschaftlichen und juristischen Auseinandersetzung um die Anti-AKW-Bewegung der 1980er Jahre. Wimmer, H., Gewalt und das Gewaltmonopol des Staates, Wien / Berlin / Münster 2009. ➥➥ Historische Überblicksdarstellung zur Entwicklung des staatlichen Gewalt­monopols.

5. Frühformen des Terrorismus zu Beginn des 19. Jahr‑ hunderts: Politische Attentate als Botschaftsträger Quellen

Hohnhorst, Levin Karl Staatsrath von, Vollständige Übersicht der gegen Carl Ludwig Sand wegen Meuchelmordes verübt an dem K. Russischen Staatsrath von Kotzebue, geführten Untersuchung. Aus den Originalakten ausgezogen, geordnet und herausgegeben, 2 Bde., Stuttgart 1820. ➥➥ Darstellung des Prozesses und Quellensammlung durch den beteiligten Untersuchungsrichter. Jarcke, Carl Ernst, Carl Ludwig Sand und sein, an dem kaiserlich-russischen Staatsrath v. Kotzebue verübter Mord. Eine psychologisch-criminalistische Erörterung aus der Geschichte unserer Zeit, Berlin 1831. ➥➥ Kritische zeitgenössische Auseinandeinandersetzung mit Sand und seinem Mord. Jean Paul, Dr. Katzenberger’s Badereise, Heidelberg 1809. ➥➥ Verherrlichung Charlotte Cordays als heldinnenhafter Engel. Lamartine, A. de, Geschichte der Girondisten Bd. 6, Leipzig 1847. ➥➥ Traditionsstiftende Darstellung Cordays im Kontext der pro-girondistischen französischen Geschichtsschreibung. Michelet, J., Die Frauen der Revolution, Frankfurt a. M. 1984. ➥➥ Traditionsstiftende Darstellung Cordays im Kontext der liberalen französischen Geschichtsschreibung.

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Vatel, Ch., Dossiers du procès criminel de Charlotte Corday devant le tribunal re volutionnaire, extraits des archives impériales, Paris 1861. ➥➥ Erste Quellensammlung zum Prozess gegen Corday. Geschichtswissenschaftliche Literatur

Debriffe, M., Charlotte Corday, Paris 2005. ➥➥ Moderne historische Biografie Cordays. Müller, K. A. von, Karl Ludwig Sand, München 1923. ➥➥ Letzte aus den Quellen geschöpfte, ausführliche Darstellung Sands. Rezeptionsgeschichtliche Literatur

Beise, A., Charlotte Corday. Karriere einer Attentäterin, Marburg 1992. ➥➥ Darstellung der Rezeption der Corday-Figur im 19. Jahrhundert. Mazeau, G., Corday contre Marat. Deux siècles d’images, Versailles 2009. ➥➥ Kulturgeschichtliche Rezeptionsdarstellung. Schraut, S., Wie der Hass gegen den Staatsrath von Kotzebue, der der Gedanke, ihn zu ermorden, in Sand entstand: Ein politischer Mord und seine Nachwirkungen, in: Hikel, Ch. u. S. Schraut (Hg.), Terrorismus und Geschlecht. Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2012, S. 145–168. ➥➥ Rezeptionsgeschichte der Figur Sands unter besonderer Berücksichtigung des Gender-Ansatzes und der Wertung politischer Gewalt. Schraut, S., Charlotte Corday und Karl Ludwig Sand: Populäre Repräsentation von Geschlecht und politischer Gewalt im 19. Jahrhundert, in: Cheauré, E., S. Paletschek u. N. Reusch (Hg.), Geschlecht und Geschichte in populären Medien, Bielefeld 2013, S. 137–152. ➥➥ Rezeptionsgeschichte Sands und Cordays unter besonderer Berücksichtigung des Gender-Ansatzes und der Wertung politischer Gewalt. Stephan, I., Gewalt, Eros und Tod. Matamorphosen der Charlotte Corday-Figur vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, in: Weigel, S. (Hg.), Die Marseillaise der Weiber. Frauen der Französischen Revolution und ihre Rezeption, Hamburg 1989, S. 128–153. ➥➥ Darstellung der Rezeption der Corday-Figur im 19. und 20. Jahrhundert in Genderperspektive.

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6. Die Erfindung des Terrorismus im Anarchismus Quellen

Heinzen, K., Mord und Freiheit, New York 1851. ➥➥ Frühes Zeugnis terroristischer politischer Strategie. Laqueur, W. (Hg.), Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg 1978. ➥➥ Historisch angelegte Quellensammlung zum Thema Terrorismus, auch mit anarchistischen Quellen. Lombroso, C., Die Anarchisten. Eine kriminalpsychologische und sociologische Studie, Hamburg 1895. ➥➥ Zeitgenössisch bekannte kriminalistische Pathologisierung des Anarchismus. Nettlau, M., Geschichte der Anarchie, Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen zum Jahre 1864, Berlin 1924. Nettlau, M., Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859–1880, Berlin 1927. Nettlau, M., Anarchisten und Sozialrevolutionäre. Die historische Entwicklung des Anarchismus in den Jahren 1880–1886, Berlin 1931. ➥➥ Zeitgenössische Darstellungen eines Insiders. Darstellungen zum Anarchismus in Deutschland

Carlson, A. R., Anarchism in Germany, 2 Bde., Metuchen N. J. 1972. ➥➥ Standardwerk zur Geschichte des Anarchismus im Wilhelminischen Kaiserreich. Lemmes, F., Der anarchistische Terrorismus des 19. Jahrhunderts und sein soziales Umfeld, in: Malthaner, St. u. P. Waldmann (Hg.), Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen, Frankfurt a. M. 2012, S. 73–117. ➥➥ Vergleichende Analyse des Forschungsstands zum sozialen Milieu und der Zusammensetzung terroristischer Gruppen vor allem in Frankreich und Deutschland. Linse, U., Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871, Berlin 1969. ➥➥ Frühe Überblicksdarstellung mehr zur Theorie als zur gewaltbereiten Praxis. Lösche, P., Anarchismus, Darmstadt 19872.. ➥➥ Gute Überblicksdarstellung zur Geschichte und Theorie des Anarchismus. Ludz, P. Ch., u. Meier, Ch., Anarchie, Anarchismus, Anarchist, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von O. Brunner, W. Conze u. R. Koselleck, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 49–109. ➥➥ Der einschlägige Artikel aus dem Standardwerk zur Begriffsgeschichte, nicht nur mit Blick auf Deutschland.

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Wagner, J., Missionare der Gewalt, Heidelberg 1980. ➥➥ Biografisch angelegtes Werk zum Anarchismus im Wilhelminischen Kaiserreich. Darstellungen zum Anarchismus in Frankreich

Bouhey, V., Les anarchists contre la République 1880 à 1914, Rennes 2008. ➥➥ Neueste Überblicksdarstellung. Requate, J., Die Faszination anarchistischer Attentate im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in: Weinhauer, K. u. J. Requate (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2012, S. 99–120. ➥➥ Überlegungen zum französischen Anarchismus mit Betonung seiner kommunikativen Funktion. Darstellungen zum Anarchismus in Russland

Geifman, A., Thou shalt kill. Revolutionary terrorism in Russia. 1894–1917, Prince­ ton 1995. ➥➥ Relativ neue Überblicksdarstellung. Gerngroß, M., Terrorismus im Zarenreich mit Vorbildfunktion. Die »Narodnaya Wolya«, in: Straßner, A. (Hg.), Sozialrevolutionärer Terrorismus, Theorie, Ideologie, Fallbeispiele, Zukunftsszenarien, Wiesbaden 2009, S. 147–158. ➥➥ Überblick über die »Narodnaya Wolya« als Fallbeispiel des sozialrevolutionären Terrorismus. Pomper, Ph., Russian revolutionary terrorism, in: Crenshaw, M. (Hg.), Terrorism in context, Pennsylvania 1995, S. 63–101. ➥➥ Überblick über den Terrorismus in Russland seit den 1860er Jahren bis zur Ok­to­ ber­revolution.

7.

Die Delegitimierung staatlicher Ordnung durch oppositionelle Gewaltbereitschaft in der Zwischenkriegszeit

Quellen

Gumbel, E. J., Vier Jahre politischer Mord, Berlin-Fichtenau 1922. ➥➥ Erste seriöse Auflistung der politischen Morde in der Weimarer Republik, die immer noch zitiert wird, wenn es um politische Gewalt in der Weimarer Republik geht.

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Überblicksdarstellungen

Grässle-Münscher, J., Kriminelle Vereinigung: Von den Burschenschaften bis zur RAF, Hamburg 1991. ➥➥ Frühe Überblicksdarstellung in langer Zeitlinie über die politische Gewalt und staatliche Gegenreaktion, die auch die nicht selten vernachlässigte politische Gewalt in Weimar in die Entwicklung politischer Gewalt einordnet. Kolb, E. u. D. Schumann, Die Weimarer Republik, München 20138. ➥➥ Standardwerk zur Weimarer Republik. Reichardt, S., Faschistische Kampfbünde: Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA , Köln 2002. ➥➥ Vergleichende Studie zu rechtsextremer Gewalt in der Zwischenkriegszeit. Reichardt, S., Totalitäre Gewaltpolitik? Überlegungen zum Verhältnis von nationalsozialistischer und kommunistischer Gewalt in der Weimarer Republik, in: Hardtwig, W. (Hg.), Ordnungen in der Krise, München 2007, S. 377–402. ➥➥ Auseinandersetzung mit dem Gewaltverständnis im rechten und im linken Lager in der Zwischenkriegszeit. Schumann, D., Politische Gewalt in der Weimarer Republik, 1918–1933, Essen 2001. ➥➥ Erste differenzierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den politischen Gewaltaktionen auf der Straße in der Weimarer Republik und ihren Auswirkungen auf die Demokratie. Schumann, D., Europa, der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit: eine Kontinuität der Gewalt? In: JMEH 1 (2003), S. 24–43. ➥➥ Der Aufsatz befasst sich mit der These, die Gewalt der Zwischenkriegszeit sei eine Folge des Ersten Weltkriegs. Southern, D. B., Antidemokratischer Terror in der Weimarer Republik: ›Fememorde‹ und ›Schwarze Reichswehr‹, in: Mommsen, W. J. u. G. Hirschfeld (Hg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror, Stuttgart 1982, S. 381–393. ➥➥ Früher Überblick über rechtsextreme politische Gewalt und die Rolle der paramilitärischen Organisationen. Weisbrod, B., Gewalt in der Politik: Zur politischen Kultur in Deutschland zwischen d. beiden Weltkriegen, in: GWU 43 (1992), S. 391–404. ➥➥ Kulturgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Gewaltbereitschaft in der Zwischenkriegszeit. Wirsching, A., Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutsch­ land und Frankreich 1918–1933/39, Berlin und Paris im Vergleich, München 1999. ➥➥ Vergleichendes Standardwerk zur These, dass die Gewalt von rechts und ihre Akzeptanz in der Mitte der Gesellschaft durch die Angst vor linksextremer Gewalt versursacht worden sei.

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Die Organisation Consul

Gebhardt, C., Der Fall des Erzberger-Mörders Heinrich Tillessen, Tübingen 1995. ➥➥ Akribische Recherche über die Verstrickungen von Behörden und Polizei in die Duldung der seitens der O. C. organisierten politischen Morde. Jasper, G., Aus den Akten der Prozesse gegen die Erzberger-Mörder, in: VfZ 10 (1962), S. 430–439. ➥➥ Frühe Publikation von Quellenmaterial zur O. C. Krüger, G., Die Brigade Ehrhardt, Hamburg 1971. ➥➥ Frühe Überblicksdarstellung zur Brigade Ehrhardt, der keine neueren gefolgt sind. Sabrow, M., Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994. ➥➥ Einziges Standardwerk zur O. C. Stern, H., The Organisation Consul, in: JMH 35 (1963), S. 20–32. ➥➥ Der Autor sieht die O. C. eher als staatlich geduldeten Freikorps mit selbst gegebenem Auftrag denn als Organisation mit terroristischen Neigungen. Winter, R., Täter im Geheimen. Wilhelm Krichbaum zwischen NS -Feldpolizei und Organisation Gehlen, Leipzig 2010. ➥➥ Auseinandersetzung mit den biografischen Kontinuitäten zwischen gewaltbereiten Kräften in Weimar und der jungen Bundesrepublik.

8. Antikoloniale politische Gewalt Quellen

Aussaresses, Paul. The Battle of the Casbah: Terrorism and counter-terrorism in Algeria 1955–1957, New York 2006. ➥➥ Französischer General, der im Algerienkrieg kämpfte und 2000 eine Kontroverse in Frankreich hervorrief, als er den Einsatz von Folter im Algerienkrieg rechtfertigte. Grivas-Digenis, G., Partisanenkrieg heute, Frankfurt a. M. 1964. ➥➥ Flammend überzeugte Strategieschrift für den Einsatz von Terrorismus, hier als Partisanenkampf bezeichnet, seitens des Anführers des bewaffneten Kampfes der EOKA in Zypern. Koloniale / Antikolonale Gewalt

Lindner, U., Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 15.4.2011, S. 2, URL : http://docupedia.de/zg/ (7.6.2016). ➥➥ Einführender Überblick in das Themenfeld Postcolonial Studies.

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Osterhammel, J. u. J. C. Jansen, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 20127. ➥➥ Guter Überblick und knappe Einführung in das Forschungsfeld Kolonialismus, die Gewaltfrage betonend. Zypern

Carter, D., Aphrodite’s Killers. Cyprus, the EOKA Conflict and the road to partition, London 2010. ➥➥ Auseinandersetzung mit der Rolle der EOKA und der politischen Gewalt im Zypernkonflikt. French, D., Fighting EOKA . The British Counter-Insurgency Campaign on Cyprus, 1955–1959, Oxford 2015. ➥➥ Auseinandersetzung vor allem mit der britischen Strategie in Zypern. Grob-Fitzgibbon, B., The Empire strikes back, 1952–1968, in: Law, R. D. (Hg.), The Routledge history of terrorism, London / New York 2015, S. 190–203. ➥➥ Einordnung des Zypernkonflikts in die zeitgenössischen britischen Dekolonisierungskonflikte. Holland, R. F., Britain and the Revolt in Cyprus, Oxford 1998. ➥➥ Standarddarstellung zum Zypernkonflikt. Koureas, G., Das Unsichtbare sichtbar machen. Auf den Spuren des Bildes vom Terroristen im zypriotischen Unabhängigkeitskrieg (1955–1959), in: Hikel, Ch. u. S. Schraut (Hg.), Terrorismus und Geschlecht. Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2012, S. 257–278. ➥➥ Darstellung des Umgangs mit der Erinnerung an den Zypernkonflikt in Großbritannien und Zypern und der jeweiligen Bewertung der angewandten Gewalt in Genderperspektive. Algerien

Evans, M., Algeria: France’s undeclared war, Oxford 2012. ➥➥ Standard-Darstellung zum Thema. Crenshaw, M., The effectiveness of terrorism in the Algerian war, in: Dies. (Hg.), Terrorism in context, Pennsylvania 1995, S. 473–513. ➥➥ Darstellung, die die politische Gewalt auf algerischer Seite, auf Seiten der Siedler und in Frankreich in Zusammenhang bringt. Klose, F., Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien 1945–1962, München 2009. ➥➥ Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Menschenrechtsdiskurses im Kontext von Dekolonisierungsprozessen.

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Mollenhauer, D., Die vielen Gesichter der pazification: Frankreichs Krieg in Algerien (195–1962), in: Klein, Th. u. F. Schumacher (Hg.), Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 329–366. ➥➥ Der Schwerpunkt des Aufsatzes liegt auf der gewaltsamen französischen Strategie und dem Stellenwert der Gewalt im Algerienkrieg in der französischen Erinnerungskultur. Renken, F., Kleine Geschichte des Algerienkrieges, in: Kohser-Spohn, Ch. u. F. Renken (Hg.), Trauma Algerienkrieg. Zur Geschichte und Aufarbeitung eines tabuisierten Konflikts, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 25–50. ➥➥ Konziser knapper Überblick über den Algerienkrieg. Thomas, M. C., Violence in the Algerian war of independence, in: Law, R. D. (Hg.), The Routledge history of terrorism, London / New York 2015, S. 218–238. ➥➥ Spezielle Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Terrorismus und der fran­ zösischen Gegengewalt im Algerienkrieg.

9. Neue (gewaltbereite) Staatskritik in den 1970er Jahren Quellen

Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997. ➥➥ Publikation der veröffentlichten Verlautbarungen und Erklärungen der RAF. Zeitgenössische Terrorismusanalysen

Analysen zum Terrorismus, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, 5 Bde. Opladen 1981–1983. ➥➥ Umfassende zeitgenössische politik- und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung einschlägiger zeitgenössischer Experten mit dem neuen sozialrevolutionären Terrorismus. Aust, St., Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1985. ➥➥ Journalistisches Standardwerk zur RAF, das für etliche Jahrzehnte die Deutung des RAF -Geschehens vorgab. Geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1979. ➥➥ Zeitgenösssische Stellungnahmen aus Politik, Philosophie und Ethik zum sozialrevolutionären Terrorismus. Politik- und geschichtswissenschaftliche Analysen der RAF

Balz, H., Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt a. M. / New York 2008. ➥➥ Differenzierte Analyse der zeitgenössischen medialen Debatten rund um die RAF.

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Colin, N., B. de Graaf, J. Pekelder u. J. Umlauf (Hg.), Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst, Bielefeld 2008. ➥➥ Facettenreiche Auseinandersetzung mit der Geschichte der RAF mit kulturwissenschaftlichen Schwerpunkten. Elter, A., Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt a. M. 2008. ➥➥ Guter Überblick zur Mediengeschichte der RAF. Kraushaar, W. (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006. ➥➥ Erste umfassende politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der RAF. Straßner, A. (Hg.), Sozialrevolutionärer Terrorismus, Wiesbaden 2008. ➥➥ Vergleichende Einordung der RAF in sonstige Erscheinungsformen des sozialrevolutionären Terrorismus. Weinhauer, K., J. Requate, u. H.-G. Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M. / New York 2006. ➥➥ Erste umfassende geschichtswissenschaftliche Befassung mit dem Thema RAF mit kommunikationsgeschichtlichem Schwerpunkt. Studentenbewegung und RAF als Generationenkonflikt

Elias, N., Der bundesdeutsche Terrorismus – Ausdruck eines sozialen Generationskonflikts, in: Ders., Studien über die Deutschen, Frankfurt a. M. 1989, S. 300–389. ➥➥ Soziologische Grundlegung des RAF -Themas als Generationenkonflikt. Herbert, U., Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Reulecke, J. u. E.  Müller-Luckner (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95–114. ➥➥ Geschichtswissenschaftliche Diskussion der Elias-These. Herrmann, J., »Unsere Söhne und Töchter« Protestantismus und RAF -Terrorismus in den 1970er Jahren, in: Kraushaar, W. (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 1, Hamburg 2006, S. 644–656. ➥➥ Die Generationenkonfliktthese mit Bezug auf die religiös / kulturelle Wirkung dezidiert protestantischer Elternhäuser auf die Radikalisierung ihrer Kinder. Mannheim, K., Das Problem der Generationen, in: KVfS 7 (1928), S. 157–185, 309–330. ➥➥ Soziologischer Grundlagentext für die Analyse der historischen bzw. politischenWirkung von Generationen.

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Wirth, H.-J., Versuch, den Umbruch von 68 und das Problem der Gewalt zu verstehen, in: Ders. (Hg.), Hitlers Enkel – oder Kinder der Demokratie? Die 68erGeneration, die RAF und die Fischer-Debatte, S. 13–44. ➥➥ Psychoanalytische Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von verdrängtem Nationalsozialismus und Studentenbewegung. Die Gewaltfrage in Studentenbewegung und RAF

Davis, B., Jenseits von Terror und Rückzug: Die Suche nach politischem Spielraum und Strategien im Westdeutschland der siebziger Jahre, in: Weinhauer, K., J. Requate, u. H.-G. Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren. Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 154–186. ➥➥ Der Text lotet die politischen Handlungsfelder bzw. -möglichkeiten der Opposition in den 1970er Jahren aus. Gilcher-Holtey, I., Transformation durch Subversion: Die Neue Linke und die Gewaltfrage, in: Anders, F. u. I.  Gilcher-Holtey (Hg.), Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 198–220. ➥➥ Vehemente Gegenposition zur These einer zwangsläufigen Gewaltentwicklung von der Studentenbewegung zur RAF. Langguth, G., Mythos 68, München 2001. ➥➥ Kritik am ungeklärten Gewaltverhältnis der Studentenbewegung. Kraushaar, J., Ph. Reemtsma u. K. Wieland, Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburg 2005. ➥➥ Kritik an unklaren Gewaltpositionen Dutschkes, der hier in einen Kontext mit der RAF gestellt wird.

10. Rechtsextremismus und politische Gewalt Quellen

Bundesministerium des Innern (Hg.), Erfahrungsbericht über die Beobachtungen der Ämter für Verfassungsschutz im Jahre 1968, Bonn 1969. ➥➥ Die Berichte des Verfassungsschutzes erscheinen seit dem Berichtsjahr 1968 jährlich. Sie geben einen guten Überblick über die Bedeutung politischer Gewalt aus der Perspektive der Verfassungshüter. Überblicksdarstellungen

Backes, U. u. E. Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 19933. ➥➥ Politikwissenschaftliches Standardwerk zum aktuellen Links- und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik mit wenig historischem Hintergrund.

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Backes, U., »Rechtsextremismus« – Konzeptionen und Kontroversen, in: Ders. (Hg.), Rechtsextreme Ideologien in Geschichte und Gegenwart, Köln 2003, S. 15–52. ➥➥ Gute Einführung in die Definitionsprobleme im Umgang mit Rechtsextremismus. Benz, W. (Hg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Voraussetzungen, Zusammenhänge, Wirkungen, Frankfurt a. M. 1990. ➥➥ Geschichtswissenschaftliches Standardwerk, in vielen Versionen aktualisiert, zum Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Botsch, G., Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute, Darmstadt 2012. ➥➥ Politikwissenschaftlicher Überblick zur Entwicklung rechtsextremer Gewalt seit 1949. Jaschke, H.-G. (Hg.), Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe, Positionen, Praxisfelder, Wiesbaden 2001. ➥➥ Überblick über die zeittypische Auseinandersetzung mit aktuellem Rechtsextremismus und Präventionsmaßnahmen. Maegerle, A., A. Röpke u. A. Speit, Der Terror von rechts – 1945–1990, in: Röpke, A. u. A. Speit (Hg.), Blut und Ehre. Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland, Berlin 2013, S. 23–60. ➥➥ Einführender knapper Überblick über die Geschichte des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Pfahl-Traughber, A., Der organisierte Rechtsextremismus in Deutschland nach 1945, in: Schubarth, W. u. R. Stöss (Hg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Opladen 2001, S. 71–100. ➥➥ Bekannter Politikwissenschaftler, der vergleichend über Links- und Rechtsextremismus arbeitet und hier dem Rechtsextremismus keine große gesellschaftliche Relevanz beimisst. Vinke, H. Mit zweierlei Maß. Die deutsche Reaktion auf den Terror von rechts, Hamburg 1981. ➥➥ Eine der wenigen Studien, die sich mit der öffentlichen Reaktion auf Links- und Rechtsterrorismus vergleichend auseinandersetzt. Wehrsportgruppe Hoffmann und Oktoberfest-Attentat

Chaussy, U., Oktoberfest. Ein Attentat. Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann, Darmstadt 1985. ➥➥ Journalistisches Standardwerk zum Oktoberfest-Attentat. Fromm, R., Die Wehrsportgruppe Hoffmann. Darstellung, Analyse und Einordnung, Frankfurt a. M. u. a. 1998. ➥➥ Einzige Dissertation zur Wehrsportgruppe Hoffmann.

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Heymann, T. von, Die Oktoberfest-Bombe. München, 26. September 1980  – Die Tat eines Einzelnen oder ein Terror-Anschlag mit politischem Hintergrund? Berlin 2008. ➥➥ Das Werk geht der Frage nach der Verstrickung der DDR in die bundesdeutsche rechtsextreme Szene nach, kann aber außer aufmerksame Beobachtung seitens des DDR-Staatssicherheitsdienstes keine Verbindungen aufdecken.

11. Politische Gewalt als Kommunikationsstrategie und die Rolle der Medien Überblicksdarstellungen

Elter, A., Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien, Frankfurt a. M. 2008. ➥➥ Guter Überblick zur Mediengeschichte der RAF. Glaab, S. (Hg.), Medien und Terrorismus. Auf den Spuren einer symbiotischen Beziehung, Berlin 2007. ➥➥ Sammelband zur engen Verbindung von Terrorismus, seinen medialen Zielen und den Gesetzmäßigkeiten medialer Aufmerksamkeit. Musolff, Andreas, Krieg gegen die Öffentlichkeit. Terrorismus und politischer Sprachgebrauch, Opladen 1996. ➥➥ Die Studie legt besonderen Wert auf die Diskursmächtigkeit poltischer Kampfbegriffe im Umgang mit politischer Gewalt in den Medien. Steinseifer, M., Terrorismus als Medienereignis im Herbst 1977: Strategien, Dynamiken, Darstellungen, Deutungen, in: Weinhauer, K., J. Requate, u. H.-G. Haupt, (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 351–381. ➥➥ Passender Aufsatz zum Einstieg in das Thema. Die Sympathisantendebatte

Balz, H., Der »Sympathisanten«-Diskurs im Deutschen Herbst, in: Weinhauer, K., J. Requate u. H.-G. Haupt (Hg.), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M. / New York 2006, S. 320–350. ➥➥ Vorstudie zur nachfolgend genannten medienanalytischen Arbeit, hier mit besonderer Betonung der Sympathisantendebatte. Balz, H., Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren, Frankfurt a. M. / New York 2008. ➥➥ Differenzierte Analyse der zeitgenössischen medialen Debatten rund um die RAF.

Literaturverzeichnis

Husmann, D., Schon bist Du ein Sympathisant. Die rechtlichen und außerrechtlichen Wirkungen eines Wortgebrauchs im Spiegel der Literatur, Osnabrück 2015. ➥➥ Analyse des Sprachgebrauchs des Begriffs Sympathisant in den politischen und juristischen Debatten der 1970er Jahre rund um den sozialrevolutionären Terrorismus. Medien und Zensur

Gusy, Ch., Pressefreiheit contra Republikschutz. Zur Abwehr republikfeindlicher Presse in der Weimarer Republik, in: Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag: Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, hrsg. von Gerald Kohl, Wien 2008, S. 137–155. ➥➥ Juristisch / geschichtswissenschaftliche Analyse des »Republikschutzgesetzes« der Weimarer Republik und seiner rechtlichen wie politischen Folgen.

12. Politische Gewalt und Terrorismus als Thema der Genderforschung Quellen

Adler, E., Die berühmten Frauen der französischen Revolution 1789–1795, Wien 1906. ➥➥ Eine der ersten historischen Studien über Frauen der Französischen Revolution aus der Feder einer Frau. Bakunin, M., Philosophie der Tat. Auswahl aus seinem Werk, hrsg. von R.  Beer, Köln 1969. ➥➥ Grundlagentexte zum russischen Anarchismus und zur politischen / gesellschaftlichen Gleichstellung von Männern und Frauen im Anarchismus. Dokumente aus geheimen Archiven. Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung 1878–1913, Bd. 1, 1878–1889, bearbeitet von D. Fricke und R. Knaack, Weimar 1983. ➥➥ Die für die Öffentlichkeit bestimmten zeitgenössischen Zusammenfassungen der Erkenntnisse der preußischen Überwachungsbehörden über die Aktionen der Arbeiterbewegung und der Anarchisten. Laqueur, W. (Hg.), Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg 1978. ➥➥ Frühe historische Sammlung von grundlegenden Quellen zur Geschichte des Terrorismus. Lombroso, C. u. R. Laschi, Der Politische Verbrecher und die Revolutionen in anthropologischer, juristischer und staatswissenschaftlicher Beziehung, 2 Bde., Hamburg 1891/1892. ➥➥ Bekannte zeitgenössische kriminalwissenschaftliche Studie, die reiches Material für das gegenderte Verständnis von politischer Gewalt liefert.

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236

Literaturverzeichnis

Michelet, J., Die Frauen der Revolution, Frankfurt a. M. 1984. ➥➥ Das zeitgenössische Standardwerk zu weiblichen Partizipation an der Franzö­ sischen Revolution liefert die gegenderte Sichtweise des Liberalismus vom Verhältnis von Geschlecht, Politik und Gewalt. Most, J., August Reinsdorf und die Propaganda der That, New York 1890. ➥➥ Anarchistische Verherrlichung anarchistischer Männlichkeit. Petersen, S., Marktweiber und Amazonen. Frauen in der Französischen Revolution, Köln 1991. ➥➥ Kommentierte Quellensammlung zur Partizipation von Frauen an der Französischen Revolution. Geschichts- und politikwissenschaftliche Literatur

Aslam, M., Gender-based explosions: The nexus between Muslim masculinities, jihadist Islamism and terrorism, New York 2012. ➥➥ Politikwissenschaftliche Beschäftigung mit den Männlichkeitskonzepten islami­ scher Terroristen. Brunner, C., Wissensobjekt Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung, Wiesbaden 2012. ➥➥ Wissenschaftliche Studie über die Wirkung von gegenderten Stereotypen in der Wahrnehmung von islamischen Selbstmordattentaten. Hikel, Ch. u. S. Schraut (Hg.), Terrorismus und Geschlecht. Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2012. ➥➥ Sammelband mit Beiträgen zum Verhältnis von Geschlecht und Terrorismus in geschichtswissenschaftlicher Perspektive. MacDonald, E., Erschießt zuerst die Frauen, Stuttgart 1992. ➥➥ Journalistischer Beitrag zur These von der besonders gewaltbereiten Frau, wenn sie denn zur gewaltsamen Politik greift. Malvern, S. u. G.  Koureas (Hg.), Terrorist transgressions. Gender and the visual culture of the terrorist, London 2014. ➥➥ Sammelband zur kulturellen Repräsentation von Geschlecht im medialen Umgang mit Terrorismus. Mann, B. J., Sovereign masculinity: gender lessons from the war on terror, New York 2014. ➥➥ Auseinandersetzung mit den aktuellen Männlichkeitsentwürfen im Kontext der Terrorismusbekämpfung.

Literaturverzeichnis

Ness, C. D. (Hg.), Female terrorism and militancy: Agency, utility and organization, London 2008. ➥➥ Eine der ersten von vielen Studien, die aktuell in der angloamerikanischen Politik­ wissenschaft das Verhältnis von Terrorismus, internationaler Politik und Terrorismusbekämpfung in Genderpersepktive aufgreifen. Paczensky, S. von (1979), Thesen zu den ›Ursachen des Terrorismus‹, in: Geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, Bonn 1979. S. 54. ➥➥ Zeitgenössisch zum sozialrevolutionären Terrorismus formulierte These von der besonders gewaltbereiten, doppelt durch Patriarchat und Kapitalismus unterdrückten Frau. Poloni-Staudinger, L. u. C. D.  Ortbals, Terrorism and violent conflict: women’s agency, leadership, and responses, New York 2013. ➥➥ Politikwissenschaftliche Beschäftigung mit Islamismus und weiblichen gewaltbereiten Handlungsspielräumen weiblichen Emanzipation bzw. Opferschaft. Satterthwaite, M. L. u. J. C. Huckerby (Hg.), Gender, national security and counterterrorism: Human rights perspectives, London 2013. ➥➥ Sammelband, der sich mit den gegenderten Aspekten von Sicherheitspolitik und Menschenrechten im Kontext des Kampfes gegen Terrorismus beschäftigt und aufzeigt, dass sowohl der gegenwärtige Terrorismus wie seine Bekämpfung sich nachteilig für Frauen auswirken. Schraut, S. u. K. Weinhauer, Terrorism, gender, and history – introduction, in: HSR 39 (2014), S. 7–45. ➥➥ Forschungsüberblick zum Verhältnis von Gender und Terrorismus in geschichtswissenschaftlicher Perspektive. Sjoberg, L. u. C. E. Gentry (Hg.), Women, gender, and terrorism, Athens 2011. ➥➥ Politikwissenschaftlicher Sammelband zum aktuellen Zusammenhang von Geschlecht und Terrorismus.

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Personen- und Organisationsregister Abbas, Ferhat  139 Abbühl, Ernst  89 Adler, Emma  203 Albertz, Heinrich  158 Alexander I., König von Jugoslawien 49 Alexander II ., Zar von Russland  97, 106 Alexander III . von Makedonien  134 Al-Qaida  209, 211, 213 Amar, André  202 Annan, Kofi  50 Aristoteles 163 Armee de libération nationale (ALN)  140–142 Aust, Stefan  48, 150 Avraham, Doraon  30 Baader, Andreas  45, 48, 147–150, 185, 205 Bachmann, Josef  167 Backes, Uwe  52, 55, 163, 165, 177 Bakunin, Michail  100, 104, 111, 197, 205 Ballestrem, Karl Graf  70–72 Balz, Hanno  157, 184 Bamberger, Ludwig  187 Barbaroux, Charles Jean Marie  85 Baum, Gerhard  175 Beauvoir, Simone de  144 Bebel, August  200 Becker, Jillian  158 Behrendt, Uwe  174 Ben Bella, Ahmed  140 Benz, Wolfgang  166, 169 Bewegung 2. Juni  180 Biedenkopf, Kurt  185 Bin Laden, Osama  209, 211 Bismarck, Otto von  70, 78, 105, 112, 187 Blanqui, Louis Auguste  100

Blasius, Dirk  27 f., 78 Bock, Andreas  26 Böll, Heinrich  76, 184 Bois, Louis du  87 Bollardière, Jacques Pâris de  144 Borcke, Astrid von  110 Botsch, Gideon  167, 172 Bouhired, Djamila  143 f. Brachvogel, Carry  95 Brandt, Willy  168, 175, 185 Brousse, Paul  101 f., 105 Brunner, José  30 Brunner, Otto  56 Brutus, Marcus Iunius Caepio  81, 91, 94 f. Buback, Siegfried  148 Büchner, Luise  93 Buddenberg, Wolfgang  148 Bührmann, Andrea D. 34 Bulst, Neithard  29 Buzan, Barry  38 Carnot, Marie François Sadi  97 Cánovas del Castillo, Antonio  97 Carlson, Andrew R.  100, 105, 112 Cäsar, Gaius Julius  81, 91, 94 Cato, Marcus Porcius  91 Celikates, Robin  73 Chabot, François  84 Chaussy, Ulrich  174 Chesterton, Giles Keith  43 Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU)  74 f., 146, 175 f., 185 Christlich Soziale Union in Bayern (CSU) 175–177 Compte, Marie le  197 Conze, Eckart  41 f. Conze, Werner  40, 56

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Personen- und Organisationsregister

Corday, Charlotte  11 f., 60, 81–91, 93–96, 179, 187, 196, 201, 203 f., 208 Courtin, Carl  92 Crenshaw, Martha  211 Curtin, Philip  132 D’Arc, Jeanne  204 Daase, Christopher  32, 46 Danton, Georges Jacques  82 Davis, Belinda  159 Gaulle, Charles de  140 f. Graaf, Beatrice de  43 f. Deutsche Demokratische Partei (DDP)  119 Deutsche Kommunistische Partei (DKP)  170 Deutsche Volkspartei (DVP) 119 Deutschen Aktionsgruppen (DA)  171 f. Dietrich, Werner  174 Dietze, Carola  59 Dinges, Martin  32 Dutschke, Rudi  159, 167, 170, 182 Ebert, Friedrich  115 Eckhardt, Hans  148 Ehrhardt, Hermann  120 f., 123–126 Elias, Norbert  67, 129, 156 Elisabeth, Kaiserin von Österreich  97 Elser, Georg  71 Elter, Andreas  180 Ensslin, Gudrun  147–149, 153, 205 Enzmann, Birgit  16, 18 Eppler, Ehrhard  19 Erdmann, Karl Dietrich  114 Erzberger, Matthias  122–124, 187, 188 Ethniki Organosis Kyprion (EOKA)  135–138 Ethniki Rizospastiki Enosis Kyprou (EREK) 135 Euskadi Ta Askatasuna (ETA)  61, 210 Everling, Friedrich  117 Faas, August  199 Faber, Karl Georg  20, 23 Follen, Karl  86 Fouqué, Caroline Philippine de la Motte  91

Freie Demokratische Partei (FDP) 167, 175 f. Frick, Wilhelm  118 Fries, Jakob Friedrich  86 Fritze, Lothar  71 Fröhlich, Manuel  39 Fromm, Rainer  177 Front de Libération Nationale (FLN)  140–143, 211 Furet, François  88 Gailus, Manfred  23 f. Galtung, Johann  16 f. Gareis, Karl  122 Gebhardt, Cord  123 Geifman, Anna  110 Gilcher-Holtey, Ingrid  29, 160 Glaab, Sonja  178 Glotz, Peter  75 Godunow, Boris, Zar von Russland  108 Goebbels, Joseph  167 Gollwitzer, Helmut  76, 158 Graef, Walther  189 Grässle-Münscher, Josef  26 Greiner, Bernd  80 Grimm, Dieter  65, 68 Grivas, Georgios (Dighenis)  136, 211 f. Grob-Fitzgibbon, Benjamin  138 Groener, Wilhelm  115 Gumbel, Emil Julius  116 Gusy, Christoph  36 f., 187, 190 Habermas, Jürgen  72 Hardegger, Margarethe  199 Haupt, Heinz-Gerhard  29, 152 Heinzen, Karl  51, 100 f. Heitmeyer, Wilhelm  166 Hepp, Odfried  174 Hepp-Kexel-Gruppe 174 Herbert, Ulrich  155 f. Herold, Horst  157 Herzog, Roman  75 Hildebrand, Dieter  76 Hindenburg, Paul von  114, 117 Hirschfeld, Gerhard  27 Hitler, Adolf  50, 71, 115, 126, 157 f., 169

Personen- und Organisationsregister

Hitlerjugend 119 Hödel, Max  105 Hoffmann, Alfred  121 Hoffmann, Karl-Heinz  168, 172–177 Hofstätter, Peter  182 Hohnhorst, Levin Karl  92 Höllein, Emil  118 Holofernes (AT) 95 Horchem, Hans Josef  25 Husmann, Dagmar  186

Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch  100 Krüger, Gabriele  125 Krumpach, Robert  25 Kunz, Karl-Ludwig  31 Kurras, Karl-Heinz  153

Jarcke, Carl Ernst  207 Jaschke, Hans-Gerd  165 Jean Paul (Jean Paul Friedrich Richter)  11, 84, 91, 179 Jongman, Albert  55, 84 f., 87 Jouhaud, Edmond Jules René  144 Judith (AT)  91, 95

Lamartine, Alphonse  87 f., 95 Lammert, Markus  44 Landauer, Gustav  199 Langguth, Gerd  146, 159 Laqueur, Walter  25, 51, 96 Laufs, Paul  74 Lemmes, Fabian  112 Levin, Shlomo  174 Liman, Paul  108 Lindenberger, Thomas  29 Lindner, Ulrike  132 Linse, Ulrich  100, 108 f., 198 Lochte, Christian  205 Lombroso, Cesare  95, 109, 204 Losch, Jakob  199 Lösche, Peter  99 Lucheni, Luigi  97 Luden, Heinrich  86 Lüdtke, Alf  29 Lux, Adam  91

Kämpfende kommunistische Zellen (Cellules Communistes Combat­ tantes) 146 Kapp, Wolfgang  70 f., 115, 121–123, 126 Kaufmann, Franz-Xaver  33, 40 Kershaw, Ian  71 Kestenholz, Salomé  204 Killinger, Manfred von  121, 123 Knauss, Sybille  93 Koch-Weser, Erich  119 Köhler, Gundolf  174, 176, 177 Kolb, Eberhard  114 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)  70, 117–119 Koselleck, Reinhart  56 Kotzebue August von  12, 51, 58, 60, 81, 83 f., 86, 89 f., 92 f., 179 Kowalsky, Wolfgang  162 Kraushaar, Wolfgang  151, 159 Krichbaum, Wilhelm  124 f.

MacDonald, Eileen  206 Mackay, John Henry  199 Mahler, Horst  180 Makarios III ., Erzbischof von Zypern  136 Malatesta, Errico  197 Mannheim, Karl  154 Marat, Jean Paul  12, 60, 81 f., 84, 88, 90, 179, 204 Marcuse, Herbert  156 Marx, Karl  20, 98, 160 Meins, Holger  45, 149 Mendès-France, Pierre  141 Mesenzow, Nikolai Wladimiro­w itsch  97 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 89 Meyer, Horst Ludwig  149 Michel, Louise  197 Michelet, Jules  88, 95, 202 f.

Imbusch, Peter  15 Irgun (Nationale Militärorganisation) 62 Irish Republican Army (IRA)  61, 210 Isensee, Josef  35 f. Islamischer Staat (IS)  9, 54, 181, 209, 211, 213

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Personen- und Organisationsregister

Mitterrand, François  141 Mlada Bosna (Junges Bosnien)  61 Mollenhauer, David  140 Mommsen, Wolfgang  27 Most, Johannes  100, 102–105, 180, 198 Mühsam, Erich  199 Müller, Karl Alexander von  89 Müller, Miriam  211 Münkler, Heribert  212 Murdoch, Rupert  182 Musolff, Andreas  183

Peroskaja, Sofja Lwowna  95 Peukert, Detlev  128 Pfahl-Traughber, Armin  55, 173 f. Philip, André  144 Picasso, Pablo  144 Pius IX ., Papst  70 Ponto, Jürgen  148, 157 Popitz, Heinrich  16–18 Princip, Gavrilo  61 Proll, Thorwald  147 f. Puschkin, Alexander Sergejewitsch  94

Napoleon I., Kaiser von Frankreich  83 Napoleon III ., Kaiser von Frankreich 97 Narodnaja Volja  106, 110 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 172 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 117–119, 124, 127, 167, 170, 181 Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)  43, 174 Naumann, Werner  167 Nechaev, Sergei  104, 111, 196 Ness, Cindy D.  193 Nettelbeck, Uwe  147 Nicolai, Carl  92 Nobiling, Karl Eduard  105 Nollau, Günther  25, 206 Nolte, Ernst  126

Raspe, Jan-Carl  149 Rathenau, Walther  120, 122, 125, 187–189 Ravachol (François Claudius Koënigstein)  106, 110 Rawls, John  71 Reck-Malleczewn Friedrich  204 Reichardt, Sven  69, 127 Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold  119 f. Reinsdorf, August  105, 198 f. Renken, Frank  142 Requate, Jörg  59, 152 Richet, Denis  88 Robespierre, Maximilien de  56, 82, 85 Rote Armee Faktion  146, 201 Rote Armee Fraktion (RAF)  13, 28–30, 45, 47 f., 62, 146–153, 156–161, 171, 180, 182 f., 185 f., 196, 200, 205, 210 Rote Brigaden (Brigate Rosse)  62, 148 Rote Zora  201 Rotfrontkämpferbund 119 Rothschild, Emma  41 Rousseau, Jean-Jacques  202 Roy, Jules  144

Ohnesorg, Benno  153 Oken, Lorenz  86 Organisation Consul (O. C.)  61, 120–126 Orsini, Felice  95, 97 Osterhammel, Jürgen  130, 132 Paczensky, Susanne von  206 Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO)  173, 210 Papen, Franz von  114 Passannante, Giovanni  102 Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) 181

Sabrow, Martin  120 f., 125 Sachs, Fritz  32 Sagan, Françoise  144 Sand, Karl Ludwig  12, 51, 58, 60, 81–87, 89, 91–96, 179, 187, 196, 203, 207 f. Sassulitsch, Wera  97 Sartorius, Christian  86 Scharf, Kurt, Bischof  158 Scheidemann, Philipp  122

Personen- und Organisationsregister

Scheiper, Stephan  44 Schelm, Petra  148, 157 Scheuch, Erwin K.  206 Schleicher, Kurt von  114 Schleyer, Hanns Martin  79, 148, 180 f., 190 Schlöndorff, Volker  76 Schmid, Alex P.  55 f., 84 f., 87 Schmidt, Helmut  176 Schroeder, Wolfgang  162 Schubert, Frank  171 f. Schulz, Heinrich  123 Schulze Wessel, Martin  30 Schumann, Dirk  28 f., 114, 127, 128 Schutzstaffel (SS)  119, 167 Scott, Joan  194 Silberschmidt, Ernst Hermann  189 Sjoberg, Laura  194 Soboul, Alber  88 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)  70, 75, 119, 122, 158, 173, 175 f., 185, 189 Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) 108 Sozialistische Reichspartei (SRP) 167 Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS)  147, 153, 170, 182 Spranger, Carl-Dieter  176 Springer, Axel  148, 181 f., 184 Stahlhelm 119 Steinseifer, Martin  191 Stourdza, Alexander  83 Straßner, Alexander  146 Strauß, Franz Josef  175 f. Sturmabteilung (SA)  119, 124 f. Tandler, Gerold  176 Thomas, Martin C.  143 Tigers of Tamil Eelam (Tamil Tigers)  194 Tillessen, Heinrich  123 f.

Trepow, Alexander Fjodorowitsch  97 Trotha, Trutz von  67 Umberto I., König von Italien  97, 102 Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) 70, 122 Union démocratique du manifeste algérien (UDMA) 139 Vergniaud, Pierre Victurnien  95 Volkmann, Heinrich  23 Volkov, Shulamit  129 Voss, Johann Heinrich  84 Wæver, Ole  38 Wagner, Joachim  26, 109, 111 Waldmann, Peter  26, 59 Walther, Rudolf  56 Walzer, Sarah  9 Weathermen  62, 146 Weber, Reinhold  76 Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG)  168, 172–177 Weinhauer, Klaus  59, 79, 152 Weisbrod, Bernd  69, 128 Wels, Otto  70 Westphalen, Christine  91 Wieland, Christoph Martin  91 Wiking-Jugend (WJ)  124, 167 Winkler, Willi  150 Wirsching, Andreas  126 f. Wirth, Hans-Jürgen  156 Wirth, Josef  189 Wittels, Fritz  205 Wunschik, Tobias  150 Zepp, Marianne  30 Zetkin, Klara  200 Zwierlein, Cornel  46

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