218 66 2MB
German Pages 598 Year 2003
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London
Publications of the German Historical Institute London
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Herausgegeben von Hagen Schulze Band 54
Publications of the German Historical Institute London Edited by Hagen Schulze Volume 54
R. Oldenbourg Verlag München 2003
Nikolaus Braun
Terrorismus und Freiheitskampf Gewalt, Propaganda und politische Strategie im Irischen Bürgerkrieg 1922/23
R. Oldenbourg Verlag München 2003
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Geppert, Dominik: Thatchers konservative Revolution : der Richtungswandel der britischen Tories 1975 1979 / Dominik Geppert. - München : Oldenbourg, 2002 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London ; Bd. 53) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2000
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© 2003 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München ISBN 3-486-56696-2
5
Inhaltsverzeichnis
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
A. EREIGNISGESCHICHTE: IRLAND 1912–1923 . . . . . . . . . . . .
37
B. BÜRGERKRIEG: URSACHEN UND HINTERGRÜNDE . . . . . . . .
47
I.
Piaras Beaslai und die „national unity“ . . . . . . . . . . . .
47
II. „Objektive“ Motive der revolutionären Elite? . . . . . . . .
52
1. Persönliche Rivalitäten und Machtkämpfe . . . . 2. Sozio-ökonomische Konflikte . . . . . . . . . . 3. Andere soziale Parameter: Alter, Exil, Religion, Geschlecht, Region, Bildung . . . . . . . . . . . 4. Militärs kontra Zivilisten? . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . .
54 58
. . . . . . . . . .
75 77
III. Die politische Kultur der irischen Revolution . . . . . . . .
82
1. Die Erfinder des radikalen Nationalismus . . . . . . 2. Die Konstruktion des radikalen Nationalismus . . . 3. „Heroic tale“: die Eigendynamik der revolutionären politischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Republic“: Glaube oder Schlagwort? . . . . . . . . 5. Politische Kultur und Vertragsspaltung . . . . . . .
. . . . . .
83 87
. . . . . . . . .
104 109 122
C. ESKALATION: BIS ZUM AUSBRUCH DES BÜRGERKRIEGES . . . . .
137
I.
Rahmenbedingungen und Organisation von Propaganda . .
137
1. Die Presse Irlands um 1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Propaganda Department im Unabhängigkeitskrieg . 3. Die Organisation der Propaganda Anfang 1922 . . . . . .
137 143 146
II. „The Republic“ und Realpolitik . . . . . . . . . . . . . . . .
154
1. Republikanische Handlungskrise . . . . . . . . . . . . . . 2. Freistaatliche Legitimationskrise . . . . . . . . . . . . . .
156 159
6
Inhaltsverzeichnis
III. „Majority rule“, „liberal rights“ und „the Republic“ . . . .
172
1. Freistaat: „majority rule“ als nationaler Wert . . . . . . . 2. Republikaner: Politiker, Militärs und „majority rule“ . . 3. Anschläge der IRA auf die Presse. . . . . . . . . . . . . .
172 175 180
IV. „National unity“ oder Konfrontation? . . . . . . . . . . . .
191
1. 2. 3. 4.
. . . .
191 195 198 202
D. MILITÄRISCHE UND SYMBOLISCHE KONFRONTATION: DER OFFENE KRIEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
209
I.
Rhetorik der Konfrontation. . . . . . . . . . . . . . „National unity“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Collins-de-Valera-Pakt: Hoffen und Taktieren . Tabubruch: der Ausbruch des Bürgerkrieges . . . .
. . . .
. . . .
Organisation von Propaganda und Zensur . . . . . . . . . .
210
1. Republikanische Propaganda und Zensur . . . . . . . . . 2. Freistaatliche Propaganda, Pressekontrolle und Zensur. .
210 217
II. Der Umgang mit der Zensur: optimale Kontrolle oder unauffällige Manipulation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
1. Republikanische Zensur: Pressefreiheit und „historical truth“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vertragsbefürworter: taktischer Umgang mit Zensur und Propaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231 234
III. Legitimation eines Tabubruchs: Brudermord, Rebellion oder Freiheitskrieg?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
245
1. Revolte gegen die nationale Regierung . . . . . . . . . . . 2. Revolutionäre Kontinuität: Freiheitskrieg . . . . . . . . .
246 259
E. FREISTAAT ZWISCHEN NORMALITÄT UND ZWANGSMASSNAHMEN: SEPTEMBER/OKTOBER 1922 . . . . . . . . . . . .
275
I.
„Rückkehr zur Normalität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
II. Organisation von Propaganda und Zensur . . . . . . . . . .
278
1. Freistaatliche Pressekontrolle und Propaganda . . . . . . 2. Republikanische Propaganda zwischen Drohpolitik und Untergrund-Publicity . . . . . . . . . . . . . . . . .
278 293
7
Inhaltsverzeichnis
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda . .
301
1. Public Safety Act und Amnestie . . . . . . . . . . . . . . 2. Das katholische Argument . . . . . . . . . . . . . . . . .
301 305
F. VERBITTERUNG: DIE LETZTE PHASE DES BÜRGERKRIEGES . . . .
323
I.
„They who can suffer most will conquer“: republikanische Martyrologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Leiden und Opfertod als republikanische Tugenden 2. Die Hinrichtung Erskine Childers . . . . . . . . . . 3. Zwangsmaßnahmen und nationale Legitimität: Staatsterror, Exekutionen, Greueltaten . . . . . . . . 4. Hungerstreik und Geschlechterkonzepte . . . . . .
323
. . . . . .
324 339
. . . . . .
370 387
II. Realpolitik? Sozialrevolutionäre Dynamik, Terror und pragmatische Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
399
1. Sozialistische Republikaner und republikanische Sozialisten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. IRA: die Sprache der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eamon de Valera in der Zwangsjacke von „the Republic“
400 410 417
III. Pragmatismus und die Konstruktion freistaatlicher Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
440
1. „Staat“: souveräne Nation oder Demontage der Republik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Symbolische Konstruktion nationaler Souveränität . . . . 3. Gälisch sprechen – irisch sein . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Außenpolitik, Innenpolitik und das Herstellen nationaler Legitimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Pressepolitik zwischen Druck und Manipulation . . . . . 6. „Staat“ als neues Dogma . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
G. VERHÄRTETE FRONTEN: NACH DEM BÜRGERKRIEG . . . . . . . I.
442 447 468 472 479 487
491
Wahlkampf: Organisation und rhetorische Strategie . . . . .
491
1. Organisation der Freistaatspropaganda. . . . . . . . . . . 2. Republikaner: zwischen „the Republic“ und „practical politics“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Symbolische Auflehnung und das Charisma de Valeras . .
491 493 501
8
Inhaltsverzeichnis
II. Bevölkerung und Bürgerkrieg: handfeste Interessen und Fiktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
507
III. Der Massenhungerstreik und das Ende der magischen Improvisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
518
Schluß: Irischer Nationalismus – „a dead horse“? . . . . . . . . . . .
535
H. ANHANG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
549
I.
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
549
II. Organisation von Propaganda und Pressekontrolle der Vertragsbefürworter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
555
III. Abkürzungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
556
IV. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
558
1. Quellenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitgenössische Werke und Forschungsliteratur. . . . . .
558 563
Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
590
VI. Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
593
V.
Vorwort
9
VORWORT Dies ist ein Buch über die Fakten des Irischen Bürgerkrieges: Machtpolitische Entscheidungen, soziale Konflikte, Exekutionen, Greueltaten . . . Ebenso ist es ein Buch über Fiktionen: Symbole, Geschichten, Lieder, Normen . . . Genauer: Es ist ein Buch darüber, wie sich im Bürgerkrieg Fakten und Fiktionen gegenseitig beeinflussten, ineinander verschwammen und miteinander verschmolzen. Passend genug begann meine Forschung – wenn nicht mit einer Fälschung – so doch mit einem bewußten Akt von „faction“, einem mutwilligen Montieren und Zitieren des Genres „Forschungsprojekt“: Als ich mich 1992 beim DAAD um ein Auslandsstipendium bewarb, transferierte ich einen Fragenkatalog eines soeben besuchten Seminars zur deutschen Presse 1848 auf die irische Revolution 1916–23. Daß es so eine Revolution gegeben hatte, hatte ich zuvor dem dtv-Brockhaus entnommen. Mein erster Dank gilt daher dem DAAD sowie dem Irish Department of Education, die mich 1993/94 durch ein großzügiges Jahresstipendium sowie 1996 durch ein weiteres Auslandsstipendium unterstützt haben. Folglich bedanke ich mich als nächstes beim Deutschen Historischen Institut London, das durch die Aufnahme meines Buches in diese Reihe mein „faktionales“ Verfahren nachträglich gerechtfertigt hat und mir eine große persönliche Freude bereitet hat. Inhaltliche und methodische Impulse verdanke ich: David Fitzpatrick, Wolfram Siemann und vor allem Eckhart Hellmuth und seinem Oberseminar, das mich als erstes mit dem „Kulturalismus“ infiziert hat: „Professor“ Sippel, Christoph von Ehrenstein, Tommy Nutz, Bettina Dietz, Florian Maurice. Genaue Beobachter, offene Kritiker und sorgfältige Korrektoren des Manuskriptes waren: Friedrich Rehberg, Matthias Schwaiger, Lothar Kettenacker, Jane Rafferty, mein Bruder Stefan sowie mein Vater Oswald. Ein besonderer Dank gilt Carmen Asshoff, die sich leichtsinnigerweise bereit erklärt hatte, meine Fußnoten zu korrigieren und Desi Grote für das Zeichnen der Karte. Daß das Genre den Inhalt bestimmt, zeigt sich auch bei einem ritualisierten Text wie einem Vorwort: Und so enden die Vorworte männlicher Autoren meist mit einem Dank an Frau und Kinder. Auch in diesem Fall vermischen sich Fakt und Fiktion, stellt ein Text Sinn für vergangene Opfer her: Liebe Cornelie, lieber Lukas, ihr habt mir am meisten geholfen und ihr habt am meisten unter dieser Arbeit gelitten. Lieber Philipp sei dankbar, daß du nie einen Papa erlebt hast, der „auf dem Speicher arbeitet“.
10
Vorwort
EDITORISCHE NOTIZ ZU DEN VERWENDETEN TERMINI:
Über weite Passagen beschäftigt sich dieses Buch mit politischer Terminologie und damit, wie diese Terminologie Legitimität vermittelt. Doch auch es selbst kommt nicht umhin, Termini zu verwenden, die automatisch Wertungen implizieren. Ich habe mich entschlossen, die Bürgerkriegspartei, die den anglo-irischen Vertrag, den „treaty“, bekämpfte, mit dem von ihr selbst gewählten Etikett als „Republikaner“ oder als „Vertragsgegner“ zu benennen. Um Verwechslungen zu vermeiden, verwende ich die Bezeichnung „IRA“ für die Zeit nach März 1922 ausschließlich für die republikanische Seite, auch wenn sich zunächst noch beide Armeen als die „Irish Republican Army“ verstanden. Die Befürworter des anglo-irischen Vertrages bezeichne ich als „Freistaatler“, „Freistaatstruppen“ oder „Vertragsbefürworter“. Dazu passend habe ich die englischen Termini „pro-Treaty“ und „antiTreaty“ übersetzt und verwende im Text „vertragsablehnend“ und „vertragsbefürwortend“. Für die Spaltung der revolutionären Bewegung nach dem anglo-irischen Vertrag, also den „treaty split“ habe ich den Terminus „Vertragsspaltung“ erfunden. Den anglo-irischen Vertrag nenne ich meist kurz Vertrag. So möchte ich unschöne Häufungen von Anglizismen in Grenzen halten. Diese Termini sind keineswegs neutral, legen teilweise eine republikanische Lesart des Konfliktes näher als eine freistaatliche; dennoch scheinen sie mir neutraler als die von der freistaatlichen Zensur verordneten Kunstbegriffe wie „Irregulars“ oder „National Government“. Gerade die Begriffe „Republikaner“ und „IRA“ bergen noch eine weitere Gefahr. Republikaner bedeutet im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts etwas anderes als etwa im amerikanischen Kontext. Auch im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Nordirlandkonflikt heißt „Republikaner“ nicht dasselbe wie im Irland des Jahres 1922. Das gilt noch mehr für den Ausdruck „IRA“. Um sich den Zugang zum irischen Bürgerkrieg nicht zu verstellen, sollte man all diese Bedeutungen zumindest zeitweise vergessen. Ich habe mich bemüht, englische und irische Termini nicht inflationär zu verwenden; dennoch haben fremdsprachige Ausdrücke einen großen Vorteil. Sie verhindern das eben am Beispiel „Republikaner“ demonstrierte Wiedererkennen von nur vermeintlich Gleichem. Deshalb verwende ich da, wo es um komplexe Denkkonzepte geht, meist englische Begriffe in Anführungszeichen. Das gilt teilweise auch für historiographische Fachausdrücke: So habe ich etwa einen so schillernden und ambivalenten Terminus wie „Bürgertum“ durch Begriffe der irischen Sozialgeschichte und Politikwissenschaft wie „Petite Bourgeoisie“, „Bourgeoisie Proper“ oder Mittelklasse
Vorwort
11
ersetzt. In dem Maße, wie diese Termini verfremden und befremden, halten sie die Erinnerung wach, daß man sich stets neu auf die Parameter einer anderen Kultur einlassen muß.
12
Vorwort
Einleitung
13
EINLEITUNG Am 2. Juli 1922, nur wenige Tage nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges, erklärte das radikale republikanische Untergrundblatt Plain People seinen wenigen Lesern: The fight of the IRA is a resumption of the war that has gone on since 1916, a continuation of the war that has extended over seven and a half centuries; the war of defence of the Irish Nation against a foreign usurping invader.1
Auf der gegnerischen Seite argumentierte das freistaatliche Blatt Young Ireland fast identisch, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen: You will see that Collins stands where Tone, O’Connell, Mitchel, Parnell and Casement stood. And that the enemies stand where Strongbow, Elizabeth, Cromwell, Orange William, Pitt and Carson stood.2
Die Propagandisten beider Seiten rechtfertigten gegenüber ihren Lesern so, was für fast alle nationalistisch denkenden Zeitgenossen ein Trauma war: Die noch vor sechs Monaten homogen erscheinende revolutionäre Bewegung war nach dem Kompromiß mit England so endgültig zerbrochen, daß ehemalige Kameraden aufeinander schossen, erst halbherzig, dann zunehmend verbitterter. Die „Freistaatler“, also diejenigen Revolutionäre, die bereit gewesen waren, den anglo-irischen Vertrag zu unterschreiben, bekämpften nun die „Republikaner“, die den Vertrag mit England abgelehnt hatten. Young Ireland und Plain People betteten in ihren Propagandaartikeln den Bürgerkrieg in denselben Kontext ein, einen Kontext, der das Unerklärliche erklärte, ihm vielleicht sogar eine historische Notwendigkeit zuschrieb. Die Propagandisten der jeweiligen Seiten versuchten damit, die vermutlich älteste Frage zum Bürgerkrieg zugunsten ihrer Partei zu beantworten: Wer 1 2
PLAIN PEOPLE, 2. Juli 1922, S. 2. YOUNG IRELAND, 29. Juli 1922, S. 1; Theobald Wolfe Tone (1763–1798), Anführer der Revolution 1798; Daniel O’Connell (1775–1847), Führer der Bewegung für Katholikenemanzipation und der Bewegung für die Rücknahme der Union mit England; John Mitchel (1815–1875), Young Irelander, nationalistischer Journalist und Verschwörer; Charles Stewart Parnell (1846–1891), Führer der frühen Home Rule-Bewegung; Sir Roger Casement (1864–1916), britischer Diplomat und nationalistischer Verschwörer; Strongbow, i.e. Richard FitzGilbert († 1176), erster britischer „Eroberer“ Irlands; Elisabeth I (1533–1603), britische Königin; Oliver Cromwell (1600–1658), britischer Revolutionär; Orange William, i.e. William III (1650–1702), ab 1688 britischer König; William Pitt (1759–1806), britischer Premierminister; Sir Edward Carson (1854–1935), Unionistenführer; siehe Einträge in: SEAN J. CONNOLLY (Hrsg.), The Oxford Companion to Irish History. Oxford 1998; CHARLES ARNOLDBAKER (Hrsg.), The Companion to British History. Turnbridge 1996.
14
Einleitung
oder was war schuld an diesem Trauma, das lange die irische Gesellschaft prägte, teilweise heute noch prägt?3 Oder etwas abstrakter gefragt: Welche Ursachen hatte der Bürgerkrieg? Diese Fragestellung versuche ich im ersten Teil des Buches zu klären. Dabei suche ich, wie die zeitgenössischen Propagandisten, nach historischen Erklärungsmustern, auch wenn ich keine Geschichtsgesetze für die letzten 750 Jahre entdecken konnte. Ein zweiter Teil meines Buches setzt sich mit dem Bürgerkrieg selbst auseinander. Auch hier beschäftige ich mich mit Propagandablättern wie Young Ireland und Plain People und mit den von ihnen verbreiteten Thesen. Doch diesmal versuche ich nicht mehr, die von den Propagandisten aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Statt dessen erzähle ich, wie die konkurrierenden Lager ihre Propagandabehörden organisierten, und ich untersuche, was für Geschichten sie erzählten, mit welchen Legitimationsstrategien sie versuchten, die Bevölkerung und sich selbst von ihrer Politik zu überzeugen. Die Fragen nach der Organisation und nach dem Inhalt von Propaganda im Bürgerkrieg bilden dabei ein Gerüst, an dem entlang ich versuche, die „Spielregeln“, die politische Kultur des Bürgerkrieges, zu erklären. Mein Buch, insbesondere der Teil zu den Ursachen und Hintergründen des Bürgerkrieges, kann an vielen Stellen auf die Ergebnisse der bestehenden Forschung zurückgreifen. Die irische Geschichts- und Politikwissenschaft hat den irischen Nationalismus des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gut erforscht. Eine Reihe von Überblickswerken prominenter Autoren hat die irische Revolution und den irischen Nationalismus in einen breiten historischen Kontext eingebunden.4 Tom Garvin hat in seinem grundlegenden Buch „Nationalist Revolutionaries“ die soziale Herkunft der Revolutionäre, ihre politische Sozialisation sowie ihre intellektuelle Prägung analysiert.5 Andere Historiker wie Charles Greaves, Arthur Mitchell und Emmet O’Connor haben den irischen Sozialismus und sein Verhältnis zum Nationalismus untersucht.6 Für Patrick Pearse und den Aufstand 1916 grundle-
3
4
5 6
Irland ist das einzige Land in der Europäischen Union, dessen politisches Spektrum nicht in eine sozialdemokratische und eine konservative Partei geteilt ist. Fianna Fail und Fine Gael, die beiden größten Parteien Irlands, sind beide wertkonservativ, national und katholisch. Fianna Fail versteht sich als Nachfolgerin der vertragsablehnenden Tradition, Fine Gael als Nachfolgerin der vertragsbefürwortenden Tradition. DAVID GEORGE BOYCE, Nationalism in Ireland. 2. Aufl. London 1991; JOSEPH J. LEE, Ireland, 1912–1985: Politics and Society. Cambridge 1989; ROY FOSTER, Modern Ireland, 1600–1972. London 1988. TOM GARVIN, Nationalist Revolutionaries in Ireland, 1858–1928. Oxford 1987. ARTHUR MITCHELL, Labour and the National Struggle, 1919–1921, in: CAPUCHIN ANNUAL, 38, (1971), S. 261–88; ERHARD RUMPF und ARTHUR C. HEPBURN, Nationalism and Socialism in Twentieth-Century Ireland. London 1977; MICHAEL LAFFAN, ‚Labour must
Einleitung
15
gend bleibt Ruth Dudley Edwards „Triumph of Failure“, für den Unabhängigkeitskrieg Charles Townshends „British Campaign“ und aus provinzieller Perspektive David Fitzpatricks „Politics and Irish Life“.7 Dazu kommt ein Reihe von qualitativ sehr unterschiedlichen Biographien über einzelne Akteure. Darunter waren für mich am hilfreichsten Maryann Valiulis „Richard Mulcahy“ und Richard Englishs Arbeiten zu Ernie O’Malley.8 Im dem Teil des Buches, der sich mit der Propaganda während des Bürgerkrieges beschäftigt, stütze ich mich hauptsächlich auf Quellen, die ich in manchen Passagen häufiger als allgemein üblich zitiert habe: nicht weil sie angeblich für sich selbst sprechen, sondern weil dies auch ein Buch über das politische Vokabular der Zeit ist. Ich habe dabei nicht nur auf Propagandablätter, Pamphlete, Karikaturen und Lieder zurückgegriffen, sondern auch auf Briefwechsel und Ministerialakten. Dabei konnte ich auch Material verwenden, das bisher völlig oder weitgehend ungenutzt geblieben ist, etwa die Akten der freistaatlichen Zensurbehörde.9 Über private und interne Äußerungen in den Briefwechseln und Akten versuche ich, das in der offiziellen Propaganda verbreitete Bild zu differenzieren: Was war an der Propaganda nur kalkulierte Lüge und Täuschung, was offener Meinungskampf und was Grundlage der politischen Überzeugung?10 Diese Differenzierung ist nicht immer einfach, da die Grenzen der Genres verschwimmen: Vor einer Hinrichtung war der letzte private Brief an Mutter, Schwester oder Frau immer auch kalkulierte Propaganda; ein polemischer Propagandaartikel konnte dagegen gleichzeitig ein privates,
7
8
9 10
wait.‘ In: PATRICK J. CORISH (Hrsg.), Radicals, Rebels and Establishment (= Historical Studies, 15). Dublin 1985, S. 203–22; EMMET O’CONNOR, Syndicalism in Ireland 1917–1923. Cork 1990; CONNOR KOSTICK, Revolution in Ireland, Popular Militancy, 1917–1923. London 1996. RUTH DUDLEY EDWARDS, Patrick Pearse: The Triumph of Failure. London 1977; CHARLES TOWNSHEND, The British Campaign in Ireland 1919–1921: The Development of Political and Military Policies. Oxford 1975; DAVID FITZPATRICK, Politics and Irish Life, 1913–1921. Provincial Experience of War and Revolution. Dublin 1977. MARYANN GIALANELLA VALIULIS, Potrait of a Revolutionary. General Mulcahy and the Founding of the Irish Free State. Blackrock 1992; RICHARD ENGLISH, Ernie O’Malley. IRA Intellectual. London 1998; ders., ‚The Inborn Hate of Things English‘. Ernie O’Malley and the Irish Revolution 1916–1923, in: Past & Present, 151, (1996), S. 174–99; ders., Green on Red: Two Case Studies in Early Twentieth-Century Irish Republican Thought, in: DAVID GEORGE BOYCE, ROBERT ECCLESHALL, VINCENT GEOGHEGAN (Hrsg.), Political Thought in Ireland since the Seventeenth Century. London 1993, S. 161–89. National Library of Ireland, Piaras Beaslai Papers (NLI, BP), box 6. Vgl. GABRIELLE M. SPIEGEL, History, Historicism, and the Social Logic of the Text in the Middle Ages, in: Speculum, 65, (1990), S. 59–86, hier: S. 83–5; insbes. S. 83; LYNN HUNT, Introduction: History, Culture, Text, in: dies. (Hrsg.), The New Cultural History. Berkley 1989, S. 1–25, hier: S. 13.
16
Einleitung
taktisch wenig kalkuliertes Glaubensbekenntnis sein.11 Solange die beiden rivalisierenden Regierungen mehr improvisierten als funktionierten, unterschieden sich Ministerialakten häufig nicht von privaten Aufzeichnungen.12 Eine besonders problematische Quelle bilden die zahlreichen Autobiographien und autobiographisch informierten Berichte, die im nachhinein an den historischen Mythen weiterschrieben, sie umdeuteten oder untergruben.13 Doch gerade weil sie manipulierten, weil sie oft versuchten, den Bürgerkrieg im nachhinein propagandistisch zu gewinnen, erlauben sie einen neuen Blick auf das revolutionäre Denken. Sie brechen häufig die Stereotypen zeitgenössischer Erklärungsmuster auf. Das gilt ähnlich für die Aussagen derjenigen Zeitgenossen, die wie Irish Labour, Unionisten oder Briten nicht direkt in den Konflikt verwickelt waren. Auch sie verfälschten ihre Beobachtungen in ihrem Interesse – aber aus einer anderen Perspektive. Auch wenn die Quellenarbeit im zweiten Teil des Buches überwiegt, erlauben mir auch hier erst die Grundlagen der bestehenden Forschung, weiter, zumindest in eine andere Richtung als die der bisherigen Forschung zu blicken. Neben den oben zitierten Werken stütze ich mich auf eine Reihe von Autoren, die einmal mehr, einmal weniger ausführlich auch den Bürgerkrieg untersuchen: Ronan Fanning und Dermot Keogh zum Finanzund Außenministerium, Michael Laffan zur Teilung Irlands, Dermot Keogh zur katholischen Kirche, Charlotte Fallon zu den Hungerstreiks, Gerad Hayes-McCoy und George Zimmermann zu den nationalen Symbolen und Liedern, Virginia Glandone zur Propaganda und Beth McKillen, Charlotte Fallon und Margaret Ward zu den revolutionären Frauen.14 11
12 13
14
Siehe dazu: UTE DANIEL und WOLFRAM SIEMANN, Historische Dimensionen der Propaganda, in: Dies. (Hrsg.), Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung 1789–1989. Frankfurt 1994, S. 7–20, hier: S. 8–10, 12. Bestes Beispiel sind die Zensurunterlagen in: NLI, BP, box 6. DESMOND FITZGERALD, The Memoirs of Desmond FitzGerald, 1913–1916. London 1968; FRANK O’CONNOR, An Only Child. London 1958; ERNIE O’MALLEY, On Another Man’s Wound. London 1936; ders., The Singing Flame. Dublin 1978; SEAN O’FAOLAIN, Vive Moi! London 1964; FLORENCE O’DONOGHUE, No Other Law. Dublin 1954; PATRICK SARSFIELD O’HEGARTY, The Victory of Sinn Fein. Dublin 1924; LIAM DEASY, Brother against Brother; Dublin, Cork 1982; ROBERT BRENNAN, Allegiance. Dublin 1950; TOM BARRY, Guerilla Days in Ireland. Dublin 1949; JAMES J. WALSH, Recollections of a Rebel. Tralee 1944; DAN BREEN, My Fight for Irish Freedom. Dublin 1924; FRANK GALLAGHER, The Four Glorious Years. Dublin 1953; DOROTHY MACARDLE, The Irish Republic. A Documented Chronicle. London 1937; dies., Tragedies of Kerry 1922–23. Dublin 1924. RONAN FANNING, The Irish Department of Finance, 1922–1958. Dublin 1978; MICHAEL LAFFAN, The Partition of Ireland, 1911–1925. Dundalk 1983; DERMOT KEOGH, Ireland and Europe 1919–1989. A Diplomatic and Political History. Dublin 1990; ders., The Vatican, the Bishops, and the Irish Politics, 1919–1939. Cambridge 1986; ders., Ireland and the Vatican. The Politics and Diplomacy of Church-State Relations, 1922–1960. Cork 1995; CHAR-
Einleitung
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Am wichtigsten für dieses Buch sind die bisher fünf Gesamtdarstellungen zum Bürgerkrieg.15 Die frühen, weitgehend narrativ angelegten Werke – Eoin Neesons „The Civil War“ und Carlton Youngers „Ireland’s Civil War“ – haben leider kaum wissenschaftlichen Apparat. Sie sind, wenn sich ihre Darstellung auch als relativ zuverlässig erweist, eher Fundgruben für Anekdoten. Hellen Littons Buch zum Bürgerkrieg und der Textteil in dem von Tim Pat Coogan und George Morrison zum fünfundsiebzigjährigen Jubiläumsjahr herausgegebenen Photoband erschöpfen sich in einer auf der bisherigen Forschung basierenden populärhistorischen Ereignisgeschichte. Am weitesten führt Michael Hopkinsons 1988 erschienenes Standardwerk „Green against Green“. Doch so zuverlässig Hopkinsons detailgenaue Geschichte des militärischen Konflikts ist, auf dem Boden dieses faktographischen Ansatzes gelingen ihm zu wenig analytische Fragestellungen. Zu diesen Gesamtdarstellungen kommen das Werk von Joseph Curran über die Gründung des Irischen Freistaats, das detailliert die politische Ereignisgeschichte aufschlüsselt, sowie Tom Garvins jüngstes Werk „1922“, das die Geburt der irischen Demokratie in den Mittelpunkt der Untersuchung rückt.16 Diesen Werken gegenüber verschiebt sich mit der inhaltlichen Analyse von Propaganda und politischem Denken die Perspektive auf den Bürgerkrieg als solchen: Ich schreibe nicht über einen primär militärischen oder machtpolitischen, sondern über einen primär legitimatorischen Konflikt. In diesem Zusammenhang habe ich bereits von den „Spielregeln“ des Bürgerkrieges gesprochen. Dahinter stehen eine Reihe von methodischen Überlegungen, die ich hier kurz ausführen möchte, ohne ein umfassendes Theoriekonzept zu entwickeln.
LOTTE H. FALLON, Civil War Hungerstrikes, in: Eire/Ireland, XXII, 3, (1987), S. 75–91; GEORGE DENIS ZIMMERMANN, Irish Political Street Ballads and Rebel Songs, 1780–1900. Geneva 1966. GERAD ANTHONY HAYES-MCCOY, A History of Irish Flags from Earliest Times. Dublin 1979; PETER ALTER, Symbols of Irish Nationalism, in: Studia Hibernica, 14, (1974), S. 104–23. VIRGINIA GLANDONE, Arthur Griffith and the Advanced Nationalist Press. Ireland 1900–1922. New York 1985; MARGARET WARD, Maud Gonne. A Life.
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2. Aufl. London 1993; dies., Unmanagable Revolutionaries. Women and Irish Nationalism. Dingle 1983; CHARLOTTE H. FALLON, Soul of Fire. A Biography of Mary MacSwiney. Cork 1986; BETH MCKILLEN, Irish Feminism and Nationalist Separatism, 1914–1923, in: Eire/Ireland, XVII, 3, (1982), S. 53–67; XVII, 4, (1982), S. 72–90. EOIN NEESON, The Civil War, 1922–1923. Dublin 1966; CARLTON YOUNGER, Ireland’s Civil War. London 1968; MICHAEL HOPKINSON, Green against Green: The Irish Civil War. Dublin 1988; HELEN LITTON, The Irish Civil War. An Illustrated History. Dublin 1995; TIM PAT COOGAN und GEORGE MORRISON, The Irish Civil War. London 1998. JOSEPH MARONEY CURRAN, The Birth of the Irish Free State 1921–1923. Alabama 1980; TOM GARVIN, 1922: The Birth of Irish Democracy. Dublin 1996.
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Den ersten Teil des Buches beginne ich mit einem methodologischen Testlabor: Geleitet von der bestehenden Forschung habe ich methodisch unterschiedliche Erklärungsansätze ausprobiert, nicht mit dem Anspruch, eine verbindliche historische Methode zu entdecken, sondern allein mit dem Ziel, die Ursachen des Bürgerkrieges zu erklären. Ich frage zunächst politikgeschichtlich: Lagen machtpolitische Rivalitäten hinter dem Bürgerkrieg? Dann prüfe ich das Basis-Überbau-Theorem: Gab es verdeckte soziale Konflikte? Danach modifiziere ich den sozialhistorischen Ansatz: Beeinflußten Alter, Religion, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Region, Bildung oder Exil einzelne Akteure, sich im Bürgerkrieg auf die Seite der radikalen Republikaner oder der gemäßigten Freistaatler zu stellen? Wenn da ein Zusammenhang war, welcher? Schließlich verbinde ich sozial- und politikgeschichtliche Fragestellungen: Welche Rolle spielte die politische Sozialisation? Verursachte ein latenter, nun offen ausgebrochener Konflikt zwischen militärischem und politischem Flügel den Bürgerkrieg? Mit den so referierten politik- und sozialhistorischen Ergebnissen kann ich zwar die allgemeinen Rahmenbedingungen des Bürgerkrieges abstekken. Die Wehlerschen Kategorien Herrschaft und Ökonomie können jedoch, trotz ihrer unbestrittenen Tragweite im sozialhistorischen Kontext und trotz ihres offenbar universellen Erklärungsanspruchs, die Frage nach den Ursachen des dynamischen Konflikts „Bürgerkrieg“ nicht klären.17 Ich habe deshalb die Methode noch einmal ändern müssen, frage nach dem, was Lynn Hunt als „politische Kultur“ definiert. Ich suche nicht mehr nach einer Konfliktursache im Sinne eines kausalen Gesetzes, sondern vielmehr nach der inneren Logik der Auseinandersetzung.18 Im Mittelpunkt steht dabei aber nicht eine traditionelle Ideengeschichte, welche die geistigen Leistungen einiger prominenter Denker untersucht,19 sondern ein Blick auf die grundlegenden politischen Wertvorstellungen und Verhaltensnormen der
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HANS-ULRICH WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära, 1700–1815. München 1987, S. 6–12, insbes. S. 7; Auch wenn Wehler sich auf die deutsche Geschichte bezieht, impliziert sein Drei-Achsen-Modell einen allgemeinen methodischen Gültigkeitsanspruch. Sehr beeindruckt hat mich: GREG DENNING, Mr. Bligh’s Bad Language. Passion, Power and Theater on the Bounty. Cambridge 1992, S. 8: „The debate on why there was a mutiny on the Bounty has been long. Who can – who would want to – end it? Not I. I am a coward for causes but a professor for parables.“ Vgl. bereits Karl Mannheims Kritik an einer traditionellen Ideengeschichte, die die „passage from one thinker to another“ erzählt, in: KARL MANNHEIM, Conservative Thought, in: PAUL KEKSCEMETI (Hrsg.), Essays on Sociology and Social Psychology. London 1953, S. 74–164, hier: S. 74.
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Revolutionäre. „Politische Kultur“ nimmt das Denken der Revolutionäre ernst, wertet Fremdes und Irritierendes nicht pauschal als irrational ab.20 Wie Hunt beziehe auch ich mich auf Clifford Geertz’ semiotischen Kulturbegriff, definiere Kultur als ein die Welt deutendes und Realität erst verfügbar machendes Zeichen- und Kommunikationssytem.21 Erkennt man die realitätsschaffende Kraft der Sprache an, wird verständlich, warum die politische Kultur der irischen Revolution so wirkungsmächtig war, warum sie, an sozialen und ökonomischen „Realitäten“ vorbei, eine solche Eigendynamik entfalten konnte. Denn der semiotische Kulturbegriff hält Ökonomie und Herrschaft nicht für scheinbar präexistente Kategorien, die mit der Kultur um Einfluß auf den historischen Prozeß konkurrieren. Er erkennt sie als diskursive Formationen an, schließt sie als Teil dieses die Welt erklärenden Systems ein.22 Mit meinen theoretischen Grundannahmen gehe ich flexibel um, verbinde immer wieder verschiedene kultur- und sozialhistorische Theorieangebote: Im Vordergrund steht immer, wie ich meinen historischen Gegenstand erklären kann. Ich habe kein Interesse am Primat der Kulturge-
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LYNN HUNT, Politics, Culture and Class in the French Revolution. London 1984, hier: S. 10 f.; WILLIBALD STEINMETZ, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume, England 1780–1867 (= Sprache und Geschichte, Band 21). Stuttgart 1993, hier: S. 31. CLIFFORD GEERTZ, Dichte Beschreibung, Bemerkung zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 3. Aufl. Frankfurt 1994, S. 7–43, passim, insbes. S. 9. Geertz orientiert sich wiederum an Max Weber, vor allem an dessen Verständnis von „nomologischem Wissen“, siehe: MAX WEBER, Knies und das Irrationalitätsproblem (erstmals 1903–1906), in: JOHANNES WINCKELMANN (Hrsg.), Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3. Aufl. Tübingen 1968, S. 42–145, hier: S. 65–86; siehe Webers Verständnis von „nomolgischem Wissen“ bündig zusammengefaßt in: CHRISTIAN MEIER, Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988, S. 43–5; vgl. auch Karl Mannheims wissenssoziologisches Verständnis von „Denkstil“ in: MANNHEIM, Conservative Thought, S. 74–9. HUNT, Introduction, S. 7 bezeichnet vermeintlich universelle Kategorien wie „Staat“, „Medizin“, „Wahnsinn“ als „discoursive objects“; vgl. dies., Geschichte jenseits von Gesellschaftstheorie, in: CHRISTOPH CONRAD und MARTINA KESSEL (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zu einer aktuellen Diskussion. Stuttgart 1994, S. 98–122, hier: S. 102. In den Worten von ROGER CHARTIER: „The relationship thus established is not one of dependence of the mental structures on their material determinations. The representations of the social world themselves are the constituents of social reality.“ Ders., Intellectual History or Sociocultural History? The French Trajectories, in: DOMINICK LACAPRA und STEVEN L. KAPLAN, Modern European Intellectual History. Reappraisals and New Perspectives. London 1982, S. 13–46, hier: S. 30; vgl. G. STEDMAN JONES, Languages of Class. Studies in English Working Class History, 1832–1982. Cambridge 1983, S. 94, 101; vgl. auch: MICHEL FOUCAULT, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens (aus dem Französischen von Walter Seitter). München 1977, S. 83–109, hier: S. 83, 94.
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schichte oder der Reinheit einer historischen Theorie, deren Vorannahmen dann die Analyse des Bürgerkrieges blockieren. Gerade um einem so heterogenen und ambivalenten Gegenstand wie dem irischen Bürgerkrieg gerecht zu werden, eignet sich keine homogene Theorie, auch wenn sie scheinbar „Wissenschaftlichkeit“ herstellt. Wenn Geschichtswissenschaft das mühselige Bohren von dicken Brettern mit dünnen Bohrern ist, dann sollte man ab und zu den Bohrer wechseln oder von verschiedenen Seiten bohren – auch, wenn die Löcher danach nicht alle schön regelmäßig aussehen. So setze ich den unter anderem von Lynn Hunt propagierten methodischen Ekklektizismus um.23 Denn logische Widersprüche auf der theoretischen Ebene müssen nicht automatisch praktische Widersprüche in der historischen Untersuchung sein: Wenn sich das hermeneutische Rekonstruieren und das kritische „Dekonstruieren“ von Kulturen auf einer rein theoretischen Ebene auch widersprechen; ich meine, sie ergänzen sich komplementär, und werde deshalb beides einsetzen. Wenn sich die „dichte Beschreibung“ auf vergangene Ereignisse – logisch genommen – vielleicht nicht übertragen läßt:24 Ich werde trotzdem auf die Geertzsche Idee der Textanalogie zurückgreifen. Auch wenn sozialgeschichtliche Kategorien nicht präexistent, sondern diskursive Formationen sind, werde ich dennoch Sozialstrukturen analysieren. Denn an vielen Stellen hilft mir dieses „Konstrukt“, die Quellen zu verstehen und einen kulturellen Ästhetizismus zu korrigieren.25 Innerhalb des Buches werde ich deshalb – oft nur in den Fußnoten – kurz aufgreifen, welchen Bohrer ich verwende, auf welche einzelnen Theorieangebote ich mich beziehe. Ohne den Anspruch einer breiten Theoriediskussion zu erheben, möchte ich hier zwei ausgewählte methodische Fragen zur Kulturgeschichte kurz ansprechen. Die erste lautet: Ästhetisiert Kulturgeschichte Gewalt und Herrschaft? Die zweite: Ist sie implizit deterministisch? Die politischen Kulturen der Bürgerkriegszeit zu rekonstruieren, den Konflikt als Krieg um nationale Legitimität zu verstehen, ist nicht, wie Clif-
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HUNT, Introduction, S. 16; O’BRIEN, Foucault’s History, S. 29, 46; JOHN H. ZAMMITO, Are we Being Theoretical Yet? New Historicism, the New Philosophy of History, and „Practising Historians“, in: Journal of Modern History, 65, (1993), S. 783–814, hier: S. 812–4. Vgl. DANIEL, „Kultur“ und „Gesellschaft“, S. 89 f. Vgl. z.B: HUNT, French Revolution, passim. Siehe auch THOMAS W. LAQUEUR, Bodies, Details, and the Humanitarian Narrative, in: HUNT (Hrsg.), New Cultural History, S. 176–204, insbes. S. 200; aus sozialhistorischer Perspektive: SPIEGEL, History, S. 77–83, insbes. S. 77 f.; dies, History and Post-Modernism IV, in: Past and Present, 135, (1992), S. 194–208, hier: S. 203 f.
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ford Geertz einmal gespottet hat, „the end of political history as we have known it, and thus of reason, freedom, footnotes, and civilization.“26 Auch Kulturgeschichte gibt nicht die kritische Distanz auf, ist der inneren Logik der Quellen nicht hilflos ausgeliefert. Gegen das Risiko einer ästhetisierenden Rekonstruktion von Kultur27 hilft nicht nur der Blick auf den sozioökonomischen Kontext,28 sondern auch ein dekonstruierender Blick auf die Kultur selbst. Auseinanderzunehmen, wie die Ästhetik, die Rhetorik der revolutionären Kulturen funktionierte, zu untersuchen, wen die politische Kultur in die Nation einschloß und wen sie ausgrenzte, zu zeigen, wie und warum sie Macht über die Revolutionäre ausübte, ist nicht dasselbe, wie dieser Ästhetik und Rhetorik aufzusitzen – sondern das Gegenteil davon.29 Der irische Nationalismus läßt sich so sogar viel nachhaltiger demontieren, als wenn man ihn zu einer reinen Funktion ökonomischer, sozialer oder machtpolitischer Interessen und Gesetzmäßigkeiten degradiert. Denn es wird deutlich: Auch irischer Nationalismus ist von Menschen gemacht, er ist kein Agent der Modernisierung und erst recht kein Ausdruck des von Young Ireland und Plain People propagierten siebenhundertfünzigjährigen Geschichtsgesetzes.30 Die Gefahr, Macht und Gewalt zu ästhetisieren, besteht besonders dann, wenn man in Anlehnung an Clifford Geertz’ Textanalogie versucht, in einer „dichten Beschreibung“ ritualisierte Handlungen als Texte zu lesen, ihre Bedeutung zu entschlüsseln.31 Der Unterschied, ob ein Revolutionär einen 26 27
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CLIFFORD GEERTZ, History and Anthropology, in: New Literary History, 21, (1990), S. 321–5, hier: S. 321. Vgl. GEERTZ, Dichte Beschriebung, S. 43. Zur Gefahr der Ästhetisierung und Beliebigkeit durch hermeneutische Interpretation vgl. die Kritik von Lynn Hunt an Clifford Geertz und Hayden White, in: HUNT, Geschichte jenseits von Gesellschaftstheorie, S. 105–7, 116 f. Siehe auch: SPIEGEL, History, S. 83–6, insbes. S. 85; ALETTA BIERSACK, Local Knowledge, Local History: Geertz and Beyond, in: HUNT (Hrsg.), New Cultural History, S. 72–96, hier: S. 80–2. Biersack gibt einen guten kritischen Überblick über die Ansätze von Clifford Geertz, ebd., S. 74–84. SPIEGEl, History and Post-Modernism, S. 204 f. HUNT, Introduction, S. 3, 15; vgl. PATRICIA O’BRIEN: Michel Foucault’s History of Culture, in: HUNT (Hrsg.), New Cultural History, S. 25–46, hier: S. 34–9; vgl. JOAN WALLACH SCOTT, Über Sprache, Geschlecht und die Geschichte der Arbeiterklasse, in: CONRAD und KESSEL, (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne, S. 283–309, hier: S. 294 f. Vgl. ERIC, J. HOBSBAWM, Some Reflections on Nationalism, in: THOMAS NOSSITER, HANSON ALBERT HENRY JOHNSON und ROKKAN STEIN (Hrsg.), Imagination and Precision in the Social Science. London 1972, S. 385–406, hier: S. 386–90, 394; BENEDICT ANDERSON, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt 1988 (erstmals 1983), S. 14–7; LIAH GREENFIELD, Nationalism. Five Roads to Modernity. Cambridge 1992, S. 12 f. CLIFFORD GEERTZ, „Deep play“: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf, in: ders., Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, S. 202–60, hier: S. 253 f., S. 259 f.; ders., Dichte Beschreibung, S. 20–4, 40 f.; ders., Blurred Genres: the Refiguration of Social Thought, in:
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politischen Gegner beschimpft oder beschießt, ist sicher mehr als eine semantische Illusion – vor allem für den Adressaten. Deshalb habe ich meine „ästhetisierenden“ Beschreibungen immer wieder mit Passagen durchbrochen, die das Erniedrigen, Verletzen, Töten oder Verstümmeln von Menschen relativ drastisch schildern. Dennoch: Gewalt war gerade im Bürgerkrieg immer mehr als das nackte Durchsetzen von Macht oder nur Ausfluß einer rein militärischen Logik. Sie war immer auch ein mit Bedeutung aufgeladenes soziales Handeln und damit Kommunikation. Das macht sie ja nicht automatisch akzeptabler.32 Das Verteidigen eines gregorianischen Symbolgebäudes, der Aufmarsch mit überlegenen „Wunderwaffen“, das Improvisieren einer „Front“, vor dem Erschießungskommando oder im Hungerstreik das Martyrium zu erleiden, das sollte immer zugleich eine Geschichte der Tat erzählen. Das galt auf einer weniger blutigen Ebene auch für das Schwenken von Fahnen, Singen von Liedern, Bemalen von Postkästen oder Marschieren in einem Umzug. Kommen wir zur zweiten Frage: Ist Kulturgeschichte deterministisch? Eine politische Kulturgeschichte, die – wie etwa in Lynn Hunts Buch zur französischen Revolution – einfach die Ebene der politischen Diskurse verfolgt, ist schnell genauso menschenleer wie Gesellschaftsgeschichte.33 Überwältigt von der erstaunlichen Eigendynamik der politischen Kultur, ersetzt sie den von der Sozialgeschichte häufig implizierten Determinismus von Wirtschafts-, Sozial- und Herrschaftsstrukturen durch einen Determinismus des herrschenden Diskurses.34 Um das zu vermeiden, verfolge ich den legitimatorischen Konflikt im Bürgerkrieg nicht als abgehobenen Konflikt von Ideen, sondern stelle immer handelnde Menschen in den Mittelpunkt. Wie es William Butler Yeats in seinem letzten Rätsel seines Gedichts
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ders., Local Knowledge. Further Essays on the Interpretation of Culture. New York 1983, S. 19–35, hier: S. 22–4. Vgl. KEITH MICHAEL BAKER, Ideologische Ursprünge der Französischen Revolution, in: Christoph Conrad, u. a. (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne, S. 251–82, hier: 253. HUNT, French Revolution, S. 14, erhebt dieses m.E. irreführende Konzept zum methodischen Prinzip. Kritik am Determinismus durch Sozialstrukturen: UTE DANIEL, ‚Kultur‘ und ‚Gesellschaft‘. Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 19, (1993), S. 69–99, hier: S. 93; Kritik am Determinismus durch Diskurse: JOHN E. TOEWS, Intellectual History after the Linguistic Turn. The Autonomy of Meaning and the Irreducibility of Experience, in: American Historical Review, 92, 4, (1987), S. 879–907, hier: S. 906.
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„Among School Children“ auf den Punkt gebracht hat: „How can we know the dancer from the dance.“35 Legitimationsstrategien, auch politische Normen, werden von Menschen gemacht und geändert, um sich veränderten Bedingungen anzupassen und neue Handlungsstrategien zuzulassen. Damit bekommt die revolutionäre Elite zumindest im Irischen Bürgerkrieg ein besonderes Gewicht: Das ist kein unreflektiertes „Männer machen Geschichte“. In der außergewöhnlichen Krisensituation der Revolution, in der viele bisher festgefügte Strukturen zeitweise aufgelöst wurden, hatte eine kleine Gruppe von Revolutionären einen ungewöhnlich großen Einfluß auf den Verlauf der Ereignisse.36 Es lag an ihnen, mit neuen Geschichten neue Handlungsstrategien zu legitimieren, zentrale Symbole umzudeuten und damit neue Formen der Herrschaft zu erfinden. Das ist, wofür ich mich am meisten interessiere: Die Interaktion zwischen politischer Kultur und Handlungsmöglichkeiten, die Wechselwirkung zwischen der Geschichte, die man (sich) erzählte, und dem, was man tat, der Zusammenhang zwischen dem Sagbaren und dem Machbaren.37 Mit dem Blick auf die politischen Kultur des irischen Bürgerkrieges gelangt man nicht nur an den Nerv eines traumatischen Konflikts. Über den Ansatz der politischen Kultur lassen sich auch zwei methodische Probleme der modernen irischen Geschichtswissenschaft entschärfen, zumindest umgehen: Das eine ist die irische Variante des Historikerstreits, die sogenannte Revisionismusdebatte, das andere nenne ich die „Hätte-sein-sollenGeschichte“.38 Die etablierte Geschichtswissenschaft in Irland ist seit Jahrzehnten in der Hand von liberalen, kosmopolitisch orientierten Historikern, den sogenannten Revisionisten.39 Das zunächst unausgesprochene Programm des Revisionismus war, den bis heute schwer zu verdrängenden eindimensionalen nationalen Geschichtsmythos durch eine „wertfreie“ historische Wahr-
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WILLIAM BUTLER YEATS, Poems (Hrsg. von ALEXANDER NORMAN JEFFARES). Dublin 1989, S. 323–5, hier: S. 325. GARVIN, 1922, S. 193, 198. MARSHALL SAHLINS, Islands of History. Chicago 1985, S. 7, S. 44, S. 149; STEINMETZ, Das Sagbare, S. 18–20; vgl. KEITH MICHAEL BAKER, The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture. Bd. 1. The Political Culture of the Old Regime. Oxford 1987, S. XI–XXIV. Grundlegend zum Revisionismusstreit, der Sammelband: CIARAN BRADY (Hrsg.), Interpreting Irish History. The Debate on Historical Revisionism, 1938–1994. Dublin 1994. „Revisionist“ war zunächst ein Schimpfwort nationaler Historiker und Publizisten, wurde dann aber von den Revisionisten selbst übernommen. Siehe: DESMOND FENNELL, Against Revisionism, in: BRADY (Hrsg.), Interpreting, S. 181–90, hier: S. 181.
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heit zu widerlegen. Statt wie die oben zitierten Propagandablätter Plain People und Young Ireland oder wie die Sinn Fein der Gegenwart die irische Geschichte auf einen jahrhundertealten anti-englischen Freiheitskampf zu verkürzen, forschten die Revisionisten nach einem vielschichtigeren, auch weniger gewalttätigen, anderen Irland.40 Auch wenn sich die immer noch von nationalistischen Annahmen dominierte Populärgeschichte bis heute als äußerst hartnäckig erweist, so ist es den Revisionisten dennoch gelungen, das zuvor weitgehend eindimensionale Bild von der irischen Vergangenheit umzuwälzen. Fast zwangsläufig schossen die Revisionisten bei dieser erstaunlichen Leistung über das Ziel hinaus. Normative Grundannahmen, vor allem eine maximale Skepsis gegenüber dem irischen Republikanismus, verzerrten einmal mehr, einmal weniger offensichtlich die historische Analyse.41 Besonders für den irischen Bürgerkrieg galt und gilt: „daß wo immer der Mann [oder die Frau] der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt, das Verstehen aufhört.“42 Die wenig reflektierten Arbeiten von Helen Litton oder Virginia Glandone, aber auch Maryann Valiulis Mulcahy-Biographie sind überdeutlich aus freistaatlicher Perspektive geschrieben.43 Selbst die Terminologie deckt sich mit der der freistaatlichen Tendenzpresse. Aber auch der sonst nüchterne Tom Garvin übernimmt fast ungebrochen die Polemiken des vertragsbefürwortenden Innenministers Kevin O’Higgins, der wie kaum ein zweiter freistaatliche Tendenz verkörperte.44 Diese Kritik gilt in Ansätzen für die Überblickswerke von David Boyce und Joseph Lee, vor allem aber für „Modern Ireland“ von Roy Foster, der Galionsfigur des Revisionismus. Der Bürgerkrieg übernimmt hier mehr implizit als explizit die Rolle eines teleologischen Fluchtpunkts, der beweisen soll: Der irische Nationalismus war und ist pathologisch. Ein politisch mir
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THEODORE WILLIAM MOODY und ROBERT DUDLEY EDWARDS, Preface to Irish Historical Studies, in: BRADY (Hrsg.), Interpreting, S. 35–7, passim; THEODORE WILLIAM MOODY, Irish History and Irish Mythology, in: BRADY (Hrsg.), Interpreting, S. 71–86, passim; ROY FOSTER, History and the Irish Question, in: BRADY (Hrsg.), Interpreting, S. 122–45, passim. BRENDAN BRADSHAW, Nationalism and Historical Scholarship in Modern Ireland, in: BRADY (Hrsg.), Interpreting, S. 191–216, hier: S. 200. MAX WEBER, Wissenschaft als Beruf (erstmals 1917), in: HORST BAIER, MARIO RAINER LEPSIUS, WOLFGANG JUSTIN MOMMSEN, WOLFGANG SCHLUCHTER und JOHANNES WINCKELMANN (Hrsg.), Max Weber Gesamtausgabe. Bd. I/17. Tübingen 1992, S. 71–111, hier: S. 98. GLANDONE, Advanced Nationalist Press, passim; LITTON, Civil War, passim; VALIULIS, Mulcahy, passim. GARVIN, 1922, S. 93 f.
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sympathischer Standpunkt, der einen historischen Zugang zum Denken der Revolutionäre aber einschränkt.45 Die Antirevisionisten haben die „antinationale“ Haltung des Revisionismus wütend angegriffen, mitunter auch sachlich kritisiert: Der Revisionismus verharmlose die englische Fremdherrschaft, verstecke Katastrophen wie die Hungersnot 1847/48 hinter kliometrischen Abstraktionen, begegne dem Idealismus der irischen Revolutionäre mit einem überzogenen „invincible scepticism“. Deshalb verliere der Revisionismus den Kontakt zum populären Geschichtsbild, komme seiner sozialen Funktion nicht mehr nach.46 Diese Kritik ist im einzelnen durchaus angebracht und von der etablierten Geschichtswissenschaft aufgenommen worden.47 Doch die Gegenrezepte der nationalen Historiker sind wenig anregend: Geschichtsschreibung habe das Volk zur Liebe zur Nation zu erziehen und den irischen Nationalismus zu legitimieren. . .. ?!48 So übertrifft die analytische Reichweite ihrer Werke zu Revolution und Bürgerkrieg selten das Niveau der apologetischen Memoiren und Autobiographien ihrer republikanischen „Helden“.49 Mit einer demonstrativen „Neutralität“ läßt sich das Problem nationale oder liberale Geschichtsschreibung kaum lösen. Das zeigt sich besonders beim Thema Bürgerkrieg: Michael Hopkinson, Carlton Younger, Eoin Neeson und Tim Pat Coogan haben versucht, beim sensiblen Thema Bürgerkrieg eine direkte Parteinahme zu vermeiden: Sie beschränken sich weitgehend auf eine politik- und militärgeschichtliche Faktographie. Diese Alternative ist aus zwei Gründen unbefriedigend: Einmal läßt die Faktographie kaum weitergreifende Thesen zu. Zum anderen bietet sie kein Korrektiv zur Perspektive der Zeitgenossen an: So erzählen die genannten Historiker trotz ihrer scheinbar objektiven Perspektive ungebrochen die tragische Geschichte von (fehlgeleitetem) Helden- und Opfermut.50 Verbunden mit dem Revisionismusproblem ist das Problem der „Hättesein-sollen-Geschichte“: Geleitetet von ihren außerwissenschaftlichen
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LEE, Ireland 1912–1985, passim; BOYCE, Nationalism, passim; FOSTER, Modern Ireland, passim, explizit: S. 493. BRADSHAW, Historical Scholarship, S. 200–16, Zitat: S. 207; FENNELL, Against Revisionism, passim. M.A. GEAROID Ó TUATHAIGH, Irish Historical ‚Revisionism‘: State of the Art or Ideological Project?, in: BRADY (Hrsg.), Interpreting, S. 306–26, passim. FENNELL, Against Revisionism, S. 187; differenzierter: BRADSHAW, Historical Scholarship, S. 212–6. BRIAN P. MURPHY, Patrick Pearse and the Lost Republican Ideal. Dublin 1991. WARD, Maud Gonne, passim; FALLON, Soul of Fire, passim. NEESON, Civil War; YOUNGER, Civil War; COOGAN und MORRISON, Civil War; exemplarisch: HOPKINSON, Green, S. 189: „Childers died with grace and heroism.“
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Überzeugungen oder von theoretischen Grundannahmen, haben sich viele Historiker, mal in Ansätzen, mal überdeutlich auf das konzentriert, was ihrer Meinung nach hätte sein sollen – oft verbunden mit einem Lamento, daß das von ihnen Gesuchte im historischen Prozeß „fehlt“. Tom Garvins „1922“ etwa sucht, so der Untertitel, nach der „Geburt der irischen Demokratie“. Dabei reduziert er den Bürgerkrieg im wesentlichen auf einen Kampf zwischen Feinden und Verteidigern der Demokratie. Die „Ideologie“ beziehungsweise „Mentalität“ der Akteure sortiert er dabei nach abstrakten und antithetisch angelegten politikwissenschaftlichen Kategorien wie „fundamentalism“ versus „pragmatism“, „moral elitism“ versus „voter rule“, „ethnic nationalist“ versus „civic nationalist“, „protectionism“ versus „free trade“, „Gemeinschaft“ versus „Gesellschaft“.51 Das ist heuristisch anregend und analytisch aufregend, führt aber nicht weit genug. Garvin verstellt sich damit nicht nur den Zugriff auf das Denken der als antidemokratisch abgewerteten Republikaner, sondern auch auf das Denken der Freistaatler. Es reicht nicht, festzustellen, daß die Grenzen zwischen beiden Denkweisen fließend waren, es reicht nicht, festzustellen, daß auch die Freistaatler nur „unenthusiastic democrats“ waren.52 Hier müßte die Analyse erst beginnen und sich auf das konzentrieren, was die freistaatlichen Ex-Revolutionäre primär waren und wie sie es waren: Nationalisten, zwar pragmatisch und flexibel, aber weiterhin ziemlich enthusiastisch. Was bei Garvin und anderen Revisionisten nur eine Tendenz in einer sonst beneidenswert analytischen Geschichtsschreibung ist, wird bei Arbeiten aus dem antirevisionistischen Lager überdeutlich. Das gilt insbesondere für jene Gruppe nationalistisch-feministischer Historikerinnen, die Biobeziehungsweise Hagiographien über feministische Nationalistinnen schreiben. Ihre Arbeiten durchzieht ein dreifaches Klagelied: darüber, daß ihre Heldinnen ihren Feminismus zu Gunsten eines radikalen Nationalismus völlig aufgaben, darüber, daß die nationale Bewegung den irischen Feminismus instrumentalisiert und dann „verraten“ habe, und darüber, daß die nationale Bewegung selbst von – männlichen, chauvinistischen – Revolutionären verraten worden sei.53 Dieser pessimistische und zugleich affirmative feministisch-nationalistische Zugriff blockiert die analytischen Möglichkeiten einer kulturell orientierten Geschlechtergeschichte. Das versuche ich in meinen Kapiteln zum weiblichen Martyrium und zu den Frauen in der Propaganda zu korrigieren. Ich untersuche, wie die Zeitge51 52 53
GARVIN, 1922, S. 146. GARVIN, 1922, S. 205; vgl. ders., Nationalist Revolutionaries, S. 123 f. WARD, Unmanagable Revolutionaries; dies., Maud Gonne; FALLON, Soul of Fire.
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nossen Geschlechter definierten, wie Geschlechterkonzepte die Konstruktion des irischen Nationalismus beeinflußten und was für Handlungsmöglichkeiten daraus für die Akteure resultierten.54 Eine ähnliche Tendenz zur „Hätte-sein-sollen-Geschichte“ hatten lange die Bücher zur irischen Arbeiterbewegung, ob sie nun von nationalistischen oder revisionistischen Historikern stammten.55 Sie suchten – so ein Titel – nach der „social revolution that never was.“56 Die Revolution sei „unfertig“, die nationalen Revolutionäre hätten die Arbeiterbewegung aufgesogen, die Ziele der Arbeiter aber in Kooperation mit der korrupten Führung von Irish Labour nicht verwirklicht. Selbst in Emmet O’Connors wesentlich differenzierterer Studie zum irischen Syndikalismus klingt diese Tendenz an.57 Fixiert auf das „Fehlen“ einer historischen Entwicklung, verbauen sich diese Ansätze genau wie die Polarisierung entlang des Revisionismusstreits den Zugang zu dem, was zentral war: eine primär nationalistische Revolution, die sich nur am Rande für Feminismus, soziale Probleme, Ökonomie oder den demokratischen Prozeß interessierte – egal, ob man das nun auf einer politischen Ebene bedauert oder nicht. Ich versuche deshalb, den Werthorizont, die Denk- und Handlungsmöglichkeiten der nationalistischen Revolutionäre zu rekonstruieren, statt die Quellen nach scheinbar präexistenten Kategorien auszuwerten. Auch wenn sein traditioneller Kulturbegriff eine wenig hilfreiche Trennung von Politik und Kultur zur Folge hat: F.S.L. Lyons „Culture and Anarchy“ hat das bereits 1978 vorgeführt und die kulturelle Logik des angloirischen Konfliktes bloßgelegt.58 Ich möchte an diese Tradition des frühen Revisionismus anknüpfen. Ich werde nicht nach dem Vertrauten und Verständlichen suchen, nach dem, was eigentlich da sein sollte. Statt dessen gehe ich davon aus, daß das Denken der irischen Revolutionäre mir zunächst fremd und unverständlich ist. Ich fürchte, daß gleiche Begriffe den Historiker täuschen und Termini wie „Nation“, „Demokratie“ und „Wohl54 55
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Vgl. SCOTT, Sprache, Geschlecht, passim. MITCHELL, Labour; RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism; CHARLES DESMOND GREAVES, Liam Mellows and the Irish Revolution. London 1971; ders.; The Life and Times of James Connolly. London 1961; KOSTICK, Revolution in Ireland. So explizit: PATRICK LYNCH, The Social Revolution that never was, in: DESMOND WILLIAMS (Hrsg.), The Irish Struggle, 1916–1926. London 1966, S. 41–54. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, passim. F[RANCIS] S[TEWART], L[ELAND] LYONS, Culture and Anarchy in Ireland 1890–1939. (=The Ford Lectures delivered in the University of Oxford in the Hilary Term 1978) Oxford 1982. Zu Kulturbegriff und Trennung von Kultur und Politik: ebd., S. 1–56, insbes. S. 1 f.; „Culture and Anarchy“ ist gleichzeitig eines der einflußreichsten Werke des Revisionismus.
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stand“ etwas anderes bedeuten, als wir zunächst meinen. Damit erhebe ich einen bekannten gegen den Revisionismus gerichteten Vorwurf des nationalistischen Historikers Brendan Bradshaw zum methodischen Prinzip, mache seine Worte wieder zum Credo einer ethnologisch beeinflußten Geschichtswissenschaft: „The past is a foreign country.“59 Mein Buch will und kann nicht alle Fragen zum Irischen Bürgerkrieg klären, vieles bleibt unbeantwortet; anderes ist, wie gezeigt, gründlich untersucht. Es leistet keine detaillierte Militärgeschichte, keine Geschichte darüber, wie die einzelnen Ministerien funktionierten oder improvisierten, keine Geschichte, die alle Haupt- und Staatsaktionen gleichermaßen beschreibt. Ich untersuche auch nur am Rande, wie der Konflikt auf der provinziellen Ebene ausgetragen wurde, wie sich lokale Loyalitäten, Interessen und Traditionen auswirkten. Selbst wenn es stimmte, daß das Funktionieren von irischer Politik nur über diese „subtile nuances“ verstehbar wird60; es ergibt erst einen Sinn, die lokale Ebene zu untersuchen, wenn man die Vorgaben aus dem Zentrum kennt. Beides in einem Buch zu leisten, war mir nicht möglich. Beide Bürgerkriegsparteien argumentieren historisch, berufen sich auf Traditionslinien, die, wie eingangs zitiert, siebenhundertfünfzig Jahre und weiter zurückreichen. Ich zeige zwar, wie die Nationalisten ihre Traditionsstränge erfanden und welche Selektions- und Manipulationsmechanismen sie dabei verwendeten. Dagegen habe ich weitgehend darauf verzichtet, ihre Fiktionen durch eine Geschichte nach dem neuesten Stand der historischen Forschung zu korrigieren beziehungsweise zu relativieren.61 Wer dieses Buch liest, wird nichts darüber erfahren, wer die oben zitierten „Freiheitshelden“ Tone, O’Connell, Mitchel, Parnell and Casement, wer die „britischen Unterdrücker“ Strongbow, Elizabeth, Cromwell, Orange William, Pitt and Carson waren, sondern, was diese Personen als politische Schlagworte für die irischen Revolutionäre ab 1916 bedeuteten.62 Ich habe dieses sicher problematische Ausblenden von Traditionen auch dort durchgehalten, wo es sich auf Traditionen des politischen Denkens be-
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BRADSHAW, Historical Scholarship, S. 210. PAURICE TRAVERS, Review Article, in: Irish Historical Studies, XXXI, 122, (1997), S. 292–5, hier: S. 295; vgl. den generellen Ansatz von FITZPATRICK, Politics, passim. Dazu verweise ich pauschal auf die Bände des Standardhandbuchs der revisionistischen Geschichtsschreibung: THEODORE WILLIAM MOODY und FRANCIS XAVIER MARTIN (Hrsg.), A New History of Ireland (NHI). Oxford 1976 ff. HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK, Der „Transfer“ des 14. Juli 1789, in: KARL OTTMAR vON ARETIN und KARL HÄRTER (Hrsg.), Revolution und konservatives Beharren. Das alte Reich und die französische Revolution. Mainz 1990, S. 37–44, hier: S. 39.
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zieht. Ich beschreibe zwar, wie sich die irischen Revolutionäre in ungebrochener Kontinuität mit den Republikanern seit 1798 sahen. Dazu zeige ich auch, wie sie deren Werke zu Evangelien des Nationalismus erklärten und auf der Suche nach Autoritätsbeweisen durchkämmten. Dagegen untersuche ich kaum, wo sich ihr Denken signifikant von dem ihrer vermeintlichen Vorläufer unterschied und wo es „wirkliche“ Traditionen im revolutionären Denken gab. Für meine Fragestellung entscheidend ist, wie die Revolutionäre mit einem gewissen Vorrat an Ideen umgingen. Dabei ist es relativ unwichtig, wo diese Ideen herkamen, wie sehr die Revolutionäre deren ursprüngliche Bedeutung beibehielten, sie mißverstanden oder manipulierten. „Wirkliche“ Kontinuitäten zu untersuchen, wäre eine andere Aufgabe. Tom Garvins „Nationalist Revolutionaries“ und Oliver MacDonaghs „States of Mind“ haben das für den Zeitraum 1858 – 1923 beziehungsweise für das gesamte neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert geleistet. Dabei mußten sie unter dieser auf Kontinuität angelegten Fragestellung viele Diskontinuitäten, Erfindungen und unterschiedliche Denkrichtungen unterschlagen.63 Ähnliches gilt für oft in ganz Europa verbreitete Ideen und Argumentationsmuster, die meist über Großbritannien nach Irland vermittelt wurden. Auf Kulturtransfers konnte ich nur in Ansätzen verweisen. Ich habe kaum untersucht, wie eine Idee nach Irland importiert wurde, sondern nur beobachtet, wie die irischen Revolutionäre sie zu einer spezifisch irischen Idee machten beziehungsweise dazu erklärten. Ich möchte damit nicht eine prinzipielle Einzigartigkeit Irlands konstruieren.64 Die politischen Kulturen Irlands waren vielleicht Varianten eines generellen europäischen Trends – verstehen lassen sie sich jedoch nur, wenn man sich mit dem auseinandersetzt, was sie einzigartig irisch macht. Das ist mehr als ein Blick auf „undeniable oddities [and the] usually reassuring, occasionally horrifying and often entertaining detail of Irish politics.“65 63
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GARVIN, Nationalist Revolutionaries; OLIVER MACDONAGH, States of Mind: A Study of Anglo-Irish Conflict, 1780–1980. London 1983. Deshalb liegt letztlich auch Jan Assmans Konzept des „kulturellen Gedächtnis“ außerhalb meiner Fragestellung: Vgl. JAN ASSMAN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders. und TONIO HÖLSCHER (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis. Frankfurt 1988, S. 9–19, passim. Vgl. BOYCE, Nationalism, S. 392. GARVIN, 1922, S. 1; vgl. ebd., S. 1–3: Garvin stellt hier die methodische Forderung auf, den europäischen Kontext mit einzubeziehen; siehe auch ebd., S. 189–207. Hier versucht Garvin, die Entwicklung Irlands zur Demokratie in einen europäisch vergleichenden Kontext einzuordnen. Zum europäischen Kontext asketischer Vorstellungen siehe: ders., Nationalist Revolutionaries, S. 68 f., 154–65; ders., Great Hatred, Little Room: Social Background and Political Sentiment among Revolutionary Activists in Ireland, 1890–1922, in: DAVID GEORGE BOYCE (Hrsg.), The Revolution in Ireland, 1879–1923. London 1988, S. 91–114, hier: S. 107 f.
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Was will dieses Buch Neues leisten? In den ersten zwei Kapiteln will ich, wie schon gesagt, die Fragen nach den Ursachen des Bürgerkrieges klären. In der bisherigen Forschung besteht zwar weitgehend Konsens darüber, daß der Bürgerkrieg nicht um verdeckte soziale Konflikte, sondern hauptsächlich um die symbolischen Bestimmungen des anglo-irischen Vertrages geführt wurde. Dennoch fehlt bislang eine Abhandlung, die bestehende, konkurrierende Erklärungsmuster bündelt und gegeneinander abwägt. Während ich mich dabei weitgehend auf die historische Forschung stützen kann, sind die Forschungsdefizite in Hinblick auf den Bürgerkrieg selbst größer: Die Organisation von Zensur und Propaganda beider Seiten ist bisher unerforscht; ich habe sie in meinen organisationsgeschichtlich orientierten Kapiteln untersucht. Sie unterlegen diesem zweiten Hauptteil des Buches eine chronologische Achse und gliedern es in fünf Abschnitte: Das erste Kapitel behandelt den Zeitraum bis zum Beginn der Bürgerkrieges, das zweite die Zeit der offenen Konfrontation bis zum Beginn des Guerillakrieges, das dritte die Phase relativer Stabilität im September und Oktober 1922, das vierte die zunehmende Verbitterung seit den ersten Hinrichtungen und das letzte die ersten Monate nach dem Konflikt. Die Organisation von Zensur und Propaganda ist dabei von ihrer inhaltlichen Konzeption kaum zu trennen. Denn neben den unterschiedlichen Legitimationsstrategien bestimmten auch die organisatorischen Möglichkeiten, was sagbar war und wen das Gesagte erreichte. Und umgekehrt: Die Geschichte, die die Propagandisten erzählten, ob nun mit Worten oder Waffen, prägte die Art und Weise, wie sie sich organisierten. Auch zum Inhalt von Propaganda im Bürgerkrieg gibt es bislang nur einen relativ knappen Aufsatz von Graham Walker, der sich jedoch weniger mit dem Konflikt selbst als mit langfristigen Problemfeldern – wie der katholischen Kirche und der Nordirlandfrage – beschäftigt.66 Es gibt bisher kein Buch, das erklärt, wie beide Seiten mit propagandistischen Mitteln um nationale Legitimation kämpften und wie dieser Legitimationskampf sich bis in die Kriegführung hinein auswirkte. Es fehlt eine zusammenhängende Analyse, die plausibel macht, nach welchen „Spielregeln“ der Bürgerkrieg verlief, in welchen Mustern die Akteure dachten und handelten. Daher kann auch kein bisheriges Werk überzeugend begründen, was den Bürgerkrieg zu einer Epochengrenze machte. Erst wenn man das Auseinanderbrechen der politischen Kultur im Bürgerkrieg beobachtet, versteht man, warum der
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GRAHAM WALKER, Propaganda and Conservative Nationalism during the Irish Civil War, in: Eire/Ireland, XXII, 4, (1987), S. 93–117.
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Konflikt die irische Gesellschaft so nachhaltig prägte und verbitterte – trotz aller augenscheinlichen sozialen und ökonomischen Kontinuitäten zur vorrevolutionären Zeit. Der wichtigste Schwerpunkt des Buches liegt also darauf, den Inhalt der Propaganda aufzuschlüsseln und über ihn die politische Kultur des Bürgerkrieges zu verstehen: Der Bürgerkrieg war, so meine zentrale These, nicht nur ein Krieg um die faktische Macht über den Staat. Er war genauso ein Krieg um nationale Legitimität, ein Krieg darum, welche Seite sich als „irisch“ definieren durfte und welche sich als „britisch“67 definieren lassen mußte. Während die Republikaner den Bürgerkrieg in ungebrochener Kontinuität zu den republikanischen „Revolutionen“ der letzten hundertzwanzig Jahre als Freiheitskrieg darstellten, definierte ihn die Freistaatspropaganda als eine Revolte gegen die erste nationale Regierung Irlands. So wurde der Bürgerkrieg auch ein Krieg darum, wie die teleologisch gedachte nationale Geschichte fortgesetzt werden dürfe. Was in den oben zitierte Passagen von Plain People und Young Ireland schon anklang: Der Bürgerkrieg war letztlich ein Krieg darum, welche Seite das Recht an einer „historischen Wahrheit“ besaß. Doch ging es im Bürgerkrieg nicht nur darum, welche Seite die irische Vergangenheit besser besetzen konnte. Es ging auch darum, welche konkreten, gegenwärtigen Handlungsmöglichkeiten die konkurrierenden politischen Kulturen erlaubten. Als die Freistaatler und Republikaner diese beiden Aufgaben ihrer politischen Kultur vereinbaren wollten, bekamen sie eine Reihe von Problemen. Sie zeigen, wie eng Legitimieren und Handeln im Bürgerkrieg zusammenhingen. Die freistaatlichen Propagandisten mußten während der sich überstürzenden Ereignisse ihre Legitimationsstrategie, ja ihre politischen Normen laufend modifizieren. Nur so konnten sie traditionell als „britisch“ definierte Verhaltensweisen in ihr ehemals revolutionär-republikanisches Welt-
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Ich weiche etwas von der Konvention ab, nur wörtliche Zitate in Anführungszeichen zu setzen: Etikettierungen durch die Zeitgenossen habe ich auch dort in Anführungszeichen gesetzt, wo ich nicht direkt aus den Quellen zitiere. Dasselbe gilt für komplexere Denkkonzepte. So bezeichnet irische Republik (ohne Anführungszeichen), die reale revolutionäre irische Republik zwischen 1916 und 1923, sowie die irische Republik nach 1949. „The Republic“ bezeichnet dagegen ein spezifisches Denkkonzept der Revolutionäre mit komplexen kulturell-politischen Implikationen. Ähnlich bezeichnet Freistaat den halbunabhängigen irischen Staat ab Dezember 1922, „Freistaat“ oder „Staat“ ein Denkkonzept der Freistaatspropagandisten. Front ist der Verlauf der Linie zwischen zwei feindlichen Armeen, „Front“, was die republikanischen Propagandisten sich darunter vorstellten und was sie dazu erklärten.
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bild integrieren: Karrieremachen, politische Gegner internieren oder „Kriegsgefangene“ exekutieren. Für ihr flexibles Handeln mußten sie eine neue Sprache erfinden und gerieten dabei in eine Legitimationskrise. Für die Republikaner galt das Gegenteil: Sie hielten an der verbindlichen Sprache des radikalen Republikanismus fest, wichen nur sehr behutsam von der reinen Lehre ab. Doch damit begrenzten sie ihre realpolitischen Handlungsmöglichkeiten. Was sie nicht zu sagen, was sie nicht zu denken wagten, konnten sie auch nicht tun. Sie gerieten in eine Handlungskrise. Auf der Spur der Wechselwirkung zwischen Legitimieren und Handeln verfolge ich nicht alle militärischen Auseinandersetzungen des Konflikts gleichermaßen, sondern ich konzentriere mich auf neuralgische Kernfragen. Im Mittelpunkt stehen dabei oft Schlüsselereignisse, die für die Zeitgenossen eine hohe symbolische Bedeutung hatten, eine Bedeutung, die oft weit über die unmittelbaren politischen und militärischen Auswirkungen hinausgingen. Während die Organisationsgeschichte weitgehend chronologisch dargestellt ist, durchbrechen die Kapitel zu diesen inhaltlichen Kernfragen von Propaganda immer wieder die reine Chronologie, greifen vor und zurück. Dabei habe ich in den einzelnen Abschnitten folgende Schwerpunkte gesetzt: Im Kapitel über die Zeit vor dem Bürgerkrieg zeige ich, wie die Republikaner vergeblich versuchten, ihr dogmatisches Weltbild so umzudeuten, daß auch für sie wieder Realpolitik möglich wurde. Auf der anderen Seite beobachte ich, wie die Freistaatler sich bemühten, ihre Legitimationskrise über die Werte „majority rule“ und „liberal rights“ in den Griff zu bekommen. Im Kapitel über die Zeit der offenen kriegerischen Auseinandersetzung bis zum Beginn des Guerillakrieges untersuche ich, wie sich beide Seiten in die Tradition des irischen Freiheitskampfes einreihten und ihre Gegner zu Briten erklärten. Noch wichtiger als schriftliche Propaganda war dabei die Art, wie sie ihre jeweilige Kriegführung regelrecht inszenierten. Im Kapitel zum September und Oktober 1922, einem Zeitraum, in dem der Freistaat den Krieg schon so gut wie gewonnen zu haben schien, liegt der inhaltlich analytische Schwerpunkt auf der Rolle der katholischen Kirche. Ich zeige dabei, wie politischer und religiöser Glaube miteinander konkurrierten und wie sie ineinandergriffen. Die letzte Phase des Bürgerkrieges war seit den ersten Hinrichtungen von zunehmender Verbitterung geprägt. Das untersucht der vierte chronologische Abschnitt. Im Mittelpunkt steht dabei die republikanische Martyrologie: Gefängnispropaganda, „Heldentod“, Exekutionen, Hungerstreiks, Greueltaten. Ich untersuche aber auch, wie die Republikaner versuchten, ihr politisches Weltbild so umzudeuten, daß es wieder konkrete politische Erfolge versprach. Das geschah über so-
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zialrevolutionäre Ansätze, militärische Strategien und über politische Minimalforderungen. Während die Vertragsgegner keinen Ausweg aus ihrer Handlungskrise fanden, verschärfte die republikanische Martyrologie die Legitimationskrise des Freistaats. Ich zeige, wie die Freistaatsführung diese Krise durch die massenhafte Produktion nationaler Symbole sowie durch symbolische Politik zu kompensieren suchte. Mein letzter chronologischer Abschnitt thematisiert noch einmal die republikanische Handlungskrise: Das Gefangensein zwischen republikanischem Dogma und den aussichtslosen realpolitischen Rahmenbedingungen. Auch wenn ich mich hauptsächlich mit der politischen Kultur der revolutionären Elite beschäftige, versuche ich, vorsichtig abzuschätzen, wie die Bevölkerung den Bürgerkrieg beurteilte. Dabei zeige ich, daß während die Zeitgenossen den Einfluß von Propagandaorganisationen überschätzten, die historische Forschung die Bedeutung der erzählten Geschichten meist unterschätzt hat. Das Bindeglied zwischen der organisatonsgeschichtlichen und der inhaltlich-analytischen Achse des Buches sind die handelnden Menschen. Dabei ging es mir nicht darum, jedem Akteur einen angemessenen Platz in der irischen Geschichte zu sichern. Ich habe Personen ausgewählt, die verschiedene Denkrichtungen repräsentieren: Guerilleros, Politiker, vor allem immer wieder Propagandisten, Zensoren und Geschichtenerzähler. Meist sind meine Akteure nicht nur Personen, über die sich bezeichnende Geschichten schreiben lassen, sondern auch Personen, die selbst bezeichnende Geschichten schrieben, an den konkurrierenden Weltbildern mitarbeiteten und neue Handlungsstrategien planten. Häufig sind das Aktivisten aus der zweiten und dritten Reihe. Eamon de Valera ist unter ihnen die einzige Ausnahme und das nicht, weil er republikanischer Präsident und Parteivorsitzender war, sondern, weil er Irlands vielleicht begabtester politischer Geschichtenerzähler war. Neben Eamon de Valera repräsentieren der republikanische Chefpropagandist Erskine Childers und seine Mitarbeiter Robert Brennan und Frank Gallagher den gemäßigten politischen Flügel des Republikanismus. Ihre direkten freistaatlichen Gegenspieler waren Chefpropagandist Desmond FitzGerald und der Kopf der Army Publicity Piaras Beaslai. Den dogmatischen und prinzipiell nicht zu politischen Kompromissen bereiten Flügel des Republikanismus verkörpert niemand besser als Mary MacSwiney, Schwester von Irlands prominentestem Hungerstreikmärtyrer. Auch wenn sie für eine politisch aktive Frau eine absolute Ausnahmekarriere machte, läßt sich über sie auch erschließen, wie wichtig Frauen in der Organisation der republikanischen Propaganda waren und in welcher Weise Geschlech-
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terkonzepte den Inhalt von Propaganda prägten. Ernie O’Malley und auch Liam Lynch verkörpern das Denken der radikalen Guerilleros. Ihnen gegenüber weniger stark vertreten ist in diesem Buch eine Gruppe von „Intellektuellen“. Von den Aktivisten, die den Bürgerkrieg auf juristischer Ebene austrugen, habe ich den freistaatlichen Rechtsberater Hugh Kennedy und seinen republikanischen Gegenspieler, den prominenten Anwalt Michael Comyn, ausgewählt. Meist kommentierend erscheinen die Schriftsteller und ehemaligen republikanischen Propagandisten Frank O’Connor und Sean O’ Faolain, der anglo-irische Intellektuelle George Russell sowie der polemische unionistische Journalist W.H. Bretherton. Dazu kommen schon eher am Rande eine Reihe prominenter Persönlichkeiten der irischen Geschichte: Der Kopf des Osteraufstandes, Patrick Pearse, die bekannten Revolutionäre und führenden Freistaatler Arthur Griffith und Michael Collins; dazu die politische und militärische Führung des Freistaats ab August 1922: Armeechef und Verteidigungsminister Richard Mulcahy, Innenminister Kevin O’Higgins und Regierungschef Liam Cosgrave. Wenn dies ein Buch über Geschichtenerzähler ist und darüber, warum sie welche Geschichten wie erzählten, inszenierten oder „nachspielten“, drängt sich die Frage auf: Was erzähle ich für eine Geschichte? Ist es ein Zufall, daß eine Geschichte über das Geschichtenerzählen neben längeren analytischen Passagen immer wieder aus kleinen Geschichten besteht? Wie prägen grundlegende Erzählstrukturen meine Ergebnisse, noch bevor ich überhaupt mit der Analyse angefangen habe? Auch meine Geschichte ist unausweichlich fiktional: Wie jeder Historiker mache auch ich die mir nur als Text überlieferte Vergangenheit als Text neu verfügbar. Deshalb verberge ich die Vokabel „ich“ auch nicht hinter Passivkonstruktionen und Wissenschaftlichkeit suggerierenden Formeln wie „man“ oder „der Autor“. Statt dessen verweise ich immer wieder offen auf meinen politischen, vor allem meinen erzählerischen Standort.68 Während die republikanische Propaganda den Bürgerkrieg zu einem Freiheitskrieg machte, während die freistaatliche Propaganda ihn als eine Rebellion gegen Irlands nationale Regierung darstellte, ist meine Geschichte fast zwangsläufig die Geschichte des „Brudermordes“ geworden. Sie ist die 68
HAYDEN WHITE, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: CONRAD und KESSEL (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne, S. 123–57, insbes. 128–30; vgl. dazu NORTHROP FRYE, Anatomy of Criticism. Four Essays. Princeton 1957; vgl. DENNING, Mr. Bligh, S. 5: „I re-text the already texted past. I have no experience of the past that I re-present other than that past transformed into words, symbolised.“ Vgl. auch GEERTZ, Dichte Beschreibung, S. 14.
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Geschichte einer Tragödie, in der ehemalige Kameraden und Freunde einander töten, weil sie des von ihnen miterschaffenen Nationalismus nicht mehr Herr werden. Dadurch bekommt diese Tragödie groteske, absurde, ich hoffe, nicht zynische oder gar moralisierende Züge: Ich biete selbst keine Version an, die dem Bürgerkrieg einen höheren historischen Sinn verleiht, keine „Modernisierungs“- oder „Demokratisierungskrise“69, keinen notwendigen historischen Zyklus im Kampf um die irische Freiheit. Diese Sinnlosigkeit relativiert gleichzeitig die Geschichte von Mut und Idealismus, die auch ich immer wieder über die Akteure erzähle: Ja, die Akteure auf beiden Seiten waren nicht immer nur machthungrig und verschlagen, viele waren zweifelsfrei mutig und idealistisch. Doch „Irland“, das scheinbar metaphysische Ziel ihres Opfermuts, war von ihnen selbst gemacht.
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So die Grundtendenz von GARVIN, 1922, passim: Der Bürgerkrieg sei als Übergangskrise Irlands auf dem Weg zur modernen Staatsform Demokratie anzusehen. Vgl. prinzipiell dazu: DANIEL, „Kultur und Gesellschaft“, S. 96 f.
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A. Ereignisgeschichte: Irland 1912–1923
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A. EREIGNISGESCHICHTE: IRLAND 1912–1923 Ein erster Versuch, den Bürgerkrieg zu verstehen, besteht darin, dem Ablauf der Ereignisse zu folgen. Deshalb werde ich im folgenden eine knappe Ereignisgeschichte der Jahre 1912–1923 erzählen. Um 1912 schien Irland stabil. Bis auf die englandtreue protestantische Minderheit im Nordosten der Insel war Irland seit vierzig Jahren von einer nationalen Politik geprägt: „Home Rule“. Home Rule, das hieß: die Forderung nach einem eigenen irischen Parlament mit regionaler Autonomie innerhalb des Vereinigten Königreichs. Sehr viel konkreter formulierten die Anhänger der Home Rule Bewegung ihre Politik selten. Deshalb war Home Rule auch so erfolgreich: Es bedeutete eine bessere nationale Zukunft, auf die jeder Anhänger seine eigenen Vorstellungen projizieren konnte. 1912 war Home Rule für die britische Regierung lange nicht mehr das sozial- und nationalrevolutionäre Schreckgespenst, das es einmal gewesen war. Die britische Landgesetzgebung zwischen 1870 und 1909 hatte die meisten Bauern zu Eigentümern ihres Landes gemacht und damit den gravierendsten sozialen Konflikt entschärft. Um 1912 war Home Rule eine berechenbare und konstitutionelle Politik geworden, die sich jetzt deutlich von der republikanisch revolutionären Tradition unterschied. Seit 1910 war die Irish Parliamentary Party zuverlässiger Koalitionspartner für die liberale britische Regierung. Im Gegenzug sollte Home Rule nun endlich Realität werden; eine Realität, die nun auch das seit 1911 entmachtete britische House of Lords nicht mehr aufhalten konnte. Um 1912 war die revolutionäre Konkurrenz zum konstitutionellen Nationalismus, der irische Republikanismus, weitgehend inaktiv. Der revolutionäre Geheimbund IRB, die Irish Republican Brotherhood, hatte die Revolution auf unabsehbare Zeit verschoben. Die wenigen radikalen Nationalisten waren untereinander zerstritten und hatten außerhalb Dublins keinen Einfluß. Die katholische Kirche kooperierte enger denn je mit der britischen Verwaltung in Irland, und die irische Sprache war dabei, auch in den westlichen Grafschaften Irlands auszusterben. Um 1912 schien sich Irland zu einer sozial und politisch stabilen, anglizierten Provinz des Vereinigten Königreichs zu entwickeln. Daß es nicht dazu kam, lag am Ersten Weltkrieg und am erbitterten Widerstand der Protestanten in Nordirland gegen Home Rule. Zwischen 1912 und 1914 entstand eine paradoxe Situation: Die Partei des irischen Nationalismus stand loyal zur britischen Regierung, um ihr „il-
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A. Ereignisgeschichte: Irland 1912–1923
loyales“ Ziel, Home Rule, zu erlangen. Die englandtreuen Protestanten in Nordirland, die Unionisten in Ulster, gingen dagegen bis an den Rand einer offenen Revolte, um weiterhin loyale Untertanen ihrer Königlichen Hoheit bleiben zu können. Die von ihnen 1913 gegründete protestantische Bürgerwehr Ulster Volunteer Force hatte enormen Zulauf und schmuggelte unter den Augen der britischen Regierung Waffen aus Deutschland nach Nordirland. Durch diesen erbitterten Widerstand erzwang sie schließlich eine großzügige Sonderlösung für Nordirland. Wichtig war dabei nicht, daß es zu einer Sonderlösung kam. Das war schon lange absehbar. Entscheidend war, wie es zu dieser Lösung kam. Die Ulster Volunteers schienen vielen nationalistischen Iren zu beweisen: Organisierte militärische Kraft und die Drohung mit Gewalt lohnten sich, waren effizient. Zumindest waren sie effizienter als vierzig Jahre gewaltfreie Home Rule-Politik. So wurde die Ulster Volunteer Force zum direkten Vorbild der irisch-nationalen Irish Volunteer Force. Diese Irish Volunteers hatten einen ähnlich sensationellen Zulauf wie ihr nordirisches Vorbild, waren aber viel schlechter bewaffnet. Das politische Klima hatte sich seit 1912 also deutlich verschärft. Und dennoch: 1914 verabschiedete das britische Unterhaus die Home Rule Bill zum dritten Mal, setzte damit das Veto des Oberhauses außer Kraft. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges schien die Lösung der irischen Frage noch zu beschleunigen. Anhänger der Home Rule-Bewegung und nordirische Protestanten vertagten ihren Konflikt. John Redmond, Kopf der Home Rule-Bewegung, sagte der britischen Regierung die militärische Hilfe der Irish Volunteers zu. Seine optimistische Fehlkalkulation: Im gemeinsamen Kampf und Sieg über Deutschland würde eine „union of hearts“ zwischen Großbritannien und Irland entstehen. Der gerechte Lohn dafür sei Home Rule nach dem Ende des Krieges – also in wenigen Monaten. Für die radikaleren Nationalisten unter den Irish Volunteers war das nicht hinnehmbar: Die Volunteers spalteten sich. Weit über neunzig Prozent der Volunteers folgten Redmond in die neu gegründeten National Volunteers. Viele von ihnen starben in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Die zurückbleibenden Irish Volunteers kontrollierte jetzt die revolutionäre IRB.1 Die IRB hatte sich seit 1912 deutlich verändert. Eine Gruppe junger Revolutionäre hatte die alte inaktive Führungsspitze verdrängt und plante den Aufstand – notfalls auch gegen den Willen der Bevölkerung. Der Weltkrieg, 1
Zusammengefaßt nach: LAFFAN, Partition, S. 19–50; FOSTER, Modern Ireland, S. 461–76; LEE, Ireland 1912–1985, S. 1–24.
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„Englands difficulty“, schien der neuen IRB-Führung die klassische Chance für eine Revolution, „Irelands opportunity“, zu sein. Doch als eine Invasion Großbritanniens durch Deutschland immer unwahrscheinlicher wurde, verschob die Mehrheit der IRB-Führung die Revolution. Davon unbeeindruckt, plante ein kleiner Kreis um Patrick Pearse und Thomas Clarke weiter den Aufstand. Am Ostermontag 1916 machten diese Revolutionäre das Dubliner General Post Office zu ihrem Hauptquartier und leisteten den britischen Krontruppen eine Woche lang erbitterten Widerstand. Der Aufstand war zunächst unpopulär. Doch das harte Durchgreifen der britischen Behörden machte aus den Anführern des Aufstandes Märtyrer, radikalisierte viele bis dahin gemäßigte Nationalisten. Nach dem Aufstand wurde Arthur Griffiths nationalistische Splitterpartei Sinn Fein zum Sammelbecken, in dem sich 1917 die bis dahin rivalisierenden Flügel des radikalen Nationalismus zusammenschlossen. Sinn Fein beschloß, nach der Wahl 1918 das britische Parlament zu boykottieren, eine unabhängige Republik auszurufen und diese auf der für das Ende des Weltkrieges erwarteten Friedenskonferenz international anerkennen zu lassen. Sinn Fein und Irish Volunteers wählten Eamon de Valera,2 den einzigen 2
Eamon de Valera wurde 1882 in New York als einziges Kind eines Spaniers und einer Irin geboren. Er wuchs in Limerick bei seinem Onkel auf und studierte am University College Dublin. Danach unterrichtete er als Mathematiklehrer am College in Blackrock. Schon 1913 wurde er Mitglied der Irish Volunteers. 1916 nahm er am Osteraufstand teil. Zum Tode verurteilt, wurde er wegen seiner amerikanischen Staatsangehörigkeit begnadigt. 1917 gewann er als Sinn Fein Kandidat die Nachwahl in Clare. Als Präsident Sinn Feins und der Irish Volunteers wurde er 1918 verhaftet, doch gelang ihm Anfang 1919 die Flucht aus dem Gefängnis. Das revolutionäre Parlament wählte ihn zum Präsidenten der revolutionären Republik. Vom Juni 1919 bis zum Dezember 1920 war de Valera auf Propagandatour in den USA und versuchte durchzusetzen, daß die USA Irland als unabhängige Republik anerkannten. Als politischer Kopf der Republikaner war er im Bürgerkrieg Präsident der republikanischen Gegenregierung. Nach dem Scheitern der Republikaner im Bürgerkrieg inhaftiert, gründete er 1926 eine neue moderate republikanische Partei: Fianna Fail. 1932 bis 1948, 1951 bis 1954 und 1957 bis 1959 war de Valera Regierungschef Irlands, von 1959 bis 1973 Präsident der Irischen Republik. Er starb 1975 in Dublin. Zusammengefaßt nach: The Dictionary of National Biography (DNB), 1971–1980. Oxford 1986, S. 235–7. Über de Valera gab es schon zu Lebzeiten zahlreiche Biographien: DENIS GWYNN, De Valera. London 1933; O’FAOLAIN, Life Story of Eamon de Valera. Dublin 1933; DESMOND RYAN, Unique Dictator: A Study of Eamon de Valera. London 1936; O’FAOLAIN, De Valera. London 1939; M.J. MACMANUS, Eamon de Valera. Dublin 1944; MARY COGAN BROMAGE, De Valera and the March of a Nation. Dublin 1956. Grundlegend ist immer noch die in Zusammenarbeit mit de Valera entstandene autorisierte Biographie von EARL OF LONGFORD (i.e. FRANCIS, AUNGIER PAKENHAM) und THOMAS P. O’NEILL, Eamon de Valera. Dublin 1970. Neuere Biographien: T. RYLE DWYER, Eamon de Valera. Dublin 1980; ders. De Valera’s Darkest Hour, 1919–1932. Cork 1982; ders., De Valera’s Finest Hour, 1932–1959. Cork 1982; ders., De Valera the Man and the Myth. Dublin 1991. Ein vielschichtiger Einstieg bleibt: JOHN A.
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A. Ereignisgeschichte: Irland 1912–1923
überlebenden Kommandanten des Aufstandes von 1916, zu ihrem Präsidenten. Damit erreichte die politische Karriere eines Mannes ihren ersten Höhepunkt, der als Präsident der revolutionären Republik, als Parteivorsitzender Sinn Feins und Fianna Fails und als langjähriger Regierungschef die irische Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt hat wie kein anderer. Entscheidend für den endgültigen Durchbruch Sinn Feins wurde die Wehrpflichtkrise von 1917. Während der Bedarf der britischen Armee an neuen Soldaten ständig stieg, gingen ab 1915 die irischen Rekrutierungszahlen drastisch zurück. Deshalb beschloß die britische Regierung, die Wehrpflicht nun auch in Irland durchzusetzen. Dagegen organisierten Sinn Fein, die katholische Kirche und die Anhänger der Home Rule-Bewegung gemeinsam erfolgreich den Widerstand. Diese Allianz mit der katholischen Kirche und dem politischen Establishment machte Sinn Fein endgültig gesellschaftsfähig. Umgekehrt erklärte die Home Rule-Führung so ihren politischen Bankrott. Ihr Konzept der „union of hearts“, des brüderlichen Ausgleichs mit Großbritannien, war gescheitert. Statt dessen machten die Anhänger von Home Rule jetzt selbst Sinn Fein-Politik und zogen ihre Abgeordneten aus dem britischen Parlament ab. Als die britische Regierung Home Rule nun als Gegenleistung für die Zustimmung zu einer irischen Wehrpflicht anbot, war Home Rule endgültig diskreditiert.3 Im Dezember 1918 gewann Sinn Fein mit einem erdrutschartigen Sieg die Wahlen in Irland. Die Parliamentary Party verlor ihre führende Stellung, nur die Unionisten behaupteten sich in Nordirland. Die Sinn Fein-Abgeordneten konstituierten sich am 21. Januar 1919 als revolutionäres Parlament „Dail Eireann“, riefen die Republik aus und wählten de Valera zum Präsidenten. Doch als die Versailler Friedenskonferenz sich auf britischen Druck weigerte, über die irische Frage zu diskutieren, geriet die Revolution ins Stocken. Jetzt brachten einzelne radikale Aktivisten aus der Provinz die Revolution wieder in Gang. Sie begannen, Polizisten zu erschießen und Waffentransporte zu überfallen. Die einzelnen Terrorakte eskalierten zu einem
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MURPHY und JOHN P. O’CARROLL (Hrsg.), De Valera and His Times. Cork 1983. Mit individual-psychologischem Ansatz: OWEN DUDLEY EDWARDS, Eamon de Valera. Washington D.C. 1987; Populärgeschichtlicher aufgemacht: TIM PAT COOGAN, De Valera: Long Fellow, Long Shadow. London 1995. Eine Rezension der frühen Biographien de Valeras bis 1970 findet sich, in: JOHN BOWMAN, Eamon de Valera: Seven Lives, in: MURPHY UND O’CARROLL (Hrsg.), De Valera, S. 182–94. Zusammengefaßt nach: LEE, Ireland 1912–1985, S. 24–38; FOSTER, Modern Ireland, S. 477–93; LAFFAN, Partition, S. 50–60; Zum Osteraufstand: RUTH EDWARDS, Triumph, S. 198–322.
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Guerillakrieg, der sich hauptsächlich auf die Stadt Dublin und die Provinz Munster beschränkte, dabei die Krontruppen terrorisierte und zu drastischen Gegenmaßnahmen provozierte. Denn die demoralisierte irische Polizei bekam die jetzt in Irish Republican Army, IRA, umbenannten Irish Volunteers nicht unter Kontrolle. Deshalb verlegte die britische Regierung immer mehr Militär und paramilitärische Truppen nach Irland, darunter die berüchtigt gewalttätigen und undisziplinierten Black and Tans. Auf Überfälle der IRA reagierten die Krontruppen immer häufiger mit Repressalien gegen die Zivilbevölkerung. Sie brannten Häuser, später ganze Straßenzüge, nieder, schossen auf Passanten, plünderten Geschäfte und erschossen mutmaßliche IRA-Aktivisten. Daß die britische Regierung diese Aktionen offiziell zwar dementierte, inoffiziell aber deckte und ermutigte, ist mittlerweile auch Konsens der revisionistischen Geschichtsschreibung. Nur zögernd ging die britische Regierung schließlich zu offiziellen Zwangsmaßnahmen über, führte ab November 1920 offiziell Exekutionen durch. Ab Dezember 1920 herrschte in Teilen Munsters das Kriegsrecht. In dem Maße, in dem die britische Regierung den militärischen Druck auf Irland verstärkte, solidarisierte sich eine Mehrheit der Zivilbevölkerung mit der IRA und unterstütze deren Guerillakriegführung. Die britischen Aktionen delegitimierten die britische Herrschaft innerhalb und außerhalb Irlands, lieferten überzeugende Geschichten für die gut organisierte republikanische Untergrundpropaganda. Neben Propaganda und Guerillakrieg führte Sinn Fein die Revolution auf einer dritten Ebene durch: Die Revolutionäre unterhöhlten Teile der britischen Verwaltung, übernahmen große Teile des Local Government und der niederen britischen Gerichtsbarkeit. Dagegen funktionierten die revolutionären Ministerien für Finanzen und Landwirtschaft zwar nur ansatzweise, alle anderen Untergrundbehörden fast überhaupt nicht, doch auch ihre Erlasse ließen sich für Propaganda nutzen, täuschten nach außen das Funktionieren der revolutionären Republik vor. Mitte 1921 sah sich die britische Regierung zu Verhandlungen mit Sinn Fein gezwungen. Am 11. Juli 1921 trat ein Waffenstillstand in Kraft. Nach zähen Vorverhandlungen sandte die revolutionäre Regierung schließlich fünf Delegierte zu den Verhandlungen nach London: den Außenminister Arthur Griffith, den Finanzminister Michael Collins, den Wirtschaftsminister Robert Barton, sowie die Verfassungsrechtler Gavan Duffy und Eamon Duggan. Über die wirtschaftliche, finanzielle, innenpolitische und militärische Autonomie Irlands wurden sich Iren und Briten relativ schnell einig. Irland
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erhielt weitgehende Autonomie: ein eigenes Parlament, eine eigene Armee, Finanzhoheit und Souveränität in den inneren Angelegenheiten. Militärisch und außenpolitisch blieb die irische Souveränität eingeschränkt: Irland konnte nur über Umwege eine eigene Außenpolitik betreiben; denn es blieb völkerrechtlich durch Großbritannien vertreten. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl durfte Irland keine größere Armee haben als England und außer einer Küstenwache keine eigene Flotte unterhalten. Die britische Flotte durfte weiterhin einige irische Häfen nutzen. Das Nordirlandproblem hatte die britische Regierung schon 1920 provisorisch gelöst, als es im „Government of Ireland Act“ zwei getrennte „Home Rule“-Parlamente für Nordund Südirland vorsah. Jetzt verpackte sie die Teilung Irlands so, daß die irischen Delegierten genau wie eine überwiegende Mehrheit innerhalb der revolutionären Elite meinten, sie könne nur von kurzer Dauer sein. Die sechs nordöstlichen Grafschaften erhielten zwar das Recht, sich vom Irischen Freistaat loszusagen. Dafür sollte dann aber eine Kommission den Verlauf der Grenze neu festlegen.4 Der eigentliche Streitpunkt der Verhandlungen wurde bald der formale Status, den Irland erhalten sollte: Sollte Irland Teil des britischen Empires bleiben, Freistaat oder Republik werden? So gerieten die Verhandlungen in eine Sackgasse. In dieser Situation drohte der britische Premierminister David Lloyd George den irischen Delegierten mit Krieg und setzte ihnen ein Ultimatum bis zum folgendem Tag. Unter diesem Druck unterzeichneten die irischen Delegierten am 6. Dezember 1921 die bald als „treaty“ bekannt gewordenen „Articles of Agreement“ – ohne zuvor mit de Valera oder dem Kabinett gesprochen zu haben. Sie akzeptierten jetzt notgedrungen, was ihnen lange Zeit inakzeptabel schien: Irland blieb als Freistaat de jure Teil des britischen Empires. Staatsoberhaupt blieb der britische König, auf den die Abgeordneten des irischen Parlaments einen Treueid schwören mußten. Als die fünf Delegierten nach Irland kamen, spaltete sich das revolutionäre Kabinett in Befürworter und Gegner des Vertrages. Präsident de Valera, Verteidigungsminister Cathal Brugha und Innenminister Austin Stack lehnten den Vertrag ab, während die Delegationsmitglieder Barton, Collins und Griffith sowie der Minister for Local Government Liam Cosgrave den Vertragsabschluß verteidigten. Bis Anfang Januar diskutierte das revolutionäre Parlament den Vertrag in einer stark emotionalisierten Debatte. Dabei spaltete sich auch das Parlament in Vertragsbefürworter und -gegner. Am 4
Artikel 12 der „Articles of Agreement“ siehe: CATHOLIC BULLETIN, Januar 1922, S. 14; Zugänglicher: CURRAN, Birth, S. 286.
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7. Januar 1922 ratifizierte das revolutionäre Parlament, Dail Eireann, den Vertrag schließlich knapp mit vierundsechzig zu siebenundfünfzig Stimmen. Die Vertragsspaltung erfaßte jetzt innerhalb kürzester Zeit fast alle revolutionären und nationalen Organisationen: Sie zerfielen, meist auch institutionell, in zwei verfeindete Flügel. Zwei Tage, nachdem der Vertrag ratifiziert worden war, trat de Valera als Präsident Dail Eireanns zurück. Die vertragsbefürwortende Mehrheit wählte jetzt Außenminister Arthur Griffith5, den Gründer Sinn Feins, zu seinem Nachfolger.6 Wie es der Vertrag vorsah, wählten die vertragsbefürwortenden Abgeordneten parallel zum Fortbestehen des ehemals revolutionären Dail Eireann eine provisorische Regierung. Ihr Vorsitzender wurde Michael Collins,7 als Leiter des revolutionären Geheimdienstes und Finanzminister die faktische Schaltstelle der Revolution und neben de Valera und Griffith die dritte prägende Persönlichkeit in Revolution und Bürgerkrieg. Auch wenn es in Irland jetzt zwei von den Befürwortern des Vertrages kontrollierte Regierungen nebeneinander gab: Die Führung der Vertragsbe-
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Arthur Griffith wurde 1871 in Dublin geboren. Seit 1899 propagierte er in wechselnden Zeitschriften und in seiner Partei Cumman na Gaedhael, ab 1905 Sinn Fein, die kulturelle, wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit Irlands. Griffith war nie dogmatischer Republikaner. Lange befürwortete er eine englisch-irische Doppelmonarchie nach dem, was er für das österreichisch-ungarische Vorbild hielt. 1917 gab er die Führung Sinn Feins an de Valera ab und wurde 1918 Außenminister des revolutionären Dail Eireann, saß während des Unabhängigkeitskrieges jedoch meist im Gefängnis. Anfang 1922 als Präsident Dail Eireanns zum Nachfolger de Valeras gewählt, starb er, durch Vertragsspaltung und Bürgerkrieg physisch und psychisch entkräftet, am zwölften August 1922 an Gehirnblutungen. Zusammengefaßt nach: DNB, 1922–1930, S. 365–8. Zum Unabhängigkeitskrieg siehe: F[RANCIS], S[TEWART], L[ELAND] LYONS, The War of Independence, in: WILLIAM EDWARD VAUGHAN (Hrsg.), A New History of Ireland, Bd. VI. Ireland under the Union, II, 1870–1921. (=NHI Bd. VI) Oxford 1996, S. 240–59; FITZPATRICK, Politics; TOWNSHEND, British Campaign; zur Übernahme des Local Government: GARVIN, 1922, S. 64–91; zu Unabhängigkeitskrieg und Vertragsspaltung: CURRAN, Birth; zur Teilung Irlands: LAFFAN, Partition. Eine Zusammenfassung von Unabhängigkeitskrieg und Vertragsspaltung findet sich, in: HOPKINSON, Green, S. 6–47. Michael Collins wurde 1890 als dritter Sohn eines Bauern in Cork geboren. Von 1905 bis 1915 lebte er in London, wo er bei der Post, später bei einem Börsenmakler arbeitete. 1916 wurde Collins Mitglied in der IRB und den Irish Volunteers und nahm am Osteraufstand teil. Bis Ende 1916 blieb er inhaftiert. 1918 als Abgeordneter des Dail für West Cork und Tyrone gewählt, war er ab 1919 erst Innenminister, dann Finanzminister des revolutionären Dail Kabinetts, ab 1919 Leiter des irischen Geheimdienstes. Von dieser formell unscheinbaren Position aus koordinierte Collins den Guerillakrieg der IRA, so gut das überhaupt möglich war. De facto war Collins der Kopf der revolutionären Bewegung, solange de Valera in den USA war. Nach der Vertragsspaltung war Collins die charismatische Führungspersönlichkeit und das Machtzentrum der Vertragsbefürworter. Er übernahm zu Beginn des Bürgerkrieges das Oberkommando über die Freistaatsarmee. Am 22. August 1922 wurde Collins in einem Hinterhalt erschossen. Zusammengefaßt nach DNB, 1922–1930, S. 199–201.
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fürworter hatte 1922 nicht zwei Regierungsapparate, sondern gar keinen. Die Ministerien waren desorganisiert und improvisierten mehr als sie funktionierten.8 Nach dem Abzug der britischen Truppen war die IRA in der Provinz der einzige Ordnungsfaktor. Doch sie war, insbesondere in Munster, zugleich der erbittertste Gegner des Vertrages. Ende März sagte sich die vertragsablehnende IRA endgültig vom Dubliner Hauptquartierlos los und wählte ihr eigenes Executive Council. Am 14. April 1922 beschlagnahmte ein radikaler Flügel der vertragsablehnenden IRA das Dubliner Justizverwaltungsgebäude, die sogenannten Four Courts, während die vertragsbefürwortende Führung versuchte, den ihr loyalen Teil der Truppe zum Kern einer zukünftigen Freistaatsarmee aufzurüsten.9 Der den Zeitgenossen bald unvermeidbar scheinende Bürgerkrieg wurde noch einmal kurzfristig aufgehalten, als am 20. Mai 1922 Collins und de Valera einen Wahlpakt aushandelten: Vertragsbefürwortende und vertragsablehnende Kandidaten sollten gemeinsam als Sinn Fein kandidieren und nach der Wahl eine Koalitionsregierung bilden. Doch zu einer Koalitionsregierung kam es nicht. Solange die Vertragsfrage ungeklärt blieb, hatte eine gemeinsame Politik keine Grundlage. Als radikale Republikaner am 22. Juni 1922 Field Marshal Sir Henry Wilson, Galionsfigur eines kompromißlosen Unionismus, ermordeten, hielt die britische Regierung die radikale IRA für den Drahtzieher. Sie forderte die Provisorische Regierung nun ultimativ auf, endlich die Four Courts zu räumen. Als die Four Courts-Besatzung wenig später den hochrangigen vertragsbefürwortenden General ‚Ginger‘ O’Connell entführte, nahm das die Provisorische Regierung zum Anlaß, am 28. Juni 1922 die Four Courts mit schwerer Artillerie zu beschießen.10 Die Kämpfe in Dublin dauerten bis zum 6. Juli 1922. Weil die britische Regierung die vertragsbefürwortende Armee mit modernen Waffen versorgte, eroberte diese schnell die Städte im republikanisch kontrollierten Munster. Als die vertragsbefürwortenden Truppen am 8. August 1922 Cork einnahmen, schienen sie den Krieg so gut wie gewonnen zu haben. Die IRA
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FANNING, Department of Finance, S. 39–54. Um beide Lager leichter unterscheiden zu können, werde ich für die Zeit nach März 1922 nur mehr den republikanischen Teil der Armee mit IRA bezeichnen. Die vertragsbefürwortenden Truppen, die sich lange Zeit noch selbst als IRA ettikettierten, nenne ich dagegen Freistaatstruppen, freistaatliche Armee oder vertragsbefürwortende Truppen. Zeit zwischen Vertragsspaltung und Beginn des Bürgerkrieges zusammengefaßt nach: HOPKINSON, Green, S. 52–114.
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teilte sich jetzt in mobile Einheiten, sogenannte „flying columns“, auf und ging zum Guerillakrieg über. Als die Vertragsbefürworter mit dem Tod von Griffith und Collins im August innerhalb weniger Tage ihre Führungsspitze verloren, bremste das ihre Siegeseuphorie. Dazu kam, daß sie den Guerillakrieg der IRA nicht unter Kontrolle bekamen. Deshalb beschloß die neue Freistaatsführung, härter durchzugreifen. Das von den Republikanern boykottierte neu gewählte Parlament verabschiedete Ende September einen „Public Safety Act“: Militärische Sondergerichte durften jetzt für illegalen Waffenbesitz und andere Vergehen die Todesstrafe verhängen. Um dieser Politik etwas von ihrer Härte zu nehmen, beschloß die Provisorische Regierung eine Amnestie für alle Republikaner, die sich ergaben und ihre Waffen auslieferten. Dazu unterstützten die katholischen Bischöfe die Provisorische Regierung: Sie exkommunizierten in einem Hirtenbrief vom 10. Oktober 1922 alle Republikaner, die den Guerillakrieg nicht aufgeben wollten. So unter Druck geraten, versuchten die Republikaner, die Initiative zurückzugewinnen: De Valera gründete am 25. Oktober 1922 eine republikanische Gegenregierung. Doch diese Regierung konnte nicht einmal die IRA kontrollieren, geschweige denn Regierungsfunktionen übernehmen. Am 17. November 1922 ließ die vertragsbefürwortende Führung die ersten vier von insgesamt siebenundsiebzig IRA-Aktivisten hinrichten. Von nun an wurde der Krieg zunehmend verbitterter geführt. Die IRA-Führung beschloß im Gegenzug, alle Mitglieder des dritten Dail, die für die „Murder Bill“ gestimmt hatten, „hinzurichten“. Am 7. Dezember 1922 erschoß die IRA deshalb den vertragsbefürwortenden Abgeordneten Sean Hales, worauf die Führung der Vertragsbefürworter am folgenden Tag vier führende Republikaner erschießen ließ. Das war deshalb so spektakulär, weil es ohne Gerichtsverfahren und ohne rechtliche Grundlage geschah – alle vier Exekutierten saßen schon lange vor dem Public Safety Act im Gefängnis. Ab Ende Dezember verbesserte sich die militärische Lage aus Sicht der freistaatlichen Regierung, auch wenn sie immer noch keine effektive Gewalt über viele Teile der Provinz hatte. Unter dem Druck fortlaufender Exekutionen und tausender Verhaftungen reduzierte sich die republikanische Kriegführung immer mehr auf eine Zerstörungskampagne, die sich gegen Häuser von Unionisten, Eisenbahnstrecken und Straßen richtete. Dennoch zog sich der Bürgerkrieg noch Monate hin. Die Führung der Vertragsbefürworter war nicht bereit, mit den Republikanern zu verhandeln, die der Republikaner nicht bereit zu kapitulieren. Erst Ende Mai gab die republikanische Führung auf, befahl der IRA, ihre Waffen zu verstecken und den Kampf abzubrechen. Die Wahlen vom August 1923 bestätigten die Frei-
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staatsregierung. Die neu gegründete Regierungspartei Cumman na nGaedheal11 gewann eine stabile Mehrheit und konnte sich, solange die Republikaner das Parlament boykottierten, leicht gegen Labour, Farmer und Unabhängige durchsetzen.12 Erst 1926 hörte de Valera auf, Dail Eireann zu boykottieren: Er verließ mit seinen Anhängern Sinn Fein und gründete die Partei Fianna Fail mit dem erklärten Ziel, im Parlament mitzuwirken. Diese pragmatische Politik de Valeras war ein Erfolg: In den Wahlen 1927 erreichte Fianna Fail auf Anhieb 44 Sitze, im Vergleich zu 47 Sitzen der Regierungspartei, Cumman na Ghaedeal. 1932 gewann Fianna Fail die Wahlen und begann, mit konstitutionellen Methoden den anglo-irischen Vertrag schrittweise außer Kraft zu setzen. Bereits fünf Jahre später erhielt der Irische Freistaat eine de facto republikanische Verfassung, die den Vertrag weitgehend unterhöhlte. 1939 gelang es de Valera, Irland aus dem Zweiten Weltkrieg herauszuhalten. Bis 1948 blieb Fianna Fail an der Macht und demontierte den Vertrag so weit, daß es für die nachfolgende Koalitionsregierung unter Fine Gael13 nur eine Formsache war, 1949 die Republik auszurufen.14
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Cumman na nGaedheal: „Verband der Gälen“. Bürgerkrieg zusammengefaßt nach: HOPKINSON, Green, S. 172–5, 179–182, 188–192, 221–5, 228–38, 256–8, 262. Fine Gael „Gälische Rasse“, Nachfolgepartei Cumman na Gaedeals. Ereignisgeschichte nach 1923 zusammengefaßt nach: FOSTER, Modern Ireland, S. 516–35; LEE, Ireland 1912–1985, S. 69–174.
I. Piaras Beaslai und die „national unity“
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B. BÜRGERKRIEG: URSACHEN UND HINTERGRÜNDE I. PIARAS BEASLAI UND DIE „NATIONAL UNITY“ Die Wurzel des Irischen Bürgerkrieges war die Spaltung der revolutionären Bewegung nach dem anglo-irischen Vertrag, die Vertragsspaltung. Nur wenn man sie analysiert, kann man die Ursachen und die Spielregeln des Bürgerkrieges erklären. Diese Spaltung verstand keiner der Revolutionäre als normalen Prozeß, etwa als Ausdifferenzierung des Parteienspektrums. Sie war für die Zeitgenossen ein Alptraum: das Ende eines der höchsten aller nationalen Werte, das Ende der „national unity“.1 Was war dieses Gegenstück zur Vertragsspaltung, was war „national unity“? Um „national unity“ zu erklären, brauche ich einen Zeugen, der – als führender Propagandist der IRA – selbst an diesem Konstrukt mitarbeitete. Piaras Beaslai: Dramatiker, Regisseur, Journalist, Redakteur, General in IRA und Freistaatsarmee und Chefzensor im Bürgerkrieg. Er ist einer der Geschichtenerzähler, die mir helfen sollen, die politische Kultur des irischen Bürgerkrieges zu entschlüsseln. Sein Idealbild von „national unity“ soll zeigen, wie die Sinn Fein-Propagandisten eine vermeintliche Einheit der Nation fingierten und wie sie dabei machtpolitische, soziale, ökonomische, religiöse und regionale Interessenskonflikte verschleierten. Beaslai wurde 1881 als Sohn katholischer irischer Emigranten in Liverpool geboren. Seine ersten fünfundzwanzig Lebensjahre verbrachte er in England. Schon früh interessierte er sich für europäische Literatur. 1905 kam Beaslai nach Dublin und trat dem einflußreichen Keating Branch der Gaelic League bei. Um die irische Sprache zu lernen, zog Beaslai, wie viele irische Nationalisten, vorübergehend in den irischsprachigen Westen.2 Der Einsatz für die irische Sprache wurde zu seinem Lebensinhalt. 1906 schrieb Beaslai sein erstes von insgesamt rund fünfzehn gälischen Theaterstücken. Er entwickelte einen eigenen Stil kurzer, unterhaltsamer Komödien, die sich vom sonst vorherrschenden Genre vordergründiger Propagandadramen abhoben.3
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Vgl. THE ROUND TABLE, XII, no. 47, (Juni 1922), S. 510; George Russle, als protestantischer Intellektueller aus der „national unity“ ausgeschlossen, war einer der wenigen, die die Spaltung als Normalisierung werteten. IRISH HOMESTEAD, 21. Januar 1922, S. 33. Z. B. Desmond FitzGerald oder Ernest Blythe. FITZGERALD, Memoirs, S. 1–24. So zumindest Beaslais Nachruf in: AN TOGLACH, vol.1, no.11 (Winter 1965), S. 5.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
Ab 1913 war Beaslai Direktor der Theatergruppe „Aisteoiri“, die er nicht nur mit seinen Theaterstücken versorgte, sondern auch mit Werken, die er aus dem Englischen, Französischen und Deutschen übersetzte.4 Zeitweise arbeitete er auch als Redakteur bei der Dubliner Tageszeitung Freeman’s Journal.5 Wie viele Mitglieder der Gaelic League engagierte sich Beaslai nicht nur für einen kulturellen Sprachnationalismus. Schon 1913 war Beaslai Gründungsmitglied der Irish Volunteers gewesen, 1916 nahm er am Osteraufstand teil. Nach dem Aufstand verhaftet, wurde er zu Zwangsarbeit verurteilt. Im Gefängnis unterrichtete und prüfte Beaslai andere Revolutionäre in Deutsch und Französisch.6 Nachdem er 1917 aus der Haft entfliehen konnte, hatte er nur noch wenig Zeit für seine Theatergruppe. Dennoch führte Beaslai mit den Aisteoiri noch bis in das Jahr 1920 Stücke auf. Das war kein kultureller Luxus, den sich Beaslai trotz seiner Rolle als Revolutionär leistete: Ein irisches Theaterstück aufzuführen, war für ihn nur eine andere Form des Kampfes gegen England, ein Auflehnen gegen die übermächtige Anglisierung Irlands.7 1918 bis 1923 saß Beaslai als Abgeordneter für die Grafschaft Kerry im revolutionären Parlament Dail Eireann. Er war enger Freund der populären Revolutionsführer Collins und Harry Boland. 1919 wurde Beaslai zweimal verhaftet, konnte jedoch nach drei, beziehungsweise sechs Monaten wieder fliehen. Als Leiter des Publicity Department der IRA war Beaslai Mitglied des General Headquarters und zugleich der wichtigste Propagandist der IRA. Es war Beaslai, der als Redakteur in den Leitartikeln der Armeezeitung An tOglach8 die offizielle Politik und den „Glauben“ der IRA artikulierte. Als klarer Befürworter des Vertrages übernahm er die freistaatliche Army-Publicity.9 Im Frühjahr 1922 ging er zwei Monate auf Propagandatour in die USA. Beaslai kam erst einen Monat vor dem Beginn des Bürgerkriegs nach Dublin zurück, wo er mit dessen Ausbruch zum Chefzensor des Freistaates ernannt wurde.10
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NLI, BP, box 19, Diary August/September 1923. NLI, BP, box 30, Volunteer Relics. BRENNAN, Allegiance, S. 118. Vgl. MARAGRET O’CALLAGHAN: Denis Patrick Moran and the „Irish Colonial Condition“, in: BOYCE et. al. (Hrsg.), Political Thought, S. 146–60, hier: 147–55. An tOglach, irisch für: der Freiwillige, Volunteer. LIMERICK LEADER, 19. April 1922, S. 3; NLI, BP, box 30, Volunteer Relics. NLI, BP, box 6, Eoin O’Duffy an Piaras Beaslai, 29. Juni 1922.
I. Piaras Beaslai und die „national unity“
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Nach dem Krieg veröffentlichte Beaslai nicht nur eine Hagiographie seines Freundes Collins,11 sondern konzentrierte sich auch wieder auf sein Engagement für die irische Sprache, insbesondere das Drama. 1925 bis Mitte der dreißiger Jahre war er Mitglied der Theatergruppe „An Comhar Drámaíochta“. Wieder übersetzte er fremdsprachige Stücke, darunter auch Goethes Faust, ins Irische.12 Und Beaslai schrieb wieder eigene Werke: 1928 und 1929 seine ersten beiden Tragödien. Bis zu seinem Tode 1965 arbeitete er als Schriftsteller, Journalist13 und Dramatiker.14 Zurück zur „national unity“: Am 28. Oktober 1922, kurz vor der Unterzeichnung des Vertrages, fand in Dublin der erste offene „Ard Fheis“15 der Sinn Fein seit Beginn des Unabhängigkeitskrieges statt. Zu dieser Zeit stand Beaslai auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Seine Beschreibung des „Ard Fheis“ war voller Optimismus. Obwohl oder gerade weil er einen neuen Krieg mit England jeder Zeit für möglich hielt, war er sich einer Sache sicher: „Among these three thousand delegates one saw no sign of the slightest difference of opinion on the National issue.“16 Beaslai zeichnete ein fast idealtypisches17 Bild dessen, was „national unity“ für einen irischen Revolutionär bedeutete: Convened at one of the most vital and critical moments in Ireland’s history, this great gathering represented in its fullest sense the democracy of Ireland. We have seen the Government and Parliament of the Nation meeting to legislate in a time when the fate of their country hung in the balance. We now saw a representative assembly of the people of Ireland who rendered allegiance to Dail Eireann, of the men and women who made the decrees of the Dail Eireann effective. [. . .] The Government of the Irish Republic is fortunate, I thought, in having such an instrument for putting its finger on the people’s pulse. It is true that Sinn Fein is in a sense a political party, but not in the same sense in which the term is used in party politics. It is pledged to only one doctrine – the right of Ireland to complete freedom – a doctrine, to
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PIARAS BEASLAI, Michael Collins and the Making of a New Ireland (2. Bde.). Dublin 1926. NLI, BP, box 2. Exemplarisch: 1923 veröffentlichte Beaslai eine Artikelserie für das FREEMAN’S JOURNAL. NLI, BP, box 19, diary, 6. September 1923. 1953 veröffentlichte Beaslai im IRISH INDEPENDENT eine Serie zum Unabhängigkeitskrieg. Siehe auch: Nationale Archive of Ireland, Department of the Taoiseach (NAI, D/T), S-15435. Ab 1961 bis zu seinem Tod gab er vierteljährlich eine neue Folge von AN TOGLACH heraus. Zusammengefaßt nach: AN TOGLACH, vol.1, no.11, (Winter 1965). Ard Fheis, irisch für: Parteitag. National Archive of Ireland, Sinn Fein Files (NAI, Sinn Fein), 1094/1/18, Piaras Beaslai, Impressions of Ard-Fheis, ca. November 1921. Zu Max Webers Konzept des Idealtypischen als „Meßlatte“ für die Realität: Vgl. MAX WEBER, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkentnis (erstmals 1904), in: WINCKELMANN (Hrsg.), Max Weber, Gesammelte Aufsätze S. 146–214, hier: S. 190–212, insbes., S. 190 f., 202.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
which the overwhelming majority of the people of Ireland subscribes. It is representative of those more active spirits of the population.18
Folgen wir Beaslais Argumentation, so unterschieden sich „das irische Volk“, Sinn Fein, Dail Eireann und die Regierung der Republik nicht in ihrer politischen Zielsetzung, sondern nur durch das Ausmaß ihres Engagements. Alle seien auf das gleiche Ziel verpflichtet: den Kampf für „the right of Ireland to complete freedom“. An diese Konstruktion von „national unity“ war eine Deutung von Demokratie geknüpft, die sich von pluralistischen Vorstellungen unterscheidet: Für Beaslai war Demokratie kein freier Wettbewerb unterschiedlicher Interessen. „National unity“ stellte einem legitimen nationalen Gemeininteresse, das a priori vorhanden sei, illegitime Partei- und Gruppeninteressen gegenüber. Beaslai relativierte die Rolle des Parlaments als Vertreter des Volkswillens, denn Sinn Fein und Dail Eireann waren nach Beaslai nur verschieden große Ausschnitte des nach völliger Unabhängigkeit strebenden irischen Volkes. Wenn das so war, dann war es theoretisch auch logisch, daß die größere Gruppe, der Parteitag Sinn Feins, die Demokratie Irlands „in its fullest sense“ verkörperte, daß der Ard Fheis der Ort war, an dem sich der „nationale Wille“ am klarsten artikulierte. Diese Konstruktion von „national unity“ und „democracy“ bedeutete so theoretisch eine direktere Form von Partizipation an der politischen Willensbildung. Praktisch sah das anders aus: Den angeblich a priori vorhandenen Volkswillen formulierten nicht die 3000 Delegierten, sondern die Elite Sinn Feins. Damit enthielt auch die irische „national unity“ eine „Robespierrist vision of the public good, [that] contained authoritarian tendencies“.19 Beaslais Vorstellungen von „national unity“ führten nicht dazu, daß er Sinn Fein oder gar das irische Volk zu einer homogenen Masse erklärte. Im Gegenteil: Sinn Fein zeichnete sich für Beaslai dadurch aus, daß es die verschiedensten Gruppen integrieren konnte. Stolz zählt Beaslai die verschiedenen Gruppen auf „who helped to build up the New Ireland we see today“: Men prominent in the language movement were here, men active in promoting industrial development, and who worked on local bodies, men who served in the Irish
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NAI, Sinn Fein, 1094/1/18, Piaras Beaslai, Impressions of Ard-Fheis, ca. November 1921. CHARLES TOWNSHEND, Political Violence in Ireland: Government and Resistance since 1848. Oxford 1983, hier: S. 329. Dieses Denken jedoch, gerade mit Blick auf die Vertragsspaltung, als „mentally still predemocratic“ abzuwerten, blockiert einen tieferen Zugang. Eine Tendenz dazu hat auch Tom Garvin in seinem sonst überzeugenden Buch: GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 142.
I. Piaras Beaslai und die „national unity“
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Army. There was a goodly proportion of women, active and ardent workers in the Republican Cause. There were also many priests, [. . .] examples of the new type of Irish Ireland priest. [. . .] It was a young assembly as compared with the old convention of the defunct Irish Parliamentary Party, but not so young as the Dail. Looking around the assembly one saw a greater proportion of grey heads, of aged and elderly men, [. . .] This was, as it should be, the Ard-Fheis was representative of all elements in the National movement, its conservative as well as its revolutionary sides.20
Männer und Frauen aus allen Teilen des Landes, Soldaten – also Guerilleros – und Politiker, für die irische Sprache, Kultur und Wirtschaft engagierte Nationalisten, Revolutionäre und Konservative21, Alt und Jung: Alle vereint und eher bereit „to face another period of hell let loose rather than surrender the right of their Nation to be free.“22 Diese Vorstellung, Sinn Fein sei das Volk, war zunächst einmal nichts anderes als nationalistische Propaganda. Beaslais Definition von „Volk“ schloß ganze politische und ethnische Volksgruppen implizit aus, Anhänger von Home Rule, Unionisten, „Travellers“23. Genauso ließ das Idealbild von „national unity“, der Primat des Nationalen, auch kaum Platz für verschiedene soziale Klassen – geschweige denn für unterschiedliche Klasseninteressen oder gar Klassenkämpfe. Hier lag die Achillesferse des Konzepts „national unity“: Es funktionierte nur, solange die Revolutionäre soziale und politische Interessengegensätze überspielen konnten. Denn der Ard Fheis war lange nicht so einig, wie Beaslai uns glauben machen möchte. Selbst in Beaslais Bericht kann man zwischen den Zeilen lesen, daß der kommende Kompromiß mit Großbritannien zu einer Zerreißprobe für die revolutionäre Bewegung werden würde. De Valera war da in seiner Abschlußrede auf dem Ard Fheis viel offener: Er rief die Delegierten auf, nach einem etwaigen Friedensvertrag unterschiedliche Meinungen zu tolerieren.24 Doch trotz aller propagandistischen Manipulationen: Das Idealbild „national unity“ hatte für irische Revolutionäre, wie Beaslai, eine hohe Anziehungskraft. Es war eine der Kernvorstellungen der irischen Revolutionäre im Unabhängigkeitskrieg, ja noch im Bürgerkrieg.25 Und solange tatsäch-
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NAI, Sinn Fein, 1094/1/18, Piaras Beaslai, Impressions of Ard-Fheis, ca. November 1921. Mit revolutionär und konservativ bezeichnet Beaslai die Sinn Fein Traditionen gewaltsamer und passiver Widerstand, nicht verschiedene soziale Programme. NAI, Sinn Fein, 1094/1/18, Piaras Beaslai, Impressions of Ard-Fheis, ca. November 1921. „Travellers“, abwertend auch „tinkers“ oder „tramps“: nicht seßhafte irische Volksgruppe, deren Lebensstil dem der kontinentalen Sinti und Roma stark ähnelt. HOPKINSON, Green, S. 23. O’DONOGHUE, No other Law, S. 16, 180 f.; VALIULIS, Mulcahy, S. 35.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
lich eine überwiegende Mehrheit der irischen Bevölkerung Sinn Fein unterstützte, ließ sich die Illusion von „national unity“ glaubhaft aufrecht erhalten.
II. „OBJEKTIVE“ MOTIVE DER REVOLUTIONÄREN ELITE? Nur wenige Wochen später war diese „national unity“ endgültig zerstört, die revolutionäre Bewegung gespalten. Die Vertragsspaltung erfaßte zuerst die Untergrundregierung, dann das revolutionäre Parlament, Sinn Fein, die IRA, die Frauenorganisation Cumman na mBan, die Jugendorganisation Fianna Eireann, die Gaelic League, die Gaelic Athletic Association, die Auslandsorganisationen in den USA, Großbritannien und Australien und schließlich die irische Bevölkerung. Im revolutionären Parlament attackierten sich beide Seiten bis hin zu persönlichen Beleidigungen. So beschimpfte der vertragsablehnend gesinnte Verteidigungsminister Cathal Brugha den Außenminister Griffith: „He thinks the war is won, so far as he could win it, for England.“ Zu Collins fragte er in einer Rede voller persönlicher Rundumschläge „Can it be authoritatively stated that he ever fired a shot at any enemy of Ireland?“26 Collins seinerseits verfluchte die Gegner des Vertrages als „Deserters, [. . .], Foreigners – Americans – English.“27 Auch Griffith beleidigte den Vertragsgegner Erskine Childers mit der stärksten Vokabel irischer Fluchkunst: „I will not reply to any damned Englishman in this Assembly.“28 Die vertragsablehnende Aktivistin Constanze de Markievicz titulierte dagegen die Befürworter des Vertrages als „oath breakers and cowards“ – eine ungewöhnliche Wortwahl für eine Gräfin der anglo-irischen Oberschicht.29 Die Debatte im revolutionären Dail Eireann kreiste fast ausschließlich um die symbolischen Bestimmungen des Vertrages. Die faktische Einschränkung der irischen Souveränität und die Nordirlandfrage waren dagegen stark untergeordnete Fragen.30 Die Aufgabe der revolutionären Repu-
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Dail Eireann (Hrsg.), Official Report: Debate on the Treaty between Great Britain and Ireland, signed in London on the 6th December 1921. Dublin o.J, (= DEBATE ON TREATY) Rede von Cathal Brugha, 7. Januar 1922, S. 325–34, Zitate S. 325, 327. DEBATE ON TREATY, Michael Collins, 10. Januar 1922, S. 410. Ebd., Arthur Griffith, 10. Januar 1922, S. 416. Ebd., Constanze de Markievicz, 10. Januar 1922, S. 410. F[RANCIS] S[TEWART], L[ELAND] LYONS, From War to Civil War. Three Essays on the Treaty Debate, in: BRIAN FARRELL (Hrsg.), The Irish Parliamentary Tradition. Dublin 1973, S. 221–56, hier: S. 253 f.
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blik, vor allem der Treueid des irischen Parlamentes auf den britischen König, erregte die Gegner des Vertrages. Diese argumentierten dabei überwiegend mit abstrakten Kategorien wie: „principles“, „honour“, „degradation“, „betrayal“, „the nation’s soul“ oder „national tradition“.31 Wie konnte es nach soviel „national unity“ wegen einer scheinbaren Nebensächlichkeit zu einer so erbitterten Spaltung kommen? Ein Verdacht liegt nahe: Mit der Harmonie muß schon vorher etwas nicht gestimmt haben. War die von Beaslai beschriebene „national unity“ also nur Fassade? Genauso verdächtig wie die Harmonie der „national unity“ scheinen auch die fast „metaphysischen“ Kategorien der Vertragsgegner. Was lag hinter „Ehre“, „Verrat“, „nationaler Tradition“? Gab es da in Wahrheit nicht ganz andere – handfeste machtpolitische oder soziale – Interessen? Im folgenden werde ich versuchen, Beaslais Bild von der „national unity“ zu demontieren, um anscheinend tiefer liegende Ursachen des Bürgerkrieges freizulegen. Meine Analyse konzentriert sich dabei auf die revolutionäre Elite; denn sie hatte die Revolution gemacht, sie wurde von der Vertragsspaltung als erste erfaßt, und von ihr breitete sich die Spaltung der Nation aus. Geleitet von der vorhandenen Forschung, probiere ich aus, wie tragfähig verschiedene historiographische Ansätze sind, um die Ursachen des Bürgerkrieges zu erklären. Ich frage politikgeschichtlich: Verursachten persönliche Rivalitäten, Flügelkämpfe, unterschiedliche Zielvorstellungen den Bürgerkrieg? Ausgehend vom Basis-Überbau-Theorem und dem Primat sozio-ökonomischer Faktoren, suche ich nach unterschiedlicher sozialer Programmatik, nach Klassenkämpfen, nach verdeckten sozialen Interessen und Konflikten – auch außerhalb der revolutionären Elite. Wenn man den sozialhistorischen Ansatz ausweitet, stellen sich weitere Fragen: War die Entscheidung der Revolutionäre abhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Religion, ihrer regionalen oder ethnischen Zugehörigkeit, ihrem Alter, ihrer Bildung oder von Exilerfahrung? Wenn ja, warum? Auch die politikgeschichtliche Fragestellung läßt sich sozialhistorisch modifizieren: Welche politische Sozialisation durchliefen die Revolutionäre? War die Vertragsspaltung ein Konflikt zwischen Zivilisten und Guerilleros oder zwischen Veteranen des Osteraufstandes und revolutionären Parvenus? All diese Ansätze können die Vertragsspaltung nur zum Teil erklären. Und dennoch sind diese Fragen nicht vergeblich gestellt: Aus den Antwor-
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DEBATE ON TREATY: Sean Etchingham, 20. Dezember 1921, S. 56 f.; Seamus Robinson, 6. Januar 1922, S. 289, 291; Mary MacSwiney, 21. Dezember 1921, S. 112; Cathal Brugha, 7. Januar 1922, S. 330.
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ten auf die gescheiterten Fragestellungen ergibt sich ein Bild Irlands und seiner revolutionären Elite um 1921. 1. PERSÖNLICHE RIVALITÄTEN UND MACHTKÄMPFE Der älteste bekannte Geschichtstheoretiker, Thukydides, ging davon aus, daß sich die Geschichte nach gewissen Gesetzen, den Gesetzen der menschlichen Natur, entwickele: Diese sei bestimmt von Habsucht, Ruhmsucht und Ehrgeiz. Vor allem während eines Krieges, so Thukydides, zeigten sich diese Eigenschaften des Menschen als bittere Machtkämpfe.32 Lagen etwa persönliche Rivalitäten und Machtkämpfe hinter der Vertragsspaltung? Was verschwieg Beaslai bei seiner harmonischen Beschreibung der „national unity“? Innerhalb der revolutionären Elite gab es, wie kaum anders zu erwarten, persönliche Spannungen, die sich besonders seit dem Waffenstillstand im Juli 1921 verschärften. Dubliner Hauptquartier und lokale IRA-Einheiten gerieten schon vor, aber vor allem nach dem Waffenstillstand häufig aneinander. In den Provinzen stritten sich häufig benachbarte Brigadeführer miteinander, setzen dabei oft tradierte lokale Rivalitäten fort. Das konnte die Entscheidung einzelner Brigadeoffiziere überlagern. Auch die Führung der Vertragsbefürworter kannte diese Rivalitäten und nutzte sie gezielt, um wenigstens einige Brigaden auf ihre Seite zu ziehen.33 Rivalitäten auf der Führungsebene zeigten sich erstmals während de Valeras USA-Reise. Dort zerstritt er sich zunehmend mit John Devoy und Daniel Cohalan, deren Führungsanspruch über die irischen Exilanten de Valera nicht akzeptieren wollte.34 Auch innerhalb der revolutionären Regierung in Irland herrschten Spannungen, die während der Vertragsdebatte in den oben zitierten Beleidigungen gipfelten. Griffith konnte Erskine Childers schon lange vor Dezember 1921 nicht ausstehen. Ihr Verhältnis eskalierte schon während der Vertragsverhandlungen in London, weil Childers von Anfang an jedem Kompromiß mit England mißtraute.35 Während de Valera, Präsident der revolutionären Republik, in den USA auf Propagandatour war, wurde Collins immer mehr zum eigentlichen 32 33 34
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THUKYDIDES, Der Peloponesische Krieg, Buch III, 82, 2; 82, 8. VALIULIS, Mulcahy, S. 86 f., 99–106, 111, 148 f.; HOPKINSON, Green, S. 11, 41–4. ALAN J. WARD, Ireland and Anglo-American Relations 1899–1921. London 1969, S. 216, 219, 232 f.; DONAL MCCARTNEY, De Valeras Mission to the United States, 1919–1920, in: ART COSGROVE und DONAL MCCARTNEY (Hrsg.), Studies in Irish History. Dublin 1979, S. 304–23, hier: S. 311–9. HOPKINSON, Green, S. 26.
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Machtzentrum der Revolution. Als Kopf der IRB und Geheimdienstchef der IRA plante er den Guerillakrieg, als Finanzminister lenkte er die revolutionäre Regierung.36 Darunter litten nicht nur Austin Stack und Cathal Brugha, die sich in ihren Kompetenzen als Innen- beziehungsweise Verteidigungsminister übergangen fühlten.37 Auch de Valera empfand Collins nach seiner Rückkehr als Rivalen. Zwischen den beiden entwickelte sich ein latenter Machtkampf, der nach der Vertragsspaltung wirkungsmächtiger wurde als alle anderen persönlichen Rivalitäten. Durch sie multiplizierte sich die Vertragsspaltung, beschleunigte sich seine Dynamik. Beide hatten in der revolutionären Bewegung, aber auch in der Bevölkerung eine große Zahl von Anhängern und Bewunderern, die ihre eigene Entscheidung maßgeblich an den nationalen Führungspersönlichkeiten, „DeV“ und „Mick“, orientierten.38 Gerade innerhalb der IRA hatte Collins großen Einfluß. Seine Geheimdienst „Squad“ war wie eine private Elitetruppe auf ihn eingeschworen. Auch bei den niederen Rängen und der Mannschaft der IRA war „the Big Fellow“39 populär, viel populärer als de Valera.40 „What is good enough for Mick Collins is good enough for me“, wurde hier zum besten Argument der Vertragsbefürworter.41 Collins und Richard Mulcahy, Chief of Staff der IRA, hofften deshalb den Vertrag in der IRA über „loyalty“ durchzusetzen;42 genauer durch „allegiance“: Denn „loyalty“ klang für nationale Revolutionäre „British“, nach Treue gegenüber König und Empire.43
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HOPKINSON, Green, S. 7. VALIULIS, Mulcahy, S. 44 f., 61. MCCARTNEY, Mission, S. 322 f. Frank O’Connor benannte seine Collinsbiographie nach diesem Spitznamen von Michael Collins: FRANK O’CONNOR, The Big Fellow: Michael Collins and the Irish Revolution. Dublin 1965. VALIULIS, Mulcahy, S. 47; HOPKINSON, Green, S. 14, 40, 44. Entsprechend bitter wurde dieses geflügelte Wort von den Vertragsgegnern im Dail Eireann zitiert: DEBATE ON TREATY: Patrick MacCartan, 20. Dezember 1921, S. 81; Mary MacSwiney, 21. Dezember 1921, S. 125; Seamus Robinson, 6. Januar 1922, S. 290. VALIULIS, Mulcahy, S. 111, 114; Eine Schlüsselrolle sollte dabei dem Geheimbund IRB zukommen: HOPKINSON, Green, S 44. Exemplarisch die Formulierung der „Proclamation of the Republic“ von 1916: „The Irish Republic is entitled to, and hereby claims the allegiance of every Irishman and Irishwomen.“ TCD, Long Hall, Austellungsstück der Proclamation of the Republic. Siehe auch den Titel von Robert Brennans Memoiren: BRENNAN, Allegiance. „Allegiance“ zur revolutionären Republik war eines der Kernthemen der Vertragsdebatten: DEBATE ON TREATY: Kevin O’Higgins, 19. Dezember 1921, S. 46; Sean Etchingham, 20. Dezember 1922, S. 56; Harry Boland, 7. Januar 1922, S. 303; Cathal Brugha, 7. Januar 1922, S. 325; Siehe auch: NAI, Sinn Fein, 1094/1/18, Piaras Beaslai, Impressions of Ard-Fheis, ca. November 1921; Exemplarisch für die vertragsablehnende Propaganda: AN POBLACHT, 27. April 1922, S. 4.
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Doch ganz so einfach, wie Mulcahy sich das vorstellte, funktionierte es nicht: Die meisten Brigade-Offiziere fällten ihre Entscheidung unabhängig vom Dubliner Hauptquartier und meist gegen den Vertrag. Gerade in der Provinz wirkte „allegiance“ häufig gegen die Vertragsbefürworter. Der vertragsbefürwortenden oder meist -ablehnenden Entscheidung eines prominenten lokalen Offiziers folgte häufig seine gesamte Einheit. Je populärer er war, um so größer war sein Einfluß auf die niederen Ränge und die Mannschaften seiner Region.44 Auch „allegiance“ gegenüber dem „Präsidenten“ de Valera beeinflußte zahlreiche irische Nationalisten in den USA und Irland. Und nicht nur einfache Gemüter: Ein erfahrener Propagandist wie Harry Boland oder der Chefredakteur der amerikanischen Irish Press, Joseph McGarrity, revidierten ihre vertragsbefürwortende Position, sobald sie von de Valeras vertragsablehnender Haltung gehört hatten. Eine nähere Begründung de Valeras hierfür warteten sie erst gar nicht ab. Ähnlich handelten de Valeras oben erwähnte irisch-amerikanische Intimfeinde Devoy und Cohalan: Sie gaben ihre vertragsablehnende Position auf, nachdem sie von de Valeras Entscheidung erfahren hatten.45 Rivalitäten und Loyalität sollte man in ihrer Wirkung nicht überschätzen: Sie schoben die Dynamik der Vertragsspaltung zwar kräftig an, verursacht aber haben sie sie nicht.46 Die Spannungen in der revolutionären Bewegung waren eher persönliche Animositäten, Eifersüchteleien. Sie hatten nicht die Sprengkraft von Flügelkämpfen um handfeste Interessen wie Macht und Geld. Der Griff nach staatlicher Macht, nach einem einflußreichen Posten mit gesichertem Einkommen, motivierte die Revolutionäre zwar, für den Vertrag zu stimmen.47 Doch für die Republikaner, deren ehrbesessene Motive so mißtrauisch machen, galt das Gegenteil: Sie verzichteten auf einflußreiche Positionen und die damit verbundenen finanziellen Vorteile. De Valera etwa brachte sich um den sicheren Posten als Regierungschef des Freistaates.48 Brugha und Stack verloren ihre Ministerien. Liam Lynch, Liam Mel-
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VALIULIS, Mulcahy, S. 111; HOPKINSON, Green, S. 43 f. PATRICK MURRAY, Voices of de Valera (unveröffentliche Thesis, Trinity College Dublin [TCD]). Dublin 1995, S. 261–4; ALAN WARD, Anglo-American Relations, S. 250 f. So auch die Einschätzung von TOWNSHEND, Political Violence, S. 368; vgl. auch: HOPKINSON, Green, S. 1. GARVIN, Hatred, S. 106. MURRAY, Voices, S. 164.
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lows, Rory O’Connor, Dan Breen, Ernie O’Malley und viele andere prominente Guerilleros waren offensichtliche Kandidaten für hohe und gut bezahlte Ränge in der Armee. Genauso lehnten es hunderte von einfachen IRA-Aktivisten ab, als besoldete Soldaten in der Freistaatsarmee zu dienen. Die Tragik des irischen Bürgerkrieges lag nicht darin, daß sich ehemalige Rivalen häufig in unterschiedlichen Lagern wiederfanden. Sie lag darin, daß ehemalige Kameraden keine Wege fanden, ihre Konflikte friedlich zu lösen. Der Bürgerkrieg war, wie es der gälische Terminus treffend beschreibt, ein „Cogadh na gCarad“, ein „Krieg unter Freunden“.49 „The Irish Civil War was in part an affair of class interest, but it was also in part quite literally a family affair.“50 Die Vertragsspaltung machte Familienangehörige und Freunde zu erbitterten Feinden, die im Bürgerkrieg auf unterschiedlichen Seiten kämpften und häufig auch starben.51 Collins überlebte den Bürgerkrieg ebensowenig wie sein bester Freund, der Vertragsgegner Harry Boland.52 Der vertragsbefürwortende Bildungsminister Eoin MacNeill verlor seinen Sohn, als ihn Soldaten der Freistaatsarmee „auf der Flucht“ exekutierten.53 Die Brüder Sean und Tom Hales wurden erschossen, der eine als vertragsbefürwortender Abgeordneter, der andere als Mitglied der IRA-Exekutive.54 Der freistaatliche Innenminister Kevin O’Higgins war kaum ein Jahr nach seiner Hochzeit für die Hinrichtung, genauer Ermordung seines Trauzeugen Rory O’Connor mitverantwortlich.55 Persönliche Bindungen und die kameradschaftliche Verbundenheit in der IRA bremsten die Dynamik der Vertragsspaltung. Sie schienen lange Zeit die größte Chance zu haben, einen Bürgerkrieg aufzuhalten, und führten dazu, daß ein großer Teil der IRA im Bürgerkrieg neutral blieb.56 Den Bürgerkrieg verhindert haben sie ebensowenig wie die persönlichen Rivalitäten und Machtkämpfe, die zu seiner Dynamik beitrugen, ihn verursacht haben.
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Das gälische Wort für Freund hat dabei eine Qualität, die dem Wort „Verwandter“ nahekommt, GARVIN, Hatred, S. 106. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 31 f. VALIULIS, Mulcahy, S. 113; siehe auch: National Archive Of Ireland, Robert Barton Papers (NAI, Robert Barton), 1093/12, Korrespondenz Robert Barton und Michael Forester. HOPKINSON, Green, S. 132. YOUNGER, Civil War, S. 470. Ebd., S. 425. HOPKINSON, Green, S. 191. Ebd., Green, S. 43, 131; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 204; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 31 f.
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2. SOZIO-ÖKONOMISCHE KONFLIKTE Beaslai war Propagandaprofi. Sicher hat er in seiner Beschreibung des Ard Fheis nicht einfach vergessen, soziale Gruppierungen zu erwähnen. Warum verschweigt Beaslai soziale Gegensätze? Lag hier der wunde Punkt der „national unity“? Waren „Ehre“, „Verrat“, „historische Verpflichtung“ nur der ideologische Überbau, der die Basis des Bürgerkrieges, nämlich soziale Konflikte, verdeckte? Wie hingen nationale und soziale Frage zusammen? Um diese Fragen zu beantworten, stelle ich im folgenden die Sozialstruktur Irlands dar und zeige, aus welchen Schichten sich die revolutionäre Elite rekrutierte. In einem nächsten Schritt untersuche ich die sozialen Konflikte während der Revolution und wie die revolutionäre Elite mit diesen Konflikten umging. War der Bürgerkrieg ein unter nationalen Vorzeichen ausgetragener Klassenkampf? Um das zu klären, prüfe ich, wie sich die soziale Zusammensetzung von vertragsbefürwortender und vertragsablehnender Elite unterschied und ob die Vertragsspaltung mit einer unterschiedlichen sozialen Programmatik innerhalb Sinn Feins korrelierte. a) Die Sozialstruktur Irlands Um 191157 war Irland mit seinen rund viereinhalb Millionen Einwohnern trotz langsamer Industrialisierung immer noch ein Agrarstaat. 1911 arbeiteten dreiundvierzig Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Die einzige hochindustrialisierte Stadt Irlands, Belfast mit seinen Werften, lag außerhalb der sechsundzwanzig Grafschaften des späteren Freistaates. 1911 lebten 57 Prozent der Bevölkerung auf dem Land in Siedlungen unter hundertzwanzig Einwohnern; 6,1 Prozent in Kleinststädten bis 999 Einwohner; 13,15 Prozent in Kleinstädten bis 20 000 Einwohner und 22,85 Prozent in größeren Städten über 20 000 Einwohnern. Die mit Abstand größten Städte waren Dublin und Belfast mit je knapp 400 000 Einwohnern, gefolgt von Cork mit gut 100 000 Einwohnern. Schließt man die Dubliner Vororte Pembroke, Rathgar und Rathmines aus, waren Waterford (27 464 Einwohner), Derry (40 780 Einwohner) und Limerick (47 247 Einwohner) die einzigen weiteren größeren Städte Irlands.58 Vor der Revolution lebten nur noch wenige Bauern als abhängige Pächter auf den Gütern protestantischer Landlords. Die britische Landpolitik seit
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1911 wurde die letzte vorrevolutionäre Volkszählung in Irland durchgeführt. LEE PERRY CURTIS, Ireland in 1914, in: NHI, Bd. VI, S. 145–88, hier: S. 150. F[RANCIS] S[TEWART], L[ELAND] LYONS, The Developing Crisis, in: NHI, Bd. VI, S. 123–44, hier: S. 142; CURTIS, Ireland in 1914, S. 148–53.
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1870 hatte die meisten Bauern zu Besitzern ihres Landes gemacht. Diese Bauern, selbst erst durch massiven sozialrevolutionären Druck zu Landbesitzern geworden, wurden jetzt zum Rückgrat sozialer Stabilität.59 Die meisten Höfe waren relativ klein. Sie waren Familienbetriebe, in denen der Bauer mit seiner Frau und seinen Kindern lebte. Von diesen Kindern übernahm meist ein bevorzugter, nicht unbedingt der erstgeborene Sohn den Hof. Töchter erbten selten, sie wanderten, wie die anderen nicht erbenden Geschwister, in die Städte ab, emigrierten oder halfen als unverheiratete und unbezahlte Familienangehörige auf der Farm mit.60 Unabhängige Bauern beschäftigten durchschnittlich 1,31 bezahlte Landarbeiter, selten mehr als zwei. Sie griffen überwiegend auf die Arbeitskraft ihrer Familien zurück. Die Form der Landwirtschaft war regional sehr verschieden. In den wenig fruchtbaren Gebieten Connaughts lebten die meist armen Bauern von Subsistenzwirtschaft: Sie hielten Kleinvieh und bauten etwas Gemüse und – wie schon im neunzehnten Jahrhundert – vor allem Kartoffeln an. Pro Bauer arbeitete hier durchschnittlich weniger als ein Landarbeiter. Im Südwesten, insbesondere in Cork, Tipperary, Limerick und Clare, dominierten mittelgroße Milchwirtschaftsbetriebe mit ein bis zwei Landarbeitern pro Farm.61 In Leinster überwog auf meist größeren Höfen arbeitsextensive, exportorientierte Fleischrindzucht. Diese Farmen beschäftigten im Schnitt knapp zwei Landarbeiter. Nur in Kildare, Meath und Waterford arbeiteten mehr als zwei Landarbeiter pro Hof, in der Grafschaft Dublin durchschnittlich sogar fast fünf.62 Doch modern wirtschafteten alle diese Betriebe nicht. Es gab trotz Bauernbefreiung kaum größere Investitionen und Produktionssteigerungen.63 Die weitgehend anglisierten Klein- und Kleinststädte waren der soziale Bezugs- und Treffpunkt des Umlandes. Sie waren Umschlagsort für Waren und Ideen: auf dem Markt, im Pub, nach und in der Kirche, im (politischen) Verein, beim Wahlkampf und bei anderen Festen. In diesen Kleinstädten, aber auch in den größeren Städten gab es ein starkes soziales Gefälle. Hier lebten verarmte unterbäuerliche Schichten, Gelegenheitsarbeiter und Ar-
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RONAN FANNING, Independent Ireland. Dublin 1983, S. 73; DONALD JORDAN, Merchants, „Strong Farmers“ and Fenians: The Post Famine Political Élite and the Irish Land War, in: CHARLES HARDING ENGLISH PHILPIN (Hrsg.), Nationalism and Popular Protest in Ireland. Cambridge 1987, S. 320–48, hier: S. 341–48. CURTIS, Ireland in 1914, S. 148, 165. Zu Clare: FITZPATRICK, Politics, S. 237–9. RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism, S. 49–53. Zahlen zum Verhältnis Bauern zu Landarbeiter: EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 34 f. FOSTER, Modern Ireland, S. 414.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
beitslose in völlig überbelegten Wohnräumen.64 Die besitzende Klasse in den kleineren Städten rekrutierte sich, neben einigen Bauern, vor allem aus einer kleinen aufstrebenden katholischen Mittelklasse, die sich insbesondere in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gebildet hatte und der traditionell protestantischen Mittelklasse mit Erfolg Konkurrenz machte. Sie stellte Teile der 13,8 Prozent der Bevölkerung, die der Zensus von 1911 als „commercial“ (6,1 Prozent) oder „professional“ (7,7 Prozent) klassifizierte.65 Diese „Petite Bourgeoisie“66 war sehr heterogen: Zu ihr zählten Geschäftsleute wie die örtlichen Laden- und Pubbesitzer. Daneben eine Gruppe, deren Bildung ihr höchstes Kapital war: Lehrer, niedere und mittlere Staatsangestellte, auch Intellektuelle, Journalisten. Eine weitere Gruppe stieß vor allem in größeren Städten in hochqualifizierte Berufe vor, die lange Zeit Protestanten vorbehalten gewesen waren: Ärzte, Juristen und Selbständige.67 Nur in den größeren Städten, vor allem in Dublin, exisiterte eine Arbeiterklasse. Die Volkszählung von 1911, die 33,7 Prozent der arbeitenden Bevölkerung als „industrial“ klassifiziert, ist dabei für das Gebiet des späteren Freistaats irreführend, da bereits um 1900 die Hälfte der Industriearbeiter in Belfast beschäftigt war.68 Neben qualifizierten Arbeitern wie Druckern, Eisenbahnern, Textil- und Hafenarbeitern war die Masse des Dubliner Proletariats ungelernt. Verglichen mit England oder Deutschland, erinnerten die Lebensumstände dieser Arbeiter mehr an die eines vorindustriellen Pauper als an das Proletariat des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Häufig ohne Arbeit, lebten sie an der Existenzgrenze in überfüllten Räumen ohne Kanalisation bei katastrophaler medizinischer Versorgung. Die Sterblichkeit unter Erwachsenen in Dublin war mit Abstand die höchste der britischen Inseln.69 64
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HENRY DERWENT GRIBBON, Economic and Social History, 1850–1921, in: NHI, Bd.VI, S. 260–356, hier: S. 319–22; Eine knappe aber plastische Beschreibung der Armut in der Provinzstadt Mallow: SIOBHÁN LANKFORD, The Hope and the Sadness. Personal Recollections of Troubled Times in Ireland. Cork 1980, S. 74 f.; Zur Anglisierung der Kleinstädte und des irischen Landes: TERENCE BROWN, Ireland a Social and Cultural History 1922–1979. London 1981, S. 89, auch S. 86–8. Zur Verteilung von Katholiken und Protestanten auf verschiedene Berufe der Mittelklasse: CURTIS, Ireland in 1914, S. 152–6. Ich verwende hier die in der irischen Sozialgeschichte üblichen Termini, hier nach GARVIN, Hatred, S. 96 und ders., Nationalist Revolutionaries, S. 21 f. Deutsche Begriffe, etwa „Bürgertum“ oder „Kleinbürgertum“ auf Irland zu übertragen, provoziert Mißverständnisse und unerwünschtes Wiedererkennen von nur vermeintlich Gleichem. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 21 f. LAFFAN, Partition, S. 3. FOSTER, Modern Irleand, S. 436 f.; vgl. GRIBBON, Social History, S. 337.
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In direktem Gegensatz zu dieser Verarmung lebten, in den noblen Vororten auch räumlich abgegrenzt, die gehobenere „Petite Bourgeoisie“ und die kleine Schicht der „Bourgeoisie Proper“: Industrielle, Großhändler, Besitzer von Warenhäusern, Druckereien, Zeitungen und Verlagen. Auch wenn der Übergang, Auf- und Abstieg in die mittlerweile katholisch dominierte Mittelschicht fließend war, waren Protestanten in dieser Schicht immer noch stark überrepräsentiert.70 Die traditionelle Elite Irlands waren die protestantischen, englandtreuen und meist aristokratischen Landlords. Obwohl sie ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ihre politischen, ökonomischen und religiösen Vorrechte schrittweise verloren hatten, blieb diese „Ascendancy“ zumindest bis 1921 Irlands privilegierteste Klasse. In ihren Stadtresidenzen und auf ihren Landsitzen grenzten sie sich – so weit wie möglich – von den katholischen Emporkömmlingen ab.71 Sie bildeten das soziale Zentrum des protestantischen Irlands, zu dem um 1911 jeder vierte Ire zählte.72 Doch während die Protestanten in Ulster ab den 1860er Jahren eine knappe Mehrheit stellten, lag ihr Anteil im Gebiet des späteren Freistaats nur bei etwa zehn Prozent.73 Die protestantische Minderheit war im Vergleich zu der katholischen Bevölkerung sozial zwar deutlich privilegiert, rekrutierte sich dabei jedoch aus allen sozialen Schichten. Nur knapp ein Fünftel aller Protestanten besaß Land. Was diese Gemeinschaft in einer Art „sozialen Apartheid“74 zusammenhielt, war eine vom katholischen Irland weitgehend abgekoppelte protestantische Kultur: Eine eigene Kirche, die Church of Ireland, ein eigener politischer Glaube, der Unionismus, eigene Formen der Sozialisation. Wer es sich leisten konnte, schickte seine Kinder auf englische Public Schools, danach zum Studium nach Oxford, Cambridge oder Trinity College Dublin. Viele machten Karriere im englischen Staatsdienst oder Militär. Dazu pflegte die „Ascendancy“ weiter ihren am englischen Landadel orientierten Lebensstil: Fuchsjagden, gesellige Clubs, Bälle, Cricketspiele. Je nach Anlaß nahmen Protestanten mit dem unterschiedlichsten sozialen Status in verschiedenen Rollen daran teil.75
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GRIBBON, Social History, S. 335–7; TERENCE BROWN, Ireland, S. 108. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 47; LAFFAN, Partition, S. 8. CURTIS, Ireland in 1914, S. 155. LAFFAN, Partition, S. 2. MACDONAGH, States of Mind, S. 29. FITZPATRICK, Politics, S. 46–60; LYONS, Culture and Anarchy, S. 19–23, 102 f.; FOSTER, Modern Ireland, S. 378; KIM O’ROURKE, Descendency? Meath’s Protestant Gentry, in: DAVID FITZPATRICK (Hrsg.), Revolution? Ireland 1917–23 (= Trinity History Workshop Publications, 3). Dublin 1990, S. 98–106, hier: S. 98–101.
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Noch stärker als die Religionszugehörigkeit prägte das jeweilige Geschlecht die Aussichten im deutlich von Männern dominierten Berufsleben Irlands. Verheiratete Frauen kümmerten sich im Regelfall um Haushalt und Familie, halfen bei der Ernte, bei ärmeren Bauern auch das ganze Jahr bei der Feldarbeit. Unverheiratete Frauen arbeiteten meist in Berufen, die sich weitgehend mit diesem Rollenbild deckten: Sie stellten ein Viertel aller Farmarbeiter, fünfundachtzig Prozent aller Haushaltshilfen und zwei Drittel aller Textilarbeiter. Wenn 1911 auch bereits 26,6 Prozent aller qualifizierten Berufe von Frauen besetzt waren, drangen sie jedoch kaum in höherstehende Berufe vor: Meist arbeiteten sie als Volksschullehrerin, Hebamme oder Krankenschwester, während nur 60 von 4848 irischen Juristen, aber immerhin bereits zehn Prozent aller Studenten Frauen waren.76 Die Sozialstruktur Irlands um 1911 war also in vielfacher Hinsicht differenziert: Trotz der stetig wachsenden bürgerlichen und bäuerlichen Mittelklasse fiel sie durch eine starke soziale Ungleichheit auf. Dazu kamen sich deutlich unterscheidende Lebensräume in der Stadt und auf dem Land, sowie regional sehr verschiedene Formen der landwirtschaftlichen Nutzung. Mindestens ebenso prägend wie diese regionalen Unterschiede war die Art, in der die Religionszugehörigkeit und das eigene Geschlecht die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten des einzelnen begrenzten oder förderten. b) Woher rekrutierte sich die revolutionäre Elite77? Wenn Beaslai behauptete, Sinn Fein sei das irische Volk, suggerierte er, daß sich die revolutionäre Elite aus allen sozialen Schichten gleichermaßen rekrutierte. Das war eine Verfälschung der auch den Zeitgenossen offensichtlichen Tatsachen. Obwohl Irland ein Agrarstaat war, stellten Bauern nur wenige Revolutionäre in IRA und Dail Eireann. Auch wenn sie häufig hochpolitisiert waren, hatten sie zuviel zu verlieren, um ihre Höfe zu verlassen und Berufsrevolutionär zu werden. Nur zehn Prozent der Abgeordneten des revolutionären Dail stammten aus der Landwirtschaft. Ebenso waren Landarbeiter und Arbeiter innerhalb der revolutionären Elite deutlich unterrepräsentiert. Wo Arbeiter politische Führungsrollen übernahmen, engagierten sie sich meist
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CURTIS, Ireland in 1914, S. 154, 165 f. Ich folge hier im wesentlichen GARVIN, Nationalist Revolutionaries, und seiner Definition von nationaler Elite: Garvin zählt insgesamt 304 Revolutionäre zur Elite: Die Abgeordneten des ersten und zweiten Dail, prominente Guerilleros und Cumman na mBan-Aktivistinnen, das IRB-Council und die sechzehn exekutierten Führer des Osteraufstandes. Ebd., S. 49.
II. „Objektive“ Motive der revolutionären Elite?
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direkt in der irischen Arbeiterbewegung.78 Das galt weniger für die IRA in der Provinz, in der ab 1920 auch (Land)arbeiter häufig lokale Kommandos übernahmen.79 Weibliche Revolutionäre stammten kaum aus dieser Schicht.80 Auch aus der katholischen „Bourgeoisie Proper“ rekrutierten sich kaum Revolutionäre. Materiell hatte diese Schicht ja auch allen Grund, mit der britischen Herrschaft zufrieden zu sein, während ihre Umsätze und ihr Hab und Gut unter der Revolution litten. Die radikalen Nationalisten schmähten diese an die englische Herrschaft assimilierten Katholiken daher als „Castle Catholics“.81 Die irischen Protestanten standen fast geschlossen auf der Seite Großbritanniens. Die Revolution bedrohte nicht nur ihre materiellen Interessen, sie stellte den sozialen Status, ja die Existenzberechtigung der als „English garrison“ verhaßten anglo-irischen „Siedler“ in Frage. Dennoch stammte eine kleine Gruppe prominenter Überläufer und Überläuferinnen aus dieser Klasse: Constanze de Markievicz, Gräfin, sozialistische Nationalistin, 1916 Offizierin im Osteraufstand und Arbeitsministerin der revolutionären Regierung; Maud Gonne, Schauspielerin, politische Aktivistin und die große unglückliche Liebe und Inspiration von William Butler Yeats; Robert Barton, Landwirtschaftsminister des revolutionären Dail und einer der fünf Unterzeichner des Vertrages; Erskine Childers, sein Cousin, führender republikanischer Propagandist im Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg; Ernest Blythe, Wirtschaftsminister im Dail und Minister für Local Government und später Finanzminister im Freistaat.82 Die überwiegende Mehrheit der revolutionären Elite rekrutierte sich – wie in vielen europäischen Ländern – aus der „Petite Bourgeoisie“.83 Das war ironischer Weise genau die Schicht, von der sich die britischen Reformer des neunzehnten Jahrhunderts erhofft hatten, sie werde Irland stabilisieren und in Großbritannien integrieren.84 Im ersten und zweiten Dail stellten sie fünfundsechzig beziehungsweise achtundfünfzig Prozent der Abgeordneten.85 Sie waren gut ausgebildet und hatten – anders als Arbeiter 78 79 80 81 82 83 84 85
JOHN LESLIE MCCRACKEN, Representative Government in Ireland. A Study of Dail Eireann, 1919–1948. London 1958, S. 32–4; LAFFAN, ‚Labour must wait‘, S. 204 f. FITZPATRICK, Politics, S. 203, 223 f. FALLON, Soul of Fire, S. 97 f. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 88–90. F[RANCIS] S[TEWART], L[ELAND] LYONS, The Burden of our History, in: BRADY (Hrsg.), Interpreting, S. 87–104, hier: S. 96; ders., Culture and Anarchy, S. 109. RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism, S. 65f; GARVIN, Hatred, S. 92 f., 95 f. LYONS, Culture and Anarchy, S. 12 f. MCCRACKEN, Representative Government, S. 32.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
und die auf ihren Höfen eingebunden Bauern – mehr Zeit, sich politisch zu engagieren. Fast alle revolutionäre Frauen stammten aus dieser Schicht.86 Innerhalb der offenbar so revolutionsanfälligen irischen Mittelklasse waren Ärzte, Juristen und niederer Klerus unterrepäsentiert. Wesentlich mehr Revolutionäre waren Intellektuelle und Journalisten, Pub- oder Ladenbesitzer; denn sie beschäftigten sich ohnehin beruflich mit Politik. Das örtliche Blatt war Sprachrohr eines – häufig nur durch Zensur und informellen Druck – gemäßigten Nationalismus.87 Die Läden, vor allem aber der Pub als „öffentliches Haus“, waren die wichtigsten Umschlagsorte für den örtlichen Klatsch und für politische Ideen.88 Staatsangestellte und Lehrer waren innerhalb der „Petite Bourgeoisie“ die auffälligste Gruppe. Sie hatten eine gute Ausbildung erhalten und waren meist hochqualifiziert. Dennoch waren ihre Aufstiegschancen beschränkt: Der britische Staatsdienst diskriminierte Katholiken und bevorzugte die – zu Recht – als loyaler geltenden Protestanten für bessere Positionen. Aus der daraus resultierenden Frustration konnten sich katholische Staatsangestellte kaum befreien, weil sie von der staatlichen Bezahlung abhängig waren.89 Das galt ebenso für die Lehrer, die im ersten Dail sieben von 69, im zweiten Dail fünfzehn von 125 Abgeordneten stellten.90 Für sie gab es so gut wie überhaupt keine Aufstiegsmöglichkeiten. Keine andere Gruppe war schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts so empfänglich für radikalen Nationalismus wie Lehrer. Patrick Pearse, Kopf des Osteraufstandes, war ebenso Lehrer wie de Valera oder die radikale Aktivistin Mary MacSwiney. Lehrer wurden zudem zu Multiplikatoren des radikalen Nationalismus, da sie ihre Schüler entsprechend indoktrinieren konnten. Zahlreiche IRAAktivisten aus dem Unabhängigkeitskrieg führten später ihre nationale
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GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 11, 15, 50–3, 116; Von den Vätern der Revolutionäre waren 51 Prozent Bauern, 25 Prozent kleine Geschäftsleute wie etwa Ladenbesitzer; ebd., S. 145; Vgl. FITZPATRICK, Politics, S. 88 (Hier zur Rolle von Pub- und Ladenbesitzern vor dem Ersten Weltkrieg); FALLON, Soul of Fire, S. 97f; CURTIS, Ireland in 1914, 167 f.; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 50–87. FITZPATICK, Politics, S. 90–2, 118 f.; Im ersten Dail saßen neun, im zweiten zehn Journalisten: GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 46. FITZPATRICK, Politics, S. 88. Zehn Abgeordnete des ersten und achtzehn des zweiten Dail waren Ladenbesitzer: MCCRACKEN, Representative Government, S32 f. GARVIN, Hatred, S. 95 f., 104 f.; ders., Nationalist Revolutionaries, S. 19–22, 29–31, 40–2. Nach HOBSBAWM, Reflections, S. 399, ist die Überproduktion von Schul- und Uniabsolventen in Kombination mit fehlenden sozialen Aufstiegsmöglichkeiten ein typisches Element nationaler Revolutionen. MCCRACKEN, Representative Government, S. 32 f.; Lehrer bekamen ihr Geld zwar vom Staat, es wurde aber über die katholische Kirche ausgezahlt. Sie befanden sich so in einer doppelten Abhängigkeit: GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 27.
II. „Objektive“ Motive der revolutionären Elite?
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Überzeugungen auf den (Geschichts-) Unterricht in ihrer Schulzeit zurück.91 Garvin schließt deshalb: „Only recently emerged from agrarian feudalism only partly affected by urban culture, denied political power by the colonial establishment, [. . .] the romantic dreams of nationalist revolutionaries reflected their desire to achieve power and were ultimately valued as ideological devices which legitimized their coming to power.“ Hinter der Revolution stehe die politische Blockade der Aufstiegsmöglichkeiten der „overeducated and under-regarded Petite Bourgeoisie“.92 Das läßt sich leicht nachvollziehen, vor allem da Garvin dieses Argument nicht zur alleinigen Begründung erhebt und darüber die Eigendynamik der republikanischen „Ideologie“ nicht übersieht. Problematischer wird diese Argumentation, wenn sie sich nicht primär auf politische, sondern auf soziale Diskriminierung stützt. Richard English etwa folgt Cormac Ó Gradas und Mary Dalys These, der weitgehende Ausschluß Irlands von den Profiten der britischen Industrialisierung, eine „fehlende“ Modernisierung, habe die Dynamik des Nationalismus wesentlich mit angeschoben. Durch die ungleichmäßige Industrialisierung Großbritanniens habe es den Revolutionären an sozialen Aufstiegsmöglichkeiten gefehlt. Der Nationalismus wird damit zum ideologischen Überbau des materiellen Interesses einer angeblich verhinderten Bourgeoisie. Diese letztlich kontrafaktische Argumentation läßt sich kaum beweisen, entweder man glaubt sie – oder nicht.93 Folgt man den Autoritäten der irischen Historiographie, Roy Foster und David George Boyce, lassen sich sozialhistorische Nationalismustheorien, insbesondere Modernisierungstheorien nur mit Mühe auf Irland übertragen.94
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GARVIN, Hatred, S. 102–04; ders., Nationalist Revolutionaries, S. 24–9, 46. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 162 f. Zur politischen Diskriminierung der Katholiken: ebd., S. 19–23, 47, 55 f. ENGLISH, Inborn Hate, S. 175–7. Auch English untersucht detailliert die Denkweise des irischen Republikanismus und beschränkt sich nicht auf große sozialhistorische Thesen. Vgl. den suggerierten, aber kaum belegten Zusammenhang von Modernisierung und Nationalismus in: GARVIN, Hatred, S. 92; ders., Nationalist Revolutionaries, S. 6–9, 163; diejenigen, die für Irland von einer Modernisierung im neunzenten Jahrhundert ausgehen, müssen dieses Argument stark modifizieren: JOSEPH J. LEE, The Modernisation of Irish Society, 1848–1918. Dublin 1973, insbes., S. 163–8. BOYCE, Nationalism, S. 375–87, FOSTER, Modern Ireland, S. 569 f., 596; Zur Problematik von Modernisierungstheorien im irischen Kontext bereits: CHARLES TOWNSHEND, Modernisation and Nationalism: Perspectives in Recent Irish History, in: History, 66, (1981), S. 233–43, insbes., S. 234, 236 f.; Zum Erklärungspotential von auf Modernisierung abzielenden Nationalismustheorien prinzipiell skeptisch: HOBSBAWM, Reflections, S. 388; GREENFIELD, Five Roads, S. 18; vgl. auch: DANIEL, „Kultur und Gesellschaft“, S. 93.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
Bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts blieb Irland ein „unmodernes Land“: ein katholischer Agrarstaat mit einer unproduktiven, traditionellen Landwirtschaft, die auf den Export nach Großbritannien angewiesen war.95 Zwar veränderten die Hungerkatastrophe von 1848 und die hohe Emigration im neunzehnten Jahrhundert die Agrarstuktur Irlands, so daß Häusler und Kleinststellen verschwanden.96 Doch durch den demographischen Einbruch beziehungsweise die menschliche Tragödie der Hungerkatastrophe97 blieb mehr beim Alten, als sich änderte.98 Die Emigration wirkte auch danach weiter als Ventil, was den Zurückbleibenden erlaubte, so weiter zu machen wie bisher.99 Die britische Landgesetzgebung ab 1870 löste dann den schwersten sozialen Konflikt Irlands, entschärfte damit die ökonomische Abhängigkeit des unmodernen Irlands vom industrialisierten Zentrum England. Die Landfrage schob zwar zunächst die Dynamik des irischen Nationalismus an, doch die Revolution begann erst lange, nachdem dieses soziale Problem weitgehend gelöst war. Umgekehrt existierte der irische Nationalismus schon, bevor die Auswirkungen der britischen Industrialisierung Irland überhaupt erreicht hatten.100 Wie sollte die kaum stattfindende Modernisierung die Mitglieder der „Petite Bourgeoisie“ so verunsichern und entwurzeln, daß sie zu Revolutionären wurde?101 Wovor sollten sich gerade die Gewinner der „Modernisierung“ fürchten?102 Doch ob es nun einen makrohistorischen Kausalzusammenhang zwischen Modernisierung beziehungsweise verzögerter Modernisierung und Nationalismus gab oder nicht, auffällig bleibt: Die revolutionäre Elite rekrutierte sich überproportional aus der unteren katholischen Mittelklasse und damit aus einer Schicht, die hoffen konnte, mit dem Ende der britischen Herrschaft selbst an die britischen „Fleischtöpfe“103 zu gelangen.
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FOSTER, Modern Ireland, S. 414, S. 569–82 erkennt erst für die Jahre 1950–1972 eine irische Modernisierung. BOYCE, Nineteenth Century, S. 6; EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 34 f.; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 3. BRADSHAW, Historical Scholarship, S. 201–5. Zur Frage, ob der „Famine“ eine Moderniserung Irlands auslöste: GRIBBON, Social History, S. 260 f. Emigration als „Sicherheitsventil“: GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 1; FOSTER, Modern Ireland, S. 371. BOYCE, Nationalism, S. 375–87. Vgl. HOBSBAWM, Reflections, S. 398–401. RICHARD VINCENT COMERFORD, Ireland 1850–1870: Post-Famine and Mid-Victorian, in: WILLIAM EDWARD VAUGHAN (Hrsg.), A New History of Ireland, Bd. V. Ireland under the Union, I, 1801–1870 (= NHI, Bd.V). Oxford 1989, S. 372–95, hier: S. 384 f. So auch der Vorwurf der republikanischen Propaganda, in: PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2.
II. „Objektive“ Motive der revolutionären Elite?
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c) Gab es soziale Konflikte? Wenn man schon kaum von einer Modernisierung Irlands sprechen kann, so gab es doch schwerwiegende soziale Konflikte, die Beaslai in seinem Bild von „national unity“ unterschlug. Mit Blick auf die katastrophalen Verhältnisse in Dublin ist das kaum überraschend: „The social and economic condition of Dublin in 1912 was certainly a breeding ground for trade union and socialist activity“.104 Das war etwas, wovor sich auch die Mitglieder der katholischen Mittelklasse fürchteten, ohne deshalb automatisch zu nationalen Revolutionären zu werden. Gerade innerhalb unterbürgerlicher und unterbäuerlicher Schichten war die nationale Bewegung keineswegs die einzige Organisation, die tausende von Iren vor und während des Unabhängigkeitskrieges mobilisieren konnte. 1909 gründete der radikale Arbeiterführer James Larkin die erste rein irische Gewerkschaft, ITGWU, die Irish Transport and General Workers Union. Die ITGWU expandierte schnell und bekam aus der Perspektive von 1913 das Potential, eine ernsthafte Konkurrenz für die übermächtige nationale Bewegung zu werden. Larkin organisierte 1913 in Dublin einen über sechsmonatigen militanten Streik, gründete als Schutztruppe der Streikenden die Irish Citizen Army. Die exisiterte weiter, auch nachdem der Streik und mit ihm die ITGWU kollabiert war.105 1916 wurde sie irlandweit bekannt, als sich rund 100 Mitglieder, angeführt von Irlands zweitem prominenten Arbeiterführer, James Connolly, am Osteraufstand beteiligten. Das verlieh dem nationalen Aufstand zwar einen sozialistischen Anstrich, bedeutete aber gleichzeitig das Aus für den am militärischen Umsturz orientierten Sozialismus und für die Irish Citizen Army.106 Erfolgreicher als James Connolly und die Irish Citizen Army wurde nach 1916 wieder die Gewerkschaftsbewegung, insbesondere die ITGWU. Zwischen 1916 und 1920 stieg die Mitgliederzahl der im Trade Union Congress zusammengeschlossenen irischen Gewerkschaften von 100 000 auf 225 000. Die ITGWU entwickelte sich dabei nach 1917 zu der führenden Gewerkschaft, als es ihr gelang, auch ungelernte Arbeiter und Landarbeiter in großen Mengen zu rekrutieren.107 Die Programmatik der irischen Gewerkschaftsbewegung war sozialrevolutionär, dabei jedoch nicht marxistisch, sondern syndikalistisch: Alle Ar-
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BOYCE, Nationalism, S. 365. FOSTER, Modern Ireland, S. 433, 438, 442–6. TOWNSHEND, Political Violence, S. 330. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 21–4; 36–8. Bis 1920 waren ein Drittel aller ungelernten Arbeiter und Landarbeiter in der ITGWU: FITZPATRICK, Politics, S. 245–52.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
beiter sollten sich in einer großen Gewerkschaft, der „One Big Union“, organisieren. Der Klassenkampf sollte dann als Kette sich verschärfender Arbeitskämpfe geführt werden: durch Sabotage, Boykott und Generalstreiks. In einem letzten großen Generalstreik sollte die „One Big Union“ dann schließlich die Macht über den Staat und die Produktionsmittel übernehmen. Das war im Vergleich zum „wissenschaftlichen“ Marxismus ein auf Aktion, teilweise Emotion angelegtes Programm.108 Ungeachtet dieses theoretisch sozialrevolutionären Ziels war die Führungsspitze von Irish Labour Party und ITGWU nach der Emigration Larkins 1914 und dem Tode Connollys 1916 de facto reformerisch.109 Der revolutionäre Radikalismus der Gewerkschaftsbewegung ging jetzt von den Aktivisten in der Provinz aus, deren Militanz zwischen 1917 und 1922 laufend zunahm. Sie weiteten örtliche Streiks zu lokalen Generalstreiks aus, sabotierten die Produktion, vernichteten Teile der Ernte oder grenzten den „Klassenfeind“ sozial aus. In einigen Fällen übernahmen sie kurzfristig die Betriebe, führten sie als Kooperativen – als sogenannte „soviets“ – weiter. Während des Agrarbooms der Kriegsjahre, aber paradoxer Weise auch noch zu Beginn der Agrarrezession 1920, erreichte die ITGWU so eine deutliche Steigerung der Reallöhne, insbesondere der Landarbeiter.110 Damit existierte während des Unabhängigkeitskrieges neben Sinn Fein und der IRA eine militante, sozialrevolutionäre Bewegung. Sie war zur Zeit der Vertragsspaltung an Erfolge gewöhnt und hatte ihre mehr als 200 000 Anhänger schlagkräftig organisiert. d) Nationale Revolutionäre und soziale Konflikte Welches Verhältnis hatte Sinn Fein zu dieser potentiell sozialrevolutionären Arbeiterbewegung? Verschwieg Beaslai bewußt konkurrierende sozialpolitische Vorstellungen während des Unabhängigkeitskrieges? Die sozialpolitischen Ziele innerhalb der revolutionären Elite waren sehr heterogen. Da war etwa Sinn Fein-Begründer Griffith, der seit dem Anfang des Jahrhunderts ein protektionistisches Industrialisierungsprogramm für Irland propagierte.111 Auf der anderen Seite des sozialpolitischen Spek108 109 110 111
EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 191; Vgl. auch das Desinteresse sozialistischer Republikaner an theoretischen Problemen: ENGLISH, Green on Red, S. 177. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 65–9, 142 f., 145–50; FITZPATRICK, Politics, S. 255; LYONS, Culture and Anarchy, S. 98. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 22–34, 37, 42–4, 51–3, 64, 111–24; FITZPATRICK, Politics, S. 250 f. RICHARD DAVIS, Arthur Griffith (= Irish History Series, No. 10). Dundalk 1976, S. 13–5; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 130–5.
II. „Objektive“ Motive der revolutionären Elite?
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trums orientierte sich eine aktive, aber trotzdem einflußlose Gruppe an sozialrevolutionären Vorstellungen.112 Die Mehrheit der Revolutionäre stand sozialen Fragen indifferent und desinteressiert gegenüber. Viele Sinn Fein-Aktivisten gingen davon aus, daß sich mit der Unabhängigkeit Irlands alle „sekundären“ Probleme von selbst lösen würden.113 Sie mißtrauten dem Kapitalismus oft genauso wie dem Sozialismus, denn beides schien ihnen „British“ zu sein. Ihre amorphen sozialen Vorstellungen waren letztlich konservativ, häufig von der katholischen Soziallehre beeinflußt und eher in moralischen als in ökonomischen Kategorien gedacht. Viele idealisierten einen Agrarstaat unabhängiger Bauern, obwohl sie faktisch Griffiths modernes Wirtschaftsprogramm unterstützen. Ein sozialrevolutionäres Programm war für sie als Teil der besitzenden Klasse wenig attraktiv.114 Darüber hinaus gab es noch andere schlagkräftige Gründe, warum im offiziellen Denken Sinn Feins keinen Platz für soziale Differenzen war, warum Beaslai soziale Differenzen verschwieg. Vor einer möglichen Entwicklung hatten die nationalen Revolutionäre nämlich mehr Angst als vor dem unwahrscheinlichen sozialrevolutionären Umsturz: Sie fürchteten, daß soziale Konflikte die „national unity“ untergraben, besitzende Bauern und katholische Kirche entfremden und somit die Schlagkraft der Revolution gefährden könnten.115 Doch mit Desinteresse und Verschweigen war das Problem nur teilweise zu lösen: Um „national unity“ zu garantieren, mußte sich Sinn Fein mit seinem sozialrevolutionären Flügel und mit der Arbeiterbewegung arrangieren. Deshalb versuchte sich Sinn Fein das Wohlwollen Labours durch große Gesten zu sichern. Eine solche Geste war das revolutionäre Arbeitsministerium. Es war kein Hort sozialen Radikalismus und hatte kaum realpolitischen Einfluß. Es war nicht mehr als ein Zeichen, daß Sinn Fein sich auch um die Arbeiter kümmern wollte.116 Eine andere große Geste gegenüber Labour war die sozialpolitische Absichtserklärung Dail Eireanns, das „Democratic Program“, an dem die nationalen Revolutionäre den Vorsitzenden der Labour Party Thomas John-
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116
GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 135–8; TOWNSHEND, Political Violence, S. 330; MITCHELL, Labour, S. 105 f. LAFFAN, ‚Labour must wait‘, S. 203 f.; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 131. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 91–3. LANKFORD, Hope, S. 226 f.; EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 88, 158; O’DONOGHUE, No other Law, S. 148; FITZPATRICK, Politics, S. 158, 271–80, 285; BOYCE, Nationalism, S. 378; LYONS, Culture and Anarchy, S. 96 f. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 91.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
son beteiligten. Auch wenn sie seine klare sozialistische Programmatik im nachhinein wieder verwässerten, auch wenn das „Democratic Program“ als sozialpolitisches Programm nie umgesetzt wurde: Irish Labour war es gelungen, an einem der wichtigsten Propagandatexte der Revolution mitzuschreiben, an einem fast verbindlichen Text über soziale und nationale Legitimität, an dem spätere Propagandisten kaum vorbeikamen.117 Sinn Fein beschränkte sich nicht nur auf rein symbolische Gesten: Die Aktivisten tolerierten die Arbeitskämpfe der Gewerkschaftsbewegung, wenn sie auch versuchten, eskalierende soziale Konflikte zu entschärfen oder zu schlichten. Ihre Toleranz gegenüber Labour endete dort, wo der soziale Status quo vor allem in der Landfrage angetastet wurde. Generelle soziale Veränderungen, so argumentierten die Revolutionäre gegenüber Labour, sollten bis nach der Revolution warten: „Labour must wait.“118 Wo Landlose die Revolution nutzten, um, oft im Namen der Republik, Brachland und Rinderweiden umzupflügen, griffen die örtliche IRA und die Dail Eireann Courts ein.119 Im Großen und Ganzen unterstützte Labour während des Unabhängigkeitskrieges Sinn Fein.120 1918 hatte die Irish Labour Party auf eigene Kandidaten bei der Wahl zum House of Commons verzichtet. Im Unabhängigkeitskrieg unterstützte die irische Arbeiterbewegung die Revolution wiederholt durch politisch motivierte Streiks. So verhinderte sie durch einen Streik im Mai 1920 britische Waffentransporte. Labour erklärte den ersten Mai 1919 und 1921 zum Nationalfeiertag für internationale Solidarität und irische Selbstbestimmung. Die am Hungerstreik beteiligten Republikaner im Mountjoy-Gefängnis unterstütze Irish Labour am 5. April 1920 mit einem zweitägigen landesweiten Generalstreik. Das Mittel, das eigentlich den syndikalistischen Umsturz erreichen sollte, der Generalstreik, diente jetzt nationalen Zwecken. Das war keine reine Indienstnahme von Irish Labour durch den Nationalismus: Der nationale Anstrich erlaubte Irish Labour, ungestört den ersten Mai zu feiern, radikale Kampfmittel wie den Generalstreik zu proben und sich dabei selbst zu radikalisieren.121 Auch sonst war die Kooperation Labours mit Sinn Fein keine Selbstverleugnung, sondern eine kalkulierte Politik. Mit dem sozialrevolutionären 117 118 119
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LYONS, Culture and Anarchy, S. 96; GREAVES, Liam Mellows, S. 169 f. LAFFAN, ‚Labour must wait‘, S. 214; vgl. O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 183. Das lag nicht primär am Klasseninteresse der IRA, in der im Lauf des Unabhängigkeitskrieges auch immer mehr soziale „Nobodys“ Führungspositionen übernahmen. FITZPATRICK, Politics, S. 203, 223 f.; EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 90–3, 158. MITCHELL, Labour, S. 104 f., S. 113–30; EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 83–94, 145–7. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 44–5, 87–9, 188; MITCHELL, Labour, S. 117–23.
II. „Objektive“ Motive der revolutionären Elite?
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Flügel Sinn Feins teilte ein großer Teil der Labour Party eine optimistische Annahme: Nach dem Sieg über das Mutterland von Kapitalismus und Imperialismus sei eine soziale Revolution, zumindest ein radikaler sozialer Wandel, wesentlich einfacher. Aus ihrer Sicht sprach nichts dagegen, zuerst die nationale Frage zu lösen. Die meisten von ihnen verstanden sich ohnehin nicht als Internationalisten, sondern als sozialistische irische Nationalisten. Der Märtyrer von 1916, James Connolly, verband sie direkt mit der republikanischen Tradition des Osteraufstandes und war ihre legitimatorische „Eintrittskarte“ gegenüber der nationalen Bewegung.122 Ab 1921 verschärfte sich das soziale Klima deutlich: Die Arbeitslosigkeit stieg vor dem Bürgerkrieg auf fünfundzwanzig Prozent. 1921 erfaßte die britische Agrardepression auch Irland. Die gestiegenen Erwartungen der Arbeiter und Landarbeiter ließen sich jetzt nicht mehr über höhere Löhne befriedigen. Trotzdem gab die ITGWU, anders als die englischen Gewerkschaften, nicht nach, führte ihre Arbeitskämpfe immer militanter und entwickelte ein beachtliches sozialrevolutionäres Potential. 1922 kam es in Irland zu über achtzig meist kurzlebigen Übernahmen von Produktionsanlagen. Diese „soviets“ wandelten sich immer mehr von einem radikalen Mittel im Kampf um höhere Löhne zu einer generellen Alternative der gesellschaftlichen Ordnung. Die brüchige Allianz zwischen Labour und Sinn Fein löste sich auf.123 Fragte Labour jetzt nach mehr als wohlwollender Toleranz? Welche Verbindung bestand zwischen dieser sozialen Krisensituation und der Vertragsspaltung? e) Soziale Krise und Vertragsspaltung Der marxistische Historiker Charles Desmond Greaves ortete in seiner Biographie des sozialistischen Republikaners Liam Mellows soziale Ursachen für den Bürgerkrieg. Träger des Unabhängigkeitskrieges sei die oben beschriebene, von der „Petite Bourgeoisie“ geführte Klassenallianz gewesen. Nach der Logik des historischen Materialismus habe sich mittelfristig Sozialismus oder Kapitalismus, Arbeiterklasse oder „Bourgeoisie Proper“ durchsetzen müssen. Als die Vertragsbefürworter den Vertrag mit England akzeptierten und den Freistaat gründeten, habe das den Sieg der „Bourgeoisie Proper“ besiegelt.124 Damit folgte Greaves der Bürgerkriegspropaganda
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EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 87, 94; FITZPATRICK, Politics, S. 255. EMMET O’CONNOR, S. 51–3, 64, 73–6, 96–106, 110–24; LITTON, Civil War, S. 58. GREAVES, Liam Mellows, S. 111, 167, 284 f., 301; zuletzt mit dieser Tendenz, wenn auch ohne neue Argumente: KOSTICK, Revolution in Ireland, S. 161–205, insbes. S. 166 f.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
seines Helden Mellows, der ebenfalls behauptete, auf der Seite der Vertragsgegner hätten vor allem die „men of no property“ gestanden.125 Waren vertragsbefürwortend und vertragsablehnend etwa nur Etiketten in einem primär sozialen Konflikt? Auch wenn die revolutionäre Elite relativ homogen war, so ist doch erstaunlich, daß es zwischen Vertragsbefürwortern und -gegnern kaum Unterschiede von sozialem Status und Herkunft gab.126 Das galt fast genauso für die soziale Programmatik. Zwar schlug sich die kleine Gruppe der sozialistischen Republikaner, die kümmerlichen Reste der Irish Citizen Army und die Communist Party of Ireland, auf die vertragsablehnende Seite. Doch waren Aktivisten wie Mellows, Peadar O’Donnell oder Constanze de Markievicz eine exotische Minderheit.127 Sie standen dabei im selben Lager mit erklärten Kapitalisten wie Cathal Brugha. Brugha war nicht nur Neunzehnsechzehner und Verteidigungsminister des Unabhängigkeitskrieges, sondern, als Kompagnon eines großen Dubliner Kerzenfabrikanten, auch ein viel gehaßter Feind der Arbeiterbewegung. Während des großen Streiks 1913 setzte Brugha auf eine kompromißlose Konfrontation mit dem radikalen Arbeiterführer James Larkin.128 Dennoch forderte das Organ der irischen Kommunisten, die Worker’s Republic, ihre Leser auf, sich mit de Valera und Brugha zu solidarisieren: „and this despite however reactionary either may be as regards the worker’s social aims.“129 Was Kapitalisten wie Brugha mit Sozialrevolutionären wie Mellows verband, war, wie schon im Unabhängigkeitskrieg, der Primat der nationalen Frage. Gerade angesichts der nationalen Krise waren soziale Fragen für die meisten Republikaner uninteressanter denn je, galten als egoistisches und antinationales Gruppeninteresse.130 In der von der IRA kontrollierten „Munster Republic“ existierten nicht deshalb so viele „soviets“, weil die Republikaner Sozialisten geworden waren, sondern weil sich die vertrags-
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University College Dublin, Desmond FitzGerald Papers (UCD, FGP), P80/298(15), Liam Mellows, Memo on general situation, 26. August 1922; ähnlich: CHARLES STEWART ANDREWS, Dublin Made Me. An Autobiography. Cork 1979, S. 229 f. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 142. ENGLISH, Green on Red, insbes., S. 175–7; RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism, S. 61; LAFFAN, ‚Labour must wait‘, S. 211; EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 148. FITZPATRICK, Politics, S. 264. WORKER’S REPUBLIC, 17. Dezember 1921, S. 5. Selbst Erhard Rumpf und Arthur Hepburn, die methodisch vom Primat sozio-ökonomischer Motive ausgehen, erkennen das an: RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism, S. 61, 63.
II. „Objektive“ Motive der revolutionären Elite?
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ablehnende IRA nicht dafür interessierte und ihre Kräfte gegen den nationalen Feind „Freistaat“ konzentrierte.131 Auch die Befürworter des Vertrages übernahmen die für Sinn Fein so charakteristisch indifferenten und amorphen sozialen Vorstellungen.132 Griffith war hier nach wie vor die große Ausnahme. Seine Vorstellung eines industrialisierten Irlands lief völlig konträr zu der der Irish Labour Party, die – obwohl theoretisch „neutral“ – bereit war, den Vertrag faktisch zu akzeptieren und politisch am Freistaat teilzunehmen.133 Auch das war wiederum kein Verrat der Führungsspitze von Irish Labour am Klasseninteresse der Arbeiter, sondern materialistisch kalkuliert: Der Treueid des irischen Parlaments auf den britischen König hatte nichts mit der sozialen Lage der Arbeiter zu tun. Umgekehrt hatten auch die Arbeiter durch einen aussichtslosen Krieg mit Großbritannien materiell nur zu verlieren. Ihr „Klasseninteresse“ ließ sich leichter in Arbeitskämpfen als in einer erfolglosen nationalen Revolution durchsetzen. Auch langfristige Entwicklungen sprechen gegen Greaves These vom Machtantritt der „Bourgeoisie Proper“: Weder Großbourgeoisie noch Arbeiterklasse gelang es, nach dem Vertrag die Politik in den sechsundzwanzig südlichen Grafschaften zu bestimmen. Der Freistaat entwickelte sich zum Ärger einiger irischer Kapitalisten nicht zum Staat des Großkapitalismus. Irland blieb ein Land, dessen Wirtschaft und Politik vom Interesse der Bauern und der „Petite Bourgeoisie“ dominiert wurde.134 f) Vertragsspaltung und Bevölkerung: eine sozialhistorische Analyse Unterschiedliche soziale Herkunft, soziale Konflikte und konkurrierende soziale Programmatiken haben den Bürgerkrieg nicht verursacht. Für die revolutionäre Elite waren das nebensächliche Fragen. Dagegen korrelierte innerhalb der Bevölkerung die Entscheidung in der Vertragsfrage wesentlich deutlicher mit unterschiedlichen sozialen Gruppierungen und Interessen. Tendenziell galt: Wer mehr zu verlieren hatte, war weniger bereit, einen neuen Krieg mit Großbritannien zu riskieren. Die überwiegende Mehrheit der besitzenden Bauern, der „Bourgeoisie Proper“ und der „Petite Bour-
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EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 129 f.; Die IRA bezog keine Stellung, verhinderte aber eine Eskalation des Konflikts zwischen Farmern und Arbeitern. LITTON, Civil War, S. 59. Zur Feindlichkeit von Vertragsbefürwortern wie -gegnern gegenüber Labour: FOSTER, Modern Ireland, S. 515. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 148 f. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 174 f.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
geoisie“ stand auf Seiten des Vertrages. Die Unterstützung in der irischen Oberschicht korrespondierte häufig mit ethnischen, religiösen und politischen Faktoren. Mitglieder der Oberschicht waren häufig protestantische Unionisten oder katholische Nationalisten im Sinne von Home Rule.135 Im Gegensatz dazu rekrutierten sich die Vertragsgegner überproportional aus sozial niedrigeren und vergleichsweise einflußlosen Schichten.136 Insofern hatten die sozialrevolutionären Republikaner wie Mellows schon recht, wenn sie behaupteten, auf der republikanischen Seite hätten vor allem „men of no property“ gestanden: Kleinstelleninhaber, abhängige Bauern, Häusler, Arbeiter, Landarbeiter, Arbeitslose. Sie hatten, verglichen mit den anderen Schichten, wenig zu verlieren, vielleicht sogar etwas zu gewinnen. Viele schielten gerade im Westen Irlands nach dem Grasland des örtlichen Landlords oder Großbauern. Einige Aktivisten nutzten die nationale Frage auch als willkommene Tarnung, um sich „im Namen der Republik“ noch einfacher zu bereichern: Etwa durch Bank- und Postüberfälle. Wie ein vergleichsweise gut informierter britischer Beobachter 1923 spöttisch feststellte: To call at a lonely house, inhabited for choice only by women and children, and at the revolver’s point demand £ 5 in the name of the Republic, is the extent of daring of which some of them are now capable. If there isn’t £ 5 in the house 5s. will do.137
Das hat den Bürgerkrieg nicht verursacht, trug aber wesentlich zu seiner Dynamik bei.138 Dennoch: In absoluten Zahlen stand auch die Mehrheit der „men of no property“ auf der vertragsbefürwortenden Seite – gerade diejenigen, die primär ihre sozialen Interessen im Blick hatten. Nicht nur die republikanische IRA, auch die Freistaatsarmee rekrutierte ihre niederen Ränge und ihre Mannschaften aus dieser Schicht. Wer Soldat wurde, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, für den war die Freistaatsarmee wesentlich attraktiver. Denn sie bot – wie die britische Armee im Ersten Weltkrieg – festen Sold, regelmäßige Verpflegung und regendichte Kasernen.139 Was ergibt sich aus der Analyse der sozio-ökonomischen Hintergründe? Obwohl sich die irischen Revolutionäre überproportional aus der kleinbürgerlichen „Petite Bourgeoisie“ rekrutierten, verfolgten sie weniger eine bestimmte Klassenpolitik als eine Politik der Klassenallianz. Sie versuchten
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RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism, S. 36, 62 f. Ebd., S. 36, 61, 66; HOPKINSON, Green, S. 46; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 142. THE ROUND TABLE, vol. XIII, no. 50, (März 1923), S. 266. HOPKINSON, Green, S. 222. Ebd., S. 136 f.
II. „Objektive“ Motive der revolutionären Elite?
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während des Unabhängigkeitskrieges soziale Konflikte zu entschärfen und zu vertagen. Während gerade im Westen Irlands viele Unterprivilegierte den Bürgerkrieg für ihre materiellen Interessen nutzten, wirkte sich auf der Ebene der revolutionären Elite eine unterschiedliche soziale Herkunft oder eine unterschiedliche soziale Programmatik kaum aus. Die Vertragsspaltung verlief zumindest innerhalb der revolutionären Elite quer zu sozialen Fragen. 3. ANDERE SOZIALE PARAMETER: ALTER, EXIL, RELIGION, GESCHLECHT, REGION, BILDUNG Beaslais „national unity“ schloß Iren aus allen Landesteilen, Frauen und Männer, Jung und Alt gleichermaßen ein. Auch religiöse Vorurteile trübten, nach Beaslai, nicht die Einheit der nationalen Bewegung: „There were Ulstermen here who lived in the partitioned Six County Area, and these were particularly active in debate. [. . .], but they spoke as Republican Irishmen and not as Catholics.“140 Doch auch mit diesem Aspekt der nationalen Einigkeit stimmte etwas nicht. Erstens rekrutierten sich die Revolutionäre nicht gleichmäßig aus den genannten Gruppen. Zweitens korrelierten die von Beaslai genannten sozialen Parameter deutlich mit der individuellen Entscheidung für oder gegen den Vertrag. Seit der Jahrhundertwende hatten Generationenkonflikt und Jugendkult die Dynamik des radikalen Nationalismus entscheidend mitgeprägt. Revolution war überwiegend eine Sache der jüngeren, in den 1880ern und 1890ern geborenen Generation. Revolutionär zu werden, war dabei auch ein Methode, der elterlichen Autorität zu entgehen und Freunde zu gewinnen. Jugendliche, die sich vor 1916 in Fußballvereinen oder lokalen Jugendbanden organisiert hatten, traten ab 1917 oft gruppenweise in die IRA ein.141 Bei der Vertragsspaltung selbst war das Alter unwichtig: Vertragsgegner waren im Durchschnitt etwas jünger als die Befürworter des Vertrages.142 Auch der Faktor Exil beeinflußte kaum die Einstellungen: Nur eine kleine Mehrheit der Revolutionäre, die zeitweise ins Ausland emigriert waren, befürwortete den Kompromiß. Wesentlich signifikanter waren die Kri-
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NAI, Sinn Fein, 1094/1/18, Piaras Beaslai, Impressions of Ard-Fheis, ca. November 1921. GARVIN, 1922, S. 40; PETER HART, Youth Culture and the Cork IRA, in: FITZPATRICK (Hrsg.), Revolution?, S. 10–24; FITZGERALD, Memoirs, S. 40 f.; ENGLISH, Inborn Hate, S. 196 f. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 147 f.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
terien Religion und ethnische Zugehörigkeit: Die wenigen anglo-irischen Überläufer stimmten fast ausnahmslos vertragsablehnend. Dasselbe galt für die meisten Revolutionäre, die nur einen irischen Elternteil hatten.143 Noch auffälliger verhielt sich eine andere Minderheit: Alle sechs weiblichen Abgeordneten Dail Eireanns stimmten gegen den Vertrag. Auch die revolutionären Frauen in Cumman na mBan lehnten ihn mit überwältigender Mehrheit ab, 419 Revolutionärinnen stimmten gegen, nur 63 für den Kompromiß mit England. Unter den wenigen weiblichen Vertragsbefürwortern, die Cumman na mBan verließen und die freistaatliche Frauenorganisation Cumman na Saoirse144 gründeten, handelten einige nur widerwillig und aus Loyalität gegenüber ihren Männern.145 Cumman na Saoirse blieb eine einflußlose Organisation. Frauen übernahmen im Freistaat kaum politische Funktionen.146 Revolutionärer Aktivismus war vor 1921 regional auffällig verteilt: Connaught und vor allem Ulster waren innerhalb der revolutionären Elite stark unterrepräsentiert, Munster überproportional vertreten. Auch die Entscheidung in der Vertragsfrage hatte ein deutliches regionales Muster: Die Gegner des Vertrages kamen häufiger aus Munster und Connaught, insbesondere aus den Gebieten, die den Guerillakrieg ge- und ertragen hatten.147 Auch die unterschiedliche Bildung der Revolutionäre korrespondierte signifikant mit deren politischer Haltung. Die revolutionäre Elite war gegenüber der Bevölkerung überdurchschnittliche gut ausgebildet: Fast ein Drittel der Abgeordneten des zweiten Dail und 26 Prozent der erweiterten revolutionäre Elite hatten studiert. 56 Prozent der Abgeordneten hatten die secondary school besucht, während einige lokale IRA-Führer nur ein Minimum an Schulbildung hatten. Revolutionäre mit Universitätsausbildung unterstützten überproportional den Vertrag, der Besuch einer weiterführenden Schule wirkte sich dagegen nicht signifikant auf die Entscheidung aus.148 Anglo-Iren, Protestanten, Halbiren, Frauen und Revolutionäre aus Munster und Connaught entschieden sich also tendenziell vertragsablehnend, 143 144 145 146
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Ebd., S. 146. Cumman na Saoirse: Verband für Freiheit. WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 166, 172. FALLON, Soul of Fire, S. 83. Eine Ausnahme war die Historikerin Alice Stopford Green, die ab Dezember 1922 im irischen Senat saß, und nach Michael Collins Tod dessen Schwester Margaret O’Driscoll. Siehe: YOUNGER, Civil War, S. 493. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 49 f., 52, 147 f. MCCRACKEN, Representative Government, S. 31. Von den Abgeordneten des ersten Dail hatten 60 Prozent eine secondary school besucht, 28 Prozent die Universität, ein College oder Technical College: GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 146.
II. „Objektive“ Motive der revolutionären Elite?
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ehemalige Exilanten, Hochschulabsolventen und Revolutionäre aus Ulster und Leinster tendenziell vertragsbefürwortend. Doch wo liegt die Logik in diesem Puzzle? Die Auffälligkeiten lassen sich nicht mit partikularen Gruppeninteressen begründen. Die protestantischen Überläufer verstießen mit ihrer Haltung gegen ihr ureigenes Interesse, stellten sich gegen eine Versöhnung zwischen ihrem revolutionärem Nationalismus und ihrer protestantischen Herkunft. Zwischen Vertragsbefürwortern und -gegnern gab es keine Unterschiede in der Frauenpolitik.149 Warum waren dann fast alle politisch aktiven Frauen gegen den Vertrag? Waren Frauen politikunfähig und irrational oder positiv gewendet: unbestechlich? Zwar war Irland von einem starken Lokalpatriotismus geprägt, doch sicher nicht genug, um einen Bürgerkrieg zu verursachen. Die irischen Lokalpatrioten kämpften darum, „nationaler“ zu sein als ihre Landsleute in den anderen Grafschaften. Lokalpatriotismus stützte so „national unity“, stand nicht in Konkurrenz zu ihr.150 War die Entscheidung eine Frage von Auslandserfahrung, Bildung oder gar Intelligenz? Waren Vertragsgegner in den Lieblingsworten des anglo-irischen Intellektuellen George Russell151 tatsächlich „heroes without brains“?152 Diese Fragen irritieren, scheinen teilweise politisch nicht korrekt, führen in eine Sackgasse. Am Ende meines Kapitels über die politische Kultur der revolutionären Elite werde ich versuchen, sie zu beantworten. 4. MILITÄRS KONTRA ZIVILISTEN? Am 6. Januar 1922, kurz vor der Vertragsabstimmung, rief de Valera das revolutionäre Parlament noch einmal zur Einheit auf; gleichzeitig drohte er seinen Rücktritt an. Beides tat er nicht, ohne seine eigene historische Rolle während der letzten fünf Jahre noch einmal ausführlich zu würdigen. Seit 1917 sei er das Verbindungsglied zwischen politischer Sinn Fein und militä149 150
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FALLON, Soul of Fire, S. 15–30, 122 f., 148; Frauenrechte spielten bei der Ablehnung des Vertrages kaum eine Rolle: ebd., S. 74–83. Zur Rolle der Rivalität zwischen Cork und Dublin: HOPKINSON, Green, S. 42 f.; O’DONOGHUE, No other Law, S. 52. Zur Vereinbarkeit von nationaler und lokaler Identität, vgl.: LINDA COLLEY, Britons. Forging the Nation, 1707–1837. London 1992, S. 162 f. George William Russle, besser bekannt unter seinem Pseudonym AE. Anglo-irischer Intellektueller, Dichter, Schriftsteller, Journalist und Maler. 1867 Geboren in County Armagh. Neben Lady Gregory und William Butler Yeats Schlüsselfigur der „Irish Literary Renaissance“. Als Herausgeber des offiziellen Organs IRISH HOMESTEAD neben Horace Plunkett der Initator der irischen Agrarkooperativen. 1923–1930 Herausgeber des IRISH STATESMAN. Zog nach dem Tod seiner Frau 1932 nach London und starb dort 1935. Zusammengefaßt nach: BOYLAN, Dictionary, S. 315. IRISH HOMESTEAD, 4. August 1923, S. 489; vgl. 4. März 1922, S. 130; IRISH STATESMAN, 15. September 1923, S. 51.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
rischer IRA, personifiziert durch Sinn Fein-Gründer Griffith und Verteidigungsminister Brugha, gewesen: „I found that they differed than as fundamentally as they differ today.“ Damals wie heute sei ein Ausgleich zwischen beiden Flügeln möglich: Das Parlament müsse nur den Vertrag ablehnen, mit England nachverhandeln und de Valera wieder zum Präsidenten wählen.153 War das der Grund für die Vertragsspaltung? Stimmte auch hier etwas mit Beaslais Harmonie nicht? Gab es einen Bruch zwischen den von Beaslai beschriebenen „. . .men active in promoting industrial development, and who worked on local bodies“ und den „men who served in the Irish Army?“154 Hatte Russle doch Recht, wenn er meinte, eine unkultivierte Gewaltdoktrin habe den „heroes without brains“ den Verstand geraubt? So scheint es: Unterschiedliche Formen politischer Sozialisation, also unterschiedliche revolutionäre Erfahrungen seit 1916, korrelierten deutlich mit der Entscheidung in der Vertragsfrage. Revolutionäre, die in Dublin oder der Provinz administrative Erfahrung im Local Government, den revolutionären Gerichten oder Untergrundbehörden gesammelt hatten, stimmten häufiger für den Vertrag. So hatten die später entscheidenden Führungspersönlichkeiten der Freistaatsregierung Liam Cosgrave und Kevin O’Higgins während des Unabhängigkeitskrieges das so erfolgreiche Ministerium für Local Government geleitet.155 Wer wie sie eine der sechsundzwanzig administrativen Schlüsselpositionen der Revolution besetzte, stimmte in zwei von drei Fällen vertragsbefürwortend.156 Auch die Führungsebene von IRA und IRB entschied sich deutlich vertragsbefürwortend: Das Supreme Council der IRB stimmte elf zu vier für den Vertrag. In der erweiterten Führungsebene der IRB, im Dubliner IRAHauptquartier und den Hauptquartieren der IRA-Divisionen gab es eine klare Zweidrittel-Mehrheit für den Vertrag. Genauso stimmten ehemalige Neunzehnsechzehner tendenziell vertragsbefürwortend. Vor allem in den ehemaligen Kriegsgebieten wandte sich die provinzielle IRA aber gegen diese Vorgaben der Führungsebene. Sie entschied sich mit deutlicher Mehrheit gegen den Vertrag. Das schlug sich, wenn auch weniger deutlich, im revolutionären Parlament nieder. Hier stimmten die „gunmen“,
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DEBATE ON TREATY, de Valera, 6. Januar 1922, S. 270–5; Zitat, S. 272. NAI, Sinn Fein, 1094/1/18, Piaras Beaslai, Impressions of Ard-Fheis, ca. November 1921. GARVIN, 1922, S. 68, 91 f. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 147 f.; ders., Hatred, S. 105 f.
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die circa ein Viertel der Abgeordneten stellten, mit einer knappen Mehrheit gegen den Vertrag.157 Doch obwohl es zunächst so scheint: Das war kein Konflikt zwischen den alten Traditionen des irischen Freiheitskampfes „physical force“ und „moral force“, zwischen Konstitutionalisten und Militaristen.158 Sinn Fein war eine Bewegung, die sich in Abgrenzung von der konstitutionellen Irish Parliamentary Party als revolutionär definierte. Fast alle Aktivisten teilten dabei die gleiche politische Zielvorstellung: eine unabhängige irische Republik.159 Einen konstitutionellen Flügel Sinn Feins konnte es so schon qua definitione nicht geben; allerdings unterstützten einige Revolutionäre die von Griffith propagierte Doktrin des passiven Widerstandes und hielten Gewalt gerade zu Beginn des Unabhängigkeitskrieges für ineffizient.160 Doch öffentlich äußerte kaum ein Abgeordneter seine Skepsis gegenüber dem Guerillakrieg der IRA. Selbst Griffith verteidigte nach außen den Terror der Untergrundarmee.161 Während der Vertragsdebatte stellte niemand mehr den Guerillakrieg der Jahre 1919–1921 oder gar den Aufstand von 1916 in Frage.162 Wenn die Vertragsbefürworter weitere Gewalt gegen Großbritannien ablehnten, dann nicht, weil sie Konstitutionalisten geworden waren, sondern weil sie Gewalt im Moment für das falsche Mittel hielten.163 Wenige Monate nach der Vertragsspaltung betrachteten als erste die Zivilisten um Griffith, nicht die Militärs um Collins, Gewalt als einziges Mittel, den Vertrag durchzusetzen.164 „Gunmen“ machten im republikanischen Lager eine signifikante und
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GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 146–8; RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism, S. 35; O’DONOGHUE, No other Law, S. 220–3; HOPKINSON, Green, S. 44. So etwa RICHARD DAVIS, Griffith, S. 13, S. 36 f., 39–41, 43; Ähnlich: GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 116; auch: SHEILA M. LAWLOR, Ireland from Truce to Treaty: War or Peace? July to October 1921, in: Irish Historical Studies, XXII, 85, (März 1980), S. 49–64, hier: S. 63 f.; differenzierter: BOYCE, Nationalism, S. 332 f. BOYCE, Nationalism, S. 329 f.; Auch hier ist Arthur Griffith, der den Vertrag „on its merits“ befürwortete, eine von ganz wenigen Ausnahmen: RICHARD DAVIS, Griffith, S. 36 f. TOWNSHEND, Political Violence, S. 331; FITZPATRICK, Politics, S. 199 f. HOPKINSON, Green, S. 8; RICHARD DAVIS, Griffith, S. 22, 24, insbes. 27–33; BOYCE, Nationalism, S. 322. Siehe: DEBATE ON TREATY, passim; RICHARD DAVIS, Griffith, S. 21 f., 39 f.; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 337; Erst rückblickend kritisierten einige Vertragsbefürworter die Guerillakampagne des Unabhängigkeitskrieges als unmoralisches Abweichen von der Sinn FeinDoktrin des passiven Widerstandes: O’HEGARTY, Victory, S. 55, 59, 125 f., 166–70, 173. DEBATE ON TREATY, Richard Mulcahy, 22. Dezember 1921, S. 143: „We have not been able to drive the enemy from anything but from a fairly good-sized police barracks.“ VALIULIS, Mulcahy, S. 131 f., 146; So auch rückblickend: BEASLAI, Michael Collins, S. 397.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
bald tonangebende Minderheit aus.165 Handelten sie aus militaristischen Motiven? Im Unabhängigkeitskrieg waren die Führungsoffiziere der IRA fast uneingeschränkte Herrscher über ihre Brigaden und „Flying Columns“. Die Eskalation des Guerillakrieges ging von der Eigeninitiative dieser stark in ihrer Region verwurzelten Offiziere aus. Sie entschieden unabhängig vom als zaghaft eingeschätzten Dubliner Hauptquartier, das ihnen nur allgemeine Richtlinien vorgab. Sie schikanierten die britischen Krontruppen, galten in ihrer Region als Helden, waren geliebt, auch gefürchtet und oft Herrscher über Leben und Tod. Dazu beeinflußten sie die Beschlüsse der örtlichen Gemeinderäte und Gerichte, entweder als Mitglied oder durch Druck von außen.166 Bei aller Vorsicht gegenüber republikanischen Autobiographien läßt sich sagen, daß die IRA-Offiziere das Abenteuer, ihre Verantwortung und ihre Macht genossen. Da es den Krontruppen nicht gelungen war, die IRA in die Knie zu zwingen, fühlten sich die meisten IRA-Offiziere als Sieger des Guerillakrieges.167 Vom fast autonomen und siegreichen Kriegshelden zurück zu einem Leben in geordneten Bahnen: das empfanden viele sicher als Einbruch. Für viele, die einen „appetite for sensation“168 entwickelt hatten, bedeuteten die Karrieremöglichkeiten und Bequemlichkeiten in der Freistaatsarmee wenig. Sie wußten, wie man sich als Guerillero selbständig ernährte, während das Dubliner Hauptquartier Sold nur gegen Loyalität zum Vertrag und auch dann zunächst nur schleppend zahlte.169 Vor diesem Hintergrund wird verständlich: Der Vertrag erschien den IRA-Offizieren in der Provinz nicht besonders verlockend. Als fast autonome Kriegsherren kaum an Befehl und Gehorsam gewöhnt, fällten sie ihre Entscheidung, ohne sich dem Dubliner Hauptquartier oder gar dem Dail Eireann unterzuordnen. Macht- und Abenteuerlust überlagerte die Entscheidung der örtlichen IRA. Die wachsende Disziplinlosigkeit der IRA nach dem Waffenstillstand kann man als Indikator solch militaristischer Machtgefühle interpretieren.170 165 166 167 168 169 170
VALIULIS, Mulcahy, S. 122. HOPKINSON, Green, S. 11–3; FITZPATRICK, Politics, S. 174, 179 f., 183 f., 203–5; TOWNSHEND, Political Violence, S. 332, 335–7; VALIULIS, Mulcahy, S. 38–78. ENGLISH, inborn hate, S. 195 f.; FOSTER, Modern Ireland, S. 502; BOYCE, Nationalism, S. 323; CATHOLIC BULLETIN, supplement 1921, S. 5. IRISH HOMESTEAD, 14. Januar 1922, S. 50; vgl. FREE STATE, 4. März 1922, S. 5; GARVIN, Hatred, S. 107 f. VALIULIS, Mulcahy, S. 148 f. Zur prekären finanziellen Situation der IRA vor der Spaltung: ebd., S. 90–2; HOPKINSON, Green, S. 16. HOPKINSON, Green, S. 41–3; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 144; BOYCE, Nationalism, S. 265, 275; FOSTER, Modern Ireland, S. 501; VALIULIS, Mulcahy, S. 86–92, 149.
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Dennoch sollte man Militarismus, Macht- und Abenteuerlust nicht überschätzen. Sie beeinflußten zwar individuelle Entscheidungen, der Grund für die Vertragsspaltung waren sie nicht. Die lokalen IRA-Offiziere waren entgegen der vertragsbefürwortenden Propaganda keine „war lords“, sie wollten keinen „war for its own sake“, sondern glaubten fest daran, nationale Freiheitskämpfer zu sein. Häufig verursachten nach dem Waffenstillstand rekrutierte „truceleers“171 und nicht erfahrene Guerilleros Disziplinprobleme. Wo die IRA Spenden erzwang, geschah das selten aus Habgier, sondern diente dem finanziellen Überleben der IRA. Trotz Rivalitäten, Vorbehalten und Eigeninitiative war die lokale IRA vor der Vertragsspaltung letztlich grundsätzlich loyal gegenüber dem Dubliner Hauptquartier.172 Um „war lords“ zu sein, waren die lokalen IRA-Offiziere nach der Spaltung der revolutionären Bewegung auch nicht aggressiv genug. Die vertragsablehnenden Militärs nutzten ihre anfängliche militärische Überlegenheit nicht, scheuten sich, auf ehemalige Kameraden zu schießen. Es waren die Vertragsbefürworter, die es wagten, den Angriff zu denken und auch umzusetzen. Was die vertragsablehnenden „gunmen“ mit den republikanischen Politikern verband, war die Hoffnung auf einen Kompromiß mit den Vertragsbefürwortern und auf neue Verhandlungen mit Großbritannien. Nur wenn das scheiterte, waren sie bereit, einen neuen Krieg mit Großbritannien oder notfalls auch mit dem Freistaat zu riskieren.173 Der politische und soziale Hintergrund hilft, die Vertragsspaltung einzuordnen, befriedigend erklären kann er sie nicht. Auch Tom Garvin resümiert: „The treaty issue split rightist from rightist, leftist from leftist, democrats from democrats, and elitists from elitists.“174 Soweit stehe ich vor vier gescheiterten Erklärungsansätzen: Erstens: Vor der Vertragsspaltung gab es in Kabinett und IRA Rivalitäten, die die Dynamik des Bürgerkrieges anschoben. Den Bürgerkrieg haben sie genauso wenig verursacht, wie die zahlreichen Freundschaften ihn verhindern konnten. Zweitens: Um 1921/22 war Irland von starken sozialen Konflikten ge-
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„Truceleers“, auch „Trucers“: IRA-Mitglieder, die erst nach dem Waffenstillstand (Truce) mit England in die IRA eingetreten waren. YOUNG IRELAND, 25. März 1922, S. 4; FREE STATE, 20. Mai 1922, S. 4;VALIULIS, Mulcahy, S. 88–92, 106, 149; HOPKINSON, Green, S. 16; LITTON, Civil War, S. 39 f., folgt der vertragsbefürwortenden Propaganda in dem Argument, der „Nachholbedarf“ der Truceleers habe den Guerillakrieg mit verursacht. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 225, 230; LITTON, Civil War, S. 86; vgl.: NEESON, Civil War, S. 88; HOPKINSON, Green, S. 93–104, 119; MURRAY, Voices, S. 265 f. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 123 f.
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prägt. Innerhalb Sinn Feins und zwischen Sinn Fein und der Labour Party konkurrierten unterschiedliche soziale Vorstellungen. Doch die Vertragsspaltung verlief quer zur sozialen Programmatik und quer zur sozialen Herkunft der Revolutionäre. Die sozialen Ziele beider Seiten waren heterogen, die meisten Revolutionäre waren angesichts der nationalen Krise an sozialen Fragen nicht interessiert. Das sozialrevolutionäre Potential der gerade im Westen Irlands immer noch wichtigen Landfrage hat die Dynamik des Krieges zwar beschleunigt, aber nicht verursacht. Drittens: Eine Reihe sozialer Parameter korrelierte deutlich mit der Entscheidung der Revolutionäre. Innerhalb der revolutionären Elite entschieden sich Frauen, Halbiren, Protestanten, Iren aus Munster und Connaught überproportional gegen, Revolutionäre mit Exilerfahrung und Universitätsausbildung überproportional für den Vertrag. Doch für keinen dieser Parameter findet sich es ein nachweisbares machtpolitisches oder materielles Gruppeninteresse. Viertens: Entscheidung in der Vertragsfrage und revolutionäre Erfahrung hingen offenbar eng miteinander zusammen. Die an Autonomie gewöhnte provinzielle IRA wandte sich überwiegend gegen den Vertrag und rebellierte gegen ihre Dubliner Führung. Revolutionäre mit administrativer Erfahrung und die Führungsebene der IRA entschieden sich tendenziell vertragsbefürwortend. Doch eine einsehbare Begründung ist schwer zu finden. Beide Seiten hielten gewaltsame und politische Mittel für legitim, beide Seiten hatten die gleiche politische Zielvorstellung: eine unabhängige irische Republik. Schließlich waren es die scheinbar konstitutionellen Vertragsbefürworter, die versuchten, ihre Position gewaltsam durchzusetzen, während sich die scheinbar militaristischen Republikaner so sehr vor dem Tabu des Brudermordens scheuten, daß sie ihren anfänglichen militärischen Vorteil nicht nutzten.
III. DIE POLITISCHE KULTUR DER IRISCHEN REVOLUTION Ich habe versucht, Beaslais Konzept der „national unity“ mit Hilfe von scheinbar außertextlichen Ebenen wie Macht, Produktionsverhältnissen und Sozialstrukturen auseinanderzunehmen.175 Die Ursachen des Bürger-
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Dies wird von etablierten Sozialhistorikern immer noch als angeblich einzig seriöse Methode vertreten. Exemplarisch: LAWRENCE STONE, History and Postmodernism III, in: Past and Present, 135, (1992), S. 189–94, hier: S. 190–2; vgl. auch Lynn Hunts Bestandsaufnahme in: HUNT, Introduction, S. 5.
III. Die politische Kultur der irischen Revolution
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krieges konnte ich dennoch nicht befriedigend klären. Deshalb werde ich jetzt einen anderen Weg einschlagen: Statt die Fiktionen der Revolutionäre zu demontieren, werde ich mich auf die Logik dieser Fiktionen einlassen. Ich werde nachvollziehen, wie die Revolutionäre „national unity“, Nation, zusammenbauten, wie sie ihre Welt erklärten. Dabei unternehme ich es, ihre politische Kultur, also die politischen Normen, Denkweisen und Verhaltensmuster der Revolutionäre zu entschlüsseln. Erkennt man die die Realität erst verfügbar machende Kraft der Sprache an, wird verständlich, warum die politische Kultur der irischen Revolutionäre so wirkungsmächtig war, warum sie ungeachtet der sozialen und ökonomischen „Realitäten“ eine solche Eigendynamik entfalten konnte.176 Im folgenden Kapitel werde ich die revolutionäre Elite von 1916 vorstellen sowie das Herzstück ihrer politischen Kultur: einen radikal anti-englischen, republikanischen Nationalismus. Ich werde zeigen, wie „Republic“ durch den Osteraufstand zur nicht hinterfragbaren Kernvorstellung der revolutionären Elite im Unabhängigkeitskrieg wurde: für die einen als tief verinnerlichter politischer Glaube, für die anderen eher als kalkulierte massenwirksame Propaganda. Darauf schätze ich ab, was die Mehrheit der irischen Bevölkerung unter „Republic“ verstand, wie stark sie durch die Revolution politisiert wurde. Die Vertragsspaltung erkläre ich dann als ein Auseinanderbrechen der revolutionären politischen Kultur in eine pragmatische und eine dogmatische Variante. Schließlich untersuche ich den oben ungeklärt gebliebenen Zusammenhang zwischen sozialen Faktoren und der Entscheidung in der Vertragsfrage. 1. DIE ERFINDER DES RADIKALEN NATIONALISMUS Nationen, so der weitgehende Konsens der neueren Nationalismusforschung, sind keine organischen präexistenten Einheiten, und Nationalismus ist auch kein autonomer Diskurs. Nationalismus und Nationen werden von Nationalisten gemacht, „konstruiert“.177 Deshalb stelle ich im folgenden Kapitel die Akteure und Gruppierungen vor, die in den Jahren vor 1916 am radikalen, später revolutionären Nationalismus mitgearbeitet haben. Ich be176
177
HUNT, Geschichte jenseits von Gesellschaftstheorie, S. 102; CHARTIER, Intellectual History, S. 30; vgl. JONES, Languages of Class, S. 94, 101; FOUCAULT, Nietzsche, S. 94; GEERTZ, Dichte Beschreibung, passim, insbes. S. 9. HOBSBAWM, Reflections, S. 386–90, 394; ANDERSON, S. 14–7; GREENFIELD, Five Roads, S. 12 f. Vgl. aber auch zu kritischen Gegenstimmen: DIETER LANGEWIESCHE, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur, 40, (1995), S. 190–236, hier: S. 198.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
ginne mit Griffiths nationalistischer Sammelbewegung Sinn Fein. Dann erzähle ich von der Gaelic Athletic Association und dem irischen Sprachverein der Gaelic League, die als sportliche und kulturelle Massenbewegung dem radikalen Nationalismus als wichtige Rekrutierungsbasis dienten. Schwieriger zu kategorisieren ist dagegen die Literaturbewegung der sogenannten „Irish Literary Renaissance“: War sie nun national, kosmopolitisch oder gar unpolitisch? Darauf stelle ich den irischen Feminismus vor und schließlich den Träger der Revolution von 1916, den revolutionären Geheimbund IRB. Neben den auch in der Provinz stark verwurzelten Massenorganisationen der Bewegung für Home Rule waren diese Organisationen oft verschwindend klein und bis auf die Gaelic Athletic Association und die Gaelic League meist auf Dublin beschränkt. Außer der IRB interessierten sie sich nur am Rande für Machtpolitik. Sie attackierten zwar den konstitutionellen Nationalismus, akzeptierten Home Rule jedoch lange als Teilschritt zur irischen Unabhängigkeit.178 Sie selbst engagierten sich im konventionellen Sinne kulturell, sahen sich in einem Kulturkrieg gegen die übermächtige Anglisierung. Das war aus ihrer Sicht nicht unpolitisch, sondern eine andere Ebene von Politik.179 Ein Gründungsvater des radikalen Nationalismus war Griffith. Er propagierte in wechselnden Wochenzeitschriften wie United Irishmen, Young Ireland, Scissors and Paste, Nationality, Eire und Sinn Fein sein Programm des ökonomischen Protektionismus, des passiven Widerstandes, der britischirischen Doppelmonarchie und des Boykotts des britischen Unterhauses. Obwohl seine Blätter nur eine geringe Auflage hatten, war Griffith Irlands bedeutendster politischer Journalist des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Er beeinflußte eine ganze Generation radikaler Nationalisten. Trotz seiner unkonventionellen Vorstellungen galt er vielen radikalen Republikanern als Prophet, durch dessen Zeitschriften sie zum erstenmal mit dem radikalen Nationalismus in Berührung gekommen waren. Seine Splitterpartei Cumman na nGaedheal, später Sinn Fein, war vor 1916 mehr eine Plattform als
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FOSTER, Modern Ireland, S. 456; LEE, Ireland 1912–1985, S. 20, 26; WARD, Maud Gonne, S. 91, 104; FITZGERALD, Memoirs, S. 25, 33 f. Genau wie Politik nur eine andere Ebene der Kultur im Geertzschen Sinne war. F.S.L. Lyons bekannte These, zwischen Parnells Tod und 1916 habe die kulturelle Ebene die politische Ebene verdrängt, verliert m.E. an Schlüssigkeit, weil sie zu konventionell zwischen Kultur und Politik trennt: ders., Culture and Anarchy, S. 27, 38. Vgl. die Einwände von FOSTER, Modern Ireland, S. 431–3, 446, 455 f. LANGEWIESCHE, Nationalismus, S. 212, bezeichnet die Massenproduktion von „nationaler“ Kultur als typische Kompensationshandlung in noch nicht existierenden Nationen.
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eine politische Partei. Sie war ein Sammelbecken für radikale kulturelle, ökonomische und politische Nationalisten der unterschiedlichsten Couleur.180 Während Griffith mit Sinn Fein wenigstens eine kleine Gruppierung um sich hatte, betrieben andere Journalisten wie etwa Denis Patrick Moran oder Canon Sheehan nationalistische Ein-Mann-Unternehmen.181 Gaelic Athletic Association und Gaelic League setzten den Kampf gegen die Anglisierung Irlands in die Tat um. Die Gaelic Athletic Association reaktivierte erfolgreich die traditionellen und damit nationalen Sportarten Hurling und Gaelic Football, verbot auf ihren irlandweit entstehenden Sportplätzen englische Spiele, vor allem Rugby und Fußball. Die in den Sportvereinen körperlich trainerten Jugendlichen traten später häufig mannschaftsweise in die Irish Volunteers ein.182 Auch die 1893 vom Protestanten Douglas Hyde183 gegründete Gaelic League erkannte eine „Necessity for De-Anglicizing Ireland“184, setzte sich für die vom Aussterben bedrohte irische Sprache ein. Hyde hatte, bis er 1915 von der IRB aus der Führung der Gaelic League gedrängt wurde, die Illusion, sie aus „vordergründiger“ Politik heraushalten zu können. Doch die League blieb nur die ersten Jahre ein weitgehend unpolitischer, akademischer Verein. Als nach 1899 die Mitgliedszahlen allmählich, ab 1904 steil anstiegen, politisierte sich die Gaelic League. 1913 bestand sie bereits aus 1000 Ortsvereinen mit 100 000 Mitgliedern und diente längst dem radikalen Nationalismus als Tarnung und Rekrutierungsbasis. Sich mit der eigenen Sprache und Kultur zu befassen, sensibilisierte und radikalisierte zahllose Nationalisten. Fast alle führenden Revolutionäre waren auch Mitglieder in der Gaelic League gewesen. Patrick Pearse, Kopf des Osteraufstandes, der von 1903 bis 1909 die Zeitschrift der Gaelic League An Claidheamh Soluis185 herausgab, ist dafür nur das plakativste Beispiel. Doch obwohl Pearse später den Osteraufstand anführte, teilte er lange Zeit die Vorstellung Hy-
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RICHARD DAVIS, Griffith, S. 7–16, 19, 43; BOYCE, Nationalism, S. 295–7; LYONS, Culture and Anarchy, S. 58; FOSTER, Modern Ireland, S. 457 f.; vgl. FITZGERALD, Memoirs, S. 2–4. PATRICK CALLAN, D.P. Moran: Founder Editor of the ‚Leader‘, in: Capuchin Annual, 44, (1977), S. 274–87; O’CALLAGHAN, Moran, S. 148–55; FOSTER, Modern Ireland, S. 454 f.; LYONS, Culture and Anarchy, S. 59–61; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 61–4. WILLIAM F. MANDLE, Gaelic Athletic Association and Irish Nationalist Politics, 1884–1924. London 1987, S. 160–96. Zu Douglas Hyde siehe: LYONS, Culture and Anarchy, S. 36 f., 39–43. So der Titel von Douglas Hydes bahnbrechender Vorlesung im November 1892: DOUGLAS HYDE, The Necessity for de-Anglicizing Ireland, in: CHARLES GAVAN DUFFY, GEORGE SIGENSEN und DOUGLAS HYDE (Hrsg.), The Revival of Irish Literature. London 1894, S. 1–24. An Claidheamh Soluis: Schwert des Lichts.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
des, kulturelle, nicht politische Fragen seien entscheidend. Er propagierte, wie andere Aktivisten, die Rückkehr zur irischen Kultur – meist auf Englisch, damit ihn die „verirrten“ anglisierten Iren auch verstanden.186 Die Gaelic League richtete sich nicht nur gegen die Importe der britischen Unterhaltungsbranche wie Kino und Klatschzeitschriften. Auch ihr Verhältnis zur Irish Literary Renaissance um die protestantischen AngloIren William Butler Yeats, George Russle und Lady Gregory war ambivalent. Bei aller Bewunderung erboste sie, daß ausgerechnet Irlands talentierteste Schriftsteller sich an ästhetischen, nicht propagandistischen Kriterien orientierten, daß sie englisch, nicht gälisch schrieben. Obwohl die Irish Literary Renaissance selbst stark vom Gaelic Revival beeinflußt war und obwohl sie sich als Elite einer national irischen Kulturbewegung verstand, entfremdete sie sich so immer weiter vom radikalen und auch dem gemäßigten Nationalismus. Der Versuch der Irish Literary Renaissance, den AngloIren eine Führungsrolle als kulturelle Elite Irlands zu (er)finden, scheiterte am Desintresse der meisten Anglo-Iren und ging im katholischen Massennationalismus unter.187 Auch die kleine Gruppe irischer Feministinnen dachte, den britischen Wurzeln ihrer Bewegung zum Trotz, national. Maud Gonnes Verein „Inghinide na hEireann“188 und die feministische Zeitschrift Shan van Vocht189 argumentierten militant anti-englisch – aber auch sie dachten dabei primär in kulturellen und nicht in machtpolitischen Kategorien. Fast alle prominenten Revolutionärinnen der Jahre 1916–1923 rekrutierten sich aus dem irischen Feminismus des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.190 Die Nationalisten, die sich nicht kulturell, sondern an der Idee des gewaltsamen Umsturzes orientierten, waren auch unter den radikalen Nationalisten eine kleine Minderheit. Sie organisierten sich im revolutionären Geheimbund IRB, in regionalen Zirkeln, die, ohne einander zu kennen, über ein „Supreme Council“ in Dublin miteinander verbunden waren. Die IRB unterwanderte gezielt die Führungsebenen anderer nationaler Vereine, ab 1910 die der Gaelic League und ab 1913 die der Irish Volunteers. 186 187
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Zur Rolle der Gaelic League für die irische Revolution grundlegend: GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 78–106. LYONS, Culture and Anarchy, S. 33, 37–1, 47–51, 79, 82–3, 106–12; PHILIP O’LEARY, Uneasy Alliance. The Gaelic League looks at the „Irish Renaissance“, in: AUDREY S. EYLER und ROBERT F. GARRAT, The Uses of the Past. Essays on Irish Culture. Delaware 1988, S. 144–60. Inghinide na hEireann: Töchter Irlands. Shan van Vocht, anglisierte Form von Sean bhean Bhocht: alte, arme Frau. FALLON, Soul of Fire, S. 15–23; WARD, Maud Gonne, S. 65–8, 109; FOSTER, Modern Ireland, S. 449 f.; CURTIS, Ireland in 1914, S. 167 f.
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Als auch das oberste Gremium der IRB den Aufstand immer weiter verschob, schotteten sich einige radikale Revolutionäre im „Military Council“ der IRB vom Rest der IRB-Führung ab. Als Splittergruppe – innerhalb der Führung einer Splittergruppe – planten sie weiter den Aufstand. Kopf dieser Gruppe war zunächst Tom Clarke. Er hatte am letzten gewaltsamen republikanischen Aufstand 1867 noch selbst teilgenommen und fünfzehn Jahre wegen Hochverrats im Gefängnis gesessen. Clarke war damit die lebende Verbindung zur Tradition republikanischer Aufstände des neunzehnten Jahrhunderts. Zusammen mit Sean MacDermott protegierte er in der IRB eine Reihe entschlossener Revolutionäre: Patrick Pearse, Éamon Ceannt, Thomas MacDonagh und Joseph Mary Plunkett. Zu dieser konspirativen Gruppe stieß schließlich noch der radikale Arbeiterführer James Connolly. Pearse, Plunkett und MacDonagh hatten Kontakte zur Irish Literary Renaissance, waren selbst Schriftsteller und entwickelten ihre revolutionären Vorstellungen ebenso in politischen Reden und Schriften wie in Gedichten und Dramen. Die Anführer von 1916 rekrutierten sich also aus winzigen Minderheiten: Schriftsteller, Intellektuelle, ein gealterter Revolutionär und ein Sozialist.191 2. DIE KONSTRUKTION DES RADIKALEN NATIONALISMUS Wenn Nationalisten Nationen konstruieren, bedienen sie sich einer Reihe von Zutaten, von denen offenbar keine für sich genommen unverzichtbar für die Nationsbildung ist: Sprache, ethnische Zugehörigkeit, Religion, geographische Gegebenheiten, Bräuche und Sitten. Je nachdem, auf was sich Nationalisten stützen, können ganz unterschiedliche Nationen entstehen.192 Das zeigt sich sehr eindrucksvoll am irischen Beispiel: Verschiedene Gruppierungen definierten ganz unterschiedliche „Irlands“: Die AngloIren im Süden definierten Irland als Provinz eines (protestantischen) Großbritanniens, die Anhänger von Home Rule konstruierten Irland als autonomen (katholischen) Teilstaat des Commonwealth. Für die frühe Gaelic League war Irland primär eine (katholisch-) gälische Kulturnation, Politik galt ihnen als zweitrangig. Griffith dachte Irland als ökonomisch und kulturell unabhängigen Teil einer englisch-irischen Doppelmonarchie. Für die Unionisten in Ulster war „Irland“ mit dem Nahen von Home Rule überhaupt 191 192
BOYCE, Nationalism, S. 250, 306 f., 313.; FOSTER, Modern Ireland, S. 477. HOBSBAWM, Reflections, S. 386–90, 394; ANDERSON, Erfindung der Nation, S. 14–7; GREENFIELD, Five Roads, S. 12 f.
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kein sinnvoller Bezug mehr. Sie definierten sechs von neun Grafschaften des historischen Ulster zu „Ulster“ um und erklärten es zu einem Teil des protestantischen Großbritanniens, später zu einem autonomen protestantischen Teilstaat des Commonwealth. Was war nun „Irland“ für die Revolutionäre von 1916? Wo stützte sich ihr Nationalismus auf Home Rule, auf Griffiths Doppelmonarchie oder das Denken der Gaelic League? Und was war signifikant anders? a) Irland als Antithese Englands Nach Eric J. Hobsbawm vereint nichts eine Nation so sehr, wie eine „common hostility to foreigners.“193 Das trifft auf alle Schattierungen des irischen Nationalismus zu. Die presbyterianischen und anglikanischen Unionisten in Ulster bildeten ihre protestantische, „orange“ Identität am gemeinsamen Feind „Katholizismus“ aus.194 Anhänger von Home Rule, katholische Kirche, Griffith, Gaelic League und Neunzehnsechzehner definierten ihren Nationalismus über den übermächtigen Feind Großbritannien. Das Feindbild stiftete nicht nur Identität und Einheit, es kanalisierte und rationalisierte Aggressionen und Haß auf die oft brutale britische Herrschaft, kompensierte Neid auf den materiellen Erfolg Englands.195 Alle Strömungen des irischen Nationalismus folgten der bipolaren Logik von „us and them“196, definierten Irland als Antithese zu England; genauer als Antithese zu dem, was sie für England hielten. Das Bild vom übermächtigen Feind England prägte so als Negativabdruck die Irlanddefinition und das Selbstverständnis der irischen Nationalisten.197 Der bekannte irische Schriftsteller George Bernhard Shaw kritisierte die radikalen Nationalisten deshalb bereits 1914 als „people who have no positive nationality and are only anti-English instead of being Irish.“198
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HOBSBAWM, Reflections, S. 402; siehe auch S. 401, 404; ders., Nations and Nationalism since 1780. Cambridge 1990, S. 91. LYONS, Culture and Anarchy, S. 24–6; BOYCE, Nationalism, S. 387; Zum Anti-Katholizismus als Fundament britischer Identität seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert siehe: COLLEY, Britons, S. 11–53. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 23 f.; FITZPATRICK, Politics, S. 129; Zur Rolle von Ressentiments für den Nationalismus: GREENFIELD, Five Roads, S. 15–7. HOBSBAWM, Reflections, S. 401. O’CALLAGHAN, Moran, S. 151 f.; ENGLISH, Inborn Hate, S. 177; OLIVER MAC DONAGH, Ambiguity in Nationalism. The Case of Ireland, in: BRADY (Hrsg.), Interpreting, S. 105–21, hier: S. 105; LYONS, Burden, S. 95; ders., Culture and Anarchy, S. 11. George Bernhard Shaw an Mable FitzGerald, 1. Dezember 1914, in: FITZGERALD, Memoirs, S. 186.
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Nach innen bot dieser integrative Nationalismus keinen Platz für offen ausgetragenen Pluralismus, weil er die innere Einheit eines breiten politischen Spektrums permanent über den gemeinsamen Feind herstellte.199 Für „Orangeism“ und Home Rule galt genauso wie für Beaslais „national unity“: Der konkrete äußere Feind ermöglichte der nationalen Bewegung, „an almost total lack in its internal definition.“200 Ein kritischer angloirischer Zeitgenosse beschrieb das treffend als „the artificial unanimity imposed upon [Southern Ireland] by a historical antagonism.“201 Dennoch unterschied sich die Art, in der die Aktivisten der Home RuleBewegung und radikale Nationalisten mit dem antithetischen Weltbild umgingen: Die gemäßigten Nationalisten verbanden die antithetische Rhetorik und Anspielungen auf vergangene Aufstände pragmatisch mit einer realpolitischen, konstitutionellen Politik. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kehrte das vom Führer der Home Rule-Bewegung John Redmond propagierte Konzept der „union of hearts“ die antithetische Rhetorik sogar zeitweise in ihr Gegenteil. Für die radikalen Nationalisten war die „union of hearts“ dagegen undenkbar. Als Redmond und die Irish Parliamentary Party 1917 zur antithetischen Rhetorik zurückkehrten, hatte Sinn Fein das Feindbild bereits viel glaubhafter besetzt.202 Wie definierten die irischen Nationalisten Irland kontra Großbritannien? In Opposition zum materialistischen England verliehen sie Irland spirituelle Qualitäten. Irland war für sie das Land der Ideale und idealistischen Helden, der Heiligen und Märtyrer. Den Nationalisten war diese Spiritualität Irlands sehr real und greifbar. Sie war zwar meist abstrakt gedacht, konnte sich aber auch in Form von Geister- und Wundergeschichten verdichten.203 So ging der anglo-irische Schriftsteller William Butler Yeats in seiner nationalistischen Phase der Spiritualität Irlands direkt nach: Er berauschte sich mit seiner Muse und großen Liebe Maud Gonne in den 1890er Jahren mit Haschisch, um so die nationalen Geister Irlands zu kontaktieren, die Riten für einen nationalen Orden auszuarbeiten und den geeigneten Ort für ein geplantes Heldenschloß auszumachen.204 Dem Gegensatzpaar spirituell – materiell entsprach, daß die irischen
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So resümiert auch Roy Foster das Dilemma des irischen Nationalismus: FOSTER, Modern Ireland, S. 595 f. Ein ähnliches Fazit zieht BOYCE, Nationalism, S. 385–7. HOBSBAWM, Reflections, S. 401; vgl. MANNHEIM, Conservative Thought, S. 92 f. THE ROUND TABLE, XII, no. 47 (Juni 1922), S. 534. LEE, Ireland 1912–1985, S. 23. LANKFORD, Hope, S. 27, 30, 34–8. WARD, Maud Gonne, S. 42; vgl. ebd., S. 32 f. Zum „Spiritualismus“ von Yeats: FOSTER, Modern Ireland, S. 451.
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Nationalisten England als starke, unterdrückende Nation porträtierten, die teils mit brutaler Gewalt, teils mit List und Verschlagenheit ihre Macht durchsetzte. Opfer dieser Macht sei Irland, schwach, dafür edel und opfermütig.205 Irland als Opfer englischer Gewalt war auch Thema vieler nationalistischer Balladen. Etwa im äußerst populären Auswanderer- und Revolutionslied „The wearing of the Green“: „She’s [Ireland] the most distressful country// that you have ever seen// They [the English] are hanging men and women //for the wearing of the green.“206 Spirituell kontra materiell ließ sich gleichzeitig auch religiös als gläubig – ungläubig deuten. Diesen Gegensatz definierten die Anhänger von Home Rule, vor allem der Ancient Order of Hibernians und die katholische Kirche, noch häufig entlang konfessioneller Grenzen: Gläubiges und katholisches Irland kontra protestantisches und daher ungläubiges England.207 Die radikalen irischen Nationalisten waren zwar in erdrückender Mehrheit devote Katholiken, sie gaben sich aber bewußt tolerant. Sie bezogen die Ungläubigkeit Englands direkt auf dessen vermeintlich neoheidnischen Materialismus, während Irland als ein idealistisches, spirituelles Land qua definitione gläubig sei. Das war in sich nicht immer völlig logisch: Der englische Materialismus manifestierte sich für den einen als Liberalismus, Kapitalismus und Imperialismus, für den anderen als Sozialismus, für viele als beides.208 Der Kontrast von spirituell und materiell spiegelte sich in einem anderen Gegensatzpaar wider, das ich hier stellvertretend für das dualistische Denken der Revolutionäre ausführlicher behandeln werde: urban – ländlich. Die Nationalisten brandmarkten England als urban, modern, daher verkommen. London schien manchen die alttestamentarische Hure Babylon zu sein.209 Insbesondere die radikaleren Nationalisten und die Aktivisten der Gaelic League werteten häufig auch die irische Metropole Dublin als „West British“ ab. Dagegen idealisierten sie das Leben auf dem irischen Land, besonders die noch irisch-sprachigen Regionen im Westen Irlands, die Gaeltacht. Auch
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GABRIEL DOHERTY, National Identity and the Study of Irish History, in: English Historical Review, 111, (1992), S. 324–49, hier: S. 347 f. PATRICK GALVIN, Irish Songs of Resistance, 1169–1923. New York 1962, hier: S. 84. Vgl. ZIMMERMANN, Songs, S. 44f; vgl. auch die Lieder „The noble ribbon boys“, ebd., S. 201 und „The battle that was fought in the North“, ebd., S. 195. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 3, 66, 109, 121 f., 124; LYONS, Culture and Anarchy, S. 80–2, 96; DOHERTY, National Identity, S. 342; BOYCE, Nationalism, S. 310 f.; ders., Nineteenth Century, S. 288; TOWNSHEND, Political Violence, S. 329. Exemplarisch: O’HEGARTY, Victory, S. 181.
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für sie galt, was Stephen Daniels festgestellt hat: „As exemplars of moral order and aesthetic harmony particular landscapes achieve the status of national icons.“210 Die Gaeltacht schien den Nationalisten der Inbegriff des nicht anglisierten, spirituellen Irlands, obwohl die irische Hochkultur um 1920 schon seit Jahrhunderten untergegangen war und die irische Sprache spätestens seit der Hungerkatastrophe 1848 in einem rasanten Tempo ausstarb. Für die irischen Nationalisten, gleich welcher Couleur, waren eine eigene Kultur und eine eigene Sprache ideale Parameter, um das de facto anglisierte Irland von England abzugrenzen: Und diese Parameter schlugen sich in der Gaeltacht räumlich erfahrbar nieder.211 Dafür, daß sich der irische Westen auch ganz anders interpretieren ließ, hatten sie kein Verständnis. Als etwa der anglo-irische Schriftsteller John Millington Synge die archaische Roheit der westirischen Bevölkerung, ihre Sensationslust und ihre ambivalente Bewunderung von Gewalt in seinem „Playboy of the Western World“ karikierte, verursachte er 1907 Irlands bekanntesten Theaterskandal, die „Playboy riots“.212 Auch die britische Verwaltung betrachtete den irischen Westen ganz anders als die irischen Nationalisten: nämlich als ökonomisches Katastrophengebiet, dessen hoffnungslos veraltete Agrarstruktur kaum zu reformieren sei.213 Das idealisierte nationalistische Bild der Gaeltacht lief nicht nur konträr zu einer britischen oder anglo-irisch poetischen Lesart des Westens. Es widersprach auch der bodenständigen Einschätzung der Gaeltachtbewohner selbst. Wie unterschiedlich radikale Nationalisten und Einheimische den Westen Irlands deuteten, hat eine der Schlüsselfiguren dieses Buches in seiner Autobiographie beschrieben: Desmond FitzGerald, Dichter, Dramatiker, Revolutionär, Leiter der Propagandadepartments des revolutionären Dail und der Freistaatsregierung und Außenminister des Freistaats. Wie Beaslai ist auch er einer der Geschichtenerzähler, die mir helfen sollen, die von ihnen selbst mit hergestellte politische Kultur des Bürgerkrieges zu erklären. Deshalb stelle ich ihn hier kurz vor: FitzGerald wurde 1889 als Kind irischer Emigranten geboren und wuchs in London auf. In seiner Jugend schloß er sich der stark von Arthur
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STEPHEN DANIELS, Fields of Vision. Landscape Imagery and National Identity in England and the United States. Princeton 1993, S. 5. LYONS, Culture and Anarchy, S. 6–9, 59; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 59–61, 78 f., 80–3, 87–91, 160; FOSTER, Modern Ireland, S. 448 f., 453; vgl. GALVIN, Songs, S. 30 f.: das Lied des Sinn Fein-Mitgründers William Rooney „The Men of the West“; DOHERTY, National Identity, S. 334 f.; LYONS, Burden, S. 95; ENGLISH, Green on Red, S. 172 f. LYONS, Culture and Anarchy, S. 63–70. FOSTER, Modern Ireland, S. 448.
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Rimbaud und Charles Baudelaire beeinflußten Dichtergruppe „Imagists“ um Ezra Pound an. 1912 heiratete er die Tochter eines unionistischen nordirischen Geschäftsmannes, die ehemalige Sekretärin George Bernhard Shaws, Mable McConnell, und lebte mit ihr zunächst knapp zwei Jahre in Frankreich, bis beide 1913 nach Westkerry in die Gaeltacht zogen. Ab 1914 war FitzGerald Mitglied der IRB und begann in Kerry Einheiten der Irish Volunteers zu organisieren. 1915 saß er erstmals aus politischen Gründen im Gefängnis. Während des Osteraufstandes organisierte FitzGerald die Lebensmittelrationierung im General Post Office. Von der lebenslangen Freiheitsstrafe, die er dafür bekam, saß er jedoch nur knapp zweieinhalb Jahre ab: 1918 zum Abgeordneten für den zuvor unionistischen Dubliner Vorort Pembroke gewählt, wurde er vorzeitig entlassen. Ab jetzt war er endgültig Berufsrevolutionär. Trotzdem engagierte er sich – wie Beaslai – weiter literarisch: FitzGerald hatte enge Kontakte zur Irish Literary Renaissance, vor allem zu William Butler Yeats und George Russle, die sein Stück „The Saints“ 1919 im Abbey Theater aufführten. Zu dieser Zeit koordinierte FitzGerald bereits die Propaganda des revolutionären Dail, bis er im Februar 1921 erneut verhaftet wurde. Nach der Vertragsspaltung war FitzGerald neben Beaslai die Schlüsselfigur der vertragsbefürwortenden Propaganda. Doch obwohl FitzGerald Propandaexperte war, gelang es ihm nicht einmal, seine eigene Frau zu überzeugen: Sie lehnte den Vertrag ab, verließ nur aus Loyalität zu ihrem Mann die jetzt von Vertragsgegnern dominierte Frauenorganisation Cumman na mBan. Von August 1922 bis 1927 war FitzGerald Außenminister, von 1927 bis 1932 Verteidigungsminister des Freistaates. Nach dem Machtantritt Fianna Fails blieb FitzGerald Abgeordneter des Dail und später Senator. Er beschäftigte sich jetzt vor allem mit Philosophie, lehrte 1937/38 an der University of Notre Dame in Indiana. FitzGerald starb 1947 in Dublin. Sein Sohn Garret FitzGerald folgte der politischen Karriere seines Vaters und trat in die Nachfolgepartei der Vertragsbefürworter Fine Gael ein. Er war in den achtziger Jahren Regierungschef Irlands.214 In seiner Autobiographie der Jahre 1913 bis 1916 blickte FitzGerald selbstkritisch und distanziert, zum Teil spöttisch, auf seinen jugendlichen Idealismus zurück. FitzGerald, der sich als Befürworter des Vertrages zum pragmatischen Nationalisten wandelte, kritisierte nachträglich seinen jugendlichen Radikalismus: Seine Blindheit für die sozialen Probleme der Bevölkerung, sein ungebrochenes, unreflektiertes Sendungsbewußtsein,
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FITZGERALD, Memoirs, S. VIII–XI.
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sein fanatisches Festhalten an nationalistischen Doktrinen. Mit dieser Selbstkritik zielte FitzGerald weniger auf sich selbst, als auf seine politischen Feinde seit 1922, die Vertragsgegner: Er implizierte, die Republikaner seien immer noch Opfer ihres jugendlichen Irrationalismus und hätten nichts dazugelernt. Weil FitzGerald als ehemaliger Propagandachef von Dail Eireann und Freistaat ein Meister der unauffälligen Manipulation war, ist seine tendenziöse Autobiographie nur schwer zu durchschauen. Gleichzeitig ist sie ein sehr differenziertes Werk: FitzGerald bürstet die Brüche seiner Biographie, anders als die meisten Republikaner, nicht glatt. Er behauptet nicht im nachhinein, alles schon vorher gewußt zu haben. So gelingt es ihm, sein jugendliches Denken nicht nur zu hinterfragen, sondern auch einfühlsam nachzuvollziehen. Als FitzGerald 1913 auf dem Weg in die Gaeltacht war, holte ihn die nationale Begeisterung bereits auf halbem Weg, in der Kleinstadt Tralee, ein: Romanticism and patriotic ardour both combined to present everything in an aspect of delight. The gloom of the grey March day, the moisture laden air, and the almost continual rain brought no depression, but brought back to mind similar days three years before when I had climbed to the highest points of the [Blasket] Island and walked along the ridge of the hills with the Atlantic occasionally appearing far beneath me through the mist. The fact that we should have to wait for hours before the little train was due to start for Dingle was not an inconvenience, but rather an assurance that here one escaped from the outer world of large towns and modern efficiency and haste.215
FitzGerald träumte sein ideales gälisches und ländliches Irland, das er von der modernen städtischen Welt, implizit London, abgrenzte. Gegenwart und Erinnerung vermischten sich, Landschaft, Wetter, ja selbst die ineffiziente Bahnverbindung luden sich für FitzGerald mit nationaler Bedeutung auf.216 Dieses idealisierte Bild kontrastierte FitzGerald rückblickend mit der emotionslosen Sicht der Einheimischen, die wenig Grund dafür sahen, ihre karge Heimat zu verherrlichen; eine Heimat, die viele in die Emigration trieb und die Zurückgebliebenen schlecht ernährte. Halb stolz, halb selbstkritisch berichtete FitzGerald, wie die meisten Einheimischen seinem Enthusiasmus für Westkerry mit Unverständnis gegenüber standen: The majority of them quite frankly failed to understand why anyone should want to live in the West when they had a choice of places. They could understand people coming for a holiday in the summer. Their own means of living was centered there
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FITZGERALD, Memoirs, S. 9; vgl. S. 16. Vgl. ENGLISH, Inborn Hate, S. 184.
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and that explained their remaining. But I think that they have regarded me as something of a lunatic.217
Mit noch weniger Wohlwollen beobachte FitzGerald die soziale Blindheit der Gaelic-League-Aktivisten, die, wie er selbst oder auch Pearse, die Armut in der Gaeltacht ästhetisierten. Ihre Begeisterung für die irische Sprache deckte sich kaum mit den materiellen Interessen und Nöten der Bewohner, für die die englische Sprache die entscheidende Qualifikation für eine Arbeit in Dublin, London oder Amerika war: The younger men [in the Gaeltacht] thought of their lives before them. They had to make their living out of the land, or go to America, [. . .]. It was very well for officials of the Gaelic League to come around preaching about the language, or listen to the old men with note books out. The young men would do the same thing if they were paid for it in the same way. [. . .] Some were language enthusiasts. But they were also going to get married, or had to run their farms.218
b) Askese Für die radikalen Nationalisten war das dualistische Denken nicht nur eine Rhetorikkonvention mit hohem propagandistischen Nutzen. Sie hatten das, was FitzGeralds Frau den „sound traditional hatred of England“219 nannte, verinnerlicht und orientierten ihr Handeln danach. Dabei verstießen sie, wenn sie nicht gerade wie Pearse auf der Gehaltsliste der Gaelic League standen, auch gegen ihre materiellen Interessen. Wenn sich die Bewohner Dingles schon über FitzGeralds Enthusiasmus für die gälische Sprache und den irischen Westen wunderten, was sollten sie erst von FitzGeralds Freund und später einzigem protestantischen Kollegen im Kabinett des Freistaats, Ernest Blythe, halten? Wie FitzGerald war dieser in die Gaeltacht bei Dingle gezogen. Doch anders als sein Freund machte sich Blythe es nicht mit einer Frau in einem idyllischen Häuschen gemütlich. Blythe arbeitete als Knecht gegen Kost und Logis auf einer Farm und gab dafür seinen Beruf als Journalist bei einem nordirischen Lokalblatt auf.220 Wie für Ernest Blythe war für viele radikale Nationalisten nicht nur Irland spirituell und antimaterialistisch: Gekoppelt an eine Verachtung für den als britisch identifizierten Luxus, prägten Askese und Selbstbeschrän-
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220
FITZGERALD, Memoirs, S. 17. Ebd., S. 14 f.; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 51 f., 71. Mable FitzGerald an George Bernhard Shaw, 28. November 1914, in: FITZGERALD, Memoirs, S. 184; vgl. für Pearse: BOYCE, Nationalism, S. 311 f.; vgl. Ernie O’Malley an Mary Childers, 26. November–1. Dezember 1923, in: RICHARD ENGLISH (Hrsg.), Prisoners: The Civil War Letters of Ernie O’Malley. Swords 1991, S. 69–93, hier: S. 69. FITZGERALD, Memoirs, S. 18–20.
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kung auch die Lebensführung der revolutionären Elite. Die meisten IRAAktivisten hielten sich an eine strenge Sexualmoral und entsagten dem Alkohol ganz oder weitgehend. Viele hatten den traditionellen Slogan der Temperance-Bewegung „Ireland sober – Ireland free“ verinnerlicht.221 Die meisten dieser von den irischen Nationalisten propagierten Vorstellungen waren nur angeblich „urirische“ Werte. Nationale und militärische Tugenden wie Ehre, Patriotismus, Mannhaftigkeit, Opfermut waren in den meisten europäischen Ländern verbreitet und oft über englische Vorbilder vermittelt.222 Sie waren also Teil der den Revolutionären so verhaßten Anglisierung Irlands. So studierte ein IRA-Aktivist wie Ernie O’Malley mit Vorliebe britische Militärlehrbücher.223 Auch die Askese der irischen Revolutionäre hatte neben der katholischen Moraltheologie deutlich viktorianische Züge: Selbstdisziplin, Arbeitsethik und „puritanischer“ Eifer. Im Punkt Sexualmoral deckten sich katholisch-nationalistisches und englischviktorianisches Denken. Gegenstück dieser Werte war nicht nur die vermeintliche Dekadenz der Großstadt London, sondern weniger bewußt das in Großbritannien weitverbreitete anti-irische Vorurteil vom faulen und ständig betrunkenen „Paddy“.224 Das Denken der irischen Revolutionäre war also auf drei Ebenen von britischen Vorgaben geprägt: Die irischen Revolutionäre konnten sich nur in Opposition zu Großbritannien definieren, sie verwendeten dazu teilweise britische Werte, und sie wehrten sich damit gegen die Definitionsmacht britischer Vorurteile. Das Askesegebot hieß nicht, daß alle irischen Revolutionäre ein mönchisches Leben geführt hätten. Daß auch bei den irischen Revolutionären postulierte Moral und gelebte Moral auseinanderklafften, ist nicht verwunderlich. Der Guerillero Ernie O’Malley, der fast körperlich darunter litt, daß er für seine Arbeit als IRA-Organisator bezahlt wurde und deshalb sein Ge-
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ANDREWS, Dublin Made Me, S. 267 f., 300 f., 305–7; GARVIN, 1922, S. 89–91; FITZGERALD, Memoirs, S. 35; Den Krontruppen, gerade den Black and Tans, sagten die Nationalisten hingegen Alkoholismus nach: O’DONOGHUE, No Other Law, S. 106. Auch zum europäischen Kontext: GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 68 f., 154–65; ders., Hatred, S. 107 f. Ernie O’Malley an Mary Childers, 26. November–1. Dezember 1923, in: ENGLISH (Hrsg.), Prisoners, S. 69–93, hier: S. 75; ENGLISH, Inborn Hate, S. 177, 180–7; Vergleiche dazu die Theorie von Liah Greenfield zum Export britischer nationalistischer Ideen nach Europa: GREENFIELD, Five Roads, S. 14–7. VALIULIS, Mulcahy, S. 3 f., 245.; FALLON, Soul of Fire, S. 147 f.; O’HEGARTY, Victory, S. 179–81.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
halt fast ausschließlich für republikanische Gefangene und für Bücher ausgab, war eher eine Ausnahme.225 Nach dem Waffenstillstand häuften sich die Beschwerden von Zivilisten über die Trinkexzesse einiger IRA-Einheiten.226 So machten sich die Republikaner, die Mitte 1922 das Landhaus der protestantischen Macnamaras besetzten, als erstes über den Weinkeller her.227 Beaslai zog nach seiner Arbeit in der Zensurbehörde gerne durch die Kneipen und hatte diverse Frauenbekanntschaften.228 FitzGerald lebte in Westkerry zwar nicht in luxuriösen, aber doch sehr angenehmen Umständen. Da er beharrlich verschwieg, womit er seine Familie eigentlich ernährte, liegt der Verdacht nahe, daß ihn sein wohlhabender unionistischer Schwiegervater finanzierte – zumindest, bis er als Berufsrevolutionär genügend Geld verdiente. Um Pearse trauerten nach dem Osteraufstand nicht nur seine noch überschaubar wenigen Anhänger, sondern auch eine große Gemeinde von Gläubigern. Trotz einer großen Erbschaft und eines komfortablen Einkommens bei der Gaelic League war es ihm gelungen, durch zahlreiche Umzüge in immer bessere Wohngegenden, vor allem aber durch seine ehrgeizigen nationalistischen Schulprojekte, einen riesigen Schuldenberg zu hinterlassen.229 Auch seine Mutter Margaret, nach 1916 Verkörperung republikanischer Reinheit, war ihrem Ehemann nicht immer so treu, wie es ihren eigenen Maßstäben entsprochen hätte.230 Die radikale Nationalistin Maud Gonne, die bei vielen im Ruf stand, das personifizierte Irland, Cathleen ni Houlihan, zu sein, hatte eine langjährige Liaison und ein uneheliches Kind mit dem radikalen französischen Nationalisten Lucien Millevoye. Auch auf viele materielle Annehmlichkeiten ihrer anglo-irischen Herkunft wollte sie trotz ihres Übertritts zum Nationalismus nicht verzichten. Während sie zumindest zeitweise mit William Butler Yeats an spiritistischen Sitzungen teilnahm und Haschisch rauchte, war ihr Mann John MacBride, später Märtyrer des Osteraufstandes, ein gewalttätiger Alkoholiker.231 Doch ob einzelne Revolutionäre ihre Moralvorstellungen nur postulierten oder auch lebten, war nicht entscheidend – solange sie sich nicht erwi225 226 227 228 229 230 231
Ernie O’Malley an Mary Childers, 26. November–1. Dezember 1923, in: ENGLISH (Hrsg.), Prisoners, S. 69–93, hier: S. 83 f. VALIULIS, Mulcahy, S. 89. Vgl. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 283, zur Enttäuschung von Andrews, daß nicht alle Mitglieder der IRA-Führung strenge Abstinenzler waren. FITZPATRICK, Politics, S. 84. NLI, BP, box 19, Diary of Piaras Beaslai, Einträge: 22. September 1922–10. Oktober 1922 (Übersetzung aus dem Irischen von Eoghan O’Raghalaigh). RUTH EDWARDS, Triumph, u. a., S. 112 f. Ebd., S. 7 f. WARD, Maud Gonne, S. 12, 15 f., 21, 24, 26, 28, 32 f., 40–2, 56 f., 60 f., 75 f., 80, 86 f., 152, 186.
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schen ließen. Wichtiger war: Antimaterialismus und Askese waren bei der revolutionären Elite weit verbreitete und propagierte Vorstellungen. Sie waren eine wirkungsvolle Methode, sich zu legitimieren und andere zu delegitimieren.232 c) Das republikanische Geschichtsgesetz Die irische Revolution stütze sich auf keinen der modernen europäischen politischen Denkstile: Liberalismus, Konservatismus oder Sozialismus. Alle drei Denkarten schienen aus der Perspektive radikaler Nationalisten britisch. Auch wenn die meisten Revolutionäre am sozialen Status quo orientiert waren, „konservativ“ konnten sie sich nicht nennen. Konservativ war aus ihrer Sicht das Etikett der britischen Tories, der Anglo-Iren und der Unionisten in Ulster.233 Von der britischen Herrschaft des neunzehnten Jahrhunderts gab es für sie außerdem nichts zu bewahren. Liberalismus rechtfertigte aus nationalistischer Perspektive den britischen Individualismus, Materialismus und Kapitalismus. Sozialismus war den meisten Revolutionären eine Erfindung von „Big British Labour“. Auch er galt als „materialistisch“, war dazu von der katholischen Kirche verdammt und bedrohte die besitzenden Farmer. Die Stelle eines modernen politischen Denkstils übernahm in Irland ab dem neunzehnten Jahrhundert „Geschichte“: Geschichte lieferte historische Lehren, eine politische Identität und ein politisches Vokabular ohne weiteren Bezug auf eine politische Theorie.234 Auf historische Legitimationsmuster stützten sich im Irland des frühen zwanzigsten Jahrhunderts alle politischen Gruppierungen. Um ihre Nation zu begründen und um sich vom Feind abzugrenzen, hatten sie alle ihre eigene Art, Geschichte selektiv und auf einzelne symbolische Ereignisse reduziert zu lesen. In Tom Garvins Worten: „At times, the illusion was given
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Vgl. WORKER’S REPUBLIC, 27. Mai 1922, S. 1; JOHN A. MURPHY, Censorship and the Moral Community, in: BRIAN FARRELL (Hrsg.), Communications and Community in Ireland. Dublin 1984, S. 51–63, hier: S. 52. Doch auch die Ulster Unionists lassen sich kaum mit „konservativ“, „liberal“ oder gar „sozialistisch“ ettikettieren. Auch sie vermischten verschiedene Elemente und argumentierten überwiegend historisch. GRAHAM WALKER, Irish Nationalism and the Uses of History, in: Past and Present, 126, (1990), S. 202–14, hier: S. 203 f.; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 107–11; Garvin impliziert immer wieder, die revolutionäre irische „Ideologie“ sei intellektuell unterentwickelt, weil sie nicht auf moderne europäische „Ideologien“ aufbaue. Ebd., S. 110, 124, 171–3. Auch Marximus, Faschismus und andere Nationalismen argumentieren historisch. Dennoch bleibt das Maß der irischen Geschichtsfixiertheit außergewöhnlich.
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that each community lived in different Irelands, with very dissimilar histories.“235 So sahen sich die protestantischen Anglo-Iren im Süden Irlands als traditionelle Verbreiter der britischen Zivilisation. Sie bezogen sich auf die Union Englands mit Irland von 1801.236 Die Unionisten in Ulster legitimierten sich über die Siege Wilhelm von Oraniens gegen „den Katholizismus“ Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Dieses Geschichtsbild inszenierten und inszenieren die Unionisten in Ulster in den bis heute berüchtigten jährlichen Paraden des Oranier Ordens.237 Die Anhänger von Home Rule argumentierten, England habe die irische Nation jahrhundertelang unterdrückt, Katholiken verfolgt und diskriminiert. Ihr historischer Bezugspunkt war „Grattans Parliament“. Diese Interessenvertretung der protestantischen Elite des späten achtzehnten Jahrhunderts definierten sie zum Vorläufer eines nationalen Parlaments um. Sie legitimierten Home Rule als historisches Recht auf eine unabhängige Legislative.238 Nationalisten und Unionisten eigneten sich nicht nur die historische, sondern auch die mythische Vergangenheit Irlands an, griffen häufig aus unterschiedlichen Perspektiven auf dieselben Geschichten zurück. So galten den Unionisten in Ulster die frühmittelalterlichen Legenden über den aus Ulster stammenden Helden Cuchulain als Beweis ihrer Überlegenheit und ihrer getrennten, nicht gesamtirischen Identität. Für Nationalisten stellte Cuchulain das Urbild des keltischen Kriegers dar. Genauso versuchten die Unionisten, den von der katholischen Kirche als Nationalheiligen reklamierten St. Patrick zu dem Begründer einer von Rom unabhängigen, protestantischen irischen Kirche zu erklären.239 An diesem historisch-mythischen Denken scheiterte häufig auch der Erfolg britischer Reformen. Den Angehörigen der britischen Verwaltung gelang es zwar ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, eine Reihe ökonomischer und politischer Probleme zu lösen. Doch so sehr sie Irland auch sozial stabilisierten, eine langfristige politische Lösung der irischen Frage gelang ihnen nicht; denn gemessen an jahrhundertelangem Unrecht, konnten alle praktischen Reformen nur Teillösungen und Wiedergutmachung sein. Historische Argumente prägten häufig britisch-irische Verhandlun-
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GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 112; BOYCE, Nationalism, S. 20; 385 f., 388; vgl. GREENFIELD, Five Roads, S. 15. FITZPATRICK, Politics, S. 47; LYONS, Culture and Anarchy, S. 18 f. LYONS, Culture and Anarchy, S. 24–6, 114–8, 134–8. BOYCE, Nationalism, S. 384 f.; MOODY, Irish History and Irish Mythology, S. 72. BOYCE, Nationalism, S. 407; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 112.
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gen. Dabei konnte es die britische Seite mitunter an den Rand der Verzweiflung treiben, wenn Anhänger von Home Rule wie Sinn Feins anfingen, die englische Unterdrückung der letzten Jahrhunderte auszubreiten, statt konkrete Vorschläge zu machen.240 Auch das politische Weltbild der radikalen Nationalisten war historisch strukturiert. Selbst wenn einzelne Aktivisten immer wieder den zeittypischen Begriff „Rasse“ verwendeten: Gegen Engländer und Unionisten argumentierten sie selten „biologisch“, sondern fast ausschließlich „historisch“.241 Die irische Rasse konstituierte sich für sie nicht über „Blut“ und ererbte Charktermerkmale, sondern über eine gemeinsame Geschichte. Die Neunzehnsechzehner entdeckten, inspiriert von den republikanischen Revolutionären des späten achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, ihre eigene Lesart der Geschichte und gaben ihrem antithetischen Weltbild so eine zeitliche Dimension. Mit ihrem teleologischen, fast zyklischen Geschichtsgesetz erfanden sie eine eigene, jahrhundertealte Tradition. Die irische Geschichte war für die Neunzehnsechzehner von einem über siebenhundertfünfzigjährigen Freiheitskampf der Kelten gegen die eindringenden und unterdrückenden Angelsachsen geprägt.242 Seit der ersten Landung der Sachsen 1169 habe jede Generation von Iren um ihre Freiheit gekämpft.243 Ziel dieses Kampfes und der irischen Geschichte sei „the Republic“, letztlich das Wiederherstellen des goldenen Zeitalters vor der britischen Invasion.244 Weil die Masse des Volkes häufig resigniert habe und sich die Führer der Nation immer wieder bestechen ließen, sei der Freiheitskampf immer die Aufgabe einer kleinen Minderheit gewesen.245 Obwohl die Aufstände jedesmal erfolglos gewesen seien, hätten sie ihr Ziel immer erreicht: Sie hätten die Flamme der Freiheit, die revolutionäre Tradition an die nächste Generation weitergegeben. Das Geschichtsgesetz lehrte: Das Selbstopfer habe einen reinigenden Effekt auf die Nation. Es erhebe die unpopulären Aufständischen zu Märtyrern, erhalte Irlands „birthright to free nationhood“246, rüttle das Volk auf und demaskiere die Bestechlichkeit der nationalen Führung.247
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BOYCE, Nationalism, S. 294, 382 f. Zur Zähigkeit der „past grievances“: ebd., S. 386. Vgl. GARVIN, 1922, S. 142 f. BOYCE, Nationalism, S. 308 f. TCD, Long Hall, Proclamation of the Republic, Easter 1916. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 108 f. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 157, 160, 223, 250. Vgl.: Moses I, 25, 29–34. PATRICK PEARSE, Political Writings and Speeches. Dublin 1918, S. 120.
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Einen besonderen Stellenwert in der Folge nationaler Revolutionen hatte die republikanische Tradition seit 1798. Die „apostolische Folge“248 der Revolutionen, die „magic numbers“249 von 1798, 1803, 1848, 1867 hatte für die radikalen Republikaner fast sakralen Status.250 Doch trotz dieser Tradition galten die letzten 120 Jahre, die „lange Gegenwart“, den Revolutionären als Alptraum, als Zeit, in der Irland anglisiert worden und die gälische Kultur fast ausgestorben sei.251 Gipfel dieser Dekadenz sei die unmittelbare „kurze Gegenwart“. Noch zu keiner Zeit sei Irland so verkommen gewesen: Die anglisierte Lebensweise und materielle Vergünstigungen hätten das irische „Volk“ abgestumpft. Die nationalen Führer, also die Abgeordneten der Irish Parliamentary Party, seien durch „saxon gold“ und das Leben in London korrumpiert. Ihr „Verrat“ gehe soweit, daß sie seit 1914 halfen, irische Soldaten für Englands Kriege zu rekrutieren. Irland sei also kurz davor, eine britische Provinz zu werden. Ein neuer Aufstand sei deshalb nötiger als je zuvor – notfalls unabhängig von Erfolgsaussichten.252 Hinter dieser revolutionären Analyse lag ein unbewußter Zirkelschluß: Weil die Revolutionäre ihre Sicht der Gegenwart in die Vergangenheit projizierten und daraus ein Geschichtsgesetz herleiteten, konnte ihnen dieses Geschichtsgesetz zwangsläufig auch die Gegenwart erklären. Folgt man den Neunzehnsechzehnern, verlief die irische Geschichte nach einem klaren Muster, in dem gut und böse, falsch und richtig klar besetzt waren. Dieses republikanische Geschichtsbild war „invented tradition“.253 Wie auch der republikanische Propagandist Sean O’Faolain rückblickend beobachtete: Das revolutionäre Denken entstand nicht zur Zeit der angelsächsischen Invasion, sondern kurz vor und nach 1916. Es stützte sich weitgehend auf die späten Schriften von Pearse, die die meisten radikalen Nationalisten nach 1916 als verbindliche Deutung der irischen Geschichte betrachteten.254
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DEBATE ON TREATY, Harry Boland, 7. Januar 1922, S. 304. LYONS, Culture and Anarchy, S. 58. FOSTER, History and the Irish Question, S. 122; Einige nationalistische Historiker(innen) übernehmen diese Traditionsbildung unkritisch, etwa: FALLON, Soul of Fire, S. 20. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 108 f. F[RANCIS] S[TEWART], L[ELAND] LYONS, The Rising and After, in: NHI, Bd.VI., S. 207–23, hier: S. 211; ders., Culture and Anarchy, S. 87–94; Siehe auch Mable FitzGerald an George Bernhard Shaw, 28. November 1914, in: FITZGERALD, Memoirs, S. 183 f. ERIC J. HOBSBAWM, Inventing Traditions, in: ders., The Invention of Tradition. Cambridge 1994 (erstmals 1983), S. 1–14, passim. O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 181 f.; vgl. ebd. seine theoretische Überzeugung, es müsse objektive soziale Ursachen für den Bürgerkrieg geben, und seine praktische Unfähigkeit, solche
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Das republikanische Geschichtsgesetz beruhte auf wenigen selektiven Momenten der irischen Geschichte, die die Neunzehnsechzehner scheinlogisch aufeinander bezogen und teleologisch zusammenklitterten. Ganze Traditionsstränge der irischen Geschichte und des irischen Nationalismus schlossen sie unter der Rubrik „Verrat“ aus, darunter den Unionismus und den konstitutionellen Nationalismus. Auch die wenigen ausgewählten Daten waren manipuliert: Das republikanische Geschichtsgesetz verschleierte, daß es seit dem von Wolfe Tone angeführten Revolutionsversuch 1798 keinen eigentlichen Aufstand mehr gegeben hatte: 1803 passierte nicht viel mehr als die Hinrichtung Robert Emmets. Die Revolte von 1848 war eine Verzweiflungstat, die nur kleine Teile Tipperarys erfaßte. Der als „Fenian Rising“ bekanntgewordene Aufstandsversuch von 1867 war militärisch völlig fehlgeplant und von den Briten nach zwei Tagen ohne Mühe niedergeschlagen.255 Nicht nur mit den Aufständen, auch mit den Ideen der Revolutionäre des neunzehnten Jahrhunderts gingen die Neunzehnsechzehner, ohne es zu merken, kreativ um. Sie betrachteten die Revolutionäre des neunzehnten Jahrhunderts als ihre direkten Vorläufer und gingen wie selbstverständlich davon aus, dieselbe Programmatik und dieselben Gedanken zu haben.256 Die Neunzehnsechzehner konnten sich nicht vorstellen, daß Vergangenheit für sie zunächst etwas Fremdes und Unverständliches sein könnte. Sie zitierten die Klassiker des neunzehnten und späten achtzehnten Jahrhunderts Wolfe Tone, Robert Emmet, Michael Davitt, John Mitchel und Finton Lalor für selektive Autoritätsbeweise und ignorierten deren unterschiedliche Programmatik.257 Das Schillernde, Vielseitige und sich Wandelnde – und sei es nur an der republikanischen Gewalt-Tradition – entging ihnen. Für sie war Geschichte und Vergangenheit grundsätzlich dasselbe: Geschichte war ihnen vergangene Gegenwart, Gegenwart akkumulierte Vergangenheit, jeder Zeitpunkt nur eine Station auf Irlands langem Weg zur Republik.258
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Ursachen zu finden. PEARSE, Political Writings, insbesondere: „Ghosts“ (erstmals 24. Dezember 1915), ebd., S. 219–55; „The Separatist Idea“ (erstmals 1. Februar 1916), ebd., S. 261–93; „The Spiritual Nation“ (erstmals 13. Februar 1916), ebd., S. 299–329; „The Sovereign People“ (erstmals 31. März 1916), ebd., S. 335–71; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 252. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 252–60. Zunächst dachte Pearse selbst differenzierter: ebd., S. 152, 157, 160. Nur wenige Gedanken der Neunzehnsechzehner waren wirklich neu. Neu war lediglich die Art, in der die Neunzehnsechzehner bekannte Versatzstücke zusammenbrachten: BOYCE, Nationalism, S. 311 f., 386; MOODY, Irish History and Irish Mythology, S. 79–84; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 153; zu Griffith siehe: FITZGERALD, Memoirs, S. 3 f. FARRELL, Paradox, S. 18–21; GRAHAM WALKER, Irish Nationalism, S. 208 f. Vgl. MACDONAGH, States of Mind, S. 1–9, insbes., S. 6; vgl. BOYCE, Nationalism, S. 388:
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Geschichte schlug sich für die Revolutionäre dabei häufig räumlich nieder. Historische Schauplätze luden sich mit nationaler Bedeutung auf. Im Irland der radikalen Nationalisten verschmolzen nicht nur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern auch Raum und Zeit. Der mit nationaler Vergangenheit aufgeladene Raum wurde dabei selbst zum Akteur, konnte einen jungen Iren wie Liam Lynch zum Nationalismus erziehen: Around his [Liam Lynch’s] early youth the Galtee countryside wove a spell that never lost its magic to the day of his death. He had a sense of the indefinable spirit which inheres in a place rich in history. The country-side has a long memory, and in Gleann na gCreabhar the tradition of local associations with the many phases of the struggle for freedom had transmitted down the generations songs and stories of courage and endeavour. He heard them with a receptive heart.259
Selbst die Natur, hier das irische Wetter, durfte eine aktive Rolle in dieser zeitlichen und räumlichen Kontinuität des Freiheitskampfes übernehmen: „The cold, damp rolling fog that tortured Essex and many other Elizabethan braves, and gave them the miserable shivering ague, came again to the rescue of the Gael as it rolled down the mountainside.“260 d) Selbstopfer Die nach Irland über einen romantischen britischen Patriotismus vermittelte Idee, sich für die Nation zu opfern, war vor dem Ersten Weltkrieg in ganz Europa verbreitet, meist verbunden mit Jugendkult und der Vorstellung eines reinigenden Blutvergießens. Sie behielt in Irland auch nach 1914, ja noch nach 1918 ihre ungebrochene Faszination auf die radikalen Nationalisten, weil nur ganz wenige Revolutionäre mit den Schrecken des Massensterbens im Weltkrieg konfrontiert worden waren.261 Der Idee vom Opfertod für die Nation gaben die Neunzehnsechzehner eine spezifisch irische Form. Das Geschichtsgesetz bewies den Revolutionären: Ein Aufstand war unabhängig von militärischen Erfolgsaussichten
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„A colonial view of Irish history [is] totally inappropriate.“ Eine bündige Demontage des republikanischen Geschichtsbildes findet sich ebd., 391–8, ein differenzierter billanzziehender Blick, in: ders., Nineteenth Century, S. 281–96; FOSTER, History and the Irish Question, S. 122 f., 137, 140–3. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 4; vgl. auch: LANKFORD, Hope, S. 28–30, 76; NAI, D/T, S-1628, Gedicht zu Collins Tod: „There is a storied spot in Ireland . . .“ LANKFORD, Hope, S. 220; vgl. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 172; vgl. Franciscian Library Killeny, Eamon de Valera Papers (FLK, DeV), 287/2, de Valera, adress to the army, 12. April 1923. MACDONAGH, States of Mind, S. 86. Garvin stellt den irischen Republikanismus in einen Kontext europäischer Gewaltkulte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts: GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 13.
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sinnvoll und nötig, um die Nation zu erwecken. Pearse drückte das in seiner bald zum republikanischen Kanon gehörenden Grabrede für den Fenier Jeremiah O’Donovan Rossa in Worten aus, die zu dem Klassikerzitat republikanischer Selbstopfer-Rhetorik wurden: „Life springs from death and from the graves of patriot men and women spring living nations.“262 In den letzten Jahren vor dem Osteraufstand glorifizierten und mystifizierten vor allem Pearse und Joseph Plunkett die reinigende Wirkung des heroische Selbstopfers für die Nation. Pearse verband dabei immer wieder den Kult um den sagenhaften keltischen „Urkrieger“ Cuchulain mit einer Nachfolge Christi auf politischer Ebene.263 Folgt man David FitzPatrick, so hatten die Neunzehnsechzehner, genau wie ein Pubbesitzer, der sich materielle Vorteile von der Revolution erhoffte, nicht nur die Nation, sondern auch eigennützige Interessen im Blick: Sie wollten unsterblich, Teil ihres selbstgeschaffenen Geschichtsbildes werden. Doch diese elitäre Form von Eigennutz war, auch nach FitzPatrick, wenig verlockend für die realistischeren Revolutionäre in der IRB. Sie war bedrohlich, ja lebensgefährlich für die niederen Ränge und Mannschaften der Irish Volunteers und sicher nicht massenwirksam.264 Doch für die Verschwörer von 1916 hatte dieses schnell als irrational abwertbare Konzept seine eigene poetische Logik und Ästhetik. Die Revolutionäre hatten einen ausgeprägten „sense of drama, by a vision of their part in an heroic act“.265 Beeinflußt vom Massennationalismus der Home Rule-Bewegung, vom Denken der Gaelic League und von den Vorstellungen radikaler Nationalisten wie Griffith und Moran, entwickelten die Revolutionäre von 1916 ihre Nation. Sie definierten Irland als spirituelles Land, das sie dualistisch von dem als materialistisch konzipierten England abgrenzten. Dabei erhoben sie Antimaterialismus nicht nur zum Kennzeichen eines abstrakten Irlands,
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PEARSE, Political Writings, S. 136 f.; Trinity College Dublin, Erskine Childers Papers (TCD, CP), 7847–52/286, de Valera an Mary A. Childers, 8. Dezember 1922; Dail Eireann, Official Report: Parliamentary Debates 1919–1921, Private Sessions. Dublin o.J., Margaret Pearse, 17. Dezember 1921, S. 271. LYONS, Culture and Anarchy, S. 87–94. Patrick Pearse war schon lange, bevor er zum politischen Nationalismus überging, von der Idee des Selbstopfers fasziniert: RUTH EDWARDS, Triumph, S. 156 f., 161, 177, 179, 217, 222, 236 f., 245, 248, 250 f. DAVID FITZPATRICK, The Geography of Irish Nationalism, 1910–1921, in: PHILPIN, Popular Protest, S. 403–39, hier: 403 f.; FITZGERALD, Memoirs, S. 75 f.; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 248 f.; Gerade Joseph Plunkett hatte wenig zu verlieren. Er war schon lange schwer an TBC erkrankt und lag während des Osteraufstandes bereits im Sterben: ebd., S. 201, 278. BOYCE, Nationalism, S. 308.
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sondern verpflichteten sich mit unterschiedlicher Konsequenz selbst zu einem asketischen Leben. Ihr antithetisches Weltbild legitimierten die Revolutionäre historisch: Sie verkürzten die irische Vergangenheit auf ein siebenhunderfünfzigjähriges Geschichtsgesetz, zu einer zyklischen Folge von Unterdrückung, Korruption und nationalen Aufständen. Dieses Geschichtsgesetz verplichtete die revolutionäre Elite zu einem Selbstopfer, das die Neunzehnsechzehner in ihren Schriften, Dramen und Gedichten verherrlichten. 3. „HEROIC TALE“: DIE EIGENDYNAMIK DER REVOLUTIONÄREN POLITISCHEN KULTUR Das elitäre Konzept der Neunzehnsechzehner kann dem Betrachter irrational, verschroben oder auch abstoßend vorkommen. Oder man kann den selbstlosen Idealismus, den Heldenmut der Revolutionäre bewundern. Wie auch immer man den elitären Nationalismus bewertet, wichtig war: Die Revolutionäre erfüllten die theoretischen Vorgaben ihres Geschichtsgesetzes und lösten damit eine bald nicht mehr steuerbare Eigendynamik ihrer revolutionären Kultur aus. Die Neunzehnsechzehner beschränkten den Kult des Selbstopfers nicht auf Gedichte und Pamphlete. Sie hatten ein starkes elitäres Sendungsbewußtsein, betrachteten sich als die erwählten „few“ ihrer Generation, inszenierten den Aufstand als Selbstopfer; in den bekannten Worten aus Pearse Gedicht „The Mother“ als „bloody protest for a glorious thing“.266 Der Aufstand sollte erzählen: „an epic tale of heroism, self-sacrifice and above all joy – the joy of violent conflict when the hero is at last face to face with the saxon foe.“267 Anders ausgedrückt: Der revolutionäre Diskurs begann sich zu verselbständigen, wurde Meister über seine Erfinder, entwickelte eine Eigendynamik und zwang die Revolutionäre zum Handeln. Das heißt nicht, daß die Neunzehnsechzehner unbedingt fürs Vaterland sterben wollten oder daß sie kein Interesse am Erfolg ihrer Sache hatten. Sie bemühten sich um deutsche Hilfe und organisierten einen groß angelegten Waffenschmuggel. Doch als der scheiterte, gaben sie den Aufstand nicht auf,
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PATRICK PEARSE, „The Mother“, in: DESMOND RYAN (Hrsg.), 1916 Poets. Dublin 1963, S. 24; vgl. zum elitären Sendungsbewußtsein auch der „Realisten“ innerhalb der IRB: FITZGERALD, Memoirs, S. 49, 70 f. BOYCE, Nineteenth Century, S. 251; vgl. FOSTER, Modern Ireland, S. 480 f.; LYONS, Culture and Anarchy, S. 94, 97. Auch William Butler Yeats drängte sich für die „causal tragedy“ von 1916 die Theatermetapher auf: YEATS, Poems, S. 287.
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obwohl die Mitglieder der IRB-Führung versuchten, den Aufstand in letzter Minute noch zu verhindern.268 Um den „bloody protest“ optimal umzusetzen, verstießen die Revolutionäre gegen jede militärische Effizienz. Sie unternahmen es nur zaghaft, den Aufstand auf die Provinz auszuweiten. Auch in Dublin wichen sie einer militärischen Konfrontation zunächst aus. Anstatt in einer Offensive strategisch wichtige Punkte wie die Verwaltungszentrale Dublin Castle oder die britischen Kasernen zu übernehmen, bevorzugten sie militärisch nicht befestigte Gebäude, die britische Herrschaft symbolisierten: am liebsten Repräsentativbauten in Georgianischer Architektur. So besetzten sie das Gerichtsgebäude Four Courts und das Hauptpostamt, das GPO269 in der Sackville Street.270 Auch intern ohne klare Kommandostruktur, warteten sie dort darauf, angegriffen und besiegt zu werden. Pearse, der weder eine Waffe bedienen noch den Aufstand militärisch koordinieren konnte, übergab de facto das Kommando an Connolly und tat das, was er ohnehin am besten konnte: Proklamationen verfassen und mit seinen Kameraden diskutieren. Für ihn war die Meßlatte des Erfolges Robert Emmets zweistündiger „Aufstand“ 1803 ein Sieg stand für die revolutionären Führer nicht ernsthaft zur Diskussion.271 Das revolutionäre Weltbild, das die Neunzehnsechzehner motiviert hatte, einen Aufstand als Blutopfer zu inszenieren, ließ sie auch im GPO nicht im Stich, verlieh ihrem Handeln Sinn. So beschrieb FitzGerald in seiner Autobiographie, wie er während des Aufstandes in Diskussionen mit Pearse und Joseph Plunkett immer wieder den Kosmos der Republik vor sich aufrichtete und moraltheologisch rechtfertigte: Time and again we came back to one favourite topic which could not be avoided. And that was the moral rectitude of what we had undertaken. These can hardly be called discussions for only the one side was taken. We each brought forward every theological argument and quotation that justified that Rising. And if one of us could adduce a point that the other two had not been aware of it was carefully noted. [.. .] During those talks I probably persuaded myself that we were only interested in being able to give some reassurance to others. But looking back since then I know
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LEE, Ireland 1912–1985, S. 24–6 warnt davor, den Aufstand auf ein von vorneherein geplantes „blood sacrifice“ zu reduzieren. Vgl. FOSTER, Modern Ireland, S. 479–81. GPO: General Post Office, später auch Synonym für Osteraufstand, „1916“. Sackvillestreet: heute O’Connellstreet; LYONS, Rising, S. 213. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 244, 264, 270 f., 277, 284, 296; LYONS, Rising, S. 212 f.; LEE, Ireland 1912–1985, S. 25; FOSTER, Modern Ireland, S. 481; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 161; FITZGERALD, Memoirs, S. 132 f., 144.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
quite well that as far as I was concerned I was also looking for reassurance for myself.272
Mit diesen Scheindiskussionen schützten sich die führenden Revolutionäre vor religiösen Selbstzweifeln und einer defätistischen Version der Ereignisse, die von allen Seiten auf die kleine republikanische Besatzung im GPO eindrangen. Eine andere Methode, sich zum Weitermachen zu motivieren, war Galgenhumor: Doch während die Anführer des Aufstandes sich durch makabere Witze über die Art ihres Todes an das Sterben gewöhnten, konnten sie über den Tod ihrer Kameraden schlecht spotten. Der Optimismus der meisten Irish Volunteers deprimierte die revolutionäre Führung und drückte auf ihr Gewissen. Zwar teilten Mannschaften und revolutionäre Elite das antithetische Irlandbild und die Verherrlichung der republikanischen Gewalt-Tradition. Doch die Erkenntnis, daß der Osteraufstand bloß ein „bloody protest“ werden sollte, verheimlichte die revolutionäre Führung ihren Anhängern und versprach ihnen statt dessen deutsche Hilfe und einen schnellen Sieg.273 Genauso deprimierend war die sichtbare Reaktion des „befreiten Volkes“, soweit das aus dem GPO erkennbar war. Auch ein Teil der verarmten Dubliner Bevölkerung, insbesondere aus dem Norden der Stadt, riskierte ihr Leben im Aufstand: doch nicht „für Irland“, sondern für ausgedehnte Plünderungszüge in der noblen Sackville Street. Dieser „britische“ Materialismus der Plünderer setzte den Revolutionären schwer zu, weil sie fürchteten, ihr Aufstand könne entweiht werden.274 Doch trotz drastischer Ankündigungen verzichtete Pearse darauf, Plünderer hinrichten zu lassen. Der Aufstand war schon unpopulär genug: Viele der 450 Toten waren Zivilisten, während nur 79 Angehörige von Polizei und Krontruppen ums Leben kamen. Diese Zivilisten waren nicht nur Opfer ihrer Habgier, ihrer Sensationslust, des Zufalls oder britischer Repressalien. Sie gerieten auch wegen der republikanischen Selbstzerstörungsstrategie des „bloody protest“ zwischen die Fronten. Auch sie wurden für Irland „geopfert“. Die Aufständischen hatten ganz bewußt die belebte Dubliner
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FITZGERALD, Memoirs, S. 142 f.; Vgl. ebd., S. 151; vgl. FOSTER, Modern Ireland, S. 481 f. FITZGERALD, Memoirs, S. 134, 139 f., 142, 145, 148 f.; vgl. ebd., S. 76, 79–1; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 178. Ebd., Triumph, S. 285, 290; FOSTER, Modern Ireland, S. 482; SEAN O’CASEY, The Plough and the Stars, in: ders., Three Plays. London 1994. (erstmals 1926), S. 187 f.; siehe auch, S. 188–193, 198 f.; FITZGERALD, Memoirs, S. 136 f., 142; Schon die Proklamation der Republik enthält diese Sorge: „[. . .] and we pray that no one who serves the cause will dishonour it by cowardice, inhumanity or rapine.“ TCD, Long Hall, Proclamation of the Republic, Easter 1916.
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Innenstadt und Dublins beste Geschäftsgegend gewählt: Hier konnte der Aufstand möglichst viel zerstören, das „Volk“ würde so das aufrüttelnde Blutopfer nicht übersehen. Auch hier half das revolutionäre Weltbild gegen Selbstzweifel: Es definierte den Aufstand als legitimen Krieg gegen England, nicht als mutwilliges Töten von Zivilisten.275 Für die britische Regierung war der Aufstand von 1916 Hochverrat, ein „Dolchstoß“ in den Rücken der Front, aus Sicht der gemäßigten Nationalisten ein sinnloser, feiger Zerstörungsakt, ein Anschlag auf Home Rule. Angesichts der toten Zivilisten und der zerstörten Dubliner Innenstadt waren das naheliegende Deutungen. So lehnte die veröffentlichte Meinung, aber auch die Mehrheit der Bevölkerung den Aufstand zunächst ab und wertete ihn als pro-deutsche Verschwörung oder sozialistischen Umsturzversuch.276 Die Inszenierung der heroischen Tat wirkte daneben zunächst unattraktiv und elitär. Sie entwickelte jedoch schnell eine erstaunliche Dynamik, machte aus einem mißratenen Aufstand einen „triumph of failure“.277 Diese Dynamik erfaßte schon zu Beginn des Aufstandes zahlreiche Realisten in der IRB, etwa FitzGerald und seinen Freund The O’Rahilly. Beide hatten bis zur letzten Minute versucht, den militärisch sinnlosen Aufstand zu verhindern. Als das nicht gelang, meldeten sie sich sofort im GPO als Freiwillige. Als FitzGerald sah, wie die republikanische Trikolore über dem GPO gehißt wurde, will er zu seiner Frau gesagt haben: „This is worth being wiped out for.“ Wie auch immer, O’Rahilly und FitzGerald waren beide eher bereit, in einem ihrer Ansicht nach militärisch sinnlosen Aufstand zu sterben, als den Kampf ihrer Generation gegen den englischen Unterdrücker zu verpassen.278 Der Logik des Aufstandes konnten sich selbst die Nationalisten nicht entziehen, die Gewalt prinzipiell als ineffizient ablehnten. So meldete sich auch Sinn Fein-Begründer Griffith im GPO freiwillig. Nicht daß Griffith
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LYONS, Rising, S. 217, vgl. auch S. 215 f.: Die offiziellen Statistiken der britischen Verwaltung unterscheiden nicht zwischen toten Aufständischen und Zivilisten; Siehe auch: RUTH EDWARDS, Triumph, S. 284 f., 300. LYONS, Culture and Anarchy, S. 99, 102 f.; FOSTER, Modern Ireland, S. 479–81; BOYCE, Nineteenth Century, S. 250; LEE, Ireland 1912–1985, S. 28–36, weist nach, daß das herkömmliche Bild, die gesamte Bevölkerung habe den Aufstand erst völlig abgelehnt, später aber uneingeschränkt unterstützt, zu undifferenziert ist. DESMOND RYAN, The Rising. Dublin 1969, S. 257; In Anlehnung daran, aber nicht ohne kritische Distanz, auch der Titel der immer noch maßgeblichen Patrick Pearse-Biographie: RUTH EDWARDS, Triumph; siehe, ebd., S. 343 f., 236 f.: zur Logik des „Triumph of Failure“ durch Pearse selbst. FITZGERALD, Memoirs, S. 130 f., 140, 154; Zitat: S. 130; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 268 f.
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jetzt auf einmal vom Befürworter des passiven Widerstandes zum gewaltsamen Aktivisten bekehrt worden wäre. Aber auch er konnte den Aufstand nicht anders als einen nationalen Befreiungskampf verstehen. Wenn schon nicht aus Überzeugung, so mußte Griffith allein schon, um seine Führungsrolle unter den radikalen Nationalisten nicht zu verlieren, dabei gewesen sein. Griffith kam im GPO dann doch nicht zum Einsatz: Die Revolutionäre schickten den von ihnen so verehrten, aber schwer kurzsichtigen und daher untauglichen Mann besorgt nach Hause.279 Die repulikanische Version des Aufstands erreichte nicht nur ohnehin schon überzeugte Nationalisten, sondern auch bis dahin Gemäßigte oder Unpolitische. Prominente Guerilleros des Unabhängigkeitskrieges wie Tom Barry verklärten den Aufstand in ihren Autobiographien nachträglich zum „rude awakening“280, zum Dreh- und Angelpunkt ihrer revolutionären Karriere. Selbst wenn Barry im nachhinein an dieser „Erweckung“ manipuliert hat, zeigt das nur, wie sehr der Aufstand, nein die republikanische Interpretation des Aufstandes, zum nicht hinterfragbaren Bezugspunkt seines politischen Denkens geworden war. Das galt genauso für Ernie O’Malley, der wie so häufig einen differenzierteren Blick auf seine revolutionäre Vergangenheit warf. Er beschrieb, wie er sich sein Weltbild schrittweise im Sinne der Republik neu sortierte: „I reconstructed [!] my world slowly.“281 Für die Revolutionäre erwies sich das angeblich so harte britische Durchgreifen als Glücksfall, denn es bestätigte das republikanische Geschichtsgesetz: England übernahm die ihm zugedachte Rolle als Unterdrücker, zeigte aus Sicht der Revolutionäre das wahre Gesicht seiner Herrschaft. Es machte aus unpopulären Aufrührern republikanische Märtyrer. Die Revolutionäre gingen damit als letzte Generation des Freiheitskampfes in das von ihnen selbst geschaffene Geschichtsbild ein.282 Doch nicht nur durch den abstrakten Märtyrertod der wenigen Neunzehnsechzehner trieb die britische Härte die Revolutionsdynamik an: Die Politik, nationale Aktivisten massenhaft zu verhaften, machte britische Zwangsmaßnahmen für Hunderte von Aktivisten konkret erfahrbar und verwandelte die Gefängnisse zu „veritable universities for the new nationalism“. Irish Volunteers, Gaelic Leaguer, Mitglieder der Gaelic Athletic Association, Sinn Feins und anderer nationaler Splittergruppen lernten sich im 279 280
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RICHARD DAVIS, Griffith, S. 19. BARRY, Guerilla Days, S. 7 f.; Zur Metapher der „Erweckung“ vgl. BREEN, My Fight, S. 29; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 8 f.; vgl. auch: FITZPATRICK, Politics, S. 129–131, der „Erweckung“ als subtileren und längeren Prozeß erklärt. O’MALLEY, On Another Man’s Wound, S. 42, vgl. ebd. S. 38–42. LYONS, Culture and Anarchy, S. 99; FOSTER, Modern Ireland, S. 484 f.
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Gefängnis kennen und wurden durch das gemeinsame Gefängniserlebnis radikalisiert. Was die britischen Behörden irrtümlich hinter dem Aufstand vermutet hatten, entstand nun in den Gefängnissen direkt unter ihren Augen: Ein irlandweit verzweigtes Netz radikaler Nationalisten.283 Die britische Härte radikalisierte nicht nur aktive Nationalisten, sondern vermittelte die Logik des Aufstandes auch an die Mehrheit der katholischen Bevölkerung. Damit erfüllte sich aus republikanischer Perspektive auch die letzte Annahme des Geschichtsgesetzes: Das „Volk“ wurde „erweckt“.284 4. „REPUBLIC“: GLAUBE ODER SCHLAGWORT? a) Revolutionäre Elite und politische Kultur: „the Republic“ als politischer Glaube Die Ereignisse zwischen 1916 und 1918 ließen sich für aktive Republikaner nur in einer Weise deuten: Das republikanische Geschichtsgesetz hatte sich als „historische Wahrheit“ erwiesen, die „Flamme der Freiheit“ war eine Generation weitergereicht, das Volk „erweckt“ worden. Das jetzt um eine Generation erweiterte republikanische Geschichtsgesetz, Askese, Selbstopfer und das antithetische Weltbild von Irland kontra England wurden zur verbindlichen Rhetorik der gesamten Sinn Fein.285 All diese Vorstellungen verschmolzen in dem Begriff „Republic“. Für die meisten Revolutionäre war „Republic“ viel mehr als eine verbindliche Rhetorikkonvention. „The Republic“, immer mit bestimmtem Artikel,286 war ihnen der nicht hinterfragbare Ausgangs- und Endpunkt ihres
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LYONS, Culture and Anarchy, S. 99 f., Zitat: S. 100; FOSTER, Modern Ireland, S. 489; VALIULIS, Mulcahy, S. 18–20. LYONS, Culture and Anarchy, S. 100 f.; FOSTER, Modern Ireland, S. 484 f.; LEE, Ireland 1912–1985, S. 31–6, weist überzeugend nach, daß das Volk weniger „erweckt“ wurde, als daß von vorneherein vorhandene Sympathien durch bessere Informationen über den Aufstand und die britische Härte freigesetzt wurden. So auch: VALIULIS, Mulcahy, S. 16 f.; BOYCE, Nineteenth Century, S. 250 f.; FITZPATRICK, Politics, S. 129; RICHARD DAVIS, Griffith, S. 22, folgt der wenig überzeugenden Einschätzung von Griffith, der Aufstand habe den Sieg des revolutionären Nationalismus nur beschleunigt, nicht verursacht. LYONS, Culture and Anarchy, S. 100 f.; FOSTER, Modern Ireland, S. 484 f. FOSTER, Modern Ireland, S. 487; LYONS, Three Essays, S. 231 f. Siehe exemplarisch: Trinity College Dublin (TCD), Early Printed Books, Arthur Warren Samuels, A Collection of Printed Ephemera of the 1916 Rebellion, World War I, the War of Independence and the Civil War (Samuels Collection), box 4/93, zu Cathal Brughas Tod: „With eighteen men he upheld the republic [ . .]“ (Unterstreichung im Original); auch ironisierend durch die vertragsbefürwortende Propaganda: FREE STATE, 19. August 1922, S. 1 und O’HEGARTY, Victory, S. 172: „ ‚theRepublic‘ “ (Im Original zusammengeschrieben und in Anführungsstrichen).
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Denkens und das Ziel der irischen Geschichte. „The Republic“ war über mythische Kategorien abgesichert. Sie erhielt ihre integrative Kraft über Märtyrer, das Wissen um Gut und Böse, den Willen der Geschichte. „The Republic“ war damit die im Geertzschen Sinne „zentrale Fiktion“ der revolutionären politischen Kultur. Sie erklärte den Revolutionären, wie die politische Welt funktionierte, definierte als Gegenpol zur britischen Fiktion von „Crown and Empire“, was politische Realität war, und legitimierte, ja forderte den Einsatz von Gewalt.287 Auch die Revolutionäre erkannten dabei ansatzweise, daß „the Republic“ eine Fiktion, zumindest eine spirituelle Realität war. Sie beschrieben die Republic als „ideell“ oder „virtuell“. Die meisten räumten ein, daß die „de facto“-Untergrundrepublik nur wenig Macht ausübte. Doch das änderte für die Revolutionäre nichts daran, daß die Republic „de jure“ existierte: Sie bestehe seit 1916, sei 1918 vom irischen Volk und 1919 von Dail Eireann ratifiziert worden. Und anders als die „de facto“-Republic, sei die „de jure“Republic als spirituelle Republik in den Herzen der Revolutionäre unzerstörbar.288 Durch kritische Distanz gebrochen, sah das der bekannte irische Schriftsteller Frank O’Connor schonungsloser. O’Connor, der im Bürgerkrieg republikanischer Propagandist gewesen war, löste sich nach 1922 immer mehr von seinem nationalen Weltbild und vom irischen Katholizismus. Bald nach dem Bürgerkrieg schloß er sich dem Kreis anglo-irischer Literaten um George Russle und William Butler Yeates an. Dabei brach er mit seiner revolutionären Vergangenheit viel endgültiger als etwa FitzGerald, emigrierte von 1939 bis 1960, von der repressiven Kulturpolitik des Freistaats frustriert, in die USA.289 O’Connor war ein ironischer, witziger, mitunter auch ätzender Kritiker des irischen Nationalismus. Gleichzeitig war er bei allem Spott ein genauer und differenzierender Beobachter, verfügte als professioneller Geschichtenerzähler über ein besonderes Gespür für die Rolle von Sprache und Symbolen.
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CLIFFORD GEERTZ, Centers, Kings and Charisma: Reflections on the Symbolics of Power, in: ders., Local Knowledge. Further Essays on the Interpretation of Culture. New York 1983, S. 121–46, hier vor allem: S. 121–5, 142–6; ALF LÜDTKE, Thesen zur Wiederholbarkeit. „Normalität“ und Massenhaftigkeit von Tötungsgewalt im 20. Jahrhundert, in: ROLF PETER SIEFERLE und HELGA BREUNINGER (Hrsg.), Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte. Frankfurt 1988, S. 280–9, hier: S. 280. FOSTER, Modern Ireland, S. 487; DEBATE ON TREATY: Miss Ada English, 4. Januar 1922, S. 249; Mary MacSwiney, 21. Dezember 1921, S. 121, 125 f. Zusammengefaßt nach Frank O’Connors zwei autobiographischen Bänden: ders, „Only Child“ und ders., „My Father’s Son“ sowie: BOYLAN, Dictionary, S. 254.
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Auch O’Connor erkannte das Fiktive an der irischen Revolution, charakterisierte sie als „make-believe revolution“.290 Diese „make-believe revolution“, die mythische Republik, behielt für viele eine Offenheit, in der alles möglich erschien – nicht nur unterschiedliche soziale Ziele, sondern darüber hinaus eine grundsätzliche Erhebung des menschlichen Daseins. O’Connor hat diese Offenheit treffend, wenn auch ästhetisierend, als „magical improvisation“ bezeichnet.291 Gemeint war damit das, was Lynn Hunt für die französische Revolution beobachtet hat: Die kaum in Organisationen institutionalisierte Macht „verflüssigte“ sich, lag zwischen den Revolutionären, im revolutionären Sprechen und Handeln.292 So entwickelte der revolutionäre Diskurs eine Eigendynamik: Die zentrale Fiktion, „the Republic“, wurde zum Motor der Revolution, motivierte die Revolutionäre, prägte ihr Denken und Handeln, ob in Dail Eireann, in revolutionären Untergrundbehörden oder in der IRA. Besonders wichtig beim Erschaffen der „magischen Improvisation“ waren Formen des symbolischen Sprechens, weil die Revolutionäre über sie „the Republic“ zu einer Beschwörungsformel machten: Auf Beerdigungen von republikanischen Märtyrern, in offiziellen Erklärungen und vor allem durch den Treueid auf die Republik.293 Dieses immer stark emotionalisierte Sprechen machte „the Republic“ ebenso zu einer Frage der politischen Reflexion wie zu einer Glaubenssache.294 Der republikanische Glaube konnte Revolutionäre, wie etwa den Guerillero und späteren Oberkommandierenden der vertragsablehnenden Einheiten Liam Lynch, geradezu besessen machen. Mitten in der Nacht weckte er seine Kameraden, um über „the Repu-
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FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 184; vgl. S. 188; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 118–20; Garvin spricht (m.E. etwas zu normativ) von der „fantasy world of Irish underground separatism“. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 270; vgl. S. 200, 204, 210. HUNT, Politics, S. 20 f., 56, 72 f., 86; Hunt bezieht in diese „verflüssigte“ Macht auch die Bevölkerung ein. Der Eid auf die Republik war der Dreh- und Angelpunkt der republikanischen Argumentation während der Vertragsdebatten: DEBATE ON TREATY: Mrs. Kathleen Clarke, 22. Dezember 1921, S. 141; Kate O’Callaghan, 20. Dezember 1921, S. 59; Constanze de Markievicz, 3. Januar 1922, S. 182; Mary MacSwiney, 19. Dezember 1922, S. 49; Sean Etchingham, 20. Dezember 1922, S. 55. Vgl. HUNT, Politics, S. 20 f. Zum Stellenwert der Emotion innerhalb des politischen Denkens: GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 67 f.; auch FOSTER, Modern Ireland, S. 493; BOYCE, Nationalism, S. 325; ENGLISH, Inborn Hate, S. 183; ders., Green on Red, S. 161; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 7; FITZGERALD, Memoirs, S. 29, hat ein schönes Bild für den emotionalen Enthusiasmus der Revolutionäre (vor 1916) gefunden: „Naturally he [Ernest Blythe] and I were both full of the new movement.“ Vgl. auch ebd., S. 29–33.
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blic“ zu sprechen: „He used to say that his brain appeared to be on fire and he couldn’t sleep.“295 Wie er orientierten sich die meisten der fast autonomen lokalen IRA-Offiziere an diesem Kernwert Ihres Denkens, nicht an den Vorgaben aus dem Dubliner Hauptquartier. Nicht Befehl und Gehorsam, sondern „the Republic“ motivierte die Aktivisten, sich nach dem Muster republikanischer Heldengeschichten zu verhalten und dadurch die revolutionäre Dynamik anzutreiben.296 Als etwa die Revolution nach dem Wahlsieg Sinn Feins ins Stocken geriet, wies den radikalen IRA-Aktivisten „the Republic“ einen Ausweg. Das heißt nicht, daß die sich sklavisch an „1916“ orientierten und ein neues Blutopfer inszenierten – das schien 1919 nur wenigen sinnvoll. Diesmal wollten die Revolutionäre auch eine Chance haben, den Krieg zu gewinnen. Sie griffen auf die Taktik zurück, die einige von Pearses Kritikern wie Eoin MacNeill, Bulmer Hobson oder ‚Ginger‘ O’Connell schon vor 1916 befürwortet hatten: Guerillakrieg. Die IRA provozierte mit einzelnen Überfällen ein hartes Durchgreifen der Krontruppen. Ähnlich wie 1916 machten dann Exekutionen, Hungerstreiks und britische Repressalien die Revolutionäre von unpopulären Radikalen zu Helden und Märtyrern. Wieder „demaskierte“ sich die britische Herrschaft, und wieder fand „das Volk“ zu seiner wahren Bestimmung, wieder hatte das republikanische Geschichtsgesetz funktioniert.297 Die Revolutionäre verliehen ihrer Sache nicht nur durch das Sprechen von „the Republic“ Sinn. Noch einfacher ließ sich radikaler Nationalismus singen, zeichnen oder nähen. Neue Symbole, eine neue Ikonographie, auch Lieder spiegelten dabei die neuen Verhältnisse nicht einfach nur wider, sie waren ein aktiver Bestandteil der Revolution, gestalteten Irland um.298 Sie machten die Republik sichtbar und greifbar. Der Propagandist und spätere Schriftsteller O’Connor hat das in seinen Jugenderinnerungen ironisierend auf den Punkt gebracht:
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O’DONOGHUE, No Other Law, S. 39. Bei aller Vorsicht gegenüber O’Donoghues Hagiographie trifft er hier doch den Kern des emotionalen Denkens der Republikaner; vgl. auch ebd., S. 61. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 40–5, 49, 149; AN TOGLACH, 15. August 1918, S. 1. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 241; FITZPATRICK, Politics, S. 160–5, 207, 212 f., 216; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 9–11, 37–45, 150. Vgl. HUNT, Politics, S. 52–4; auch S. 55–86.
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The Irish we spoke was of less importance to me than the folk songs we learned, and these than the kilt that one of the boys wore.[. . .] no one could suspect the loyalty of a boy who wore a kilt, and I persecuted my mother till she made one for me.299
Was für O’Connor der Kilt war, waren unter den Irish Volunteers Uniformen und Waffen. Für den, der sie besaß, wurden sie zum Statussymbol, für seine ganze Einheit zum sichtbaren Zeichen republikanischer Entschlossenheit.300 Am auffälligsten schlug sich die neue politische Kultur in zwei klassischen Formen symbolischer Politik nieder: der nationalen Hymne und der nationalen Flagge. Der 1908 von dem sonst wenig talentierten Teilzeitpoeten und Anstreicher Peadar Kearney gedichtete „Soldier’s Song“ drängte noch 1916 die von der Home Rule-Bewegung besetzten Lieder zurück.301 Nur wenige Lieder wie der republikanische Klassiker „The Memory of the Dead“ ließen sich aktualisieren. So wurde aus „Who fears to speak of ’98?“, „Who fears to speak of Easter Week?“.302 Andere, bisher unumstrittene Lieder des nationalen Kanons wie „God Save Ireland“, „The Wearing of the Green“ und „A Nation Once Again“ wurden, gerade innerhalb der revolutionären Elite, zu Liedern zweiter und dritter Wahl. Das war erstaunlich: Der „Soldier’s Song“ war, verglichen mit den traditionellen Gassenhauern, so schwer zu singen, daß ihn anfangs nicht einmal Kearneys Ortsverein der Gaelic Athletic Association akzeptierte. Dazu hatten die klassischen nationalen Lieder wesentlich prominentere Autoren: „A Nation Once Again“ stammte vom bekannten Young Ireland-Aktivisten Thomas Davis, den Pearse 1915 zum Evangelisten des irischen Nationalismus erklärt hatte. T.D. Sullivan, der Dichter von „God Save Ireland“, galt vielen als Irlands größter nationaler Liedtexter der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.303 Noch erstaunlicher war: Die Texte der Songs der Home Rule-Bewegung harmonierten mit dem republikanischen Weltbild. Sie handelten von Freiheitskampf, Märtyrern und englischer Unterdrückung. T.D. Sullivans „God 299 300
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FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 156; Zur Bedeutung politischer Symbole: BOYCE, Nationalism, S. 385. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 188 f.; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 278. Zum Kilt als dem klassischen Beispiel für „invented traditions“, vgl.: HUGH TREVOR ROPER, The Highland Tradition of Scotland, in: HOBSBAWM, Invention of Tradition, S. 15–41, passim. F. GUNTHER EYCK, The Voice of Nations: European National Anthems and their Authors. London 1995, S. 91, 95. National Library of Ireland, Manuskript Sammlung, (NLI, MS), 26, 772 (3), Songs and Poems of the Rebels who Fought and Died FOR IRELAND in Easter Week 1916. Dublin ca. 1917; O’MALLEY, On Another Man’s wound, S. 39; ZIMMERMANN, Songs, S. 72. EYCK, National Anthems, S. 86, 95; GALVIN, Songs, S. 42; ZIMMERMANN, Songs, S. 60.
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save Ireland“ verherrlichte den Tod und die letzten Worte der 1867 hingerichteten „Manchester Martyrs“. Als Gegenstück zu „God save the King“ war dieses Lied schnell zur inoffiziellen irischen Nationalhymne geworden, wurde gewöhnlich am Ende jeder politischen Veranstaltung gesungen. Selbst die Revolutionäre von 1916 sangen es neben dem „Soldier’s Song“ im brennenden General Post Office. Diskreditiert war nicht, was die Liedtexte aussagten, sondern daß die Lieder mit dem „korrupten“ Nationalismus der Irish Parliamentary Party verbunden waren.304 Das galt genauso für die Symbole der Home Rule-Bewegung: Auch grüne Fahne, Wolfshunde, Maid of Erin, Shamrock, Rundturm, Harfe, keltische Waffen und Kreuze trugen in sich keinen Hinweis auf einen Kompromiß. Dennoch erfanden die Revolutionäre eine eigene Ikonographie, um „the Republic“ symbolisch abzusichern. Sie warfen das vielschichtige und oft kitschige Repertoire der diskreditierten Home Rule-Bewegung weitgehend über Bord.305 Der kompromißlosen und asketischen politischen Kultur der Republikaner entsprach eine relativ abstrakte Bildsprache: Gedenkbilder republikanischer Märtyrer, immer noch weibliche Irlandallegorien, vor allem aber die republikanische Trikolore.306 Sie war vor 1916 so unbekannt, daß sie nicht von Home Rule besetzt worden war. Damit galt sie sofort als Symbol für die Ideale von 1916, als Sinn Fein-Flagge und Gegenpol zum Union Jack. Gleichzeitig war sie als Flagge der Young Ireland-Bewegung an die republikanische Tradition gebunden, ließ sich damit zur traditionellen Nationalflagge erheben.307 Wenn die Revolutionäre im „Soldier’s Song“ nun vom Kampf „’neath the same old flag“308 sangen, dann dachten sie nicht mehr an die grüne Fahne, die als Komplementärfarbe zum britischen rot,309 als Flagge Owen Roe O’Neills, der Fenier und von Home Rule eine Tradition bis ins siebzehnte 304 305
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GALVIN, Songs, S. 50, 83, 84, 42; vgl. ZIMMERMANN, Songs, S. 68, 70; ALTER, Symbols, S. 110; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 302 f.; MACDONAGH, States of Mind, S. 102. FITZPATRICK, Politics, S. 128; EWAN MORRIS, Irish Nationalist Symbols, 1916–1923 (unveröffentlichtes Vortragsmanuskript). Dublin 1995, S. 1 f., 4 f.; MARGARET O’CALLAGHAN, Language, Nationality and Cultural Identity, the Catholic Bulletin and Irish Statesman ‚reappraised‘, in: Irish Historical Studies, XXIV, 94, (1984), S. 228. FITZPATRICK, Politics, S. 132, O’DONOGHUE, No other Law, S. 13. THE ROUND TABLE, XIII, no. 50 (März 1923), S. 262; vgl. HAYES-MCCOY, Irish Flags, S. 140–6. „A Soldier’s Song“, in: CHARLES DESMOND GREAVES, The Easter Rising in Song and Ballad. London 1980, S. 24. Vgl. zur antithetischen Verwendung von irisch/grün vs. britisch/rot: die Lieder: „The Jakkets Green“, in: GALVIN, Songs, S. 98; „The Green Above the Red“, in: ZIMMERMANN, Songs, S. 81; „The Shan Van Vocht“, in: ebd., S. 133; vgl. S. 43 f.
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Jahrhundert hatte.310 Auch wenn für Sinn Fein, Pearse und James Connolly das „immortal green“ vor 1916 noch „Irland“ bedeutet hatte, nun galt es plötzlich durch den Einsatz auf den Rekrutierungsveranstaltungen von Aktivisten der Home Rule-Bewegung als entwürdigt.311 Statt dessen war die bis 1916 fast vergessene Trikolore als klassische „invented tradition“ auf einmal schon immer die nationale Fahne gewesen. Sie setzte sich nach 1916 fast schlagartig durch, obwohl selbst während des Osteraufstandes häufiger grüne, als grün-weiß-orange Flaggen über den Stützpunkten der Aufständischen wehten.312 b) Bevölkerung und politische Kultur: „a republic“ als Schlagwort „The Republic“ verstanden viele Mitglieder der revolutionären Elite als mystisch überhöhten, über eine verbindliche Rhetorik und Ikonographie vermittelten politischen Glauben. Sie ließ sich aber auch viel weniger elitär verstehen: Republikaner zu sein, war 1917 lange nicht mehr so lebensgefährlich wie noch 1916. Ein weiteres Blutopfer war auch nach der Logik des republikanischen Geschichtsgesetzes vorerst unnötig.313 Gerade auf der lokalen Ebene waren viele Aktivisten der Home RuleBewegung zur Sinn Fein übergetreten, aus „canny opportunism, out of ‚sheepism‘ – or conviction.“314 Ihnen, aber auch einigen Mitgliedern der revolutionären Elite genügte es, das Selbstopfer von 1916 zu glorifizieren, statt ein neues zu planen. Solche Revolutionäre orientierten sich nicht am politischen Glauben „the Republic“, für sie war „a republic“ einfach eine nicht genauer definierte wünschenswerte Staatsform, ein Synonym für „independence“ oder „self-determination“.315 Doch sie verwendeten „Republic“ nicht nur im Sinne einer mehr oder weniger konkreten politischen Zielvorstellung, auch sie bedienten sich genauso der radikalen Rhetorik. Sie nutzten die Martyrologie, um bei ihren Anhängern nationale Emotionen zu wecken, bedienten sich der Trikolore
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HAYES-MCCOY, Irish Flags, S. 32 f., 150–3. HAYES-MCCOY, Irish Flags, S. 199–208, 224; vgl. ebd., S. 208, wie James Connolly noch eine Woche vor dem Osteraufstand einen Flaggenappel vor einer grünen Fahne inszenierte. HAYES-MCCOY, Irish Flags, S. 205–22; HOBSBAWM, Inventing Traditions, passim. FITZPATRICK, Politics, S. 148; ders., De Valera in 1917: The Undoing of the Easter Rising, in: MURPHY und O’CARROLL, De Valera, S. 102–4. FITZPATRICK, Politics, S. 118, 122–4, Zitat S. 123. Die meisten „Wendehälse“, für die Republikanismus nur ein Lippenbekenntnis war, verloren in den Local Government-Wahlen von 1920 (zumindest in Clare) ihre Posten. ebd. LYONS, War of Independence, S. 242.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
als eines weithin verständlichen Symbols für nationale Unabhängigkeit und verwendeten „Republic“ als zugkräftiges Schlagwort.316 Das wurde besonders dort wichtig, wo „Republic“ eine Mehrheit der irischen Bevölkerung von Home Rule abbringen und für die Revolution mobilisieren sollte. Wenn ich hier von „Bevölkerung“ spreche, dann verwende ich diesen Begriff rein deskriptiv: „Bevölkerung“ bezieht sich nicht auf Beaslais Vorstellung von „Volk“ als einem organischen Volkskörper, sondern meint die Summe der katholischen Bevölkerung in den sechsundzwanzig südlichen Grafschaften Irlands. Weil die unionistischen Protestanten kaum vom Nationalismus erfaßt wurden, schließe ich sie hier ebenso aus, wie die gesamte Bevölkerung Nordirlands, das sich spätestens seit 1922 weitgehend getrennt entwickelte.317 Obwohl „Bevölkerung“ wie Beaslais „Volk“ der komplexen und vielschichtigen Realität nicht gerecht wird, läßt sich mit diesem vereinfachenden Begriff sinnvoll arbeiten. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert war die Masse der katholischen Bevölkerung hochgradig politisiert und nationalisiert. Die meisten Iren kannte eine Unzahl historischer und moralisierender Geschichten. Erzählt hatten ihnen diese Geschichten die Eltern und Großeltern oder die traditionellen Träger mündlichen Wissens: Bettler, alte Männer und alleinstehende Frauen.318 Noch entscheidender waren die weitverbreitete nationale und provinzielle Presse, ein landesweites Netz politischer und kryptopolitischer Vereine und politische Gespräche in Pubs und Läden. Viele Iren beteiligten sich nach der Local Government Reform von 1898 auch direkt an kommunaler Politik: in einem der zahlreichen lokalen Boards und Councils.319 Am wirkungsvollsten politisierten seit den 1870er Jahren die zahlreichen Vereine die katholische Bevölkerung. Gerade auf dem Land hatten diese Vereine einen Organisationsgrad, den nicht einmal totalitäre Regime erreichten. Als Sinn Fein ab 1917 zu der bestimmenden nationalen Bewegung wurde, entstand nicht nur ein irlandweites Netz von Sinn Fein Clubs. Die noch Home Rule nahestehenden Vereine wie der Ancient Order of Hibernians und die United Irish League brachen in sich zusammen. Sinn Fein ver-
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BOYCE, Nationalism, S. 313–8; BOYCE, Nineteenth Century, S. 256 f. Zum Weiterbestehen alter Home Rule-Vorstellungen bei der katholischen Bevölkerung in Nordirland: LAFFAN, Partition, S. 73 f.; Zur Sonderentwicklung Nordirlands seit dem Siebzehnten Jahrhundert: LYONS, Culture and Anarchy, S. 113–45. LANKFORD, Hope, S. 34–8, 40–2, 46. FITZPATRICK, Politics, S. 88 (zu Läden und Pubs), 90 f.(zur lokalen Presse), 93–107 (zu politischen Vereinen), 87 (zum Local Government: daran beteiligten sich 1914 allein in Clare 365 Männer.)
III. Die politische Kultur der irischen Revolution
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drängte jedoch nicht alle Vereine, sondern nutzte häufig deren Popularität für ihre Zwecke. Wie die Home Rule-Bewegung vor ihr, ging sie zum „vampirizing“ über: Sie übernahm erfolgreich konkurrierende Vereine und schaltete sie gleich. Letztlich waren Gaelic Athletic Association und Gaelic League spätestens ab 1918 Sport- und Kulturvereine Sinn Feins.320 Wer als Mitglied oder Nicht-Mitglied die Veranstaltungen dieser Vereine besuchte, der mußte oft nicht einmal lesen und schreiben können, er war Teil der nationalen Bewegung und hatte sein Vergnügen dabei. Unterhaltung war damit ein entscheidender Faktor, der zur Politisierung der Massen beitrug. Denn die nationalen Organisationen halfen nicht nur gegen den britischen Imperialismus, sondern auch gegen die Einsamkeit des irischen Landlebens. Außerhalb der größeren Städte war Politik neben der Kirche das einzige regelmäßige Unterhaltungsangebot. Teil der nationalen Bewegung zu sein, legitimierte das Bedürfnis, in den nächsten Ort zu fahren, gemeinsam in den Pub zu gehen, zu trinken, Freunde zu treffen, zu singen, Reden oder Fahnen zu schwingen, Trommeln zu schlagen, Redner zu bejubeln oder sie auszubuhen. Der beliebte Song des Young Ireland-Aktivisten John Kells Ingram „The Memory of the Dead“ war genauso eine antienglische Provokation wie ein Trinklied. So heißt es zu Beginn der zweiten Strophe: „We drink the memory of the Dead/ the faithful and the few.“321 Politik machte Spaß, schaffte sozialen Kontakt und Geborgenheit in der Gruppe und kostete, wenn man wollte, kaum Geld. Für die weniger asketischen unter den Jüngeren boten nationale Vereine ein legitimes Umfeld, um Kontakt zum anderen Geschlecht aufzunehmen und sich zu profilieren. Gerade die Gaelic League war eine Heiratsbörse.322 An das Unterhaltungsbedürfnis war häufig auch eine gewisse Indifferenz gekoppelt, vor allem, wenn sich die Freude an der politischen Rhetorik in der Tradition grotesker Reden verselbständigte. Solche „mock speeches“ waren häufig Bestandteil von unpolitischen Festen, zogen aber auch politische Veranstaltungen ins Lächerliche.323 Diese Indifferenz und das Un-
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FITZPATRICK, Geography, S. 420–9; zum „vampirizing“ der Home Rule-Bewegung: ders., Politics, S. 102–7; zum „vampirizing“ Sinn Feins: ebd., S. 117, 153–7; LEE, Ireland 1912–1985, S. 40 spricht von 1354 Vereinen mit 112 080 Mitgliedern; vgl. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 11, 29 f.; Gaelic League und Gaelic Athletic Association waren auf der Führungsebene schon vor 1916 von der IRB kontrolliert: ebd., S. 95–100. „Who fears to speak of ’98“ eigentlich „the Memory of the Dead“, in: ZIMMERMANN, Songs, S. 226 f. FITZPATRICK, Geography, S. 423–6; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 86 f.; LANKFORD, Hope, S. 117 f., 133; vgl. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 200–3. LEE PERRY CURTIS, Moral and Physical Force: The Language of Violence in Irish National-
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
terhaltungsbedürfnis konnten für die radikalen Nationalisten frustrierend, ja abstoßend sein. So beschwerte sich der republikanischen Guerillero Ernie O’Malley: „the right tradition is to carry on a man’s work, not to wave a flag and sing a song.“324 Und FitzGerald erinnerte sich an seine Zeit in Kerry: When we made speeches about a new free Ireland with her own army, and with international recognition, somebody else would make a speech in support of us in which the Home Rule Bill was spoken of as fulfilling all our national aspirations. And even more discouraging still might have been the fact that as the applause for our noble sentiments died away, some ‚character‘ would get up to the great delight of the audience and make a speech of grotesque buffoonery, which of course, was the popular event of the evening and received much wilder applause than we could hope for.325
Diese Indifferenz, die wenige Jahre zuvor radikale Nationalisten wie FitzGerald zur Verzweiflung gebracht hatte, kam ab 1917 Sinn Fein selbst zugute. Sie erlaubte der Mehrheit der Bevölkerung, sich als Republikaner zu definieren, ohne eine politische Orthodoxie mitzutragen.326 Was sie unter „Republic“ oder „martyrdom“ verstand, unterschied sich meist nur graduell von Home Rule. Sie setzte jetzt auf eine härtere Gangart im selben alten Freiheitskampf gegen den „common enemy“.327 Durch Gewalt hatte die Mehrheit der Bevölkerung nur zu verlieren: Ihr Leben, ihren Hof, gesicherte Umsätze, ihr Einkommen, ihre Söhne. Wenn sie auch häufig mit den Rebellen sympathisierte, Gewalt war für die meisten abschreckend. Das galt nach dem Aufstand 1916 genauso wie nach den ersten Anschlägen des Unabhängigkeitskrieges. Das wußte auch die Führung Sinn Feins und verwässerte den gewaltverherrlichenden Rigorismus der Neunzehnsechzehner. Ihr Programm von 1917 suggerierte, das maximale Ziel, die Republik, sei mit minimalem Einsatz zu gewinnen: durch passiven
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ism, in: Journal of British Studies, 27, (1988), S. 150–89, hier: S. 179 f.; FITZGERALD, Memoirs, S. 34 f.; LANKFORD, Hope, S. 54, S. 17–52. Ernie O’Malley an Mary Childers, 26. November 1923–1. Dezember 1923, in: ENGLISH (Hrsg.), Prisoners, S. 85. FITZGERALD, Memoirs, S. 34 f.; Zum Übergang eines irischen Theaterstückes in eine allgemeine Feier: ebd.; vgl. ebenfalls ebd., S. 49 f., 85, 87 f., 113. Daß die Mehrheit der Bevölkerung Sinn Fein unterstützte, darin waren/sind sich britische Militärs, der britische Geheimdienst, Sinn Fein-Propaganda und historische Forschung einig: GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 140; FITZPATRICK, Geography, S. 418; IRISH BULLETIN, 26. Oktober 1920, S. 1; kritischer: TOWNSHEND, Political Violence, S. 339. FITZPATRICK, Politics, S. 127–9, 283 f., 286; ders., Geography, S. 414; ders., Undoing, passim; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 326; FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 185.
III. Die politische Kultur der irischen Revolution
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Widerstand und durch Diplomatie auf der Friedenskonferenz in Versailles.328 Erst rückblickend und unter dem Eindruck der britischen Gegengewalt wurde die republikanische Gewalt im Unabhängigkeitskrieg akzeptabel. Jetzt konnte die republikanische Propaganda über Gewalt eine sinnstiftende Geschichte erzählen: Der Kampf von David gegen Goliath, der Kampf von Idealisten mit uneigennützigen Motiven gegen den übermächtigen Feind. Solche Geschichten waren „Kilmichael“ und „Cross Barry“, als spektakulär eingeschätzte Guerillaerfolge – auch wenn dabei nicht einmal zwei Dutzend „Feinde“ umkamen. Doch auch auf dem Höhepunkt des Unabhängigkeitskrieges war republikanische Gewalt nie richtig populär.329 Populärer als republikanische Erfolge waren republikanische Niederlagen. Viel wirkungsvoller als das alttestamentarisch vermittelte Auge um Auge oder David gegen Goliath war das an die christliche Martyrologie angelehnte Märtyrertum der Revolutionäre, der Kult der republikanischen Leidensfähigkeit. Als Tragödie konnte die republikanische Propaganda ungleich packendere und dazu Mitleid erweckende Geschichten erzählen als als Romanze.330 Die Sprache der Martyrologie war dabei keine Erfindung der Neunzehnsechzehner, sondern einmal Teil einer humanitären Tradition menschlichen Mitleids, vor allem aber Teil der „immemorial language of Irish Nationalism“.331 Die meisten populären politischen Balladen beschworen tote und erfolglose Helden der Nation.332 Auch die Rhetorik der Home Rule Bewegung bezog sich auf nationale Märtyrer, solange der Aufstand nur weit genug zurück lag. Der Unterschied zwischen Anhängern der Home Rule Bewegung und Republikanern war: Die einen sprachen von Märtyrern im Imperfekt, die anderen im Präsens. Der Home Rule-Song „By Memory inspired“ glorifizierte das Martyrium der Vergangenheit, der „Soldier’s Song“ projizierte den Kampf gegen England in die unmittelbare Zukunft, auf das nächsten Morgengrauen.333 328 329
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FITZPATRICK, Undoing, passim; FOSTER, Modern Ireland, S. 489–91. TOWNSHEND, Political Violence, S. 339; Exemplarisch der zurückhaltende Ton des IRISH BULLETIN nach der „Hinrichtung“ von vierzehn britischen Secret Service Offizieren am „Bloody Sunday“, IRISH BULLETIN, 24. November 1922. FOSTER, Modern Ireland, S. 487; RICHARD DAVIS, Griffith, S. 32; MURRAY, Voices, S. 239 f.; ENGLISH, Green on Red, S. 166 f.; vgl. dazu FRYE, Anatomy of Criticism, S. 186–222, insbes., S. 186–8, 206–8. FITZPATRICK, Politics, S. 132; MACDONAGH, Ambiguity, S. 117. GALVIN, Songs, S. 83 f.; ZIMMERMANN, Songs, S. 49, 69–71. FITZPATRICK, Politics, S. 93; MACDONAGH, Ambiguity, S. 115–9; BOYCE, Nationalism, S. 314, 324; ders., S. 8; vgl. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 8 f.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
Damit die Martyrologie ihre Wirkung nicht verfehlte, versuchte das Dubliner Hauptquartier der IRA, den Guerillakrieg so behutsam wie möglich eskalieren zu lassen: Die Krontruppen, nicht die IRA, sollten die Rolle des Aggressors übernehmen. Wie 1916, wie bei der Wehrpflichtkrise und den Verhaftungswellen 1917 und 1918 waren die Revolutionäre dabei auf die Kooperation, also die Aggression, des Feindes angewiesen. Erst britische Härte machte aus diffusen und ambivalenten Sympathien, aus traditionell anti-britischen Gefühlen eine klare Identifikation mit der republikanischen Sache. Erst britische Härte garantierte „national unity“, machte traditionelle Feindbilder lebendig, lieferte den Stoff für überzeugende Märtyrergeschichten334: James Connolly, der 1916 schwerverletzt vor das Erschießungskommando getragen werden mußte; das Hungerstreik-Opfer Thomas Ashe, das 1917 an der britischen Zwangsernährung starb; der achtzehnjährige Kevin Barry, der sich 1920 eher hinrichten ließ, als seine Kameraden zu verraten; Thomas MacCurtain, IRA Offizier und Bürgermeister von Cork, der, „auf der Flucht“ – also in seinem Bett – erschossen, in den Armen seiner Frau starb; sein Nachfolger Terence MacSwiney, der sich im Brixtoner Gefängnis 74 Tage zu Tode hungerte.335 Märtyrergeschichten waren im Unabhängigkeitskrieg besonders erfolgreich, weil die britischen Repressalien überwiegend die Zivilbevölkerung trafen.336 Die zahlreichen Übergriffe der Black and Tans, das als „sack of Cork“ dramatisierte Niederbrennen eines Teils der Corker Innenstadt und besonders das Massaker am „Bloody Sunday“337 unter Zuschauern eines
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LEE, Ireland 1912–1985, S. 43, meint u. a. deshalb, der Erfolg der Republikaner im Unabhänigkeitskrieg beruhe auf einer Serie britischer Eigentore. Ebenso: BOYCE, Nineteenth Century, S. 269; Vgl. dazu auch die Systematik der Pressemitteilung Dail Eireanns: IRISH BULLETIN: „The following are acts of aggression committed in Ireland by the Police and Military of the ursurping English Government [. . .] for week ending [. . .].“ Zunächst gab es überhaupt keine Nachrichten über militärische oder zivile Erfolge der Revolutionäre. Hier exemplarisch: IRISH BULLETIN, 12. Juli 1919. Zur Exekutionspropaganda nach 1916 exemplarisch: NAI, Robert Barton, 1093/11, election propaganda; exemplarisch aus dem Unabhängigkeitskrieg zum Hungertod Terence MacSwiney: IRISH BULLETIN, 25. Oktober 1920, YOUNG IRELAND 13. November 1920; zur Exekution Kevin Barrys: IRISH BULLETIN, 28. Oktober 1920, 2. November 1920; ebd. auch die Leidensgeschichten zahlreicher „unbekannter“ Märtyrer; zu Thomas Ashe; vgl. VALIULIS, Mulcahy, S. 23 f. Die meisten Opfer forderte der Unabhängigkeitskrieg unter der Zivilbevölkerung: LYONS, War of Independence, S. 250. Auch der 30. Januar 1972 ist unter dem Namen „Bloody Sunday“ in die irische Geschichte eingegangen. Als protestantische Paramilitärs dreizehn katholische Demonstranten in Derry erschossen, schien der Weg in den Bürgerkrieg in Nordirland unumkehrbar. FOSTER, Modern Ireland, S. 591.
III. Die politische Kultur der irischen Revolution
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Hurlingspiels im Dubliner Croke Park erhoben „das irische Volk“ insgesamt zu einem kollektiven Märtyrer.338 Martyrologie war dabei nur ein Element, das Geschichte für die irische Bevölkerung lebendig machte. Geschichte war nicht nur für die revolutionäre Elite, sondern für die meisten Iren kein trockenes, blutleeres Abstraktum. Sie transportierte auf anschauliche Weise das dualistische Weltbild vom „materiellen England“ kontra „spirituellem Irland“. Viele Iren dachten ihre eigene Familiengeschichte parallel zur Geschichte Irlands, überhöhten persönlich erfahrenes Leid als Teil der Leiden Irlands. So konnten sie Geschichte unmittelbar, selektiv, zum Teil aber auch erstaunlich detailliert begreifen.339 Geschichte war für sie ein kollektiver Erfahrungsschatz voll moralischer Lehren und Analogien. Schon vor Home Rule war das politische Denken der meisten Iren bestimmt durch: the teaching at every level of a Catholic Irishman’s life – his home, school, places of work and leisure, place of worship, the press, the penny song books – of the myth of the persecuted but now risen nation. Its foes were the English Government and those Protestant Irishmen (most Protestant Irishmen) who stood in the path of progress.340
Geschichte und speziell Martyrologie waren „mythische“ Elemente der nationalen Tradition, die einen Großteil der Bevölkerung faszinierten. Doch „Republic“ war für die meisten Iren nicht nur ideeller Selbstzweck, sondern deckte sich, wie zuvor Home Rule, mit materiellen „bread and butter issues“. Daher verstanden die Anhänger Sinn Feins „Republic“ überwiegend auf der realpolitischen Ebene, als „a republic“, als Synonym für eine nicht weiter konkretisierte Unabhängigkeit. Diese Unbestimmtheit war das durch Sinn Fein kopierte Erfolgsgeheimnis von Home Rule gewesen, garantierte „national unity“ konkurrierender sozialer Gruppen. „Republic, like the Nation Once Again [d. h. Home Rule], was a vessel into which each man could pour his own dreams.“341 „Republic“ legitimierte nicht nur Zukunftsvisionen, sondern entsprach ganz unmittelbaren Interessen der Gegenwart. Nicht umsonst bedeutete die 338
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Zum Massaker im Croke Park: IRISH BULLETIN, 24. November 1920; Zu anderen Übergriffen auf Zivilisten, exemplarisch: IRISH BULLETIN, 26. Oktober 1922; 24. November 1920; oder (fast) jede beliebige Ausgabe des IRISH BULLETIN. GARVIN, Hatred, S. 111; z. B. LANKFORD, Hope, S. 13, 21, 27; O’DONOGHUE, No other Law, S. 2–4, 13; vgl. NEVIL MACREADY, Annals of an Active Life (2Bde.). London 1924, hier: Bd. 2, S. 595. BOYCE, Nationalism, S. 385; Zum Geschichtsunterricht in Volksschulen: DOHERTY, National Identity, passim. FITZPATRICK, Politics, S. 92 f., 142–6, 158, Zitat: S. 145 f.; vgl. HOBSBAWM, Reflections, S. 396, 401.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
Wehrpflichtkrise von 1917/18 den Durchbruch für Sinn Fein. „Republic“ legitimierte viel überzeugender als Home Rule den Widerstand gegen die britische Staatsgewalt. „Republic“ überhöhte den naheliegenden Wunsch, nicht in einen mörderischen Krieg gezogen zu werden. Es machte aus dem, was die britische Regierung „Feigheit“ nannte, ein „nationales Prinzip“.342 Wieder schob der Druck durch den gemeinsamen Feind die Revolutionsdynamik an; denn was aus Sicht des britischen Militärs lebensnotwendig erschien, um die deutsche Frühjahrsoffensive 1918 abzuwehren, war aus national-irischer Sicht ein weiteres Beispiel britischer Härte.343 Für große Teile der revolutionären Elite entwickelte sich „the Republic“ nach 1916 zu einem handlungsbestimmenden politischen Glauben. Diesen Glauben sicherten die Revolutionäre nicht nur über ihre Rhetorik, sondern auch über eine Reihe neuer politischer Symbole, vor allem die Trikolore und den „Soldier’s Song“ ab. Rhetorik, Hymne und Flagge ließen sich gleichzeitig jedoch viel weniger elitär verstehen: Als integrative Schlagworte und Zeichen. So sollten sie die politischen und materiellen Phantasien der hochpolitisierten, aber dogmatisch wenig festgelegten Bevölkerung beschäftigen. So verlor „Republic“ als neue Form des Massennationalismus ihre Eindeutigkeit, die revolutionäre Asketik der politischen Kultur wurde aufgeweicht. 5. POLITISCHE KULTUR UND VERTRAGSSPALTUNG a) „The Republic“, „a republic“ und „treaty split“ „Republic“ hatte also nach 1916 einen Doppelcharakter: Als „a republic“ war sie massenwirksames politisches Schlagwort, als „the Republic“ ein nicht hinterfragbarer politischer Glaube. Das prägte nicht nur das Verhältnis zwischen revolutionärer Elite und Bevölkerung, sondern schlug sich auch innerhalb der revolutionären Elite nieder. Das heißt nicht, daß sich etwa zwei Flügel gegenüberstanden: „Mystiker“ und „Realisten“, sondern daß es innerhalb der revolutionären Elite ein breites Spektrum gab, das von Mystikern wie der radikalen Mary MacSwiney bis zu Realisten wie dem Sinn Fein-Begründer Griffith reichte. Die Haltung der meisten Revolutionäre lag irgendwo dazwischen. Genauer, sie verstanden Republic in beiden Richtungen. Solange die Revolutionäre gegen den gemeinsamen Feind kämpften, bestand kein Druck, die inneren Widersprüche zu klären: Die 342 343
LEE, Ireland 1912–1985, S. 23 f.; VALIULIS, Mulcahy, S. 29; BOYCE, Nineteenth Century, S. 248. TOWNSHEND, British Campaign, S. 8 f.
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elitäre mythische Qualität verlieh dem Konzept von „the Republic“ ihre revolutionäre Dynamik; als diffuses politisches Schlagwort war „a republic“ massenwirksam, versprach konkrete Erfolge. Beides zusammen machte die integrative Kraft der Revolution aus, garantierte „national unity“. Erst als England mit dem Waffenstillstand seine Rolle als Aggressor aufgab und mit dem Vertrag einen konkreten Kompromiß vorschlug, gelangte „Republic“ an ihre integrativen Grenzen. Der revolutionären Bewegung fehlte jetzt der einigende Druck von außen. Statt dessen mußte sie sich erstmals mit Realpolitik auseinandersetzen: Die ideale Republik, „the Republic“, war mit Waffengewalt nicht zu ertrotzen, konkrete Erfolge, ein Stück von „a republic“, schon.344 Einen Vertrag aushandeln, das heißt wörtlich und übertragen einen gemeinsamen Text zu schreiben. Auch 1921 mußten beide Seiten eine Sprache finden, die im Rahmen der republikanischen und der britisch imperialen politischen Kultur sinnvoll verstehbar war. Dazu mußten die irischen Revolutionäre genau wie die britische Regierung die Parameter ihrer politischen Kultur umdeuten und neu bewerten.345 An diesem Punkt zerbrach der Konsens über die Bedeutung von „Republic“ und damit die gemeinsame politische Kultur, die bis 1921 die Revolution zusammengehalten hatte. Denn nur ein Teil der Revolutionäre konnte „Republic“ so umdeuten, daß sie mit ihrem Gegenpol im antithetischen Weltbild, nämlich „Crown and Empire“ vereinbar war. Die Vertragsgegner hielten an der dogmatischen Lesart von „the Republic“ fest. In endlosen Artikeln und Varianten wiederholten die vertragsablehnenden Abgeordneten und die republikanischen Propagandablätter An Poblacht und Plain People ihr Glaubensbekenntnis. „The Republic“ war für sie ein qualitativer Wert, der nicht verhandelbar, tauschbar oder umdeutbar war: „Republicans take their stand on a Principle that is immutable as Truth and as eternal as God, and with that Principle there can be no compromise.“346 Diese Inflexibilität, diese „essential simplicity“347 ihres Denkens, war für sie positiv belegt: „Single minded“, was man auch mit „engstirnig“ übersetzen könnte, war eine Auszeichnung unter Republikanern.348 Sie
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ENGLISH, Green on Red, S. 169; FOSTER, Modern Ireland, S. 501; BOYCE, Nationalism, S. 328; ders., Nineteenth Century, S. 270; vgl. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 210; vgl. MANNHEIM, Conservative Thought, S. 81 f.; HOBSBAWM, Reflections, S. 401. Vgl. SAHLINS, Islands, S. 44 zur Umwertung zentraler Symbole. PLAIN PEOPLE, 14. Mai 1922, S. 2; Zu qualitativem und quantitativem Denken, siehe MANNHEIM, Conservative Thought, S. 86. So RUTH EDWARDS, Triumph, S. 70 über Patrick Pearse; vgl. ebd., S. 38, 210, 327. Exemplarisch: O’DONOGHUE, No other Law, S. 8; AN POBLACHT, 10. Januar 1922, S. 2.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
dachten beziehungsweise fühlten gesinnungsethisch, moralisch und prinzipientreu.349 Sie argumentierten verbissen, humorlos und verstanden, gerade wenn es um „the Republic“ ging, keinen Spaß.350 Immer wieder veröffentlichte die republikanische Propaganda Grundsatzartikel, die den Vertrag Artikel für Artikel, Zeile für Zeile, ja Wort für Wort auseinandernahmen und verdammten.351 Der Vertrag war für sie eine „question of right and wrong“, ein „unforgiveable crime“ an der Nation, ein „spiritual defeat“ und – so die häufigste Formulierung – ein Verrat an der Republik.352 Für die Vertragsgegner erfüllte sich mit dem Vertrag erneut das republikanische Geschichtsgesetz: Ein Teil der nationalen Führung verriet das „national birthright“.353 Das Volk ließ sich, durch den Krieg erschöpft, vom britischen Materialismus blenden. Es gab das auf, was die republikanische Tradition als die einzige Waffe des edlen Schwachen gegen den übermächtigen Feind definierte: die Treue gegenüber sich selbst.354 Vielleicht, so die Logik der Vertragsgegner, mußte es nun auch wieder ein neues „Selbstopfer“ geben, um die Flamme der Freiheit weiterzureichen. „What’s the good of being alive if we give in?“, zitierte das sonst zurückhaltendere Catholic Bulletin den Hungerstreikmärtyrer Terence MacSwiney.355 Die Vertragsgegner spürten eine starke Verpflichtung gegenüber ihren toten Kameraden der Jahre 1916–1921, gegenüber den republikanischen Märtyrern seit Wolfe Tones Aufstand 1798 und den nationalen Helden seit der „Landung der Sachsen“.356 Das hatte Beaslai, jetzt selbst Vertragsbefürworter, noch Anfang 1921 als offiziellen Glauben der IRA formuliert: „Volunteers who made such sacrifices for the cause of the Irish Republic need not fear that the flag for which so many brave men have died, will ever be hauled down.“357 Die Vertragsgegner hielten jetzt an dieser Überzeugung fest, 349
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Zu politischer Gesinnungsethik und politischer Verantwortungsethik, siehe: MAX WEBER, Politik als Beruf (erstmals 1919), in: Max Weber Gesamtausgabe Bd. I/17, S. 157–252, hier: S. 237–50; Trotz der normativen Implikationen scheinen mir die Etiketten Webers sehr passend. Vgl. GARVIN, 1922, S. 145; Zur Humorlosigkeit der Revolutionäre, siehe: ders., Nationalist Revolutionaries, S. 116, 140, 157 f.; O’FAOLAIN, Vive moi, S. 208. PLAIN PEOPLE, 21. Mai 1922, S. 2; AN POBLACHT, 5. Januar 1922, S. 1–3. DEBATE ON TREATY: Dr. Ada English, 4. Januar 1922, S. 247; Mary MacSwiney, 21. Dezember 1921, S. 127; Erskine Childers, 19. Dezember 1921, S. 40, NEW IRELAND, 22. April 1922, S. 316. PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 142 f.; ders., Hatred, S. 106. CATHOLIC BULLETIN, Juni 1922, S. 416; vgl. AN POBLACHT, 15. März 1922, S. 1. PLAIN PEOPLE, 16. April 1922, S. 2. AN TOGLACH, 1. Februar 1921, S. 1.
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nach der die „great dead“ nicht umsonst gestorben sein sollten. Die Republikaner sprachen mit ihren Toten und hörten auf die „voices of men from the grave, who call on us to die for the cause they died for.“358 Weil sich die Republikaner auf ein Geschichtsgesetz stützten, versuchten sie ihren Standpunkt in seitenlangen historischen Analogien zu belegen.359 Gerade „1916“ wurde für sie zu einem unwiderlegbaren Argument dafür, daß ein Weiterkämpfen auch ohne militärischen Erfolg sinnvoll und moralisch richtig sei.360 So machte die Poblacht aus der Abstimmung über den anglo-irischen Vertrag ein Votum über die Proklamation von 1916 und ließ die toten Anführer des Aufstands mit den Vertragsgegnern stimmen.361 Erinnerungsartikel und Klassikerzitate dieser „ruhmreichen Toten“ durchzogen die republikanische Argumentation. Sie wurden feste Bestandteile der Layoutgestaltung, insbesondere der Titelseiten.362 Für die Vertragsgegner existierte die 1916 verkündete und 1919 „ratifizierte“ Republik real, de facto als realer republikanischer Untergrundstaat, vor allem aber de jure als unveräußerliche „virtuelle Republik“.363 Wieder hielten die Vertragsgegner an dem fest, was Beaslai noch 1921 zur offiziellen Politik der Revolution erklärt hatte: „The Irish Republic is an accomplished fact; to it the soldiers of Ireland as well as Dail Eireann have taken a solemn oath of allegiance.“364 Das formulierte jetzt niemand so kompromißlos wie die wichtigste weibliche Aktivistin des Bürgerkrieges, Mary MacSwiney. Die republikanische Lesart des Vertrages versuchte sie, ihren Zuhörern in einer zweieinhalbstündigen stark repetitiven Rede fast körperlich einzutrichtern: The Republic dead! No, not a thousand such documents could kill it. [. . .] It is not dead while there is a woman or a child in Ireland. It is not dead if every man in Ireland turned his back on it. The Republic dead! What is that but a cowardly speech,
358
359 360
361 362 363 364
DEBATE ON TREATY, Constanze de Markievicz, 3. Januar 1922, S. 185; vgl. AN POBLACHT, 17. Januar 1922, S. 3: „What would Davis think of us?“; 17. Januar 1922, S. 4: „Dialog with the Dead“. CATHOLIC BULLETIN, April 1922, S. 194–207; PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2; AN POBLACHT, 17. Januar 1922, S. 4; NEW IRELAND, 22. April 1922, S. 313 f. DEBATE ON TREATY, John O’Mahony, 4. Januar 1922, S. 244; Harry Boland, 7. Januar 1922, S. 304; Den originalen Wortlaut der Proklamation von 1916 veröffentlichten: PLAIN PEOPLE, 23. April 1922, S. 4; AN POBLACHT, 3. Januar 1922, S. 1; 10. Januar 1922, S. 2; WORKER’S REPUBLIC, 24. Dezember 1921, S. 4. AN POBLACHT, 10. Januar 1922, S. 2: „64 to 64 (57+7)“. TCD, CP, 7815, Childers Diary, 16. Februar 1922; AN POBLACHT, 17. Januar 1922, S. 1; NEW IRELAND, 22. April 1922, S. 1. HEADS UP, 21. Februar 1922; AN POBLACHT, 3. Januar 1922, S. 2; DEBATE ON TREATY, Dr. Ada English, 4. Januar 1922, S. 249; ENGLISH, Green on Red, S. 166. AN TOGLACH, 1. Februar 1921, S. 1.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
the gospel of despair [. . .] I speak for the living Republic, the Republic that cannot die. That document will never kill it, never. The Irish Republic was proclaimed and established by the men of Easter Week, 1916. The Irish Republican Government was established in January, 1919, and it has functioned since under such conditions that no country ever worked under before.365
Der Treueid auf den britischen König war für die Vertragsgegner ein Anschlag auf das Zentrum ihres politischen Glaubens. Einen Eid zu brechen, verstieß eben nicht nur gegen eine englische Gentleman-Ethik und gegen die Lehre der katholischen Kirche.366 Der Treueid auf den englischen König verlangte von den Republikanern, die zentrale Fiktion ihrer revolutionären Kultur, „the Republic“, zu opfern, zu verraten. Schlimmer, an die Stelle von „the Republic“ trat die zentrale Fiktion des Feindes, Monarchie, Krone und Empire.367 Das war keine spezifisch irische Irrationalität. Auch die britische Delegation war gerne bereit, faktische Macht an den Freistaat abzutreten, wollte aber in der konstitutionellen Frage nicht nachgeben. Ihre zentrale Fiktion von „Crown and Empire“ war für sie, unabhängig von der Frage faktischer Macht, nicht verhandelbar.368 Gegenüber der Gewißheit eines siebenhundertfünfzigjährigen Geschichtsgesetzes, gegenüber der republikanischen Zukunft, bedeutete den Republikanern die Möglichkeit wenig, einen großen Schritt in Richtung auf „a republic“ zu machen. Genauso ignorierten sie die konkreten Vorteile des Vertrages. Die Vertragsgegner verstießen gegen ihre – scheinbar objektiven – sozialen Interessen und erwarteten dasselbe von der irischen Bevölkerung.369 Dafür erhielten sie, was Pearse einmal „the strength and peace of mind of those who never compromise“ genannt hatte.370 Die revolutionäre Kultur wurde damit von einer Massenkultur wieder zu einer Denkweise für eine kleine revolutionäre Elite.
365 366 367 368
369 370
DEBATE ON TREATY, Mary MacSwiney, 21. Dezember 1921, S. 108–27; Zitat: S. 125 f. YOUNGER, Civil War, S. 175; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 142. DEBATE ON TREATY, Mrs. Kathleen Clarke, 22. Dezember 1921, S. 141. Offener Brief von Lloyd George an de Valera: 15. September 1921, 16. September 1921, 18. September 1921, in: THE ROUND TABLE, XII, no.45, (Dezember 1921), S. 55–8; LEE, Ireland 1912–1985, S. 51; BOYCE, Nineteenth Century, S. 270; TOWNSHEND, Political Violence, S. 360. Dahinter stand mehr, als nur das Gesicht zu wahren. Dieser Punkt berührte das Selbstverständnis des britischen Empires, genauso wie das handfeste Interesse, die Kolonien und Dominions nicht durch einen irischen Präzidenzfall zu ermutigen. DEBATE ON TREATY: Dr. Ada English, 4. Januar 1922, S. 247; Erskine Childers, 19. Dezember 1921, S. 38; Mary MacSwiney, 21. Dezember 1921, S. 112. PEARSE, Political Writings, S. 121; vgl. DEBATE ON TREATY, John O’Mahony, 4. Januar 1922, S. 244; POBLACHT NA HEIREANN, 20. April 1922, S. 4; CATHOLIC BULLETIN, Juni 1922, S. 409; IRELAND OVER ALL, 7. April 1922, S. 3.
III. Die politische Kultur der irischen Revolution
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Spätestens jetzt hatte sich „the Republic“ von jeder materiellen Basis abgekoppelt, erwies sich nicht mehr als „ideological device which legitimized [the revolutionaries] coming to power.“371 Die revolutionäre Kultur wurde Sinn und Zweck ihrer selbst. Nicht mehr auf ein angeblich tiefer liegendes Ziel gerichtet, war sie eine Sache zwischen „the Republic“ und dem Revolutionär. Der republikanische Propagandist Sean O’Faolain hat das, indem er sich rückblickend selbst karikierte, überspitzt, aber treffend auf den Punkt gebracht: I was Ireland, the guardian of her faith, the one solitary man who would keep the Republican symbol alive, keep the last lamp glowing before the last ikon, even if everybody else had denied or forgotten the gospel that had inspired us all from 1916 onwards.372
Doch völlig selbstreferentiell blieb die sich verselbständigende revolutionäre Kultur nicht. Ihre Eigendynamik wurde zu einem sehr realen politischen Sprengsatz, zur Ursache des Bürgerkrieges. Einmal mehr erweist sich hier O’Connor, der Beobachter der „magical improvisation“, als gleichzeitig kritischer, präziser und poetischer Kommentator: Our side continued to maintain that the only real government was the imaginary one, or the few shadowy figures that remained of it. We were acting on the unimpeachable logic of the imagination, that only what exists in the mind is real. What we ignored was that a whole section of the improvisation had cut itself adrift and had become a new and menacing reality.373
Aus der Perspektive der politischen Kultur der Jahre 1916–21 ist das Verhalten der Vertragsgegner nicht mehr erstaunlich. Was uns zunächst fremd und unverständlich ist, beruhte auf einer Tradition revolutionären Denkens. Umgekehrt erscheint uns das Handeln der Vertragsbefürworter selbstverständlich: Sie realisierten durch den Vertrag ihre sozialen Aufstiegschancen, erreichten für Irland ein großes Maß an Unabhängigkeit. Doch um so pragmatisch, verantwortungsethisch und flexibel handeln zu können, mußten die Vertragsbefürworter ihr revolutionäres Weltbild umdeuten: Die Vertragsbefürworter zogen sich auf die realpolitische Version von „a republic“ als besonders wünschenswerter Staatsform zurück. Republik wurde so verhandelbar, ein rationalisierter Tauschwert.374 Republik verlor ihren qualita-
371 372 373 374
GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 162 f. O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 208. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 210. Vgl. MANNHEIM, Conservative Thought, S. 86.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
tiv mythischen Charakter, galt als Mittel zum Zweck, als „a name, an abstraction, a formula“, als „inscription on our battle standards.“375 Während Geschichtsmythos und Märtyrerkult an Bedeutung verloren, werteten die Vertragsbefürworter die Interessen und die Verantwortung gegenüber der Gegenwart auf.376 Auch Vertragsbefürworter konnten dabei emotional argumentieren; etwa Kevin O’Higgins: „Welfare and happiness of the men and women and the little children of this nation must, after all, take precedence over political creeds and theories.“377 Nach der neuen vertragsbefürwortenden Version existierte „a republic“ noch nicht, ließ sich in Zukunft aber schrittweise verwirklichen. Der anglo-irische Vertrag garantiere das bisher Erreichte.378 Wie O’Higgins deutlich machte, richtete sich die Politik der Vertragsbefürworter nach den Wünschen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Wenn die Bevölkerung „Republic“ überwiegend im eigenen Interesse verstand, war es kein Wunder, daß die meisten den Vertrag als Erfolg werteten. Die republikanische Propaganda mußte der Bevölkerung nun erst erklären, worin das Problem eigentlich bestand. Schwierig war das nicht; denn für die hochpolitisierte Bevölkerung war das Problem mit ein paar Stichworten begreifbar zu machen: „betrayal“, „the Republic“, „martyrs“. Doch auch wenn die Vertragsspaltung für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung leicht zu verstehen war, so stand sie gleichwohl schockiert weiter auf Seiten der Vertragsbefürworter. So erklärten sich während der Vertragsdebatte 328 öffentliche Körperschaften für und nur fünf gegen den Vertrag. Von den Republikanern überzeugen ließ sich dagegen nur eine Minderheit.379 Ob die Abgeordneten des neuen Parlaments einen Treueid auf den englischen König schwören mußten, ob der neue Staat Freistaat oder Republik hieß, das hatte nichts mit den täglichen Sorgen der meisten Iren zu tun. Dadurch hörte die Emigration nicht auf, gab die Kuh nicht mehr Milch, wuchsen die Kartoffeln nicht schneller, wurde der Lohn nicht besser, und es änderte sich auch nichts am sonntäglichen Gottesdienst oder am Pubbe-
375 376 377 378 379
DEBATE ON TREATY, FitzGerald, 4. Januar 1922, S. 234; Beaslai, 3. Januar 1922, S. 178; FREE STATE, 25. Februar 1922, S. 1. DEBATE ON TREATY, Collins, 19. Dezember 1921, S. 32 f., 36. DEBATE ON TREATY, Kevin O’Higgins, 19. Dezember 1921, S. 48. DEBATE ON TREATY, Desmond FitzGerald, 4. Januar 1922, S. 235f; FOSTER, Modern Ireland, S. 506; BOYCE, Nationalism, S. 328 f.; zu vereinfachend: LITTON, Civil War, S. 9. LEE, Ireland 1912–1985, S. 54; FOSTER, Modern Ireland, S. 509; HOPKINSON, Green, S. 35, 40.
III. Die politische Kultur der irischen Revolution
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such.380 Das indifferente Nationalbewußtsein der Bevölkerung war elastisch genug, um die Widersprüche zwischen „Republic“ und Vertrag zu ertragen. Die dogmatischen Probleme der revolutionären Elite ließen sich nicht mehr mit den konkreten Bedürfnissen der Bevölkerung in Einklang bringen. Durch einen neuen Krieg mit Großbritannien konnten nur die wenigsten etwas gewinnen, aber fast alle etwas verlieren. Nach zweieinhalb Jahren Guerillakrieg hatte der Frieden seine Eigendynamik entwickelt. Die Zivilbevölkerung, auf deren Rücken Krontruppen und Guerilleros den Krieg ausgetragen hatten, war kriegsmüde.381 Auf der einen Seite die gesinnungsethischen, asketischen und unflexiblen Vertragsgegner und ihr romantisches Republikideal; auf der anderen Seite die verantwortungsethischen Vertragsbefürworter, die pragmatisch und flexibel nach der Macht griffen und schrittweise „a republic“ umsetzen wollten: So klar war der Gegensatz zwischen Republikanern und Freistaatlern zunächst nicht. Viele Revolutionäre waren anfangs unentschlossen und schwankten zwischen beiden Lagern.382 Die meisten Vertragsbefürworter standen dem elitären Nationalismus und „the Republic“ immer noch sehr nahe. Nur wenige Vertragsbefürworter, wie Griffith, befürworteten den Vertrag „on its merits“.383 Die meisten Vertragsbefürworter entschieden sich nur ungern und unter Skrupeln für den Vertrag.384 Kevin O’Higgins, einer der geschicktesten Verteidiger des Vertrages, gab offen zu: „I do not wish to be forced into a stronger advocacy of the treaty, than I feel.“385 Robert Barton, Mitglied der Londoner Delegation, schien ein gebrochener Mann zu sein, als er dem Dail empfahl, den Vertrag anzunehmen: „I do not seek to shield myself from the charge of having broken my oath of allegiance to the Republic – my signature is proof of that fact (hear, hear). The oath was and still is to me the most sacred bond on earth. . .“ Kurz nach der Vertragsspaltung gab Barton sein Amt als Landwirtschaftsminister auf und lief zu den Vertragsgegnern über.386 380 381 382
383 384 385 386
LYONS, Three Essays, S. 225; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 144 f.; Siehe auch Einschätzung der VOICE OF LABOUR, 7. Januar 1922, S. 3. LEE, Ireland 1912–1985, S. 54; HOPKINSON, Green, S. 35, 40; RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism, S. 31. HOPKINSON, Green, S. 38; O’HEGARTY, Victory, S. 88 f.; JOHN REGAN, The Politics of Reaction: the Dynamics of Treatyite Government and Policy 1922–1932, in: Irish Historical Studies, XXX, 120, (1996), S. 542–63, hier: S. 548; GARVIN, 1922, S. 59. RICHARD DAVIS, Griffith, S. 38; vgl. ebd., S. 28. Z.B. der neue Verteidigungsminister Richard Mulcahy: VALIULIS, Mulcahy, S. 114–6. DEBATE ON TREATY, Kevin O’Higgins, 19. Dezember 1921, S. 45. DEBATE ON TREATY, Robert Barton, 19. Dezember 1922, S. 49.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
Umgekehrt machten sich zahlreiche Vertragsgegner ihre Entscheidung nicht leicht. Sie wußten, daß der Vertrag ein realpolitischer Erfolg war und das erreichbare Maximum darstellte. Trotzdem konnten sie es nicht über sich bringen, die Republik „zu verraten“. Die meisten Republikaner, sogar Dogmatiker wie Verteidigungsminister Cathal Brugha, waren deshalb prinzipiell bereit, einen Kompromiß mit Großbritannien einzugehen: Solange Irland formal kein Teil des britischen Empire blieb, konnten auch sie sich vorstellen, „the Republic“ zeitweise aufzugeben.387 b) „The Republic“, soziale Parameter und politische Sozialisation Auch die sozialen und politischen Auffälligkeiten der Vertragsspaltung lassen sich jetzt kulturell erklären. Revolutionäre, die in ihrer Universitätsausbildung gelernt hatten, Probleme differenzierter zu betrachten, waren eher bereit, die einfachen Antworten von „the Republic“ zu modifizieren und stimmten deshalb zu zwei Dritteln vertragsbefürwortend.388 Ähnlich wirkte auf einige das Exil: Hier erfuhren sie, daß andere Nationen offenbar andere Wertvorstellungen hatten. So konnten sie sich leichter vorstellen, daß Weltbilder relativ, zumindest nicht statisch waren. Exil konnte aber auch den gegenteiligen Effekt haben: Aus der Distanz neigten viele dazu, Irland immer mehr zu idealisieren.389 Auch die Rolle des Lokalpatriotismus läßt sich jetzt erklären. Nicht die direkte Konkurrenz zwischen den Grafschaften heizte den Bürgerkrieg an, sondern die Konkurrenz darum, „irischer“ zu sein als die anderen. Gerade die Munster-IRA wollte durch eine „nationalere“ Haltung kompensieren, daß Cork den Aufstand 1916 verpaßt hatte, die IRA in Connaught, daß sie im Unabhängigkeitskrieg weitgehend inaktiv geblieben war.390 Halbiren standen unter besonderem Druck, ihre „Irishness“ unter Beweis zu stellen. So erklärte der Halbengländer Erskine Childers: „It became necessary for people like myself, of mixed birth, to choose our citizenship once and for all.“391 Das galt genauso für die protestantischen Überläufer. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür war die anglo-irische Gräfin Constanze de Markievicz, die wie keine zweite über die Anglo-Iren als „English garrison“, „anti-Irish Irishmen“ oder „small minority of traitors and oppres387 388 389 390 391
MURRAY, Voices, S. 265 f.; O’HEGARTY, Victory, S. 85, 95; DEBATE ON TREATY, Cathal Brugha, 7. Januar 1922, S. 330–3. Vgl. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 147. Ebd., S. 54 f., 147. HOPKINSON, Green, S. 42; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 147; vgl. das Lied „The Boys from the County Cork“, in: GALVIN, Songs, S. 70. AN POBLACHT-WAR NEWS, 29. November 1922 (Childers Verteidigungsrede).
III. Die politische Kultur der irischen Revolution
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sors“ herzog.392 Für sie und die anderen teilweise konvertierten Protestanten war der Übertritt zum revolutionären Republikanismus ein bewußter Akt. Sie hatten Familie, Freunde, soziale Beziehungen, ihre privilegierte Stellung, ihre gesamte anglo-irische Kultur hinter sich gelassen. „The Republic“ war für sie so zum wichtigsten Bezugspunkt geworden, über den sie sich noch definieren konnten. Für den Vertrag zu stimmen, hätte für sie bedeutet, diese Identität zu verlieren. Sie hätten damit die entscheidenste und subjektiv sinnstiftende Entscheidung ihres Lebens relativiert.393 Auch für Frauen war, an der Revolution teilzunehmen, eine einschneidende Entscheidung, die im Regelfall Ehe- und Familienleben zumindest vorübergehend ausschloß. Auch die irische Revolution bot Frauen Partizipationschancen, wenn auch zu einem hohen persönlichen Preis.394 Die überwältigende vertragsablehnende Mehrheit bei den politisch aktiven Frauen beruhte dazu, und das war entscheidender, auf einem kulturell kodierten weiblichen Rollenbild. Zwar waren Frauen in der revolutionären Bewegung theoretisch gleichberechtigt, faktisch waren sie von wichtigen Entscheidungen und der politischen Reflexion jedoch weitgehend ausgeschlossen.395 Aus republikanischer Sicht waren Frauen dadurch nicht unbedingt benachteiligt. „The Republic“ war ohnehin mehr eine moralische Frage als eine Frage des politischen Denkens. Und hier billigten die Revolutionäre Frauen eine besondere Kompetenz zu: „The women of Ireland in the past have been the brave and steadfast guardians of the national tradition.“396 Als moralische Instanzen, die die Reinheit des republikanischen Glaubens hüteten, hatten Frauen im allgemeinen und Mütter, Freundinnen, Frauen und Schwestern von Revolutionären im besonderen einen starken Einfluß auf die politisch aktiven Männer. Frauen hatten das revolutionäre Weltbild stärker verinnerlicht, waren von ihrer moralischen Überlegenheit oft tiefer überzeugt als viele ihre männlichen Mitstreiter.397 Ihre Rolle als Hüterinnen der reinen Lehre konnten sie nur schwer mit dem realpolitischen Kompromiß verbinden. Der Vertrag mit England untergrub somit nicht nur ihre Identität als Nationalistinnen, sondern auch ihre Identität als Frauen. 392 393 394 395 396 397
DEBATE ON TREATY, Constanze de Markievicz, 3. Januar 1922, S. 181 f. Vgl. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 54, 147. Zur Erweiterung der politischen Spielräume von Frauen in nationalen Bewegungen, siehe: LANGEWIESCHE, Nationalismus, S. 216 f. FALLON, Soul of Fire, S. 20–30; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 250–4. LEABHAR BA HEIREANN, 1921, S. 40. GARVIN, 1922, S. 96–9; vgl. WARD, Maud Gonne, S. 127.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
Wie so vieles im Denken der irischen Revolutionäre war auch die Idee, Frauen als moralische Instanz zu definieren, keine spezifisch irische Erfindung, sondern eine aus England importierte Vorstellung. Auch in der viktorianischen Kultur war das Zusprechen von moralischen Kompetenzen eine Methode, die Unterordnung der Frau gleichzeitig zu verschleiern und auszugleichen.398 Spezifisch irisch war, wie die Revolutionäre die Vorstellung von der Frau als moralischer Instanz mit der nationalen Ikonographie verbanden. Was in vielen europäischen Ländern üblich war, die Nation als Frau zu personifizieren, führten die irischen Nationalisten des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts zur Perfektion: Sie machten Irland zu einer verarmten, alten Frau, „Shan van Vocht“, zu einer Mutter, zu einer wehrlosen, edlen Jungfrau „Erin“ oder „Cathleen ni Houlihan“ oder zur Piratenkönigin „Granuaile“. England personifizierten sie dagegen männlich. Dazu stahlen die irischen Nationalisten die britische Figur des John Bull und belegten sie mit den negativen britischen Eigenschaften. Auch jenseits dieser Allegorien war die irische Nation, entgegen der europäischen Regel, fast ausschließlich weiblich konnotiert.399 Geschlechterrollen, weibliches Irland und männliches England, dienten dazu, das gesamte antithetische Denken in Bildern darzustellen und die Gegensatzpaare spirituell-materiell, edelverschlagen, leidend-unterdrückend, aber auch ländlich-urban und gläubigungläubig sichtbar zu machen.400 Geschlechterrollen prägten nicht nur die Bilderwelt des irischen Nationalismus, auch das Gegenteil trifft zu: Die Ikonographie des weiblichen Irlands wirkte sich auch auf die Definition der weiblichen und männlichen Geschlechterrollen aus. Die aufopfernde Hingabe an das weibliche Irland wurde für die männlichen Revolutionäre Teil eines Selbstverständnisses vom mannhaften und ritterlichen Kampf für die Nation. Viele der traditionellen nationalistischen Songs waren als Liebeslieder für „Erin“ chiffriert.401 Einige radikale Revolutionäre setzten das wörtlich in die Tat um: Im Nationalismus sublimierten sie ihre Sexualität. So zogen Revolutionäre
398 399 400
401
GARVIN, 1922, S. 96; FALLON, Soul of Fire, S. 147. Vgl. LANGEWIESCHE, Nationalismus, S. 216 f. FLK, DeV, Aodh de Blacam an Mrs. Pegg, 2. August 1922; vgl. das Lied: „A new Song on Michael Davitt“, in: ZIMMERMANN, Songs, S. 275 f.; vgl. ebd. S. 53–6; PLAIN PEOPLE, 7. Mai 1922; 14. Mai 1922, S. 1; 2. Juli 1922, S. 4; CATHOLIC BULLETIN, Oktober 1922, S. 645: Gedicht, „Eire to Valera“; DEBATE ON TREATY, Sean Milroy, 14. Dezember 1921, S. 112; O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 186. SHAN VAN VOCHT war auch der Titel der feministischnationalistischen Zeitschrift von Alice Mulligan und Anna Johnson. ZIMMERMANN, Songs, S. 52 f.; GALVIN, Songs, S. 81.
III. Die politische Kultur der irischen Revolution
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wie Pearse, Liam Lynch, letztlich auch Collins die abstrakte „Cathleen ni Houlihan“ lebendigen Frauen vor.402 Noch stärker als männliche Rollenbilder prägte das weibliche Irlandbild, wie die Nationalisten Weiblichkeit verstanden: „Erin“ propagierte ein unkompromittierbares, erduldendes Frauenideal. Wenn die Revolutionärinnen diesem Ideal nacheiferten, konnten sie „wie Irland“ werden.403 Auch für viele der meist jungen und unverheirateten Aktivistinnen war radikaler Nationalismus auch sublimierte Sexualität: „As girls in happier times discussed dreams and hunches about boy friends, we had dreams and possible warnings about what was happening in the struggle for freedom.“404 Das tugend- und duldsame Frauenideal sprach die Revolutionärinnen um so mehr an, als es sich an Maria als mater dolorosa orientierte. Tom Garvin hat die Haltung der vertragsablehnenden Frauen daher treffend als „madonnaism“ charakterisiert.405 Da die meisten Revolutionärinnen devote Katholikinnen waren, oft täglich eine Dekade des Rosenkranzes406 beteten, war Maria als Schmerzensmutter für sie eine präsente Vorstellung. Gerade für diejenigen, die Mütter, Witwen oder Schwestern republikanischer Märtyrer waren, hatte die mater dolorosa eine ganz unmittelbare Vorbildfunktion, überhöhte ihre persönliche Verbitterung. Häufig lebten sie als Platzhalter, als Stimme, ihrer verstorbenen Verwandten, die nicht „umsonst“ gestorben sein sollten.407 Nach Peter Stallybrass und Allon White haben jeder Ort, jede Institution ihre passende Art zu reden. „Each ‚site of assembly‘ constitutes a nucleus of material and cultural conditions which regulate what may and may not be said, who may speak, how many people may communicate and what importance must be given to what is said.“ Die Form der „corporate assembly“ bestimmt bis zu einem gewissen Grad die rhetorischen Möglichkeiten, das 402
403 404 405 406
407
RUTH EDWARDS, Triumph, S. 20 f., 53; LANKFORD, Hope, S. 149: „A lovely young girl had had to give her place to the ‚poor old women’[Irland]. The sacrifice made by Birdie Keyes was total.“; O’DONOGHUE, No other Law, S. 40; F. W. MEMORY, ,Memory’s‘ being the Adventures of a Newspaperman. London 1932, hier: S. 155. WARD, Maud Gonne, S. 74. LANKFORD, Hope, S. 139; FALLON, Soul of Fire, S. 148. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 146 f., 158. THE RIGHT REV[EREND] J[OHN] M[ILLNER] (CATHOLIC BISHOP), The Key to Heaven: or, a Manual of Prayer. Dublin [ca. 1880], S. 345–57 (siehe dort: die schmerzensreichen Mysterien des Rosenkranzes). Von den sechs Frauen in Dail Eireann waren vier Verwandte republikanischer Märtyrer. Kate O’Callaghan, Kathleen Clarke und vor allem Margaret Pearse lehnten in ihren Reden den Vertrag im Namen ihrer toten Verwandten ab: DEBATE ON TREATY: Kate O’Callaghan, 20. Dezember 1921, S. 60; Margaret Pearse, 4. Januar 1922, S. 221; Kathleen Clarke, 22. Dezember 1921, S. 141.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
Gespräch: Mitunter dieselben Personen sprechen anders miteinander, ob sie nun gerade im Parlament, in einem Pub oder in einem Wohnzimmer sitzen.408 Auch die irischen Revolutionäre sprachen in einem Gerichtsaal oder einer Untergrundbehörde anders, als wenn sie in einer Gruppe bewaffnet durch die Hügel Irlands zogen, um Angehörige der Krontruppen zu erschießen. Auch wenn revolutionäre Behörden und Gerichte in Kellern, Scheunen oder unter freiem Himmel tagten, war das Reden in der revolutionären Administration vom Lösen konkreter Probleme geprägt, davon, wie man Dinge zum Laufen bringt: Wie man einen Arbeitskampf schlichtete, wie und ob ein Großbauer seine Kühe zurück erhielt, wie man ein Ministerium organisierte, Gelder eintrieb oder verteilte.409 Ähnlich war das im Dubliner Hauptquartier, das versuchte, die Aktionen der IRA zu koordinieren. Auch diese Revolutionäre übten täglich eine flexible Denk- und Handlungsweise ein. Der Rückgriff auf eine kompromißlose Rhetorik konnte ihre Alltagsprobleme nicht lösen. Das erklärt, warum Revolutionäre mit administrativer Erfahrung überwiegend zu einer pragmatischen und flexiblen Denkweise neigten und darum den Vertrag befürworteten. Die IRA in den Hügeln Irlands motivierte eine kompromißlose Rhetorik dagegen nicht nur, einen Guerillakrieg mit den Krontruppen anzuzetteln. „The Republic“ half den Revolutionären durch den Alltag, verlieh ihren Taten Sinn. Das Wissen, an einem historisch legitimierten Kampf zwischen Gut und Böse teilzunehmen, Askese und Selbstopfer zu glorifizieren, erleichterte ihnen, trotz schlechter Bewaffnung tagelang vergeblich auf Lauer zu liegen, zu frieren, naß zu werden, zu hungern, das eigene Leben zu riskieren und andere zu töten.410 In der Praxis des Guerillakrieges gab es kaum Bedarf an differenzierten und pragmatischen Lösungen. „The Republic“ zu relativieren, bedeutete, die „Moral“, das höchste Gut der Truppe, zu untergraben. So radikalisierte die Kriegserfahrung die Guerilleros und auch viele ihrer Bewunderer.411 Nach dem Vertragsabschluß mit England konnten viele Guerilleros das Weltbild nicht mehr in Frage stellen, für das sie zweieinhalb Jahre gekämpft hatten und für das ihre Kameraden gestorben wa-
408
409 410 411
PETER STALLYBRASS und ALLON WHITE, The Politics and Poetics of Transgression. New York 1986, S. 80; vgl. DENNING, Mr. Bligh, S. 133; vgl. ERNST MANHEIM, Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. (= Kultur und Gesellschaft. Neue historische Forschungen Bd. 4.) Stuttgart 1979 (erstmals 1933), S. 25 f. Siehe für das Ministery for Local Government: GARVIN, 1922, S. 64–92. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 165 f. O’MALLEY, Singing Flame, S. 45f; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 49, vor allem S. 70.
III. Die politische Kultur der irischen Revolution
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ren. Sie hatten „the Republic“ verinnerlicht. Als Mitglieder einer politischen Armee, in der keine effizienten institutionalisierten Disziplinierungsmechanismen existierten, hinderte sie nichts daran, diesem Glauben zu folgen; schon gar nicht der IRA-Chefpropagandist Beaslai, der jetzt in An tOglach Disziplin und Unterordnung unter die politische Führung predigte.412 Was im Unabhängigkeitskrieg die Stärke der IRA ausgemacht hatte, die von Beaslai bisher propagierte Eigeninitiative und der revolutionäre Idealismus, wurden jetzt zum Motor des Bürgerkrieges.413 Nachdem ich durch sozial- und politikgeschichtliche Ansätze die Vertragsspaltung nicht befriedigend erklären konnte, habe ich die politische Kultur der irischen Revolution untersucht. Im Zentrum dieser politischen Kultur stand ein in den Jahren vor 1916 entstandener elitärer republikanischer Nationalismus. Die Revolutionäre von 1916 definierten Irland als spirituelles Land, das sie antithetisch vom materialistisch konzipierten England abgrenzten. Dieses antithetische Weltbild überhöhten sie durch ein siebenhunderfünfzigjähriges Geschichtsgesetz, das in jeder Generation die revolutionäre Elite zu einem Selbstopfer für die Nation verpflichte. Doch die Revolutionäre von 1916 propagierten dieses Konzept nicht nur, sie setzten es in einem blutigen Selbstopfer in die Tat um. Unter dem Eindruck des harten britischen Durchgreifens entwickelte die revolutionäre politische Kultur eine erstaunliche Eigendynamik und erreichte, als „a republic“ oder „self-determination“ verwässert, bald auch eine große Mehrheit der hochpolitisierten irischen Bevölkerung. Parallel dazu blieb das elitäre Konzept von „the Republic“ die zentrale Kernvorstellung, der politische Glaube, der revolutionären Elite. Diese elitäre Lesart der revolutionären Kultur ließ sich nur schwer mit der symbolischen Unterordnung unter die zentrale Fiktion des britischen Feindes „Crown and Empire“ vereinbaren. Während die einen ihre sozialen und vor allem politischen Aufstiegsmöglichkeiten realisierten, hielten die anderen ungebrochen an antithetischem Weltbild, Askesegebot, Selbstopfer und Geschichtsgesetz fest. So spaltete der Vertrag die nationale Bewegung, zerstörte den Konsens darüber, was politisch richtig und falsch, gut und böse war. Trotzdem verliefen die Grenzen und Loyalitäten zwischen beiden Lagern zunächst noch fließend.
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AN TOGLACH, 16. Dezember 1921, S. 1; 30. Dezember 1921, S. 1; 13. Januar 1922, S. 1; 20. Januar 1922, S. 1; 27. Januar 1922, S. 1; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 105 f. So erstaunlicherweise auch selbstkritisch: O’DONOGHUE, No Other Law, S. 196; verkürzt: BOYCE, Nineteenth Century, S. 275; HOPKINSON, Green, S. 43, 272.
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B. Bürgerkrieg: Ursachen und Hintergründe
Gegen den Vertrag entschieden sich diejenigen, die „the Republic“ soweit verinnerlicht hatten, daß sie diesen politischen Glauben nicht mehr relativieren konnten. Das galt insbesondere für revolutionäre Frauen als Hüterinnen der reinen Lehre und für die leicht als antinational verdächtigen Halbiren und anglo-irischen Überläufer. Auch den aktiven Guerilleros erzählte „the Republic“ eine sinnstiftende Geschichte über ihr Handeln, vor allem über das Töten und Sterben. Für den Vertrag entschieden sich diejenigen, denen es gelang, ihr revolutionäres Denken zu modifizieren. Das waren häufig Aktivisten, die im revolutionären Alltag laufend mit konkreten Problemen konfrontiert waren oder die bereits in ihrer Universitätsausbildung gelernt hatten, differenzierter zu denken. Für den überwiegenden Teil der Bevölkerung war die Vertragsspaltung ein Schock. Doch da sich der Treueid auf den britischen König relativ einfach mit dem tendenziell indifferenten Nationalgefühl der Bevölkerung vereinbaren ließ und mit den alltäglichen Problemen der meisten Iren wenig zu tun hatte, unterstützte die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung den Vertrag.
I. Rahmenbedingungen und Organisation von Propaganda
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C. ESKALATION: BIS ZUM AUSBRUCH DES BÜRGERKRIEGES In diesem Kapitel untersuche ich die Zeit zwischen Vertragsspaltung und Ausbruch des Krieges. Zunächst stelle ich die irische Presselandschaft vor und zeige, wie die Propagandisten während des Unabhängigkeitskrieges die öffentliche Meinung beeinflussten. Dann erkläre ich die Organisation der Propagandabehörden von Vertragsbefürwortern und -gegnern und warum die freistaatlichen Propagandisten ihren Gegnern – zumindest organisatorisch – deutlich überlegen waren. Danach wende ich mich den unterschiedlichen Handlungs- und Legitimationsstrategien zu. Ich zeige, wie das dogmatische Festhalten an „the Republic“ schnell die Handlungsmöglichkeiten der Vertragsgegner einengte. Wie versuchten die Republikaner, sich aus dieser Handlungskrise zu befreien – und versuchten sie es überhaupt? Auf der anderen Seite gerieten die Befürworter des Vertrages in eine Legitimationskrise: Als „Kompromißler“ konnten sie nicht mehr ungebrochen auf das republikanische Geschichtsgesetz, die nationale Martyrologie und das britische Feindbild zurückgreifen. Wie gelang es ihnen, sich eine neue, möglichst eine nationale Legitimationsstrategie zu erfinden? Im letzten Teilkapitel zeige ich: Obwohl der Bürgerkrieg vielen Zeitgenossen bald unvermeidlich erschien, war der Weg in die Konfrontation keine Einbahnstraße. Die Aktivisten auf beiden Seiten bemühten sich um eine neue „national unity“, auch wenn sie damit scheiterten.
I. RAHMENBEDINGUNGEN UND ORGANISATION VON PROPAGANDA 1. DIE PRESSE IRLANDS UM 1922 Was die Bevölkerung oder einzelne soziale Gruppen vom Vertrag hielten, läßt sich, wie ich gezeigt habe, nur grob abschätzen. Leichter läßt sich bestimmen, was diejenigen dachten, deren Beruf es war, eine Meinung zu haben und diese zu veröffentlichen: Journalisten, Redakteure und Propagandisten. Zeitungen und Propagandablätter spiegelten nicht einfach „die öffentliche Meinung“ wider. Zwar mußte jedes Blatt Rücksicht auf seine Klientel nehmen, um nicht am Markt vorbei zu produzieren. Genauso versuchte es
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C. Eskalation: Bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges
aber, seine Leser zu beeinflussen und seinen politischen Standpunkt durchzusetzen. Als politische Tendenzpresse schwankten die Blätter daher zwischen der „Reinheit der Lehre“ und den Interessen ihres Publikums. Die Auflagen der Blätter geben dabei einen groben Hinweise darauf, wie groß diese Klientel war, sie sind jedoch nur in wenigen Fällen eindeutig zu ermitteln.1 In den 1920ern erreichten die Dubliner Tages- und Wochenzeitschriften über Lkws und Eisenbahnen alle irischen Grafschaften. Dazu existierte in jeder größeren Ortschaft mindestens eine lokale Provinzzeitschrift. Zeitungen waren längst kein Luxusgut mehr: 1920 kostete eine Zeitung nur noch ein Achtel des Preises von 1850. Seit 1914 hatte sich der durchschnittliche Zeitungspreis trotz Kriegsinflation halbiert. Auch Analphabetismus schloß 1920 nur noch wenige von der Lektüre aus.2 Den Einfluß der Presse sollte man dennoch nicht überschätzen. Wie ich gezeigt habe, gab es im frühen zwanzigsten Jahrhundert effizientere Umschlagsorte von politischer Meinung: die katholische Kirche, deren Priester fast die gesamte katholische Bevölkerung erreichten, die Institutionen des „Local Government“, Pubs und Läden.3 Weniger wichtig als zuvor waren während des Bürgerkrieges die politischen Vereine: Sie wurden im Bürgerkrieg selbst Opfer der Vertragsspaltung, die Gaelic League schrumpfte zusammen, Sinn Fein kollabierte.4 Doch während diese anderen Einflüsse quellentechnisch viel schwerer zu greifen sind, läßt sich über die Argumentation in Presse und Propaganda auch abschätzen, mit welchen Argumenten Pfarrer, Pubbesitzer oder Sinn Fein-Aktivisten die Bevölkerung polarisierten. Auch wenn Presse und Propaganda die politische Meinung nicht monopolisieren konnten, so hatten sie doch fast ein Monopol für politische Informationen. Dieses Informationsmonopol wirkte viel restriktiver, als die Pluralität der irischen Presselandschaft zunächst vortäuscht. Alle Provinzzeitungen bezogen ihre überregionalen Nachrichten aus den drei Dubliner 1
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Noch 1937 war der IRISH INDEPENDENT das einzige Blatt, das unabhängig zertifizierte Auflagezahlen veröffentlichte: STEPHEN J. BROWN, The Press in Ireland. A Survey and a Guide. Dublin 1937, S. 171. LOUIS MICHAEL CULLEN, Eason and Son. A History. Dublin 1989, hier: S. 167 f.; ders., Establishing a Communications System: News, Post and Transport, in: FARRELL (Hrsg.), Communications, S. 18–29, hier: S. 29; FOSTER, Modern Ireland, S. 385: 1851 war noch knapp die Hälfte der irischen Bevölkerung Analphabeten, 1911 nurmehr elf Prozent; LEE, Ireland 1912–1985, S. 76, geht für die zwanziger Jahre von einer an Null grenzenden Analphabetismusrate aus. FITZPATRICK, Politics, S. 86–107. HOPKINSON, Green, S. 57, 100, 131 f.; FITZPATRICK, Politics, S. 164.
I. Rahmenbedingungen und Organisation von Propaganda
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Tageszeitungen, manchmal auch aus der britischen Tagespresse oder dem Cork Examiner. Nur Propagandablätter verfügten über zusätzliche Informationen aus ihrem Lager. Die drei Dubliner Tageszeitungen dominierten damit die irische Presselandschaft: Das Freeman’s Journal, der Irish Independent und die Irish Times waren neben dem Cork Examiner die einzigen modernen Tageszeitungen außerhalb Nordirlands. Sie veröffentlichten jeweils eine Wochenzeitung. Freeman’s Journal und Irish Independent gaben dazu eine tägliches Abendblatt, die Irish Times und das Freeman’s Journal ein wöchentliches Sportblatt heraus.5 Die Dubliner Tageszeitungen hatten ein eigenständiges Korrespondentennetz, Niederlassungen in der Londoner Fleet Street, besaßen eigene Druckereien und Verlage und organisierten zum Teil auch den irlandweiten Handel mit ihren Zeitungen selbst. Sie waren professionelle journalistische Großbetriebe und in Dublin ein wichtiger Arbeitgeber; für den Irish Independent arbeiteten rund 500 Mitarbeiter.6 Der Freeman war 1763 gegründet worden und damit Irlands älteste Zeitung. Spätestens ab 1916 war sie offizielles Sprachrohr der niedergehenden Irish Parliamentary Party gewesen, zu der Patrick J. Hooper, ab August 1916 Chefredakteur des Freeman, enge Kontakte gehabt hatte. Doch seine redaktionelle Politik eines konstitutionellen Nationalismus fand in den folgenden Jahren immer weniger Leser. Nach dem Waffenstillstand stellte sich der Freeman auf die Seite der erfolgreichen Revolutionäre, unterstützte nach der Vertragsspaltung dezidiert die Vertragsbefürworter. Die Auflage der frühen zwanziger Jahre läßt sich, da der Freeman unter der erdrückenden Konkurrenz des Irish Independent die Auflage verheimlichte, nur schätzen, vermutlich weniger als 30 000 Stück pro Tag. Doch durch den damit verbundenen finanziellen Mißerfolg steigerte sich das politische Engagement des Blattes und seines neuen Besitzers, des Weinhändlers Martin FitzGerald nur noch mehr. Hatte er die Übernahme des Blattes im Oktober 1919 zunächst als lukrative Investition betrachtet, hielt er jetzt erst recht an Chefredakteur Patrick J. Hooper, der alten Redaktion und ihrer gemäßigten Politik fest – bis das Blatt Ende 1924 endgültig bankrott ging.7
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Das FREEMAN’S JOURNAL den EVENING TELEGRAPH, den WEEKLY FREEMAN AND NATIONALIST PRESS und SPORT; Der IRISH INDEPENDENT den EVENING HERALD, den SUNDAY INDEPENDENT und den WEEKLY INDEPENDENT; die IRISH TIMES die WEEKLY IRISH TIMES und IRISH FIELD. The NEWSPAPER PRESS DIRECTORY AND ADVERTISERS GUIDE. London 1921, S. 203, 210 f.; NEWSPAPER PRESS DIRECTORY, 1922, S. 205, 547, 581; NEWSPAPER PRESS DIRECTORY, 1923, S. 205, 549, 582; IRISH INDEPENDENT, 22. Dezember 1919, S. 2. FELIX M. LARKAN, Editorial Comment in the Freeman’s Journal 1916–1918, (Master The-
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C. Eskalation: Bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges
Seit 1859 war die Irish Times aus nationalistischer Sicht „the organ of the alien garrison“8, also Stimme der irischen Protestanten außerhalb Ulsters gewesen. 1922 wurde sie zum Sprachrohr der Unionisten, die sich mit dem Vertrag abgefunden hatten. Entsprechend deutete die Irish Times den Vertrag als Integration Irlands in das Commonwealth und als Ende eines Bürgerkrieges.9 Als Zeitung einer Minderheit war die Auflage der Irish Times deutlich kleiner als die des nationalistischen Massenblattes Irish Independent, vermutlich um die 30 000 pro Tag.10 Der 1905 von Dublins „premier capitalist“11 William Martin Murphy gegründete Irish Independent war die jüngste und modernste der drei Dubliner Tageszeitungen. Seine redaktionelle Politik orientierte sich nicht primär an politischen Überzeugungen, sondern an der Auflage. Obwohl der Irish Independent nationalistisch ausgerichtet war, legte er sich auf keine Parteilinie fest. Im Unabhängigkeitskrieg lavierte er zwischen konstitutionellem und radikalem Nationalismus, verfolgte eine Politik, die zwischen den Zeilen Sympathie für Sinn Fein spüren ließ, aber keine drastischen Maßnahmen der britischen Verwaltung provozierte. Auch der Irish Independent unterstützte den Vertrag, machte sich aber, anders als der Freeman, nicht zum inoffiziellen Regierungsblatt. Er folgte in seinen Leitartikeln einer ausgesprochenen Stammtischlogik, argumentierte in einem populistischen, mitunter auch regierungskritischen Ton.12 Der Irish Independent traf damit den Nerv einer großen Leserschaft, seine Auflage lag kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges bei knapp 130 000 Stück pro Tag, dazu kamen noch einmal gut 65 000 Exemplare für das Abendblatt Evening Herald.13 Außerhalb Dublins erschien in den sechsundzwanzig südirischen Grafschaften nur eine Tageszeitung: der 1841 gegründete Cork Examiner. Mit einer Auflage von schätzungsweise 30 000–50 000 war er die in Munster am
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sis). Dublin 1972, S. 92–104; ebd., S. 115 f. Larkan hat für Juni 1918 40 000 Stück ermittelt. Während der Revolution verlor der FREEMAN jedoch einen Teil seiner Klientel, während die Auflage des IRISH INDEPENDENT um 20 000 Stück stieg. CATHOLIC BULLETIN, Februar 1922, S. 68. GERALDINE NEWCOMEN, Reactions of Southern Irish Unionists to the Birth of the Irish Free State, 1922–23. Dublin (Thesis, University College Dublin [UCD]) 1983, S. 1–4. Vgl. LARKAN, Freeman’s Journal, S. 116 f. So: FOSTER, Modern Ireland, S. 442 f. IRISH INDEPENDENT, 14. Januar 1922, S. 5; DONAL MCCARTNEY, William Martin Murphy: An Irish Pressbaron and the Rise of the Popular Press, in: FARRELL (Hrsg.), Communications, S. 30–8, hier: S. 33 f. IRISH INDEPENDENT, 28. Februar 1923, S. 4 (zertifiziert von der unabhängigen Agentur „Craig Gardener & Co.“); NEWSPAPER PRESS DIRECTORY, 1923, S. 220: für 1922 trotz Bürgerkrieg durchschnittlich über 130 000.
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weitesten verbreitete Zeitung. Auch der Cork Examiner unterstützte den Vertrag.14 Neben dieser Tagespresse, die in ganz Irland zirkulierte, gab es in jedem größeren Ort mindestens eine Provinzzeitung. Diese Blätter erschienen ein- bis dreimal pro Woche, waren häufig Einmann-Unternehmen,15 aber auch professionelle Kleinbetriebe.16 Die Provinzpresse repräsentierte ein breiteres Meinungsspektrum: Es gab einige unionistische Blätter, wie Skibbereen Eagle, Limerick Chronicle oder Cork Constitution. Daneben existierten viele Blätter, die nach wie vor einen gemäßigten Nationalismus vertraten, etwa Drogheda Independent, Galway Observer, Dundalk Democrat oder Roscommon Messenger. Die meisten Blätter radikalisierten sich während des Unabhängigkeitskrieges. Ihre Sympathien für Sinn Fein, zum Teil auch für die IRA, ließen sich zwischen den Zeilen herauslesen, wenn man die offizielle Sprachregelung kannte. Bereits im August 1919 registrierte die britische Verwaltung 45 Provinzblätter mit Sinn Fein-Sympathien gegenüber 59 Blättern, die noch zu Home Rule standen. Viele Zeitungen testeten während des Unabhängigkeitskrieges, wie weit sie gehen konnten, und kamen dabei häufig mit der britischen Verwaltung in Konflikt.17 Im ganzen gesehen war die Provinzpresse nationalistischer als die Dubliner und Corker Tagespresse und repräsentierte so auch den diffusen Republikanismus der Bevölkerung besser. Im Dezember 1921 begrüßten auch alle irischen Provinzblätter den Vertrag. Einzige Ausnahme war der radikal nationalistische Connaughtman in Sligo. Doch nach der Vertragsspaltung äußerten viele Zeitungen Skepsis und Widerwillen. Zahlreiche Blätter waren bereit, für „national unity“ den Vertrag aufs Spiel zu setzen.18 Einige nahmen langsam eine neutrale Haltung an.19 Der Donegal Vindicator war jedoch das einzige Blatt, das offen ins vertragsablehnende Lager überlief. Neben der Tages- und Provinzpresse erschienen in Irland eine Reihe politischer Wochenzeitungen und Zeitschriften. Diese Blätter hatten meist kleine Auflagen, aber eine oft sehr spannende politische Programmatik. Relativ weit verbreitet war das vom prominenten Labour-Politiker Cathal Shannon herausgegebene offizielle Organ der ITGWU, die Voice of La-
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CORK EXAMINER, 23. März 1922, S. 4. Z. B.: DONEGAL VINDICATOR, KERRY PEOPLE. Z. B.: NATIONALIST, WATERFORD NEWS, SLIGO CHAMPION, LIMERICK LEADER. FITZPATRICK, Politics, S. 90 f., 118–23. Z. B.: KERRY PEOPLE, MUNSTER NEWS, LIMERICK LEADER, WESTERN PEOPLE, WEXFORD PEOPLE. CLARE CHAMPION, WATERFORD NEWS, MAYO NEWS.
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bour,20 sowie die Zeitschrift der Gaelic League Fine an Lae.21 Eine noch kleinere Reichweite hatte das Catholic Bulletin. Es war eine gleichermaßen nationalistische wie religiöse monatliche Zeitschrift, die der vertragsablehnende Abgeordnete J.J. O’Kelly und ab Ende 1922 Father Timothy Corcoran herausgab. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums veröffentlichte der protestantische Intellektuelle George Russle seit 1904 die Irish Homestead. Als dieser im September 1923 das Geld ausging, gründete er mit Hilfe amerikanischer Spender den Irish Statesman.22 Zusätzlich zu Tageszeitungen, Provinzpresse und politischen Zeitschriften konnte man in den sechsundzwanzig Grafschaften auch alle nordirischen und britischen Zeitungen und Zeitschriften kaufen. Intransigente Unionisten, die den Vertrag nicht als Chance, sondern als Verrat werteten, fanden sich in der kompromißlosen Morning Post bestätigt. Die liberale Daily Mail war mit schätzungsweise 40 000–50 000 täglichen Exemplaren die in Irland am weitesten verbreitete britische Zeitung und auch bei Nationalisten beliebt: Sie hatte im Unabhängigkeitskrieg die britische Konfrontationspolitik kritisiert und der revolutionären Bewegung Publicity gegeben, ohne dabei der britischen Pressekontrolle in Irland zu unterliegen.23 Neben anderen Tageszeitungen wie der London Times oder dem Daily Telegraph überschwemmte eine Vielzahl unpolitischer Zeitschriften den irischen Markt: Allein zwanzig Sportzeitschriften und Rennmagazine, dazu Abenteuerheftchen für Jungen, Mädchenhefte, Hausfrauenmagazine, Klatschzeitungen, Fachzeitschriften. Bei diesen unpolitischen Titeln dominierten britische Importe den Markt.24 In dieser vielfältigen Presselandschaft machten die von Sinn Fein-Propagandisten während des Unabhängigkeitskrieges hergestellten Untergrundblätter nur einen kleinen Bruchteil aus.
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GLANDONE, Advanced Nationalist Press, S. 211, meint die VOICE oF LABOUR sei 1919 Irlands zweitgrößte Wochenzeitung gewesen. Vgl. dagegen die Selbsteinschätzung der VOICE OF LABOUR, 21. Juli 1922, S. 1, während des Bürgerkrieges: „Only a small proportion of the OBU [One Big Union, gemeint hier ITGWU] read it.“ Vgl. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 127. Fine an Lae: mythische keltische Kriegerhorde um Fionn Mac Cumhaill. IRISH HOMESTEAD, 14. Oktober 1922, S. 605; vgl. O’CALLAGHAN, Language, S. 237–40. STEPHEN BROWN, Press, S. 174 nennt für 1936 eine (vermutlich zu hoch angesetzte) Auflagenzahl von 70 000–100 000. NLI, BP, box 28a, Heft mit Auflistung der aufgehaltenen britischen Zeitungen (Zensurliste), 5. Juli 1922, 6. Juli 1922; NLI, BP, box 6, H.E. Gray an Beaslai, 7. Juli 1922.
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2. DAS PROPAGANDA DEPARTMENT IM UNABHÄNGIGKEITSKRIEG Die IRA terrorisierte im Unabhängigkeitskrieg die Krontruppen, während die Untergrundorganisation Dail Eireanns die britische Verwaltung unterhöhlte. Damit konnte die revolutionäre Bewegung die britische Herrschaft in Irland erschweren, aber nicht beseitigen. Gefährlich wurden Guerillakrieg und republikanische Untergrundverwaltung für die britische Regierung erst, wenn von ihnen erzählt wurde. Der Tod Kevin Barrys, Thomas MacCurtains und Terence MacSwineys, die Guerillaerfolge von Cross Barry und Kilmichael, das Massaker vom Croke Park, auch die Dekrete Dail Eireanns: als isolierte Ereignisse waren sie alles andere als kriegsentscheidend. Erst als Geschichte delegitimierten sie die britische Herrschaft, emotionalisierten und radikalisierten sie eine breite Öffentlichkeit in Inund Ausland. Erst so wurden aus den Toten Märtyrer, aus den Guerilleros Freiheitshelden, aus einflußlosen Untergrundpolitikern eine republikanische Regierung. Geschichten wurden damit der Schlüssel zum Erfolg der Revolution. Über den Guerillakrieg und Dail Eireanns Politik Geschichten zu erzählen, war die Aufgabe der republikanischen Propagandabehörden. In Irland selbst war Propaganda schwer zu verbreiten: Die Propagandablätter wie Griffiths Young Ireland oder Nationality hatten eine kleine Auflage und wurden von der britischen Behörden verfolgt oder unterdrückt. Die britische Pressekontrolle machte es den Zeitungen unmöglich, republikanische Gegendarstellungen zu veröffentlichen. Die republikanischen Pressemitteilungen konnten aber immerhin die Redakteure mit Informationen versorgen, die das Vertrauen in die offizielle britische Version der Ereignisse untergruben. Die republikanische Propaganda richtete sich vorwiegend an das Ausland, vor allem an die USA, aber auch an Großbritannien, das europäische Ausland und an die übrigen Staaten des Empire. Ihr gelang es dabei sehr effizient, der britischen Version der „armed revolt“ die republikanische Version eines nationalen Freiheitskampfes gegenüberzustellen. In Amerika mobilisierten die Propagandisten die große Volksgruppe der irischstämmigen Amerikaner, um Druck auf die amerikanische Regierung auszuüben. Dabei verließ sich die revolutionäre Bewegung nicht allein auf Pamphlete und Propagandablätter. Die Amerikapropaganda war ihnen so wichtig, daß prominente Republikaner persönlich auf Propagandatour durch Amerika gingen, darunter Präsident de Valera, Mary MacSwiney und Harry Boland. So demontierte republikanische Propaganda das internationale Ansehen der
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britischen Regierung und setzte sie damit unter Druck, mit den Revolutionären zu verhandeln.25 Propaganda war im Unabhängigkeitskrieg die Aufgabe, die Dail Eireann am effizientesten improvisierte. Da Titel und Bezeichnungen häufig wechselten und keine klare Verwaltungsstruktur existierte, hing vieles von den Personen ab, die die Propaganda organisierten. Am wichtigsten waren die schon oben vorgestellten Propagandisten FitzGerald und Beaslai, sowie Robert Brennan, Erskine Childers und Frank Gallagher. Da war zunächst Robert Brennan. 1881 in Wexford geboren, begann er gleich, nachdem er die örtliche Schule besucht hatte, als Journalist zu arbeiten. 1913 trat er den Irish Volunteers bei und nahm 1916 am Osteraufstand teil. Brennan wurde wie so viele Aktivisten zum Tode verurteilt, dann jedoch begnadigt und bald entlassen. Ab April 1918 leitete er das Sinn Fein Propaganda Department und koordinierte den Wahlkampf Sinn Feins. Im Unabhängigkeitskrieg war er einer der fähigsten Propagandisten. Er versorgte hauptsächlich ausländische Journalisten mit republikanisch selektierten Informationen. Brennan verbreitete Daten, Statistiken und Fakten, die republikanische Schlußfolgerungen nahelegten. Die Schlußfolgerungen selbst verbreitete er nicht. Nach dem Bürgerkrieg arbeitete er als Journalist für das Enniscorthy Echo, bis er 1931 Manager der neu gegründeten republikanischen Irish Press wurde. 1938 bis 1947 war er Diplomat in den USA. Danach leitete er ein Jahr den irischen Rundfunk, Radio Eireann. 1964 starb Brennan in Dublin.26 Neben der Parteipropaganda Sinn Feins gab es ab 1919 ein Ministerium für Publicity, das eng mit Brennans Behörde kooperierte und sich hauptsächlich auf Auslandspropaganda spezialisierte. FitzGerald, den ich oben als nachdenklichen Kritiker seines jugendlichen Idealismus vorgestellt habe, leitete diese Behörde. Auch er versorgte die Presse mit selektiven Informationen, organisierte geheime Treffen zwischen den Führern der revolutionären Bewegung und ausländischen Journalisten, bis ihn die Krontruppen im Februar 1921 verhafteten. Das Herzstück der republikanischen Propaganda war das Irish Bulletin, das Frank Gallagher herausgab und für das er auch selbst die meisten Beiträge schrieb. Der 1898 in Cork geborene Gallagher begann wie Brennan 25
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MCCRACKEN, Representative Government, S. 24, 37 f.; RICHARD DAVIS, Griffith, S. 30 f.; ALAN WARD, Anglo-American Relations, S. 216–36; MCCARTNEY, Mission, S. 311–9; LYONS, Three Essays, S. 252; ders., War of Independence, S. 249 f.; KEOGH, Ireland and Europe, S. 5–9. Zusammengefaßt nach: BOYLAN, Dictionary, S. 32; Zu Brennan siehe auch seine bis Mitte 1922 führende Autobiographie, Allegiance, passim.
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nach der Schule eine Karriere als Journalist, arbeitete zunächst bei der Cork Free Press. Gallaghers Irish Bulletin war während des Unabhängigkeitskrieges ein durchschlagender Erfolg. Das Irish Bulletin war keine aus dem Untergrund heraus verkaufte Zeitung, sondern die offizielle tägliche Pressemitteilung der revolutionären Untergrundregierung. Obwohl die Krontruppen das Irish Bulletin verfolgten, Mitarbeiter verhafteten und einmal sogar die Druckanlagen beschlagnahmten, erschien es lückenlos bis Ende 1921. Es versorgte in- und ausländische Zeitungen mit Berichten über britische „acts of aggression“,27 später auch über die offizielle Politik Dail Eireanns. Das Irish Bulletin war in einem bewußt nüchternem Ton geschrieben, stützte sich für Berichte zu britischen Übergriffen ausschließlich auf die britisch zensierte Tagespresse und genoß deshalb eine hohe Glaubwürdigkeit.28 Auch nach dem Bürgerkrieg arbeitete Gallagher weiter als Propagandist für die republikanische Seite, wurde 1931 erster Chefredakteur der republikanischen Tageszeitung Irish Press. 1939 bis 1948 und 1951 bis 1954 leitete Gallagher das Government Information Bureau. Er starb 1962 in Dublin.29 Die Propaganda der IRA organisierte Beaslai, jener euphorische Beobachter der „national unity“ von 1921. Damit übernahm er eine Schlüsselstelle im Dubliner Hauptquartier. Seine Aufgabe war es, über seine Armeezeitung An tOglach die inhomogene IRA als einheitliche Armee darzustellen: nach außen, um aus den dezentral organisierten „gunmen“ eine legitime staatliche Armee zu machen, nach innen, um der IRA eine gemeinsame offizielle Identität zu verleihen und um neuen Mitgliedern der IRA den Glauben von „the Republic“ zu vermitteln. Das heißt nicht, daß Beaslai die Strategie oder Politik der IRA auch prägte. Im Gegenteil: Als Chefpropagandist der IRA integrierte Beaslai im nachhinein militärische Initiativen der radikalen IRA in der Provinz in das revolutionäre Programm und verschleierte so die Brüche zwischen aktiven und inaktiven Gebieten.30 Diese Propagandaprofis des Unabhängigkeitskrieges waren auch im Bürgerkrieg die entscheidenden Propagandisten: Beaslai und FitzGerald auf der vertragsbefürwortenden Seite, Erskine Childers, Brennan und Gallagher bei den Vertragsgegnern.
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Exemplarisch: IRISH BULLETIN, 12. Juli 1919, S. 1. MCCRACKEN, Representative Government, S. 37 f.; KEOGH, Ireland and Europe, S. 5–7. Zusammengefaßt nach: BOYLAN, Dictionary, S. 125. AN TOGLACH, 15. August 1918, S. 1 f.; HOPKINSON, Green, S. 12.
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3. DIE ORGANISATION DER PROPAGANDA ANFANG 1922 Fast alle Propagandablätter Sinn Feins hatten bis Ende 1921 aufgehört zu erscheinen. Während der Friedensverhandlungen mit England war die bisher wichtigste Aufgabe der republikanischen Publicity so gut wie überflüssig: Sie mußte und konnte kaum mehr über britische Übergriffe berichten. Da alle Blätter bis auf die unionistische Presse sich hinter Sinn Fein stellten, schien nationale Propaganda auch nicht mehr so wichtig. Unter dem Schock der sich abzeichnenden Vertragsspaltung stellte schließlich auch noch das Irish Bulletin Mitte Dezember sein Erscheinen ein, um das Ende von „national unity“ nicht noch weiter zu thematisieren. So waren Ende 1921 New Ireland und An tOglach die einzigen ehemaligen Untergrundblätter auf dem Markt.31 Das hieß: Nach der Vertragsspaltung mußten beide Seiten ihre Propaganda weitgehend neu organisieren. Um die Mehrheit der Bevölkerung von ihrer Version zu überzeugen, mußten beide Seiten ihre Propaganda auch verbreiten können. Die organisatorischen Möglichkeiten entschieden mit über Erfolg und Mißerfolg der Propaganda. Die vertragsablehnenden Propagandisten waren den Vertragsbefürwortern von Anfang an hoffnungslos unterlegen. Gegen das erdrückende Übergewicht der vertragsbefürwortenden Leitartikel in Tages- und Provinzpresse waren sie machtlos.32 Abgesehen von meist kritischen Interviews und suggestiv verkürzten Reden, bekamen die Republikaner im redaktionellen Teil der Zeitungen wenig Publicity. Allein die Stellungnahmen, Reden und Interviews mit de Valera erschienen nach wie vor fast lückenlos in der Dubliner Presse. Weniger prominenten Republikanern und der offiziellen Propaganda blieben Leserbriefe, oder sie mußten Anzeigen schalten, und das war für die finanzschwachen Republikaner auf Dauer zu teuer.33 Ungehindert konnten die Republikaner ihre Thesen nur in Pamphleten, Flugblättern, auf Plakaten und vor allem in der am 3. Januar 1922 gegründe31
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National Archive of Ireland, Dail Eireann Correspondence, (NAI, DE Correspondence), DE 2/10, Report on Publicity Department, ca. Februar 1922; KEIKO INNOUE, Propaganda of Dail Eireann: From Truce to Treaty, in: Eire/Ireland, XXXII, 2 & 3, (1997), S. 154–72, hier: S. 160 f., 172 f.; Seit dem 22. Oktober 1921 erschienen wieder die sozialistische vertragsbefürwortende VOICE OF LABOUR und seit 18. Oktober 1921 die kommunistische vertragsablehnende WORKER’S REPUBLIC. So auch: GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 97; NEESON, Civil War, S. 73, 86; falsch: GLANDONE, Advanced Nationalist Press, S. 224. FLK, DeV, 250, registriert für die Zeit zwischen Januar und Juni 1922 74 Interviews, Reden oder Statements von de Valera, die in der Provinzpresse, vor allem aber in den Dubliner Tageszeitungen erschienen; AN POBLACHT, 28. Februar 1922, S. 7; LONGFORD und O’NEILL, De Valera, S. 168; IRISH INDEPENDENT, 8. März 1922, S. 6; exemplarisch für eine Anzeige: EVENING HERALD, 8. April 1922, S. 3.
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ten wöchentlich erscheinenden An Poblacht34 veröffentlichen. Sie war das wichtigste Medium der republikanischen Propaganda vor und während des Bürgerkrieges. Das „commitee of direction“ der Poblacht liest sich wie ein „who’s who“ des politischen Flügels der Vertragsgegner. Bis auf den „assistant editor“ der Poblacht, den ehemaligen Herausgeber des Irish Bulletins, Gallagher, waren sie alle bekannte Mitglieder des revolutionären Parlaments: Mary MacSwiney, Constanze de Markievicz, J.J. O’Kelly, Austin Stack, Sean Etchingham, Joseph McDonagh, Kathleen O’Callaghan, Sean T.O’Kelly, Sinn Feins ehemaliger Propagandachef Brennan, daneben auch prominente Militärs wie Cathal Brugha und Liam Mellows. Auch de Valera besuchte die wichtigeren Treffen der Poblacht-Spitze. Chefredakteur der Poblacht war Erskine Childers, die wichtigste Schlüsselfigur der vertragsablehnenden Propaganda: Fahrtensegler, Abenteurer, britischer Geheimdienstoffizier, Schriftsteller, Waffenschmuggler, zunächst Imperialist, dann Aktivist der Home Rule-Bewegung und schließlich republikanischer Märtyrer.35 Childers Biographie ist voller Brüche und so ungewöhnlich wie die keines zweiten irischen Revolutionärs. 1870 in London als zweiter Sohn eines englischen Vaters und einer protestantischen anglo-irischen Mutter geboren, wuchs er nach dem frühen Tod seiner Eltern in Glendalough, in der Grafschaft Wicklow, auf. Er machte zunächst die für einen Sprößling der administrativen Elite Englands typische Karriere. 1893 schloß er sein Jurastudium im Trinity College Cambridge ab, arbeitete zwischen 1895 und 1910 als Clerk des britischen Unterhauses. Zu dieser Zeit überzeugter Imperialist, meldete er sich 1899 freiwillig für den Burenkrieg. Er veröffentlichte mehrere Bücher. Sein Bestseller The Riddle of the Sands – eine antideutsche Spionagegeschichte – machte ihn 1903 zu einem landesweit bekannten Schriftsteller. Beeinflußt von Sir Horace Plunkett, wurde er 1908 zum Anhänger der Home Rule-Bewegung, widmete sich ab 1910 ganz der irischen Politik. 1914 organisierte Childers den größten Waffenschmuggel der Irish Volunteers, das spektakuläre Howth gun running. Die Waffen transportierte er auf seiner Privatyacht aus Deutschland nach Irland. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete er als Geheimdienstoffizier, wurde mit dem „Distin34 35
An Poblacht na hEireann: Die irische Republik, The Irish Republic. Trinity College Dublin, Frank Gallagher Papers (TCD, GP), 10050/491, „Republic of Ireland“, Committee of Direction; TCD, GP, 10050/493, report on meeting, 14. März 1922; TCD, GP, 10050/491, Minutes of meeting, 11. Januar 1922; TCD, GP, 10050/492, Minutes of meeting, 14. März 1922; TCD, CP, 7815, Childers Diary, 9. Februar 1922 - 13. Februar 1922.
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guished Service Cross“ ausgezeichnet und bis zum Major befördert. Als auch nach dem Krieg Home Rule weiter verzögert wurde, schloß er sich der republikanischen Bewegung an. Während des Unabhängigkeitskrieges unterhielt Childers Kontakte zur internationalen Presse, ab März 1921 vertrat er den verhafteten Publicityminister FitzGerald. Als Richter am District Court für Pembroke und Rathmines war Childers Teil der republikanischen Untergrundjustiz. Er war Sekretär der irischen Delegation während der Vertragsverhandlungen, von Anfang an aber gegen einen Kompromiß mit England. Nach der Vertragsspaltung wurde er wegen seiner teil-englischen Abstammung und imperialistischen Vergangenheit zu dem Feindbild der vertragsbefürwortenden Seite. Während des Bürgerkrieges organisierte Childers republikanische Propaganda in Munster, bis er verhaftet und am 24. November 1922 in Dublin hingerichtet wurde.36 Neben Childers schrieben alle namhaften republikanischen Propagandisten für die Poblacht, darunter Brennan, Gallagher und Mary MacSwiney. Doch trotz dieses qualifizierten Personals konnte die Poblacht mit der Dubliner Tagespresse nicht konkurrieren. Die Poblacht litt an chronischem Geldmangel. Ein Korrespondentennetz zu finanzieren, war völlig unmöglich: Doch ohne Neuigkeiten konnte sich das Blatt nicht zu einer republikanischen Tageszeitung entwickeln. Dazu kamen organisatorische Probleme: Im Februar boykottierten alle größeren Dubliner Druckereien das Blatt. Als Childers nach drei Tagen dann doch noch einen Drucker fand, fehlte ein effizientes Verteilungssystem; die Poblacht blieb in Bündeln beim Drucker liegen.37 Auf die finanziellen und organisatorischen Probleme stellte sich Childers und seine Redaktion schnell ein. Schlimmer war für sie, daß es kein funktionierendes Propagandadepartment mehr gab. Die erfahrenen Propagandisten der Poblacht konnten so die republikanische Propaganda weder organisatorisch, noch inhaltlich steuern und so keine einheitliche Propagandastrategie durchsetzen. Andere republikanische Propagandisten machten in eigenen Blättern ihre eigene Publicity, orientierten sich dabei an ihrem Ver-
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Zusammengefaßt nach: DNB, 1922–1930, S. 180–2; FLK, DeV, 207, Lebenslauf von Erskine Childers durch Mary A. Childers, ca. 18. November 1922; KOTSONOURIS, Retreat, S. 48. Zu Childers gibt es mittlerweile drei weitgehend narrativ angelegte Biographien: BURKE WILKINSON, The Zeal of the Convert. The Life of Erskine Childers. Washington 1978; ANDREW BOYLE, The Riddle of Erskine Childers. A Biography. London 1977; JIM RING, Erskine Childers. London 1996. TCD, GP, 10050/492, report on meeting, 14. März 1922; TCD, CP, 7815, Childers Diary, 9. Februar 1922–13. Februar 1922: Bemerkungen zur Herausgabe von AN POBLACHT; Optimistischer: TCD, CP, 7808/298, financial statement, 3. März 1922.
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ständnis von „the Republic“, nicht an der Redaktion der Poblacht. Allein in Dublin erschienen vier weitere Blätter mit republikanischer Tendenz, auf die die Propagandaprofis der Poblacht nur wenig Einfluß hatten. J. J. O’Kellys Catholic Bulletin war schon vor 1916 das Sprachrohr eines anti-britischen katholischen Kulturnationalismus gewesen und enthielt Artikel in englischer und irischer Sprache. Es argumentierte dabei auf sehr hohem und abstraktem Niveau, setzte sich detailliert mit allen juristischen Teilaspekten des Vertrages auseinander. Das Catholic Bulletin verfolgte auch nach der Vertragsspaltung eine konsequent anti-britische Rhetorik, häufig in seitenlangen historischen Exkursen. O’Kellys Credo: Nur durch irische Uneinigkeit sei es England gelungen, Irland jahrhundertelang zu unterdrücken. O’Kelly mußte es wissen: Vor 1916 war er neben Cathal Brugha und Beaslai innerhalb der Gaelic League ein einflußreicher und besonders obstruktiver Intimfeind von Pearse, dem späteren Führer der Neunzehnsechzehner, gewesen.38 Obwohl das Catholic Bulletin betont wohlwollend mit den führenden Vertragsbefürwortern umging und einen Krieg ehemaliger Kameraden ablehnte, unterstütze es den politischen Flügel der Republikaner. Vor allem de Valera würdigte es als „colossus of his time“.39 Erst nach 1926 wandte sich das Blatt gegen de Valera, wurde Stimme eines kompromißlosen dogmatischen Republikanismus.40 Patrick Little, der Herausgeber der Wochenzeitschrift New Ireland, war in der Vertragsfrage lange unentschieden gewesen. Schließlich unterstütze er de Valera, doch auch er gemäßigter als die Poblacht. New Ireland propagierte wie das Catholic Bulletin „national unity“.41 New Ireland und Catholic Bulletin waren in zurückhaltend reflektierendem Stil geschrieben. Sie entsprachen zwar nicht ganz der Linie der Poblacht, machten dafür den Republikanismus einer gemäßigten und intellektuelleren Leserschaft zugänglich. J.J. O’Kelly war selbst Mitglied des „committee of direction“ der Poblacht, und auch Patrick Little kooperierte mit der Poblacht-Redaktion, verstand sich als Presseagent de Valeras. Damit konnten die offiziellen Propagandisten leben.42
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RUTH EDWARDS, Triumph, S. 88; vgl. ebd., S. 85, 87. CATHOLIC BULLETIN, März 1922, S. 129. BRIAN P. MURPHY, J. J. O’Kelly (‚Sceilg‘) and the Catholic Bulletin: Cultural Considerations, Gaelic, Religious and National, c. 1898–1926, (Ph.D., UCD). Dublin 1987, S. 420, 423; TERENCE BROWN, Ireland, S. 71 f. NEW IRELAND, 22 April .1922, S. 307–13: „Dev’s position made clear“. TCD, GP, 10050/491, „Republic of Ireland“, Committee of direction; TCD, GP, 10050/492, report on meeting, 14. März 1922; University College Dublin, Patrick Little Papers (UCD, LP), P28/2, Patrick Littles Notizbuch.
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Unangenehm waren für Childers dagegen die Sympathieerklärungen und wohlwollenden Ratschläge der republikanisch-kommunistischen Worker’s Republic,43 noch unangenehmer die radikalen Polemiken des Wochenblattes The Plain People. Anders als die zurückhaltend formulierende Poblacht argumentierte The Plain People in einer stark religiös gefärbten Metaphorik und in einem aggressiven und beleidigenden Tonfall – was die Redakteure offenbar für den Ton der „einfachen Leute“ hielten.44 Das Blatt verstand sich als sozialistisch, obwohl es fast ausschließlich die antimaterielle Republic predigte.45 Es erkannte die Führungsrolle de Valeras nicht an und beleidigte jeden persönlich, den sie verdächtigte, Kompromisse einzugehen.46 Auch ihre radikale Position zu den Katholikenverfolgungen in Nordirland mußte gemäßigte Republikaner irritieren. Die Plain People unterstützte – völlig konträr zur offiziellen Linie der Poblacht - Rachemorde an südirischen Protestanten.47 Doch wie sollten Childers und de Valera Einfluß auf die Plain People nehmen, wenn sie bis Mitte Mai 1922 nicht einmal wußten, wer das Blatt herausgab?48 Auch auf die Propaganda außerhalb Dublins hatten Childers und seine Redaktion keinen Einfluß. Die örtliche vertragsablehnende IRA ernannte hier häufig einen „O/C Publicity“,49 der mit mehr oder meist mit weniger Talent die Presse mit den offiziellen Berichten der IRA versorgte. Die unprofessionellen, übertriebenen und häufig übermäßig polemischen Artikel demontierten die Glaubwürdigkeit der republikanischen Propaganda. Um das zu illustrieren, brauche ich einen Zeugen: den unionistischen Journalisten W.H. Bretherton. Bretherton verkörperte in einer Person die innere Zerrissenheit des südirischen Unionismus; denn er führte ein politisches Doppelleben: Als Journalist der Irish Times folgte er deren Politik eines gemäßigten und konstruktiven Unionismus, während er sich als Irlandkommentator der unionistischen Morning Post als polemischer Zyniker erwies. Dabei entwickelte er häufig geradezu paranoide antibritische Verschwörungsszenarien,50 viel43 44
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WORKER’S REPUBLIC, 24. Dezember 1921, S. 5. Explizit in: PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2. Vergleiche dagegen den zurückhaltenden und reflektierenden Stil der AN POBLACHT, exemplarisch: 17. Januar 1922, S. 1, Artikel von Gallagher zu den Ausfällen von Arthur Griffith gegen Childers. PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2. PLAIN PEOPLE, 7. Mai 1922, S. 2. PLAIN PEOPLE, 28. Mai 1922, S. 2; AN POBLACHT, 4. Mai 1922, S. 4. FLK, DeV, 239a, Lynch an de Valera, 9. Mai 1922; de Valera an Lynch, 12. Mai 1922. O/C: Officer Commanding. NAI, D/T, S-4386, Memo MORNING POST, 11. Juni 1923; vgl. NAI, D/T, S-1322, Telegramm Brethertons an die MORNING POST, ca. Mai 1922.
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leicht auch, weil es ein beliebter „practical joke“ unter nationalistischen Iren war, britische Journalisten mit abenteuerlichen Geschichten zu desinformieren.51 Hatte Bretherton eine Identitätskrise, oder hatte er bei der Irish Times nur eine zweite Verdienstmöglichkeit gefunden? Welcher der „echte“ Bretherton war, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Doch waren seine Kommentare über die „unzivilisierten“, „denkunfähigen“ „Southern Irish Bosthoon[s]“52 von einer solchen Gehässigkeit, daß man sich leicht vorstellen kann, welche Wut und Freude Bretherton beim Schreiben gehabt haben muß. Bretherton kommentierte für die Morning Post auch den Propagandakrieg zwischen Vertragsbefürwortern und -gegnern und beobachtete, wie unprofessionell übertriebene, lokal organisierte Publicity die Glaubwürdigkeit der Republikaner demontierte: Both sides continue to court a maximum of publicity, but while the Free Staters have abandoned the imaginative flights that were their chief ornament of the Dail Eireann Propaganda Bureau for an almost departmental austerity, the Republicans are giving rein to fancy with an unfettered license that even the Hun would have envied. For example referring to the shooting of Commandant Hurley by Republicans at Galway, the Republican O/C Publicity explains that Hurley began shooting and continued – a scuffle ensued and before Hurley was disarmed he fired five more shots, some of which must have entered his own body. This is publicity de luxe. Lenin and Trotsky have never produced anything like it. By comparison the efforts of Childers recede into the halfpenny place.53
Selbst Bretherton, der immer die mißgünstigste Deutung bevorzugte, mußte zugeben, daß die freistaatliche Propaganda zurückhaltend formuliert war. Das lag vor allem daran, daß bei den Vertragsbefürwortern ein routinierter Propagandaprofi die Organisation und den Inhalt der zivilen Propaganda zentral kontrollierte: FitzGerald. Er übernahm das funktionierende Publicity Department des revolutionären Dail Eireanns, aus dem er schnell alle vertragsablehnenden Mitarbeiter entließ.54 Durch das Neben- und Durcheinander von Behörden der revolutionären Republik und denen des zukünftigen Freistaats gab es auch bei der Propa51 52 53 54
LANKFORD, Hope, S. 228; MEMORY, Memory’s, S. 135. NAI, D/T, S-4386, Memo MORNING POST, 11. Juni 1923; vgl. NAI, D/T, S-1322, Telegramm Brethertons an MORNING POST, 21. März 1922. NAI, D/T, S-1322, Telegramm Bretherton an MORNING POST, 5. April 1922. NAI, DE Correspondence, DE 2/10, Report on Publicity, ca. Februar 1922; National Archive of Ireland, Dail Eireann Minutes (NAI, DE Minutes), DE 1/4, 11. Januar 1922; National Archive of Ireland, Department of Foreign Affairs, Provisional Government and Irish Free State Political Matters, (NAI, DFA, PG/IFS), box 3, Anonymer Entwurf einer Antwort auf Anfrage in Dail Eireann, 3. Mai 1922; ebd., box 9, Gavan Duffy an Griffith, 20. April 1922; vgl. KEOGH, Ireland and Europe, S. 11 f.; BRENNAN, Allegiance, S. 335.
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ganda zwei Stellen: das Publicity-Ministerium des ehemals revolutionären Dail Eireanns und das Press Room Department der Provisorischen Regierung. Doch was nach außen verwirrend wirkte, bereitete im Inneren keine Probleme: Beide Stellen kontrollierte FitzGerald, beschäftigte in ihnen teilweise dieselben Mitarbeiter.55 Propaganda zum anglo-irischen Vertrag war die wichtigste Aufgabe dieser Behörden, die fast unmittelbar nach der Vertragsspaltung eine erste Kampagne in der Tagespresse organisierten.56 Die Publicitybehörden wirkten als Schaltstellen zwischen nationaler sowie internationaler Presse und der Regierung: Sie veröffentlichten offizielle Regierungsstatements, vermittelten Interviews mit Regierungsangehörigen oder dementierten Presseberichte. Die Propagandabehörden informierten nicht nur die Presse über die Regierung, sondern auch umgekehrt; sie informierten Regierung und Armeeführung über die Presse, spürten dazu der veröffentlichten Meinung systematisch nach, sammelten und archivierten Presseausschnitte.57 Wichtigstes Propagandamedium für die Publicitybehörden waren die Dubliner Tageszeitungen, die eng mit der Regierung kooperierten.58 Sie gaben offiziellen Regierungserklärungen viel Raum im redaktionellen Teil und veröffentlichten Grundsatzartikel von Regierungsmitgliedern. Wo Propaganda ein besonders breites Publikum erreichte, war sie Chefsache. Zumindest erschien sie unter dem Namen des Chefs: So druckten der Freeman und der New York American eine zwölfteilige Artikelserie von Collins.59 Dazu produzierten die Publicitybehörden zahllose eigene Pamphlete und Broschüren. Am 25. Februar 1922 gründete die vertragsbefürwortende Propaganda den Free State. Dieses halboffizielle Regierungsorgan erschien wö55
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National Archive of Ireland, Provisional Government Minutes (NAI, PG Minutes), G1/1, 25. Janaur 1922; 27. Januar 1922; 8. Februar 1922; NAI, D/T, S-1882, Memorandum des Sekretärs des Executive Councils, Michael McDunphy, 19. Mai 1936. Formal unterstand das Press Room Department dem Sekretariat der Provisorischen Regierung. Siehe: ebd., Sean Lester an Michael McDunphy, 24. Februar 1923; Sean Lester an FitzGerald, 28. Februar 1923. NAI, DE Minutes, DE 1/4, 13. Januar 1922: „The Minister of Publicity was instructed to make arrangements for a series of articles on the treaty to appear in the press.“ Etwa: National Archive of Ireland, Department of the Taoiseach, Constiution Committee (NAI, D/T, CoCo), „O“, Ordner mit Zeitungsausschnitten zum Constitution Committee; NAI, D/T, S-1322, Berichte über die IRA in den Four Courts. UCD, FGP, P80/281, Managing Director FREEMAN’S JOURNAL an FitzGerald, 7. Februar 1922: Angebot eine mehrteilige Artikelserie Richard Mulcahys über die IRA zu drucken. Vgl. Special Correspondent FREEMAN’S JOURNAL an Griffith, 23. März 1923; NAI, DE Correspondence, DE 2/10, Report on Publicity Department, ca. Februar 1922. FREEMAN’S JOURNAL, 2. Februar 1922, S. 5; 6. Februar 1922, S. 4 f.; BEASLAI, Michael Collins, S. 359; vgl. Pamphlet mit mehreren Reden von Collins, in: TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, Box 2/3, Collins, Arguments for the Treaty.
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chentlich und enthielt überwiegend Grundsatzartikel, häufig von prominenten vertragsbefürwortenden Politikern und Regierungsmitgliedern, darunter Griffith, Kevin O’Higgins, Eoin MacNeill, Ernest Blythe und immer wieder FitzGerald.60 Daneben gab es zwei inoffizielle vertragsbefürwortende Propagandablätter: Patrick O’Hegarty veröffentlichte, finanziert von der IRB, den Separatist.61 Der vertragsbefürwortende Abgeordnete Sean Milroy belebte Young Ireland wieder, eine Zeitschrift, die Griffith im Unabhängigkeitskrieg herausgegeben hatte.62 Ein Gutteil der Propaganda richtete sich nach wie vor an das Ausland, vor allem die USA.63 Dorthin schickte die Führung der Vertragsbefürworter vom 9. März 1922 bis zum 10. Juni 1922 ihren zweiten ausgewiesenen Propagandaspezialisten: Beaslai. Damit er mit seiner Propaganda dort auch den nötigen Eindruck machte, wurde Beaslai kurzer Hand zum General befördert. Solange er in Irland war, gab Beaslai weiter die Armeezeitung An tOglach heraus und leitete die Army Publicity der vertragsbefürwortenden Truppe.64 In Irland existierte um 1922 eine vielfältige Presselandschaft: Neben den drei Dubliner Tageszeitungen waren es vor allem britische Presseimporte und die zahllosen Provinzblätter, die landesweit ein breites Massenpublikum erreichten. Die von Sinn Fein während des Unabhängigkeitskrieges herausgegebenen Untergrundblätter besetzten demgegenüber nur ein kleines Marktsegment. Sinn Feins Propaganda erhielt ihre Durchschlagskraft nicht durch ihre Propagandablätter, sondern durch die professionell hergestellte tägliche Pressemitteilung der revolutionären Regierung, das Irish Bulletin. Weil das Irish Bulletin auf bewußte Verfälschungen verzichtete, genoß es bei der in- und ausländischen Presse bald eine hohe Glaubwürdigkeit und beeinflußte so die Redakteure. Die führenden Propagandisten des Unabhängigkeitskrieges bestimmten ab 1922 auch die Propaganda der konkurrierenden Lager: FitzGerald und Beaslai auf Seiten der Vertragsbefürworter, Childers, Brennan und Gallagher auf Seiten der Republikaner. Doch während es FitzGerald gelang, eine professionelle Propagandabehörde zentral zu steuern, hatten die republika-
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FREE STATE, 25. Februar 1922, 18. März 1922, 25. März 1922. GLANDONE, Advanced Nationalist Press, S. 224. National Library of Ireland, YOUNG IRELAND, Biographical Note. NAI, DE Correspondence, DE 2/10, Report on Publicity Department, ca. Februar 1922. NLI, BP, box 30, Memo on Work of Army Publicity, ca. Februar 1922; ebd., „Volunteer Relics“; NAI, S-1760, Brief an MacDunphy, 12. September 1924; FREEMAN’S JOURNAL, 23. Mai 1922, S. 5; LIMERICK LEADER, 19. April 1922, S. 3.
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nischen Propagandaprofis weder die finanziellen Ressourcen noch den nötigen Einfluß, um die Legitimationsstrategie ihrer Seite effizient zu kontrollieren.
II. „THE REPUBLIC“ UND REALPOLITIK Organisatorisch waren die Vertragsbefürworter den Vertragsgegnern hoch überlegen. Aber wer konnte die überzeugendere Geschichte erzählen? Im Propagandakrieg standen beiden Seiten verschiedene rhetorische Legitimationsstrategien offen: „1916“, Home Rule, anti-nordirischer und anti-britischer Nationalismus, Kultur- oder Sprachnationalismus, Katholizismus, demokratische Partizipation, liberale Abwehrrechte, Pragmatismus, law and order, Materialismus und/oder soziale Gerechtigkeit. Aus diesen Legitimationsmustern konnten sich die Propagandisten jedoch nicht wahllos bedienen. Sie mußten verschiedene Teile so zusammendenken, daß sie eine sinnvolle Geschichte ergaben. Wie einzelne Teile zusammenpassten, ob sie sich sinnvoll ergänzten oder einander widersprachen, lag an der politischen Kultur der Propagandisten. Politische Kultur und Propagandastrategie bedingten einander, waren aber nicht zwangsläufig identisch; denn je flexibler die politische Kultur war, um so kreativer konnten die Propagandisten an ihrer Geschichte arbeiten, um so besser konnten sie sich notfalls verstellen und taktisch von den Grundlagen ihres politischen Denkens abweichen. Wenn sich die Propagandaspezialisten für eine bestimmte Geschichte entschieden, war das nicht „nur“ Rhetorik. Während das Sprechen über die Republik bisher die Revolution angeschoben und national unity garantiert hatte, konstituierten sich jetzt konkurrierende Gruppierungen über das politische Sprechen – auch quer zu nur scheinbar präexistenten sozialen Schichten und Interessen.65 Dabei eröffneten unterschiedliche Legitimationsstrategien ganz unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten; denn nur was denkbar und sagbar war, war auch machbar. Und umgekehrt: Was man machte, mußte man auch sagen, erklären können. Wenn die Revolutionäre auf neue Handlungsmöglichkeiten zurückgriffen, mußten sie ihre Propagandageschichte anpassen, eventuell sogar ihre politische Kultur. Diese Interaktion von revolutionärem Sprechen und Handeln verlieh dem Bürgerkrieg seine Dynamik.66 65 66
Vgl. MANHEIM, Aufklärung, S. 29. SAHLINS, Islands, S. 7, 44, 149; STEINMETZ, Das Sagbare, S. 18–20; vgl. BAKER, Political
II. „The Republic“ und Realpolitik
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Konkret: Als die Vertragsbefürworter für den Vertrag stimmten, eröffneten sie sich völlig neue Handlungsmöglichkeiten. Sie beendeten den Unabhängigkeitskrieg, bekamen Macht über Irlands innere Angelegenheiten, machten Karriere und verdienten viel mehr Geld als zuvor als Berufsrevolutionäre. Doch nach dem Schritt zur Realpolitik konnten sie sich kaum mehr über „the Republic“ legitimieren. Sie mußten einen Teil ihrer politischen Wertvorstellungen anpassen und sich eine neue Legitimationsstrategie erfinden. Wie wollten sie die Phantasie einer hochpolitisierten und emotionalisierten Bevölkerung begeistern? Konnten und wollten sie die traditionelle nationale Rhetorik durch blanken Materialismus ersetzen?67 Die Republikaner hatten das umgekehrte Problem: Ihre dogmatische republikanische Legitimationsstrategie eröffnete kaum Handlungsspielraum. Sie orientierte sich an der „historischen Wahrheit“ des Republikanismus, kaum an den materiellen Bedürfnissen ihres (potentiellen) Publikums. So war die Rhetorik der Republikaner hochgradig redundant, unflexibel und kaum zu taktischen Zugeständnissen in der Lage. Ihre kompromißlose Deutung der Realität kollidierte an vielen Punkten mit der „actual complexity of contemporary, Irish and Anglo-Irish reality.“68 Auch der Schriftsteller Sean O’Faolain, der während des Bürgerkrieges zunächst an Bomben für die IRA, später als Propagandist an „the Republic“ gebastelt hatte, erahnte dieses grundlegende Dilemma von Vertragsbefürwortern und -gegnern. O’Faolain, der sich später weitgehend dem politischen Idealismus seiner Jugend entfremdete, rationalisierte dieses Dilemma rückblickend als Konflikt zwischen Emotion und Verstand: If men do not balance feelings and intelligence they lose command of both – and worse of their object. I fear that in 1922 our realists said goodbye to their feelings. I cannot say that we idealists said goodbye to our intelligence, because, alas, if we had any worthy of the name I saw but little sign of it in those disheartening days of Civil War.69
So schlagend O’Faolains Diagnose scheint, sie verkürzt das Problem: Wie ich in diesem Kapitel zeigen werde, hatten auch die Vertragsbefürworter noch jede Menge nationaler Emotionen, und gerade der politische Arm der Vertragsgegner konnte immer noch denken – nur effizient Politik machen
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Culture of the Old Regime, S.XII; SPIEGEL, History, S. 83; vgl. HUNT, Politics, S. 19–119, 253. Vgl. die Bedenken eines anglo-irischen Beobachters, in: THE ROUND TABLE, XII, 47, (Juni 1922), S. 509. ENGLISH, Green on Red, S. 162. O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 190.
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konnten die Republikaner mit ihren Überlegungen und die Freistaatler mit ihren Emotionen kaum mehr. 1. REPUBLIKANISCHE HANDLUNGSKRISE Für die moderateren Politiker wie de Valera, Childers, Gallagher oder den Überläufer aus dem vertragsbefürwortenden Lager Robert Barton erwies sich der republikanische Dogmatismus schnell als (kulturelle) „Zwangsjacke“70. Ohne realpolitische Perspektive war die Mehrheit der Bevölkerung nicht für die Republikaner zu mobilisieren. So ließ sich auch keine Politik mit Großbritannien oder der Provisorischen Regierung machen. Doch wie konnten die Revolutionäre „the Republic“ flexibilisieren? De Valera versuchte schon früh, ein Konzept zu finden, das zwischen Vertrag und „the Republic“ vermittelte; ein Konzept, dem im Idealfall die Revolutionäre Irlands, die irische Bevölkerung und die britische Regierung zustimmen sollten. Irland sollte nicht zwangsweise Teil des britischen Empires werden, sondern sich „freiwillig“ von außen an dieses Empire assoziieren. De Valera nannte das „external association“. Schon bei den Vertragsverhandlungen hatte de Valera versucht, „external association“ als irische Minimalforderung durchzusetzen.71 In einer nichtöffentlichen Sitzung während der Vertragsdebatte formulierte er „external association“ zu einem alternativen anglo-irischen Vertrag um. Absatz für Absatz orientierte er sich dabei an den Vorgaben des Vertrages. Sein sogenanntes Document No. 2 unterschied sich nur auf der symbolischen Ebene vom Vertrag, orientierte sich so nah wie möglich an den britischen Vorgaben. In de Valeras eigenen Worten: „If they [the British] say the crown is only a shadow, why do they want the shadow? Why do they want the shadow, and why should not we have it?“72 Irlands außenpolitische und militärische Souveränität blieb, wie im Vertrag, eingeschränkt. Auch die Passagen zu Nordirland übernahm de Valera zunächst wörtlich aus dem Vertrag, bevor er sie durch eine unverbindliche Absichtserklärung zur Wiedervereinigung ersetzte. Während sich an der machtpolitischen und territorialen Beschränkung der irischen Souveränität kaum etwas änderte, entwickelte de Valera eine
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Dieser Terminus wurde wahrscheinlich in der Zeit kurz vor den Vertragsverhandlungen von de Valera selbst geprägt: O’HEGARTY, Victory, S. 87. Weil er so griffig war, wurde er auch von der historischen Forschung übernommen, exemplarisch: BOYCE, Nationalism, S. 325. AN POBLACHT, 5. Januar 1922, S. 1 f.; 3. Januar 1922, S. 2; HOPKINSON, Green, S. 27. DEBATE ON TREATY, Private Sessions, de Valera, 15. Dezember 1921, S. 150.
II. „The Republic“ und Realpolitik
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Nomenklatur, die die völkerrechtliche Gleichheit von Irland und Großbritannien suggerierte. Aus der gemeinsamen Staatsbürgerschaft des Vertrages machte de Valera zwei gegenseitige Staatsbürgerschaften. Was symbolisch Irlands Gleichwertigkeit und Souveränität garantieren sollte, hatte faktisch dasselbe Ergebnis: Iren waren auch in Großbritannien, Walliser, Schotten und Engländer auch in Irland Staatsbürger. Am wichtigsten: Artikel Eins von de Valeras Document No. 2 machte das im Vertrag nur implizit garantierte Prinzip der Volksouveränität deutlich sichtbar:„That the legislative, executive, and judical authority of Ireland shall be derived solely from the people of Ireland.“ Die Abgeordneten des irischen Parlaments mußten keinen Treueid auf den englischen König schwören, sondern ihn nur als symbolisches Oberhaupt einer partnerschaftlichen Gemeinschaft freier Länder „anerkennen“. Protokollarisch war Irland so weder Teil der britischen Monarchie noch des Empire, mußte sich nicht symbolisch unterordnen. Damit erhielt Document No. 2 nach Logik der Poblacht „the existing Republic“73, obwohl de Valera bewußt auf den Terminus „Republic“ verzichtete, um „external association“ für die britische Seite so akzeptabel wie möglich zu machen.74 Weil de Valera wußte, wie mißverständlich Document No. 2 war, bat er das revolutionäre Parlament, seinen Vorschlag vertraulich zu behandeln.75 Als Griffith Document No. 2 dennoch an die Presse weitergab, wurde es zu dem propagandistischen Eigentor für die Vertragsgegner.76 De Valera scheiterte diesmal mit der für ihn so kennzeichnenden und später so erfolgreichen Taktik der „labyrinthine language“77; denn die Vertragsbefürworter wollten für „a quibble of words“78 keinen neuen Krieg mit Großbritannien riskieren. Schließlich hatte die britische Delegation „external association“ während der Vertragsverhandlungen nicht akzeptiert, warum sollte sie es nun tun? Die vertragsbefürwortende Propaganda verspottete Document No. 2: Die Vertragsgegner seien Schwätzer, Haarspalter eine „armed junta
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AN POBLACHT, 5. Januar 1922, S. 2. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 1/6, The Alternative to the ‚treaty‘, ‚Document No. 2‘; AN POBLACHT, 5. Januar 1922, S. 1 f. DEBATE ON TREATY, Private Session, de Valera, 16. Dezember 1921, S. 216. DEBATE ON TREATY, Griffith, 5. Januar 1922, S. 267; CATHOLIC BULLETIN, supplement 1921, S. 3; HOPKINSON, Green, S. 39; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 205. RONAN FANNING, ‚The Rule of Order‘: De Valera and the IRA, in: MURPHY und O’CARROLL (Hrsg.), De Valera, S. 160–72, hier: S. 160–7, Zitat: S. 167; GARVIN, 1922, S. 50 f.; MURRAY, Voices, S. 43, 44, 47, 49–51. FREE STATE, 19. August 1922, S. 2; vgl. DEBATE ON TREATY, Griffith, 19. Dezember 1921, S. 21.
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of documentarians“.79 Document No. 2 beweise, daß die Republikaner zu denselben Kompromissen mit Großbritannien bereit seien wie die Vertragsbefürworter. Um de Valera zu demontieren, instrumentalisierten und verdrehten die Vertragsgegner dessen Worte. De Valera verwechsele „shadow“ und „substance“80, hetze die Jugend auf „to go out and die for a shadow.“81 War de Valeras Vorschlag Document No. 2 nur ein „shadow“, „a quibble of words“, ein „cloud-cuckoo-land“?82 Document No. 2 in Nachfolge der vertragsbefürwortenden Propaganda einfach als irrationales Hirngespinst abzutun, wäre zu kurz gegriffen. Aus der Perspektive von Dezember 1921 war Document No. 2 eine große Leistung. Es blieb die einzige programmatische Innovation der Republikaner bis weit nach dem Bürgerkrieg. De Valera verpackte die Essenz des Vertrages so, daß sie selbst für viele intransigente Republikaner, wenn auch unter Zähneknirschen, zu akzeptieren war.83 Document No. 2 war ein Kompromiß, der den meisten Republikanern erlaubt hätte, ihre politische Kultur zu bewahren. Als Eiertanz um die richtige Nomenklatur leistete es einen Spagat zwischen zwei feindlichen Weltbildern, definierte einen gemeinsamen Boden zwischen „the Republic“ und „Crown and Empire“. Das Schwammige, Miß- und Unverständliche an Document No. 2 und de Valeras Sprache war dabei Teil von de Valeras Strategie, die Unterschiede zwischen dem vertragsbefürwortenden und vertragsablehnenden Standpunkt und damit auch seinen eigenen Standpunkt zu verwischen. Dennoch ließen sich die radikaleren Republikaner nicht gänzlich von de Valera überzeugen: Gerade vielen der „gunmen“ war Document No. 2, dieses „essay in ambiguity“84, zu akademisch und kompliziert. So gab der prominente IRA-General Rory O’Connor in einem Interview mit dem Irish Independent offen zu, Document No. 2 nie gelesen zu haben. Er und andere Radikale lehnten es genauso pauschal ab wie den Vertrag, von dem O’Connor im gleichen Interview sagte, er habe ihn nicht verstanden. Document No. 2 und Vertrag waren für Radikale wie ihn nicht „the Republic“ 79 80 81
82 83 84
YOUNG IRELAND, 8. April 1922, S. 4 (meine Hervorhebung). YOUNG IRELAND, 25. Februar 1922. DEBATE ON TREATY, Sean Milroy, 20. Dezember 1921, S. 71; vgl. Dail Eireann (Hrsg.), Official Report: Parliamentary Debates 1922–23 (= DAIL DEBATES), (Volume I–V). Dublin o.J, hier: Bd. 2, Sean Milroy, 8. Dezember 1922, S. 63 f.; National Library of Ireland, William O’Brien Collection (NLI, WOB), L.O., P117, Flugblätter, no. 24, no. 25, no. 38, ca. März 1922. IRISH TIMES, 23. Dezember 1921, S. 4. Etwa für den intransigenten Cathal Brugha: DEBATE ON TREATY, Cathal Brugha, 7. Januar 1922, insbes., S. 330–3. MACDONAGH, Ambiguity, S. 105.
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und damit genug.85 So dachten sicher auch viele vertragsablehnende Guerilleros, was Beaslai als Argument für den Vertrag formulierte: „Men have died to the cry ‚up the Republic‘, but I cannot imagine they would die for the cry of ‚up External Association‘.86 Zwar bemühte sich die republikanische Propaganda, Document No. 2 zu verteidigen. Doch de Valeras Vorschlag eignete sich nicht für griffige Parolen, eher für differenzierte Überlegungen.87 So verfaßte Childers eine mehrteilige Artikelserie in der Poblacht, die den Vertrag und Document No. 2 Artikel für Artikel verglich. Childers erreichte dabei ein abstraktes und differenziertes Argumentationsniveau, das für die sonst so redundante vertragsablehnende Propaganda erstaunlich war. Doch wer wollte so etwas schon lesen?88 Für die Mehrheit der Bevölkerung war de Valeras differenzierte beziehungsweise haarspalterische Argumentation, die nichts an ihrem alltäglichen Leben änderte, nur schwer nachzuvollziehen.89 Als Mißerfolg wurde Document No. 2 auch für die gemäßigten Republikaner immer unattraktiver. Die republikanischen Politiker, auch de Valera und seine Propagandisten, gaben deshalb Document No. 2 schnell auch offiziell auf und kehrten zur orthodoxen Rhetorik von „the Republic“ zurück.90 2. FREISTAATLICHE LEGITIMATIONSKRISE Seit der Vertragsspaltung orientierte sich die Führung der Vertragsbefürworter flexibel am realpolitischen Erfolg. Zu diesem pragmatischen Handeln mußte sie im nachhinein eine passende Propagandastrategie erfinden. Während die Republikaner trotz Document No. 2 in einer Handlungskrise steckten, litt die freistaatliche Seite unter einem Legitimationsdefizit; denn als „Kompromißler“ konnten sie nicht mehr ungebrochen auf das republi85 86 87
88 89
90
IRISH INDEPENDENT, 23. März 1922, S. 5; TOWNSHEND, Political Violence, S. 364; O’MALLEY, Singing Flame, S. 45. DEBATE ON TREATY, Private Session, Beaslai, 17. Dezember 1921, S. 231. So auch: CATHOLIC BULLETIN, supplement 1921, S. 2; AN POBLACHT, 21. Februar 1922, S. 1, 4; UCD, MSW, P48a/377, Mary MacSwiney an verschiedene Redakteure, 23. Dezember 1921. UCD, MSW, P48a/341, Erskine Childers: Clause by Clause. A Comparison between „The Treaty“ and Document No. 2“. O.J. [Reprint 1923]. VOICE OF LABOUR, 7. Januar 1922, S. 3; O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 187; Auch einige Historiker stolperten über de Valeras Ambivalenzen: VALIULIS, Mulcahy, S. 114; HOPKINSON, Green, S. 27; ungenau auch: FOSTER, Modern Ireland, S. 505. AN POBLACHT, 28. Februar 1922, S. 4; TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, Box 2/3, Collins, Arguments for the Treaty, S. 28; NLI, WOB, L.O., P117, Flugblatt, no. 29, ca. Mai 1922.
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kanische Geschichtsgesetz, die nationale Martyrologie und das britische Feindbild zurückgreifen. Sie mußten versuchen, das nach wie vor entscheidende nationale Legitimationsfeld über Umwege zu besetzen. a) Auf der Suche nach nationaler Legitimation Karriere, gute Bezahlung, fester Sold, ein geregeltes bürgerliches Leben, also alles, was den Vertrag für die Revolutionäre attraktiv machte, erwies sich als propagandistische Achillesferse für die Vertragsbefürworter; denn diese Annehmlichkeiten blieben langfristig als britischer Materialismus diskreditiert. Das traditionelle Weltbild vom materialistischen England kontra spirituellem Irland fiel den Vertragsbefürwortern in den Rücken. Gegen das herrschende Idealbild des asketischen Revolutionärs ließen sich gesichertes Einkommen und Karriere nicht als legitime Anliegen eines Berufspolitikers begründen. Im Gegenteil: Die vertragsbefürwortende Rhetorik hielt selbst am anti-britischen Antimaterialismus fest. Sie diskreditierte, wo immer es ging, die Vertragsgegner für materielle Motive.91 Insgesamt konnte die republikanische Propaganda Antimaterialismus jedoch wesentlich glaubhafter besetzen: Die IRA hielt an ihrem asketischen Selbstverständnis fest: „We are not paid hirelings to bear arms for any paymaster who comes along“.92 In Opposition dazu porträtierte etwa eine Karikatur der Plain People die beiden wichtigsten Führungspersönlichkeiten des Freistaats, Griffith und Collins, als anglisierte Säufer, die um die Gunst am luxuriösen Dubliner Hof des britischen Governor Generals buhlten.93 Dabei argumentierte die vertragsablehnende Propaganda häufig mit den Gesetzmäßigkeiten des republikanischen Geschichtsbildes. So wußte das Catholic Bulletin: „Assured materialism and bloated prosperity are and always have been antagonistic to the obvious facts and lessons of Irish history.“94 Andererseits lagen die konkreten Vorteile des Vertrages offensichtlich auf der Hand. Sie brachten den Vertragsbefürwortern den entscheidenden uneinholbaren Vorsprung vor den Republikanern. Doch um das materielle Argument für die vertragsbefürwortende Propaganda zu nutzen, mußten die Vertragsbefürworter von den vielen Einzelinteressen abstrahieren. Sie muß-
91
92 93 94
TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, Box 2/3, Collins, Arguments for the Treaty, S. 23; FREEMAN’S JOURNAL, 6. Februar 1922, S. 5; IRISH STATESMAN, 15. September 1922, S. 40. AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 23. September 1922, S. 2. PLAIN PEOPLE, 21. Mai 1922, S. 3. CATHOLIC BULLETIN, Juli 1922, S. 425.
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ten den „britischen Materialismus“ umdeuten, zu einem objektiven Prinzip erheben: So sprachen sie abstrakt vom Aufbau der Nation, von Industrie, Landwirtschaft, Fischerei, nicht von den damit verbundenen materiellen Vorteilen des Einzelnen.95 Sie beriefen sich deshalb auf „common sense“, „the facts“,„responsiblity“; der Vertrag sei anders als „the empty name of the Irish Republic“ nicht „a phrase“, sondern „a reality of freedom“.96 Doch solch eine rationale Argumentation reichte kaum aus, um eine politisch stark emotionalisierte Bevölkerung anzusprechen, die an Opfermut, „Heldentod“ und Märtyrer gewohnt war. Zum Entsetzen des protestantischen Intellektuellen George Russle und der sozialistischen Voice of Labour thematisierten beiden Seiten soziale und ökonomische Fragen kaum.97 Nationalismus blieb die alles entscheidende Legitimationsebene. Das war nicht nur eine kalkulierte Propagandastrategie nach außen: Bis auf wenige Ausnahmen wie Griffith und Eoin MacNeill hatte die gesamte vertragsbefürwortende Elite selbst am Osteraufstand teilgenommen.98 Alle waren aktive Revolutionäre im Unabhängigkeitskrieg gewesen. Auch wenn sie jetzt Realpolitik betrieben, brauchten sie auch für ihr eigenes Selbstverständnis dringend eine nationale Legitimation. Doch wie? Konstitutioneller Nationalismus war dabei keine Lösung. Die „Free Stater“ zu „Home Rulern“ umzukodieren, war ein Lieblingsthema der republikanischen Propaganda, keine sinnvolle Selbstdefinition.99 Dazu hatte Sinn Fein die Home Rule-Bewegung nach 1916 zu gründlich diskreditiert. Die Vertragsbefürworter wollten gerade nicht das letzte Glied in einer angeblichen Tradition eines sauberen parlamentarischen Nationalismus sein, zu dem manche Historiker sie gerne stilisieren.100 Statt dessen versuchte die vertragsbefürwortende Propaganda, hier FitzGerald, „1916“ und die nationalen Aufstände den Republikanern streitig zu machen und sie selbst zu besetzen: „They not only kept that [national] spirit alive, but prooved that this spirit was unconquerable.“ Dabei verschob sich die bisher verbindliche Wertung des Osteraufstandes: „1916“ wurde für sie 95 96
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FREE STATE, 22. Mai 1922, S. 4, Artikel von Griffith; YOUNG IRELAND, 13. Mai 1922, S. 2. Zitate: IRISH INDEPENDENT, 3. April 1922, S. 6; FREE STATE, 25. Februar 1922, S. 4; DEBATE ON TREATY: Sean Milroy, 20. Dezember 1921, S. 70; FREE STATE, 20. Mai 1922, S. 5; 27. Mai 1922, S. 4; 25. Februar 1922, S. 4. IRISH HOMESTEAD, 4. März 1922, S. 130; 8. April 1922, S. 222; 10. Juni 1922, S. 361; 5. August 1922, S. 476; VOICE OF LABOUR, 14. Januar 1922, S. 3. Vgl. LEE, Irland 1912–1985, S. 67; Ernest Blythe wurde zusammen mit Liam Mellows kurz vor dem Aufstand inhaftiert: RUTH EDWARDS, Triumph, S. 264, 306, 337. AN POBLACHT, 3. Januar 1922, S. 1 f.; 5. Januar 1922, S. 1; 17. Januar 1922, S. 2. FARRELL, Paradox, S. 18, 21 f.; LYONS, Three Essays, S. 255 f., differenzierter: ebd., S. 226; RICHARD DAVIS, Griffith, S. 13, 36 f., 39–41, 43; GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 116.
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von einem verbindlichen Modell für zukünftiges Handeln zu einem einmaligen historischen Ereignis. Es zu wiederholen, sei sinnlos und unmoralisch.101 Die Vertragsbefürworter ehrten die nationalen Revolutionäre in Gedächtnisartikeln102 und durchkämmten ihre Werke und Reden nach Klassikerzitaten, mit der sich ihre Realpolitik rechtfertigen ließ.103 Doch über diese Ansätze hinaus gelang es selbst FitzGerald nicht, die vertragsbefürwortende Politik in direkter Kontinuität mit den „great dead“ darzustellen. Sein Rückgriff auf die revolutionäre Tradition blieb rational vermittelt. Die freistaatliche Propaganda konnte nicht verhindern, daß die Republikaner „the Republic“, insbesondere die nationale Martyrologie, weitgehend monopolisierten. Wie ein scharfsinniger britischer Beobachter kurz vor dem Bürgerkrieg fast mitleidig feststellte: „The opposition is sounding the authentic call of national freedom. Unquestionably its leaders are ‚patriots‘.“104 Die Vertragsbefürworter saßen also zwischen den Stühlen, mußten sich einen neuen Nationalismus erfinden beziehungsweise aus alten Versatzstücken zusammenklittern. Nur ein scheinbarer Ausweg aus diesem Dilemma war die „stepping-stone“-Theorie, die These, der Vertrag sei nur ein erster Schritt zur Republik.105 Man könne also die Grenzen des Vertrages austesten: „no treaty except for Doc[ument No.] 2 ever pursued to be a final word.“106 Den Republikanern warf die vertragsbefürwortende Propaganda vor, sie würden den Vertrag so ungünstig wie möglich, also „from the Imperialist point of view“ lesen.107 Soweit war die „stepping-stone“-These ein schlagendes Argument. Doch über diese abstrakte Ebene hinaus konnten FitzGerald und seine Mitarbeiter damit kaum Propaganda machen. Nicht nur, daß die Republikaner die „stepping-stone“-Theorie als unehrenhaft ablehnten, weil die Vertragsbefürworter offenbar von vornherein planten, ihren „falschen Eid“ gegenüber dem König wieder zu brechen.108 Konkrete „stepping-stone“-Politik lieferte keine verwertbare Propaganda. Wo die Revolutionäre nach der Logik von „the Republic“ handelten, pro101 102 103 104 105 106 107 108
FREE STATE, 25. Februar 1922, S. 1 Artikel von FitzGerald. UNITED IRISHMEN, 15. Februar 1923, S. 4 f.; 22. März 1923, S. 3; 8. März 1923, S. 1. FREE STATE, 22. Mai 1922, S. 4, Artikel von Griffith; 4. März 1922, S. 4; 22. April 1922, S. 2; DEBATE ON TREATY, Beaslai, 8. Januar 1922, S. 179; UNITED IRISHMEN, 7. April 1923, S. 1. THE ROUND TABLE, XII, 47, (Juni 1922), S. 509. DEBATE ON TREATY, Collins, 19. Dezember 1921, S. 32. FREE STATE, 4. März 1922, S. 4, vgl. Frontispiz des FREE STATE mit dem Klassikerzitat von Charles Parnell: „No man has a right to fix the boundary of the march of a Nation. . .“ FREE STATE, 20. Mai 1922, S. 5; vgl. dazu CATHOLIC BULLETIN, März 1922, S. 135: Analyse des Vertrages über Zitate englischer Politiker. AN POBLACHT, 5. Januar 1922, S. 1 f.; NEW IRELAND, 22. April 1922, S. 308.
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duzierten sie den Stoff für Geschichten von Helden, Märtyrern und britischer Aggression. „Stepping-stone“-Politik spielte dagegen der republikanischen Propaganda in die Hände: Sie thematisierte die Grenzen der irischen Souveränität, erzählte von zähen Verhandlungen, neuen Kompromissen, peinlichen Rückziehern und nur kleinen Erfolgen. So verzichtete die Freistaatsführung darauf, mit ihren stark republikanisch beeinflußten Verfassungsplänen Propaganda zu machen. Statt dessen verhängte die Provisorische Regierung eine Nachrichtensperre, um Spekulationen in der Presse zu verhindern und ersparte sich so später einen demütigenden öffentlichen Rückzieher.109 Mit ihrer anti-britischen und republikanischen „stepping-stone“-Politik konnten die Vertragsbefürworter keine nationale Propaganda machen; paradoxerweise aber mit der Politik, die auf Konsens mit Großbritannien beruhte. Das Umsetzen des Vertrages ließ sich relativ leicht national deuten. Ein in inneren Angelegenheiten souveränes Parlament, Frieden und vor allem der überall sichtbare Abzug der britischen Krontruppen: Als greifbare Erfolge einer „nationalen“ Politik waren sie das durchschlagende und endlos wiederholte Argument.110 Während die Vertragsbefürworter mit diesen nationalen Erfolgen ihrer Politik Propaganda machten, versuchten sie, die „antinationale“ Seite des Vertrages, das Ende der „existing Republic“ zu verschleiern. Um sich gegen diesen Dreh- und Angelpunkt der vertragsablehnenden Propaganda zu schützen, versteckte sich die Führung der Vertragsbefürworter hinter einer republikanischen Fassade: Dail Eireann. Obwohl das Machtzentrum der Vertragsbefürworter die Provisorische Regierung, vor allem Collins, war, hielten sie parallel dazu an der revolutionären Regierung und am revolutionären Parlament fest. In ihrem Windschatten ließ sich der Vertrag leichter umsetzen. Gerade Griffith argumentierte als neuer Präsident der Republik immer wieder, daß die Republik ja noch existiere, zumindest bis der Vertrag von der Bevölkerung in einer freien Wahl akzeptiert sei. Auch gegenüber Großbritannien war Dail Eireann nützlich: als letzte Sicherheit, falls die Übergabeverhandlungen scheiterten.111
109
110 111
NAI, D/T, S-8952, Darrell Figgis an Griffith, 18. Januar 1922; Diarmud O’Hegarty für Collins an Darrell Figgis, 27. Januar 1922; NAI, D/T, CoCo, „O“, Minutes of Constitution Committee, 27. Januar 1922; 28. Januar 1922; 30. Januar 1922; NAI, PG Minutes, G1/1, 28. Januar 1922; vgl. (die fast nicht vorhandene) Berichterstattung, in IRISH INDEPENDENT, 31. Januar 1922, S. 5; CURRAN, Birth, S. 200–17; BOYCE, Nineteenth Century, S. 275 f. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, Box 2/3, Collins, Arguments for the Treaty, S. 25; FREE STATE, 25. Februar 1922, S. 1, Artikel von FitzGerald. DAIL DEBATES, Griffith, 28. Februar 1922, S. 100; 26. April 1922, S. 285 f.; NAI, D/T,
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Auch die Irish Republican Army nutzte die Führung der Vertragsbefürworter als republikanische Fassade. Der neue Verteidigungsminister Richard Mulcahy versicherte noch am Ende der Vertragsdebatten: „The Army will remain the Army of the Irish Republic.“112 Diese Erklärung war mehr als ein Versuch, Bevölkerung und Vertragsgegner zu täuschen. Dahinter stand die Hoffnung, daß eine einige IRA – „army unity“ – einen Bürgerkrieg verhindern würde. Gleichzeitig und konträr zu dieser auf Konsens zielenden Politik diente das Etikett „IRA“ der Führung der Vertragsbefürworter als Tarnung, um dahinter so schnell wie möglich eine loyale Truppe aufzubauen und aufzurüsten. Es sicherte ihr ein Stück republikanischer Legitimität, bremste das Tempo, in der sich die vertragsablehnende IRA selbständig machte. Wenn „army unity“ den Bürgerkrieg nicht verhindern konnte, dann wollte ihn die Provisorische Regierung wenigstens gewinnen.113 Schwer zu durchschauen und sehr glaubwürdig war die republikanische Fassade nicht. So störte sich die unionistische Irish Times wenig daran, daß das ehemals revolutionäre Parlament fortbestand. Sie akzeptierte Dail Eireann als irisches Etikett für „Parliament of Southern Ireland“.114 Die republikanischen Propagandisten geißelten zwar Dail Eireann immer wieder als Täuschungsmanöver,115 gleichzeitig nutzten die republikanischen Politiker aber das ex-revolutionäre Parlament für ihre Propaganda. Die republikanischen Abgeordneten versuchten, den vertragsbefürwortenden Ministern nachzuweisen, wo ihre Politik gegen „the Republic“ verstieß. Dabei ging es nicht um Realpolitik: Beide Seiten wußten, daß die Minister Dail Eireanns wenig effizient, aber so gut wie möglich, vertragsbefürwortende Politik machten. Worauf es für beide Seiten in einer Art Versteckspiel ankam, war, ob sich die vertragsbefürwortenden Minister dabei erwischen ließen, wenn sie gegen die offizielle republikanische Terminologie verstießen. Gerade die Fragestunde Dail Eireanns entwickelte sich schnell zu einem rhetorischen Ritual aus Fangfragen und ausweichenden Antworten: Wie vertrat Propagandaminister FitzGerald trotz seiner vertragsbefürworten-
S-8736, Michael MacDunphy, Memo Dual Government 1922, 1. September 1922; FREE112 113 114 115
MAN’S JOURNAL, 10. Mai 1922, S. 4. DEBATE ON TREATY, Richard Mulcahy, 10. Januar 1922, S. 424. VALIULIS, Mulcahy, S. 123–8; FLK, DeV, 251, Statement Director 30. März 1922; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 209. IRISH TIMES, 25. April 1922, S. 4. AN POBLACHT, 22. März 1922, S. 4; O’DONOGHUE, No Other
S. 202: „the master stroke of pro-Treaty policy.“
Publicity Army [IRA],
Law, S. 202–4, insbes.,
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den Haltung die Republik im Ausland?116 Benutzte Landwirtschaftsminister Patrick Hogan das Briefpapier Dail Eireanns oder das Briefpapier der Provisorischen Regierung? Ging er seinen Verwaltungsaufgaben als Minister Dail Eireanns oder als Minister der Provisorischen Regierung nach?117 b) Nationalismus ohne Feindbild? – Nordirland-Propaganda und anti-britische Rhetorik Das traditionelle britische Feindbild war der Kern des antithetischen Weltbildes und hatte bisher Nation definiert und „national unity“ hergestellt. Mit der unkompromittierten republikanischen Rhetorik ließ es sich nach wie vor leicht verbinden und dabei direkt auf die Vertragsfrage beziehen: The Slave Staters [. . .] ask you to surrender your national birthright, to bend your knee to the English King, to acknowledge that you are the fellow-citizen of your racial foes, to save and support the British Empire that has crushed your country.118
Die Führung der Vertragsbefürworter konnte dagegen nicht mehr ungebrochen auf das britische Feindbild zurückgreifen. Nach dem Kompromiß mit Großbritannien war das wenig glaubhaft. Außerdem irritierte anti-britische Rhetorik die neuen Verbündeten: Großbritannien, die Unionisten in Südirland und die britischen Mitarbeiter in der freistaatlichen Administration.119 Dennoch argumentierte die vertragsbefürwortende Propaganda weiter anti-britisch, wenn auch über Umwege. So verteidigten FitzGerald und Ernest Blythe in ihren Grundsatzartikeln die konkreten Vorteile des Vertrages als Teilsieg in einem siebenhundertfünfzigjährigen Kampf mit einem barbarischen Feind.120 Auch wenn die britische Regierung oder die britische Presse der Provisorischen Regierung wohlwollende Ratschläge gaben, reagierte die Führung der Vertragsbefürworter mit anti-britischen Attacken. Indem sie sich so gegen jede Einmischung wehrte, demonstrierte sie irische Souveränität.121 Auch noch nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges argumentierte die vertragsbefürwortende Propaganda anti-englisch; diesmal gegen die Republikaner gerichtet: Sie warf den Republikanern vor, das von ihnen verursachte
116 117 118 119 120 121
DAIL DEBATES, Constanze Markievicz, de Valera, Cathal Brugha, FitzGerald, jeweils 28. Februar 1922, S. 99–101. DAIL DEBATES, Liam Cosgrave, 28. Februar 1922, S. 98; Patrick Hogan, Sean MacEntee, Austin Stack, jeweils 2. März 1922, S. 184. PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2. IRISH TIMES, 19. März 1923, S. 4; RONAN FANNIG, Department of Finance, S. 79 f. FREE STATE, 25. Februar 1922, S. 1, Artikel von FitzGerald. FREE STATE, 1. Juli 1922, S. 4; vgl. NAI, PG Minutes, G1/2, 7. April 1922.
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Chaos liefere den britischen Imperialisten den ersehnten Vorwand „[to] make your Nation once again the prey of the ancient enemy, England.“122 Am glaubhaftesten ließ sich die anti-britische Rhetorik aber gegen die Unionisten in Nordirland wenden. Diese dienten der vertragsbefürwortenden Propaganda als willkommener Ersatzfeind. Die Unionisten in Ulster verteidigten ihre protestantische Identität, ihre britische „Irishness“ mit der gleichen Hingabe und Brutalität wie die revolutionären Nationalisten ihre katholisch-nationalistische „Irishness“. Der protestantische Unionismus war ein ähnlich stimmiges und unter seinen Prämissen logisches Weltbild wie der Nationalismus Sinn Feins. Wie die Nationalisten wußten auch die Unionisten, was Gut und Böse war und nach welchen Gesetzen die Geschichte verlief. Sie fürchteten nach der Gründung eines katholischen Freistaats ein neues „1641“, ein neues „Massaker“ durch die Katholiken.123 Bis September 1922 fanden in Nordirland, besonders in Belfast, regelrechte Katholikenpogrome statt. Protestantische Arbeiter und die zu einer paramilitärischen Hilfstruppe umorganisierte Ulster Volunteer Force vertrieben Katholiken von ihren Arbeitsplätzen und aus ganzen Straßenzügen in Belfast. Die nordirische Regionalregierung duldete, ja ermutigte diese Übergriffe. Bis Ende des Jahres starben allein in Belfast 230 Personen bei politischen Unruhen. Die Opfer waren überwiegend Katholiken, darunter ganze Familien.124 Die Revolutionäre, die während des Unabhängigkeitskrieges, während der Verhandlungen mit England und während der Vertragsdebatten das Thema Nordirland gegenüber der Frage von „Crown“ und „Republic“ als zweitrangig zurückgestellt hatten, entdeckten es ab Januar 1922 für ihre Propaganda. Auf beiden Seiten zeigte sich die vom vertragsbefürwortenden Blatt Free State scheinheilig beklagte „inevitable tendency to exploit the Northern situation for political ends.“125 Wie Graham Walker nachgewiesen hat, unterschied sich die anti-nordirische Propaganda von Vertragsbefürwortern und -gegnern zunächst kaum.126 Beide Bürgerkriegsparteien
122 123
124 125 126
YOUNG IRELAND, 22. Juli 1922, S. 1, 3. LYONS, Burden, S. 96–8; ders., Culture and Anarchy, S. 24–7, 113–45; zum Zusammenhang zwischen kulturellen und sozialen Konflikten und zum Primat kultureller Faktoren: insbes. ebd., S. 138–41, 144 f.; JENNIFFER TODD, Unionist Political Thought, 1920–1972, in: BOYCE et. al. (Hrsg.), Political Thought, S. 190–211, hier: S. 191–8. LAFFAN, Partition, S. 91; TOWNSHEND, Political Violence, S. 341–4. FREE STATE, 10. Juni 1922, S. 1; LAFFAN, Partition, S. 75, 79–83, 86–8; LYONS, Three Essays, S. 253 f.: Von 338 Seiten Vertragsdebatte füllte die Nordirland Frage gerade neun. GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 103–7, insbes. 105.
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verurteilten „butchery, horror [and] outrage“127 in fast identischem Wortlaut: Verfolgt von den „orange mobs“, lebten die Katholiken in Nordirland „under the black shadow of persecution and death.“128 Gerade wo Frauen und Kinder betroffen waren, suchte die Propaganda nach drastischen Bildern. Dem aggressiven Norden stellten beide Seiten ein friedliches, in religiösen Fragen tolerantes nationales Irland gegenüber. Genauso übereinstimmend schätzten Freistaatler und Republikaner die Teilung Irlands als prinzipiell illegitim ein: „Ulster is ours.“129 Einige wenige radikale Nationalisten meinten dabei, die Protestanten seien keine Iren, sondern Nachfahren einer andere „Rasse“, nämlich britische Siedler. Sie sollten nach England und Schottland zurückkehren – nach dreihundert Jahren. Die große Mehrheit der Nationalisten machte die Unionisten dagegen zu fehlgeleiteten und vom britischen Materialismus korrumpierten Iren: ein Produkt britischer Parteipolitik.130 Im gewohnt kreativen Umgang mit der Geschichte behaupteten sie, protestantische Siedler und katholische Bevölkerung seien wegen der vielen gemischten Heiraten ethnisch nicht mehr zu unterscheiden. Die Nationalisten ignorierten dabei, daß Mischehen und Konversionen in den letzten dreihundert Jahren verpönte Ausnahmen gewesen waren.131 „Orangeism“132 als ein legitimes Konkurrenzmodell zum Nationalismus anzuerkennen, lag außerhalb der Denkgrenzen fast aller Vertragsbefürworter und -gegner. Eine bald nach dem Waffenstillstand eingesetzte Kommission, die der Sinn Fein-Führung den Unionismus näher bringen sollte, änderte daran wenig.133 Wie Anhänger der Home Rule-Bewegung und revolutionäre Sinn Fein vor ihnen, setzten sie sich nicht mit den Prämissen des Unionismus auseinander. Diese traditionelle Ignoranz tarnten die Propagandisten beider Seiten damit, daß sie Nordirlandpropaganda bevorzugt von protestantischen Überläufern aus Ulster schreiben ließen.134 Die Nordirlandpolitik von Vertragsbefürwortern und -gegnern war genauso phantasielos wie ihr Verständnis des Unionismus. Ohne Zugang zur Denkweise der Unionisten setzten sie auf die Rezepte, mit denen auch
127 128 129 130 131 132 133 134
YOUNG IRELAND, 10. Juni 1922, S. 4. AN POBLACHT, 18. Juni 1922, S. 4. AN POBLACHT, 15. Juni 1922, S. 2; FREE STATE, 10. Juni 1922, S. 1. AN POBLACHT, 29. März 1922, S. 6; vgl. YOUNG IRELAND, 4. März 1922, S. 5. LAFFAN, Partition, S. 15 f., 25, 72–5, 123 f.; LYONS, Culture and Anarchy, S. 139. Exemplarisch: YOUNG IRELAND, 4. März 1922, S. 5. HOPKINSON, Green, S. 21. AN POBLACHT, 29. März 1922, S. 6, Artikel von Aodh de Blacam; FREE STATE, 10. Juni 1922, S. 1, Artikel von Ernest Blythe.
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schon Home Rule und Sinn Fein gescheitert waren: wirtschaftlicher Boykott, politischer Druck und Vertrauen auf die Kraft der „historischen Warheit“. Eine Minderheit in beiden Bürgerkriegslagern schloß auch militärische Gewalt nicht aus.135 Die große Mehrheit von Vertragsbefürwortern und -gegnern meinten, Nordirland sei viel zu klein, um wirtschaftlich zu überleben. Beide Seiten gingen optimistisch und naiv davon aus, daß die im Vertrag vorgesehene Grenzkommission das nordirische Staatsgebiet um gut ein Drittel reduzieren werde. Die meisten Nationalisten hofften, Nordirland werde sich einem wirtschaftlich prosperierenden Süden anschließen. Sobald der Unionismus sich als unrentabel erweise, verlöre er seine Grundlage; die vom britischen Materialismus verblendeten Protestanten würden sich „wieder“ ihrer wahren Zugehörigkeit besinnen.136 Während für die Vertragsgegner, die ungebrochen auf die Rhetorik von 1916 und das britische Feindbild zurückgreifen konnten, das „alien Government“137 in Nordirland nur ein Feind zweiter Klasse war, benötigten die Vertragsbefürworter die „Orange gang“138 dringend als Feindbild. Erst über den Feind in Nordirland konnte sie ungebrochen auf das Herzstück des irischen Nationalismus zugreifen: die anti-britische Rhetorik und das antithetische Weltbild von materiellem England kontra spirituellem Irland. Die vertragsbefürwortende Propaganda konnte so wieder Märtyrergeschichten erzählen und die Oppositionen edel – verschlagen, stark – schwach, leiden – unterdrücken besetzen.139 Als eigentlichen Aggressor, hinter den protestantischen Nordiren, ortete sie England: „No amount of Propaganda can obscure the fact that Britain, and Britain alone, is responsible for the present situation.“140 Mit solcher Propaganda beeindruckte FitzGerald selbst seine direkten republikanischen Gegenspieler, die vertragsablehnenden Propagandisten Childers und Mary MacSwiney.141 Nordirlandrhetorik setzte nationale Emotionen frei, machte die brüchige, kopfgesteuerte, nationale Legitimation der Vertragsbefürworter lebendig. Nordirlandrhetorik war eine Chance, möglichst viele Anhänger, 135 136 137 138 139 140 141
LAFFAN, Partition, S. 76 f.; FOSTER, Modern Ireland, S. 530; TOWNSHEND, Political Violence, S. 343. YOUNG IRELAND, 17. Juni 1922, S. 5 f.; LAFFAN, Partition, S. 85–8, S. 99–105. CATHOLIC BULLETIN, Juli 1922, S. 425; vgl. PLAIN PEOPLE, 4. Juni 1922, S. 1. YOUNG IRELAND, 25. November 1922, S. 2. FREE STATE, 10. Juni 1922, S. 1; YOUNG IRELAND, 10. Juni 1922, S. 4; 25. November 1922, S. 2. FREE STATE, 3. Juni 1922, S. 5. DAIL DEBATES, Erskine Childers, 18. Mai 1922, S. 442 f.; Mary MacSwiney, 18. Mai 1922, S. 444.
II. „The Republic“ und Realpolitik
169
vielleicht sogar die Republikaner, gegen den gemeinsamen Feind zu einen. Deshalb produzierte die vertragsbefürwortende Propaganda und Presse mehr und im Ton oft aggressivere Pamphlete und Artikel als die republikanischen Propagandisten der Poblacht.142 Nordirlandpropaganda war den Vertragsbefürwortern so wichtig, daß sie nicht FitzGerald, sondern Collins persönlich koordinierte. Schon im Februar organisierte er eine anti-nordirische Pressekampage. Nordirlandpolitik und damit auch Nordirlandpropaganda waren Chefsache.143 Diese Nordirlandpolitik beschränkte sich nicht nur auf Rhetorik. Die Provisorische Regierung erkannte den nordirischen Staat nicht an und unterstützte, wo es ging, eine Politik des passiven Widerstandes in Nordirland – auch finanziell. So zahlte sie bis November 1922 die Gehälter der katholischen Lehrer in Nordirland.144 Gerade Collins verfolgte eine aggressive Nordirlandpolitik, die vertragsbefürwortendes und vertragsablehnendes Militär zeitweise tatsächlich gegen den gemeinsamen Feind einte. Vertragsbefürwortende und vertragsablehnende Truppen setzten einen Boykott gegen Waren aus Belfast gemeinsam durch. Als sich die Provisorische Regierung gegenüber Nordirland zeitweise offiziell verpflichtete, den Boykott abzubrechen, tolerierte Collins, daß die vertragsablehnende IRA weitermachte wie bisher: Sie verbrannte Waren aus Nordirland und trieb Geldstrafen von nicht kooperierenden Händlern ein.145 Die Regierung duldete in diesem Fall, daß ihre innenpolitischen Feinde das staatliche Gewaltmonopol durchbrachen. Collins aggressive Nordirlandpolitik ging noch weit darüber hinaus. Auch Bretherton, der zynische Irlandkommentator der Morning Post, hätte sich kaum eine abenteuerlichere Verschwörungstheorie ausdenken können: Ohne daß der Rest der Provisorischen Regierung davon erfuhr, kooperierte Collins mit der vertragsablehnenden IRA, organisierte Geiselnahmen durch die nordirische IRA. Gemeinsam mit führenden Vertragsgegnern bewaffnete er die IRA in Nordirland, lenkte dazu einen Teil der britischen Waffenlieferungen für die vertragsbefürwortenden Truppen nach Nordirland um. Weil die nordirische Polizei bei der IRA keine neuen britischen Waffen finden durfte, lieferte Collins die britischen Waffen an die vertragsablehnen142
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So auch: GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 103 f.; Für eine besonders aggressive Nordirlandrhetorik exemplarisch die Artikel von Sean MacEachain, in: YOUNG IRELAND, 25. November 1922, S. 2; 23. Dezember 1922, S. 4. NAI, PG Minutes, G1/7, 17. Februar 1922; NAI, D/T, S-1882, Memorandum Michael McDunphy, 19. Mai 1936. LAFFAN, Partition, S. 96; LITTON, Civil War, S. 51 f., 54. HOPKINSON, Green, S. 68, 82 f.
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C. Eskalation: Bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges
den Truppen in Munster. Die schickten dafür ihre unregistrierten Gewehre nach Nordirland. Ab März führten vertragsbefürwortende und vertragsablehnende Truppen an der Grenze zu Nordirland gemeinsame Übungen und Überfälle durch. Collins und der vertragsablehnende General Liam Lynch planten eine gemeinsame Offensive gegen Nordirland.146 Collins Nordirlandstrategie war zweigleisig angelegt. Er setzte auf Konfrontation und Ausgleich zugleich und probierte aus, welcher Weg erfolgreicher sein würde. Seine offizielle Nordirlandpolitik lief dabei seiner geheimen und aggressiven Nordirlandpolitik scheinbar direkt entgegen. Im Januar und erneut im März 1922 suchte er einen Ausgleich mit Nordirlands Premier James Craig. Collins versprach, den Boykott nordirischer Waren zu beenden. Dafür verpflichtete sich Craig, den vertriebenen Katholiken ihre Arbeitsplätze und Häuser zurückzugeben. Diese vielleicht erfolgversprechendere Ausgleichs- und Versöhnungspolitik war jedoch ein propagandistisches Risiko, vor allem, weil Craig seinen Teil der Vereinbarung genauso brach wie die Provisorische Regierung den ihren.147 Das Ende des Boykotts erfreute zwar viele irische Unternehmer, doch untergrub es die brüchige nationale Legitimität der Vertragsbefürworter, die auf den Feind in Nordirland angewiesen waren. So wertete die republikanische Propaganda die anhaltenden Katholikenverfolgungen als Versagen des Vertrages. Doch weil die Republikaner selbst keine alternative Nordirlandpolitik hatten, war es für sie schwer, den Vertragsbefürwortern die Schuld an der irischen Teilung zuzuschieben. Weil es den vertragsablehnenden Propagandisten also an guten Argumenten fehlte, beschränkten sie sich weitgehend auf Standardformeln. Sie titulierten freistaatliches Parlament und freistaatliche Regierung mit Schlagworten wie „Partition Parliament“ oder „Partition ‚Government‘ “148 und verglichen immer wieder freistaatliche und nordirische Zwangsmaßnahmen miteinander.149 Die vertragsbefürwortenden Propagagandisten argumentierten identisch, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen: Sie setzten die Methoden von 146
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HOPKINSON, Green, S. 80, 83–9, 98; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 250–2; LITTON, Civil War, S. 49–55; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 144; bereits während der Vertragsverhandlungen rüstete Collins die IRA mit illegalen Waffenimporten auf: VALIULIS, Mulcahy, S. 83, 141. LAFFAN, Partition, 92–4; LITTON, Civil War, S. 49, 52. DAILY BULLETIN, 27. Oktober 1922; UCD, MP, P7/B/238, Leserbrief von Dorothy MacArdle an IRISH TIMES, IRISH INDEPENDENT und FREEMAN’S JOURNAL, 15. November 1922. AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 23. September 1922, S. 2; UCD, RP, P88/286, 10, Flugblatt, ca. Oktober 1923; AN POBLACHT, 28. Februar 1922, S. 6.
II. „The Republic“ und Realpolitik
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Republikanern und „Orangemen“ gleich und beschuldigten die Vertragsgegner: Allein das von der IRA verursachte Chaos, später der Bürgerkrieg, mache eine „unity between Orange and Green“ unmöglich.150 Die Nordirlandrhetorik half den Vertragsbefürwortern also nur teilweise aus der Legitimationskrise. Wieder standen sie vor ihrem alten legitimatorischen Dilemma: Da sie fast alle realpolitischen Handlungsweisen ausschöpften, gefährdeten sie ihre nationale Legitimation. Ihre offizielle friedliche Nordirlandpolitik ließ sich als „antinational“ diskreditieren. Die aggressive „stepping-stone“-Politik mußte Collins nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern auch vor den meisten seiner Kabinettskollegen geheimhalten. Zumindest einige radikale IRA-Aktivisten waren von seiner Politik beeindruckt: Noch kurz vor dem Bürgerkrieg gingen sie davon aus, eine Offensive gegen Nordirland stehe unmittelbar bevor.151 Erst nach Collins Tod im August 1922 begannen die führenden Regierungsmitglieder auch in der Nordirlandfrage mit Realpolitik. Nicht weil sie den Unionismus jetzt als legitime konkurrierende Kultur akzeptierten, sondern weil ihnen die aggressive Politik von Collins ineffizient schien, beendeten sie nach und nach ihre Obstruktionspolitik. Sie setzten nun allein auf die Attraktivität eines wirtschaftlich prosperierenden Südens. Im November 1922 stellten sie die Zahlungen an die katholischen nordirischen Volksschullehrer ein und hörten so damit auf, sich in die Souveränität Nordirlands einzumischen. Parallel zu dieser Politik mäßigten die Propagandabehörden auch ihre offizielle Nordirlandrhetorik, ohne dieses nützliche Thema ganz fallen zu lassen.152 Während die Republikaner auch mit Document No. 2 nicht aus ihrer Handlungskrise herausfanden, blieb die nationale Legitimation der Vertragsbefürworter brüchig: Die Provisorische Regierung konnte „1916“ und „the Republic“ nur schwer besetzen. Die „republikanische“ „steppingstone“-Politik war auf Heimlichkeit angewiesen und eignete sich weder als konstitutionelle Verfassungspolitik noch als aggressive Nordirlandpolitik für Propaganda. Dazu war die republikanische Fassade von vertragsbefürwortender IRA und Dail Eireann leicht zu durchschauen, während den „nationalen“ Eigenschaften des Vertrages das Stigma des Materialismus und
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IRISH INDEPENDENT, 18. Januar 1922, S. 3; 2. Mai 1922, S. 4; YOUNG IRELAND, 25. November 1922, S. 2; DAIL DEBATES, Sean Milroy, 8. Dezember 1922, S. 65; YOUNG IRELAND, 18. November 1922, S. 2. HOPKINSON, Green, S. 98, 102. YOUNG IRELAND, 4. November 1922, S. 1; 11. November 1922, S. 1; FREE STATE, 21. Oktober 1922, S. 1; vgl. GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 106 f.
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C. Eskalation: Bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges
des Verrats an der Republik anhaftete. Die Republikaner belegten anti-englische und anti-nordirische Rhetorik in fast identischem Wortlaut, aber mit wirkungsvollerem Kontext.
III. „MAJORITY RULE“, „LIBERAL RIGHTS“ UND „THE REPUBLIC“ Im folgenden Teilkapitel zeige ich, wie den Vertragsbefürwortern eine überzeugendere Form der nationalen Legitimation gelang: Sie monopolisierten die Werte „majority rule“ und „liberal rights“ und wendeten sie ins Nationale. Ich untersuche, wie IRA und republikanische Politiker auf diesen Anspruch der Freistaatler reagierten und wie ambivalent ihr Verhältnis zu diesen, gegenüber „the Republic“ sekundären Werten war. 1. FREISTAAT: „MAJORITY RULE“ ALS NATIONALER WERT „The sovereign people must rule“: Mit diesem Argument löste die Führung der Vertragsbefürworter ihr legitimatorisches Dilemma.153 „The will of the people“ war schnell das Lieblingsargument ihrer Propaganda, es durfte in keinem Artikel fehlen und wiederholte sich in endlosen Variationen, bis es der Redundanz der republikanischen Rhetorik Konkurrenz machte.154 „Will of the people“ erhob das materielle Interesse und die Kriegsmüdigkeit der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung zu einem abstrakten Prinzip: demokratische Partizipation, „majority rule“. Das war in Irland und in den wichtigsten Ländern der irischen Diaspora, den USA, Großbritannien und Australien, ein allgemein anerkanntes und kaum hinterfragtes Prinzip. Obwohl die irische Vorstellung von „majority rule“ über den amerikanischen und vor allem britischen Parlamentarismus vermittelt war,155 galt „majority rule“ den Freistaatlern nicht als amerikanischer oder gar „britischer“ Wert. Im Gegenteil: Wo sich die „Britishness“ demokratischer Spielregeln aufdrängte, fühlte sich die freistaatliche Propaganda unter Rechtfertigungszwang: „It may sound like a British stupidity to say that no Parlia-
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YOUNG IRELAND, 15. Januar 1922, S. 4. Nur einige wenige von sicher hundert möglichen Beispielen: FREE STATE, 18. März 1922, S. 1; 25. März 1922, S. 4, Artikel von Ernest Blythe; 20. Mai 1922, S. 4; 10. Juni 1922, S. 4; 24. Juni 1922, S. 4. BOYCE, Nineteenth Century, S. 9; 283–5, 289; ders., Nationalism, S. 388; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 165; MACDONAGH, Ambiguity, S. 107.
III. „Majority rule“, „liberal rights“ und „the Republic“
173
ment can get on without an organised opposition, but it is essentially true. . .“156 Wie der Guerillero Charles Stewart Andrews treffend beobachtete, galt Demokratie 1922 in Irland keineswegs als „unumstrittene Göttin“. Termini wie „the democratic processes“ waren, nach Andrews, für die meisten Iren reichlich abstrakte Fremdwörter.157 Weil mit dem partizipatorischen Wert Demokratie wenig Emotionen zu wecken waren, nationalisierten die Propagandisten „majority rule“ und stellten ihn als spezifisch irischen, „antibritischen“ Wert dar. Die Propagandisten deuteten den irischen Nationalismus im Sinne von „majority rule“ um und machten Volkssouveränität zum Kernstück einer neuen nationalen Legitimation. Dabei demokratisierten sie – fast nebenbei – die Definition von „Nation“, verstärkten damit einen Prozeß, durch den Demokratie in den folgenden Jahren und Jahrzehnten auch in Irland eine „unumstrittene Göttin“ wurde. Seit den 1870ern, letztlich seit den 1820ern, war „will of the people“ ein Synonym für Nationalismus. Seit der Katholikenemanzipation hatten die konstitutionellen irischen Nationalisten die parlamentarische Tradition Englands nicht nur instrumentalisiert, sondern zu ihrer eigenen gemacht.158 Abgesehen vom elitären Nationalismus des revolutionären Republikanismus bestand zwischen „majority rule“ auf der einen, „repeal“, Home Rule oder „a republic“ auf der anderen Seite kein Widerspruch. „Government by the consent of the governed“ war einer der beliebtesten Slogans der Sinn Fein-Propaganda vor 1922.159 So verschwammen während des Unabhängigkeitskrieges die Grenzen zwischen autoritär-kollektivistischem und individualistisch-emanzipatorischem Nationalismus.160 Solange die Bevölkerung mehrheitlich hinter Sinn Fein stand, ergänzten sich „the Republic“ und „will of the people“. Erst nach der Vertragsspaltung ließen sich die beiden Konzepte nicht mehr in Einklang bringen. Die Vertragsbefürworter nutzten jetzt die traditionell nationale Lesart von „will of the people“ und spielten ihn gegen die elitäre Republik aus. Das heißt nicht, daß sie das republikanische Weltbild offen in Frage stellten. Aber sie verschoben den Akzent ihrer Argumentation zwischen den beiden Polen „the Republic“ und „will of the people“: 156 157 158 159 160
FREE STATE, 30. September 1922, S. 2. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 218. GARVIN, 1922, S. 22–5, 32–4, 200. Offener Brief von de Valera an Lloyd George, 24. August 1921, in: THE ROUND TABLE, XI, 45, (Dezember 1921), S. 43; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 140. Zur Typologie von autoritärem und emanzipatorischem Nationalismus: GREENFIELD, Five Roads, S. 8–12; vgl. HOBSBAWM, Reflections, S. 389.
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Sie relativierten die Vorstellung, die Nation sei präexistent, spirituell und nichts als die Summe ihrer Märtyrer, zu Gunsten einer Definition von Nation als Summe ihrer Staatsbürger.161 Die vertragsbefürwortenden Propagagandisten werteten die Gegenwart gegenüber Vergangenheit und Zukunft auf. Was Griffith die „living nation“162 nannte, verband nationale und demokratische Legitimation und setzte sie in eins. Gerade weil die Propagandisten das Martyrium relativierten, sicherten sie ihre Argumentation mit der Dignität selektiver Märtyrerzitate von Wolf Tone bis zu Pearse ab. So zitierten Free State und United Irishman „the Teaching of Pearse“ mit: „That the People are the Nation“.163 Dieses Argument verbanden die Propagandisten mit einer historischen Perspektive: Statt auf die diskreditierte Rhetorik der Home Rule-Bewegung zurückzugreifen, erfanden sie eine eigene republikanisch-demokratische Tradition. Dazu definierten sie den irischen Freiheitskampf um: zu einem „siebenhundertjährigen Ringen“ um Irlands Recht auf demokratische Selbstbestimmung.164 Diese demokratisch-republikanische Traditionsbildung war genauso artifiziell wie das republikanische Geschichtsgesetz; denn sie verwischte die Unterschiede zwischen der demokratischen und der republikanischen Tradition des irischen Nationalismus. Es ist schwer zu beurteilen, wie viele Vertragsbefürworter vor, während oder nach dem Bürgerkrieg zu überzeugten Demokraten wurden.165 Die These, der echte Republikanismus sei schon immer demokratisch gewesen, war ein sehr elastischer Umgang mit der Vergangenheit, wenn nicht eine bewußte Lüge. Ob im neunzehnten Jahrhundert oder ob 1916: Republikaner verstanden sich als tugendhafte nationale Elite, hielten Gewalt für legitim und sahen ihre Politik meist als Alternative zu dem „korrupten“, auf dem „will of the people“ basierenden konstitutionellen Massennationalismus. Pluralistisch war dabei weder der elitäre Republikanismus, noch der konstitutionelle Massennationalismus; denn beide definierten „Nation“ über den äußeren Feind, verschoben und vertuschten innerirische Differenzen.166
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Stark typisierend: GARVIN, 1922, S. 143–6. DEBATE ON TREATY, Griffith, 7. Januar 1922, S. 338. FREE STATE, 20. Mai 1922, S. 3; UNITED IRISHMAN, 7. April 1923, S. 4. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, Box 2/3, Collins, Arguments for the Treaty, S. 20; FREE STATE, 25. März 1922, S. 4, Artikel von Ernest Blythe; UCD, FGP, P80/298, official statement, ca. 11. Juli 1923. REGAN, Reaction, S. 551 f.; GARVIN, 1922, S. 205. Zur begrifflichen und historischen Trennung von Demokratie und Republikanismus im irischen Kontext: GARVIN, 1922, S. 8–18.
III. „Majority rule“, „liberal rights“ und „the Republic“
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Wenn einige Historiker den Bürgerkrieg als Kampf um die irische Demokratie stilisieren, ist dies zwar nicht falsch, greift aber zu kurz, übernimmt den Standpunkt der vertragsbefürwortenden Propaganda.167 Die Vertragsbefürworter selbst hatten als Veteranen des Osteraufstandes und des Unabhängigkeitskrieges ein deutlich elitäres Selbstverständnis. Eines von vielen Beispielen dafür war Beaslai, als Freistaatszensor und Propagandist hauptberuflicher Verteidiger der „majority rule“-Rhetorik. Schon als er 1921 die „national unity“ auf dem Ard Fheis beschrieb, schloß sein Verständnis von „democracy in its fullest sense“ konkurrierende soziale oder nationale Interessen aus. Noch elitärer definierte er 1918 in seiner Untergrundarmeezeitung An tOglach die Aufgaben der IRA: „Volunteers are not politicians, they were not created for the purposes of parades, demonstrations or political activities; they follow no political leader as such, their allegiance is to the Irish Nation.“168 2. REPUBLIKANER: POLITIKER, MILITÄRS UND „MAJORITY RULE“ Während Beaslai „Irish Nation“ zumindest ab 1922 im Sinne von „the Irish People“ verstand, bedeutete es für die meisten IRA-Aktivisten, für die er schrieb, „the Irish Republic“. Diese unveräußerbare Republik stand aus vertragsablehnender Sicht außerhalb der Zuständigkeit von „majority rule“: „The sovereignty of the people exists and can only exist in the independence of the people and those only can speak in the name of the Souvereign People who defend that independence“169 Die vertragsablehnende Propaganda umging den a posteriori definierten „majority rule“-Vorwurf der Vertragsbefürworter durch ein a priori definiertes „proper understanding of the Irish people [of] their spirits and aspirations.“170 Gerade de Valera verstand sich persönlich als eine mystische Mitte Irlands mit einem unmittelbaren Zugriff auf die „volonté générale“ der Bevölkerung: „. . . whenever I wanted to know what the Irish people wanted I had only to examine my own heart and it told me straight off what the Irish people wanted.“171
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So tendenziell auch: RICHARD DAVIS, Griffith, S. 39–44; GARVIN, 1922, etwa: S. 2, 18, 30 f., 53, 62, 127. AN TOGLACH, 15. August 1918, S. 1; NAI, Sinn Fein, 1094/1/18, Impressions of Ard-Fheis; TOWNSHEND, British Campaign, S. 329; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 152–4. AN POBLACHT, 29. März 1922, S. 4; FLK, DeV, 1315/1, Bertold O’Maoileiagh an de Valera, 25. März 1922. NEW IRELAND, 22. April 1922, S. 309, Interview mit de Valera. DEBATE ON TREATY, de Valera, 6. Januar 1922; S. 274.
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Weniger gestützt auf de Valeras „oracular heart“172 als auf das historische Wissen des republikanischen Geschichtsgesetzes, war die überwiegende Mehrheit der Vertragsgegner und vor allem die IRA überzeugt: die Bevölkerung habe „no right to go wrong“,173 kein Recht auf ihr „national birthright“ zu verzichten und England freiwillig einen Rechtsanspruch auf Irland zuzubilligen.174 Daß die bestochene und willensschwache Bevölkerung nur selten auf der Seite des wahren Nationalismus gestanden hatte, war für sie eine historische Gesetzmäßigkeit, „from the days when a minority supported Owen Roe O’Neill175“.176 Zumindest aus Sicht der IRA verlor dieses elitäre Verständnis etwas von dem, durch Tom Garvin gerne attestierten, diktatorischen Zynismus,177 weil sie mit der Erweckungstheorie des republikanischen Geschichtsgesetzes konform lief. Der prominente Guerillero Ernie O’Malley brachte das in seinem bekannten Ausspruch auf den Punkt: „We have never consulted the feelings of the people. If so, we would never have fired a shot. If we gave them a good strong lead, they would follow.“178 Wenn die IRA erst einmal den richtigen Weg eingeschlagen habe, dann werde sich „das Volk“ schon besinnen. So zitierte das Catholic Bulletin den Hungerstreikmärtyrer Terence MacSwiney: „Those who fight for her [Ireland] are always denounced in the beginnings and justified in the end.“179 Nach dieser Logik werde sich das Problem „will of the people“ durch das republikanische Geschichtsgesetz von selbst lösen – wie nach 1916 und 1919.180 Dieser vom Geschichtsgesetz versprochene Automatismus entsprach dabei dem Aktionismus der IRA: Er machte es überflüssig, die „feelings of the public“ näher zu erwägen und sei es nur aus taktischen Gründen, sondern ermutigte zum (militärischen) Handeln. O’Malley rückblickend am Rande der Selbsterkentnis: „Thought was so difficult when there was no way out [. . .] If only we could act. That would clarify thinking.“181
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FREE STATE, 29. April 1922, S. 1. AN POBLACHT, 18. Mai 1922, S. 4. AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 23. September 1922, S. 2; PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2; FLK, DeV, 1452, de Valera an Erzbischof Mannix, 6. November 1922. Owen Roe O’Neill, (1590–1649): irischer Adliger, Feldherr, Gegner Oliver Cromwells. UCD, RP, P88/108, circular press statement, ca. Oktober 1923; FLK, DeV, 1315/1, Bertold O’Maoileiagh an de Valera, 25. März 1922. GARVIN, 1922, S. 43. O’MALLEY, Singing Flame, S. 25. CATHOLIC BULLETIN, Juni 1922, S. 409. FLK, DeV, 1315/1, Bertold O’Maoileiagh an de Valera, 25. März 1922; grundlegend, wenn auch relativ normativ: GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 120 f., 142–4, 149–56. O’MALLEY, Singing Flame, S. 46; vgl. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 221; O’DONOGHUE,
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Professor Eoin MacNeill, Mitbegründer der Gaelic League, der Irish Volunteers und Kultusminister des Freistaats, kommentierte diesen Unwillen zur Reflexion wesentlich bitterer: „The charm of allegiance to a formula is its simplicity. It saves thinking.“182 Und wenn er so mit der Engstirnigkeit der Radikalen haderte, dann erinnerte er sich sicher an deren geistigen Stammvater Pearse, den Mac Neill 1916 vergeblich versucht hatte, am Aufstand zu hindern. Doch Kritik an Pearse war auch für die vertragsbefürwortende Propaganda unsagbar, für die meisten Vertragsbefürworter auch undenkbar. Das galt für Mac Neill noch mehr als für alle anderen: Er verdankte sein politisches Überleben allein der Tatsache, daß Pearse in einem seiner letzten Briefe MacNeill ehrenwerte Motive beschieden und ihm sein Eingreifen gegen den Aufstand verziehen hatte.183 Einige radikale IRA-Aktivisten ignorierten Publicity nicht einfach, sondern veröffentlichten ihre eigenen unpopulären Ansichten. Berühmt-berüchtigt wurde in dieser Hinsicht ein Interview von General Rory O’Connor, später Kommandeur der IRA in den Four Courts. Ende März beantwortete er die Frage eines Reporters des Irish Independent, ob die IRA eine Militärdiktatur plane mit: „You can take it that way if you like.“ Sein Rezept gegen das „majority rule“-Argument der Vertragsbefürworter war, zu verhindern, daß die Bevölkerung ihren freien, seiner Ansicht nach falschen, Willen in einer Wahl äußern würde.184 Rory O’Connor und die Radikalen in der IRA ließen sich längst nicht mehr von der politischen Führung der Republikaner um de Valera kontrollieren. Schon bald nach der Vertragsspaltung bestimmte die IRA das Tempo und die Richtung der vertragsablehnenden Politik.185 Der Vertrag hatte ihre bisher oft nur latente Verachtung für das „word-spinning“ und „spell binding“186 der „political twisters“187 bestätigt. Das Schimpfwort „politician“ wurde nun nicht mehr exklusiv für englische Politiker verwendet, sondern traf zunächst die Vertragsbefürworter, indirekt aber auch die eigene politische Elite.188
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No Other Law, S. 184, auch S. 204; DEASY, Brother against Brother, S. 43; ENGLISH, Inborn Hate, S. 192, 199. FREE STATE, 4. März 1922, S. 4, Artikel von Eoin MacNeill. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 240 f., 243, 246–250, 264 f., 298, 337. IRISH INDEPENDENT, 23. März 1922, S. 5. Das Interview wurde auch in der Provinzpresse veröffentlicht, exemplarisch: CORK EXAMINER, 23. März 1922, S. 5. VALIULIS, Mulcahy, S. 122. AN POBLACHT, 27. April 1922, S. 4; 18. Mai 1922, S. 3. PLAIN PEOPLE, 25. Juni 1922, S. 4. PLAIN PEOPLE, 14. Mai 1922, S. 2; auch gegen republikanische Politiker gerichtet: WOR-
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Die IRA-Radikalen erfanden ihre eigene „Dolchstoßlegende“.189 Sie meinten oder gaben vor, von den korrupten Politikern um den Sieg gebracht worden zu sein, und sie täuschten sich dabei systematisch darüber hinweg, daß die IRA nur deshalb „im Felde ungeschlagen“ geblieben war, weil sie jeder größeren Konfrontation aus dem Weg gegangen war.190 Damit argumentierten sie, ohne es zu wissen, fast identisch wie ihre britischen Gegner: auch führende britische Militärs fühlten sich durch das „palaver“ und die Verschlagenheit ihrer Politiker um den nahen Sieg über die irischen „Terroristen“ gebracht.191 Doch anders als die professionelle britische Armee, folgte die IRA ihren Überzeugungen, nicht ihren Vorgesetzten oder gar ihrer politischen Führung. Ende März sagte sich die vertragsablehnende IRA auf der sogenannten „army convention“ endgültig vom Parlament und vom vertragsbefürwortenden Hauptquartier los. Sie folgte dabei auch organisatorisch dem Muster von 1916, wählte eine IRA-Exekutive, die wie das Military Council von 1916 aus sechzehn Mitgliedern bestand.192 Wie hatte Beaslai nicht schon 1918 das Selbstverständnis der IRA beschrieben? „Volunteers are not politicians, they follow no political leader as such. . ..“193 De Valera und die Propagandisten der Poblacht hatten ein differenzierteres und ambivalenteres Verhältnis zu „majority rule“. Als Politiker versuchten sie sich in der Kunst des „word twisting“ und „spell binding“, bemühten sich, der Erweckung der Bevölkerung mit propagandistischen Methoden nachzuhelfen. Zwar rangierte auch für sie „majority rule“ eindeutig hinter „the Republic“. Dennoch hofften sie den Vertrag mit politischen Methoden, am besten gestützt von der Mehrheit der Bevölkerung, zu verhindern. Die republikanische Propaganda konnte das Thema „majority rule“ deshalb nicht einfach als irrelevant ablehnen.194 Sie mußte sich auf die vertragsbefürwortende Version von „majority rule“ einlassen und diese untergraben. Dabei hatte sie einen schweren Stand.
KER’S REPUBLIC, 1. April 1922, S. 1; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 208, auch S. 201; GARVIN, Nationalist Revoutionaries, S. 151; LONGFORD und O’NEILL, De Valera, S. 187, 207; ENGLISH, inborn hate, S. 192–4; ders., Green on Red, S. 161, 174. 189 Diesen deutschen Terminus verwendet auch GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 143, 190 191 192 193 194
149. CATHOLIC BULLETIN, supplement 1921, S. 5; ebd., Dezember 1922, S. 758; AN POBLACHTWAR NEWS, 21. Februar 1923; VALIULIS, Mulcahy, S. 81 f.; FITZPATRICK, Politics, S. 230 f. MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 646, 596 f.; vgl. ebd., S. 492 f., 585, 602 f., 605, 622, 624, 660. WORKER’S REPUBLIC, 1. April 1922, S. 1; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 224. AN TOGLACH, 15. August 1918, S. 2. FLK, DeV, 1315/1, Bertold O’Maoileiagh an de Valera, 25. März 1922.
III. „Majority rule“, „liberal rights“ und „the Republic“
179
Noch auf dem Ard Fheis im Oktober 1921 hatte de Valera öffentlich erklärt: Solange die grundsätzliche nationale Unabhängigkeit Irlands garantiert sei, sei es absolut legitim, politische Meinungsunterschiede konstitutionell zu lösen. Bis Mitte Januar 1922 hielt de Valera an dieser Rhetorik fest.195 Mit dem Abschied von Document No. 2 und unter dem Druck der radikalen IRA rückte de Valera immer weiter von dieser Position ab. Um die inner-republikanische Einheit nicht zu gefährden, verschob er den Akzent seiner Argumentation von „konstitutionellen Methoden“ immer mehr zum Aspekt „nationale Unabhängigkeit“ – auch wenn das, wie er später zugab oder behauptete, seine eigenen Überzeugungen strapazierte.196 Wie schon bei Document No. 2 erreichte de Valera dabei mit seiner kalkuliert ambivalenten Rhetorik nicht Konsens, sondern lieferte durch seine als inkonsequent darstellbare Haltung seinen politischen Gegnern Argumente.197 Weil die Republikaner sich in der Gegenwart nicht über „majority rule“ legitimieren konnten, suchten sie sich eine demokratische Legitimation in der Vergangenheit. Im gewohnt elastischen Umgang mit der Geschichte behauptete die vertragsablehnende Führung, die Bevölkerung habe bei der Wahl 1918 die Republik endgültig und unumkehrbar ratifiziert.198 Daß das Wahlprogramm Sinn Feins eigentlich vorgesehen hatte, die revolutionäre Republik auf der Friedenskonferenz in Versailles durchzusetzen und dann die Bevölkerung in einem Referendum endgültig über die Staatsform entscheiden zu lassen, vertuschten die republikanischen Propagandisten.199 Die vertragsablehnende Propaganda argumentierte: der gegenwärtige „will of the people“ verstoße nicht nur gegen den legitimen Volkswillen von 1918 und gegen das republikanische Geschichtsgesetz, sondern gegen die Spielregeln von „majority rule“ selbst. Die Republikaner bastelten also nicht nur an der Vergangenheit, sondern auch an der Wahrnehmung der Gegenwart. Sie argumentierten dabei einmal mehr in „Soll“-Zuständen, statt in „Ist“-Zuständen: Die Bevölkerung müsse über den Vertrag „at the point of an English revolver“ abstimmen, ohne die britische Kriegsdrohung aber
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196 197 198 199
IRISH INDEPENDENT, 9. Dezember 1922, S. 5; MAURICE MOYNIHAN, Speeches and Statements of de Valera, 1917–1973. Dublin 1980, hier: S. 74–8, insbes., S. 74, 78; CATHOLIC BULLETIN, Januar 1922, S. 17. FLK, DeV, 273, de Valera an Mary MacSwiney, 9. März 1923. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, Box 2/3, Collins, Arguments for the Treaty, S. 29; NLI, WOB, L.O., P117, Flugblatt, no. 32, ca. Mai 1922. PLAIN PEOPLE, 23. April 1922, S. 4; CATHOLIC BULLETIN, Januar 1923, S. 22; UCD, RP, P88/286, Flugblatt, ca. Oktober 1923. RICHARD DAVIS, Griffith, S. 23, 27.
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gebe es keine Mehrheit für den Vertrag.200 Dieses Argument war kaum zu widerlegen, doch hatte es einen Schönheitsfehler: Auf die britische Kriegsdrohung hatten Republikaner und Vertragsbefürworter keinen Einfluß, was die vertragsbefürwortende Propaganda als „refusal to face facts“ verspottete.201 Auf dem Feld Realpolitik und beim Thema „majority rule“ konnten die Vertragsgegner so nicht mit der Provisorischen Regierung konkurrieren. 3. ANSCHLÄGE DER IRA AUF DIE PRESSE Wenn die Bevölkerung unter britischem Druck gegen ihre als objektiv definierten nationalen Interessen verstieß, konnte das aus republikanischer Perspektive nur einen Grund haben: Die Bevölkerung war durch das erdrükkende Pressemonopol von „drei oder vier Pressemagnaten“202 manipuliert, später durch die Zensur fehlinformiert.203 Gegen dieses Pressemonopol versuchte die vertragsablehnende Propaganda erst gar nicht, eine klassische Pressefreiheitsrhetorik zu besetzen. Wieder argumentierte sie national, erkannte historische Gesetze: Die irische „press of supression“ sei „schon immer“ anti-national gewesen, stelle sich wie 1916 und davor gegen die nationale Bewegung.204 Mit „Irish truth“ kontra „British lies“ griffen die Republikaner ein an der Logik des antithetischen Weltbildes orientiertes Lieblingsargument der revolutionären Propaganda aus dem Unabhängigkeitskrieg wieder auf. Im Kampf gegen den Goliath „britische Lügen“ sei der David „historische irische Wahrheit“ wieder auf seine Untergrundpresse angewiesen, werde totgeschwiegen oder verfolgt.205 Als „men of action“ beteiligten sich die meisten IRA-Aktivisten nicht am „word twisting“ der Politiker. Sie hatten ihre eigenen Argumente gegen „majority rule“ und das Pressemonopol der Vertragsbefürworter. Wie Beaslai 1918 in An tOglach geschrieben hatte: „The volunteer does not talk, but acts.“206 Wie die IRA im Unabhängigkeitskrieg machten die radikalen IRA-
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AN POBLACHT, 4. Mai 1922, S. 4; FLK, DeV, 1907/235–238, Pamphlet „How the treaty was signed“, ca. April 1922. YOUNG IRELAND, 25. Februar 1922, S. 4. NAI, DFA, PG/IFS, Zeitungsausschnitt mit de Valeras Statement, in FREEMAN’S JOURNAL, 17. Februar 1923. IRELAND OVER ALL, 7. April 1922, S. 3. CATHOLIC BULLETIN, Januar 1923, S. 22; O’MALLEY, Singing Flame, S. 40, 140. YOUNG IRELAND, 10. August 1919, S. 1; 6. September 1919, S. 1; IRISH BULLETIN, 16. Dezember 1919, S. 2; FREEMAN’S JOURNAL, 17. Dezember 1919, S. 4. AN TOGLACH, 15. August 1918, S. 1.
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Aktivisten die „anti-nationale“ Presse zur militärischen Zielscheibe, insbesondere wenn sie sich weigerte, offizielle IRA-Proklamationen zu veröffentlichen: So zerstörte die IRA im April 1922 die Druckplatten des Sligo Champion und verbrannte immer wieder britische und nordirische Zeitungen.207 Doch auch in den von der IRA kontrollierten Gebieten, blieben spektakuläre Aktionen die Ausnahme: Etwa die Anschläge von Dinney Laceys radikaler IRA Einheit auf die Produktionsanlagen des Nationalist im Januar und April 1922. Nur wo, wie hier in Clonmel, ein besonders entschlossener IRA Offizier auf eine Redaktion und ein Management traf, das bereit war für seine politischen Überzeugungen notfalls bankrott zu gehen, eskalierten Konflikte.208 In der Regel trafen pragmatischere Journalisten auf moderatere IRA-Aktivisten. Sie einigten sich meist friedlich.209 Viele Blätter schienen auch gar kein Problem damit zu haben, vertragsablehnende Erklärungen abzudrukken. So erhob ein an „national unity“ orientiertes vertragsbefürwortendes Blatt wie der Clare Champion eine faire Darstellung des republikanischen Standpunktes zur Redaktionspolitik: „The CHAMPION is a newspaper; its duty is to publish the opinions of every section of the community, just as it claims for itself the right to advocate the policy which itself believes best for the country.“210 Ob das nun prinzipiell oder pragmatisch motiviert war, der Clare Champion ersparte sich so viel Geld und eine Menge Ärger mit der IRA. Irlandweites Aufsehen erregte die Kampagne der IRA gegen das Freeman’s Journal. Schon während des Unabhängigkeitskrieges war der Free-
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SLIGO CHAMPION, 29. April 1922, S. 4; ROSCOMMON MESSENGER, 27. Mai 1922, S. 5; DAILY MAIL, 7. April 1922, S. 9; Eason’s Private Archive, Newsagent an Charles Eason, 4. Januar 1922; ebd., Newsagent (Wexford) an Charles Eason, 16. Mai 1922; Zu Anschlägen während des Unabhängigkeitskrieges: CULLEN, Eason, S. 207 f., 210; SKIBEREEN EAGLE, 25. Februar 1922, S. 4; HUGH ORAM, The Newspaper Book. A History of Newspapers in Ireland, 1649–1983. Dublin 1983, hier: S. 143; VALIULIS, Mulcahy, S. 120 f.; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 185 f. National Archive of Ireland, Department of Justice (NAI, D/J), H5/200, Schriftwechsel Brendon Long und John Dillon mit diversen Departments der Provisorischen Regierung, Mai, Juni 1922; UCD, MP, P7b/179, Erinnerungen von Tom Ryan, März-August 1963; NATIONALIST, 16. Januar 1922, S. 3; 18. Januar 1922, S. 3; 21. Januar–4. Februar 1922; 17. Mai 1922; vgl. IRISH INDEPENDENT, 20. Januar 1922, S. 4.; FREEMAN’S JOURNAL, 2. Februar 1922, S. 5; HOPKINSON, Green, S. 40 f., 52, 58, 60, 65–67, 74, 89–92. Exemplarisch: CORK EXAMINER, 9. Januar 1922, S. 7; 10. Januar 1922, S. 4 : „We would ask our readers to note that at the present juncture matter may appear from time to time in our columns, which we can neither approve of nor justify. Ed[itor]. C[ork] E[xaminer].“ CLARE CHAMPION, 4. Februar 1922, S. 2.
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man radikaleren Republikanern verhaßt, war wiederholt Opfer von Anschlägen geworden.211 Als „organ which defamed the men of ’98, of ’48, of ’67 and of 1916“ war der Freeman für die Republikaner das verkommenste aller anti-nationalen Blätter.212 Am 5. Januar 1922, noch während der Vertragsdebatte, sprach der Freeman de Valera jegliche nationale Kompetenz ab und spielte in einem Leitartikel zynisch auf de Valeras spanischen Vater an: „he [de Valera] has not the instincts of an Irishman in his blood.“213 Die intransigenten Politiker Sean Etchingham und Mary MacSwiney forderten noch am selben Tag, den Freeman Reporter von den Debatten Dail Eireanns auszuschließen.214 Die IRA begann eine militärische Kampagne gegen den Freeman. Radikale IRA-Aktivisten entführten Anfang Februar und erneut im März einen Freeman-Journalisten, um ihn zu verhören und einzuschüchtern.215 Im Dubliner Innenministerium häuften sich die Briefe schockierter Kioskbesitzer, die sich „all sorts of threats [. . .] over the FREEMAN“ anhören mußten.216 In Dublin überfiel die IRA Lkws, die das Freeman’s Journal auslieferten.217 Ab März stoppte die IRA fast täglich alle Züge am Verkehrsknotenpunkt Limerick Junction. Dabei beschlagnahmten und verbrannten sie im Zuge des Belfast-Boykotts nicht nur Waren und Zeitungen aus Nordirland, sondern auch das Freeman’s Journal. Der Freeman konnte so in Munster nur noch in Ausnahmefällen erscheinen.218 Doch auch wenn sich das Management des Freeman, durch das Nebeneinander von republikanischem Dail Eireann und Provisorischer Regierung verwirrt, vorsorglich an mehrere verschiedene Militär- und Regierungsstellen wandte: Die Führung der Vertragsbefürworter war in dem von der IRA kontrollierten Munster machtlos.219
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CULLEN, Eason, S. 207 f., 210. UCD, FGP, P80/311, Ernie O’Malley an Patrick Hooper, editor FREEMAN’S JOURNAL, 24. August 1922. Dieser Brief wurde veröffentlicht in: AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 23. September 1922, S. 2. FREEMAN’S JOURNAL, 5. Januar 1922, S. 4. DEBATE ON TREATY: Sean Etchingham, Mary MacSwiney, 5. Januar 1922, S. 262–4. FREEMAN’S JOURNAL, 2. Februar 1922, S. 5; 10. Februar 1922, S. 6; 19. März 1922, S. 5; 29. März 1922, S. 5; 19. Dezember.1924, S. 5. NAI, D/J, H5/55, hier: Kopie eines Briefes aus Mulranny, County Mayo, an „The Freeman’s Journal Ltd.“, 1. Mai 1922; CULLEN, Eason’s, S. 210. NAI, D/J, H5/55, Berichte der Dublin Metropolitan Police, ca. 4. Mai 1922; 5. Mai 1922. NAI, D/J, H5/55, Mr. MacDonnell an Collins, 15. Mai 1922; TCD, CP, 7816, Childers Diary, 15. Juni 1922. NAI, D/J, H5/55; MacDonnell an Eamon Duggan, 23. April 1922.
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Ende März erreichte die republikanische Kampagne gegen das Freeman’s Journal ihren Höhepunkt. Am 30. März 1922 drangen zwischen dreißig und fünfzig bewaffnete Männer in das Verlagsgebäude des Freeman ein. Nachdem sie den Mitarbeitern ermöglicht hatten, ihren persönlichen Besitz in Sicherheit zu bringen und sogar mitgeholfen hatten, Möbel auf die Straße zu tragen, zerstörten die „höflichen“ Aktivisten die Druckanlagen mit Vorschlaghämmern und setzten das Gebäude in Brand. Der Freeman erschien darauf für drei Wochen nur als Notausgabe.220 Kurz nachdem die IRA gegenüber dem Freeman ihre Macht bewiesen hatte, versuchte sie im April, in Dublin, Limerick und in Clonmel Vorzensur durchzusetzen. Diese Aktionen waren jedoch nicht zentral koordiniert. Während etwa Lacey in Clonmel den Nationalist faktisch übernehmen wollte, hatte die Dubliner IRA bescheidenere Ziele. Sie wollte nur Artikel über die IRA zensieren. Doch als die Presse diese Anweisung ignorierte, unternahm die IRA außer in Clonmel nichts.221 Um die Presse nachhaltig einzuschüchtern, war das Vorgehen der IRA nicht konsequent genug. Gewaltsame Übergriffe beruhten auf dem Gutdünken des örtlichen Offiziers, nicht auf einer koordinierten Strategie. Gewalt, das wirkungsvollste Mittel der IRA, blieb damit die Ausnahme. Der IRA gelang es nicht einmal, die Blätter, die sie überfiel, finanziell zu ruinieren. Im Falle des Freeman’s Journal unterstützte die Provisorische Regierung nicht nur die arbeitslosen Angestellten, sondern zahlte an seinen Verbündeten auch ein stattliche Entschädigung.222 Die IRA verübte nicht nur Anschläge auf die Presse. Sie störte vertragsbefürwortende Veranstaltungen, beschlagnahmte privates Eigentum, finanzierte sich über Banküberfälle und Zwangsspenden. Allein zwischen 23. März und 19. April 1922 überfiel die IRA 331 Postämter und vom 1. März bis 22. April 1922 319 mal die Züge der Great Southern and Western Railways. In großen Teilen Irlands verhinderte die IRA ein Funktionieren der vertragsbefürwortenden Regierung. Weil sie selbst nicht konsequent die Macht übernahm, herrschte in diesen Gebieten Anarchie.223
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IRISH INDEPENDENT, 30. März 1922, S. 5; 31. März 1922, S. 4. FREEMAN’S JOURNAL, 8. April 1922, S. 3; Für Limerick: IRISH INDEPENDENT, 29. April 1922, S. 7; VOICE OF LABOUR, 15. April 1922, S. 4. TCD, CP, 7816, Childers Diary, 15. Juni 1922; NAI, DE Minutes, DE 1/4, 31. März 1922, 10. April 1922; NAI, D/J, H5/55: Sekretär des Innenministers an Arbeitsminister, 10. Mai 1922; Arbeitsminister an Eamon Duggan, 12. Mai 1922. HOPKINSON, Green, S. 40 f., 58, 60, 65 f., 69, 74, 88–90; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 171; NEESON, Civil War, S. 97–100.
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Doch ausgerechnet dieses realpolitische Desaster half der Provisorischen Regierung, ihr legitimatorisches Dilemma zu lösen. Gerade die Übergriffe auf die Presse schlugen massiv auf die Ebene des Legitimationskampfes durch: sie delegitimierten die Republikaner auf dem demokratischen und liberalen Feld, stützten die „will of the people“-Rhetorik der Vertragsbefürworter und verhalfen der Provisorischen Regierung zu einem Stück nationaler Legitimität. Wie schon angedeutet, verstand die Presse die Sprache der Gewalt nicht so, wie es sich die radikalen IRA-Aktivisten erhofften. Das galt ganz besonders für die Blätter, die Opfer von IRA-Gewalt geworden waren: Der Nationalist, der Sligo Champion und das Freeman’s Journal blieben dezidierte vertragsbefürwortende Zeitungen. Statt zu schweigen und zu gehorchen, erzählte die Presse ihre eigene Geschichte über die Anschläge der IRA, eine Geschichte vom Kampf um liberale und nationale Freiheitsrechte. Jede Provinzzeitung registrierte den Anschlag auf das Freeman’s Journal und fast jede Zeitung widmete dem Thema einen Leitartikel, der die IRA verurteilte.224 Die Dubliner Tagespresse machte im April 1922 Presse- und Redefreiheit zum Dauerthema ihrer Leitartikel und Berichte.225 Die Presse griff dabei auf eine nicht weiter reflektierte „liberal rights“-Rhetorik zurück, stellte Presse- und Redefreiheit als universales Menschen- und Bürgerrecht dar. Pressefreiheit sei „a sacred thing“226, „a fundamental principle of the constitutional methods“227, bewahre das Land vor einer „slavery of the worst character.“228 Nachdem die IRA die Maschinen des Freeman zerstört hatte, verschob sich die Argumentation der Presse zunehmend von „liberal rights“ Richtung „law and order“: Ab Mitte April galten Übergriffe auf die Presse nurmehr als eines von vielen Beispielen für das zunehmende Chaos in Irland: „They [the people of Ireland] want ordered and settled Government. They desire freedom for the people. They claim the right of public meeting, of free speech, of a free press and protection of life and property.“229 Die
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U. a.: NATIONALIST, 1 April 1922, S. 5; CORK EXAMINER, 3. April 1922, S. 4; DROGHEDA INDEPENDENT, 1. April 1922, S. 2; MUNSTER NEWS, 1. April 1922, S. 4. U.a.: IRISH INDEPENDENT, 21. Januar 1922, S. 6; 30. März 1922, S. 6; 31. März 1922, S. 4; 3. April 1922, S. 4; 4. April 1922, S. 4; 7. April 1922, S. 4; 20. April 1922, S. 4; 29. April 1922, S. 7. FREEMAN’S JOURNAL, 22. April 1922, secound section, S. 19. CORK EXAMINER, 3. April 1922, S. 4. IRISH INDEPENDENT, 4. April 1922, S. 4. MAYO NEWS, 22. April 1922, S. 2.
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Presse betonte jetzt zunehmend soziale und wirtschaftliche Folgen der republikanischen Aktionen – etwa die ansteigende Arbeitslosigkeit.230 Neben der Reaktion der Presse zeigten auch Protestresolutionen von zahlreichen lokalen Selbstverwaltungskörperschaften, nationalen Wirtschaftsverbänden und der irischen Arbeiterbewegung, wie unpopulär die Anschläge waren.231 Kurz nach dem Anschlag auf den Freeman, am symbolträchtigen siebten Jahrestag des Osteraufstandes, organisierten Labour Party und ITGWU einen Generalstreik „against militarism“. Ein letztes Mal probte die Arbeiterbewegung dabei das Mittel des syndikalistischen Umsturzes, und wieder geschah es im nationalen Kontext.232 So unterstützt von der artikulierten Öffentlichkeit und Tagespresse, konnte die Provisorische Regierung das Feld „liberal rights“ konkurrenzlos alleine besetzen. Sie präsentierte sich als Verteidigerin der Pressefreiheit und der arbeitslosen Angestellten des Freeman.233 Damit der Freeman-Fall noch mehr Publicity bekam, gab die Provisorische Regierung die Bitte des Freeman um Entschädigung formal an ihre republikanische Fassade, das theoretisch noch revolutionäre Parlament Dail Eireann, ab. So konnten sie die Republikaner direkt mit einem Thema konfrontieren, bei dem die Vertragsgegner propagandistisch nichts zu gewinnen hatten.234 Die republikanische Untergrundpropaganda konnte jetzt gegen freistaatliche Verfolgung und Zensur nicht mehr mit „Liberty of the Press“235 oder Chancengleichheit argumentieren. Und wenn sie es doch versuchte, ließ sie sich bis weit nach dem Bürgerkrieg leicht lächerlich machen: „The Irregulars have broken up and ruined scores of newspaper offices, and now we have one of the propagandists claiming a right to propound the ‚republican point of view‘.“236 Wichtiger als die kaum weiter reflektierte liberale Argumentation war: Wie schon bei „majority rule“ luden vertragsbefürwortende Propaganda und Tagespresse die britisch vermittelte Pressefreiheit mit nationaler Bedeu-
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FREEMAN’S JOURNAL, 7. April 1922, S. 4; SLIGO CHAMPION, 6. Mai 1922, S. 8; IRISH INDEPENDENT, 31. März 1922, S. 4; 29. April 1922, S. 7; VOICE OF LABOUR, 15. April 1922, S. 1. IRISH TIMES, 26. April 1922, S. 4; IRISH INDEPENDENT, 20. April 1922, S. 4; CORK EXAMINER, 7. April 1922, S. 7; SLIGO CHAMPION, 29. April 1922, S. 5; ROSCOMMON MESSENGER, 29. April 1922, S. 5; IRISH HOMESTEAD, 29. April 1922, S. 267; VOICE OF LABOUR, 15. April 1922, S. 4; 22. April 1922, S. 4; 29. April 1922, S. 4; 13. Mai 1922, S. 4. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, 148; MITCHELL, Labour, S. 156 f.; RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism, S. 63. Z.B. die Anzeige in: EVENING HERALD, 1. April 1922, S. 5. NAI, PG Minutes, G1/2, 3. April 1922; DAIL DEBATES, 27. April 1922, S. 320–23. IRISH INDEPENDENT, 17. August 1922, S. 11, Leserbrief von Patrick Little. TRUTH-WAR ISSUE, 22. August 1922, S. 2.
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tung auf. Erst bezogen auf den Wert erster Ordnung, die nationale Frage, erhielt ein Freiheitsrecht wie Pressefreiheit seine legitimatorische Durchschlagskraft und half so der freistaatlichen Propaganda aus der Legitimationskrise. Gegen die Presseanschläge der IRA nutzten die Vertragsbefürworter dieselben historischen und anti-britischen Erklärungsmuster, mit denen die republikanischen Politiker gegen das Pressemonopol der Vertragsbefürworter argumentierten. So erhielt die vertragsbefürwortende Propaganda indirekt wieder Zugriff auf die traditionell wirkungsvollste Rhetorik des irischen Nationalismus: das britische Feindbild. Was lag näher, als den Terror der IRA mit dem britischen Terror der letzten Jahre beziehungsweise Jahrhunderte zu vergleichen? Auch für die freistaatlichen Ex-Revolutionäre zeichnete sich Geschichte immer noch durch Kontinuität, nicht durch Wandel aus: Die IRA sei „like Cromwell“237, die „Castle gang“238, vervollständige „the work which the British had left unfinished.“239 Auf diese „Black and Tans of Suffolk Street“240 übertrug die vertragsbefürwortende Propaganda die bekannten Muster des antithetischen Weltbildes und erzählte erneut die traditionelle Geschichte vom Leiden des spirituellen Irlands unter dem gewalttätigen Unterdrücker. Vor dem Hintergrund dieser konkreten Bedrohung griff auch die „will of the people“-Rhetorik weit besser als zuvor. Sie war jetzt mehr als nur geadelte kollektive Kriegsmüdigkeit, sie gewann, bedroht durch einen konkreten „britischen“ Feind mit einem „cynical disregard for the popular will“241, emotionale Qualität. „Pressefreiheit“ war ein Argument, das der vertragsbefürwortenden Propaganda und der Dubliner Tagespresse gerade recht kam. Es ließ sich nicht nur national deuten, es entsprach auch dem unmittelbaren Interesse der Blätter, nämlich ungestört ihrer Arbeit nachzugehen. Über Pressefreiheitsrhetorik stilisierten sich der Nationalist und vor allem der Freeman in dutzenden Artikeln als Märtyrer:„The paper that fought for Irish Liberty so long, will not be silenced“.242 So konnte der Freeman verlorenes Prestige
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DUNDALK DEMOCRAT, 25. März 1922, S. 4. SLIGO CHAMPION, 29. April 1922, S. 4. IRISH INDEPENDENT, 22. April 1922, S. 6. FREEMAN’S JOURNAL, 30. März 1922, S. 1. In der Suffolk Street 23 lag die republikanische Propagandazentrale. FREEMAN’S JOURNAL, 22. April 1922, „second section“, S. 19. FREEMAN’S JOURNAL, 30. März 1922, S. 1; vgl. ebd., 1. April 1922, S. 2; 3. April 1922, S. 7; S. auch: ebd., 22. April 1922, „second section“, S. 19; NATIONALIST, 17. Mai 1922, S. 2.
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und damit verlorene Auflage zurückgewinnen. Die Voice of Labour, das einzige Blatt, das vom allgemeinen Pressefreiheitskanon abwich, kommentierte das sarkastisch: But in the IRA was there no man of sense to speak out against the supreme foly of the smashing of the „Freeman’s Journal“? The poor old „Freeman’s Journal“ exercised no political influence on Ireland, was suffering from an attenuated circulation, and financially seemed to be in the deepest of deep water.243
Doch wo sich das Argument „Pressefreiheit“ nicht zu Gunsten der irischen Presse instrumentalisieren ließ, da war sie kein so „heiliges Ding“ mehr. Pressefreiheit war ein relativer Wert, der auch bei Freistaatsführung und Dubliner Presse hinter der Priorität der nationalen Frage zurückstand. Keine Sympathien hatte die Tagespresse und Provinzpresse für die republikanischen Propagandablätter, die hoffnungslos unterlegen gegen das Pressemonopol der Vertragsbefürworter ankämpften.244 Genausowenig verteidigten sie die nordirische Presse, wenn sie im Rahmen des Belfast Boykotts verfolgt wurde.245 Bezeichnend für die Indifferenz gegenüber dem liberalen, im Gegensatz zum nationalen, Wert „Pressefreiheit“ war die Reaktion der irischen Presse, als die IRA Anfang Januar 1922 den britischen Journalisten A.B. Kay entführte und ihn mit einem Prozeß vor einem selbsternannten Kriegsgericht bedrohte.246 Als die britische Pressedelegation in Dail Eireann ihre irischen Kollegen daraufhin aufforderte, einen Protestbrief zu unterschreiben, reagierten diese indifferent bis feindlich. Der Irish Independent argumentierte in seiner folgenden Ausgabe mit der für ihn so bezeichnenden nationalen Stammtischlogik: Can we be blamed if we who had seen our own colleagues carried off by English forces and our offices invaded by men wearing England’s uniform at the dead of the night to bully and threaten Irish journalists, pointed out that our English colleagues had made no protest against these things. Even in the wildest flights of fancy we could not imagine the reporters in the Gallery walking out of the British House of Commons because an Irish journalist had been taken to Dublin Castle. And so we, the mere Irish, did not sign.247
243 244 245 246 247
VOICE OF LABOUR, 15. April 1922, S. 4; vgl. DAIL DEBATES, Sean Etchingham, 27. April 1922, S. 321 Eine Ausnahme: WATERFORD NEWS, 5. Mai 1922, S. 5. DONEGAL VINDICATOR, 17. Februar 1922, S. 3; 2. Juni 1922, S. 3; vgl. WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 185 f.; CULLEN, Easons, S. 210. LANKFORD, Hope, S. 228 f.; CORK EXAMINER, 6. Januar 1922, S. 5–7. IRISH INDEPENDENT, 6. Januar 1922, S. 4; vgl. auch MAYO NEWS, 1. Juli 1922, S. 2.
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C. Eskalation: Bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges
Hinter dem nationalen „wie Du mir, so ich Dir“, mußte der liberale Wert Pressefreiheit zurückstehen. Folgt man Siobhan Lankford und ihrem Sinn für kleine Anekdoten, so nahm die Geschichte für Kay übrigens dann doch ein gutes Ende: Auf Befehl von Collins brachten ihn einige vertragsbefürwortende Aktivisten zurück nach Dublin – nicht ohne sich mit ihrem Schützling auf der Rückbank des Autos ordentlich zu betrinken. Kay war bald sichtlich erleichtert und freute sich nun über die „bloody fine story“, die er zu verkaufen hatte.248 Auch die vertragsbefürwortende Führung instrumentalisierte „Pressefreiheit“ zu ihren Gunsten, ohne weiter über diesen offenbar selbstverständlichen, universellen Wert nachzudenken. Als die Verfassungskommission konkurrierende Entwürfe beriet, dominierte einmal mehr die nationale Frage. Die Kommission diskutierte wochenlang über den konstitutionellen Status Irlands und über die Rolle des britischen Königs und seiner Repräsentanten. „Liberal rights“ wie Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit akzeptierte die Kommission dagegen ohne nennenswerte Diskussionen.249 Das in die Verfassung aufzunehmen, galt als Selbstverständlichkeit, über die man nicht weiter zu reden brauchte. Wie ich noch zeigen werde, konnte die Provisorische Regierung zugunsten der primären, also der Vertragsfrage, massiv gegen liberale Rechte wie Presse-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit verstoßen. Für die republikanischen Politiker war der Terror der IRA ein propagandistisches Desaster. Intern kritisierten sie die Übergriffe der IRA – nicht wegen abstrakter Prinzipien wie „Presse-“ oder „Meinungsfreiheit“ – sondern, weil sie unpopulär und damit taktisch unklug waren.250 Doch nach außen distanzierten sich die meisten Politiker und die offizielle Propaganda der Poblacht nicht von den Übergriffen der IRA. Die Poblacht räumte der IRA in den Wochen nach dem Anschlag sogar eine eigene Seite für „Army News“ ein. Dort rechtfertigte die IRA den Anschlag wortkarg als gerechte Strafe für die „statements made therein calculated to cause disaffection and indiscipline in the ranks of the IRA.“251 Wie weit der Anschlag auch die Politik des politischen Republikanismus war, blieb dabei der Phantasie der Leser überlassen. Catholic Bulletin und Poblacht agitierten zwar weiter gegen die „anti-nationale“ Presse, zum Thema IRA-Terror und
248 249 250 251
LANKFORD, Hope, S. 229 f. NAI, D/T, CoCo, „O“; siehe auch, NAI, PG Minutes, G1/2, 10. April 1922. BRENNAN, Allegiance, S. 338; VOICE oF LABOUR, 15. April 1922, S. 1; 13. Mai 1922, S. 4; FREEMAN’S JOURNAL, 1. April 1922, S. 2. AN POBLACHT, 5. April 1922, S. 5, „Army News“.
III. „Majority rule“, „liberal rights“ und „the Republic“
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insbesondere Freeman’s Journal aber schwiegen sie, und das war alles andere als überzeugend.252 De Valera selbst hatte noch im Januar 1922 öffentlich abgelehnt, den Freeman für seine zynischen Ausfälle zu bestrafen.253 Jetzt drückte er sich, so gut er konnte, vor einer klaren Aussage zu den zahlreichen Übergriffen der IRA. So verteidigte er die noblen Motive der IRA, stritt aber eine persönliche Verantwortung ab, weil die IRA eine unabhängige Organisation sei.254 De Valera und die meisten Politiker versuchten so, die innere Einheit des vertragsablehnenden Spektrums nach außen zu erhalten. Nachdem die „national unity“ kollabiert war, versuchte er, wenigstens „republican unity“ zu erhalten. Dafür nahm er, wie die meisten anderen republikanischen Politiker, widerwillig hin, daß einige radikale IRA-Aktivisten die demokratische und liberale Legitimation des gesamten vertragsablehnenden Lagers endgültig demontierten.255 Gleichzeitig bemühte sich die politische Führung, den Schaden zu begrenzen. Führende vertragsbefürwortende und vertragsablehnende Politiker der zerfallenden Sinn Fein verständigten sich kurz nach dem Anschlag auf ein Abkommen, das Irland ein Minimum an Normalität und beiden Seiten einen ungestörten Wahlkampf erlauben sollte.256 Am Ende blieb de Valera und den republikanischen Politikern jedoch das Schlechteste aus beiden Welten: Sie trugen die politische Verantwortung für eine Politik, die sie weder wollten, noch steuern konnten. Die zerbrökkelnde Einheit der Vertragsgegner und die mangelnde Kontrolle der Politiker über die IRA wurden jedoch trotzdem öffentlich. Das lag nicht nur daran, daß IRA und auch Cumman na mBan das Abkommen ignorierten und der Presse durch endlose neue Übergriffe neue Geschichten lieferten.257 Auch innerhalb des politischen Republikanismus gab es Risse, zwischen orthodoxen Dogmatikern wie Mary MacSwiney, Sozialrevolutionären wie Constanze de Markievicz oder Liam Mellows, dem de ValeraFlügel und den wenigen gemäßigten Politikern, die Gewalt prinzipiell ablehnten. Das zeigte sich auch beim Thema Freeman: So erinnerte das radikale republikanische Blatt Ireland Over All an den „heilsamen Effekt“, den ein
252 253 254 255 256 257
Siehe: AN POBLACHT, 5. April 1922; 12. April 1922; CATHOLIC BULLETIN, Mai 1922. DEBATE ON TREATY, de Valera, 5. Januar 1922, S. 266. NEW IRELAND, 22. April 1922, S. 307. FLK, DeV, 273, de Valera an Mary MacSwiney, 9. März 1923; vgl. HOPKINSON, Green, S. 38 f., 70 f., 187; MACARDLE, Republic, S. 677. IRISH INDEPENDENT, 3. April 1922, S. 4; vgl. NEW IRELAND, 22. April 1922, S. 308: de Valera dort, „the right of public meeting and free speech will not be interfered with“. NATIONALIST, 19. April 1922, S. 2.
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C. Eskalation: Bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges
ähnlicher Anschlag während des Unabhängigkeitskrieges auf den Irish Independent gehabt habe.258 Die Worker’s Republic titelte nach dem Anschlag mit: „Bravo Dublin Brigade! The mailed fist [is the only] medicine [. . . by which] these unscrupulous purveyors of doped news can be made to tell the truth.“259 Andere Politiker wie Frank Fahy, Sean T. O’Kelly, Sean Etchingham oder Seamus Doyle distanzierten sich offen vom Anschlag auf den Freeman.260 Schon wenig später wurde deutlich, daß auch das republikanische Militär in verschiedene Flügel gespalten war. Die radikaleren Aktivisten um Rory O’Connor, Ernie O’Malley und Liam Mellows besetzten bald die Four Courts und andere Verwaltungsgebäude Dublins, während Liam Lynch und andere prominente Aktivisten der 1st Southern Division mit den führenden vertragsbefürwortenden Militärs Collins und Richard Mulcahy weiter einen Weg zurück zur „army unity“ und damit „national unity“ suchten.261 Der vertragsbefürwortenden Propaganda gelang es über den Wert „liberal rights“, vor allem aber über „majority rule“ ihr nationales Legitimationsproblem zu lösen. Dazu deuteten die Propagandisten den siebenhundertfünfzigjährigen Freiheitskampf des republikanischen Geschichtsgesetzes zu einem Kampf um Demokratie und liberale Rechte um. „Majority rule“ und „liberal rights“ wurden als Kern von Volkssouveränität zu nationalen, dem britischen Feind abgerungenen Werten. Außerhalb dieses nationalen Kontexts waren sie auch für die meisten Vertragsbefürworter nur relative Werte. Die radikaleren Mitglieder der IRA standen liberalen und partizipatori-
258 259 260
261
IRELAND OVER ALL, 7. April 1922, S. 3. WORKER’S REPUBLIC, 8. April 1922, S. 2; vgl. DAIL DEBATES, Sean MacEntee, 27. April 1922, S. 320. IRISH INDEPENDENT, 7. April 1922, S. 4; 13. April 1922, S. 4; FREEMAN’S JOURNAL, 1. April 1922, S. 4; DAIL DEBATES, Sean T. O’Kelly, 27. April 1922, S. 323 f.; Sean Etchingham, 27. April 1922, S. 321. Innerhalb der vertragsablehnenden IRA gab es ein ganzes Spektrum von unterschiedlich radikalen Aktivisten, die sich unterschiedlich stark an „the Republic“ oder „national unity“ orientierten. So konnte Ernie O’Malley, als O/C der 2nd Southern Division seinen radikalen Brigade-Offizier Dinney Lacey nicht kontrollieren. Dagegen kritisierte er selbst während der Limerick Crisis Rory O’Connor für dessen fehlenden Mut zur Offensive. O’Malley, O’Connor und Lacey waren alle drei wesentlich radikaler als Lynch und die Aktivisiten der 1st Southern Division in Munster. Einige prominente Aktivsten der 1st Southern Divison wie Tom Hales, Sean Hegarty und Florrie O’Donoghue schieden sogar wieder aus der Exekutive der IRA aus, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden. O’Donoghue und Hegarty nahmen dann trotz vertragsablehnender Überzeugung nicht am Bürgerkrieg teil. Zusammengefaßt nach: HOPKINSON, Green, S. 43, 58 f., 63–5, 68, 72, 93–5, 101–3.
IV. „National unity“ oder Konfrontation?
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schen Werten indifferent gegenüber. Sie verstanden sich als revolutionäre Elite und orientierten sich an „the Republic“. Die meisten republikanischen Politiker hatten dagegen ein komplexeres Verhältnis zu „majority rule“. Auch für sie war „the Republic“ prinzipiell unveräußerbar. Gleichzeitig bemühten sie sich aber, den freistaatlichen Anspruch auf „majority rule“ und „liberal rights“ zu untergraben und die Mehrheit der Bevölkerung wieder von „the Republic“ zu überzeugen. Das war von vornherein wenig überzeugend. Völlig chancenlos wurde es durch die Übergriffe der IRA, vor allem durch die spektakulären Anschläge auf die Presse. Die vertragsbefürwortende Propaganda konnte nun das gesamte republikanische Lager diskreditieren und mit den als „britisch“ definierten Eigenschaften aus dem antithetischen Weltbild belegen. Dabei erleichterten die republikanischen Politiker der vertragsbefürwortenden Propaganda noch die Arbeit; denn de Valera und die meisten anderen prominenten Aktivisten distanzierten sich nicht offen von den Anschlägen, sondern versuchten die innere Zerrissenheit des republikanischen Spektrums wenigstens nach außen zu kaschieren. Auch das mit wenig Erfolg.
IV. „NATIONAL UNITY“ ODER KONFRONTATION? In diesem letzten Teilkapitel werde ich die unterschiedlichen Konzepte vorstellen, mit denen Militärs und Politiker beider Seiten versuchten, einen Bürgerkrieg zu verhindern. Vor allem den Wahlpakt zwischen de Valera und Collins untersuche ich dabei näher. Schließlich werde ich zeigen, wie die vertragsbefürwortende Führung mit ihrer „stepping-stone“-Politik gegenüber Großbritannien scheiterte und in den Bürgerkrieg stolperte. 1. RHETORIK DER KONFRONTATION Neben den Übergriffen der IRA auf privates Eigentum, Banken oder Zeitungen gerieten auch immer wieder vertragsbefürwortende und vertragsablehnende Truppen aneinander. Im Streit darum, wer die von der britischen Armee geräumten Kasernen besetzen dürfe, gab es Auseinandersetzungen, die bis zu Schießereien führten. Der bekannteste dieser Konflikte, die sogenannte Limerick Crisis, führte schon im März und April 1922 bis an den Rand eines Bürgerkrieges.262
262
VALIULIS, Mulcahy, S. 129–33.
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C. Eskalation: Bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges
Immer wieder warnte die republikanische Propaganda vor einem Bürgerkrieg. Daran geknüpft war meist die obligatorische Rhetorik des „death before dishonour“: „Who amongst us has not strength to die, that Ireland, the nation which has asserted her independence through three years of torture, through three hundred years of torture, may live.“263 Wenn die republikanische Rhetorik mit einem Bürgerkrieg drohte, dann fast immer defensiv: Sie sprach von einem neuem „self-sacrifice“, davon „[to] save“, „maintain“, „defend the Republic“.264 Dazu waren die Radikalen in der IRA fest entschlossen, hatten verinnerlicht, was Beaslai noch vor dem Unabhängigkeitskrieg vollmundig erklärt hatte: „Volunteers with weapons in their hands must never surrender without a fight.“265 Mit einem Angriff drohten die republikanische Propaganda und die IRA nur verklausuliert, meist in Anspielungen auf ein neues „1916“.266 Allein die kommunistisch-republikanische Worker’s Republic propagierte offen: „You cannot have a Republic without going through the furnace of Civil War.267 Während de Valera und die republikanischen Politiker sich vor einer klaren Aussage zur konkreten gegenwärtigen Gewalt der IRA drückten, rechtfertigten sie eine zukünftige und damit abstrakte Gewalt der IRA. Typisch für dieses ambivalente und verklausulierte Verhältnis zur Gewalt war de Valeras berüchtigte Rede, die er am St. Patrick’s Day 1922 in Thurles in der Gegenwart bewaffneter IRA-Einheiten hielt: If they [the Provisional Government] accepted the treaty, and if the Volunteers of the future tried to complete the work of the last four years [. . .], they would have to complete it, not over the bodies of foreign soldiers, but over the dead bodies of their own countrymen. [. . .] They would have to wade through Irish blood, through the blood of the soldiers of the Irish government, and through, perhaps, the blood of some of the members of the government in order to get Irish freedom.268
In seiner langen politischen Karriere ist de Valera nie wieder ein so kontraproduktiver Propagandazug unterlaufen. Wie schon bei Document No. 2, wie beim Lavieren zwischen „constitutional methods“ und „national sovereignty“ stolperte de Valera darüber, daß die Komplexität und Vielschichtigkeit seines Denkens nach außen schwer vermittelbar war. Wieder erreichte er Dissens statt Konsens. Was de Valera schon gegen Ende des Bür-
263 264 265 266 267 268
AN POBLACHT, 3. Januar 1922, S. 2. „Selfsacrifice“: AN POBLACHT, 29. März 1922, S. 4; 27. April 1922, S. 4; 22. März 1922, S. 4; 10. Januar 1922, S. 2. AN TOGLACH, 15. August 1922, S. 1 (Hervorhebung im Original). AN POBLACHT, 20. April 1922, S. 4. WORKER’S REPUBLIC, 6. Mai 1922, S. 3. IRISH INDEPENDENT, 18. März 1922, S. 5.
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gerkrieges meisterlich beherrschte, „to cloak political compromise and ambiguity in the language of principle“, mißlang ihm diesmal völlig.269 Seine Rede war ein Propagandageschenk für die Vertragsbefürworter. Auch noch lange nach dem Bürgerkrieg lieferte die Thurlesrede propagandistische Munition für de Valeras politische Gegner.270 Die Thurlesrede machte es der vertragsbefürwortenden Propaganda leicht, den faktisch machtlosen de Valera als eigentlichen Drahtzieher der Republikaner darzustellen. Sie verurteilte ihn als „Demagogen“, seine Rede als „incitement to civil war“ und demontierte so die Popularität de Valeras als ehemaligem Präsidenten der Republik.271 Nicht nur im Frühjahr 1922, sondern sein ganzes politisches Leben lang, versuchte de Valera sich für seine Thurlesrede zu rechtfertigen, beschwerte sich, vertragsbefürwortende Propaganda und Presse hätten ihn absichtlich mißinterpretiert.272 Und zu Recht: Thurles war kein Aufruf zum Bürgerkrieg. Dafür gab es eine andere klassische Rhetorik: Tod für „the Republic“, Geschichtsgesetz, Märtyrertradition. „Wading through blood“ war dagegen ein Horrorszenario, ein Alptraum, eine Warnung vor der „terrible nature of such conflict.“273 Doch unschuldig war de Valera an diesem Mißverständnis nicht. Er nahm in Kauf, ja kalkulierte, daß zumindest ein Teil seiner Zuhörer ihn mißverstand. Er hoffte, nach dem Scheitern von Document No. 2, durch eine radikale Rhetorik zumindest einen Teil seines Einflusses auf die IRA zurückzugewinnen. Seine Warnung war ambivalent und zugleich eine massive Drohung an die Adresse der Führung der Vertragsbefürworter: Nur im Rahmen von „the Republic“ sei ein Bürgerkrieg zu vermeiden.274 De Valeras Argumentation folgte der Lehre des republikanischen Geschichtsgesetzes und hatte, solange man die Republik als zwangsläufiges Ziel der irischen Geschichte akzeptierte, eine bestechende zirkuläre Logik: Their tradition will never allow them to remain in subjection, and when they rise again in arms, as all our history teaches us they must rise, the Army of the people
269 270
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HOPKINSON, Green, S. 71; MURRAY, Voices, S. 43, 44, 47, 49–51 Charakteristisch die Fehleinschätzungen von Historikern mit vertragsbefürwortenden Sympathien: VALIULIS, Mulcahy, S. 131; undifferenziert auch: LITTON, Civil War, S. 43; YOUNGER, Civil War, S. 250. YOUNG IRELAND, 25. März 1922, S. 4; FREEMAN’S JOURNAL, 20. März 1922, S. 4; 23. März 1922, S. 4; O’HEGARTY, Victory, S. 120. POBLACHT, 22. März 1922, S. 4; LONGFORD und O’NEILL, De Valera, S. 185; MURRAY, Voices, S. 38, 204 f. AN POBLACHT, 22. März 1922, S. 4; FLK, DeV, 231, de Valera, 22. März 1922. CURRAN, Birth, S. 173–5.
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would have to face the Irish Free State troops as they had to face the Royal Irish Constabulary in the past.275
Der nächste Aufstand „mußte“ also zwangsläufig gegen eine irische Regierung gerichtet sein und damit ein Bürgerkrieg werden. Hier klang gleichzeitig hindurch, daß de Valera die radikale IRA nicht mehr kontrollieren konnte, nicht verhindern konnte und wollte, daß sie das republikanische Geschichtsgesetz erfüllte. Die Abneigung gegen Gewalt, die Bereitschaft zur Gewalt, das Zersplittern des vertragsablehnenden Spektrums, der Wunsch nach „national unity“, die Unfähigkeit zu einem Kompromiß: all diese Widersprüche spiegelten sich in der Ambivalenz der Thurlesrede. Damit zeigte sich auch, wie handlungs- und kommunikationsunfähig die Republikaner vor dem Bürgerkrieg waren. Auch die vertragsbefürwortende Propaganda und die Tagespresse warnten immer wieder vor einem Bürgerkrieg. Wenn die Tagespresse hin und wieder auf einen kommenden Angriff gegen die Republikaner anspielte, sprach sie abstrakt von „return to sanity and order“276, argumentierte im Sinne der „will of the people“-Rhetorik: „The people must assert themselves.“277 Die offizielle vertragsbefürwortende Rhetorik hielt sich demgegenüber mit Zweideutigkeiten oder unpopulären Kriegsdrohungen zurück. Sie baute „majority rule“ und „liberal rights“ zum Gegenpol der republikanischen Gewalt auf, propagierte im Sinne des antithetischen Weltbildes die Überlegenheit von „spirit“ über „force“, von „majority rule“ und „liberal rights“ über den Terror der IRA.278 Die vertragsbefürwortenden Politiker schrieben nicht nur über die Überlegenheit der „ballot box“ über „bullets“, sie inszenierten sie auch in ihren Wahlkampfveranstaltungen, gerade wenn sie von IRA und Cumman na mBan gestört und bedroht wurden.279 Am wirkungsvollsten gelang es Griffith im von der IRA kontrollierten Sligo, die Gewaltbereitschaft seiner politischen Gegner für seinen Auftritt zu instrumentalisieren. Ohne Rücksprache mit der neugewählten IRA-Exekutive hatte die lokale IRA im April 1922 Griffith Veranstaltung in Sligo verboten. Dennoch erschien Griffith zusammen mit dem hochrangigen General und Guerillahelden Sean Mac Eoin in einem gepanzerten Fahrzeug und sprach schließlich
275 276 277 278 279
AN POBLACHT, 22. März 1922, S. 4. FREEMAN’S JOURNAL, 1. Mai 1922, S. 4; IRISH TIMES, 1. Mai 1922, S. 4. FREEMAN’S JOURNAL, 12. Mai 1922, S. 4. NATIONALIST, 19. April 1922, S. 2; O’HEGARTY, Victory, S. 141; TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, Box 2/3, Collins, Arguments for the Treaty, S. 29 f. Zur Theatermetapher: DENNING, Mr. Bligh, passim; LÜSEBRINK, Transfer, S. 38.
IV. „National unity“ oder Konfrontation?
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unter dem Schutz von Maschinengewehren. Die lokale IRA griff trotz aller Ankündigungen nicht ein. Damit inszenierte Griffith nicht nur seine Unerschrockenheit und, daß Redefreiheit stärker als „britische“ Gewalt sei. Die Anwesenheit Mac Eoins machte Kontinuität zur revolutionären Vergangenheit sichtbar. Die Maschinengewehre und der Panzerwagen, gemessen an der republikanischen Bewaffnung im Unabhängigkeitskrieg wahre Wunderwaffen, signalisierten Entschlossenheit: Die Vertragsbefürworter waren bereit, „majority rule“ und „liberal rights“ zu „verteidigen“.280 Das aktionistische Drohen der IRA garantierte in diesem Kontext einen Propagandasieg für die Vertragsbefürworter. Was als Demonstration republikanischer Stärke geplant war, wurde, wie es ein anglo-irischer Zeitgenosse formulierte, zu einem „severe moral defeat“.281 2. „NATIONAL UNITY“ „National unity“, das war während des Unabhängigkeitskrieges für alle Revolutionäre ein hoher Wert. Beaslais oben ausgeführtes Loblied auf die schon brüchige Einheit der Nation war nur ein besonders illustratives Beispiel dafür. Nach der Vertragsspaltung war „national unity“ nicht nur ein Wert, den man im Sinne von Kompromiß und Ausgleich verstehen mußte. Die Bürgerkriegsparteien wandten „national unity“ gegeneinander. Die Legitimationsstrategien beider Bürgerkriegsparteien ließen sich auch als Varianten von „national unity“ lesen. Für die Vertragsbefürworter bedeutete „majority rule“ eine durch Wahl meß- und zählbare „unity“ mit der Mehrheit der „living nation“.282 Für die Republikaner garantierte „the Republic“ nicht nur die „unity“ der vertragsablehnenden Elite, sondern auch eine nicht quantifizierbare „unity“ der Revolutionäre mit dem „Willen“ der historischen Nation und ihren republikanischen Märtyrern.283 Auch wenn die Bürgerkriegsparteien „national unity“ gegen die jeweils andere Seite instrumentalisierten: Primär war und blieb „national unity“ ein Wert, der die Einheit der ganzen revolutionären Bewegung und der Bevölkerung implizierte. Nur die radikalen Blätter Plain People und die Worker’s Republic mißtrauten prinzipiell jedem weiteren Kompromiß: „Truth is bet-
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FREE STATE, 22. April 1922, S. 4; IRISH INDEPENDENT, 17. April 1922, S. 4; HOPKINSON, Green, S. 75 f. THE ROUND TABLE, XII, 47, (Juni 1922), S. 521; SLIGO CHAMPION, 29. April 1922, S. 4. YOUNG IRELAND, 18. Februar 1922, S. 4. AN POBLACHT, 10. Januar 1922, S. 2; CATHOLIC BULLETIN, Januar 1923, S. 22.
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ter than unity! Unity is not strength!“ Doch sie repräsentierten nur eine kleine Minderheit.284 Ansonsten unterstützten fast alle Politiker und Militärs beider Lager jede Bemühung, um eine rhetorisch meist gegen England und Nordirland gerichtete „national unity“ wieder herzustellen.285 Ihre Versuche, einen Kompromiß zu finden, waren eine Gegenbewegung zu dem, was viele Historiker in unbewußter Nachfolge der vertragsbefürwortenden Propaganda implizit als Einbahnstraße, als allein durch die Übergriffe der IRA verursachten „drift towards civil war“, darstellten.286 Selbst die radikaleren IRA-Aktivisten waren lange nicht so aggressiv und kriegsbereit, wie es auf den ersten Blick scheint.287 Die Übergriffe der IRA sollten Entschlossenheit demonstrieren, „zitierten“ den Bürgerkrieg, sollten den Gegner einschüchtern und die IRA finanzieren. Doch auch für die radikalen Militärs war es ein Alptraum „to wade through Irish blood.“ Der Gedanke, auf ehemalige Kameraden zu schießen, war für sie unerträglich und kaum vorstellbar. Wenn es darauf ankam, setzten sie ihre Drohungen nicht um, zögerten, den ersten Schritt zu tun: während der Limerick Crisis griff die IRA genauso wenig an, wie sie Griffith’ Rede in Sligo unterdrückte. Statt dessen zerstörte sie am folgenden Tag die Druckplatten des Sligo Champion, der über die Schlappe der lokalen IRA berichtet hatte.288 Abgesehen von solchen unkoordinierten Anschlägen hatte die IRA keine offensive Strategie. Sie nutzte ihre klare militärische Überlegenheit nach der Vertragsspaltung nicht, sondern wartete darauf, die Republik zu verteidigen – während die vertragsbefürwortende Armee, weiter unter dem offiziellen Etikett IRA, aufrüstete.289 Doch auch wenn die vertragsbefürwortende Armee aufrüstete, so schnell sie konnte, hieß das nicht, daß sie unbedingt eine militärische Lösung des Konflikts wollte. Im vertragsbefürwortenden Lager waren es die Zivilisten wie Griffith, die weder auf „national unity“ noch auf die „ballot box“, son284 285 286
287 288 289
WORKER’S REPUBLIC, 24. Dezember 1921, S. 5; vgl. PLAIN PEOPLE, 7. Mai 1922, S. 2. AN POBLACHT, 1. Mai 1922, S. 4; CATHOLIC BULLETIN, März 1922, S. 139; HOPKINSON, Green, S. 93–104. So: MARYANN GIALANELLA VALIULIS, „The man they could never forgive“- The View of the Opposition: De Valera and the Civil War, in: MURPHY und O’CARROLL (Hrsg.), De Valera, S. 92–100, hier: S. 93; LYONS, Three Essays, S. 253; LAFFAN, ‚Labour must wait‘, S. 216; vgl. FREEMAN’S JOURNAL, 28. April 1922, S. 4: „deadly drift“. In diesem Zusammenhang unkritisch: TOWNSHEND, Political Violence, S. 361–3. SLIGO CHAMPION, 29. April 1922, S. 4; FREEMAN’S JOURNAL, 22. April 1922, S. 5. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 225, 230; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 218; LITTON, Civil War; S. 86; vgl. NEESON, Civil War, S. 88; HOPKINSON, Green, S. 102, 119.
IV. „National unity“ oder Konfrontation?
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dern auf „bullets“ setzten. Ein Krieg mit den Vertragsgegnern, so Griffith, sei unvermeidbar, deshalb sollte ihn die Provisorische Regierung zügig hinter sich bringen.290 Die offizielle Freistaatspropaganda, fast alle Provinzzeitungen und alle Tageszeitungen bis auf die unionistische Irish Times propagierten dagegen „national unity“.291 Das war nicht nur Propaganda. Gerade die militärische Führung der Vertragsbefürworter, Collins und Mulcahy, hofften auf einen Ausgleich mit ihren alten Kameraden. Wie viele prominente vertragsablehnende Militärs setzten auch sie auf „army unity“ und mißtrauten politischen Kompromissen.292 Immer wieder bemühten sich führende IRA- und IRB-Aktivisten, eine organisatorische Einheit der IRA wiederherzustellen. Doch ihre Kompromisse waren nicht tragfähig, weil sie inhaltlichen Fragen aus dem Weg gingen und von radikaleren vertragsablehnenden Aktivisten ignoriert wurden.293 Auch auf der politischen Ebene versuchten sich vertragsbefürwortende und vertragsablehnende Aktivisten immer wieder zu einigen.294 Doch auch ihre Verhandlungen scheiterten, weil die Positionen beider Seiten prinzipiell unvereinbar waren. Nicht etwa, weil Republikaner und Freistaatler zu weit, sondern weil sie zu nahe beieinander lagen. Gab es eine Mitte zwischen „Republic“ und „treaty“? Auf diese Frage war de Valeras Document No. 2 eine geniale beziehungsweise genialische Antwort. Doch war es, wie die vertragsbefürwortende Propaganda immer wieder treffend feststellte, eine Antwort auf die falsche Frage.295 Die entscheidende Frage lautete: Akzeptierte die revolutionäre Elite den Vertrag? Beziehungsweise: Sollte sie für Nachverhandlungen einen Krieg mit Großbritannien riskieren? Diese Fra290 291
292 293 294 295
VALIULIS, Mulcahy, S. 131 f., 146; so auch rückblickend: BEASLAI, Collins, S. 397; LITTON, Civil War, S. 43; HOPKINSON, Green, S. 64, 99. YOUNG IRELAND, 4. Februar 1922, S. 4; FREEMAN’S JOURNAL, 2. Mai 1922, S. 4; IRISH INDEPENDENT, 2. Mai 1922, S. 4; IRISH HOMESTEAD, 22. April 1922, S. 249 f.; CLARE CHAMPION, 4. März 1922, S. 3; CORK EXAMINER, 23. März 1922, S. 4; DROGHEDA INDEPENDENT, 27. Mai 1922, S. 4; KERRY PEOPLE, 14. Januar 1922, S. 3; LIMERICK LEADER, 20. Februar 1922, S. 3; MAYO NEWS, 20. Mai 1922, S. 2; NATIONALIST, 21. Januar 1922–4. Februar 1922, S. 5; MUNSTER NEWS, 24. Mai 1922, S. 3.; WATERFORD NEWS, 24. Februar 1922, S. 5; WESTERN PEOPLE, 8. April 1922, S. 5; WEXFORD PEOPLE, 8. Februar 1922, S. 4; Ausnahmen waren die IRISH TIMES, 26. April 1922, S. 5 und die dezidiert vertragsbefürwortenden Blätter DUNDALK DEMOCRAT, 27. Mai 1922, S. 4 und GALWAY OBSERVER, 13. Mai 1922, S. 2. VALIULIS, Mulcahy, S. 137, 140 f., 143. CATHOLIC BULLETIN, Juni 1922, S. 354–6; HOPKINSON, Green, S. 92–5, 101–4; VALIULIS, Mulcahy, S. 132 f., 137, 140–5, 147, 150–2; O’DONOGHUE, No other Law, S. 197, 238–44. HOPKINSON, Green, S. 95–7. YOUNG IRELAND, 22. April 1922, S. 4; FREEMAN’S JOURNAL, 20. Mai 1922, S. 4; UNITED IRISHMAN, 1. März 1923, S. 2.
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C. Eskalation: Bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges
gen ließen sich sinnvoll nur mit ja oder nein beantworten. Ein Kompromiß war so strukturell unmöglich. Es exisitierte kaum Verhandlungsmasse.296 Trotz dieser Aussichtslosigkeit gaben beide Seiten lange Zeit das Verhandeln nicht auf: um einen Bürgerkrieg zu verhindern, um von der gegnerischen Propaganda nicht als Aggressor dargestellt zu werden, und die Vertragsbefürworter, weil jeder Tag ihre militärischen Chancen erhöhte.297 3. DER COLLINS-DE-VALERA-PAKT: HOFFEN UND TAKTIEREN Obwohl ein Kompromiß zwischen Vertragsbefürwortern und -gegnern theoretisch unmöglich war, solange nicht eine Seite prinzipiell nachgab, einigten sich Collins und de Valera am 20. Mai 1922 auf einen Wahlpakt. Im Wahlpakt verpflichtete sich die Provisorische Regierung, den mit Großbritannien ausgehandelten Verfassungsentwurf vor der Wahl zu veröffentlichen und nach der Wahl eine Koalitionsregierung mit den Republikanern zu bilden: Neben fünf vertragsbefürwortenden Ministern sollte es vier vertragsablehnende Minister geben und einen direkt von der IRA gewählten Verteidigungsminister. De facto hieß das, daß die Vertragsgegner den Verteidigungsminister stellten und über ihn zumindest nominal die gesamte Truppe kontrollieren konnten. Bei den Wahlen sollten Vertragsbefürworter und -gegner gemeinsam als Sinn Fein antreten. Beide Seiten sollten den Vertrag dabei nicht zum Thema der Wahl machen und ihre Wähler ermutigen, keinen Kandidaten wegen seiner Haltung in der Vertragsfrage zu bevorzugen. Jede Seite durfte so viele Kandidaten aufstellen, wie es ihrer momentanen Stärke in Dail Eireann entsprach. Nur in einem Punkt stellten die Vertragsbefürworter sicher, daß der von ihnen so vehement vertretene Wert „majority rule“ nicht völlig zu Gunsten der nationalen Frage ausgehebelt wurde: Auch „third issues“, also von Sinn Fein unabhängige Parteien, durften an der Wahl teilnehmen. Doch auch das änderte nicht viel an der Dominanz Sinn Feins: unter ihrem moralischen, manchmal auch gewalttätigen Druck stellten sich nur 54 Nicht-Sinn Fein-Kandidaten zur Wahl. Selbst wenn sie alle gewählt worden wären, waren bei insgesamt 128 zu wählenden Abgeordneten der zukünftigen Sinn Fein-Koalition von vornherein 74 Abgeordnete sicher.298 Ob der Wahlpakt
296 297 298
NEW IRELAND, 22. April 1922, S. 308. IRISH INDEPENDENT, 2. Mai 1922, S. 4; 4. Mai 1922, S. 4; vgl. FLK, DeV, Pressestatement von de Valera, Januar 1. Mai 1922, HOPKINSON, Green, S. 103. MICHAEL GALLAGHER, The Pact Election of 1922, in: Irish Historical Studies, XXI, 84, (1979), S. 404–21, hier: S. 408.
IV. „National unity“ oder Konfrontation?
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hielt, lag nun allein an den Sinn Fein-Wählern: Das irische Verhältniswahlrecht nach dem Prinzip des „single transferable vote“ erlaubte ihnen, am Pakt vorbei gezielt vertragsbefürwortende oder vertragsablehnende Kandidaten zu wählen.299 Das erstaunliche an diesem Pakt war, daß er keine inhaltlichen Fragen berührte. Er war ein reiner Formelkompromiß, der der Vertragsfrage systematisch aus dem Weg ging.300 Zwar unterstützen bis auf wenige Provinzblätter und die Irish Times alle Zeitungen den Wahlpakt.301 Doch auch sie wunderten sich, wie der Pakt funktionieren sollte, ohne die Vertragsfrage zu klären. Die meisten Blätter vermuteten, daß es geheime Absprachen gäbe.302 Für Irish Labour, vor allem aber für die ausgegrenzten Unionisten wirkte dabei diese neu definierte „national unity“ bedrohlich;303 denn während republikanische und vertragsbefürwortende Propaganda der nationalen Labour Party noch ein historisches Existenzrecht einräumten, sahen sie keinen Grund, auf die Bedenken unionistischer „Clubsesselsitzer“ Rücksicht zu nehmen.304 Für radikale Unionisten wie Bretherton schienen sich nun ihre düstersten Prophezeiungen zu erfüllen. Die „IRA in search of Irish traditions with which to adorn history [is planning] the real butchery [of] Loyalists.“305 Was Bretherton schon im April zynisch prophezeit hatte, was die Irish Times nur zwischen den Zeilen befürchtete und was die radikale IRA hoffte, sprach die Worker’s Republic offen aus: Sie forderte einen „Northern Crusade.“ Auch die republikanischen Politiker spekulierten nicht nur auf eine „republikanische“ Verfassung, sondern vor allem auf eine gemeinsame Politik gegen Nordirland.306 Für die Vertragsgegner hatte der Pakt nichts Doppelbödiges. Er war zwar auch für sie ein kalkulierter Zug, um nicht als Kriegstreiber zu gelten. Der Pakt selbst basierte jedoch auf den zentralen Werten der Republikaner. Er war in seiner schwammigen Art so lesbar, daß er „national unity“ gegen den 299
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Das irische personalisierte Verhältniswahlrecht nach dem „single transferable vote“ ist in seinen Details reichlich kompliziert. Siehe dazu: MICHAEL GALLAGHER, Irish Elections 1922–1944: Results and Analysis. Dublin 1993, S.X. HOPKINSON, Green, S. 98 f. Ausnahmen waren: SLIGO CHAMPION, 27. Mai 1922, S. 4; bedingt: GALWAY OBSERVER, 17. Juni 1922, S. 2 und IRISH TIMES, 22. Mai 1922, S. 4. IRISH HOMESTEAD, 27. Mai 1922, S. 330; IRISH TIMES, 22. Mai 1922, S. 4; VOICE OF LABOUR, S. 4; WORKER’S REPUBLIC, 27. Mai 1922, S. 3. IRISH TIMES, 22. Mai 1922, S. 4; VOICE OF LABOUR, 27. Mai 1922, S. 4. AN POBLACHT, 15. Juni 1922, S. 2; IRELAND OVER ALL, 7. April 1922, S. 3. NAI, D/T, S-1322, Telegramm, ca. 5. April 1922. WORKER’S REPUBLIC, 27. Mai 1922, S. 3; IRISH TIMES, 22. Mai 1922, S. 4; AN POBLACHT, 1. Juni 1922, S. 4; 8. Juni 1922, S. 1; PLAIN PEOPLE, 28. Mai 1922, S. 2; HOPKINSON, Green, S. 98–100.
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„common enemy“ garantierte, ohne zuviel von „the Republic“ aufzugeben.307 Neben der Hoffnung auf „national unity“ erreichte der Wahlpakt für die auf das Symbolische fixierten Republikaner einen greifbaren Erfolg: Es gab keine Wahl zum Vertrag, die Bevölkerung hatte keine Chance „[to vote for] the voluntary entry of the Irish people into the British Empire, for the first time in history.“308 Für die Republikaner war damit ein nationaler Alptraum verhindert. Der Wahlpakt blockierte, daß die Vertragsbefürworter ihre Politik ungebrochen demokratisch legitimieren konnten. Das inhomogene vertragsablehnende Lager von radikaler IRA bis zu gemäßigten Politikern stand deshalb fast geschlossen zu de Valeras Pakt. Einzig die kleine Gruppe um die kommunistische Worker’s Republic wertete den Pakt als naive Zeitverschwendung und propagierte weiter den „inevitable clash“ mit dem Freistaat.309 Auch die Vertragsbefürworter erwarteten sich vom Wahlpakt Vorteile. Er fügte sich in die zweigleisige Politik der Provisorischen Regierung: geheime Verfassungspolitik und aggressive Nordirlandpolitik auf der republikanischen Seite; Aufrüstung und vertragsbefürwortende Agitation auf der freistaatlichen Seite. Als Teil einer mit de Valera abgesprochenen „steppingstone“-Politik war der Wahlpakt ein Druckmittel gegenüber Großbritannien. Der Pakt signalisierte, wie entschlossen die Provisorische Regierung und wie geschlossen die nationalen Bewegung waren. Der Pakt sollte der Provisorischen Regierung helfen, eine möglichst republikanische Verfassung durchzusetzen – um wiederum den Pakt aufrecht erhalten zu können.310 Aber auch innerhalb der freistaatlichen Politik war der Pakt sinnvoll. Der Wahlpakt begrenzte das Chaos und die Übergriffe der IRA, erlaubte der Provisorischen Regierung zu regieren, es zumindest zu versuchen. Dazu verschaffte der Pakt der Provisorischen Regierung ein Stück demokratische Legitimation – wie unbefriedigend der Wahlmodus auch immer war.311 Einige Freistaatspolitiker – wie Darrel Figgis – brachen deshalb aus dem
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311
AN POBLACHT, 25. Mai 1922, S. 4. CATHOLIC BULLETIN, Februar 1922, S. 72. WORKER’S REPUBLIC, 27. Mai 1922, S. 3. FLK, DeV, 216, Memo de Valera für Joe McGarrity über Gespräch mit Collins, ca. Mai 1922; DONALD HARMAN AKENSON und J. F. FALLIN, The Irish Civil War and the Drafting of the Irish Free State Constitution, in: Eire/Ireland, V, 1 (1970), S. 10–26, V, 3, (1970), S. 42–93, V, 4, (1970), S. 28–70, hier: no.1, S. 11 f., S. 22–4, no. 2, S. 44; no.4, S. 29, 34 f., 38. FREE STATE, 27. Mai 1922, S. 4 f.; YOUNG IRELAND, 27. Mai 1922, S. 4; HOPKINSON, Green, S. 98–100.
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Pakt aus. Sie unterstützen eine gemeinsame Kampagne aller Dubliner Tageszeitungen für unabhängige Kandidaten, um so aus der Paktwahl doch noch eine Abstimmung über den Vertrag zu machen.312 Die republikanische Propaganda reagierte entsetzt auf den „Verrat“ von Figgis, einzelne IRA-Aktivisten rabiat. Sie entführten Figgis und entmannten ihn symbolisch: Sie nahmen ihm seinen roten Vollbart ab, der neben seinem Tirolerhut das Markenzeichen des eigenwilligen Aktivisten gewesen war.313 Doch auch wenn Figgis den Pakt unterlief und die IRA provozierte, so war er deshalb nicht weniger national als viele seiner Parteifreunde. Als Vorsitzender der Verfassungskommisson arbeitete er mit an der „republikanischen“ Variante der vertragsbefürwortenden Politik.314 Wie ein aufmerksamer anglo-irischer Beobachter kritisch formulierte, übten sich die Vertragsbefürworter, unter ihnen vor allem Collins, bis kurz vor dem Bürgerkrieg in der „rather dangerous facility for riding two horses simultaneously.“315 Collins probierte flexibel, welcher Feind leichter diplomatisch, notfalls militärisch zu besiegen war: Großbritannien oder die Republikaner. Solange sich die vertragsbefürwortende Führung nicht entscheiden mußte, gewann sie Zeit, um aufzurüsten. Sie wußte genauso wenig wie die verwirrten Republikaner und die irritierten Briten, auf was sie eigentlich hinaus wollte.316 Um sich alle Handlungsmöglichkeiten offen zu halten, mußte die Provisorische Regierung auf eine klare Rhetorik verzichten, Ungereimtheiten verschweigen. Anders als die offen und häufig undiplomatisch argumentierenden Republikaner, mußten die vertragsbefürwortenden Propagagandisten ihre Gegner und die Bevölkerung in die Irre führen, manchmal auch anlügen. Sie hielten ihre zweigleisige Kalkulation nach außen geheim, kaschierten die Widersprüche zwischen „natonal unity“ und vertragsbefürwortender Rhetorik und legten sich in keiner Richtung fest.317
312 313 314 315 316 317
FREEMAN’S JOURNAL, 10. Juni 1922, S. 4; IRISH INDEPENDENT, 27. Mai 1922, S. 6; IRISH TIMES, 23. Mai 1922, S. 4; IRISH HOMESTEAD, 27. Mai 1922, S. 330. WORKER’S REPUBLIC, 17. Juni 1922, S. 4: „Savage atrocity, horrible sacrilege, woeful desecration of Beauty“; vgl. AKENSON und FALLIN, Drafting, no.1, S. 13. NAI, D/T, S-8952, Darrell Figgis an Griffith, 18. Januar 1922; Diarmuid O’Hegarty für Collins an Darrell Figgis, 27. Januar 1922; Darrell Figgis an Collins, 27. Januar 1922. THE ROUND TABLE, XII, 48, (September 1922), S. 789. THOMAS TOWEY, The Reaction of the British Government to the 1922 Collins-de Valera Pact, in: Irish Historical Studies, XXII, 85, (1980), S. 65–76, hier: S. 66–8. FREE STATE, 27. Mai 1922, S. 4; 3. Juni 1922, S. 4; YOUNG IRELAND, 3. Juni 1922, S. 4; vgl. EVENING HERALD, 22. Mai 1922, S. 4.
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4. TABUBRUCH: DER AUSBRUCH DES BÜRGERKRIEGES Als am 15. Juni 1922 die irische Delegation in London damit scheiterte, eine quasi republikanische Verfassung durchzusetzen, geriet die Provisorische Regierung unter Zugzwang. Für eine Koalitionsregierung mit den Republikanern gab es keine Grundlage mehr.318 Nun setzten die Vertragsbefürworter alles auf ihre Freistaatspolitik. Während prominente Politiker wie Ernest Blythe, Eoin O’Duffy und Darrell Figgis schon zuvor den Wählern in ihrem Wahlkreis empfohlen hatten, lieber „unabhängig“ als vertragsablehnend zu stimmen, forderte zwei Tage vor der Wahl auch Collins seine Zuhörer bei einer Wahlkampfveranstaltung in Cork auf „to vote for the candidates you think best of“.319 Damit hatte er den Wahlpakt ignoriert, wie die Republikaner – erst nach Ausbruch des Krieges – meinten, offen gebrochen.320 Fast alle Zeitungen publizierten Collins Rede, die so kurz vor den Wahlen in ganz Irland verbreitet wurde. Dennoch hielten sich die meisten Sinn Fein-Wähler, ob sie nun vertragsbefürwortend oder vertragsablehnend dachten, an den Pakt, was eine deutliche Wahlniederlage der Republikaner verhinderte.321 Auch in einem zweiten Punkt demontierten die Vertragsbefürworter den Pakt mit den Republikanern: Den Verfassungsentwurf veröffentlichten sie erst am Wahltag.322 Formal war das vor der Wahl, praktisch aber hatten die Republikaner und auch die irische Bevölkerung keine Chance, auf den Verfassungsentwurf zu reagieren. Das Wahlergebnis brachte eine kleine Sensation: Neben 38,48 Prozent für vertragsbefürwortende Kandidaten und 21,26 Prozent für vertragsablehnende Kandidaten, stimmten 40,26 Prozent mit ihrer ersten Präferenz für Nicht-Sinn Fein-Kandidaten. Deutlich mehr als ein Drittel der Wähler hatten also ihrerseits Sinn Feins Definition von „national unity“ aufgekündigt, stimmten für ihr „sectional interest“ und gleichzeitig für den Vertrag. In Sitze umgerechnet, schlug sich das wesentlich weniger deutlich nieder: 58 Sitze für Vertragsbefürworter, 36 für Vertragsgegner, 17 für Labour, 10 für Unabhängige und 7 für Farmer.323 Aus der „national unity“ Sinn Feins aus-
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AKENSON und FALLIN, Drafting, no.4, S. 64–9; TOWEY, Reaction, S. 71; HOPKINSON, Green, S. 105–7, 111. FREEMAN’S JOURNAL, 20. Juni 1922, S. 4. Exemplarisch: CATHOLIC BULLETIN, Juli 1922, S. 429; vgl. Oktober 1922, S. 634. MICHAEL GALLAGHER, Pact Election, S. 412 f., 418 f.; HOPKINSON, Green, S. 109–11; BOYCE, Nationalism, S. 276. IRISH INDEPENDENT, 16. Juni 1922, S. 5. MICHAEL GALLAGHER, Irish Elections, S. 14 f.
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gegrenzt zu sein, war für Labour, Farmer und Unabhängige von einer Bedrohung zu einem Vorteil geworden.324 Selbst de Valera wertete in einem ersten Interview den Ausgang der Wahlen als Niederlage für die Republikaner und als Erfolg der britischen Kriegsdrohung.325 Die Dubliner Tagespresse, die meisten Provinzzeitungen und die offizielle vertragsbefürwortende Propaganda begrüßten die Wahl als Plebiszit für den Vertrag.326 Mit dieser Rhetorik gab die Provisorische Regierung die ohnehin unrealistische Koalitionsregierung endgültig auf.327 Auch die britische Regierung betrachtete das Wahlergebnis als demokratische Legitimation für den Vertrag und erhöhte ihren Druck auf die Provisorische Regierung.328 Das war jedoch noch immer kein Automatismus Richtung Bürgerkrieg. Der Pakt sah für das Scheitern der Koalitionsregierung freie Neuwahlen nach einem aktualisierten Wahlregister vor.329 Ob die radikale IRA das akzeptiert hätte, war eine andere Frage. Aber die Provisorische Regierung hätte weiter auf Zeit spielen können, solange die IRA nicht angriff. Erst nachdem zwei radikale IRA-Aktivisten den prominenten Unionisten Sir Henry Wilson ermordet hatten, erst nachdem die britische Regierung die Four Courts-Besatzung als Drahtzieher des Mordes verdächtigt hatte und erst nach der ultimativen Drohung der britischen Regierung, die Four Courts notfalls selbst anzugreifen, mußte sich die Provisorische Regierung endgültig entscheiden. Die zweigleisige Politik des Freistaats war jetzt endgültig am Ende.330 Unter dem doppelten Druck von IRA und Großbritannien geriet die Führung der Vertragsbefürworter in einen Zugzwang, den sie nicht mehr kontrollieren konnte: Sie mußte sich entweder mit britischer Hilfe gegen die IRA wenden oder hoffen, daß die britische Regierung ihre Kriegsdrohung nicht wahr machte, sich dann notfalls mit Hilfe der IRA gegen Großbritannien wenden. Wie im Dezember 1921 und wie bei den Verfasssungsverhandlungen ließ es die Führung der Vertragsbefürworter nicht darauf ankommen, auszupro324 325 326
327 328 329 330
MICHAEL GALLAGHER, Pact Election, S. 416. FLK, DeV, 236, Pressemitteilung de Valeras, 21. Juni 1922 IRISH INDEPENDENT, 20. Juni 1922, S. 4; IRISH TIMES, 20. Juni 1922, S. 4; DUNDALK DEMOCRAT, 24. Juni 1922, S. 4; DROGHEDA INDEPENDENT, 24. Juni 1922, S. 4; GALWAY OBSERVER, 24. Juni 1922, S. 2; NATIONALIST, 21. Juni 1922, S. 5; ROSCOMMON MESSANGER, 24. Juni 1922, S. 4. YOUNG IRELAND, 1. Juli 1922, S. 4; FREE STATE, 24. Juni 1922, S. 4; vgl. HOPKINSON, Green, S. 102, 108, 111. TOWEY, Reaction, S. 75. HOPKINSON, Green, S. 98. Vgl. bereits: NAI, D/T, S-1322a, Lloyd George an Collins, 22. Juni 1922.
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bieren, wie ernst es der britischen Regierung war. Jetzt entschied sich auch Collins für eine rein freistaatliche Politik. Die Provisorische Regierung wandte sich gegen den offenbar schwächeren Gegner: Sie stellte der IRA ein Ultimatum, die Four Courts zu räumen.331 Seit Juni 1922 haben Historiker und Politiker darüber gestritten, ob die Freistaatsregierung auf britischen Druck handelte oder nicht. Bis heute reproduzieren sie dabei die Stereotypen der Bürgerkriegspropaganda; denn diese Frage impliziert eine moralische Aussage über die Provisorische Regierung und den Status des Freistaats. Nationalistische Historiker argumentierten in der Nachfolge der republikanischen Propaganda, der Freistaat habe als „Marionette“ auf Druck oder Befehl Englands gehandelt.332 Die Freistaatspropagandisten und die revisionistische Geschichtsschreibung versuchten dagegen, den Republikanern eines ihrer besten Argumente zu stehlen. Sie schrieben mehr oder weniger bewußt die Geschichte um und billigten dem Freistaat ein Stück Souveränität zu, das er nicht hatte. Sie argumentierten die Provisorische Regierung hätte die Four Courts nicht auf britischen Druck hin, sondern aus eigener Initiative angegriffen, etwa um einen Staatsstreich gegen die Demokratie zu verhindern.333 Bei allem Verständnis für den revisionistischen Feldzug gegen republikanische Mythen scheint das kaum glaubhaft: Die britische Drohung und das Ultimatum der Provisorischen Regierung hingen zeitlich und kausal direkt miteinander zusammen. Auch das schlecht vorbereitete Vorgehen der Vertragsbefürworter zu Beginn des Krieges spricht deutlich dafür, daß der britische Druck der entscheidende Impuls war, durch den die Vertragsbefürworter, insbesondere Collins, sich zu einem militärischen Schlag durchrangen.334 Ob die Provisorische Regierung die Four Courts früher oder später angegriffen hätte, ob ein Teil der Provisorischen Regierung auch ohne britischen Druck gehandelt hätte, ist eine andere, rein spekulative Frage. Jenseits dieser moralischen Fragen bleibt entscheidend: Die realpolitisch und flexibel denkenden Vertragsbefürworter blieben, auch in die Enge getrieben, handlungsfähig. Sie waren in der Lage, den Tabubruch zu denken und zu begehen, griffen ihre ehemaligen Kameraden in den Four Courts an,
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334
Detailliert: HOPKINSON, Green, S. 111–22, hier insbes.: S. 116–8. MARGERY FORESTER, Michael Collins: The Lost Leader. London 1971, S. 322; GREAVES, Liam Mellows, S. 345 f. GARVIN, 1922, S. 31, übernimmt hier direkt die Propaganda von Freistaatsminister Ernest Blythe. Vgl. ebd., S. 53 f.; 127–9; VALIULIS, Mulcahy, S. 153; BOYCE, Nineteenth Century, S. 277; HOPKINSON, Green, S. 117 f.; LITTON, Civil War, S. 69–70; vgl. YOUNGER, Civil War, S. 318 f.; differenzierter: FOSTER, Modern Ireland, S. 512. HOPKINSON, Green, S. 117 f., zur Sonderrolle von Collins.
IV. „National unity“ oder Konfrontation?
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um an der Macht zu bleiben, beziehungsweise, um überhaupt erst an die Macht zu gelangen. Stolperten die Vertragsbefürworter auf britischen Druck in den Bürgerkrieg hinein, so waren die Republikaner völlig unvorbereitet, ohne offensive Strategie, untereinander zerstritten und in verschieden radikale politische und militärische Gruppen gespalten. Die Vertragsgegner saßen in einer kulturellen Falle: Die Verpflichtung auf „the Republic“ machte einen Ausgleich mit den Vertragsbefürwortern unmöglich, eine effiziente Kommandostruktur schwierig. Das Tabu des Brudermordens, das Denkverbot, ehemalige Kameraden anzugreifen, verhinderte, daß die IRA die militärische Initiative übernahm.335 Kurz vor dem Bürgerkrieg fand Tom Barry, als „Held von Cross Barry und Kilmichael“ schon zu Lebzeiten eine Guerillalegende, einen denkbaren Ausweg aus dieser Situation. Er erfand eine Methode, „republican unity“, „national unity“ und „Konfrontation“ so aufeinander zu beziehen, daß sich das Dilemma der republikanischen Handlungsunfähigkeit löste. Am 18. Juni 1922 stellte er der IRA in Dublin seinen Plan vor, innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden die letzten in Irland verbleibenden britischen Truppen anzugreifen. Barry hoffte auf eine britische Vergeltung und auf eine neue „national unity“ gegen den „common enemy“.336 Er vertraute auf das republikanische Geschichtsgesetz, das ihm sagte, die Mehrheit der Bevölkerung werde einen Konflikt mit England als „Freiheitskrieg“ verstehen. Barry wollte einen neuen Unabhängigkeitskrieg erzwingen, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden, – und das ging nur, solange der „common enemy“ noch nicht völlig abgezogen war. Auch wenn Barrys perfides Kalkül republikanischen Politikern, selbst vielen Guerilleros „idiotisch“ vorkam,337 aus der Perspektive eines intransigenten Republikaners hatte es seine eigene, nicht ganz unrealistische Logik. Auch die britische Regierung und führende britische Militärs fürchteten, die IRA könne einen Konflikt provozieren. Sie waren deshalb bereit, Übergriffe, selbst vereinzelte Morde an britischen Soldaten zu ignorieren.338 In einer turbulenten Sitzung stimmte erst eine knappe Mehrheit für Barrys Vorschlag, beim zweiten Nachzählen eine knappe Mehrheit dagegen. 335 336 337 338
O’DONOGHUE, No Other Law, S. 225, 230, 260 f. HOPKINSON, Green, S. 115; VALIULIS, Mulcahy, S. 152; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 245 f. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 226; vgl. BRENNAN, Allegiance, S. 338. Zur Angst der britischen Regierung vor provokativen Angriffen der IRA auf ihre Truppen: MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 627, 633, 652 f.; THE ROUND TABLE, XII, 47, (Juni 1922), S. 535; HOPKINSON, Green, S. 53 f., 73.
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Auch um der Bevölkerung einen neuen Unabhängigkeitskrieg aufzuzwingen, war die IRA also zu defensiv. Barry erreichte genau das Gegenteil von „national unity“. Nach seinem Vorschlag löste sich die Versammlung auf, die IRA-Exekutive spaltete sich jetzt offen in zwei Lager: Die radikaleren Aktivisten folgten Barry in die Four Courts, die Munster IRA um Liam Lynch bezog ihr Quartier in einem Dubliner Hotel. Keines der beiden Lager beschloß eine konkrete Politik für die folgenden Wochen und Monate. Die handlungsunfähige und gespaltene IRA schien der Freistaatsführung so ein leichter Gegner, ein Bürgerkrieg vielleicht sogar auf einen kurzen Kampf um die Four Courts beschränkbar.339 Was läßt sich für die Zeit zwischen Vertragsspaltung und dem Ausbruch des Bürgerkrieges zusammenfassen? Die führenden Propagandisten des Unabhängigkeitskrieges bestimmten ab 1922 auch die Propaganda der konkurrierenden Lager. FitzGerald und Beaslai auf der Seite der Vertragsbefürworter, Childers, Brennan und Gallagher auf der Seite der Republikaner. Dabei waren die von FitzGerald zentral gesteuerten Propagandabehörden der republikanischen Publicity organisatorisch weit überlegen. Vor allem, daß die Dubliner Tagespresse und fast alle Provinzzeitungen den Vertrag unterstützen, wurde zum uneinholbaren propagandistischen Vorsprung des Freistaats. Die nationale Legitimation des Vertragsbefürworter war ohne den direkten Zugriff auf „1916“ und „the Republic“ zunächst brüchig. Ihre republikanische „stepping-stone“-Politik ließ sich nur heimlich umsetzen. Sie ergab keine überzeugenden Propagandageschichten, sondern erzählte im Normalfall von Kompromissen und den Grenzen irischer Souveränität. Dazu war der Versuch, sich hinter einer republikanischen Fassade zu verstecken, wenig überzeugend. Den „nationalen“ Eigenschaften des Vertrages haftete das Stigma des Materialismus und des Verrats an der Republik an. Auf anti-englische Rhetorik konnte die Freistaatspropaganda nur noch mit Schwierigkeiten zurückgreifen. Ihre anti-nordirische Rhetorik unterschied sich kaum von der der Republikaner. Während die Freistaatsführung so in einer Legitimationskrise steckte, fanden die Republikaner auch mit Document No. 2 nicht aus ihrer Handlungskrise heraus. Auf die Vorgaben von „the Republic“ fixiert, waren sie weder gegenüber dem Freistaat noch gegenüber der britischen Regierung kompromißfähig. Erst als die freistaatlichen Propagandisten „majority rule“ und „liberal rights“ ins Nationale wandten, gelang ihnen eine überzeugendere Form der
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Ebd., S. 115, 118; VALIULIS, Mulcahy, S. 152 f.; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 245 f.
IV. „National unity“ oder Konfrontation?
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nationalen Legitimation. Dazu modifizierten sie das republikanische Geschichtsgesetz. Sie definierten den jahrhundertelangen irischen Freiheitskampf als einen Krieg für diese bisher als sekundär geltenden Werte. Dabei gingen sie genauso flexibel und selektiv mit Geschichte um wie ihre republikanischen Gegner. Wegen der zahllosen Übergriffe der IRA fiel es den Freistaatspropagandisten leicht, „majority rule“ und „liberal rights“ zu monopolisieren und dem gesamten republikanischen Lager „britische“ Eigenschaften zuzuschreiben. Dabei machten die republikanischen Politiker der vertragsbefürwortenden Propaganda die Arbeit noch leichter: De Valera und die meisten anderen prominenten Aktivisten distanzierten sich nicht von der IRA, sondern zeigten in ihren Reden selbst immer wieder ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt. So versuchten die republikanischen Politiker mit wenig Erfolg, die innere Einheit des brüchigen republikanischen Spektrums wenigstens nach außen hin zu wahren. Doch trotz des sich schnell polarisierenden Verhältnisses zwischen beiden Lagern gab es keinen Automatismus Richtung Bürgerkrieg. Der von Beaslai Ende 1921 gepriesene Wert „national unity“ war auf beiden Seiten nach wie vor eine Kernvorstellung. Trotz ihrer permanenten Übergriffe, trotz ihrer Verachtung für die öffentliche Meinung war gerade die radikale IRA kulturell angriffsunfähig: Sie war nicht in der Lage, den Angriff gegen ehemalige Kameraden zu denken und umzusetzen. Dennoch scheiterten alle Versuche, einen Bürgerkrieg zu verhindern, weil es in der entscheidenden Frage keine Verhandlungsmasse gab, weil ein Kompromiß nur dann möglich gewesen wäre, wenn Großbritannien nachverhandelt hätte. So sah sich die Führung der Vertragsbefürworter unter dem zunehmenden Druck der britischen Regierung schließlich gezwungen, das Gewaltmonopol des von ihnen propagierten Freistaats militärisch durchzusetzen.
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C. Eskalation: Bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges
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D. MILITÄRISCHE UND SYMBOLISCHE KONFRONTATION: DER OFFENE KRIEG In diesem Kapitel untersuche ich die erste Phase des Krieges: vom Angriff auf die Four Courts bis zur Eroberung der „Munster Republic“ durch die vertragsbefürwortenden Truppen und dem Übergang der IRA zum Guerillakrieg. Ein Krieg, so möchte man annehmen, ist unsentimental; hier zählen harte Fakten: Die Seite, die modernere Waffen, mehr Soldaten oder eine überlegene Strategie hat, gewinnt. Im Krieg messen sich scheinbar objektive Kräfte, die oft grausame Realität bricht sich Bahn. In Propaganda, Ikonographie und Rhetorik spiegeln sich diese Verhältnisse nur wider, die politische Kultur ist im Krieg nur eine Begleiterscheinung; kulturelle Erklärungsversuche scheinen zum Scheitern verurteilt.1 Für den irischen Bürgerkrieg gilt das Gegenteil: Da der Bürgerkrieg um Symbole, um die richtige Deutung der irischen Geschichte geführt wurde, war er für die Zeitgenossen besonders erklärungsbedürftig. Solange die Macht auf beiden Seiten noch nicht institutionell gesichert war, war die „fiktionale“ Ebene, die Definitionsmacht über Symbole und Deutungen, genauso wichtig wie die „faktische“ militärische Macht.2 Die Propagandisten beider Seiten mußten sich selbst und einem möglichst großen Teil der Öffentlichkeit verständlich machen, was da passierte: Warum war das, was alle Seiten vor dem Krieg als Horrorszenario beschrieben hatten, warum war ein „civil strife among brothers“ nötig und auch legitim?3 Das war nicht einfach: Für viele Aktivisten war die Hemmschwelle vor einem Bruderkrieg so hoch, daß sie „the Republic“, manchmal auch „Freistaat“ zurückstellten und neutral blieben.4 Wie die Mehrheit der Bevölkerung den Bürgerkrieg beurteilte, war auch in einem ganz unmittelbaren Sinn entscheidend: militärisch, weil die republikanische Guerillataktik darauf angewiesen war, daß die lokale Bevölke-
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Vgl. das erdrückende Übergewicht rein militärischer Fakten, in: HOPKINSON, Green, passim. Vgl. HUNT, Politics, 56, 72 f., 86. FREEMAN’S JOURNAL, 23. März 1922, S. 4; IRISH INDEPENDENT, 6. April 1922, S. 4; FLK, DeV, 1444/1, Mary MacSwiney an Eoin O’Duffy, April 1922; vgl. den gälischen Terminus für den Bürgerkrieg: „Cogadh na gCarad“: „Krieg unter Freunden“; GARVIN, Hatred, S. 106. HOPKINSON, Green, S. 131; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 204.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
rung die Guerilleros unterstützte;5 politisch, weil die demokratische Legitimationsstrategie des Freistaats nur funktionierte, wenn die Freistaatsführung wirklich den „will of the people“ umsetzte. „The Republic“ machte, wie ich gezeigt habe, notfalls auch gegen „majority rule“ Sinn, „Freistaat“ nicht. Auch ein militärisch siegreicher Freistaat mußte sich den nächsten Wahlen stellen, und erst dann würde sich zeigen, wer den Krieg wirklich gewonnen hatte, welche Deutung des Krieges sich durchgesetzt hatte: Verstand die Mehrheit der Bevölkerung den Bürgerkrieg im republikanischen Sinn als neuen „Anglo-Irish War“6, im freistaatlichen Sinn als eine „armed revolt“7 gegen die nationale Regierung oder quer zu diesen Lesarten als ein sinnloses „bloodshed amongst brethren“8?
I. ORGANISATION VON PROPAGANDA UND ZENSUR Wenn beide Seiten also versuchten, die kulturelle Seite des Bürgerkrieges unter Kontrolle zu bekommen, um ihre Deutung des Bürgerkrieges durchzusetzen, dann kam es nicht nur darauf an, was für Geschichten sie erzählten, sondern auch darauf, wie gut sie ihre Propaganda organisierten. Ich werde zeigen, wie Beaslai und FitzGerald in den ersten Kriegswochen versuchten, die übertriebene freistaatliche Propaganda und die chaotisch organisierte Zensur in den Griff zu bekommen. Auf der republikanischen Seite untersuche ich, wie die Aktivisten in Dublin ihre Propaganda aus dem Untergrund organisierten und wie sie in Munster ganze Provinzblätter zu republikanischen Zeitungen machten. 1. REPUBLIKANISCHE PROPAGANDA UND ZENSUR a) Dublin: Verfolgung der Untergrundpublicity Auch wenn der Ausbruch des Bürgerkrieges für die Republikaner eine legitimatorische Chance barg, so eiskalt kalkulierten die republikanischen Propagandisten nicht: Das Versagen einer politischen Lösung, den endgültigen Zusammenbruch von „national unity“ verstanden sie als Scheitern, als Alptraum. Childers beschrieb in einem Brief an seine Frau diese fast körperlich fühlbare Niedergeschlagenheit: „Seen Bob [Robert Barton] in the depths of 5 6 7 8
HOPKINSON, Green, S. 127 f.; vgl. ebd., 144, 175; O’MALLEY, Singing Flame, S. 145, 148. NLI, BP, box 6, republikanischer Propagandaartikel, ca. 28. August 1922. YOUNG IRELAND, 8. Juli 1922, S. 2. IRISH INDEPENDENT, 28. April 1922, S. 4.
I. Organisation von Propaganda und Zensur
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depression and hopelessness. Says we can’t do anything. DeV [ de Valera] I think has collapsed.“9 Die republikanischen Propagandisten hatten allerdings nicht viel Zeit, um sich ihren Depressionen hinzugeben, denn die vertragsbefürwortende Armee ging entschieden gegen die republikanische Presse vor. Sie durchsuchte Häuser, Druckereien, unterdrückte die radikale Plain People genauso wie das gemäßigte New Ireland.10 Die republikanisch-sozialistische Worker’s Republic floh gleich nach Ausbruch des Krieges nach London, von wo aus sie erst Ende Juli wieder erschien.11 Nur das Catholic Bulletin überlebte, ohne in den Untergrund zu gehen. Als monatliche Zeitschrift konnte das Blatt nicht auf aktuelles Tagesgeschehen reagieren. Es verzichtete zudem von sich aus auf „features [. . .] which might accentuate current controversy“.12 Das hieß: das Catholic Bulletin vermittelte seine vertragsablehnende Propaganda nur zurückhaltend und gebrochen: über fiktionale Kurzgeschichten, in Nachrufen oder über historische oder internationale Analogien.13 So kommentierte es im März 1923 den ägyptischen Patriotismus; „For how long must the people of the earth suffer for Great Britain’s lust of possession? – a lust so often satisfied by that fruitfull Mother of Dissension – compromise.“14 Der propagandistische Schaden, den das Catholic Bulletin so anrichten konnte, war gering, rechtfertigte aus freistaatlicher Sicht nicht, ein wenig gelesenes Blatt mit hohem nationalen Prestige zu unterdrücken. An Poblacht, die jetzt als tägliches Flugblatt An Poblacht – War News herauskam, war nun für einige Zeit das einzige republikanische Blatt in Dublin. Als Childers Anfang Juli nach Cork floh, übernahm sein engster Mitarbeiter Gallagher die Poblacht.15 Ein Netz von Cumman na mBan-Aktivistinnen und Mitgliedern der republikanischen Jugendorganisation Fianna verkaufte die Poblacht in Dublin oder plakatierte sie an Hauswänden. Auch einige Zeitungsjungen und Zeitschriftenläden verkauften die Poblacht unter der Hand. Die Auflage der Poblacht schwankte vermutlich zwischen 9 10
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TCD, CP, 7852–5, 1269, Childers an Mary Childers, 12. Juli 1922; vgl. LONGFORD und O’NEILL, De Valera, S. 196. TCD, CP, 7816, Childers Diary, 29. Juni 1922; FENIAN, 26. August 1922, S. 3; DAILY BULLETIN, 19. Oktober 1922; THE PLAIN PEOPLE-WAR OF DEFENCE EDITION, 2. Juli 1922 (letzte Ausgabe). WORKER’S REPUBLIC, 1. Juli 1922 (= no.38); 19. Juli 1922 (= no.39). CATHOLIC BULLETIN, August 1922, S. 481. CATHOLIC BULLETIN, März 1923, S. 165, Kurzgeschichte, „the uncrushable spirit“; August 1922, S. 485–96, Nachruf auf Cathal Brugha. CATHOLIC BULLETIN, März 1923, S. 152. TCD, CP, 7852–5, 1272, Childers an Mary Childers, 14. Juli 1922.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
3500 und 5000. Außerhalb Dublins gelangte die Poblacht anfangs nur durch Zufall.16 Die Provisorische Regierung setzte alles daran, das Blatt zu unterdrükken. Allein im Juli beschlagnahmte das vertragsbefürwortende Militär in zahllosen Razzien viermal die Druckmaschinen der Poblacht.17 Wo sie konnte, verhaftete die Freistaatsarmee die Mitarbeiter der Poblacht und andere prominente Propagandisten. Während die Freistaatsbehörden zu Beginn des Krieges die meisten republikanischen Politiker nicht inhaftierte,18 wog der Wunsch, die republikanische Agitation lahmzulegen, bald mehr, als die Angst vor ungewollten Märtyrereffekten.19 Der Kreis derjenigen, die nur wegen ihrer politischen Überzeugung interniert waren, wurde schnell größer.20 Da die Poblacht trotz der Razzien weiter erschien, versuchte die Provisorische Regierung, potentielle Drucker einzuschüchtern. Collins: „We won’t get obedience to authority until punishments are definitely carried out.“21 Anfang August schloß die Provisorische Regierung die Wood Printing Works, weil sie vermutete, daß dort die Poblacht gedruckt werde. Das geschah ohne Gerichtsverfahren, ja ohne stichhaltige Beweise, lediglich auf Grund eines, wenn auch berechtigten, Verdachts.22 Mit den „constitutional methods“ und „liberal rights“, für die sie laut offizieller Propaganda kämpfte, ging sie dabei genauso pragmatisch und flexibel um wie seit Dezember 1921 mit „the Republic“. Die Priorität lag auf effizientem Handeln, nicht auf der Kohärenz der eigenen Legitimationsstrategie oder gar auf abstrakten Werten. 16
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University College Dublin, Ernie O’Malley Papers (UCD, OMP), P17a/23, Poblacht supplied to Cumman na mBan, 1–13. Januar 1923; vgl. UCD, OMP, P17a/144, Cumman na mBan – Publicity an Ernie O’Malley, Publicity report for week ending, 16. September 1922; vgl. ebd., reports for weeks ending, 9. September 1922–6. Dezember 1922; UCD, MP, P7/B/92, Brennan an Lynch, 20. März 1923; FLK, DeV, 241, Brennan an de Valera, 26. Oktober 1922; ebd., Publicity Report, Januar 1923, ca. 2. Februar 1923. NAI, PG Minutes, G1/2, 3. Juli 1922; TCD, CP, 7817, Childers Diary, 3. Juli 1922; siehe auch: TCD, CP, 7852–5, 1266, Childers an Mary Childers, 6. Juli 1922; AN POBLACHT-WAR NEWS, 4. Juli 1922; 7. Juli 1922. NAI, PG Minutes, G1/2, 17. Juli 1922. UCD, FGP, P80/736, Department Intelligence, 16. August 1922; FitzGerald an Austin Clarke, 5. September 1922; UCD, MP, P7/B/1, Collins an Richard Mulcahy, 9. August 1922; 10. August 1922; ebd., P7/B/43, Richard Mulcahy an Collins, 11. August 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 9. September 1922; IRISH WORLD, 11. November 1922, S. 1; University College Dublin, Lily O’Brennan Papers (UCD, OBP), P13/1, Lily O’Brennan an Fan[ny Ceannt], 10. November 1922. NAI, D/T, S-1569, Collins an Provisorische Regierung, 5. August 1922. NAI, D/T, S-1569, Irregulars-Wood Printing Works; UCD, MP, P7/B/29; NAI, PG Minutes, G1/3, 5. August 1922; TCD, GP, 10050/512, chequebook.
I. Organisation von Propaganda und Zensur
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Unter diesen Bedingungen wurde es für Childers und ab Mitte Juli für Gallagher immer schwerer, die Poblacht herauszugeben: Ohne Anzeigenteil in finanziellen Nöten, mußten sie ständig die Drucker wechseln. Die weigerten sich häufig, den riskanten Auftrag anzunehmen, oder sie verlangten Risikozuschläge.23 Unentdeckt zu arbeiten, war für die republikanischen Propagandisten jetzt viel schwerer als im Unabhängigkeitskrieg. Diesmal wußte der Feind, mit wem er es zu tun hatte, kannte die meisten Kontaktadressen und Verstecke aus der Zeit des gemeinsamen Kampfes. Gallagher etwa mußte die meiste Zeit in einem geheimen Zimmer hinter einer Bücherwand verbringen. Doch auch dort fand ihn das Militär im August 1922.24 b) Munster: Übernahme und Zerstörung der regionalen Presse Unter dem Druck des Freistaats flohen die meisten republikanischen Politiker aus Dublin in die „Munster Republic“. Führende Propagandisten, darunter Childers und Brennan, trafen sich in Cork, um ihre Propaganda zu koordinieren.25 Für sie arbeiteten prominente Republikaner wie Mary MacSwiney, aber auch junge Talente wie Frank O’Connor und Sean O’Faolain.26 Im Vergleich zu Dublin herrschten in Cork geradezu traumhafte Bedingungen für die republikanische Propagandisten: Sie konnten ungestört arbeiten und hatten genügend Geld. Nur eines fehlte ihnen dringend: aktuelle Nachrichten. Childers, der, nachdem Brennan nach Dublin zurückgegangen war, die republikanische Propaganda in Cork allein koordinierte: The lack of communication is desperate from point of view of propaganda. Cork is utterly cut off from Dublin and knows nothing to make prop[aganda] of [.. .] nine days not a single Dublin newspaper, so don’t even get FS [Free State] news.27
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TCD, CP, 7817, Childers Diary, 4–14. Juli 1922; TCD, CP, 7852–5, 1268, Childers an Mary Childers, 9. Juli 1922; TCD, CP, 7852–5, 1272, Childers an Mary Childers, 14. Juli 1922; TCD, CP, 7852–5, 1274, Childers an Mary Childers, 10. Juli 1922; TCD, GP, 10050/380, Childers an Gallagher, 18. Juli 1922. O’MALLEY, Singing Flame, S. 158 f.; TCD, CP, 7847–52, 386, Gallagher an Mary Childers, 22. August 1922. Das galt für Guerilleros und Propagandisten gleichermaßen: O’DONOGHUE, No Other Law, S. 266; HOPKINSON, Green, S. 128, 145, 211. TCD, CP, 7817, Childers Diary, 19. Juli 1922; BRENNAN, Allegiance, S. 256, 347, 352. UCD, MSW, P48a/235, Lynch an Mary MacSwiney, 20. Juli 1922; FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 211; BRENNAN, Allegiance, S. 352; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 188. TCD, CP, 7852–5, 1276, Childers an Mary Childers, 25. Juli 1922; vgl. TCD, CP, 7852–5, 1275, Childers an Mary Childers, 21. Juli 1922; GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 98; BRENNAN, Allegiance, S. 354.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
Nach Beginn des Bürgerkrieges war Munster schnell vom Rest Irlands isoliert. Die IRA zerstörte während des gesamten Bürgerkrieges Straßen, Schienen, Telegraphen- und Telephonmasten.28 Erreichten doch einmal Dubliner oder englische Zeitungen Munster, wurden sie von der IRA verbrannt.29 „Nowadays even the sight of a newspaper in county Tipperary is likely to cause a panic“, witzelte der Irish Independent.30 Um ihre Propaganda zu verbreiten, setzten die Republikaner auf eine rigorose Zensurpolitik. Sie kontrollierten die örtlichen Telegraphen- und Postämter, verhinderten so, daß pro-freistaatliche Nachrichten Cork verließen oder erreichten.31 Während die IRA die unionistische Cork Constitution unterdrückte,32 unterwarfen sie die nationale Tageszeitung Cork Examiner einer strengen Vor- und Präventivzensur.33 Jeder Artikel mußte vor dem Druck obligatorisch zensiert werden und war solange verboten, bis er offiziell freigegeben war.34 Der Redaktion ließen die Propagandisten kaum Spielräume. Entgegen der offiziellen Erklärung, die Zensur existiere „merely for the purpose of securing impartial reports“35, erinnert sich Brennan: „I was to go to Cork to edit the Cork Examiner an opposition paper that our fellows had taken over.“36 Anfangs reservierte sich die republikanische Publicity nur eine Seite des Examiner für ihre offizielle Propaganda.37 Die Kriegsberichte des Examiner stammten aus offiziellen republikanischen Bulletins oder zensierten Berichten der vertragsbefürwortenden Presse. Der republikanische Zensor unterdrückte gleichzeitig jegliche Form von Kritik an den Übergriffen der IRA. Die republikanischen Aktivisten griffen bald noch weiter in den redaktionellen Teil der Zeitung ein. Bald versorgte Childers die Redaktion des Examiners auch mit Propaganda, die nicht mit Hinweisen wie „Army Publicity“ kenntlich gemacht worden war. Ab Mitte Juli waren alle Nachrichten des Examiner deutlich republikanisch gefärbt und verwendeten republikanische Terminologie. Der republikanischen Publicity lag dabei wenig daran, 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
HOPKINSON, Green, S. 198–200. Eason’s Archive: G. Toms an Eason & Son, 7. Juli 1922; Charles Eason’s Diary, 11. Juli 1922; 12. Juli 1922. IRISH INDEPENDENT, 19. Juli 1922, S. 3. FREEMAN’S JOURNAL, 15. Juli 1922, S. 5. IRISH INDEPENDENT, 24. Juli 1922, S. 6. Siehe Korrespondenz Beaslais mit zahllosen Dubliner Herausgebern, in NLI, BP, box 6. Vgl. KLAUS KANZOG, Zensur, literarische, in: KOHLSCHMIDT, et. al. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte Bd. 4. Berlin 1984, Sp. 998–1049, hier: Sp. 1000 f. CORK EXAMINER, 3. Juli 1922, S. 4. BRENNAN, Allegiance, S. 352. Z.B. CORK EXAMINER, 3. Juli 1922, S. 6: „This space is reserved for the Republican Publicity Department“; ebd., 7. Juli 1922–14. Juli 1922, je S. 4.
I. Organisation von Propaganda und Zensur
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friedlich mit der Redaktion zu kooperieren. Sie zwang die Redaktion zum Teil „at the point of the gun“, republikanische Nachrichten und Kommentare in die Spalten des Examiner aufzunehmen.38 Die Freiräume, die der Redaktion des Cork Examiner so noch blieben, waren minimal. Durch kurze Hinweise durfte sie auf die Zensur und Propaganda aufmerksam machen39, und sie durfte weiterhin unpolitische Leitartikel veröffentlichen. Deshalb beschäftigten sich die Leitartikel in der heißesten Phase des Bürgerkrieges mit Plänen für Wasserkraftwerke oder mit der Qualität der Corker Milchkühe. Hier klang manchmal ein Rest Protest durch: Der Cork Examiner thematisierte vorsichtig und indirekt, daß die zivile Verwaltung, der wirtschaftliche Aufbau Irlands, das Geschäftsleben und die Versorgung mit Konsumgütern nicht mehr funktionierte. Wer daran Schuld war, schrieb der Examiner nicht, aber das wußten die Leser ohnehin: Die IRA-Besatzung in Cork.40 In jedem Gebiet, das die IRA längere Zeit kontrollierte, führten republikanische Propagandisten eine Zensur ein, die sich nur unwesentlich von der Pressekontrolle in Cork unterschied. Es machte dabei keinen Unterschied, ob die zensierte Zeitung zuvor moderat republikanisch gewesen war, wie die Waterford News, oder ein alter Feind der Vertragsgegner, wie der Nationalist in Clonmel.41 Kurz bevor die vertragsbefürwortenden Truppen die Städte im Süden und Westen Irlands eroberten, übernahm die IRA die Pressepolitik der Vertragsgegner. Die IRA setzte wieder auf Gewalt. Liam Lynch, Kopf der IRA, definierte am 7. August 1922 in seiner „Operation Order No.7“ „hostile newspapers“ offiziell als militärische Ziele.42 Die IRA zerstörte die telegra38
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IRISH INDEPENDENT, 24. Juli 1922, S. 6, Bericht über Treffen des Cork District Trade and Labour Council; vgl. THE IRISH PEOPLE-WAR SPECIAL, 30. Juli 1922, S. 4, Brief James Crosbies an Zensor; CORK EXAMINER, 14. August 1922, S. 5. CORK EXAMINER, 1. Juli 1922, S. 7; 8. August 1922, S. 5; vgl. NATIONALIST, 19. Juli 1922, S. 2. Erstmals: CORK EXAMINER, 29. Juni 1922, S. 5; zuletzt: CORK EXAMINER, 8. August 1922, S. 5. Siehe: NATIONALIST, 5. Juli 1922–2. August 1922; WATERFORD NEWS, 30. Juni 1922– 14. Juli 1922. MUNSTER NEWS 9. August 1922, S. 3; KERRY PEOPLE, 1. Juli 1922, S. 2; 8. Juli 1922, S. 3; 15. Juli 1922, S. 4. Zu Limerick: NAI, D/T, S-3361, Report from Limerick, 10. Juli 1922. Der unionistische EAGLE in Skibereen gab am 8. Juli 1922 unter dem Druck der republikanischen Besatzung sein Erscheinen „vorläufig“ auf: EAGLE, 8. Juli 1922, S. 2. Für Connaught, siehe WESTERN PEOPLE, 22. Juli 1922, S. 5; 28. Juli 1922; 5. August 1922, S. 4. Die MAYO NEWS stellte nach dem 15. Juli 1922 ihr Erscheinen unter republikanischem Druck für zwei Wochen ein: MAYO NEWS, 5. August 1922, S. 2. Während der republikanischen Besatzung Dundalks gab es dagegen keine Anzeichen für Zensur: DUNDALK DEMOCRAT, 5. August 1922; 19. August 1922, S. 4. UCD, MP, P7a/86, Notebook of Lynch, darin: operation order no.7, 7. August 1922.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
phischen Einrichtungen in Valentia, Waterville und Clifden und verhinderte damit, daß die Vertragsbefürworter die USA ohne Zeitverzögerung mit Propaganda versorgten.43 Bevor die republikanischen Truppen am 8. August 1922 Cork verließen, verwandelten sie die Druckanlagen des Cork Examiner, der Cork Constitution und des Zeitungsgroßhandels News Brothers in Schrott.44 Schnell zeigte sich, wie ineffizient diese Politik war: Schon drei Tage nach dem Anschlag gelang es dem Cork Examiner, in einer Notausgabe, wenig später wieder im gewohnten Umfang zu erscheinen. Die redaktionelle Politik war jetzt dezidiert antirepublikanisch. Das Blatt begrüßte die freistaatlichen Truppen als Befreier.45 Auch der finanzielle Schaden hielt sich in Grenzen: Cork Examiner und Cork Constitution wurden aus lokalen Mitteln entschädigt.46 Anschläge wie auf die Corker Zeitungen verübte die IRA in vielen Städten Irlands. In Limerick zerstörte die IRA mehrere Zeitungen, in Sligo überfiel sie erneut den Sligo Champion. Dazu entführte sie immer wieder mißliebige Journalisten. Doch nicht überall demontierte die IRA Zeitungsdruckereien, bevor sie aus den Städten in Munster abzog. Ob die örtliche Presse ein militärisches Ziel der IRA wurde, lag, wie schon vor dem Krieg, am Gutdünken des örtlichen Befehlshabers. So war das Büro des Munster Express während des Kampfes um Waterford ein republikanischer Militärposten; ansonsten blieben die Zeitungsbetriebe in Waterford unversehrt. Auch der Nationalist hatte diesmal Glück. Der Intimfeind der Redaktion, Dinney Lacey, operierte mit seiner Einheit außerhalb der Stadt, als die IRA Clonmel räumte. So überstand das Blatt den Abzug der IRA unbeschadet.47
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UCD, FGP, P80/298, captured document, ca. 28. Juli 1922; UCD, MP, P7/B/1, Collins an Richard Mulcahy, 1. August 1922; IRISH INDEPENDENT, 11. August 1922, S. 5; GALWAY OBSERVER, 12. August 1922, S. 3. IRISH INDEPENDENT, 12. August 1922, S. 6 f; CORK EXAMINER, 12. August 1922, S. 3; CULLEN, Eason, S. 217. CORK EXAMINER, 14. August 1922, S. 5; vgl. ebenso NATIONALIST, 12. August 1922, S. 2. CORK EXAMINER, 29. September 1922, S. 5 f.; 30. September 1922, S. 7; Die CORK CONSTITUTION überlebte den Anschlag dennoch nicht: Für eine unionistische Zeitung gab es zu wenig Leser, um die Verluste der Bürgerkriegszeit wieder auszugleichen: ORAM, Newspaper Book, S. 152. CORK EXAMINER, 30. September 1922, S. 7; NAI, PG Minutes, G1/3, 17. August 1922, Compensation for Limerick Newspapers; vgl. LIMERICK WEEKLY ECHO, No.2233 erschien am 5. August 1922, No.2236 am 21. Oktober 1922. Zwischen 30. Juni 1922 und 13. Oktober 1922 sind insgesamt zehn Ausgaben des LIMERICK LEADER nicht erschienen; SLIGO CHAMPION, 2. September 1922, S. 2; 9. September 1922, S. 2; AN POBLACHT-SOUTHERN EDITION, 6. September 1922; IRISH INDEPENDENT, 18. August 1922, S. 4; NATIONALIST, 12. August 1922, S. 3; vgl. HOPKINSON, Green, S. 168 f.; ORAM, Newspaper Book, S. 152.
I. Organisation von Propaganda und Zensur
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2. FREISTAATLICHE PROPAGANDA, PRESSEKONTROLLE UND ZENSUR a) Improvisation und Nervosität Die freistaatlichen Propagandisten versuchten, ihre Version des Krieges über drei verschiedene Kanäle durchzusetzen: offene Propaganda, Vorzensur und nachträgliche Presseüberwachung. Während die vertragsbefürwortende Propaganda in Cork nicht einmal eine Untergrundpublicity organisieren konnte, war sie in Dublin den Republikanern organisatorisch haushoch überlegen. FitzGerald koordinierte die freistaatliche Propaganda, wie vor dem Krieg, über das Publicity Department des ex-revolutionären Dail Kabinetts. Das Publicity Department unterstützte offizielle und halboffizielle Propagandablätter wie Free State, Young Ireland, Truth – War Issue, Irish People- War Special oder Separatist. Es veröffentlichte und kommentierte abgefangene Briefe prominenter Republikaner48, versorgte die Dubliner Tageszeitungen mit selektiver Information zu den Kämpfen und publizierte offizielle Regierungsstatements.49 Wenn sie über die Kampfgebiete berichteten, waren die Zeitungen, gerade in der Anfangsphase des Krieges, weitgehend auf die „official bulletins“ und die häufig gestellten Photos des Publicity Department und der freistaatlichen Army Publicity angewiesen.50 Die Mitarbeiter des Publicity Department reagierten zu Beginn des Bürgerkrieges nervös. Sie versuchten den Eindruck zu erwecken, der Bürgerkrieg sei eine lokal auf Dublin und seine Umgebung beschränkte Revolte.51 Zwar meldeten die „official bulletins“ täglich neue Siege der vertragsbefürwortenden Truppen, doch verschwieg die Freistaatspropaganda zu Beginn des Krieges, welche Gebiete nun eigentlich freistaatlich und welche republikanisch kontrolliert waren.52 Zu offensichtliche Lügen wurden schnell zu Propagandageschenken für die Republikaner. So spottete die Poblacht An-
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Z. B. UCD, FGP, P80/337, Briefe von Sean T O’Kelly, Ernie O’Malley, Harry Boland; NAI, D/T, S-1376, statement of Patrick Little, 5. Juli 1922; NAI, D/T, S-1573, FitzGerald, publication of captured documents. NAI, PG Minutes, G1/2, 27. Juni 1922; 29. Juni 1922; 30. Juni 1922; NAI, D/T, S-1394; ebd., S-1628; UCD, FGP, P80/736, Liste mit Propagandamaterial des Publicity Department, das im IRISH INDEPENDENT zwischen 12. Juli 1922 und 16. August 1922 veröffentlicht wurde. Siehe exemplarisch: IRISH TIMES, 3. Juli–8. Juli 1922: Gut die Hälfte der Kriegsberichte stammt aus „official bulletins“. Für ein Beispiel eines offensichtlich gestellten Propagandaphotos siehe: COOGAN und MORRISON, Civil War, S. 202, Photo No. 255; vgl. dagegen ebd., S. 203, Photos No. 257, 258. YOUNG IRELAND, 8. Juli 1922, S. 2. Erstes „official statement“ zur Lage in ganz Irland: UCD, FGP, P80/298 (8), official statement on the overall military situation, ca. 18. Juli 1922.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
fang Juli: „Cork is normal says the censored Press, quite so. Cork is under the absolute control of the IRA.“53 Um die legitimatorischen Risiken des Bürgerkrieges zu kontrollieren, setzte die Provisorische Regierung darauf, jede Information und Meinung von vornherein zu kontrollieren. Sie führte, wie die Republikaner in Munster, eine strenge Präventiv- und Vorzensur ein: Was nicht erlaubt war, war verboten, und jeder Artikel mußte prinzipiell vor der Veröffentlichung zensiert werden. An der Geschichte dieser Zensur kann man im kleinen verfolgen, wie die Provisorische Regierung in den Bürgerkrieg stolperte. Nichts an der Gründung der Zensurbehörde spricht dafür, daß die Freistaatsführung den Bürgerkrieg wohlüberlegt und geplant begonnen hätte. Es gab keine Beratungen, keine abgesprochene Zensurstrategie, keine Gespräche unter den führenden Propaganda- und Rechtsexperten, wie man Zensur hätte organisieren und rechtfertigen können. Als die Führung der Vertragsbefürworter die Zensur einführte, verfuhr sie chaotisch. Direkt nach dem Angriff auf die Four Courts bestellte die Provisorische Regierung die Redakteure aller Dubliner Zeitungen ins Regierungsgebäude. Gleichzeitig warnte sie alle Dubliner Drucker davor, unzensierte Nachrichten zu drucken. Doch die zivile Zensurbehörde, an die sich Drucker und Zeitungen hätten wenden sollen, hat es nie gegeben.54 Zensur wurde statt dessen Aufgabe des Militärs. Chefzensor wurde der Leiter der Army Publicity Beaslai. Beaslai war wenig begeistert, als er am 29. Juni 1922 einen handgeschriebenen Papierfetzen von Eoin O’Duffy, Chief of Staff der vertragsbefürwortenden Armee, erhielt: You will attend at Brunswick St[reet] DMP [Dublin Metropolitan Police] Police Station + take over control of the Military Press Censorship. You are hereby authorized to appoint the staff you consider required.55
So informell kann es aussehen, wenn formelle Zensur eingeführt wird.56 Beaslai war jetzt, ob er wollte oder nicht, Chefzensor. Alles weitere war ihm
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AN POBLACHT -WAR NEWS, 14. Juli 1922; vgl. FREEMAN’S JOURNAL, 14. Juli 1922, S. 3; so auch die Einschätzung des Rechtberaters der Provisorischen Regierung: UCD, MP, P7/53/, Hugh Kennedy, Memo on standardisation of Censorship, 14. Juli 1922. NAI, PG Minutes, G1/2, 28. Juni 1922; 29. Juni 1922; NAI, D/T, S-1394, notice, 28. Juni 1922; ebd., Liste mit allen Druckereien Dublins; GLANDONE, Advanced Nationalist Press, S. 227; CULLEN, Eason, S. 212. NLI, BP, box 6: Eoin O’Duffy an Beaslai, 29. Juni 1922; Beaslai an Gearóid O’Sullivan, 4. August 1922. Zur Differenzierung von formeller und informeller Zensur, siehe: KANZOG, Zensur, Sp. 1000 f.
I. Organisation von Propaganda und Zensur
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überlassen. Die militärische Führung hatte zu Beginn des Bürgerkrieges andere Sorgen als ausgerechnet die Zensurstelle. Unter diesen Umständen mußte Beaslai das tun, was er als erfahrener Untergrundaktivist am besten konnte: In eigener Regie improvisieren. Innerhalb der ersten Julitage hatte Beaslai eine provisorische Zensurbehörde in der Brunswick Street organisiert, die er mit seinen privaten Ersparnissen vorfinanzierte.57 Doch nicht nur die Zensurbehörde versuchte, die Presse zu kontrollieren. Die Mitarbeiter im Press Room Department der Provisorischen Regierung fertigten ab Juli 1922 detaillierte Presseberichte für die Führung der Vertragsbefürworter an. Diese Berichte waren eine zweite Sicherung, die Fehler des Zensors, vor allem aber Verstöße jenseits des Zensurkriteriums registrierte: Wieviel Prominenz gab die Presse unangenehmen Themen? Gab sie Material des Publicity Departement unvollständig, verändert oder gar nicht wieder? Machte sie inoffizielle Propaganda gegen den Wunsch der Propagandabehörden kenntlich?58 Dieses genaue Nachhaken machte die Berichte auch zu einer differenzierten Quelle zu den Tabus und wunden Punkten der vertragsbefürwortenden Legitimation. Denn gerade zu Beginn des Bürgerkrieges reagierten die Mitarbeiter des Press Room Department ähnlich nervös wie ihre Kollegen, die im Publicity Department Dail Eireanns unglaubwürdige und übertriebene Propaganda produzierten. Das Press Room Department registrierte kleinlich jede Abweichung von der offiziellen Linie.59 War die Einstellung einer Zeitung „nicht befriedigend“, bat die Provisorische Regierung Redakteure oder Besitzer zu einem „friendly interview“. Um die Presse auch richtig zu beeindrucken, führten ranghohe Regierungsmitglieder diese Interviews durch, meistens FitzGerald, und, wo die Presse sich nicht belehren ließ, auch Collins persönlich.60 Auch Beaslai reagierte als Zensor zu Beginn des Bürgerkrieges nervös: In den ersten zwei Wochen unterstützte nur eine Sekretärin den chronisch überarbeiteten Beaslai. Selbst als er Ende Juli insgesamt vier Mitarbeiter hatte, klagte er, seine Angestellten seien mit einem Elf- bis Zwölfstundentag
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Richard Mulcahy kümmerte sich erstmals Mitte Juli, dann erneut Ende Juli um die Zensur: UCD, MP, P7/B/52, Hugh Kennedy, Memo on standardisation of Censorship (mit handschriftlichen Vermerken Richard Mulcahys), 14. Juli 1922; ebd., Richard Mulcahy an Beaslai, 25. Juli 1922; NLI, BP, box 6, Beaslai an Gearóid O’Sullivan, 4. August 1922. Bezeichnend für den impovisierten Charakter der Zensurbehörde ist allein schon, daß Beaslai, als die Zensurbehörde geschlossen wurde, alle „Akten“ mit nach Hause nahm. UCD, FGP, P/80/295, Memos re Dublin Press; NAI, D/T, S-1376, Memos re Dublin Press. NAI, D/T, S-1376, Memos re Press bis 15. Juli 1922. NAI, PG Minutes, G1/2, 28. Juni 1922; 6. Juli 1922; NAI, D/T, S-1322, Collins an FitzGerald, 13. April 1922; Interview durch Collins: NAI, PG Minutes, G1/2, 7. Juli 1922.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
überlastet.61 Beaslai übersah zu Beginn häufig anstößige Passagen,62 zensierte dasselbe Thema in verschiedenen Zeitungen unterschiedlich.63 Trotz Vorzensur veröffentlichten einige Zeitungen Anfang Juli noch immer Artikel, ohne sie dem Zensor vorzulegen.64 So unter Druck, hatte Beaslai keine Nerven und Zeit für Toleranz. Ähnlich wie den Republikanern in Cork gelang es ihm zunächst nicht, Zensur taktisch einzusetzen. Da er die Presse nicht kontrollieren konnte, versuchte der in die Enge getriebene Beaslai ein Exempel zu statuieren. Da Irish Independent und Evening Herald zum Ärger des Press Room Department immer wieder gegen die Zensurauflagen und die Hinweise aus den „friendly interviews“ verstießen, befahl Beaslai am 10. Juli 1922 eigenmächtig, beide Blätter zu unterdrücken.65 Gerade die Härte gegenüber dem Irish Independent war dabei erstaunlich. Während der Evening Herald offenbar systematisch ausprobierte, wieweit er den Zensor ignorieren konnte, unterschied sich Irlands größte Tageszeitung, wie auch das Press Room Department zugab, nur in Nuancen von der offiziellen Linie.66 b) Gutachten, Rivalitäten, Protektion Auch die Provisorische Regierung erkannte, daß eine rein repressive Politik ein Zeichen von Schwäche war. Sie widerrief Beaslais Befehl und begann eine Grundsatzdiskussion mit der militärischen Führung über die richtige Zensur- und Propagandastrategie.67 Ausreichend Anlaß zur Kritik boten die überstrenge, chaotische Zensur und die unglaubwürdige Propaganda ja genug. Von Beaslais eigenmächtigem Handeln irritiert, wandte sich die Provisorische Regierung an Collins, jetzt Oberkommandierender der Freistaatstruppen. Collins sollte entscheiden: „as to how far the Military Censor
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NLI, BP, box 6, Liste, Temporary Staff Military Censor’s Department, ca. 15. August 1922; ebd., Beaslai an Gearóid O’Sullivan, 22. Juli 1922; ebd., Memo re Work of Censor’s Department, ca. 29. Juli 1922. UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 29. Juni–12. Juli 1922. UCD, MP, P7/B/53, Hugh Kennedy Memo on standardisation of Censorship, 14. Juli 1922. Z. B.: NAI, D/T, S-1376, Memo re EVENING HERALD, 8. Juli 1922; ebd., Memo re Dublin Press, ca. 10. Juli 1922 zu SUNDAY INDEPENDENT; NLI, BP, box 6, Eamon O’Duibhir an Beaslai, 26. Juli 1922; Siehe auch: EVENING HERALD, 5. Juli 1922, S. 5; WESTERN PEOPLE, 22. Juli 1922, S. 5. NLI, BP, box 28a, Liste, in der für jeden Tag die aufgehaltenen britischen und irischen Zeitungen aufgeführt sind (Zensurliste), 10. Juli 1922. NAI, PG Minutes, G1/2, 6. Juli 1922; 7. Juli 1922; 8. Juli 1922; NAI, D/T, S-1376, Memo re INDEPENDENT, 8. Juli 1922; Memo re EVENING HERALD, 8. Juli 1922; siehe ebenfalls: UCD, FGP, P80/295, Memo re EVENING HERALD, 29. Juni 1922–10. Juli 1922; ebd., Memo re Evevning Herald, 1. Juli 1922. UCD, MP, P7/B/53, Copy minute re Censorship, 12. Juli 1922.
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may be instructed to deal with matters that are not directly military matters.“ Das war das für den revolutionären Untergrund normale Verfahren gewesen. Die Provisorische Regierung wandte sich an die Autoritätsperson Collins und erwartete eine ad-hoc-Entscheidung. Doch Collins entschied nicht, sondern bat seinerseits die Provisorische Regierung um ein ausführliches Memorandum zur Zensur.68 Diese Aufgabe gab die Provisorische Regierung an einen sachverständigen Gutachter, ihren Rechtsberater Hugh Kennedy, weiter.69 Damit bediente sie sich einer für irische Revolutionäre ungewöhnlichen und relativ neuen Methode. Sie verließ sich auf eine bürokratische, „staatliche“ Verfahrensweise: Gutachten und gemeinsame Beratung in Ausschüssen oder im Plenum. Das war symptomatisch für einen allmählichen Wechsel im politischen Stil der Freistaatsführung: Sie ersetzte nach und nach die spontanen Methoden des Untergrundes durch geregelte Verfahren. Mit diesem Übergang von spontanen und ungeregelten Entscheidungen zu standardisierten Verfahren brauchte man auch einen neuen Politikertyp; einen Typ, der nun immer häufiger alte Revolutionäre verdrängte und selbst Karriere machte: Offiziere und Bürokraten mit guter Ausbildung und Sachkenntnis, aber ohne nennenswerte revolutionäre Verdienste. Besonders gefragt waren Juristen, die durch ihre Erfahrung im öffentlichen Recht wußten, wie man eine Verfassung erarbeitete und damit einen Staat herstellte.70 Keiner repräsentierte diesen neuen Typus besser als der neue Rechtsberater des vertragsbefürwortenden Lagers, Hugh Kennedy. Wie FitzGerald und Beaslai war auch er ein Experte im Herstellen von Legitimität. Doch erklärte er das Funktionieren der politischen Welt nicht mehr primär über Märtyrer und den Lauf der Geschichte, sondern über Recht, Ordnung und „Staat“. Als dritten und letzten meiner freistaatlichen Geschichtenerzähler werde ich ihn hier kurz vorstellen: Kennedy wurde 1879 als ältester Sohn eines Dubliner Arztes geboren. Nach einer privaten Schulbildung ging er direkt an die Universität, machte danach als Jurist Karriere. Kennedy war zwar seit 1899 Mitglied der Gaelic League, während der Revolution jedoch kein prominenter Aktivist. Das änderte sich schnell, nachdem er als juristischer Berater während der Vertragsverhandlungen zu dem Rechtsexperten der Vertragsbefürworter wurde. Mit 68 69
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UCD, MP, P/7/29, Collins an Provisorische Regierung, ca. 12. Juli 1922; LYONS, War of Independence, S. 243. NAI, PG Minutes, G1/2, 14. Juli 1922, Annahme des Kennedy-Memorandums durch die Provisorische Regierung; UCD, MP, P7/B/53, Hugh Kennedy, Memo on standardisation of Censorship, 14. Juli 1922. GARVIN, 1922, S. 159–62.
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einem stattlichen Gehalt von 77 Pfund pro Woche war er aus republikanischer Sicht der typische Vertreter des freistaatlichen Karrieristen und „jobber“.71 Ab Januar 1922 war Kennedy Teil des Juristenteams gewesen, das mit Entwurf „B“ an der entscheidenden Rohfassung der irischen Verfassung gearbeitet hatte. Kennedy reiste mit der irischen Verfassungsdelegation nach London. Er war es auch, der auf britischen Druck den quasi-republikanischen Verfassungsentwurf in die Verfassung eines britischen Dominions umformulierte.72 Als Rechtsberater der Regierung war er danach an allen entscheidenden juristischen Fragen im Freistaat beteiligt: Er entschied ab Oktober 1922 über die juristische Kompetenz der Richter in den militärischen Sondergerichten; er beteiligte sich an den wichtigsten politischen Prozessen; er formulierte mit an der Landgesetzgebung und beteiligte sich Anfang 1923 an den irisch-englischen Verhandlungen über Kriegsentschädigungen. Im September 1923 war er Mitglied der ersten irischen Delegation beim Völkerbund.73 Ab Dezember 1922 Generalstaatsanwalt, wurde er im Oktober 1923 für Cumman na Gaedhal ins Parlament gewählt, gab seinen Sitz jedoch auf, als er 1924 vorsitzender Verfassungsrichter am irischen Supreme Court wurde.74 Doch Kennedy stellte Legitimität nicht nur als Jurist oder Bürokrat, sondern auch als Propagandist her. Er schrieb nicht nur Reden für seinen Freund Liam Cosgrave. Als Mitglied des sogenannten Judicary Committees entwickelte er auch eine „irische“ Nomenklatur und Symbolsprache für die irische Justiz.75 Als Rechtsexperte war Kennedy so unentberlich, daß auch de Valera nach 1932 nicht daran vorbei kam, mit seinem ehemaligen politischen Gegner zusammenzuarbeiten. Kennedy starb 1936 in Dublin.76 Zurück zur Diskussion um die Zensurbehörde: FitzGerald und die Provisorische Regierung störte neben den Pannen und dem Organisationchaos vor allem, daß die Zensur „entirely in the hands of General Beaslai“ lag. Wollte FitzGerald wie vor dem Bürgerkrieg die Propagandastrategie des
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NLI, WOB, L.O., P117; Flugblatt no. 65, ca. September 1922. CURRAN, Birth, S. 200 f., HOPKINSON, Green, S. 107. FANNIG, Department of Finance, S. 143 f., 147 f. PADRAIC O’FARRELL (Hrsg.), Who’s Who in the Irish War of Independence. Dublin, Cork 1980, hier: S. 167. UCD, KP, P4/254, Collins an Hugh Kennedy, 5. August 1922; ebd., P4/547, Hugh Kennedy, Entwurf einer Rede für Liam Cosgrave 16. Februar 1923, ebd., P4/549, Hugh Kennedy, Entwurf einer Rede für Liam Cosgrave, 25. Februar 1923; siehe auch NAI, D/T, S-1322, Hugh Kennedy, official statement vom 29. Juni 1922. UCD, KP, P4, A.C Holland, Überblick und Kurzbiographie zu den Kennedy Papers.
I. Organisation von Propaganda und Zensur
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Freistaats alleine koordinieren, konnte er keinen autonomen Zensor neben sich dulden.77 Dabei half ihm Kennedy. Als Rechtsberater der Provisorischen Regierung tat er, was man von ihm als Gutachter erwartete: Er nutzte sein Knowhow im Interesse seines Auftraggebers. Kennedy übersetzte die Wünsche der Provisorischen Regierung in eine scheinbar objektive, bürokratische und juristische Sprache, machte einen Vorschlag, wie die Zensurbehörde neu organisiert werden sollte: Am Kopf einer Zensurbehörde sollte, so Kennedy, ein Militär stehen, der aber auch in zivilen Kategorien denken können sollte. Damit konnte durchaus Beaslai gemeint sein. In seiner Behörde sollten dann zu gleichen Teilen Zivilisten und Militärs arbeiten. Zwischen ihnen sollte in Streitfällen ein Schiedsrichter – FitzGerald?- vermitteln. Damit der gleiche Artikel nicht weiterhin in verschiedenen Zeitungen unterschiedlich zensiert wurde, sollte ein Zensor nicht eine bestimmte Zeitung, sondern ein bestimmtes Themengebiet zensieren. Über Strafmaßnahmen sollte nicht der Zensor, sondern die militärische und zivile Führung entscheiden.78 So logisch dieser Reformvorschlag vielleicht war, er war viel zu sehr vom Schreibtisch aus gedacht, um sich durchzusetzen. Dem überarbeiteten Beaslai, der wiederholt um Geld und Mitarbeiter anfragte, muß das Memorandum wie ein schlechter Witz vorgekommen sein; denn es maß seine im Chaos des Bürgerkrieges zunächst mit zwei Mitarbeitern improvisierende Behörde an den Standards einer mit allen Ressourcen ausgestatteten idealen Zensurstelle. Zunächst blieb alles beim Alten. Doch auch nach dem Kennedy-Memorandum gab die Provisorische Regierung, insbesondere FitzGerald, nicht auf. In der zweiten Julihälfte ließ sich FitzGerald vom Kabinett wiederholt damit beauftragen, mit Collins über Pannen in der Zensurbehörde zu sprechen.79 FitzGerald kritisierte, Beaslai zensiere vom Field Censor an der „Front“ freigegebene Nachrichten erneut in Dublin, seine Zensur sei generell zu streng.80 Als es am 27. Juli 1922 ungefähr hundert Republikanern gelang, aus dem Gefängnis in Dundalk zu fliehen, verstieß der britische Daily Herald gegen die Zensurauflagen und berichtete über diesen Coup. Den Dubliner Zeitungen verbot Beaslai, den Bericht zu veröffentlichen, obwohl der Gefange-
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UCD, MP, P7/B/53, Copy minute re Censorship, 12. Juli 1922. UCD, MP, P7/B/53, Hugh Kennedy Memo on standardisation of Censorship, 14. Juli 1922. NAI, PG Minutes, G1/2, 25. Juli 1922; auch ebd., 18. Juli 1922. NAI, D/T, S-1394, FitzGerald an Collins, 25. Juli 1922; NAI, PG Minutes, G1/2, 20. Juli 1922; UCD, MP, P7/B/1, Collins an Richard Mulcahy, 26. Juli 1922.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
nenausbruch nun ohnehin schon bekannt war. Das war, wie FitzGerald meinte, eine denkbar unglaubwürdige Strategie. Er nutzte diese Panne, um die Machtfrage diesmal direkt zu stellen: To prevent a re-occurrence of blunders of this nature, which in the opinion of the Government are inexcusable, it is recommended that the censorship be placed immediately under the control of the Publicity Department.81
Obwohl Collins selbst das Kennedy-Memorandum angeregt hatte; am Ende entschied er nach den Maßstäben des Unabhängigkeitskrieges. Collins ließ trotz der Pannen nicht zu, daß FitzGerald seinen Freund Beaslai entmachtete. Noch funktionierten Protektion und persönliche Freundschaft besser als die neuen geregelten Verwaltungsverfahren.82 Dennoch war Beaslais Autonomie gebrochen: Über tägliche Kontakte konnte FitzGerald jetzt in strittigen Fragen über die Zensur ziviler Angelegenheiten entscheiden.83 c) Organisatorische Effizienz: zentrale Kontrolle und Experimentierfreude Was für viele freistaatliche Behörden galt, galt noch mehr für Beaslais Zensur. Aus den improvisierten Verfahren entwickelte auch er schnell professionell standardisierte Verwaltungsvorgänge und Strukturen.84 Ohne sich lange mit anderen zu beraten oder zu planen, probierte Beaslai, was funktionierte und was nicht. In Beaslais Worten: „I was too busy to consult anybody and had to deal with things as they arose.“85 So organisierte er nach kurzer Rücksprache mit FitzGerald innerhalb weniger Tage in London ein völlig überflüssiges Büro für Photo- und Filmzensur. Nach kaum einem Monat ließ er es genauso spontan wieder schließen.86 Doch auch wenn Beaslai immer wieder Pannen unterliefen, auch wenn die Photo- und Filmzensur ein Fehlschlag war: Beaslai war kein von oben 81
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NAI, D/T, S-1394, Provisorische Regierung an Collins, 28. Juli 1922; siehe auch NAI, PG Minutes, G1/2, 28. Juli 1922; DAILY HERALD, 28. Juli 1922, S. 7; IRISH INDEPENDENT, 28. Juli 1922, S. 5; NLI, BP, box 6, Sean Lester an Beaslai, 30. Juli 1922. UCD, MP, P7/B/1, Collins an Richard Mulcahy, 2. August 1922; auch ebd., Richard Mulcahy an Collins, 8. August 1922; vgl. HOPKINSON, Green, S. 138, 140. NLI, BP, box 6, Memo no. 1, ca. 29. Juli 1922; Eason’s Archive, Charles Eason an E. Norton, 2. August 1922. Siehe auch UCD, FGP, P80/282, Beaslai an FitzGerald 7. August 1922; 24. August 1922; 6. September 1922; ebd., P80/285, Memo re inquest on Patrick Mannion, ca. 25. September 1922; NLI, BP, box 6, FitzGerald an Patricia Hoey, ca. 4. August 1922. HOPKINSON, Green, S. 136 f.; vgl. auch das Organisationschaos im Department for Finance: FANNIG, Department for Finance, S. 37–9. NLI, BP, box 6, Beaslai an Geroid O’Sullivan, 4. August 1922. UCD, MP, P7/B/53, Beaslai an Collins, 13. Juli 1922; NLI, BP, box 6, Memo re Film and Camera Censorship in London, ca. 29. Juli 1922; UCD, FGP, P80/282, Memo re Censorship in London, 21. Juli 1922; Beaslai an Geroid O’Sullivan, 16. August 1922; Beaslai an FitzGerald, 21. Juli 1922.
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gedeckter Versager, sondern ein regelrechter Improvisationskünstler, der trotz des enormen Drucks, der auf ihm lastete, seine Zensurbehörde bald in den Griff bekam. Spätestens ab August 1922 funktionierte sie erstaunlich reibungslos. Die Zensur verlor viel von ihrer Willkür, weil Beaslai Mitte Juli einheitliche Zensurrichtlinien erließ.87 Bis zum 18. Juli 1922 stellte er insgesamt vier Mitarbeiter ein. Die Zensur wurde dadurch deutlich effektiver. Nur noch selten übersahen die Zensoren anstößige Passagen. Auch FitzGerald und die Provisorische Regierung beschwerten sich nicht mehr über Beaslai. Zensurbehörde und Publicity Department hatten einen modus vivendi gefunden und kooperierten miteinander.88 Die Zensurbehörde war auf die zentrale Kontrolle Beaslais zugeschnitten: Er zensierte persönlich die britische Presse, entschied in allen Zweifelsfragen über die Zensur der Dubliner Tagespresse. Schon Anfang Juli baute er dabei das System der Präventivzensur weiter aus: Presseberichte sollten möglichst schon zensiert sein, wenn sie in der Redaktion einer Zeitung eintrafen. Auf Initiative der Provisorischen Regierung ließ Beaslai alle Briefe und Telegramme an Zeitungsredaktionen abfangen, öffnete und zensierte sie dann persönlich. Drei, später sechs Mitarbeiter der Post arbeiteten für ihn im Telegraphenamt.89 Um die Telegrammzensur wasserdicht zu machen, verbot er alle kodierten Nachrichten und bestand darauf, daß auch alle privaten Telegramme kontrolliert wurden. Die aufgehaltenen Telegramme wurden Beaslai vorgelegt, der dann alleine entschied. Dahinter stand mehr als sein Mißtrauen gegenüber der Dubliner Presse. Die Briefund Telegrammzensur behinderte die republikanische Auslandspropaganda und half so, insbesondere in den USA und Großbritannien die vertragsbefürwortende Version des Bürgerkrieges durchzusetzen.90 Nachrichten aus dem Kampfgebiet versuchte Beaslai besonders streng unter Kontrolle zu halten. Nicht nur durch Zensur. Beaslai vergab Lizenzen an alle irischen und ausländische Journalisten, die ins Kriegsgebiet wollten. So konnte er unliebsame Reporter aussortieren. Auch mit einer solchen 87
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Z. B. in: UCD, MP, P7/B/53, Beaslai an Richard Mulcahy, 27. Juli 1922. Die Zensurrichtlinien sind älter und entstanden ca. um den 18. Juli 1922; NLI, BP, box 6, Memo on Work of Censor’s Department, ca. 29. Juli 1922. NLI, BP, box 6, Temporary staff Military Censor’s Department, ca. 15. August 1922; UCD, FGP, P80/295, Memos re Dublin Press, ab 25. Juli 1922; vgl. auch CULLEN, Eason, S. 214. NAI, D/T, S-1394, Official notice, 2. Juli 1922; NAI, PG Minutes, G1/2, 1. Juli 1922; NLI, BP, box 6, Mr. Woods an Beaslai, 13. Juli 1922; ebd., Beaslai an Superintendent Sorting Office, 21. Juli 1922; ebd., Memo re Military Censors at Central Telegraph Office, ca. 29. Juli 1922. UCD, MP, P7/B/53, Patrick Hogan an Richard Mulcahy, 19. Juli 1922; ebd. Beaslai an Richard Mulcahy, 27. Juli 1922.
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Lizenz durfte ein Journalist dann nur unter militärischer Überwachung im Kampfgebiet recherchieren.91 Die fertigen Berichte wurden dann, und das war weniger effizient, bis zu dreimal zensiert: Vom Militärzensor vor Ort, von der Telegrammzensur in Dublin und schließlich noch einmal im Rahmen der Vorzensur.92 Während Beaslai die Zensur in Dublin zentral steuerte, konnte er die Zensur, die die Freistaatsarmee in Teilen der Provinz einführte, nicht kontrollieren. Dazu fehlten ihm allein schon zuverlässige Kommunikationsmöglichkeiten. Beaslai schickte den lokalen Zensoren zwar seine allgemeinen Zensurrichtlinien, konnte deren Einhaltung aber nicht überprüfen. So wußte er lange Zeit nicht einmal, daß der freistaatliche Zensor in Waterford mit der lokalen Presse kaum freundlicher umging als seine republikanischen Vorgänger. Auch er verhandelte mit den Redakteuren notfalls mit gezogenem Revolver.93 d) Zensur der britischen Presse: vom Chaos zur Kooperation Beaslai übernahm nach dem 3. Juli 1922 auch die Zensur der Irlandnachrichten in der britischen Presse. Er führte auch für sie eine obligatorische Präventivzensur ein: Was der Zensor nicht erlaubt hatte, war verboten.94 Allerdings konnte Beaslai – ohne Zugriff auf die britischen Redaktionen – die einzelnen Artikel nicht vorzensieren, sondern nur ganze Ausgaben nachzensieren. Es ist zwar sicher logisch, wenn Klaus Kanzogs annimmt, daß einem allgemeinem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ein Zensieren vor dem Druck entspreche, daß Präventivzensur folglich immer auch Vorzensur sein müsse. Doch Beaslais im Bürgerkriegschaos ad hoc eingeführte Zensurmethode war eben nicht „logisch“, und daran scheitert hier Kanzogs These: Beaslais Präventivzensur war Nachzensur.95 Die „Unlogik“ dieser undifferenzierten Zensurmethode bringt nicht nur Kanzogs theoretische Definitionen durcheinander, sie verwirrte auch die betroffenen britischen Redakteure: Gerade Anfang Juli 1922 beschlag91
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NLI, BP, box 6, Beaslai an Pressekorrespondenten, ca. 9. Juli 1922; NLI, BP, box 12, applications for permits. Vordrucke solcher Lizenzen befinden sich, in: UCD, MP, P7/B/53; siehe auch ebd., Memo War Correspondents, 17. Juli 1922. NLI, BP, box 6, Beaslai an Pressekorrespondenten, ca. 9. Juli 1922; NLI, BP, box 6, Patricia Hoey an Beaslai, 11. Juli 1922; UCD, MP, P7/B/53, FitzGerald an Collins, 25. Juli 1922. Zur Zensur in Waterford siehe: UCD, FGP, P80/282, Edmond Downey an Liam Cosgrave, 19. August 1922; ebd., Beaslai an Gearoid O’Sullivan, 23. Oktober 1922. NAI, PG Minutes, G1/2, 1. Juli 1922; NAI, D/T, S-1394, Prohibition of importation etc. of uncensored papers, 2. Juli 1922; NAI, D/T, S-1394, official notice, 2. Juli 1922; NLI, BP, box 28a, Zensurliste. KANZOG, Zensur, Sp. 1000 f.
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nahmte Beaslai stapelweise britische Zeitungen, verbot zunächst mehr, als er passieren ließ.96 Warum und an was der Zensor Anstoß nahm, wußten die britischen Redakteure nicht.97 Selbst die Zeitungen, die Beaslai freigegeben hatte, gab die Küstenwache zunächst nicht heraus, zerstörte eigenmächtig ganze Ladungen „feindlicher“ englischer Zeitungen.98 Die Art, in der Beaslai die chaotischen Verhältnisse in den Griff bekam, war bezeichnend für seine Experimentierfreude, sein organisatorisches Talent und seine schnelle Lernfähigkeit. Dabei zeigte er auch seine Fähigkeit, sich die Arbeit so leicht wie möglich zu machen. Beaslai schloß die britische Presse über die Brief- und Telegrammzensur an die Dubliner Vorzensur an. Die britischen Redakteure mußten sich Beaslai gegenüber schriftlich verpflichten, nur vom Telegrammzensor freigegebene Berichte zu drucken.99 Auf diese Weise konnte Beaslai den Irlandteil der britischen Zeitungen ebenso differenziert kontrollieren wie die Nachrichten der Dubliner Tagespresse. Im Gegenzug vergab Beaslai in gestaffelter Form Lizenzen an die Presse:100 Einige Zeitungen mußten weiterhin täglich dem Zensor vorgelegt werden,101 andere nur jeden dritten oder vierten Tag.102 Die meisten Sonntagsblätter, aber auch viele unpolitische irische und britische Zeitungen durften bald, bis auf Widerruf, frei zirkulieren.103 Beaslai und seine Mitarbeiter kontrollierten diese Blätter nur in Stichproben nach.104 96
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NLI, BP, box 28a, Zensurliste, 1. Juli 1922- 10. Juli 1922. Am 8. Juli 1922 hielt Beaslai z. B. alle englischen Sonntagsblätter auf: ebd., 8. Juli 1922. Vgl. Eason’s Archive, Charles Eason an alle Newsagents, 12. Juli 1922. NLI, BP, box 6, E. Norton an Beaslai, 26. Juli 1922; 8. August 1922; vgl. UCD, FGP, P80/282, C. P. Scott (MANCHESTER GUARDIAN) an Griffith, 27. Juli 1922; Siehe: CULLEN, Eason, S. 213. CULLEN, Eason, S. 212, 215; NLI, BP, box 28a, Zensurliste, 4. Juli–13. Juli 1922; NLI, BP, box 6, W. Tempest an Beaslai, 25. Juli 1922; ebd., Beaslai an Claim Officer, 12. Oktober 1922; ebd., Beaslai an O/C Dun Laoghaire Pier, 12. Juli 1922. NLI, BP, box 6, „undertakings“; SUNDAY TIMES an Beaslai, 13. Juli 1922. Vgl. u. a. ebd., Briefe an Beaslai von: REYNOLDS NEWSPAPER, 15. Juli 1922; 25. Juli 1922; DAILY HERALD, 19. Juli 1922; WEEKLY DESPATCH, 21. Juli 1922–6. Oktober 1922 (wöchentlich); NEWS OF THE WORLD; 22. Juli 1922; 28. Juli 1922; CHRISTIAN ADVOCATE, 30. Juli 1922; siehe auch CULLEN, Eason, S. 213. Vgl.: Eason’s Archive, Memo Charles Eason an seine Kunden, ca. 12. Juli 1922. Z. B.: MANCHESTER GUARDIAN, REYNOLDS, WESTMINSTER GAZETTE: NLI, BP, box 28a, Zensurliste. Z. B.: DAILY SKETCH: NLI, BP, box 6, Beaslai an O/C Dun Laghaire Pier, 12. Juli 1922; DAILY MIRROR: ebd., Beaslai an Eason, 3. August 1922; DAILY HERALD: ebd., Beaslai an H.E. Gray, 2. August 1922; DAILY MAIL: ebd., box 28a, Zensurliste, 11. Juli 1922. NLI, BP, box 28a, Zensurliste, 5.–11. Juli 1922, bzw. 15. Juli 1922. NLI, BP, box 6, Korrespondenz mit Herausgebern von IRISH CATHOLIC, IRISH LIFE, IRELANDS OWN, IRISH HOME JOURNAL, MOTOR NEWS; auch ebd., Gray an Beaslai, 7. Juli 1922. NLI, BP, box 28a, Zensurliste, enthält immer wieder Vermerke über freigegebene oder aufgehaltene Zeitungen, die eigentlich seit langem eine Generallizenz hatten.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
Dieses neue Verfahren war ein Erfolg: Fast alle britischen Zeitungen fügten sich dem Zensor, verzichteten auf ein Stück Pressefreiheit und journalistischen Idealismus und sicherten so ihre irische Auflage. Die Zeitungen am Zensor vorbei per Post direkt an die Abonnenten oder Zeitschriftenhändler zu liefern, war dagegen auf Dauer unwirtschaftlich und nur eine Notlösung.105 Nur die unionistische Morning Post und der Daily Telegraph weigerten sich, mit Beaslai zu kooperieren.106 Abgesehen von diesen beiden Blättern mußte Beaslai ab Mitte Juli 1922 selten zu der groben und unangenehm sichtbaren Methode greifen, ganze Ausgaben zu beschlagnahmen. Zwischen 16. Juli 1922 und 9. September 1922 verbot er im wöchentlichen Durchschnitt nur noch sechs, nie mehr als elf Zeitungen.107 Einen wesentlichen Anteil daran, daß die Zensur der britischen Presse bald so gut funktionierte, hatte der protestantische Zeitungsgroßhändler Charles Eason. Revolution und Unabhängigkeitskrieg hatten das Dubliner Traditions- und Familienunternehmen Eason and Son finanziell stark mitgenommen. Die Dubliner Geschäftsräume waren während des Osteraufstandes zerstört worden, wegen Streiks und Guerillakrieg konnte Eason danach seine Ware nur schwierig ausliefern, dazu verbrannte die IRA immer wieder britische Zeitungen. Mit der britischen Regierung verlor Eason nach 1921 einen guten Kunden und Fürsprecher im Anzeigengeschäft. Auch der Belfast-Boykott machte Eason, der mit nordirischen Blättern handelte, ab Ende 1920 zu schaffen. Mit dem Beginn des Bürgerkrieges wurde Easons Fabrik erneut Stützpunkt von IRA-Einheiten. Darüber brach die Infrastruktur für Easons Zeitungshandel völlig zusammen und erholte sich nur langsam. Gleichzeitig stapelten sich in Dun Laoghaire am Pier die von Beaslai beschlagnahmten britischen Zeitungen.108
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106 107 108
Das erwog am 12. Juli 1922 die SUNDAY ILLUSTRATED: NLI, BP, box 6, SUNDAY ILLUSTRATED an mehrere Zeitungshändler in Dublin, Bray, Kingstown [i.e. Dun Laoghoire], 12. Juli 1922. Vgl. dagegen Beaslais Kommentar: „Sunday Illustrated passed“, in: NLI, BP, box 28a, Zensurliste, 17. Juli 1922. Siehe auch NLI, BP, box 6, Easons an Beaslai, 20. September 1922. MORNING POST, 15. August 1922, S. 6; NLI, BP, box 28a, Zensurliste, Einträge: DAILY TELEGRAPH, 21. Juli–27. Juli 1922, MORNING POST, 7. August 1922. NLI, BP, box 28a, Zensurliste: Die Zahlenangabe schließt MORNING POST und DAILY TELEGRAPH nicht ein. NAI, DE Correspondence, DE2/24, Charles Eason an Dail Cabinet, 18. Januar 1922; Eason’s Archive, Factory report, 24. Januar 1933, effect of Dublin Disturbances during June and July 1922; ebd., Eason and Son to all newsagents and booksellers, 12. Juli 1922; ebd., Charles Eason’s Diary, 11. Juli 1922, 12. Juli 1922, 24. Juli 1922, 2. August 1922, 14. August 1922, 11. September 1922; ebd., undated memo, news department, interruptions at various periods to normal dispatch work from 1917 to 1922; CULLEN, Eason, S. 199–212.
I. Organisation von Propaganda und Zensur
229
Kein Wunder also, daß Eason daran gelegen war, daß wenigstens die Zensur so reibungslos wie möglich ablief.109 Eason, der 1918 noch fünfzig Prozent seines Geschäftes mit britischen Zeitungen gemacht hatte, war darauf angewiesen, daß ihm Beaslai nicht zusätzlich das Geschäft verdarb. Er kooperierte daher eng mit Beaslai, legte hohen Wert darauf, daß auch seine Abnehmer keine verbotenen Zeitungen verkauften. Zwischen Beaslai und Eason entstand so bald ein Vertrauensverhältnis, während Beaslai Easons größten Konkurrenten H.E. Gray verdächtigte, unautorisiert Zeitungen auszuliefern.110 Das heißt nicht, daß Eason sich zum servilen Agenten der Zensurbehörde machte. Sein Interesse lag nicht in einer perfekten Zensur, sondern darin, seine Zeitungen möglichst ungehindert zu verkaufen, seinen Betrieb zu erhalten. Häufig regte er an, religiöse Zeitungen aus Nordirland freizugeben und gegenüber kritischeren Artikeln Toleranz zu üben.111 Den Kontakt zur britischen Presse stellte Beaslai über deren Dubliner Korrespondenten her, die meist auch für die Dubliner Tagespresse arbeiteten.112 Wo das nicht gelang, übernahm Eason häufig die Rolle eines Vermittlers zwischen britischer Presse und Zensurbehörde. Eason konnte den britischen Redakteuren die irische Zensur weit besser erklären als Beaslai selbst. Anders als der Nationalist Beaslai, beherrschte Eason als Protestant und Unionist die Sprache von „Crown and Empire“. Den britischen Redakteuren gegenüber konnte Eason etwa die freistaatliche Zensur mit der britischen Zensur im Ersten Weltkrieg vergleichen: You must remember that there is a war on, and you have to ask yourself whether you think an English Censor when we [sic!] were fighting Germany would have passed a paragrah like this headed „German Claims“ from a correspondent in Amsterdam?113
Damit machte er es den britischen Redakteuren leicht, sich der irischen Zensur zu beugen. Easons Lesart erklärte das, was die Morning Post „humi-
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NLI, BP, box 6, Eason an Beaslai, 12. Juli 1922, 13. Juli 1922; vgl. ebd. J.J. Hart, an Beaslai, 13. Juli 1922. Eason’s Archive, Memo von Charles Eason an seine Kunden, 12. Juli 1922; vgl. CULLEN, Eason, S. 204, 215 f.; NLI, BP, box 6, Patricia Hoey an Beaslai, 26. Juli 1922. Z. B.: Eason’s Archive, Eason an Beaslai 9. September 1922; 4. Oktober 1922; siehe auch: CULLEN, Eason, S. 215; vgl. NLI, BP, box 6, Redakteur des CHRISTIAN ADVOCATE an Beaslai, 30. Juli 1922. NLI, Beaslai Papers, box 6, Sean Lester, Nachrichtenredakteur des FREEMAN und Irland Korrespondent des DAILY HERALD, an Beaslai, 14. Juli 1922; 18. Juli 1922. Eason’s Archive, Eason an Editor DAILY TELEGRAPH, 14. Juli 1922; vgl. exempl. ebd., Eason an Editor DAILY TELEGRAPH, 14. Juli 1922; Eason an C.W. Tonge, Redakteur MANCHESTER GUARDIAN, 27. Juli 1922.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
liating conditions“114 nannte, zu einem bewährten, zivilisierten britischen Verfahren. So konnten sich die britischen Redakteure im Interesse ihrer Auflage der irischen Zensur beugen und gleichzeitig ihr Gesicht und die Parameter ihres politischen Weltbildes wahren. Beaslai selbst hätte dagegen seine Zensur nie mit der britischen vergleichen können. Er hütete sich generell davor, daß Zensurrichtlinien und -entscheidungen an die Öffentlichkeit kamen, kommentierte und rechtfertigte seine Arbeit nach außen nicht. Wenn es um Zensur ging, verhandelte Beaslai mit irischen und britischen Redakteuren, Herausgebern und Zeitschriftenhändlern so oft wie möglich mündlich.115 Das war Easons zweiter Vorteil. Er konnte sich „ganz inoffiziell“ zu den Zensurrichtlinien äußern und den britischen Redakteuren dabei sehr genau erklären, an was der Zensor Anstoß nahm: „It is difficult to say exactly what lines the Censor follows, but I think his guiding idea is. . .“116 FitzGeralds Propagandabehörden und vor allem Beaslais neue Zensurbehörde reagierten zu Beginn des Krieges noch nervös, überstreng und oft chaotisch. Doch zu Beaslais Glück funktionierte zu dieser Zeit noch immer das weitgehend auf Eigeninitiative und persönlichen Kontakten beruhende Organisationssystem des Unabhängigkeitskrieges. So gelang es FitzGerald trotz etlicher Pannen Beaslais nicht, die Kontrolle über die freistaatliche Zensurbehörde zu erlangen. Gegen die persönliche Protektion von Collins war die gutachterliche Kompetenz des freistaatlichen Rechtsberaters Kennedy (noch) kein schlagendes Argument. Trotz ihrer Rivalitäten gelang es den beiden führenden vertragsbefürwortenden Propagandisten schließlich relativ schnell, ihre Streitigkeiten beizulegen und effiziente Strukturen zu schaffen. Beaslai organisierte eine zentral auf ihn zugeschnittene Zensurbehörde, über die er nicht nur die Dubliner Tagespresse, sondern auch die Irlandberichte der britischen Presse, Telegramme und Briefe zensieren konnte. FitzGerald beriet Beaslai dabei in sensiblen politischen Fragen, und er koordinierte weiter die freistaatliche Propaganda und die nachträgliche Beobachtung der Presse über seine Publicitybehörden. Die republikanische Zensur und Propaganda erreichte nicht annähernd eine solch professionelle Struktur. In Dublin wurde die republikanische 114 115 116
MORNING POST, 15. August 1922, S. 6. NLI, BP, box 6, Beaslai an Geroid O’Sullivan, 2. Oktober 1922; Beaslai an E. Norton, 18. August 1922. Eason’s Archive, Eason an C.W. Tonge, Redakteur MANCHESTER GUARDIAN, 27. Juli 1922; ebd., Eason an Editor DAILY TELEGRAPH, 12. Juli 1922; 14. Juli 1922; ebd. Eason an E. Norton, Sekretär der Weekly Newspapers and Periodicals Proprietors’ Association, 28. Juli 1922; 2. August 1922; Easons an Redakteur SATURDAY REVIEW, 24. Juli 1922.
II. Der Umgang mit der Zensur
231
Propaganda in den Untergrund gedrängte und verfolgt, bestand bald nur mehr aus der als tägliches Flugblatt herausgegebenen An Poblacht-War News. In Munster dagegen gelang es den führenden Republikanern, mehrere regionale Blätter, als wichtigstes den Cork Examiner, zu übernehmen und ihre Deutung des Krieges somit in der ganzen Provinz zu verbreiten. Auf Kooperation mit der Presse legten sie dabei keinen Wert. Sie konnten und wollten vielleicht auch nicht verhindern, daß die IRA vor der Ankunft der Freistaatstruppen die meisten Zeitungsanlagen zerstörte.
II. DER UMGANG MIT DER ZENSUR: OPTIMALE KONTROLLLE ODER UNAUFFÄLLIGE MANIPULATION? In diesem Teilkapitel werde ich zeigen, wie beide Bürgerkriegsparteien das propagandistische Mittel Zensur einsetzten, und warum sich die Vertragsbefürworter für eine gemäßigte, die Republikaner für eine totale Zensur entschieden. 1. REPUBLIKANISCHE ZENSUR: PRESSEFREIHEIT UND „HISTORICAL TRUTH“ Einige soziologische Zensurtheorien gehen davon aus, daß Zensur ein Mittel der an der Macht befindlichen Elite sei, um das betreffende Herrschaftssystem aufrecht zu erhalten und die Position der Elite im Staat zu sichern. In dieser Annahme ist implizit das Basis-Überbau-Theorem enthalten. Entscheidend an der Zensur ist angeblich immer die Macht über den Staatsapparat und die Produktionsverhältnisse, dagegen werden kulturelle Aspekte funktionalistisch zur „Ideologie“ degradiert. Sie hat die „Aufgabe“, die Macht zu stützen.117 Zumindest im Fall der republikanischen Zensur in Munster lagen Ursache und Folge genau umgekehrt: Primär war für die Propagandisten die „Ideologie“. Sie waren ihrer politischen Kultur, der reinen Lehre von „the Republic“ verpflichtet. Den Griff nach der faktischen Macht hatten sie vor dem Krieg jedoch so lange verschoben, bis sie von den Freistaatstruppen angriffen wurden. Pointiert ausgedrückt: Die Republikaner zensierten nicht, um sich ihre Macht zu sichern. Sondern sie kämpften um die Macht, um 117
Zusammenfassend referiert bei: KANZOG, Zensur, Sp. 999 f.; siehe exemplarisch: ULLA OTTO, Schutz der Unmündigen oder Instrument der Herrschaft?, in: Publizistik, 13, (1968), S. 5–15, hier: S. 10–4, insbes.12 f.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
zensieren zu können, um ihre Vorstellungen von „the Republic“ durchzusetzen. Daß die republikanische Zensur dann auch die republikanische Herrschaft in Munster stützen sollte, war eine ebenso zwangsläufige wie erwünschte Folge. Zensur war für die irischen Revolutionäre eine propagandistische Methode mit für sie bis dahin unbekannten, neuen Möglichkeiten. Sie war eine Art inverse Propaganda und ergänzte diese komplementär. Während die Propaganda die Lehre von der Republik vermittelte, garantierte die Zensur Tabus, und sie verdeckte wunde Punkte.118 Zensur und Propaganda hätten dabei nicht unbedingt das Weltbild der Propagandisten eins zu eins umsetzen müssen. Beide propagandistischen Mittel ließen sich theoretisch auch taktisch einsetzen. Doch praktisch verwendeten die Republikaner in Munster das Mittel Zensur nicht dosiert. Ab Mitte Juli 1922 kann man kaum mehr sinnvoll von einer Zensur des Cork Examiner sprechen, eher von einer Übernahme. Diese „Zensur“ unterschied sich durch nichts von der republikanischen Propaganda, verbot alles, was nicht exakt „the Republic“ entsprach. Warum griffen die republikanischen Propagandisten so indifferent und hart durch? Der Cork Examiner wurde in ganz Munster gelesen und war die einzige Tageszeitung, die außerhalb Dublins erschien. So bot er eine optimale Infrastruktur für die republikanische Propaganda, die so die gesamte Munster Republic erreichte. Wie Collins mißtrauisch beobachtete: „It gives the Irregulars the advantage of its news service – a sheet published by themselves would not have this advantage.“119 Daß die Propagandisten so eine republikanische Tageszeitung, nicht einfach nur ein Propagandablatt, produzieren konnten, das erkannten auch die Zeitgenossen auf beiden Seiten als rationalen Aspekt der Übernahme.120 Spannender ist der „irrationale“ Aspekt der totalen Zensur. Die republikanischen Propagandisten waren kulturell gar nicht in der Lage, Propaganda und Zensur taktisch einzusetzen. Ihr kompromißloser Zensurstil entsprach ihrem kompromißlosen Republikanismus. Aus republikanischer Sicht war die „historical truth“ unteilbar und daher nicht dosierbar.121 Dieses Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien ließ keinen Platz für Grautöne, ließ kaum Spielraum zwischen dem, was die eigene Propaganda vertrat, und 118 119 120 121
Vgl. dazu: DANIEL und SIEMANN, Historische Dimensionen, S. 13. NAI, D/T, S-1385, Collins an Provisorische Regierung, 16. Juli 1922. Vgl. UCD, MSW, P48a/235, Lynch an Mary MacSwiney, 20. Juli 1922; FREE STATE, 28. Oktober 1922, S. 4. PLAIN PEOPLE, 14. Mai 1922, S. 2; AN POBLACHT, 8. März 1922, S. 4; Eine von wenigen differenzierteren Sichtweisen: Patrick Little, in: IRISH INDEPENDENT, 17. August 1922, S. 11.
II. Der Umgang mit der Zensur
233
dem, was sie gerade noch tolerieren konnte. Propaganda und „inverse Propaganda“ fielen so in eins. Was von „the Republic“ abwich, war keine andere Meinung, sondern eine falsche Information. Aus dieser Perspektive war es nicht einmal gelogen, wenn die Propagandisten behaupteten, ihre Zensur garantiere lediglich eine neutrale Berichterstattung. Daß zu strenge Zensur unglaubwürdig war, darüber machten sich die republikanischen Propagandisten, selbst Profis wie Childers, kaum Gedanken. Auch nicht darüber, wie man Zensur optimal einsetzen müsse, um die Bevölkerung zu manipulieren und damit die eigene Macht zu sichern. Auf Kritik an ihrer Zensur durch den Irish Labour Party and Trade Union Congress, ILPTUC122, die Dubliner Tagespresse oder gar die vertragsbefürwortende Propaganda nahmen die Propagandisten keine Rücksicht. Auch über Proteste aus Cork setzten sich die Republikaner hinweg. Eine Delegation der lokalen Gewerkschaftsbewegung, die sich über die Arbeitslosigkeit bei der unterdrückten Cork Constitution beschweren wollte, drang gar nicht erst bis zu den führenden Propagandisten durch.123 Die „historische Wahrheit“ sollte nicht nur die republikanische Zensur rechtfertigen, sondern im Gegenzug auch die freistaatliche Zensur delegitimieren.124 Die republikanische Propaganda stellte die Dubliner Zensur in die Tradition britischer Unterdrückung: „It [the censorship] sparkles with the light and wisdom of other days and other Imperialistic rulers.“125 In sich gebetsmühlenartig wiederholenden Anti-Zensurartikeln stellten die republikanischen Propagandisten der irisch-nationalen „historical truth“ die imperialistischen „British lies“ gegenüber.126 Denn aus republikanischer Sicht log die Freistaatspropaganda und mit ihr die zensierte Dubliner Presse nicht nur, wenn sie „paper victories“ erfand, „Castle fictions“ über republikanische Greueltaten verbreitete oder die Repressalmorde der Freistaatstruppen verschwieg.127 Vor allem verheimlichte 122 123
124 125
126 127
ILPTUC: Zusammenschluß von sozialistischer Partei und Gewerkschaftsbewegung. IRISH LABOUR PARTY AND TRADE UNION CONGRESS (ILPTUC), Report of the twentyeighth meeting, held in the Mansion House, Dublin, August 1922. Dublin o.J, hier: S. 169–73; vgl. VOICE OF LABOUR, 12. August 1922, S. 8; 29. Juli 1922, S. 2; THE IRISH PEOPLE-WAR SPECIAL, 30. Juli 1922, S. 4; FREEMAN’S JOURNAL, 15. Juli 1922, S. 5; 9. August 1922, S. 6; IRISH INDEPENDENT, 24. Juli 1922, S. 6. NAI, UCD, P80/311, Ernie O’Malley an P. J. Hooper, 24. August 1922; AN POBLACHTSCOTTISH EDITION, 7. Oktober 1922, S. 2; AN POBLACHT-WAR NEWS, 13. Januar 1923. CORK EXAMINER, 2. August 1922, S. 5; vgl. REPUBLICAN WAR BULLETIN, 12. August 1922, S. 2; AN POBLACHT, 12. April 1922, S. 5; UCD, FGP, P80/736, Aodh de Blacam, Memo on Irish situation, 27. Juli 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 24. Juli 1922. TCD, CP, 7847–51, 158, S. MacCathmhaoil an Mary Childers, 29. November 1922; AN POBLACHT-WAR NEWS, 2. Juli 1922; FENIAN, 15. Juli 1922; 12. September 1922, S. 1; AN
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
die freistaatliche Zensur der irregeleiteten Bevölkerung die Bedeutung der historischen Gesetze von siebenhundert Jahren Freiheitskampf für die Gegenwart.128 Aus dieser Perspektive erschien es der IRA auch legitim, mit Gewalt zu verhindern, daß die Presse nach dem Abzug der Republikaner „britische Lügen“ propagieren konnte. Umgekehrt konnte die republikanische Propaganda in demselben Kontext auch ihr Verfolgtwerden inszenieren: als Katz-und-Maus-Geschichte, vom kleveren Untergrundaktivisten, der seinen Verfolgern immer ein Stück voraus ist: ‚Poblacht na hEireann‘ was ‚supressed‘ yesterday by no less a personage than Major Gen. O’Connell himself, and a party of Officers. The General personally conducted an unsuccessful search for the Editor. The Editor now presents him with to-day’s issue.129
So erzählten die Propagandisten eine neue Variante der Geschichte vom ideellen Sieg des edlen Schwachen über den verschlagenen Starken. Sie erzählten von den Unerschrockenen, „[who] were maintaining the Republican idea as writers, speakers, editors and members of the Publicity Department Staff“,130 schrieben vom Organ der Wahrheit, das niemals aufgeben wird: The King’s Ministers may make publication difficult for us. They cannot make it impossible. For while a man can write or a machine can print their crimes will be shown up till their blood total brings down gang and gang-masters together.131
2. DIE VERTRAGSBEFÜRWORTER: TAKTISCHER UMGANG MIT ZENSUR UND PROPAGANDA Im Gegensatz zum republikanischen Dogmatismus beschloß die Führung der Vertragsbefürworter schon im ersten Kriegsmonat, ihre Zensur zu lokkern und den Ton ihrer Propaganda zu mäßigen. Dabei ging es ihr nicht um den abstrakten Wert „Pressefreiheit“, sondern um die Glaubwürdigkeit, also die Effizienz ihrer Propaganda. Bald spielte sich zwischen Beaslai und
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POBLACHT-WAR NEWS, 10. Juli 1922; NAI, DFA, PG/IFS, box 3, John J. O’Keefe an Minister Publicity, 18. April 1923. AN POBLACHT-WAR NEWS, 24. Juli 1922; 13. Januar 1923; 16. März 1923; NAI, UCD, P80/311, Ernie O’Malley an P. J. Hooper, 24. August 1922; DAILY BULLETIN, 17. Oktober 1922, S. 4. AN POBLACHT-WAR NEWS, 4. Juli 1922 (Fettdruck im Original); Auch privat hatte Childers seinen Spaß an diesem Katz- und Mausspiel: „What exactly did O’Connell say in raiding? I love compliments“: TCD, CP, 7852–5, 1265, Childers an Mary Childers, 6. Juli 1922. UCD, MP, P7/B/238, Leserbrief von Dorothy Macardle an IRISH TIMES, IRISH INDEPENDENT und FREEMAN’S JOURNAL, 15. November 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 10. Juli 1922.
II. Der Umgang mit der Zensur
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Presse ein Zensurstil ein, den man als erzwungene Kooperation bezeichnen könnte. Zwischen Regierung und Freeman’s Journal entwickelte sich darüber hinaus eine inhaltliche und personelle Zusammenarbeit, die den Freeman zu einer Art inoffiziellem Regierungsblatt machte. Nicht nur die republikanische Untergrundpresse, auch Daily Telegraph und Morning Post attackierten die freistaatliche Zensur heftig. Sie stilisierten sich als Märtyrer für „the dignity, freedom and independence of the Press“.132 Doch diese Angriffe auf die Zensur störten die Provisorische Regierung kaum. Daily Telegraph und Morning Post waren im Freistaat verboten, die republikanischen Untergrundblätter hatten nur eine geringe Auflage, und die Kritik der Dubliner Presse an der Zensur konnte Beaslai selbst kontrollieren und steuern. Doch Zensur war nicht nur ein Instrument, um unangenehme Geschichten zu unterdrücken. Zensur erzählte, auch ohne weitere Kommentare, selbst eine unangenehme Geschichte: Eine Geschichte von Heimlichkeit, Lüge und unterdrückter Meinung. Dabei drängte sich ganz automatisch der Vergleich mit der britischen Zensur und Pressekontrolle ab 1916 auf. Zensur untergrub die Glaubwürdigkeit der Propaganda. Mehr noch: Was waren das für Verteidiger der „constitutional methods“, die selbst die Pressefreiheit aushebelten? So konnte Zensur die freistaatliche Legitimation über „liberal rights“ und „democratic principles“ gefährden. Sie untergrub damit indirekt auch die nationale Legitimation des Freistaats, die sich ja aus diesen „sekundären“ Werten speiste. Auch die Führung der Vertragsbefürworter erkannte: Der Hinweis der Zeitungen auf die Zensur machte Regierungsnachrichten unglaubwürdig.133 FitzGerald brachte das auf den Punkt: „ The man in the street naturally gathers from this that the news served to him has been doctored.“ Deshalb regte er Ende Juli 1922 an, die Zensur zu lockern, hoffte, wenn „the censorship be relaxed almost to vanishing point [. . .] we might expect the press to omit all reference to the censorship of news.“134 In dieser Frage war sich die Führung der Vertragsbefürworter selten einig. Collins, FitzGerald und Beaslai beschlossen deshalb, mit den Zeitungen zu kooperieren, statt sich auf eine strenge Vorzensur zu verlassen. Collins: „We might get more
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MORNING POST, 15. August 1922, S. 6; vgl. ebd., 16. August 1922, S. 6; 31. August 1922, S. 6. Exemplarisch: IRISH INDEPENDENT, 4. Juli 1922, S. 2; 14. Juli 1922, S. 4; FREEMAN’S JOURNAL, 10. Juli 1922, S. 6. UCD, MP, P7/B/53 FitzGerald an Collins, 25. Juli 1922; vgl. NAI, D/T, S-1394, Provisorische Regierung an Collins, 28. Juli 1922.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
good from communication with the press [. . .] relying on their public spirit to omit certain things.“135 Der gelockerten Zensur entsprach auch eine neue Propagandastrategie, die auf mehr Glaubwürdigkeit setzte. Daß es so wie bisher nicht weitergehen konnte, daß es unglaubwürdig war, einen irlandweiten Krieg zu einer lokalen Revolte zu verharmlosen, darüber waren sich alle einig. Rechtsberater Kennedy bereits in seinem Zensur-Memorandum: In my opinion we must not allow censorship in any way to hide the truth or to cover up reverses.[. . .] In this regard the bulletins issued are misleading. It is no good saying „Cork is normal“. The truth ought to be told and we ought to get it written up properly as being what it is – war upon the people and upon the economic life of the country generally.136
Kennedys Kritik leitete eine Kehrtwende in der Propagandastrategie ein. Die Zensur spielte jetzt nicht mehr herunter, wenn die IRA Brücken sprengte, Straßen, Telephonleitungen, Schienen oder Telegraphenmasten zerstörte. Was vor kurzem noch als anstößig galt, wurde jetzt zum Lieblingsthema der freistaatlichen Propaganda.137 Die Provisorische Regierung mußte zwar zugeben, daß sie „law and order“ noch nicht garantieren konnte, dafür konnte sie jetzt die Leiden der Zivilbevölkerung instrumentalisieren und die republikanische Kriegführung überzeugend als „war against the people“ abwerten.138 Auch ein gemäßigterer Ton sollte ab Mitte Juli 1922 die Glaubwürdigkeit der vertragsbefürwortenden Propaganda erhöhen. So schrieb Collins an seinen Nachfolger als Regierungschef, Liam Cosgrave: I think our press organs should be very reticent in their tone.[. . .] what may look to be advantages must be sacrificed.[. . .] If we do, our Propaganda will be more helpful from a permanent point of view.139
Anders als die Republikaner setzten die Vertragsbefürworter mit ihrer gemäßigten Zensur und Propaganda die freistaatliche Lesart des Krieges nicht eins zu eins durch. Als pragmatischen Realpolitikern gelang es den freistaatlichen Aktivisten, Zensur und Propaganda taktisch dosiert einzusetzen. Sie nutzten die Zensur und Propaganda als Instrument, um ihre Macht zu si135 136 137 138
139
UCD, MP, P7/B/53, Collins an Richard Mulcahy, 26. Juli 1922. UCD, MP, P7/B/53, Hugh Kennedy Memo on standardisation of Censorship, 14. Juli 1922. NAI, PG Minutes, G1/2, 26. Juli 1922; GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 101. UCD, KP, P4/254(1), Liam Cosgrave, Rundbrief des Ministry for Local Government, ca. 20. Juli 1922; UCD, FGP, P80/298 (8), official statement on the overall military situation, ca. 18. Juli 1922; ebd., P80/298 (9), captured document und official statement on the destruction of railways, ca. 25. Juli 1922; FREEMAN’S JOURNAL, 10. August 1922, S. 4. UCD, MP, P7/B/29, Collins an Liam Cosgrave, 25. Juli 1922.
II. Der Umgang mit der Zensur
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chern, nicht als Mittel, der Bevölkerung die rechte Lehre vom Vertrag zu predigen. Daß Zensur nicht nur die Legitimation über „liberal rights“, sondern auch die „liberal rights“ selbst gefährdete, spielte in der Diskussion um eine lockerere Zensur keine Rolle. Der Wert „Pressefreiheit“ entwickelte keine Eigendynamik. Das Argument „Pressefreiheit“ und die faktische Pressekontrolle waren Teil der Kriegführung, mußten sich der entscheidenden Frage unterordnen, wie die Provisorische Regierung ihre Sicht des „national issue“ am besten durchsetzen und wie sie die „wonderful possibilities of propaganda“ am besten nutzen konnte.140 In dem Maße, in dem Beaslai seine Zensurbehörde organisatorisch in den Griff bekam, lockerte er die Zensur fortlaufend. Während die Ausgabe der Voice of Labour vom 15. Juli 1922 zu gut einem Drittel aus leeren Spalten bestand, gab Beaslai bereits eine Woche später zuvor verbotene Artikel frei.141 Innerhalb einer Woche war die Zensur auch wesentlich eleganter geworden. Die unschönen leeren Spalten waren verschwunden – beziehungsweise verboten.142 Bereits Mitte August informierte Beaslai einen britischen Journalisten „. . . the censorship has now been greatly relaxed and will probably be shortly altogether withdrawn.“143 Beaslai achtete jetzt nicht nur darauf, was in einem Artikel stand, sondern an einer wie prominenten Stelle er veröffentlicht werden sollte.144 Auch zwischen verschiedenen Publikationen machte Beaslai jetzt taktische Unterschiede: So sah er der Voice of Labour heftige Attacken gegen die Zensur nach.145 Als vergleichsweise unbedeutendes Oppositionsblatt erreichte die Voice nur einen Teil der Gewerkschaftsbewegung und stand immer kurz vor der Pleite.146 Sie hatte kein Korrespondentennetz und gelangte kaum an brisante aktuelle Informationen. Beaslai kalkulierte, daß die Leser von einem Oppositionsblatt auch Opposition erwarteten, daß eine an die redaktionelle Politik der Dubliner Tageszeitungen angeschlossene Voice unglaubwürdig war und somit die gesamte Zensur diskreditierte. Gerade die größeren Freiräume für die Voice verschleierten damit, daß die Kon-
140 141 142 143 144 145 146
NAI, D/T, S-595, Collins, propaganda suggestions, 12. Juli 1922. Vgl. VOICE OF LABOUR, 15. Juli 1922 mit ebd., 22. Juli 1922, S. 1, 2, 4. Z.B.: NLI, BP, box 6, Beaslai an Mr. P. Mahon, 22. August 1922. NLI, BP, box 6, Beaslai an E. Norton, 18. August 1922. NLI, BP, box 6, order to evening papers, ca. 20. Juli 1922. VOICE OF LABOUR, 15. Juli 1922, S. 4; 22. Juli 1922, S. 1, 4; 26. August 1922, S. 8. So die Selbsteinschätzung der VOICE OF LABOUR, 2. September 1922, S. 2.
238
D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
trolle über die meinungsführenden Dubliner Tageszeitungen wesentlich strenger war.147 Nicht Konfrontation, sondern die Kooperationsbereitschaft der Presse machten möglich, daß sich ein neuer Zensurstil einspielte. Am kooperativsten verhielten sich dabei die britischen Zeitungen, die sich Beaslais Zensur gebeugt hatten. Um sich bei ihren britischen Lesern keine Blöße zu geben, verschwiegen sie ihren Lesern die Zensur. Auch die Dubliner Presse ging größeren Konflikten mit dem Zensor aus dem Weg. Die Presse verzichtete meist von vornherein auf Artikel, die der Zensor ohnehin nicht freigeben würde. So versicherte John R. Murphy, Chefredakteur der Evening Mail: „We here have always endeavoured to ease things by deleting all matters that seemed against the national interest or likely to be officially censored.“148 Die Schere im Kopf der Redakteure erleichterte Beaslai die Arbeit, so daß er wiederum mehr Zeit und Nerven für eine entspanntere und liberalere Zensurpolitik hatte. Entscheidend für die Kooperationsbereitschaft der Dubliner Presse war jedoch nicht der von Collins erhoffte „public spirit“149 der Presse, sondern der Druck Beaslais. So kam auch Murphys Zusicherung nicht von ungefähr, sondern stand am Ende eines der wenigen Konflikte zwischen Dubliner Presse und Zensor. Sie war die Entschuldigung Murphys für einen Verstoß gegen die Zensurvorschriften und eine Reaktion auf Beaslais ambivalente Mischung aus freundlichen Appellen und handfesten Drohungen im Vorfeld.150 Außer der Angst vor dem Zensor, hatte die Presse noch andere Gründe, mit Beaslai zu kooperieren: Der Ausbruch des Bürgerkrieges hatte die Dubliner Blätter finanziell getroffen. Bis zum 4. Juli 1922 erschienen alle Zeitungen nur als Notausgaben.151 Zwischen dem 29. Juni 1922 und dem 6. Juli 1922 war, wie schon erwähnt, auch der Zeitungsgroßhandel Eason and Son
147
148 149 150
151
Das Press Room Departement registrierte genau, wo die Presse von der optimalen Meinung abwich: UCD, FGP, P80/295, Memos re Dublin Press; vgl. auch die Toleranz gegenüber einem Pressestatement des Labour-Vorsitzenden Thomas Johnson in IRISH INDEPENDENT, 5. Juli 1922, S. 5 und IRISH TIMES, 5. Juli 1922, S. 3; NAI, D/T, S-1581, Statement Thomas Johnson. NLI, BP, box 6, John R. Murphy an Beaslai, 9. August 1922. UCD, MP, P7/B/53, Collins an Richard Mulcahy, 26. Juli 1922. NLI, BP, box 6, J.W. Whitehead an John R. Murphy, 8. August 1922; ebd., John R. Murphy an Beaslai, 8. August 1922; ebd., Beaslai an John R. Murphy, 9. August 1922, official answer; ebd., Beaslai an John R. Murphy, 9. August 1922, personal note; EVENING MAIL, 3. August 1922, S. 3. Z.B.: IRISH INDEPENDENT, 1. Juli 1922–4. Juli 1922; FREEMAN’S JOURNAL, 2. Juli 1922– 4. Juli 1922; IRISH TIMES, 1. Juli 1922–7. Juli 1922.
II. Der Umgang mit der Zensur
239
praktisch lahmgelegt.152 Was halfen aufsehenerregende Nachrichten, wenn die Presse sie nicht in Ruhe verkaufen konnte. So brach die Auflage des Irish Independent im Juli um 30 Prozent, die des Evening Herald um 17 Prozent und die des Weekly Independent um 20 Prozent ein.153 Von der hohen Nachfrage nach aktuellen Nachrichten profitierten anfangs nur die Zeitungsjungen, die ihre Blätter zu Schwarzmarktpreisen verkauften.154 Zwar stabilisierte sich die Lage in Dublin schnell, in Munster konnten die Dubliner Blätter aber erst im August und September wieder erscheinen – auch dann nur mit Schwierigkeiten.155 Nur von der Provisorischen Regierung konnte die Presse erwarten, daß sie Rahmenbedingungen schuf, in der die Presse früher oder später wieder ungehindert arbeiten konnte. Für die Republikaner war die Presse dagegen nur eine militärische Zielscheibe. Beim Freeman’s Journal ging die Kooperation mit Regierung und Zensurbehörde weit über das sonst übliche Maß an halb freiwilliger, halb erzwungener Zusammenarbeit hinaus. Nach dem Vertagsabschluß mit England stellte sich der Freeman sofort auf die Seite der Vertragsbefürworter, bot Griffith angeblich schon im Dezember eine gezielte Kampagne gegen de Valera an.156 Noch vor dem Bürgerkrieg hatte er mehrteilige Artikelserien prominenter Regierungsmitglieder veröffentlicht.157 Als das Blatt ab Februar 1922 bald täglich in Munster verbrannt wurde, verschwieg die Redaktion dies ihren Lesern, um die Machtlosigkeit der Regierung nicht bloßzustellen. Aus Loyalität zur Regierung verzichtete es bis zur Zerstörung ihrer Produktionsanlagen darauf, sich als Märtyrer für die Pressefreiheit zu stilisieren. Damit rechtfertigte sie das Vertrauen der Regierung, die in internen Gesprächen mit dem Freeman-Management offen zugab, die Kontrolle über Munster völlig verloren zu haben.158 Umgekehrt engagierte sich die Regierung für ihren Verbündeten. Sie zahlte dem Besitzer eine Entschädigung nach dem IRA-Anschlag im März 152
153 154 155
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Eason’s Archive, Factory Report, 24. Januar 1933, effect of Dublin disturbances during June and July 1922.; ebd., Eason & Son an alle Newsagents, 12. Juli 1922; ebd., memo, interruptions at various periods to normal dispatch work from 1917 to 1922, undatiert; vgl. IRISH HOMESTEAD, 1. Juli 1922–8. Juli 1922, S. 410. IRISH INDEPENDENT, 28. Februar 1923, S. 4. FREEMAN’S JOURNAL, 4. Juli 1922, S. 2. Eason’s Archive, Charles Eason’s Diary, ab August 1922; WATERFORD NEWS, 6. Oktober 1922, S. 5; vgl. zur militärischen Lage nach der Einnahme Corks: HOPKINSON, Green, S. 172–5. AN POBLACHT-WAR NEWS, 17. Februar 1923. FREEMAN’S JOURNAL, 2. Februar 1922, S. 5; 6. Februar 1922, S. 4 f.; BEASLAI, Collins, S. 359. NAI, D/J, H5/55, Mr. Mac Donnell an Eamon Duggan, 24. März 1922; ebd., Notiz über Telefonat zwischen Eamon Duggan und Mr. Mac Donnell, 25. März 1922.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
1922, „bat“, also zwang die ITGWU nach Kriegsausbruch, einen Druckerstreik beim Freeman abzubrechen.159 Nach dem Angriff auf die Four Courts unterstützte der Freeman vorbehaltlos die Politik der Freistaatsführung. Inhalt, Nomenklatur und Formulierung unterschieden sich kaum von der offiziellen vertragsbefürwortenden Propaganda. Im Zweifel war der Ton des Freeman’s Journal polemischer und weniger zurückgenommen.160 Anders als der Irish Independent übernahm der Freeman regelmäßig die offiziellen Regierungsstatements, aber auch inoffizielle Propaganda – teilweise sogar in seine Leitartikel.161 Der Freeman druckte fast keine republikanischen Leserbriefe und hatte keine nennenswerten Konflikte mit dem Zensor. Im Juli stellte das Freeman-Management der Zensurbehörde ihr Londoner Büro und ihre private telegraphische Verbindung für die Film- und Photozensur zur Verfügung. Der Londoner Redakteur des Freeman half dem dortigen Zensor dabei, eine Wohnung zu finden, und legte ihm Geld aus.162 Die Kooperation zwischen Freistaatsführung und Freeman erstreckte sich auch auf die personelle Ebene. Als die Provisorische Regierung zu Beginn des Krieges einen „call to arms“ veröffentlichte, meldeten sich der Besitzer, das Management, die gesamte Redaktion und zahlreiche Mitarbeiter des Freeman (symbolisch) freiwillig. So wurde die Redaktion des Freeman ganz offiziell zur Rekrutierungsbasis von Militär- und Regierungsbehörden. Das galt insbesondere für die Propaganda- und Zensurbehörde.163 Die entscheidende Qualifikationen der Freeman-Mitarbeiteren waren dabei die Loyalität des Freeman zur Provisorischen Regierung und dessen langjährige Erfahrung in der redaktionellen Politik eines gemäßigten Nationalismus. So rekrutierte Beaslai, vor der Revolution selbst Mitarbeiter des Freeman, einen seiner zwei Zensurassistenten aus der Redaktion des Blattes.164 Sean Lester, Redakteur beim Freeman, ließ sich von Beaslai nicht nur zensieren, 159 160
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163 164
FREEMAN’S JOURNAL, 19. Dezember 1924, S. 5; VOICE OF LABOUR, 24. Juni 1922, S. 7. NAI, D/T, S-1394, Zeitungsausschnitt aus FREEMAN’S JOURNAL, 29. Juli 1922, S. 5, mit Vermerk des Press Room Department, daß der FREEMAN das official statement dramatisiert hätte; vgl. FREEMAN’S JOURNAL, 10. August 1922, S. 4. UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, Juli, August 1922; vgl. UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, ca. 1. September 1922; UCD, MP, P7/B/240, Richard Mulcahy an Captain Hugh Smith, 29. August 1922. NLI, BP, box 6, Memo re Film and Camera Censorship in London, ca. 29. Juli 1922; Beaslai an Hugh Smith, 2. August 1922; Beaslai an J. E. Walsh, 22. August 1922; Hugh Smith an J. E. Walsh, 23. August 1922; UCD, FGP, P80/282, Memo re Censorship in London, 21. Juli 1922. NLI, BP, box 6, Volunteers for the National Army, ca. 8. Juli 1922. NLI, box 6, Memo on Work of Censor’s Department, ca. 29. Juli 1922; ebd., Beaslai an Mathew Walker, subeditor FREEMAN’S JOURNAL, 10. Juli 1922.
II. Der Umgang mit der Zensur
241
er nutzte sein enges Verhältnis zum Zensor, um an exklusive Informationen aus der Freistaatsführung zu kommen.165 Als Dubliner Korrespondent des Daily Herald erreichte er Mitte Juli innerhalb von vier Tagen, daß sich der Daily Herald an die Dubliner Vorzensur anschloß und eine Lizenz für den Freistaat erhielt.166 Schon zu Beginn des Krieges per Du, also per Vorname, mit FitzGerald, war er ab Februar 1923 Chef der zivilen Propagandastelle und FitzGeralds rechte Hand.167 Regierungschef Liam Cosgrave ernannte im Dezember 1922 den Freeman-Besitzer Martin FitzGerald und später auch den Chefredakteur des Blattes, Patrick Hooper, zu Mitgliedern des neu geschaffenen Senats.168 So fand eine Gruppe ehemaliger Anhänger der Home Rule-Bewegung Anschluß an den pragmatischen Flügel Sinn Feins. Als Mitarbeiter von Zensurbehörde, Propagandadepartment und Senat formulierten sie mit an der neuen Version des freistaatlichen irischen Nationalismus. Obwohl auch die anderen Dubliner Blätter im großen und ganzen die Regierung unterstützten, beugten sie sich nicht einfach servil dem Zensor. Sie versuchten, die neuen Spielräume vorsichtig auszuloten, ohne es auf eine massive Konfrontation mit dem Zensor ankommen zu lassen, ohne die Provisorische Regierung in Prestigefragen zu provozieren. Dementsprechend wurden die Zeitungen im wörtlichen Sinne durch die Hintertür kritischer. Das galt besonders für den Irish Independent. Während Leitartikel, Kommentare und Berichterstattung die Provisorische Regierung unterstützen, höchstens wohlwollend kritisierten, erschienen zunehmend kritische Leserbriefe in der Tagespresse. Die Tagespresse referierte bald auch den Verlauf regierungskritischer Veranstaltungen. Ab Mitte August erschienen zunehmend Leserbriefe, die moderat, aber offen republikanisch argumentierten.169 Zwar überarbeitete Beaslai häufig die Terminologie der Briefe und hielt immer noch viele republikanische Leserbriefe auf, doch die Tendenz war nicht zu übersehen.170 So registrierten FitzGeralds Mitarbeiter mißmutig: „An ordinary reader of the ‚Independent‘ must wonder if that paper 165 166 167 168 169
170
NLI, BP, box 6, Sean Lester an Patricia Hoey, 11. Juli 1922. NLI, BP, box 6, Sean Lester an Beaslai, 14. Juli 1922; 18. Juli 1922, ebd., box 28a, Zensurliste, 19. Juli 1922. UCD, FGP, P80/281, Sean Lester an FitzGerald, 17. Juli 1922; 26. Juli 1922; 2. August 1922: „Dear Desmond [. . .]“. IRISH INDEPENDENT, 7. Dezember 1922, S. 5; LARKAN, Freeman’s Journal, S. 96, 108. Exemplarisch: IRISH INDEPENDENT, 9. August 1922, S. 7; 17. August 1922, S. 11, Patrick Little; 30. August 1922, S. 6; FREEMAN’S JOURNAL, 24. August 1922, S. 4; UCD, FGP, P80/295, Memos re Dublin Press, 15. August 1922–4. September 1922. NLI, BP, box 6, Beaslai an IRISH INDEPENDENT, 19. August 1922; UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 16. August 1922–6. September 1922.
242
D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
receives no letters in support of the Government, and of the National Army.“171 Die Mitarbeiter der vertragsbefürwortenden Propaganda schickten deshalb regierungsfreundliche Leserbriefe unter Pseudonymen an die Presse. Doch zum Ärger FitzGeralds half auch das wenig: Sie wurden selten veröffentlicht.172 Auch der Plan, die Zensur gänzlich unsichtbar zu machen, scheiterte. Obwohl Beaslai die Zensur stark lockerte, wiesen die Zeitungen nach wie vor auf die Zensur hin.173 Das zwang die Propagandisten, das Thema Zensur, das sie bis Mitte August totgeschwiegen hatten, aufzugreifen und etwa über selektive Klassikerzitate nationaler Märtyrer zu rechtfertigen.174 Die vertragsbefürwortende Propaganda argumentierte weiter, die Zensur diene nur der Sicherheit der militärischen Operationen, verhindere nur die schlimmsten Auswüchse „irregulärer“ Schreibtischtäter: It is not right for an editor wielding a pen to preach a doctrine of war, of hate and destruction, and to urge the youth of the country to go out and die for a shadow, while the editor himself carefully clings to the safety of his desk and ‚maintains the Republic‘. It is not altogether unreasonable to put a military censorship on Irregular editors as a precaution in their own interest and the interest of the country, to save life and property.175
Damit verschleierte die freistaatliche Propaganda, daß die Zensur nach wie vor weit über eine reine „military censorship“ hinausging, daß Beaslai nicht republikanische, sondern freistaatliche Redakteure zensierte und daß das freistaatliche Militär die republikanische Presse unterdrückte, nicht etwa zensierte. Anfang August 1922 fand in Dublin der Irish Labour Party and Transport Union Congress, ILPTUC, statt: der jährliche gemeinsame Kongreß von Irish Labour und den irischen Gewerkschaften. Der Kongreß war vom Bürgerkrieg überschattet. Auch wenn Labour theoretisch neutral war: Die Vertragsspaltung ging auch quer durch Partei und Gewerkschaften. Die we-
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173
174 175
UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 4. September 1922. UCD, P80/295, Memo re Dublin Press, 27. Oktober–11. November 1922 „with the Minister’s [FitzGerald’s] Complaints, 15. November 1922; UCD, P80/286, Entwürfe für Leserbriefe von „anti-Militarist“ und „Irish Citizien“, ca. 17. August 1922; UCD, P80/312, Antworten u. a. von „chivalry“ (Mr. Cumins) auf Leserbriefe Ernie O’Malleys, ca. 27. August 1922. FREEMAN’S JOURNAL, 24. Juli 1922–29. Juli 1922, je S. 6, auch 11. August 1922, S. 7; IRISH INDEPENDENT, 15. Juli 1922–8. September 1922, fast täglich jeweils Seite 4: „passed by censor“. UCD, FGP, P80/323, Freistaatspropagandaartikel: Wolfe Tone on the Liberty of the Press, undatiert. TRUTH-WAR ISSUE, 22. August 1922, S. 2.
II. Der Umgang mit der Zensur
243
nigsten Mitglieder sahen sich einfach als Sozialisten, ihre Klassenidentität wurde überlagert von der nationalen Frage. Republikanische und freistaatliche Sozialisten attackierten sich, viele Debatten eskalierten in offenem Streit. Nur mühsam gelang es der Labourführung, mit Formelkompromissen einen offenen Bruch zu verhindern.176 Ein solcher Formelkompromiß stand auch am Ende einer hitzigen Diskussion zur Zensur, die R.S. Anthony, Vorsitzender der Corker Druckergewerkschaft, mit Blick auf die republikanische Totalzensur in Cork entfacht hatte.177 Immer wieder kamen die Redner vom Thema ab, attackierten die republikanische Diktatur in Cork, die Gefängniszustände in Dublin oder die Neutralität Labours. Andere Redner bemühten sich, einen offen Bruch zwischen vertragsbefürwortenden und vertragsablehnenden Sozialisten zu verhindern. Entsprechend demonstrativ attackierten sie die servile Dubliner Tagespresse, bezeichneten die Zensur der Provisorischen Regierung und die republikanische Zensur in Cork wider besseres Wissen als gleich schlimm.178 Die Abschlußresolution der Labour Party zum Thema Zensur verzichtete bewußt auf nationale Argumente und bediente sich einer konsensfähigeren „liberal rights“-Rhetorik. Dabei unterschlug sie wiederum, daß auch die Labour Party die kapitalistische Presse am liebsten zensiert hätte.179 Nicht nur das sozialistische Parteiorgan Voice of Labour, auch Freeman und Irish Independent berichteten ausführlich über den Kongreß der ILPTUC.180 Gerade die Zensurdiskussion gaben beide Zeitungen ausführlich wieder. Als Meinung von Radikalen deklariert, traute sich die Dubliner Tagespresse, die Zensur so indirekt anzugreifen. Der Irish Independent ging noch einen Schritt weiter. Er kritisierte in einem Leitartikel selbst die Zensur des Freistaats als „irksome limitation of the liberty of the press“. Gleichzeitig aber nahm er die Provisorische Regierung in Schutz. Die freistaatliche Zensur sei nicht vergleichbar mit der völligen Annexion des Cork Examiner durch die Republikaner.181 Vor der Folie des ILPTUC Kongresses las sich 176 177 178
179 180 181
Siehe fast jedes beliebige Thema in: ILPTUC, report, August 1922, passim; Formelkompromiß während der Zensurdiskussion: ebd., S. 113. ILPTUC, report, August 1922, S. 110–4. So auch: ILPTUC, report, August 1922, S. 113, Cathal Shannon. Ähnlich „neutral“ argumentierte die von Shannon herausgegebene VOICE OF LABOUR, 29. Juli 1922, S. 2; 12. August 1922, S. 8. VOICE OF LABOUR, 18. Februar 1922, S. 1, 8; 18. März 1922, S. 6; 13. Mai 1922, S. 4; 5. August 1922, S. 5; 10. Februar 1923, S. 1. IRISH INDEPENDENT, 9. August 1922, S. 7; FREEMAN’S JOURNAL, 9. August 1922, S. 6; VOICE OF LABOUR, 12. August 1922, S. 8; 2. September 1922, S. 4. IRISH INDEPENDENT, 9. August 1922, S. 4.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
der Kommentar des Independent wie eine Apologie der Provisorischen Regierung. Das war das Maximum an Illoyalität, zu dem auch der kritischere Independent bereit war. Die Art, in der Beaslai die Berichte über den Kongreß des ILPTUC redigierte, zeigt, wie schnell der vor kurzem noch überarbeitete und überforderte Zensor gelernt hatte, Zensur flexibel einzusetzen. Die Kritik an der Zensur ließ Beaslai unverändert passieren. Denn unzensierte Ausfälle gegen die Zensur widersprachen sich selbst: Wenn so harte Angriffe auf die Zensur freigegeben wurden, konnte die Zensur dann wirklich so streng sein? Waren das nicht haltlose, noch dazu sozialistische Übertreibungen? Gerade solange die Republikaner keinen Zugriff auf „liberal rights“ bekamen, mußte Zensurkritik die Propagandaprofis nicht sehr beunruhigen. Hart griff Beaslai dort durch, wo es keiner merkte, der nicht selbst auf dem Kongreß gewesen war. Wie explosiv die Stimmung auf dem Kongreß war, daß auch die Labour Party beinahe offen in Vertragsbefürworter und -gegner zersplitterte, davon war in den freigegebenen Berichten kaum etwas zu merken.182 Beaslais Umgang mit den Berichten über den Kongreß der ILPTUC zeigte: Für die Provisorische Regierung gab es brennendere Punkte als das Thema „Zensur“: die nationale, die Vertragsfrage. Die Art, in der die Bürgerkriegsparteien mit der Zensur umgingen, war bezeichnend für die beiden konkurrierenden politischen Kulturen: Die pragmatisch denkenden Freistaatler setzten auf propagandistische Effizienz, die der „historical truth“ verpflichteten Republikaner auf die Reinheit der Lehre. Die republikanischen Untergrundblätter und die von den republikanischen Politikern mehr übernommenen als zensierten Provinzblätter propagierten ungebrochen „the Republic“. Gegenüber dieser „historical truth“ war aus republikanischer Perspektive der Wert Pressefreiheit unwichtig. Auch gegen die freistaatliche Zensur argumentierte die republikanische Propaganda nicht mit Pressefreiheit, sondern mit der historischen Antithese von „British lies“ und „Irish truth“. Zu taktischen Zugeständnissen gegenüber der Bevölkerung waren die republikanischen Propagandisten im Gegensatz zu ihren freistaatlichen Konkurrenten kaum bereit. Die Führung der Vertragsbefürworter beschloß dagegen schon früh, ihre Zensur zu lockern und den Ton ihrer Propaganda zu mäßigen. Auch ihr ging es nicht um den abstrakten Wert „Pressefreiheit“. Sie zielte auf die Glaubwürdigkeit, also die Effizienz ihrer Propaganda. Dabei entwickelte 182
Vgl. ILPTUC, report, August 1922, S. 110–4 mit IRISH INDEPENDENT, 9. August 1922, S. 7; FREEMAN’s JOURNAL, 9. August 1922, S. 6 und VOICE OF LABOUR, 12. August 1922, S. 8; Siehe Kritik, in: VOICE OF LABOUR, 2. September 1922, S. 4.
III. Legitimation eines Tabubruchs
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sich für die Tagespresse ein Spielraum für Toleranz, der, vor allem wo es um Kritik an der Zensurbehörde ging, erstaunlich groß war. Innerhalb der durch Beaslais Drohungen definierten Parameter spielte sich ein Zensurstil ein, der weitgehend auf Zusammenarbeit setzte. Die Zeitungen nutzten Kooperationsangebot und redaktionellen Spielraum unterschiedlich: Während der Irish Independent laufend versuchte, seine Spielräume auszuloten, kooperierte das Freeman’s Journal personell und inhaltlich eng mit der Freistaatsführung, wurde so zum inoffiziellen Regierungssprachrohr.
III. LEGITIMATION EINES TABUBRUCHS: BRUDERMORD, REBELLION ODER FREIHEITSKRIEG? In diesem Teilkapitel werde ich untersuchen, wie die beiden Bürgerkriegsparteien versuchten, die kulturelle Seite des Konflikts zu kontrollieren. Die Propagandisten beider Seiten mußten sich selbst und einem möglichst großen Teil der Öffentlichkeit verständlich machen, warum ein „civil strife among brothers“183 legitim war. Mit welchen Mitteln machten die Republikaner aus dem Bürgerkrieg einen Freiheitskrieg, einen neuen „Anglo-Irish War“184? Und wie versuchten die Vertragsbefürworter, über eine Rhetorik von „law and order“ und „will of the people“ den Bürgerkrieg als eine „armed revolt“185 gegen die nationale Regierung zu definieren? Ich werde zeigen: Dafür, daß die Bevölkerung den Bürgerkrieg entsprechend deutete, sorgten nicht nur die Propagandisten, sondern auch die Militärs beider Seiten. Sie inszenierten den Ausbruch des Krieges und ihre Kriegführung so, daß ihre Deutung des Krieges glaubhaft wurde – oft gegen jede „objektive“ militärische Vernunft. Krieg war teilweise die Fortsetzung der Propaganda mit non-verbalen Mitteln: „Tongues were not easy weapons to use in expressing feelings, but rifles were.“186
183 184 185 186
FREEMAN’S JOURNAL, 23. März 1922, S. 4. NLI, BP, box 6, republikanischer Propagandaartikel, ca. 28. August 1922. YOUNG IRELAND, 8. Juli 1922, S. 2; FREEMAN’S JOURNAL, 28. Juli 1922, S. 5, official statement. YOUNGER, Civil War, S. 479.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
1. REVOLTE GEGEN DIE NATIONALE REGIERUNG a) „Law and order“: offizielle Terminologie, inszenierte Kriegführung, subversive Lesart Der Angriff auf die Four Courts schuf, wie ich zeigen werde, für die freistaatliche Propaganda zwar eine Menge legitimatorischer Probleme, aber er löste auch eines: Die chaotischen, in Munster teilweise anarchischen Verhältnisse vor dem Krieg hatten die Provisorische Regierung schon lange unter Druck gestellt. Was war das für eine Regierung, die nicht regierte? Die Dubliner Tageszeitungen und viele Provinzzeitungen klagten immer wieder über „the lack of protection for life and property [and] the ubiquitous tyranny of the revolver“.187 Das war nicht nur Kritik an der unkontrollierbaren IRA, sondern auch Kritik an der untätigen Provisorischen Regierung. „Law and order“ waren bis Juli 1922 eben nicht, wie der führende Bürgerkriegshistoriker Michael Hopkinson annimmt, gute Argumente für, sondern gute Argumente gegen die Provisorische Regierung.188 Erst nach dem Ausbruch des Krieges konnte und mußte die vertragsbefürwortende Propaganda „law and order“ positiv und offensiv besetzten. Jetzt entschloß sich die Führung der Vertragsbefürworter bewußt gegen eine Rhetorik, die weiter defensiv argumentierte. Sie entschied sich für eine Resolution, die eine weit überlegene Regierung suggerierte und kündigte an „[to put] down disorderly elements“.189 Weil gerade zu Beginn des Krieges die Loyalitäten auf beiden Seiten häufig noch unscharf waren,190 mußte die Freistaatsführung eine Deutung finden, die das Töten ehemaliger Kameraden legitimierte. Collins Vorschlag, die IRA-Aktivisten als „misguided but [. . .] sincere“ darzustellen, setzte sich in der offiziellen Propaganda nicht durch.191 Statt dessen machten die Propagandisten ihre ehemaligen Kameraden zu Rebellen, Terroristen und
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188 189 190
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IRISH TIMES, 25. April 1922, S. 5; IRISH INDEPENDENT, 6. April 1922, S. 4; NATIONALIST 21. Januar–4. Februar 1922, S. 5; ROSCOMMON MESSANGER, 22. April 1922, S. 5; MAYO NEWS, 22. April 1922, S. 2; KERRY PEOPLE, 20. Mai 1922, S. 2; WEXFORD PEOPLE, 1. Juli 1922, S. 4. HOPKINSON, Green, S. 69. D/T, S-1322a, official statement, 29. Juni 1922 von Griffith, dabei auch zwei abgelehnte Entwürfe. HOPKINSON, Green, S. 119, 125, 131, 142, 147 f., 154, 160, 162, 165, 209 (Für die Zeit vor dem Bürgerkrieg vgl. ebd., S. 62 f., 104); YOUNGER, Civil War, S. 375, 394; NEESON, Civil War, S. 164; LANKFORD, Hope, S. 237; FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 224; MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 656–8. UCD, MP, P7/B/29, Collins an Liam Cosgrave, 25. Juli 1922; so auch IRISH INDEPENDENT, 1. Juli 1922, S. 2.
III. Legitimation eines Tabubruchs
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Kriminellen.192 Wie schon vor dem Krieg übertrugen die Vertragsbefürworter Teile des britischen Feindbildes auf die IRA.193 Wieder setzten die vertragsbefürwortende Propaganda und die Tagespresse die IRA mit gewinnsüchtigen und tyrannischen Briten der verschiedensten Jahrhunderte gleich.194 Die Vertragsbefürworter behaupteten, auf ihrer Seite kämpfe die überwiegende Mehrheit der Guerilleros des Unabhängigkeitskrieges, dagegen rekrutiere sich die IRA überwiegend aus Aktivisten, die erst nach dem Unabhängigkeitskrieg in die IRA eingetreten seien, sogenannten „trucileers.“195 Wesentlich häufiger als umgekehrt unterstellte die freistaatliche Propaganda ihren Gegnern unsoldatische Methoden: Mißbrauch der weißen Flagge, Angriffe auf Rotkreuzkolonnen und Unbewaffnete, Plünderungen, Minenhinterhalte, Eidbruch, den militärischen Einsatz von sechzehnjährigen Buben, den Einsatz von Dum-Dum-Geschossen.196 Diese angeblichen Verstöße der IRA gegen die Regeln der Kriegführung wurden bezeichnenderweise wesentlich seltener, als die Propagandaprofis des Freistaats sich ab Mitte Juli 1922 auf eine glaubwürdigere Propagandastrategie verständigten. Zensur und Propaganda sollten garantieren, daß der Bürgerkrieg nicht als Krieg zwischen gleichwertigen Gegnern gedeutet wurde.197 Wie ein Leitartikel des Irish Independent in der verbindlichen Rhetorik feststellte, „the campaign waged by the Irregulars [is] not war.“198 Aus einem Krieg gegen ehemalige Kameraden machte die vertragsbefürwortende Propaganda so das Niederschlagen einer Revolte.199 Eine Reihe verbindlicher Feind- und Selbstbezeichnungen sollte den Erfolg dieser Version garantieren. Dafür erfand die freistaatliche Propaganda eine Terminologie, die Beaslai über seine Zensurrichtlinien durchsetzte. Beaslai verbot die Ausdrücke „Republicans“ und „IRA“, ersetzte sie durch „mutineers“ und „Irregulars“. Beaslai in seinen Zensurrichtlinien: 192 193
194 195 196 197 198 199
FREE STATE, 20. Juli 1922, S. 1; UNITED IRISHMAN, 15. Februar 1923, S. 4. IRISH HOMESTEAD, 23. September 1922, S. 569; YOUNG IRELAND, 8. Juli 1922, S. 2; 15. Juli 1922, S. 2; 22. Juli 1922, S. 1; 15. Februar 1923, S. 2; 22. Februar 1923, S. 4; FREE STATE, 5. Juli 1922, S. 1; UCD, OMP, P17a/144, Director Publicity Cumman na mBan an DAILY MAIL, 30. November 1922. YOUNG IRELAND, 29. Juli 1922, S. 2; IRISH INDEPENDENT, 22. Juli 1922, S. 3. Siehe Photo in: COOGAN und MORRISON, Civil War, S. 182. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box3/46, Flugblatt, ca. Juli 1922; IRISH INDEPENDENT, 5. Juli 1922, S. 3. Vgl. UCD, FGP, Memo re Dublin Press, ca. 27. August 1922; 29. August 1922. IRISH INDEPENDENT, 26. Juli 1922, S. 4. TRUTH-WAR ISSUE, 18. Juli 1922, S. 3; IRISH INDEPENDENT, 29. Juni 1922, S. 2, „official statement“; FREEMAN’S JOURNAL, 29. Juni 1922, S. 5, „Government proclamation“.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
The Irregulars must not be referred to as ‚Executive Forces‘ nor described as ‚Forces‘ or ‚Troops‘. They are to be called ‚Bands‘ or ‚Bodies‘ or ‚Armed men‘. Irregular leaders are not to be referred to as of any rank such as ‚Commandant’ etc. and are not to be called Officers.
Genau wie die offizielle Terminologie die Legitimität der IRA als Armee diskreditierte, machte sie aus den vertragsbefürwortenden Kräften eine legitime Truppe: Dabei sollten die Schlüsselworte „Irish“ oder „National“ suggerieren, daß es in Irland nur eine national legitimierte Armee gab, eine irische Armee, die, anders als die Republikaner behaupteten, kein verlängerter Arm des britischen Empires war: „The Army must always be referred to as the ‚Irish Army‘, ‚The National Army‘, ‚National Forces‘, ‚National Troops‘, or simply ‚The troops‘.“ Wenn es um die richtige Terminologie ging, machte Beaslai auch Ausnahmen von der Regel, daß der Zensor keine Passagen umformulieren durfte: The Censors [. . .] may however, propose to substitute words or phrases such as ‚Irregulars‘ for ‚Republicans‘, ‚fired at‘ for ‚attacked‘; ‚seized‘ for ‚commandeered‘, ‚kidnapped by Irregulars‘ for ‚arrested‘; ‚enrolled‘ for ‚enlisted‘.200
Indem Beaslai ein ganzes System freistaatlich besetzter Schlüsselworte verordnete, erlangte er in der von ihm zensierten Presse die Macht darüber, wie der Bürgerkrieg gedeutet wurde; denn mit diesem offiziellen Vokabular waren die zentralen republikanischen Positionen nur noch schwer sag- oder denkbar. Die Legitimationsstrategie von „law and order“ prägte auch die freistaatliche Kriegführung. Die Provisorische Regierung inszenierte den Angriff auf die Four Courts als Demonstration staatlicher Stärke gegenüber illegitimen Rebellen. Die Provisorische Regierung formulierte ein Ultimatum, das keinen Spielraum für Verhandlungen ließ – eine souveräne Regierung verhandelt nicht mit Rebellen. Damit stellte sie sich, von Großbritannien ohnehin schon getrieben, noch weiter unter Zugzwang.201 Einige Soldaten der „National Army“ steckte die Freistaatsführung in kurzfristig organisierte, grün gefärbte britische Uniformen, damit sie wie eine echte Armee aussahen.202 Dann marschierten diese Einheiten offen und mit weit überlegenen Waffen auf. Diese Waffen hatte das vertragsbefürwortende Militär kurz 200
UCD, FGP, P80/282, Military Censorship, general instructions, ca. 21. Juli 1922; Vgl REINKOSELLECK, Einleitung, in: BRUNNER, et. al. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, S.XIII–XXVII, hier: S. XVIII; zur Bedeutung von Reizworten vgl. KANZOG, Zensur, Sp. 1038 f. HOPKINSON, Green, S. 116 f. HOPKINSON, Green, S. 137; JOHN M. FEEHAN, The Shooting of Michael Collins. 6. Aufl. Cork 1991, hier: S. 81. HART
201 202
III. Legitimation eines Tabubruchs
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zuvor von der britischen Armee geliehen: Darunter Vickers-, Thompsonund Lewis-Guns, also verschiedene Typen von Maschinengewehren, dazu gepanzerte Fahrzeuge und vor allem zwei Stück Artillerie.203 Gerade den militärischen Nutzen der Artillerie stellten im Straßenkampf erfahrene Militärs wie der Oberkommandierende der britischen Truppen in Irland, Nevil Macready, stark in Frage. Die Artillerie sollte vor allem Eindruck machen. Das war auch die Sicht der freistaatlichen Armeeführung. So schätzte Emmet Dalton, der den Angriff auf die Four Courts leitete, diese „eighteen pounder“ am meisten für den ehrfurchtserweckenden Krach, der den Feind entmutige und die eigenen Truppen motiviere.204 Auch Beaslais Armeezeitung An tOglach versuchte, der neuen Armee ein professionelles Selbstverständnis zu vermitteln, druckte endlose Artikel über Disziplin, militärischen Drill und Symbole, Portraits der Armeeführung oder Fachartikel über überlegene Waffen und Kommunikationstechnik.205 Doch die neue „staatliche Armee“ war nicht halb so professionell, wie die vertragsbefürwortende Propaganda sie darstellte. Viele der ehemaligen Guerilleros mußten sich in ihrer neuen Rolle als Teil einer (in Zukunft) professionellen Berufsarmee erst zurechtfinden. Zu Beginn des Krieges gab es in der Freistaatsarmee kaum Spezialisten, die wußten, wie man mit gepanzerten Fahrzeugen oder wie man mit der Artillerie umgehen sollte.206 So gibt der Historiker Carlton Younger folgende Geschichte des Freistaatsgenerals Emmet Dalton wieder: As the bombardment went on, Dalton received a summons from General Sir Nevil Macready who, surrounded by his officers, was standing on the steps of his headquarters, the Royal Hospital, to receive him. Indignation glinted from every brass botton of his uniform. When, just as Dalton arrived, a shell from an 18-pounder exploded in the saddling paddock, Dalton had an inkling of what was coming. ‚He said they’d given me the guns on the assurance that they wouldn’t be used against the British, but the place was being shelled.‘ Dalton recalls: ‚I couldn’t make this out at all but I said I’d go back and check up. I found Ignatius O’Neill, a great character from county Clare, with his gun canted up as he tried to hit a sniper in the dome of the Four Courts. He was using an 18-pounder like a rifle and the shells were going right through the dome and landing on the Royal Hospital.‘ Macready, when he heared the story, was not amused.207 203 204 205 206 207
HOPKINSON, Green, S. 120; Im Laufe des Krieges lieh sich die Freistaatsarmee insgesamt acht dieser „big guns“ aus: ebd., S. 127. MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 656–8; EVENING HERALD, 8. Juli 1922, S. 2. AN TOGLACH, 30. September 1922, S. 2; 7. Oktober 1922, S. 2; 9. Dezember 1922, S. 1; 20. Januar 1923, S. 2 f.; 24. Februar 1923, S. 2, 6; 10. März 1923, S. 12 f. MEMORY, Memory’s, S. 149; MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 655; HOPKINSON, Green, S. 61, 120. YOUNGER, Civil War, S. 326.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
Hier täuschte sich Dalton: Abgesehen von den Einschlägen im Royal Hospital konnte sich der Oberkommandierende der britischen Streitkräfte sehr wohl über die Ineffizienz der Freistaatstruppen amüsieren, deren Kriegführung er als „Irish Comic Opera Style“ belächelte.208 „Not amused“ war, folgt man Macreadys Version des Kriegsausbruchs, Dalton selbst: Er mußte Macready trotz des peinlichen Zwischenfalls im Royal Hospital um dessen letzte fünfzig Schrapnells anbetteln, um weiter Krach machen zu können. Obwohl Dalton eigentlich den Angriff koordinieren sollte, mußte er schließlich einen der beiden „eighteen pounder“ drei Stunden lang selbst bedienen. Die Mannschaft des Geschützes war desertiert, genauer, nach Hause gegangen, nachdem sie das erste Mal selbst unter Beschuß geraten war.209 Man könnte natürlich sagen, dies sei nichts als eine im Detail nicht belegbare Anekdote über einen tragischen Bedienungsfehler und über militärisches Unvermögen. Doch Dalton und Macready erzählten oder „bearbeiteten“ ihre Geschichten nicht nur, weil sie sie (im nachhinein) amüsant fanden, sondern weil sie für den Beginn des Bürgerkrieges bezeichnend waren: Ein Teil der neuen Armee dachte und handelte immer noch mit den Koordinaten eines Guerilleros: mit viel Eigeninitiative und Elan, aber ohne besondere militärische Fachkenntnisse, wenig diszipliniert und häufig noch mit Großbritannien als Feindbild und hier sogar als unbewußter Zielscheibe der Aggression.210 Das disziplinarische Problem der „National Army“ verschärfte sich weiter, als die Führung der Vertragsbefürworter innerhalb kurzer Zeit tausende von Soldaten rekrutierte. Die meisten Rekruten hatten kaum oder keine Kriegserfahrung. Die vertragsbefürwortende Armee bestand bald zu einem großen Teil aus zuvor unterbezahlten Arbeitern oder Arbeitslosen, die im Kriegsdienst einen gut bezahlten Job sahen. Aus republikanischer Perspektive waren das unedle Motive, die Freistaatsoldaten käufliche „mercenaries“.211 Dazu untergrub die mangelnde Disziplin in der vertragsbefürwortenden Armee den Anspruch der Provisorischen Regierung, „law and order“ zu garantieren. Beaslais Zensur erreichte zwar, daß keine Kritik an der
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MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 655. HOPKINSON, Green, S. 120; MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 656. VALIULIS, Mulcahy, S. 161. AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Juni 1922; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 23. September 1922, S. 2; UCD, FGP, P80/736, Aodh de Blacam, Memo on Irish situation, 23. Juli 1922; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 261.
III. Legitimation eines Tabubruchs
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Armee in der Dubliner Tagespresse erschien.212 Doch Geschichten über die Disziplinlosigkeit der Truppe waren nicht ausschließlich auf das Medium der republikanischen Propaganda angewiesen. Genau wie an der Brutalität und Disziplinlosigkeit der Black and Tans im Unabhängigkeitskrieg kaum vorbei zu sehen war,213 fielen auch die Freistaatsoldaten in vielen Einsatzgebieten unangenehm auf: Trinkgelage, Randalieren, Autorennen durch Dörfer, Beschlagnahme von Eigentum, Mißhandlung von republikanischen Sympathisanten erlebten die Bewohner häufig hautnah. Auch wenn die wenigsten persönlich betroffen war, im eigenen Ort oder Nachbarort gab es sicher einen Freund, Bekannten oder Verwandten, der allen Grund hatte, sich über die vertragsbefürwortenden Truppen zu beschweren.214 Die Provisorische Regierung selbst schätzte die Lage deshalb sehr kritisch ein und versuchte während des gesamten Krieges durchzusetzen, daß die Armee Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nahm und auf Gewalttaten verzichtete.215 Noch im April 1923 beobachtete die Armeeführung kritisch, wie die Disziplinlosigkeiten der Truppen auch in regierungsfreundlichen Gebieten unangenehmen Gesprächsstoff lieferte. Umgekehrt überlegte sie genau, welche Einheiten und Offiziere sie in regierungskritische Gebiete schickte. Sie schätzte „a good record of the troops“ als beste Propaganda.216 Daß sich die Provisorische Regierung über „law and order“ legitimierte, war nicht nur problematisch, weil die undisziplinierte „National Army“ selbst lange „law and order“ verhinderte. „Law and order“ war aus national-irischer Perspektive ein zwiespältiger Wert, der sich nicht nur positiv deuten ließ. Er barg noch eine andere, eine subversive Lesart in sich. Aus der traditionell nationalen Perspektive waren „law and order“ heuchlerische Euphemismen für die britische Zwangsherrschaft der letzten 700 Jahre, galten als Gegenpole zu „Ireland’s Liberty and Honour“.217 212 213 214
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VALIULIS, Mulcahy, S. 185–7, 230; vgl. auch LITTON, Civil War, S. 90 f.; O’DONOGHUE, No other Law, S. 261. LYONS, War of Independence, S. 245. Kerry ist das beste Beispiel für die Unbeliebtheit der Freistaatstruppen: HOPKINSON, Green, S. 240; VALIULIS, Mulcahy, S. 186 f.; UCD, MP, P7a/78, Report on situation in Cork, 24 Januar 1923; TCD, CP, 7808/313, Beschwerdebrief der Farmer’s Organisation, 9. Oktober 1922; Für die anderen Teile Irlands, siehe: HOPKINSON, Green, S. 173, 201–20, 239–47, insbes. S. 201 f., 209, 212, 243, 262 f.; GARVIN, 1922, S. 115–20. UCD, MP, P7a/198, Irish Survey (Intelligence report), 11. November 1922; UCD, MP, P7/B/321, Kevin O’Higgins, Memo für Treffen des Defence Councils, ca. 20 Januar 1923. Vgl. UCD, MP, P7a/78, Report on situation in Cork, 24 Januar 1923; VALIULIS, Mulcahy, S. 186 f., 195. NAI, D/T, S-3361, report week ending 28. April 1923; vgl. ebd., army report March, 1. April 1923. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 1/13, An Irish Priest’s appeal, 3. Juli
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
Nicht nur britische Beobachter und die irische katholische Kirche diagnostizierten, was auch ein fester Bestandteil der nationalistischen Balladen des neunzehnten Jahrhunderts war: It has always been the custom in Ireland to trip the policeman and help the criminal to escape [. . .] No one thought of the Government as our Government. It was always the English Government.218
Selbst Pearse beschwerte sich, solange er noch pragmatischer Kulturnationalist war, über die unreflektierte Politik des „being against the Government“. Als er 1907 mit der britischen Verwaltung kooperierte, um Gälischunterricht in den Schulen durchzusetzen, attackierten ihn eine Reihe prominenter Aktivisten, es sei prinzipiell verwerflich, mit dem Feind zusammenzuarbeiteten. Einer der einflußreichsten dieser Prinzipienverfechter war Beaslai, der nun als Freistaatszensor eine Rhetorik des „being for the Government“ verordnete – gegen die selbsternannten prinzipiengesteuerten Nachfolger des Neunzehnsechzehners Pearse.219 Gegenüber dem, wenn nicht siebenhundert Jahre, so doch zumindest Jahrzehnte alten subversiven Verständnis von „law and order“ stand die freistaatliche Version auf tönernen, rationalen Füßen. Termini wie „crushing the revolt“ oder „law and order“ deckten sich zur Freude der republikanischen Propaganda fast nahtlos mit der Rhetorik der britischen Regierung im Unabhängigkeitskrieg. Wie ein anglo-irischer Journalist noch vor dem Bürgerkrieg fast mitleidig beobachtete: Ob die Provisorische Regierung wollte oder nicht, „in that respect an Irish Government cannot speak other language than the British Government spoke.“220 Diese offensichtliche Nähe zum „britischen“ Sprachgebrauch gefährdete so die nationale Dignität der Provisorischen Regierung. Das erkannten auch die freistaatlichen Propagandaprofis und argumentierten einmal mehr historisch:
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1922, von „Colm Cille“; vgl auch IRISH INDEPENDENT, 15. März 1922, S. 4, „Law and Order in Belfast“. THE ROUND TABLE, XIII, 50 (März 1923), S. 257 f., hier: S. 258; ebd., XIII, 51 (Juni 1923), S. 560; TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/105, Pastoral letter of his Eminence Cardinal Logue, the Archbishops and Bishops of Ireland, to the priests and people of Ireland. Dublin 1922, hier: S. 5; UCD, FGP, P80/298 (35), Entwurf einer Rede, 15. Februar 1923; ZIMMERMANN, Songs, S. 25 f.; TOWNSHEND, Political Violence, S. 365. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 110. THE ROUND TABLE, XII, no.47 (Juni 1922), S. 508; AN POBLACHT-WAR NEWS, 21. Juli 1922; 26. Januar 1923; 21. Februar 1923; vgl. WORKER’S REPUBLIC, 17. Juni 1922, S. 4.
III. Legitimation eines Tabubruchs
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In the past we heard a great deal about ‚Law and Order‘, which meant law made for us by another people, and order enforced at the will of a minority sustained by an external force. ‚Law and Order‘ meant British Law and Orange Order.221
Die Propagandisten versuchten so, die antinationale Deutung von „law and order“ zu entschärfen und eine Opposition zwischen „British anarchy“ und „Irish Law“ aufzubauen.222 Doch so einfach ließen sich aus „law and order“ keine nationalen Werte machen. Deshalb zog es die vertragsbefürwortende Propaganda vor, das heikle Thema um die britische oder irische Herkunft von „law and order“ nicht weiter aufzugreifen. Sie verzichtete auf eine Diskussion, die sie kaum gewinnen konnte. Wieweit sich „law and order“ schließlich gegen die Provisorische Regierung wandte, hing davon ab, wieweit die Regierung als „britisch“ kodierbare Zwangsmaßnahmen umsetzte. Der Angriff auf die Four Courts brachte den Vertragsbefürwortern zwar den strategischen Vorteil der militärischen Initiative, doch auf der legitimatorischen Ebene kam der IRA ihre militärische Unfähigkeit, die Angst davor, den ersten Schritt zu tun, entgegen. Sie konnte den Freistaat als Aggressor darstellen. Unter einer Karikatur, die neben einem toten Zivilisten und brennenden Ruinen eine freistaatliche Kanone mit dem Union Jack zeigte, zitierte die Poblacht zynisch die freistaatliche Vorkriegspropaganda: „Vote for treaty and peace“.223 Das war zugleich eine Anspielung auf die englischen Waffenlieferungen an die „National Army“. Insbesondere die Artillerie, die „English Guns“224, wurden aus republikanischer Sicht zum Sinnbild illegitimer, brutaler, also „britischer“ Gewalt. Ihre britische Herkunft ließ sich nicht verheimlichen. Daß der Einsatz der Artillerie vor allem die Zivilbevölkerung der „befreiten“ Städte traf, arbeitete weiter in die Hände der republikanischen Propagandisten.225 Für die Provisorische Regierung ergab sich daraus eine paradoxe Situation: Alles was militärisch sinnvoll und effizient war, schien die nationale Legitimität der vertragsbefürwortenden Regierung zu demontieren. Der Rückgriff auf britische Ressourcen garantierte zwar den durchschlagenden 221 222
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YOUNG IRELAND-WAR SPECIAL, 29. Juli 1922, S. 2; vgl. FREEMAN’S JOURNAL, 27. Januar 1922, S. 4. FREE STATE, 2. September 1922, S. 2; 7. Oktober 1922, S. 2: Klassikerzitat von Thomas Davis im Sinne von „law and order“; Siehe auch die Einschätzung des britischen NEW STATESMAN, 2. Dezember 1922, S. 260: „They [the Irish people] have come to feel that government per se is anti-national.“ AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 26. August 1922, S. 1. PLAIN PEOPLE-WAR OF DEFENCE ISSUE, 2. Juli 1922, S. 2. YOUNGER, Civil War, S. 391; vgl. UCD, FGP, P80/295, Memo re EVENING HERALD, 29. Juni 1922–10. Juli 1922; Memo re SUNDAY INDEPENDENT, 9. Juli 1922.
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militärischen Erfolg, war aber gleichzeitig eine legitimatorische Falle; denn über die offensichtliche militärische Überlegenheit des Freistaats konnte die republikanische Propaganda die Geschichte vom Kampf des irischen David gegen den britischen Goliath, die Geschichte der irischen Leiden neu erzählen.226 Kein Wunder also, daß – bis auf wenige Pannen – alle Hinweise auf britische Waffenlieferungen Beaslais Zensur zum Opfer fielen.227 Das Thema war so sensibel und die vertragsbefürwortende Propaganda gegenüber den republikanischen Vorwürfen so sprachlos, daß die Propagandisten sich erstmals im März 1923 für die britischen Waffenlieferungen zu rechtfertigen versuchten.228 b) „Will of the people“: Brüche in der demokratischen Legitimation Ob nun problematisch oder nicht, „law and order“ ergab zusammen mit der bisherigen Legitimationsstrategie eine neue, in sich stimmige Geschichte, eine kämpferische, aggressivere Variante des „will of the people“: „The Government is determined to put down the revolt against democracy regardless of the cost.“229 Doch so stimmig und naheliegend diese freistaatliche Deutung des Bürgerkrieges war, sie hatte neben der subversiven Lesart von „British Law and Orange Order“ eine weitere Schwäche. Die demokratische Legitimation der Provisorischen Regierung war brüchig und kam nicht ohne Notlügen und Redeverbote aus. Während Beaslai nie einen verbindlichen Tenor für politische Kommentare verordnete, unterdrückte er sensible Informationen, ja ganze Themenfelder, um die demokratische Legitimation des Freistaats zu garantieren.230 Ging es um die demokratische Legitimation des Freistaats, kannte er keine Toleranz. Beaslai zensierte alles, was drauf schließen ließ, daß auch nur kleine Teile der Bevölkerung mit den Republikanern sympathisieren
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AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Juni 1922; 5. Juli 1922; UCD, FGP, P80/311; NLI, MS, 11 407, de Valera to the people of America, 4. Juli 1922; Ernie O’Malley an Patrick Hooper, 24. August 1922; UCD, FGP, P80/281, Government of the Republic, Publicity Department an FREEMAN’S JOURNAL, 25. November 1922. UCD, FGP, P80/295, Memo re IRISH INDEPENDENT, 29. Juni 1922–20. Juli 1922; Memo re EVENING HERALD, 29. Juni 1922–14. Juli 1922; PLAIN PEOPLE, 2. Juli 1922, S. 2. UCD, KP, P4/549, Hugh Kennedy, Entwurf einer Rede, 25. März 1923. UCD, KP, P4/547, Hugh Kennedy, Entwurf einer Rede für Liam Cosgrave, 16. Februar 1923; vgl. NAI, D/T, S-1322a, Griffith, official statement, 29. Juni 1922. UCD, FGP, P80/282, Military Censorship, general instructions, ca. 21. Juli 1922; Eason’s Archive, Eason an C.W. Tonge, MANCHESTER GUARDIAN, 25. Juli 1922.
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könnten.231 Deshalb war, wie ich oben gezeigt habe, auch der Riß durch die ILPTUC nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, während Beaslai die Angriffe auf seine Zensurbehörde ungehindert passieren ließ. Mit dieser Empfindlichkeit stand Beaslai nicht allein: FitzGeralds Mitarbeitern schien selbst die naheliegende Annahme, die Zivilbevölkerung in Munster fürchte sich vor dem Artilleriebeschuß durch die vertragsbefürwortende Armee, als zu regierungskritisch.232 Die Provisorische Regierung behauptete zwar immer wieder, sie sei durch die Wahl im Juni 1922 legitimiert. Doch auch das formulierten die Propagandisten meist bewußt etwas schwammiger als „the people’s mandate“.233 Denn die Führung der Vertragsbefürworter hatte ja nachträglich die Spielregeln der Wahl geändert: Sie hatte aus der Paktwahl eine Abstimmung über den Vertrag gemacht. Zwar ließ und läßt sich die Wahl vom Juni auch legitim als inoffizielles Plebiszit für den Vertrag deuten.234 Im Kontext mit dem Wahlpakt war das Wahlergebnis aber genauso ein Votum für „national unity“, Frieden und eine Koalitionsregierung.235 Das war eine aus dem Zeithorizont von 1922 legitime Sichtweise, die revisionistische Historiker wie David Boyce, Maryann Valiulis oder Tom Garvin nur deshalb ignorieren, weil sie gegen deren demokratischen Wertehorizont verstößt.236 Ob es einem gefällt oder nicht: Für die Republikaner hatte es sich gelohnt, eine freie Abstimmung über den Vertrag zu verhindern. Sie konnten jetzt die demokratische Legitimation der Provisorischen Regierung in hunderten von Artikeln als „myth of the people’s mandate“ demontieren.237 In der Tagespresse scheiterten dagegen alle Hinweise auf den Wahlpakt, Collins Paktbruch und die geplante Koalitionsregierung an Beaslais Zensur. 231
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UCD, FGP, P80/295, Memo re EVENING HERALD, 29. Juni 1922–10. Juli 1922; 29. Juni 1922–14. Juli 1922; 8. Juli 1922; 10. Juli 1922; Memo re IRISH INDEPENDENT, 29. Juni 1922–20. Juli 1922; UCD, MP, P7/B/1, Richard Mulcahy an Collins, 8. August 1922. UCD, FGP, P80/295, Memo re EVENING HERALD, 29. Juni 1922–10. Juli 1922; Memo re SUNDAY INDEPENDENT, 9. Juli 1922. D/T, S-1322a, Griffith, official statement, 29. Juni 1922, dabei auch zwei abgelehnte Entwürfe; vgl. auch ebd., Collins, official statements, an News Service of America, 29. Juni 1922; ebd., Patrick O’Hegarty und Hugh Kennedy, official statement, 29. Juni 1922; FREE STATE, 19. Juli 1922, S. 2. IRISH INDEPENDENT, 26. Juni 1922, S. 4; DUNDALK DEMOCRAT, 24. Juni 1922, S. 4; DROGHEDA INDEPENDENT, 24. Juni 1922, S. 4; GALWAY OBSERVER, 24. Juni 1922, S. 2. FLK, DeV, 222, Manifesto to the People of Ireland, 15. Juli 1922; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 26. August 1922, S. 1 f.; AN POBLACHT-WAR NEWS, 9. September 1922; CATHOLIC BULLETIN, November 1922, S. 674–84. GARVIN, 1922, S. 127–30, 145; VALIULIS, Mulcahy, S. 153; BOYCE, Nineteenth Century, S. 277; KEOGH, Vatican, S. 90. TCD, FG, 10050/501, 502, Gallaghers Entwürfe von Schlagzeilen für AN POBLACHT-WAR NEWS; AN POBLACHT-WAR NEWS, 3. Juli 1922; PLAIN PEOPLE, 2. Juli 1922, S. 1.
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Beaslais Zensur verschwieg noch einen weiteren gravierenderen Bruch der demokratischen Legitimation des Freistaats. Was die republikanische Propaganda in endlosen Artikeln immer wieder ansprach: Im neu gewählten Dail gab es eine Mehrheit aus Farmern, Unabhängigen, Labour und Vertragsgegner, die niemals für einen Angriff auf die Four Courts gestimmt hätte.238 Die Führung der Vertragsbefürworter konnte eine parlamentarische Kontrolle gar nicht gebrauchen. Deshalb hatte das Kabinett den Angriff auf die Four Courts ganz bewußt beschlossen, bevor der neue Dail zusammentrat. Um weiter freie Hand zu haben, verschob sie danach den dritten Dail wochenweise bis zum 8. September 1922 – gegen den Protest aus Friedensresolutionen der Labour Party, einzelner Abgeordneter, lokaler Selbstverwaltungskörperschaften und nationaler Interessensgruppen. Während die Kritik der Labour Party wegen der chaotischen Zensurorganisation noch im Irish Independent erschien239, unterdrückte Beaslai später fast alle Friedensvorschläge in der Dubliner Tagespresse.240 Die vertragsbefürwortende Propaganda selbst versuchte, das sensible Thema totzuschweigen. Abgesehen vom pauschalen Verweis auf die mangelnde Sicherheit, lieferte sie keine offizielle Begründung dafür, warum sie das Parlament immer wieder verschob.241 Damit nicht genug. Letzlich war die Provisorische Regierung von jeder demokratischen Kontrolle abgekoppelt. Die Provisorische Regierung war völkerrechtlich eine Übergangsregierung, legitimiert durch den Vertrag und den britischen Free State Act vom April 1922 – nicht durch die Wahl vom Juni.242 Wie die republikanische Propaganda zu Recht unterstellte, hatte die Freistaatsführung Angst „of having to refer to the source from which their authority is derived.“243 Denn hier kam mit der demokratischen Legitimation auch die entscheidende nationale Legitimation in Gefahr. Eine vom irischen Volk bestätigte Regierung konnte sich als souveräne, nationale Regierung darstellen. Eine Regierung, die sich auf den Vertrag und damit auf Großbritannien berief, ließ sich hingegen leicht als verlängerter Arm Eng238 239 240
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243
UCD, FGP, P80/736, Aodh de Blacam, Memo on Irish situation, 27. Juli 1922; AN POBLACHT-WAR NEWS, 3. Juli 1922. IRISH INDEPENDENT, 4. Juli 1922, S. 2; vgl. EVENING HERALD, 5. Juli 1922, S. 2. UCD, FGP, P80/282, Military Censorship, general instructions, no.9, ca. 21. Juli 1922; NAI, D/T, S-4522, Civil War peace proposals, 1. Juli 1922–29. September 1922; NLI, BP, box 6, Mr. Butler an Beaslai, 22. Juli 1922; HOPKINSON, Green, S. 183–5, insbes. S. 183. FREEMAN’S JOURNAL, 28. Juli 1922, S. 5, official statement. JOHN MCCOLGAN, British Policy and the Irish Administration 1920–1922. London 1983, hier: S. 90–6; HOPKINSON, Green, S. 52, 54; vgl. LONGFORD und O’NEILL, De Valera, S. 183. AN POBLACHT, 12. April 1922, S. 4; PLAIN PEOPLE, 2. Juli 1922, S. 2.
III. Legitimation eines Tabubruchs
257
lands darstellen: „That body derives its authority not from the Irish people but solely from Britain under an Order of the British Privy Council signed by King George at Windsor Castle on April 1st. Its Ministers are the King’s Ministers.“244 Dieses Problem schlug sich unmittelbar in der freistaatlich verordneten Terminologie nieder: Am Abend vor dem Angriff auf die Four Courts arbeitete Sinn Fein-Begründer Griffith, Irlands erfahrenster und einfallsreichster Propagandist des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, an der vermutlich deprimierendsten Aufgabe seines Lebens. Nach Jahren revolutionärer Erfolge formulierte der schwer kranke und mittlerweile auch körperlich gezeichnete Griffith die offizielle Proklamation zum Angriff auf die Four Courts.245 Als Griffith den Entwurf überarbeitete, fiel ihm auf, daß das juristisch korrekte Etikett „Provisional Government“ auf den Vertrag verwies und damit die nationale und demokratische Legitimation des Freistaats untergrub.246 Von da an war „Provisional Government“ das Unwort Nummer Eins der offiziellen Terminologie. Beaslai belehrte seine Mitarbeiter: „The term ‚Provisional Government‘ should not be used. The correct term is ‚Irish Government‘ or simply ‚The Government‘.“247 Selbst das Ettikett „Free Staters“ galt den Propagandisten als abwertend, weil es den Verrat an der Republik impliziere.248 Die verbindliche Terminologie war für die Provisorische Regierung also kein belangloses Spiel um Etiketten, sondern schützte den Kern ihrer Legitimationsstrategie. Hier kannte sie kaum Toleranz.249 Obwohl die Dubliner Tagespresse die Legitimationsstrategie der Vertragsbefürworter im großen und ganzen unterstützte, scheute sie sich davor durch die offizielle Nomenklatur als Tendenzpresse erkennbar zu werden. Das kostete Glaubwürdigkeit und damit Auflage.250 Anders als die meisten revisionistischen Historiker mußte sich die Presse auch erst einmal an die offizielle Terminologie gewöhnen.251 Die bisher gebräuchlichen Begriffe 244 245 246 247 248 249
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AN POBLACHT-WAR NEWS, 10. Juli 1922. HOPKINSON, Green, S. 140; vgl. ebd., S. 24; O’HEGARTY, Victory, S. 122 f. NAI, D/T, S-1322, official statement 28. Juni 1922 und zwei Entwürfe. UCD, FGP, P80/282, Military Censorship, general instructions, ca. 21. Juli 1922. O’DONOGHUE, No other Law, S. 223. THE NATION 26. August 1922, S. 5; Eason’s Archive, Conradh na Gaelige (Gaelic League) an Charles Eason, 29. August 1922; UNITED IRISHMAN, 14. April 1923, S. 6; vgl. auch: Beaslais Streit mit der EVENING MAIL: NLI, BP, box 6, Piaras Beaslai an John R. Murphy, 9. August 1922, official answer. Vgl. die Einschätzung von Patrick Little, in: IRISH INDEPENDENT, 17. August 1922, S. 11. Vgl. die Einschätzung der MORNING POST, 14. November 1922, S. 7. Wesentlich mehr Spielraum in Bezug auf die Terminologie hatte die weniger streng kontrollierte Provinzpresse: DONEGAL VINDICATOR, 16. September 1922, S. 3; 14. April 1923, S. 2; DONEGAL
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
wie „Provisional Government“, „protreaty Army“, „Free Staters“ „IRA“, „Executive Forces“ oder „Rory O’Connors men“ waren einfach näherliegend als die konstruierten Kunstbegriffe der vertragsbefürwortenden Propaganda. Den positiv besetzten Ausdruck „Republicans“ benutzte die Presse dagegen schon vor dem Bürgerkrieg selten. Da Verstöße gegen die offizielle Terminologie leicht vom Zensor zu übersehen waren, registrierte sie das Press Room Departement in den ersten Wochen reihenweise.252 Gerade die unionistische Irish Times wehrte sich lange gegen die offizielle freistaatliche Sprachregelung. Was bei den anderen Zeitungen einzelne Verstöße waren, hatte bei der Irish Times System. Als pro-britisches Blatt verwendete es bewußt eine Sprache, die die Grenzen der freistaatlichen Souveränität sichtbar machte. Auch darüber hinaus beurteilte die Irish Times den Bürgerkrieg mit unionistischen Koordinaten. Sie ließ durchscheinen, daß die Provisorische Regierung für sie lediglich das kleinere Übel war, veröffenlichte keine Nordirlandpropaganda des Publicity Department und berichtete immer wieder an prominenter Stelle über die noch in Irland stationierten britischen Truppen. Dabei kamen sich unionistisches Wunschdenken und republikanische Unterstellungen oft erstaunlich nahe. Unionisten und Republikaner erkannten im Bürgerkrieg die Parameter des Unabhängigkeitskrieges: einen Konflikt des Empire mit nationalen Revolutionären. Entsprechend gereizt reagierte FitzGeralds Press Room Department auf solche Formulierungen, wertete sie als „tantamount to an attempt to pervert the sympathy and goodwill of its readers against our National Government and Forces and to comfort the Irregulars and their supporters.“ Mehr als einmal bat die Provisorische Regierung deshalb den Chefredakteur und wichtigsten Leitartikelschreiber der Irish Times, John Edward Healy, zu einem „friendly interview“.253
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DEMOCRAT, 29. Dezember 1922, S. 4; GALWAY OBSERVER, 15. Juli 1922, S. 2. Gerade der tendenziöse Begriff „Irregulars“ hat sich dagegen bei vielen Historikern offenbar durchgesetzt, und das nicht nur bei denen, die mehr oder minder unreflektiert vertragsbefürwortende Positionen übernehmen, wie GLANDONE, Advanced Nationalist Press, S. 228; RICHARD DAVIS, Arthur Griffith, S. 40; LITTON, Civil War, S. 72, 84 oder (moderater) VALIULIS, Mulcahy, S. 161, sondern auch bei BOYCE, Nineteenth Century, S. 278 oder FOSTER, Modern Ireland, S. 524. Das gilt selbst für den „irischen Ploetz“: WILLIAM EDWARD VAUGHAN (Hrsg.), A New History of Ireland VIII. A Chronology of Irish History to 1976. A Companion to Irish History. Part I. Oxford 1982, hier: S. 404; reflektierter dagegen: GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 97. UCD, FGP, P80/295, Memos re Dublin Press, vor allem Juli, auch August 1922. Zitat, in: UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 21. Juli 1922; vgl. ebd., 25. August 1922; UCD, FGP, P80/295, Liam Cosgrave an FitzGerald, 22. Juli 1922; exemplarisch: IRISH TIMES, 18. November 1922, S. 7; NEWCOMEN, Southern Irish Unionists, 26 f. Eine Kurzbiographie John Edward Healys, in: BOYLAN, Dictionary, S. 140 f.
III. Legitimation eines Tabubruchs
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2. REVOLUTIONÄRE KONTINUITÄT: FREIHEITSKRIEG Während die freistaatliche Propaganda den Bürgerkrieg zu einer Revolte gegen die nationale Regierung machte, erklärten die Republikaner ihn zu einem anti-englischen Freiheitskrieg. Ich werde zeigen, wie dieses Konzept die Propaganda und die Kriegführung der Republikaner prägte. a) Das republikanische Geschichtsgesetz und die Neuinszenierung von „1916“ Für die IRA, die freiwillig und ohne reguläre Bezahlung kämpfte, war ein überzeugendes Feindbild noch wichtiger als für die zumindest in Ansätzen professionellen Freistaatstruppen. So gab Harry Boland, vor der Vertragsspaltung bester Freund von Collins, in einem privaten Brief zu: „This fight has been forced upon us – we must bear it. I am in it with a heavy heart.“ Gegen diese Selbstzweifel lieferte das republikanische Geschichtsgesetz die entsprechenden Etiketten des Feindes. Boland weiter: „Read Ireland’s history and you will find that in all time since England first polluted our shores, there has been ‚The King’s Irish‘ and the ‚Irish‘ [. . .] Hamar Greenwood254 is out-done by Mick Collins.“255 Die Provisorische Regierung und ihre Soldaten wurden zu „Green and Tans“, zur „pro-British Army“, zu „British Slaves“, zu „colonial troops“, oder einfach nur zu „Briten“.256 Wie die Freistaatspropagandisten, so identifizierten auch deren republikanische Gegenspieler ihre Feinde mit Briten aus den unterschiedlichsten Jahrhunderten: „Macready“, „Lord French“, „Cromwell“, „Strongbow“.257 Auch sie übertrugen dabei die Stereotype des britischen Feindbildes ungebrochen auf den neuen Feind: Materialismus und Eigennutz.258 Die republikanische Propaganda warf der disziplinlosen Freistaatsarmee immer wieder ihre „Grausamkeit“ vor, erzählte Geschich-
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Hamar Greenwood: letzter britischer Chief Secretary Irlands. FLK, DeV, 253, Harry Boland an Joe McGarrity, 13. Juli 1922; vgl. ebd., Harry Boland an Joe McGarrity, 7. Juli 1922. Zitate: AN POBLACHT- WAR NEWS, 25. September 1922; UCD, FGP, P80/736, Aodh de Blacam, Memo on Irish situation, 27. Juli 1922; AN POBLACHT-WAR NEWS, 21. Juli 1922; UCD, FGP, P80/736, TIRCONNAILL WAR BULLETIN, 3. August 1922, S. 2 und AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 26. August 1922, S. 1. UCD, FGP, P80/736, Aodh de Blacam, Memo on Irish situation, 27. Juli 1922; AN POBLACHT, 22. März 1922, S. 4; UCD, FGP, P80/311, Ernie O’Malley an Patrick Hooper, 24. August 1922; AN POBLACHT-WAR NEWS, 14. Juli 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Juni 1922; UCD, OMP, P17a/144, Director Publicity Cumman na mBan an DAILY MAIL, 30. November 1922; CORK EXAMINER, 12. Juli 1922, S. 5, „an Irish Priest’s appeal“.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
ten, die die „Free Staters“ mit den Schlüsselworten der Propaganda gegen „Black and Tans“ belegten: Brutalität und Trunkenheit.259 Wie die freistaatliche Propaganda kontrastierten auch die republikanischen Propagandisten die „Ritterlichkeit“ der eigenen Armee mit der unsoldatischen britischen Verschlagenheit eines Feindes, der von Kirchenund Krankenhausdächern schoß und die weiße Flagge mißbrauchte.260 Dem entsprach, daß auch die republikanische Propaganda behauptete, fast alle Veteranen des Unabhängigkeitskrieges kämpften auf ihrer Seite. Alle republikanischen Parlamentsabgeordneten seien „on active service“, während sich die Freistaatspolitiker feige vor dem Krieg drückten.261 Auch bei den Republikanern setzte sich die Rhetorik von den „misguided former comrades“ nicht durch.262 Aus dem Bürgerkrieg wurde so ein Krieg der „Republic against England and her new Irish regiments.“263 Aus dem tabuisierten Kampf gegen reale Iren wurde ein Krieg gegen symbolische Engländer: „We do not fight these men but the infamous symbol for which they stand.“264 Liest man vertragsbefürwortende und vertragsablehnende Propaganda zusammen, kommt man zu dem paradoxen Ergebnis, daß auf der propagandistischen Ebene nicht Iren gegen Iren kämpften, sondern Engländer gegen Engländer. Dazu schrieben die Propagandisten beider Seiten diesen „Engländern“ die identischen negativen Charakterzüge und Verhaltensweisen zu. Der Version, nach der die Freistaatler die „Engländer“ waren, halfen die Rollenverteilung von stark und schwach im Straßenkampf und die erwähnten britischen Waffenlieferungen nach. Mit Blick auf den oben erwähnten Scharfschützen kam dazu der berechtigte Verdacht, daß ehemalige Guerilleros komplizierte Waffen wie Artillerie gar nicht bedienen konnten. Folglich kämpfte der Freistaat „in cooperation with British soldiers and British Black and Tans.“265 Die IRA-Besatzung in den Four Courts versuchte, sich sogar einzureden, daß nicht Freistaatsgeneral Emmet Dalton, sondern der britische Oberbefehlshaber Nevil Macready die vertragsbefürwortenden Truppen befehligte.266 259 260 261 262 263 264 265 266
REPUBLICAN WAR BULLETIN, 17. September 1922, S. 2; vgl. UCD, MP, P7/B/93, Lynch an O/C 1st Southern Division, 17. September 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Juni 1922; UCD, LP, P28/1, Patrick Little, Notebook 1922, ca. 30. Juni 1922; vgl. NAI, D/T, S-1376, Memo re SUNDAY INDEPENDENT, 9. Juli 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 30. Juni 1922; PLAIN PEOPLE, 2. Juli 1922, S. 2. AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Juni 1922, message from Major General Rory O’Connor. AN POBLACHT-WAR NEWS, 10. Juli 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 14. Juli 1922. PLAIN PEOPLE-WAR OF DEFENCE ISSUE, 2. Juli 1922, S. 2. UCD, LP, P28/1, Patrick Little, Notebook 1922, 29. Juni 1922, 30. Juni 1922.
III. Legitimation eines Tabubruchs
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Dieses Bild der republikanischen Propaganda war zwar übertrieben, aber nicht völlig erfunden: Zu Beginn des Krieges borgte sich die irische Regierung zwar nur einige wenige britische Spezialisten. Doch ab September 1922 rekrutierte die vertragsbefürwortende Armee zu Tausenden „ex-British soldiers“, ehemalige Weltkriegsteilnehmer. Sie waren die einzige kriegserfahrene Gruppe in der vertragsbefürwortenden Armee, doch ausgerechnet sie gefährdeten die nationale Legitimität der „National Army“, waren auch innerhalb der Freistaatsarmee unpopulär.267 Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß sich die meisten dieser „ex-british Tommies“268 aus den irischen Freiwilligen des Weltkrieges rekrutierten. Auch diese imaginären „Briten“ waren also Iren.269 Von der Abwertung der Weltkriegsveteranen gab es nur wenige, meist prominente Ausnahmen, die wie der republikanische Guerillero Tom Barry oder der freistaatliche General Emmet Dalton nach 1918 in die IRA eingetreten waren.270 Ansonsten standen „ex-British soldiers“ unter dem pauschalen Verdacht, anti-national, illoyal, eventuell sogar britische Spione zu sein. Im Unabhängigkeitskrieg waren Weltkriegsveteranen deshalb häufig Opfer von Mordanschlägen der IRA gewesen.271 Nicht nur das Rekrutieren von Weltkriegsveteranen und die britischen Waffenlieferungen, auch die britische Regierung untergrub die nationale Legitimität der Provisorischen Regierung. In einer Debatte über den angeblichen Zerfall des Empires drohte Winston Churchill der Provisorischen Regierung kurz vor Kriegsausbruch. Seinerseits innenpolitisch in der Irlandfrage unter Druck und durch den Mord an Sir Henry Wilson zusätzlich empört, machte er sein Ultimatum öffentlich: Wenn die Provisorische Regierung die Four Courts nicht räume, sei der anglo-irische Vertrag gebrochen, die britische Regierung habe dann „full liberty of action in any direction that may seem proper.“272 Für die republikanische Propaganda war das ein überzeugendes Argument, um die Provisorische Regierung als britische Befehlsempfängerin darzustellen. Großbritannien gab also nicht nur die „guns“, sondern auch die „orders“.273„Churchill cracked the whip in his speech on Monday night when he ordered the Provisional Government to 267 268 269 270 271 272 273
HOPKINSON, Green, S. 120, 136–8, 202, 226. EIRE, 19. Mai 1923, S. 5. VALIULIS, Mulcahy, S. 161; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 261. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 144 f. HOPKINSON, Green, S. 16, 101. HOUSE OF COMMONS, Parliamentary Debates, Winston Churchill, 26. Juni 1922, Sp. 1695–712, hier: Sp. 1712. AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Juni 1922, Proklamation de Valeras; TCD, Early Printed Books, Samuels collection, box 3/28, Flugblatt, ca. Juli 1922; ebd., box 5/94, Lied „The battle of the Four Courts“, ca. Juli 1922.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
attack the Four Courts. His Free State Agents have obeyed. Shame on them! . . . Shame!“274 Gegenüber dieser Unterstellung war die vertragsbefürwortende Propaganda sprachlos. Sie versuchte nach Kriegsausbruch, das Thema totzuschweigen, und verhinderte über Beaslais Zensur, daß die Presse Churchills Rede weiter thematisierte. Auch die britische Regierung lernte aus dieser Panne. Sie stützte nach dem Beginn des Krieges die offizielle Version von der Initiative der Provisorischen Regierung, hielt sich mit ähnlichen Kommentaren und Ermunterungen bewußt zurück.275 Für die Republikaner erfüllte sich mit dem Ultimatum der Provisorischen Regierung endgültig das republikanische Geschichtsgesetz: Die Masse war durch die britische Kriegsdrohung eingeschüchtert und durch den „britischen“ Materialismus korrumpiert.276 Die republikanische Propaganda verfluchte die Freistaatler als „traitors to the Republic in our midst [who] sacrifice honour for expediency, and sell their country to a foreign king.“277 Nach diesem „Verrat“ empfand sich die Four Courts-Besatzung als revolutionäre Elite in ungebrochener Kontinuität mit den „illustrious dead“ der republikanischen Tradition von Tone bis Pearse, eins mit der „unbought, indomitable soul of Ireland“.278 Parallel zu einer immer wieder geäußerten Siegeszuversicht setzte die republikanische Propaganda auf die Rhetorik des Selbstopfers und des „triumph of failure“: „Irish History is filled with military defeats which instead of crushing the movement for independence strengthened it.“279 In diesem „latest of the battles of seven centuries“280 war „1916“ für die Besatzung in den Four Courts und folglich für die republikanische Propaganda die entscheidende Referenzebene. Wie es auf einem Propagandaposter hieß: „1916 – 1922: History repeats itself the IRA still defends the Republic“.281 Auch wenn die republikanischen Propagandaprofis wußten, daß „1916“ vielleicht ihr bestes Argument war, war das nicht einfach bloß 274 275 276
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FLK, DeV, 222, Manifesto to the People of Ireland, 15. Juli 1922. HOPKINSON, Green, S. 118, 121, 126. UCD, FGP, P80/281, Government of the Republic, Publicity Department an FREEMAN’S JOURNAL, 25. November 1922; CATHOLIC BULLETIN, Juli 1922, S. 425; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 156. AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Juni 1922, Proklamation der IRA-Exekutive. AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Juni 1922; NATIONALIST, 12. Juli 1922, S. 4; vgl. das Motto des REPUBLICAN WAR BULLETIN, 19. August 1922: „men and measures may come and go but principles are eternal“. AN POBLACHT-WAR NEWS, 19. Juli 1922; vgl. ebd., 28. Juni 1922, Proklamation der IRAExekutive. AN POBLACHT-WAR NEWS, 1. Juli 1922; PLAIN PEOPLE, 2. Juli 1922, S. 2. UCD, RP, P88/320, Poster, ca. Juli 1922.
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ein geschickter Propagandaschachzug. So kommentierte Ernie O’Malley, als Rory O’Connor ihn bat, ihm bei einer offiziellen Erklärung zu helfen: „..when I read a few sentences I laughed. ‚I doubt if anyone will read one of our proclamations‘, I said, ‚I’m against the use of too many words just now.‘ “282 Er hatte, wie die anderen Four Courts-Aktivisten, das republikanische Weltbild verinnerlicht und handelte danach. Er vertraute weniger dem „spell-binding“ schriftlicher Propaganda, als vielmehr dem „tale of the deed“.283 Die radikale IRA in Dublin war auf die Vorlage von „1916“ geradezu fixiert und setzte sie fast automatisch um. Die Aktivisten verhielten sich, als folgten sie einem Drehbuch zum Osteraufstand, als ginge es ihnen um eine möglichst genaue Neuinszenierung des Dramas von 1916, nicht um einen Staatsstreich.284 So glich der Beginn des Bürgerkrieges auf republikanischer Seite dem Zelebrieren eines archaischen Ritus, über den sich die Revolutionäre selbst definierten.285 Damit möchte ich nicht die in ihrer Konsequenz blutige Logik der Neunzehnsechzehner und Four Courts-Aktivisten ästhetisieren.286 Ich behaupte auch nicht, daß ihr Revolutionsritus tatsächlich auf eine Metaebene, wie „the Republic“, verwies.287 Ich beschreibe nur, wie die revolutionäre Logik und Ästhetik funktionierte, welche Eigendynamik und damit historische Wirksamkeit sie entwickelte. Militärisch wurde der kulturelle Automatismus zu einem Problem. Denn wie ihre Vorbilder von 1916 handelten die radikalen Aktivisten gegen jede militärische Effizienz: Sie bezogen ihr Hauptquartier in einem gregorianischen Symbolgebäude ohne besondere strategische Bedeutung. Das galt nicht nur für die Four Courts-Aktivisten, auch die Dubliner IRA unter Oscar Traynor folgte der Dramaturgie von „1916“. Anstatt eine Entsatzaktion für die Four Courts durchzuführen oder strategische Schlüsselpositionen zu erobern, besetzten sie den wichtigsten Schauplatz von „1916“, die
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O’MALLEY, Singing Flame, S. 94 f. Zu Verinnerlichung des „1916“-Mythos durch Ernie O’Malley: ENGLISH, Green on Red, S. 166 f. Zur Theatermetapher siehe: DENNING, Mr. Bligh, passim, insbes. S. 25, 54; LÜSEBRINK, Transfer, S. 38; vgl. VALIULIS, Mulcahy, S. 154; vgl. noch vor dem Bürgerkrieg THE ROUND TABLE, XII, no. 47 (Juni 1922), S. 520: „fears that Easter week would be celebrated by another Republican revolution were widespread.“ Vgl. auch: DENNING, Mr. Bligh, S. 224 auch 199; GEERTZ, ‚Deep play‘, S. 254, 259; MARY CONDREN, Sacrifice and Political Legitimation: The Production of a Gendered Social Order, in: Journal of Women’s History, VI, 4 (1995), S. 160–89, hier: S. 172. Vgl. zu diesem methodischen Problem: CARLO GINZBURG, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Berlin 1990 (erstmals: Turin 1976), hier: S. 14. Vgl. DENNING, Mr. Bligh, S. 224.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
jetzt endgültig in O’Connell Street umbenannte Sackville Street, noch dazu die Seite, die nicht Richtung Four Courts lag.288 Die Wahl dieses durch „1916“ vorgegeben „kultischen“ Ortes hatte drastische Konsequenzen: „[It] narrowed their choices and mirrored very clearly who they were in what they could and could not do.“289 Die Revolutionäre hatten keine offensive, nein, gar keine militärische Strategie. Sie konnten kaum etwas anderes tun als – wie ihre Vorbilder von 1916 – darauf zu warten, bis sie angegriffen und besiegt wurden.290 Selbst dogmatische IRA-Aktivisten wie Liam Lynch und Charles Stewart Andrews erkannten das. So kommentierte Andrews: „I could not believe that we were going to indulge in such a foolish futile military exercise.“291 Doch wie den Neunzehnsechzehnern war gerade der Four Courts-Besatzung nicht der Sieg entscheidend, sondern die Tatsache des Aufstandes selbst. Statt einen Ausfall zu planen, diskutierten die Aktivisten in den Four Courts gegen Ende des Kampfes miteinander Pearses Vorstellungen zum Blutopfer.292 Auch die vertragsbefürwortenden Propagagandisten wußten, daß die Republikaner ihren Kampfplatz nicht nach militärischen Gesichtspunkten, sondern „on political grounds“ ausgesucht hatten.293 Auch sie erkannte in den Dubliner Kämpfen das Muster von 1916 und fürchtete sich vor der Dynamik des sich selbst erfüllenden Geschichtsgesetzes. So ging Collins ganz selbstverständlich davon aus, daß nach den Dubliner Kämpfen weite Bevölkerungskreise mit der Four Courts-Besatzung sympathisierten.294 Für die irischen Unionisten stand der „Vandalismus“ der „Rebellen“ von 1922 ohnehin in direkter Kontinuität mit der Zerstörung des GPO 1916 und der des Custom House 1921.295 Wie reagierte die freistaatliche Propaganda darauf, daß die Republikaner die gemeinsame revolutionäre Vergangenheit besetzten? Nur zaghaft versuchten sie, „1916“ und den „triumph of failure“ selbst zu nutzen: „Better the nation should perish in a manly effort to defend its right, than that it 288
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Vgl. HOPKINSON, Green, S. 121 f., 124; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 161; Viele Gebäude auf der anderen Seite der O’Connell Street waren noch durch den Aufstand von 1916 zerstört: MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 659. DENNING, Mr. Bligh, S. 228. Ich habe hier bewußt eine Passage zitiert, die sich auf heilige Gegenstände und religiöse Rituale bezieht. O’DONOGHUE, No other Law, S. 256–8; HOPKINSON, Green, S. 119, 121 f., 124. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 231; O’DONOGHUE, No other Law, S. 159. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 157 f.; HOPKINSON, Green, S. 119, 121 f.; zur Ereignisgeschichte der Kämpfe in Dublin: ebd., S. 115–26; vgl. UCD, LP, P28/1, Patrick Little, Notebook 1922, 29. Juni 1922. FREE STATE, 13. Juli 1922, S. 1. NAI, D/T, S-595, Collins propaganda suggestions, 12. Juli 1922. IRISH INDEPENDENT, 3. Juli 1922, S. 2; IRISH TIMES, 1. Juli 1922, S. 2.
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should become the prey and slave of such mean despotism.“ Der Kampf um Dublin verteidige, was das „blood of Easter Week“ für Irland erreicht habe.296 Das führte die Logik fort, nach der „1916“ kein Modell für das Handeln in der Zukunft, sondern ein einmaliges historisches Ereignis war.297 Diese differenziertere Argumentation verwendete die freistaatliche Propaganda nur selten, mutete sie nur ihren überzeugten Anhängern zu – also denjenigen, die die freistaatlichen Propagandablätter lasen. Gegenüber einer größeren Öffentlichkeit, also in den offiziellen Pressestatements des Publicity Department, verzichtete sie darauf, „1916“ selbst zu besetzen. Für einen Aggressor und überlegenen Angreifer war diese Rhetorik kaum glaubwürdig. Die freistaatlichen Ex-Revolutionäre und Veteranen von 1916 verloren nun endgültig den Zugriff auf einen zentralen Teil ihrer politischen Identität. Was der freistaatlichen Propaganda blieb, war, die von den Republikanern angelegten Parallelen zu 1916 zu delegitimieren oder zu unterdrücken. Sie werteten den Republikanismus von 1922 als „Hirngespinst“ ab298 und setzten ihn mit dem „shadow“, Document No.2, gleich.299 Das Press Room Department FitzGeralds beschwerte sich über alle Anspielungen auf 1916, die Beaslai anfangs noch übersah.300 Gegenüber der Tagespresse verschwieg die Propaganda das Thema „1916“ weitgehend. Dagegen demontierte sie die Analogie zwischen 1916 und 1922 in ihren offiziellen Propagandablättern: Der Aufstand von 1922 richte sich nicht gegen die „British tyranny“, sondern gegen das eigene Volk, treffe nicht Soldaten, sondern überwiegend Zivilisten und bringe die seit 1916 vertriebenen Engländer zurück. 1916 sei ein Symbol des „unconquered patritotism“, 1922 ein Ausbruch von „frenzied anarchy“.301 Um sich nicht in die britische Rolle zwingen zu lassen, ging die Provisorische Regierung bei aller zur Schau gestellten Entschlossenheit vergleichsweise behutsam vor. Sie verzichtete bewußt auf Zwangsmaßnahmen, die sich als „britisch“ verstehen ließen: Keine Exekutionen, keine Massenverhaftungen und folglich keine Märtyrer. Viele IRA-Aktivisten entließ die Freistaatsführung zu Beginn des Krieges gegen ein schriftliches Verspre-
296 297 298 299 300 301
YOUNG IRELAND, 8. Juli 1922, S. 1. FREE STATE, 25. Februar 1922, S. 1; YOUNG IRELAND, 22. April 1922, S. 4; 8. Juli 1922, S. 1. FREE STATE, 13. Juli 1922, S. 3; UNITED IRISHMAN, 22. Februar 1923, S. 4. TRUTH-WAR ISSUE, 22. August 1922, S. 2; NAI, D/T, S-1322a, Griffith, verworfener Entwurf eines „official statements“, 28. Juni 1922. IRISH INDEPENDENT, 3. Juli 1922, S. 2; 6. Juli 1922, S. 4; 10. Juli 1922, S. 4; NAI, D/T, S-1376, Memo re Dublin Press, 10. Juli 1922; Memo re EVENING HERALD, 10. Juli 1922. YOUNG IRELAND, 8. Juli 1922, S. 4.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
chen, nicht mehr weiter gegen die Regierung zu kämpfen.302 Die Freistaatsarmee versuchte auch, die Zivilbevölkerung und die Gebäude der Dubliner Innenstadt zu schonen und möglichst wenige Republikaner zu töten.303 Nach offiziellen Regierungsangaben fielen in Dublin bis zum 8. Juli 1922 gerade einmal drei bis vier Republikaner.304 Hinter der Vorsicht der vertragsbefürwortenden Armee stand nicht nur taktisches Kalkül und die historische Erfahrung des Stimmungsumschwungs nach 1916. Diese Vorsicht lag gerade zu Beginn des Krieges auch noch an einer Tötungshemmung gegenüber alten Kameraden – auf beiden Seiten. So überzeugend war die eigene Propaganda auf Anhieb nicht, wenn sie dazu aufrief, „britische“ Iren zu töten.305 Besonders ausgeprägt war die kalkulierte Großzügigkeit der Freistaatsführung gegenüber republikanischen Politikern, die entgegen der republikanischen Propaganda nicht „on active service“ waren. Mitte Juli 1922 beschloß das Kabinett, republikanische Mitglieder des neu gewählten Parlaments sowie lediglich politisch aktive Republikaner nicht zu internieren. So wollte es verhindern, daß sich die republikanischen Politiker als Märtyrer für ihre nationale Überzeugung stilisieren konnten.306 Auch auf der Handlungsebene hatte diese tolerante Politik ihre Vorteile: Sie ließ ein Hintertürchen für Kompromisse und Verhandlungen auf, verhinderte, daß sich das politische Klima rapide verbitterte.307 Und die Toleranzpolitik erreichte, daß nicht alle politisch aktiven Republikaner in den Untergrund abtauchten, sich weiter radikalisierten und aus dem Blickfeld der freistaatlichen Spionage verschwanden. Bestes Beispiel für diese Politik war das republikanische Publicitybüro in der Suffolk Street 23. Bis zum Ende des Bürgerkrieges operierte dieses Büro mit kurzen Unterbrechungen unter wenig phantasievollen Decknamen wie „United British Insurance Company“. Dabei wurde es von Beaslai, der über die Postzensur die gesamte Korrespondenz verfolgte, systematisch ausspioniert.308 302 303
304 305 306
307 308
HOPKINSON, Green, S. 139. UCD, MP, P7/B/41, Allocation of Duties of the main Departments of the General staff, 15. Juli 1922; MEMORY, Memory’s, S. 130; THE ROUND TABLE, XII, no. 48 (September 1922), S. 802, 806. UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 10. Juli 1922. VALIULIS, Mulcahy, S. 164; HOPKINSON, Green, S. 119–21, 125, 131, 162, 165; YOUNGER, Civil War, S. 375, 394; NEESON, Civil War, S. 164; LANKFORD, Hope, S. 237. NAI, G1/2, PG Minutes, 17. Juli 1922; Vgl. auch UCD, MP, P7/B/29, Collins an Provisorische Regierung, 30. Juli 1922; UCD, MP, P7/B/1, Collins an Richard Mulcahy, 9. August 1922; 10. August 1922. Noch Anfang September trafen sich Richard Mulcahy und de Valera zu informellen Friedensgesprächen: HOPKINSON, Green, S. 120. Exemplarisch: AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. August 1922, forderte offen auf, Kopien von
III. Legitimation eines Tabubruchs
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Solange die Provisorische Regierung ohne besondere Zwangsmaßnahmen auskam und die Munster Republic zügig eroberte, solange die Bevölkerung weiter den Vertrag unterstützte, sprach vieles für die freistaatliche Version von „law and order“ und relativ wenig für ein neues „1916“. b) Der Erste Weltkrieg als Zitat: die „Front“ der Munster Republic Auch in der Munster Republic beeinflußten bildliche Vorstellungen die Kriegführung der IRA. Die Führungsoffiziere der IRA zitierten den Ersten Weltkrieg, wie die Dubliner IRA „1916“ zitierte. Sie waren fasziniert von der Idee, eine „Front“ zu verteidigen. Diese „Front“, die mehr oder minder von Limerick nach Waterford verlaufen sollte, „had little more substance than the Equator“. Sie war militärisch bedeutungslos, voller Lücken und nicht zu verteidigen.309 So etwas wie Grabenkämpfe wurden während des gesamten Bürgerkrieges nur an wenigen Tagen Ende Juli im Osten der Grafschaft Limerick ausgetragen.310 Strategisch war die Front widersinnig, weil sie eine Konzentration der republikanischen Truppen zu einer koordinierten offensiven Aktion verhinderte. „Front“ kam im Vergleich zu einer Offensive auf Dublin einer dezentralen Kriegführung entgegen, bei der jede Einheit nach eigenen Vorstellungen ihre Region verteidigte. Wie beim Modell „1916“ blockierten auch bei „Front“ kulturelle Prägungen, bildhafte Vorstellungen von Krieg und Aufstand ein pragmatisches und erfolgversprechendes militärisches Handeln.311 Schon im Unabhängigkeitskrieg war eines der wichtigsten Themen der republikanischen Propaganda gewesen, die sporadischen Überfälle auf die Krontruppen als einen „Krieg“ zu legitimieren. Was aus offizieller britischer Sicht nichts als eine „campaign of murder“ war, definierte die republikanische Propaganda in ein „national uprising“ um. „Soldat“, nicht „Terrorist“ zu sein, war Kern des Selbstverständnisses der IRA-Aktivisten. Es versicherte ihnen, daß sie die Feinde ihres Landes legitimerweise töten durf-
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Leserbriefen an die Dubliner Tagespresse auch an die Suffolkstreet 23 zu schicken; vgl. FLK, DeV, 308/2, de Valera an Patrick Ruttledge, 2. Februar 1923; NLI, BP, box 6, Mr. Butler an Piaras Beaslai, 12. August 1922, Brief mit republikanischen Deckadressen; ebd., Beaslai an Mr. Butler, 15. August 1922; ebd., Beaslai an Collins, 9. August 1922; ebd., Memo on work of censor’s department, ca. 29. Juli 1922. YOUNGER, Civil War, S. 378; Selbst O’MALLEY, Singing Flame, S. 164, verwendet den Ausdruck „line“ nur in Anführungszeichen; vgl. HOPKINSON, Green, S. 129. HOPKINSON, Green, S. 150; NEESON, Civil War, S. 200 f. Zur Ineffizienz der defensiven Strategie der IRA: HOPKINSON, Green, S. 127–31; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 265; NEESON, Civil War, S. 119–26, 145 f.; 150 f.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
ten.312 So benannten die Propagandisten die Irish Volunteers in Irish Republican Army um. Diese „Armee“ unterteilte das Dubliner Hauptquartier in Bataillone, Brigaden, und 1921 gegen den Widerstand der auf lokale Autonomie bedachten Brigaden auch in Divisionen.313 Die IRA-Aktivisten verliehen ihren Anführern militärische Ränge wie Officer/Commanding, General Adjutant, Quarter Master General, orientierten sich dabei an der Nomenklatur des Feindes, also an britischen Armeetextbüchern.314 In diesem propagandistischen Kontext spielte es kaum eine Rolle, daß gerade die Divisionen kaum eine Funktion ausübten, daß militärische Titel und faktische Macht oft weit auseinanderklafften.315 An diese Sprachregelungen knüpfte die IRA im Bürgerkrieg an, als sie versuchte, ihre Geschichte des nationalen Freiheitskrieges durchzusetzen. Wie die freistaatliche Armeeführung empört, aber treffend feststellte, verwendete die IRA eine ganze Serie militärischer Ränge, Termini und Abkürzung „for the purpose of giving an atmosphere of authority to their orders and operations“.316 Gewehre, vor allem die wenigen republikanischen Maschinengewehre, hatten für ihre Besitzer einen hohen Prestigewert, verliehen den Republikanern militärische Dignität, machten aus Rebellen eine Armee. Ähnliches galt für improvisierte, häufig mehr als „grün“ deklarierte als wirklich grüne Uniformen oder Uniformteile.317 In diesem Kontext hatte „Front“ eine Menge ideeller Implikationen. Sie war das konsequente Fortsetzen einer militärischen Nomenklatur, die der IRA das Gepräge einer „normalen“ Armee verleihen sollte. „Front“ implizierte einen „echten Krieg“ zweier gleichwertiger Armeen, zweier „Staa-
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IRISH BULLETIN, 2. November 1920, S. 2, Artikel von Childers; vgl. MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 602; MEMORY, Memory’s, S. 83, 90. HOPKINSON, Green, S. 13; LYONS, War of Independence, S. 246; TOWNSHEND, Political Violence, S. 332. Vgl. Ernie O’Malley an Mary Childers, 26. November–1. Dezember 1923, in: ENGLISH (Hrsg.), Prisoners, S. 69–93, hier: S. 75. O’DONOGHUE, No other Law, S. 20; HOPKINSON, Green, S. 6, 11, 17, 41. UCD, MP, P7/120, Explanation of terms and abbreviations adopted by the Irregulars [. . .]; vgl. LAWLOR, War or Peace?, S. 58 f. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 214; Zum Prestigewert von Uniformen und Maschinengewehren siehe die Hochzeitsphotos von Dan Breen und Terence MacSwiney, in: BREEN, My Fight, S. 128 f. und in: FRANCIS COSTELLO, Enduring the Most. The Life and Death of Terence MacSwiney. Dingle 1996, S. 128/129, Photo No.6. Zu Uniformen: LANKFORD, Hope, S. 241; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 278; Zur Uneinheitlichkeit der Form und Farbe von Uniformen, Halbuniformen oder nur mit militärischen Symbolen versehenen Sonntagsanzügen siehe National Museum of Ireland, permanente Ausstellung „1916“. Dort auch die „Uniform“, die Lynch zum Zeitpunkt seines Todes trug: eine graue Reithose, kombiniert mit einem eher braun als grünem Zweireiher und einem weißen Hemd.
III. Legitimation eines Tabubruchs
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ten“: des britischen Empire und der irischen Republik.318 Deshalb hielten die IRA und die republikanische Propaganda die Illusion von der „Front“ so lange aufrecht wie irgend möglich. Noch eine Woche vor der Einnahme Corks behauptete der republikanisch kontrollierte Cork Examiner spöttisch: „The Free State Forces have marched triumphantly through the newspapers. They have only Ireland left to conquer.“319 Damit stärkte „the great Southern Front“ das republikanische Selbstwertbewußtsein, führte auch zur Selbstüberschätzung. „Front“ suggerierte auch in der irischen Diaspora, daß die IRA in ihrem „Staat“, der Munster Republic, „law and order“ garantierte.320 Frank O’Connor habe ich oben als stolzen Besitzer eines Kilts und als einfühlsamen Beobachter der „magischen Improvisation“ der irischen Revolution vorgestellt. 1922 war er republikanischer Propagandist für den Cork Examiner. In seiner Autobiographie schildert er ironisch, was „Front“ bedeutete und wie die Realität der Front aussehen konnte: But the front line was our pride and joy. We had improvised almost everything else but never a front line.[. . .] At Charleville I checked with the local commandant. He was still in bed but he assured me that there wasn’t an enemy soldier within miles. What he failed to remember was that it was Sunday, and on Sunday the whole Irish race is unanimously moved to go to Mass, so that at the very moment our whole nine-mile front, pickets, machinegun posts, fortresses and all, had simply melted away, and there wasn’t as much as a fallen tree between me and the enemy. In itself that mightn’t have been too bad, because it might also be assumed that there wouldn’t be any enemy pickets either; but a considerable number of enemy facing us were from the neighbourhood of Charleville, and after his longing for Mass, an Irishman’s strongest characteristic is his longing for home and Mother, and anyone who knew his Ireland would have guessed that on that fine summer morning our whole front was being pierced in a dozen places by nostalgic enemy soldiers, alone or in force, all pining to embrace their mothers and discover if the cow had calved. Just before the real trouble began I saw the people coming from Mass in a small wayside church. They looked curiously at the car, and I thought how peaceful it all was, [. . .] And then men in half-uniform emerged from the hedges, levelling their rifles at us and signalling us on. I wasn’t worried; I knew they must be our own men, [. . .] It had just dawned me that on my first day in action I had allowed myself to be made prisoner, that a brilliant career as war correspondent had been closed to me,
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Vgl. FLK, DeV, 1289, Frank Aiken an FREEMAN’S JOURNAL, 3. August 1923. CORK EXAMINER, 2. August 1922, S. 5; vgl. 17. Juli 1922, S. 4; Einschätzung des „befreiten“ CORK EXAMINER zur Glaubwürdigkeit republikanischer Kriegserfolge: ebd., 14. August 1922, S. 5. AN POBLACHT-WAR NEWS, 26. Juli 1922; 5. August 1922; CORK EXAMINER, 13. Juli 1922, S. 5; 14. Juli 1922, S. 3; 15. Juli 1922, S. 5; 20. Juli 1922, S. 5.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
and that the front line might sway to and fro for years in great battles like those of the First World War but that someone else would be its Tolstoy.321
Dieser Bericht ist durch die kritische Distanz O’Connors stark gebrochen, karikiert und sicher übertrieben. Hier klingt die bissige Ironie eines Autors durch, der bald nach dem Bürgerkrieg mit der nationalen und katholischen Tradition Irlands brach. Und doch ist O’Connor wieder ein genauer Beobachter der „fiktionalen“ Ebene der irischen Revolution. Seinem ironischen Bericht gelingt es, den Unterschied zwischen „Front“ und Front, den Konflikt von republikanischem Wunschdenken und ernüchternder Wirklichkeit zu erfassen: Der Propagandist gerät in Gefangenschaft, weil er seine eigene Propaganda glaubt, weil sich sein Konzept von der Wirklichkeit zu wenig mit der „externen Realität“ deckt. Mit dem Ende der ‚Munster Republic‘ verschwand zwangsläufig die Rhetorik von der Front. Die Einheiten, die jetzt zum Guerillakrieg übergingen, orientierten sich nun militärisch wie propagandistisch am Vorbild des Unabhängigkeitskrieges.322 c) Konnten die Republikaner lügen? Das offene pragmatische Denken der Vertragsbefürworter, ihre Legitimationsstrategie von „law and order“ und „will of the people“ ließ sich leicht an Hand eines Kriterienkatalogs überprüfen: Wie sicher war privates Eigentum? Wieweit konnte der Staat sein Gewaltmonopol durchsetzen? War die Wahl gleich, geheim, direkt, frei? Stützte sich die Regierung auf eine absolute Mehrheit im Parlament, oder ist sie direkt vom Volk bestätigt? Wo diese Kriterien nicht erfüllt waren, konnten und mußten ihnen die Vertragsbefürworter durch Zensur und Propaganda nachhelfen: Sie manipulierten Tatsachen, tabuisierten ganze Themenfelder, verordneten ein verbindliches Vokabular. Dagegen kam die republikanische Legitimationsstrategie ohne bewußtes Verfälschen grundlegender Tatsachen aus. Selbst einfache Fakten zu manipulieren, fiel den republikanischen Idealisten schwerer als ihren freistaatlichen Gegnern.323 Wenn es nicht um verzerrte Kampfberichte, systematische Selbstüberschätzung und übertriebene freistaatliche Greueltaten ging,
321 322 323
FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 215–9. AN POBLACHT-WAR NEWS, 20. Juli 1922; 26. Juli 1922; 3. August 1922; 14. August 1922, Proklamation der IRA-Exekutive; vgl. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 229. So auch die Einschätzung des vertragsbefürwortenden Labourvorsitzenden Thomas Johnson: NAI, D/T, S-1581, „Statement T. Johnson“, ca. 5. Juli 1922.
III. Legitimation eines Tabubruchs
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sondern um „the Republic“, konnten die Republikaner gar nicht lügen.324 Sowohl die Zensur des Cork Examiner als auch die republikanische Propaganda orientierten sich primär an der republikanisch definierten „historical truth“. Zu taktischen Zugeständnissen waren die republikanischen Propagandisten kaum in der Lage. Sie propagierten ihre Ansichten, egal, ob diese populär waren oder nicht.325 Die Republikaner mußten auch gar nicht lügen. Nicht weil „the Republic“ so „wahr“ war, sondern weil sich „the Republic“ primär an ihrer eigenen zirkulären Logik orientierte. Als in sich stimmige Fiktion, als geschlossenes System war „the Republic“ anders als „Freistaat“ an keine konkreten veri- oder falsifizierbaren Fakten zurückgebunden. Die spirituelle Republik existierte unabhängig von realpolitischen Vorgaben. Sie verwies letztlich nur immer wieder auf sich selbst, ließ sich von innerhalb ihres Systems nicht in Frage stellen und kaum modifizieren.326 Natürlich machte es aus der weniger elitären Perspektive der Freistaatspropaganda Sinn, „the empty name of the Irish Republic“327 gegen „majority rule“, „common sense“ oder „bread and butter issues“ abzuwägen. Doch der republikanische Mythos und das Vertrauen in das republikanische Geschichtsgesetz immunisierten die Gläubigen gegen Kategorien „zweiter Ordnung“: „History will go back to first causes even if the Free State ‘Government’ and the Free State press try to argue from minor premises.“328 Der Preis dafür war, daß die republikanische Propaganda alle „minor premises“, alle „sekundären“ Legitimationsfelder nicht mehr selber besetzen konnte. Beide Seiten argumentierten also vom Boden kategorial verschiedener Denksysteme. Im Unabhängigkeitskrieg konnten mythische und pragmatische Ratio, „the Republic“ und „a republic“ noch zusammengedacht werden, weil sie auf den gemeinsamen Feind ausgerichtet waren. Jetzt waren sie in zwei komplementäre Denkweisen auseinandergebrochen. Dadurch ergab sich eine kuriose, aber nicht zufällig analoge Situation für die Propagandisten auf beiden Seiten: Sie konnten den Boden der jeweils anderen Legitimationsstrategie nicht besetzen. Ihre Denkweise paßte nicht mehr zu den geg-
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AN POBLACHT-WAR NEWS, 19. Juli 1922; 5. August 1922; insbes. ebd., 12. August 1922: Bei der Einnahme Tralees gab es angeblich 31 Tote und 100 Verwundete auf Seiten des Freistaats und nur einen Toten, drei Verwundete und vier Gefangene auf Seiten der Republikaner. FLK, DeV, 241, de Valera an Brennan, 9. November 1922: „The only way to meet misrepresentation is to tell them the truth.“ AN POBLACHT-WAR NEWS, 14. Juli 1922; PLAIN PEOPLE, 14. Mai 1922, S. 2. FREE STATE, 20. Mai 1922, S. 5. UCD, RP, P88/108, circular press statement, ca. Oktober 1923.
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
nerischen Werten. Wie der Freistaat den Republikanern „1916“ und „the Republic“ überlassen mußte, mußten die Republikaner auf „will of the people“, „law and order“, „liberal rights“ „common sense“ und „reconstruction“ verzichten. Mit einem offenen Denksystem ließ sich nicht stimmig „mythisch“ argumentieren, mit einem geschlossenen Denksystem nicht flexibel und ergebnisorientiert. Weil beide Seiten das gegnerische Wertgefüge jedoch nicht prinzipiell ablehnten, blieb ihnen nichts anders übrig, als wenigstens dem Gegner die eigenen Werte abzusprechen. So wie die freistaatliche Propaganda die Parallele „1922“–„1916“ demontierte, versuchten die Republikaner, die brüchige freistaatliche „will of the people“-Argumentation auseinanderzunehmen. Wieweit konnte sich die stimmige, stark fiktionale Legitimationsstrategie der Republikaner gegen die brüchige, komplexere, aber auch realistischere des Freistaates durchsetzen? Würde sich das Geschichtsgesetz von 1916 noch einmal als sich selbst erfüllende Prophezeiung erweisen? Das werde ich in den folgenden Kapiteln untersuchen. Was läßt sich über die erste Phase des Krieges zusammenfassen? Im Bürgerkrieg zählten nicht nur die unsentimentalen, harten militärischen Fakten. Der Bürgerkrieg wurde genauso auf einer „fiktionalen“ Ebene ausgetragen, auf der beide Seiten um die Definitionsmacht, über die richtige Deutung des Krieges, ja über die richtige Deutung der gesamten irischen Geschichte kämpften. War der Bürgerkrieg ein neuer Freiheitskampf, eine Revolte oder doch nur ein sinnloses Brudermorden? Beide Seiten organisierten deshalb in den von ihnen kontrollierten Gebieten eine Pressezensur, die es der eigenen Propaganda erleichtern sollte, die jeweilige Deutung des Krieges durchzusetzen. Die Art, in der beide Seiten mit der Zensur umgingen, erwies sich dabei als bezeichnend für die beiden konkurrierenden politischen Kulturen: Die Freistaatler orientierten sich pragmatisch an der Glaubwürdigkeit, die Republikaner dogmatisch an der „historischen Wahrheit“. Gemessen an diesen Zielsetzungen war aus beiden Perspektiven der liberale Wert „Pressefreiheit“ vergleichsweise unwichtig. Die Republikaner erklärten den Bürgerkrieg zu einem anti-englischen Freiheitskrieg. Sie propagierten und inszenierten den Kampf um die Four Courts als neues „1916“. Dabei verstießen die radikalen IRA-Aktivisten gerade in Dublin gegen jede militärische Effizienz. Sie kalkulierten mit der Logik des republikanischen Geschichtsgesetzes und hofften, auch eine militärische Niederlage werde die Bevölkerung erwecken. Auch in Munster prägten bildliche Vorstellungen die republikanische Kriegführung. Die IRA-Aktivisten erklärten ihre ineffizienten dezentralen und defensiven
III. Legitimation eines Tabubruchs
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Operationen zu einer „Front“ und reklamierten für sich so die Legitimität einer regulären Armee. Die vertragsbefürwortende Propaganda verband nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges ihre „majority rule“-Propaganda mit einer Rhetorik von „law and order“ und erklärte den Bürgerkrieg so zu einer Revolte gegen die nationale Regierung. Auch die Freistaatsführung setzte dabei nicht nur auf schriftliche Propaganda, sondern inszenierte ihre Lesart des Konflikts über die Art der Kriegführung: Sie ließ ihre Truppen in grün umgefärbten britischen Uniformen und mit kurzfristig ausgeliehenen „Wunderwaffen“ aufmarschieren. Gegen diese freistaatliche „law and order“-Propaganda sprach bis zum Ende des Krieges das disziplinlose und oft chaotische Verhalten der vertragsbefürwortenden Truppen. Dazu definierte das bisher verbindliche Feindbild militärische Überlegenheit und „law and order“ als Synonyme für britische Zwangsherrschaft. Militärisch effiziente Zwangsmittel wie britische Waffenlieferungen oder das Rekrutieren der „ex-British soldiers“ konnten so zu legitimatorischen Problemen führen. Genauso brüchig wie „law and order“ war „will of the people“, die zweite Säule der vertragsbefürwortenden Legitimation: Die Vertragsbefürworter hatten den Wahlpakt gebrochen und verschoben die Einberufung des neu gewählten Parlaments immer wieder, weil sie in diesem Parlament keine Mehrheit für ihre Kriegspolitik erlangt hätten. Am gravierendsten: Die Provisorische Regierung legitimierte sich völkerrechtlich nicht über die Wahlen im Juni, sondern über den britischen Free State Act vom April 1922. Sie ließ sich so von der republikanischen Propaganda als britisches Marionettenregime darstellen. Angesichts dieser legitimatorischen Probleme war gerade die Freistaatsführung auf eine effiziente Propaganda- und Zensurpolitik angewiesen; denn sie mußte eine ganze Reihe ihr unangenehmer Tatsachen geheimhalten, um ihre Deutung des Krieges durchzusetzen. So setzte die Führung der Vertragsbefürworter nicht nur auf eine in diesen Punkten strenge Zensur, sondern sie führte eine verbindliche Terminologie ein, besetzte die Schlüsselworte „national“ und „Irish“. Bisher geläufige Ausdrücke wie „IRA“ oder „Provisional Government“ erklärte sie zu Unworten und ersetzte sie durch neu erfundene Termini wie „Irregulars“ oder „National Government“. Auf der anderen Seite kamen die Republikaner ohne grundlegende Manipulationen aus. Während die Freistaatler realpolitisch motiviert Lügen erzählten, fingierten die Republikaner eine in sich stimmige „Wahrheit“. Ihr Weltbild von „the Republic“ war kaum an falsifizierbare Fakten zurückge-
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D. Militärische und symbolische Konfrontation: Der offene Krieg
bunden. Der Preis für diese logische Geschlossenheit war, daß die republikanische Propaganda kaum mehr auf Felder zugreifen konnte, die außerhalb des geschlossenen Systems von „the Republic“ lagen. So konnte die freistaatliche Propaganda die Werte „majority rule“, „common sense“ oder „reconstruction“ monopolisieren.
I. „Rückkehr zur Normalität“
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E. FREISTAAT ZWISCHEN NORMALITÄT UND ZWANGSMASSNAHMEN: SEPTEMBER/OKTOBER 1922 In diesem Kapitel untersuche ich die ersten zwei Monate des Guerillakrieges. Den scheinbaren Sieg vor Augen, kündigte die Freistaatsführung die Rückkehr zu normalen Verhältnissen an und berief das neue Parlament ein. Teil dieser Politik war auch, daß die Führung der Vertragsbefürworter schrittweise die Zensur abschaffte und durch eine informelle Pressekontrolle ersetzte. Ich werde zeigen, wie die Presse, aber auch die verfolgten republikanischen Untergrundpropagandisten versuchten, die nun entstehenden größeren Spielräume zu nutzen. Weil die Freistaatstruppen den Guerillakrieg der IRA nicht unter Kontrolle bekamen, begann ihre Führung zunächst eine propagandistische Offensive: Sie drohte den IRA-Aktivisten mit Exekutionen, bot ihnen aber gleichzeitig eine Amnestie an. Am wichtigsten war, daß es der Provisorischen Regierung gelang, die katholische Kirche auf ihre Seite zu ziehen. So exkommunizierten die katholischen Bischöfe die gesamte IRA in einem gemeinsamen Hirtenbrief. Ich werde zeigen, wie die Republikaner darauf reagierten, wie und ob sie ihren politischen oder ihren religiösen Glauben modifizierten.
I. „RÜCKKEHR ZUR NORMALITÄT“ Mit dem Ende des offenen Krieges hoffte die Provisorische Regierung, den Bürgerkrieg schnell unter Kontrolle zu bekommen. Dabei erlitten die Vertragsbefürworter zunächst einen herben Rückschlag: Im August 1922 verloren sie mit dem Tod von Collins und Griffith ihre politische und militärische Führungsspitze. Collins Posten als Oberkommandierender der Truppen übernahm dessen rechte Hand im Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg, Verteidigungsminister Richard Mulcahy.1 Die Führung der Provisorischen
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Richard Mulcahy (1886–1971): geboren in Waterford, arbeitete im Postdienst; Mitglied der Irish Volunteers ab 1913; Teilnahme am Osteraufstand in Dublin; bis 1917 inhaftiert; 1917–1921 Chief of Staff der Volunteers/IRA; Abgeordneter des Dail, 1919–1937; 1922–1924 Verteidigungsminister; ab August 1923 Commander in Chief der vertragsbefürwortenden Truppen; Abgeordneter des Dail 1938–1943, 1944–1960; gestorben 1971 in Dub-
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Regierung übernahmen Liam Cosgrave als Regierungschef und Kevin O’Higgins als Innenminister, im Unabhängigkeitskrieg Minister beziehungsweise stellvertretender Minister for Local Government. Mulcahy, Cosgrave und O’Higgins waren bei weitem nicht so schillernde und populäre Persönlichkeiten wie ihre Vorgänger, aber sie waren mindestens genauso entschlossen. Sie kehrten Anfang September 1922 teilweise zu konstitutionellen Methoden zurück, beriefen am 9. September 1922 das Parlament ein. Damit schloß die Provisorische Regierung die empfindlichste Lücke ihrer demokratischen Legitmation. Endlich hatte sie eine demokratische Kontrollinstanz, wenn auch mit Schönheitsfehlern.2 Der deutlichste Schönheitsfehler war, daß keine republikanischen Abgeordneten im Parlament saßen, weil sie entweder am Guerillakrieg teilnahmen oder untergetaucht waren. Damit wirklich kein Republikaner in das Parlament kam, hielt sich die Provisorische Regierung exakt an die Bestimmungen des Vertrages und ließ die Abgeordneten bereits vor der offiziellen Gründung des Freistaats den Treueid auf den britischen König schwören.3 Das garantierte, daß die Republikaner das Parlament boykottierten. So hatte die Freistaatsführung eine stabile Mehrheit im Parlament, während die kleine Labour Party, Farmer und Unabhängige die Rolle der „legitimen“ Opposition übernahmen.4 Die Provisorische Regierung konnte so im großen und ganzen weiter machen wie bisher und ihren mit Großbritannien abgesprochenen Verfassungsentwurf zügig verabschieden.5 Dennoch kam ein republikanischer Abgeordneter in das neue Parlament: Laurence Ginnell. Ginnell war nach 1916 Sinn Feins prominentester Überläufer aus der Home Rule-Bewegung gewesen. Er war bis zu seiner ersten Verhaftung im November 1919 erster Propagandadirektor des Dail gewesen, bevor ihn jüngere und fähigere Propagandisten wie Childers und FitzGerald aus der Führungsrolle drängten.6 Während der konstituierenden Sitzung des Parlaments versuchte Ginnell, sich einen Weg ans Rednerpult zu bahnen und wiederholte immer wieder dieselbe Frage: „Oh, bosh! Will
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lin. Zusammengefaßt nach: BOYLAN, Dictionary, S. 257 f., für Mulcahys Karriere bis 1924, siehe: VALIULIS, Mulcahy, passim. VALIULIS, Mulcahy, S. 165–7; NEESON, Civil War, S. 207; HOPKINSON, Green, S. 172–80. FLK, DeV, 228, Dail Eirean Proclamation, 26. Oktober 1922. Vgl. Einschätzung des UNITED IRISHMAN, 8. September 1922, S. 4. HOPKINSON, Green, S. 180. LYONS, War of Independence, S. 242; MCCRACKEN, Representative Government, S. 37; vgl. NLI, IRISH BULLETIN, covering note; O’HEGARTY, Victory, S. 7; KEOGH, Ireland and Europe, S. 7.
I. „Rückkehr zur Normalität“
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anyone tell me [. . .] with authority whether this is Dail Eireann or a Partition Parliament.“7 Mit Ginnell selbst wurde die Führung der Vertragsbefürworter leicht fertig. Sie ließ ihn nach einigen Minuten kurzer Hand hinauswerfen.8 Unangenehmer war schon, daß Ginnell, zur Freude der republikanischen Propaganda, schon einmal aus einem Parlament geflogen war: 1916, als er im British House of Commons die Rebellen des Osteraufstandes ehren wollte.9 Noch unangenehmer war, daß auch alle Tageszeitungen den peinlichen Zwischenfall berichteten und den Wortlaut von Ginnells Zwischenrufen wiedergaben. Auch wenn der Freeman Ginnells „baby show“ zur Zielscheibe seines Spottes machte, die republikanische Version von Ginnells Auftritt war auch hier gegen den Strich lesbar.10 Ginnell, den führende Republikaner als einen alten und leicht senilen Mann ansahen, sicherte sich so einen Propagandaerfolg, den selbst radikale Aktivistinnen wie Mary MacSwiney respektierten und beneideten,11 denn Ginnell hatte mit einer einzigen Frage den wunden Punkt getroffen: Was die vertragsbefürwortende Propaganda in traditionell republikanischer Terminologie den dritten Dail Eireann nannte, hatte ein für sie tabuisiertes offizielles juristisches Etikett: Es war das „Provisional Parliament of Southern Ireland“ in Anlehnung an Artikel 17 des Vertrages. Während die Führung der Vertragsbefürworter terminologisch die Kontinuität zur revolutionären Vergangenheit herstellte, hatte sie mit Beginn der neuen Parlamentssitzung juristisch endgültig aufgegeben, das ehemals revolutionäre Parlament sowie den damit verbundenen Anspruch auf Nordirland aufrecht zu erhalten.12 Trotz dieser Schwächen hatte sich die militärische und die legitimatorische Lage der Freistaatsregierung deutlich verbessert. In dieser Situation änderte die Führung der Vertragsbefürworter ab Anfang September ihre Propagandastrategie erneut: Vom „war against the people“ zum „getting back to normal“.13 Die vertragsbefürwortende Propaganda verzichtete nun dar-
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DAIL DEBATES, Laurence Ginnell, 9. September 1922, S. 8–13, hier: S. 8; AN POBLACHTWAR NEWS, 12. September 1922. DAIL DEBATES, 9. September 1922, S. 8–13. AN POBLACHT-WAR NEWS, 14. September 1922. DAIL DEBATES, J. Grey, 9. September 1922, S. 12; FREEMAN’S JOURNAL, 11. September 1922, S. 3, S. 5; IRISH INDEPENDENT, 11. September 1922, S. 5, S. 7; IRISH TIMES, 11. September 1922, S. 5. FLK, DeV, 1444/1, Mary MacSwiney an de Valera, ca. 10. September 1922. Artikel 17 der „Articles of Agreement“, siehe: CATHOLIC BULLETIN, Januar 1922, S. 15; zugänglicher: CURRAN, Birth, S. 287; HOPKINSON, Green, S. 180; AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Oktober 1922. Exemplarisch: YOUNG IRELAND, 21. Oktober 1922, S. 4.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
auf, jeden neuen Akt der republikanischen Zerstörungskampagne auszumalen, sondern zog statt dessen Schadensbilanz. Sie versuchte zu suggerieren, der Krieg sei so gut wie gewonnen, nur noch „a kind of civil war“. Wie schon einmal zu Beginn des Krieges spielten die vertragsbefürwortenden Propagagandisten das Ausmaß des Guerillakrieges herunter und baten die Presse, das gleiche zu tun.14 Sie versuchten nun, ein Thema zu besetzen, auf das die Republikaner keinen Zugriff hatten: konstruktive nationale Regierungsarbeit. Mit einer Regelmäßigkeit, die der Redundanz der republikanischen Propaganda bald Konkurrenz machte, veröffentlichten die Blätter Free State und Young Ireland Leitartikel zum Thema „reconstruction“, kündigten den ökonomischen, sozialen und kulturellen Aufbau einer „gälischen Zivilisation“ an.15
II. ORGANISATION VON PROPAGANDA UND ZENSUR 1. FREISTAATLICHE PRESSEKONTROLLE UND PROPAGANDA a) „Half-censorship“: freiwillige Vorzensur und „seditious libel“ Teil der Politik des „getting back to normal“ war, daß die Führung der Vertragsbefürworter schrittweise die Vorzensur abschaffte und durch Mechanismen einer informellen Pressekontrolle ersetzte. Dabei verlor Beaslai nicht nur seine Machtstellung als Zensor, sondern auch die Kontrolle über die Publicity der Freistaatsarmee. Ich werde zeigen, warum Beaslais Karriereende bezeichnend für die Biographie vieler ehemaliger Revolutionäre war und wie sein Schicksal mit dem Ende der „stepping-stone“-Politik und der Professionalisierung der Freistaatsarmee zusammenhing. Da die Kooperation mit der Presse so gut funktionierte, weil die Presse auch bei immer lockerer Zensur nicht aus dem Ruder lief, beschloß die Führung der Vertragsbefürworter Anfang September, die formelle Vorzensur der irischen Tagespresse ganz abzuschaffen. Das paßte zu der allgemeinen Politik des „getting back to normal“; denn im Kontext dieser konstitutionellen Politik störte eine Zensur, die auf unkonstitutionellen ad-hoc-Verordnungen des Militärs beruhte. Weil die Zensur zudem gegen das in Artikel 9 des Verfassungsentwurfes verankerte Recht auf Pressefreiheit verstieß,
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FREE STATE, 16. September 1922, S. 2; vgl. UCD, MP, P7/B/177, Minutes Army meeting, 15. Oktober 1922. FREE STATE, 16. September 1922, S. 2; YOUNG IRELAND, 16. September 1922, S. 4; 23. September 1922, S. 4; 11. November 1922, S. 4; UNITED IRISHMAN, 15. Februar 1922, S. 2.
II. Organisation von Propaganda und Zensur
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ersparte sich die Provisorische Regierung so eine Prinzipiendiskussion zur Pressefreiheit. Das Parlament nahm am 15. September 1922 den entsprechenden Artikel 9 des Verfassungsentwurfs ohne weitere Diskussion an.16 Als der Irish Independent am 9. September 1922 unautorisiert bekannt gab, die Zensur sei so gut wie abgeschafft, dachten nicht nur die meisten Zeitungsleser, sondern auch einige Redakteure der Provinzblätter, es gebe keine Pressekontrolle mehr.17 Der Provisorischen Regierung konnte das recht sein. Beaslai beschwerte sich zwar bei der Redaktion des Independent, verlangte aber kein öffentliches Dementi. So führte Beaslai die Öffentlichkeit in die Irre; denn das Ende der obligatorischen Vorzensur für die Dubliner Tagespresse bedeutete keine uneingeschränkte Pressefreiheit.18 Während für die Irlandberichte in der britischen Presse nach wie vor eine obligatorische formelle Vorzensur galt, behielt Beaslai die Vorzensur für die Dubliner Presse als scheinbar freiwilliges Angebot bei.19 Collins Nachfolger als Oberkommandierender der vertragsbefürwortenden Truppen, Verteidigungsminster Mulcahy, erklärte das nach einer Anfrage in Dail Eireann so: The various newspaper proprietors have been given to understand that at the present time, when the propagandists and distortionists are busy, material will come their way, the publication of which is not compatible with general public safety, and they have been instructed that while general proofs need not be submitted to Censor, matter about which they have any doubts should be submitted to him.20
Was Mulcahy verschwieg, war, daß die Presse gute Gründe hatte zu zweifeln. Denn wenn sie „die öffentliche Sicherheit gefährdende“ Artikel veröffentlichte, riskierte sie einen Prozeß wegen „seditious libel“.21 Die Provisorische Regierung setzte damit auf eine Methode, mit der auch die britische Verwaltung nach 1919 gearbeitet hatte: ein flexibles System von scheinfreiwilliger Zensur, Drohen, Verklagen und später auch Beschlagnahmen.22
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NAI, PG Minutes, G1/3, 6. September 1922; IRISH INDEPENDENT, 9. September 1922, S. 6; DAIL DEBATES, O’Higgins, 25. September 1922, S. 695. IRISH INDEPENDENT, 9. September 1922, S. 6; UCD, FGP, P80/285, Memo re inquest on Patrick Mannion, ca. 25. September 1922; DONEGAL VINDICATOR, 16. September 1922, S. 3. NLI, BP, box 6, Beaslai an Gearoid O’Sullivan, 2. Oktober 1922; UCD, FGP, P80/285, Memo re inquest on Patrick Mannion, ca. 25. September 1922. NLI, BP, box 6, Beaslai an Mulcahy, 2. Oktober 1922. DAIL DEBATES, Mulcahy, 27. September 1922, S. 798. NLI, BP, box 6, Memo to Mulcahy with reference to question of Deputy Cathal O’Shannon re Censorship, ca. 25. September 1922. Höhepunkt dieser Politik durch die britische Verwaltung war die Unterdrückung des FREEMAN im Dezember 1920: TOWNSHEND, Political Violence, S. 358.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Presseprozesse wegen „seditious libel“ hatten in Großbritannien eine lange Tradition. In einem Land, in dem die Pressefreiheit mehr durch konstitutionelle Praxis als durch gesetzliche Regelungen fest verankert war, waren Prozesse wegen „seditious libel“, „treason“, „treason felony“ oder „misdemeanour“ die einzigen Möglichkeiten von Regierung und Krone, gegen unliebsame Journale vorzugehen. Das war keine Zensur im engeren Sinne. Die Regierung konnte weder von vornherein, noch im nachhinein einen politischen Kriterienkatalog anlegen und Artikel unterdrücken. Ein Prozeß wegen „seditious libel“ war ein juristisches Verfahren, in dem die Regierung eine Jury aus Geschworenen davon überzeugen mußte, daß der Straftatbestand des „verleumderischen Hochverrats“ vorlag. Erst nach einem Prozeß wurde der betreffende Artikel widerrufen, sein Autor, gegebenenfalls auch Drucker und Herausgeber, zu Geld- oder gar Haftstrafen verurteilt. Deshalb war „seditious libel“ nicht primär eine formaljuristische Angelegenheit, sondern vor allem eine Waffe im politischen Konflikt.23 Aber durch „seditious libel“-Prozesse wurde der politische Kampf um Pressefreiheit und Pressekontrolle verrechtlicht, wurden die Spielregeln objektiviert. Mit Verrechtlichung hatte die Art, in der die Provisorische Regierung mit „seditious libel“ umging, nichts zu tun. „Seditious libel“ war einfach eine wohlfeile Drohung gegen die Presse. Ein Druckmittel, das die britische und damit irische juristische Tradition eben zur Verfügung stellte. Beaslai in einem Brief an Mulcahy: „The Censor [. . .] pointed out the consequences of publishing a libel unless they [the newspapers] were prepared to stand over it. The matter in question was not published. . .“24 Welche genauen juristischen Implikationen „seditious libel“ nach sich zog, war für die Provisorische Regierung uninteressant. Mit „libel“-Prozessen ließ sich die Presse nicht kontrollieren. Die Prozesse dauerten lange und die Regierung mußte dem betreffenden Journal einen absichtlichen bösen Willen nachweisen, den öffentlichen Frieden zu brechen. Dazu war die Regierung auf die Jury angewiesen, die in einem „libel“-Prozeß, mehr als in jedem anderen Juryverfahren, nicht nur nach Tatsachen, sondern ganz offiziell auch nach ihrer subjektiven Einschätzung entscheiden durfte.25 Und selbst wenn die Provisori23
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ECKHART HELLMUTH, „The palladium of all other English liberties“. Reflections on the Liberty of the Press in England during the 1760s and 1770s, in: ders. (Hrsg.), The Transformation of Political Culture. England and Germany in the Late Eighteenth Century. London 1990, S. 467–501, hier: S. 479, 488–90, 492. NLI, BP, box 6, Memo to Mulcahy with reference to question of Deputy Cathal O’Shannon re Censorship, ca. 25. September 1922. Siehe: „libel“ in: Encyclopaedia Britannica. A Dictionary of Arts, Science, Literature and
II. Organisation von Propaganda und Zensur
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sche Regierung das Verfahren hätte manipulieren können, die Presse mit einer Flut von noch dazu öffentlichen „libel“-Prozessen zu überschütten, hätte ihre „liberal rights“-Legitimation untergraben – dann hätte sie gleich die Zensur beibehalten können. Die Angst vor einem Prozeß sollte also die Redaktionen zur Kooperation zwingen, nicht der Prozeß selbst. So begann die Provisorische Regierung während des gesamten Bürgerkrieges keinen einzigen „libel“-Prozeß. Wenn man die berechenbare Zensur mit dieser permanenten Drohung vergleicht, dann bedeutete das neue Verfahren für die Presse nicht Verrechtlichung, sondern Rechtsunsicherheit. Was verstand die Regierung unter „libel“ oder „public safety“? Dafür trugen jetzt nicht mehr Beaslai und seine Mitarbeiter, sondern die Zeitungen selbst die Verantwortung. Diese Rechtsunsicherheit garantierte, daß Zeitungsbesitzer und Redakteure kein Risiko eingingen und auf die „freiwillige“ Vorzensur zurückgriffen. Den Redakteuren erschienen dabei weit mehr Artikel „not compatible with public safety“ zu sein als Beaslai. Er hielt nur einen Bruchteil der Artikel auf, die die Redakteure bei ihm einreichten. Vom 13. September bis zum 27. September 1922 ganze fünf.26 Der Effekt einer lockeren Vorzensur blieb auch ohne formelle Vorzensur erhalten, nur daß die Arbeit und Verantwortung für das Zensieren jetzt großteils bei den Redaktionen lag. Die informelle Pressekontrolle lief also auf eine quasi institutionalisierte Selbstzensur hinaus.27 Das irisch-amerikanische vertragsablehnende Blatt Irish World schloß daraus: „The censorship is practically as close and strict as ever, for the Slave Press impose their own censorship.“28 Doch das Gegenteil war der Fall: Die Zeitungen nutzten und testeten ihre neu gewonnen Spielräume, veröffentlichten jetzt zunehmend Anstößiges auf eigenes Risiko.29 In der Presse erschienen deutlich mehr und kritischere Leserbriefe, nicht nur von republikanischen Sympathisanten, sondern in einzelnen Fällen auch von prominenten Republikanern wie Mary MacSwiney, Count Plunkett, sogar von
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General Information, Bd. 16. 11. Aufl. Cambridge 1910., S. 535–7; vgl. UCD, KP, P4/253(9), Kennedy, Memo, 21. August 1922, Hier rät Kennedy der Regierung auf Grund der unsicheren juristischen Grundlage ab, einen lible-Prozeß gegen republikanische Propagandisten anzustrengen. DAIL DEBATES, Mulcahy, 27. September 1922, S. 798; NLI, BP, box 6, Beaslai an Gearoid O’Sullivan, 2. Oktober 1922. Zur Definition von formeller, informeller Zensur und Selbstzensur vgl. KANZOG, Zensur, Sp. 1001. IRISH WORLD, 7. Oktober 1922, S. 2. UCD, FGP, P80/285, Memo re inquest on Patrick Mannion, ca. 25. September 1922; vgl. NLI, BP, box 6, Memo to Mulcahy with reference to question of Deputy Cathal O’Shannon re Censorship, ca. 25. Juli 1922.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Childers. Auch die Terminologie dieser Leserbriefe unterschied sich nur noch wenig von den Polemiken der republikanischen Untergrundpresse.30 Damit war die Pressekontrolle tatsächlich „almost to vanishing point“ gelockert. Dennoch war die Presse von diesem neuen Zensurstil wenig angetan. So forderte die Irish Times: [. . .] while a strict military censorship is logical and tolerable, an undefined spasmodic censorship is a grave nuisance. [. . .] The Government ought to abolish the present situation of half-censorship without further delay.31
Genau wie das Sprachrohr des unionistisch protestantischen Establishments argumentierte am anderen Ende des politischen Spektrums der nationalistische, katholische und sozialistische Labour-Abgeordnete Cathal Shannon: „If we have a censorship, let us have one.“32 Im Chaos und der Rechtsunsicherheit des Bürgerkrieges bevorzugten beide nicht direkt in den Bürgerkrieg verwickelte Parteien, Unionisten und Sozialisten, eine klare und durchschaubare Zensur gegenüber einer schwer einschätzbaren Pressekontrolle. b) Falsch qualifiziert? Das Karriereende des Revolutionärs Beaslai Im großen und ganzen hatte Beaslai ab September ein ruhiges Leben als Zensor: Die Redaktionen nahmen Beaslai einen Großteil der Arbeit ab, die Zensurbehörde arbeitete mit etwas weniger Personal reibungslos weiter. Jetzt hatte er wieder viel freie Zeit, verbrachte nur mehr wenige Stunden in der Kaserne in der Brunswick Street. Beaslai genoß sein Leben, machte Ausflüge mit dem Auto, amüsierte sich im Pub und mit diversen Freundinnen und er arbeitete wieder an seiner Zeitung der An tOglach.33 Die angenehmen Lebensumstände verschleierten, daß Beaslai, General, Mitglied des IRA-Hauptquartiers im Unabhängigkeitskrieg, Herausgeber der legendären IRA-Untergrundzeitung An tOglach, zunächst fast autono30
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IRISH INDEPENDENT, 18. September 1922, S. 6; vgl. auch exemplarisch: ebd., 18. Oktober 1922, S. 7; 20. September 1922, S. 6; vgl. AN POBLACHT-WAR NEWS, 23. September 1922 mit IRISH INDEPENDENT, 20. September 1922, S. 6; vgl. THE FENIAN, 21. September 1922, S. 1 mit IRISH INDEPENDENT, 20. September 1922, S. 6. IRISH TIMES, 21. September 1922, S. 4. „Strict military censorship“: Damit meinte die IRISH TIMES eine Zensur nach streng militärischen Kriterien, nicht eine strenge militärische Zensur. DAIL DEBATES, Cathal Shannon, 27. September 1922, S. 798 f.; vgl. VOICE OF LABOUR, 30. September 1922, S. 6. NLI, BP, box 6, Beaslai an O’Sullivan, 2. Oktober 1922; ebd., Beaslai an Gearoid O’Sullivan, 16. September 1922; NLI, BP, box 19, Diary, Einträge: 22. September 1922–10. Oktober 1922 (Übersetzung aus dem Irischen von Eoghan O’Raghalaigh).
II. Organisation von Propaganda und Zensur
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mer Chefzensor, Schritt um Schritt Macht und Einfluß verlor. Ende Juli hatte er sich bereits damit abfinden müssen, mit FitzGerald zu kooperieren. Anfang August kam für Beaslai der nächste Rückschlag, er verlor seine finanzielle Autonomie. Was Beaslai in seiner eigenen Behörde nach unten durchgesetzt hatte, eine effiziente zentrale Kontrolle, bekam er nun auch von oben zu spüren. Nach den teilweise chaotischen Improvisationen der ersten Kriegswochen entstanden im Dubliner Hauptquartier langsam klare Kommandostrukturen, die zwangsläufig auch Beaslais Freiräume einschränkten.34 Doch Beaslai ordnete sich nicht einfach unter, er führte ein hartnäckiges Rückzugsgefecht um seine Autonomie, wehrte sich gegen das Vordringen anonymer Kommandostrukturen. Mitte Juli fing Beaslai einen Dauerkonflikt mit einem der führenden Generäle des Dubliner Hauptquartiers, dem Adjutant General Gearóid O’Sullivan, an.35 In einem Brief vom 4. August 1922 beschwerte sich Beaslai bei O’Sullivan: I have had to pay my staff salaries and all the office expenses – postages, rubber stamps, stationery Office requisites etc. Furthermore, the barrack diet was so very bad that I had to arrange to have the ladies of my staff dine in a restaurant and have food sent in from outside for others. All this I had to pay out of my own pocket. I cannot carry on another week without overdrawing my account.
In seinen polemischen Beschwerdebriefen äußerte sich Beaslai nicht eben diplomatisch über seine Arbeit als Zensor: „I don’t want this wretched job, but somebody had to do it, I was ordered to do it, and I did my best, in a time of crisis.“36 Um O’Sullivan unter Druck zu stellen, drohte Beaslai immer wieder, sein Department einfach zu schließen.37 Doch damit nicht genug: Auch in Briefen an Collins, Mulcahy und andere Armeestellen beschwerte sich Beaslai, an der offiziellen Kommandokette vorbei, über O’Sullivan.38 Der gereizte Ton Beaslais gegenüber einem der ranghöchsten Offiziere des Freistaates ist erstaunlich. War das Selbstüberschätzung, Selbstbewußt-
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Zum Chaos in der vertragsbefürwortenden Armee: HOPKINSON, Green, S. 136–8; siehe auch: UCD, MP, P7/B/41. NLI, BP, box 6, Beaslai an Gearoid O’Sullivan, 15. Juli 1922; 19. Juli 1922; 4. August 1922; 15. August 1922; 16. August 1922; 21. August 1922; 30. August 1922. NLI, BP, box 6, Beaslai an Gearoid O’Sullivan, 4. August 1922. Ebd.; Beaslai an Gearoid O’Sullivan, 22. Juli 1922; 4. August 1922; 16. August 1922. Ebd.; Beaslai an Collins, 4. August 1922; 11. August 1922; 17. August 1922; Beaslai an Mulcahy, ca. 29. Juli 1922; 24. August 1922; Beaslai an Sean MacMahon, 17. August 1922; 30. August 1922.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
sein, Überarbeitung, Vertrauen auf Collins Protektion? Vermutlich von allem etwas. Der Ton Beaslais scheint um so verwunderlicher, vergleicht man ihn mit den diplomatischen Antworten O’Sullivans.39 Das Problem war dabei gar nicht, ob O’Sullivan Beaslai bezahlen wollte, sondern wie. Beaslai bestand darauf, selbständig über einen bestimmten Etat zu entscheiden.40 Nach Aufhebung der Zensur, eventuell früher, würde er dann alle Quittungen einreichen und Rechenschaft ablegen. Dieses Verfahren hätte Beaslai weit gesteckte Kompetenzen eingeräumt. Es war bezeichnend für den unbürokratischen Organisationsstil einer Untergrundbehörde gewesen, die lange Zeit von anderen Stellen abgeschnitten sein konnte.41 Beaslai wollte und konnte vielleicht auch nicht verstehen, daß es gute Gründe gab, weshalb sich eine professionelle Armee für ein besser kontrollierbares Verfahren entschied.42 Obwohl Collins O’Sullivan unterstütze, dauerte es bis Ende August, also bis nach Collins Tod, ehe sich Beaslai endgültig damit abgefunden hatte, daß er Bürobedarf über den Quartermaster General bestellen mußte und seine Mitarbeiter wöchentlich vom Army Pay Master bezahlt wurden.43 Nach Collins Tod verlor der nun um seine Autonomie beschnittene Zensor noch einmal rapide an Einfluß. Mitte September konnte er nicht einmal mehr verhindern, daß der Leiter des Telegraphenamts nach einem Poststreik eigenmächtig die Telegrammzensur abschaffte. Er benötigte das zuvor an Beaslai ausgeliehene Personal, um den regulären Postbetrieb wieder zum Laufen zu bringen. Auch diesmal blieb die Flut von Beaslais Beschwerdebriefen erfolglos.44 Doch für Beaslai kam es noch schlimmer: Nach dem Ende des offenen Krieges, als die Führung der Vertragsbefürworter den Rücken frei hatte, um ihre Behörden umzustrukturieren, nutzte sie die
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Ebd., Gearoid O’Sullivan an Beaslai, 22. August 1922: Hier entschuldigt sich O’Sullivan für das umständliche Zahlungsverfahren. Ebd.; z. B.: Beaslai an Gearoid O’Sullivan, 27. Juli 1922; vgl.: Beaslai an Gearoid O’Sullivan: 4. August 1922; 16. August 1922. Vgl.: MCCRACKEN, Representative Government, S. 25. Natürlich verstand Beaslai sehr wohl, wie das neue System funktionierte. NLI, BP, box 6, Beaslai an Gearoid O’Sullivan, 4. August 1922. NLI, BP, box 6, Collins an Beaslai, 8. August 1922; Gearoid O’Sullivan an Beaslai, 22. August 1922; 2. September 1922; Beaslai an Gearoid O’Sullivan, 30. August 1922; 16. September 1922; 21. September 1922; ebd., Beaslai an Quartermaster General, 30. August 1922; 4. September 1922; ebd., Beaslai an Capt. Smith, 4. Oktober 1922. NLI, BP, box 6, Beaslai an Superintendent GPO, 2. Oktober 1922; 3. Oktober 1922; Beaslai an Padraig O’Siotchain, 23. September 1922; Beaslai an Mulcahy, 2. Oktober 1922; 11. Oktober 1922; James Walsh an Beaslai, 28. Oktober 1922; NLI, BP, box 23, summary, Post Office punishment inflicted on Messrs. Frewen and Dargan while acting as Military Censors; ebd., Secretary of Commander in Chief an Beaslai, 2. März 1923.
II. Organisation von Propaganda und Zensur
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Neuorganisation von Army Publicity und Zensur, um den unbequemen und vor allem nach durchzechten Nächten immer wieder „dösenden“ Beaslai loszuwerden.45 Für ihn bedeutete das das Ende seiner militärischen Karriere. Schon ab Mitte September hatte Beaslai kaum mehr britische Zeitungen aufgehalten.46 Was ab Anfang September absehbar war, setzte die Führung der Vertragsbefürworter Mitte Oktober um: Sie schaffte die Zensur der britischen Presse ab, beendete nun auch offiziell die Zensur von Tagespresse, Briefen und Telegrammen.47 Die Pressekontrolle war nun weniger greifbar, von außen schwerer nachzuvollziehen und zu kritisieren. Aufgehoben wurde sie nicht. Die halboffizielle scheinfreiwillige Pressekontrolle existierte nach wie vor weiter.48 Beaslai, der selbst immer wieder gefordert hatte, die Zensur abzuschaffen, konnte diesen Verlust sicher verkraften.49 Doch zu seinem Entsetzen löste die politische und militärische Führung nicht nur die Zensurbehörde auf, sondern integrierte auch das Army Publicity Department in ein neu gegründetes Department for Military Statistics unter General Eamon Price – und das, ohne Beaslai zuvor hinzuzuziehen. Damit nicht genug: Auch die redaktionelle Politik von An tOglach durfte Beaslai bald nicht mehr kontrollieren. Er blieb zwar Herausgeber der Armeezeitung, die letzte Entscheidung in inhaltlichen Fragen lag aber in den Händen von Price.50 Allein der Gedanke, daß Beaslais ehemaliger Untergebener Captain Hugh Smith seinen Freund Mr. MacBrien, einen Mann ohne „war record and Volunteer outlook“, bei An tOglach unterbringen wollte, machte Beaslai geradezu rasend.51 Seine Lebensaufgabe, der er sich seit 1918 verpflichtet hatte, „seine“ Behörde und „seine“ Zeitung waren Beaslai genommen. 45
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NLI, BP, box 19, Diary, z. B. 29. September 1922: Beaslai verschläft zum wiederholten Male; AN POBLACHT-WAR NEWS, 11. August 1922 : „The censor seems to be dozing again.“; UCD, FGP, P80/285, Memo re inquest on Patrick Mannion, ca. 25. September 1922. Ab 9. September 1922 hielt Beaslai durchschnittlich nurmehr drei Zeitungen pro Woche auf: NLI, BP, box 28a, Zensurliste, ab 9. September 1922. Diese Zahlenangabe schließt die generell verbotenen Blätter MORNING POST und DAILY TELEGRAPH nicht ein. NLI, BP, box 28a, Zensurliste, 12. Oktober 1922. Am 11. Oktober 1922 wurden erstmal die MORNING POST und der DAILY TELEGRAPH freigegeben. NLI, BP, box 6, Mulcahy an Beaslai, 12. Oktober 1922. NLI, BP, box 6, Beaslai an Mulcahy, 4. Oktober 1922. ebd., Beaslai an Mulcahy, 11. Oktober 1922; Mulcahy an Beaslai, 12. Oktober 1922. UCD, FGP, P80/285, Beaslai: Memo re inquest on Patrick Mannion, ca. 25. September 1922; NLI, box 6, Beaslai an James Walsh, 28. Oktober 1922. NLI, BP, box 19, Tagebuch, 22. Oktober 1922; ebd., box 6, Beaslai an Mulcahy, 4. Oktober 1922; 23. Oktober 1922; UCD, MP, P7/B/177, Memo 25. Oktober 1922; NLI, BP, box 28b, Artikel für AN TOGLACH. NLI, BP, box 6, Beaslai an O’Hegarty, 23. Oktober 1922; Eamon Price dagegen schätzte
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Jetzt beschränkte sich Beaslai nicht auf polemische Beschwerdebriefe, um sich für sein verletztes Gerechtigkeitsempfinden einzusetzen. Er nahm die Sache selbst in die Hand: In einem Dubliner Pub verwickelte er seinen Konkurrenten Price in ein Handgemenge und beschlagnahmte dessen Pistole.52 Eine sehr passende Geste: Keine unsoldatische Rauferei, keine undisziplinierte Schießerei. Nein: der in seiner Offizierswürde und Männlichkeit gekränkte Beaslai raubt seinem Konkurrenten das Symbol des Mann- und Soldat-Seins: die Pistole. Doch alle großen Gesten halfen ihm nichts. Er blieb kaltgestellt. Schnell fand die Führung der Vertragsbefürworter eine Aufgabe, mit der sie meinte, Beaslai sinnvoll beschäftigen zu können. Er sollte das machen, was ohnehin sein Lieblingsprojekt war: eine staatstragende Hagiographie des von ihm verehrten Revolutionshelden und Freistaatsgründers Collins zu schreiben.53 Nur Gearoid O’Sullivan, der immer noch sichtlich vom Streit mit Beaslai um die Finanzierung der Zensurbehörde entnervt war, hatte von vornherein heftige Bedenken: „The person you suggest would not do at all.“54 Noch im September hatte Beaslai seine Macht als Zensor genutzt, um einen gefährlichen Konkurrenten um das seiner Meinung nach einträgliche Geschäft einer Collinsbiographie zu bringen. Dieser Konkurrent war der Journalist Hayden-Talbot, der Anfang 1922 einige Interviews mit Collins geführt hatte und dessen Geschichte nach Beaslais Ansicht Collins Ehre und Ansehen gefährdeten.55 Hayden-Talbot und andere Journalisten hatten, wie Beaslai, das Geschäft der Stunde gewittert, veröffentlichten in einigen englischen Wochenblättern Abenteuergeschichten, wie sie sich um Collins rankten.56 Geschichten, von denen man bei ein paar Glas Stout leicht noch ein paar erfinden konnte: Collins entkommt den Krontruppen durch den Kamin, Collins verkleidet sich als Pfarrer und so weiter . . . Das war weder beleidigend noch kritisch, nicht einmal politisch, vielleicht etwas
52 53 54 55 56
MacBrien als schwierigen, aber fähigen Mitarbeiter ein: UCD, MP, P7a/197, Price an Mulcahy, 6. November 1922. NLI, BP, box 19, Tagebuch, 15. Oktober 1922; ebd., box 6, Beaslai an Mulcahy, 4. Oktober 1922. NLI, BP, box 6, Beaslai an Gearoid Collins, 4. September 1922. NAI, D/T, S-1760, Gearoid O’Sullivan an Cosgrave, 12. September 1922 (Hervorhebung im Original). BEASLAI, Collins, Bd. 2, S. 364; NLI, BP, box 6, Beaslai an IRISH INDEPENDENT, 5. September 1922. MEMORY, Memory’s, S. 90–4; MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 603; vgl. J. J. O’Kelly in CATHOLIC BULLETIN, Oktober 1922, S. 630, 634; WORKER’S REPUBLIC, 2. September 1922, S. 3.
II. Organisation von Propaganda und Zensur
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respektlos. Die Geschichten sollten unterhalten, die Auflage des veröffentlichenden Blattes steigern und ihren Autor ernähren. Doch Beaslai und auch die Provisorische Regierung wollten keine zweite Version von Collins Leben dulden; denn das hätte das freistaatliche Projekt relativiert, über den „Volkshelden“ Collins eine direkte Kontinuität des Freistaats zur Revolution seit 1916 herzustellen. Beaslai ging daher hart gegen Hayden-Talbots unautorisierte Collinsbiographie vor: Er verbot allen irischen Blätter, die Geschichte zu drucken. Dazu unterdrückte er alle englischen Zeitungen, die die Hayden-Talbots-Geschichte veröffentlichten.57 Den Herausgeber des Sunday Express erreichte eine ganze Flut von Beschwerdebriefen, die Beaslai organisiert hatte.58 Unter diesem Druck gaben die britischen Wochenzeitungen nach, setzen die Collinsbiographie Hayden-Talbots nach zwei von dreißig Folgen ab.59 Doch diese „lame evasion“ war Beaslai nicht genug. Er hielt jede Zeitung solange auf, bis sie eine offizielle Gegendarstellung veröffentlicht hatte.60 Beaslai konnte eigentlich zufrieden sein, er hatte die Konkurrenz zumindest in Großbritannien und Irland vorläufig beseitigt, und er kassierte seine Generalsbezüge bald ausschließlich für eine Aufgabe, die ihm viel mehr Spaß machte, als die Presse zu zensieren. Doch auch jetzt stritt sich Beaslai mit der Provisorischen Regierung und blieb für die Führung der Vertragsbefürworter ein Ärgernis. Er ließ sich zwar für seine „staatstragenden“ Recherchen bezahlen, als aber das vereinbarte Kontrollgremium, indem auch Beaslais Intimfeind Gearoid O’Sullivan saß, sein Manuskript beeinflussen wollte, stellte sich Beaslai quer. Er schrieb wie so häufig undiplomatisch polemische Beschwerdebriefe an die höchsten Regierungsstellen. Der Zensor wollte sich selbst nicht zensieren lassen, wollte ein „real book“, kein „official blue book“ schreiben.61 57
58 59 60
61
NLI, BP, box 6, Government Publicity Department an WORLD PICTORIAL NEWS, statement 7. September 1922; ebd., Beaslai an WORLD PICTORIAL NEWS, 13. September 1922; Beaslai an DAILY EXPRESS, 5. September 1922; auch: ebd., Beaslai an IRISH INDEPENDENT, 5. September 1922; Beaslai an FREEMAN’S JOURNAL, 5. September 1922; NLI, BP, box 28a, Beaslai an WORLD PICTORIAL NEWS, 13. September 1922. NLI, BP, box 6, Briefe an Herausgeber des SUNDAY EXPRESS von: Beaslai, Sean McGarry, Joseph O’Reilly, S. Mason, G. McGann, jeweils 15. September 1922. NLI, BP, box 28a, Circulation Manager SUNDAY EXPRESS to Eason & Son, 6. September 1922; Vollständige Ausgabe in AMERICAN PICTORIAL, 29. August–9. Oktober 1922. NLI, BP, box 6, Beaslai an Special Correspondent der WORLD PICTORIAL NEWS, 5. Oktober 1922; vgl. NLI, BP, box 28a, Patricia Hoey an Editor SUNDAY EXPRESS, 21. September 1922. NAI, D/T, S-1760, Beaslai an Cosgrave, 7. November 1922; NAI, D/T, S-1760, Vertrag zwischen Beaslai und Provisorischer Regierung, 20. September 1922; vgl. NAI, PG Minutes, PG 10a, 20. September 1922; PG Minutes, PG 43a, 21. Oktober 1922.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Beaslai hatte nicht nur Angst um seine Unabhängigkeit, sondern auch um die Glaubwürdigkeit seines Buchs und damit um dessen Verkäuflichkeit. Beaslai verlangte eine Gewinnbeteiligung62, drohte der Regierung, er habe bereits Angebote von über tausend Pfund plus Tantiemen von einem amerikanischen Verlag. Dazu zog er Collins Bruder Sean auf seine Seite und ließ ihn Protestbriefe an die Regierung schreiben und erreichte damit, daß die Kontrollkommission nicht mehr versuchte, sein Manuskript zu überarbeiten.63 Je länger Beaslai an Collins Biographie arbeitete, um so mehr verlor die Freistaatsführung die Geduld mit ihm; denn Beaslai kassierte zwar weiter seine Generalsbezüge, wurde mit der Collinsbiographie aber Jahr um Jahr nicht fertig. Deshalb degradierte ihn die Regierung im Februar 1924 zum Colonel, argumentierte, Beaslais Generalsrang sei nur ein Manöver für dessen im Frühjahr 1922 unternommene Propagandatour durch die USA gewesen.64 Beaslai war einmal mehr entsetzt. Für ihn so typisch, verbanden sich erneut finanzielle und ideelle Interessen. Beaslai, der sich im September 1922 mit dem Treaty Election Committee herumstritt, um offenbar überhöhte Wahlkampfkosten zurückzubekommen;65 Beaslai, der während des Bürgerkrieges zäh um seine finanzielle Autonomie als Zensor gekämpft hatte; Beaslai, der sich von seiner Collinsbiographie auch einen stattlichen Gewinn erhoffte, hatte auch diesmal Angst um seinen Profit. Er wehrte sich gegen den doppelten Angriff auf seine Offizierswürde und auf sein Portemonnaie und, wie so oft, erbittert aber vergeblich.66 Die Collinsbiographie stellte er schließlich 1926 ohne Einfluß der Regierung fertig. Deren Sekretär konnte jetzt nur noch erstaunt feststellen, daß Beaslai die ihm anvertrauten Akten und Briefe durcheinander gemischt, viele verschmiert, andere verloren oder unterschlagen hatte.67 62
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Die Gewinnbeteiligung wollte Beaslai (angeblich) Collins Familie zukommen lassen: NAI, D/T, S-1760, „X“ an MacDunphy, 12. September 1923; Beaslai an Cosgrave, 7. November 1922. NAI, D/T, S-1760, Provisorische Regierung an Beaslai, 24. Oktober 1922; Beaslai an Provisorische Regierung, 26. Oktober 1922; Provisorische Regierung an Beaslai, 28. Oktober 1922; Sean Collins an Executive Council, 7. November 1922; Beaslai an Cosgrave, 7. November 1922; Executive Council an Beaslai und Sean Collins, 15. November 1922; Beaslai an Cosgrave, 20. November 1922. NAI, D/T, S-1760, „X“ an MacDunphy, 12. September 1923. NLI, BP, box 6, Beaslai an Domnhall MacCartha, Treaty Election Comittee, 27. September 1922. NAI, D/T, S-1760, Beaslai an Executive Council, 6. März 1924; Executive Council an Beaslai, 15. März 1924. NAI, D/T, S-1760, covering note, MacDunphy, 3. November 1936. Vgl. zu Beaslais Collinsbiographie auch: DEIRDRE MCMAHON, ‚A Worthy Monument to a Great Man‘: Piaras
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Beaslais Biographie ist typisch für die vieler ehemaliger Revolutionäre, deren Karriere im Freistaat abbrach. Beaslai war ein Revolutionär der ersten Stunde: Gründungsmitglied der Irish Volunteers, engagierter Gaelic Leaguer, Teilnehmer am Osteraufstand und seit 1918 im Dubliner Hauptquartier der IRA. Eine Reihe von Eigenschaften, die andere zu guten Guerilleros machten, machten ihn zu einem guten Untergrundpropagandisten: seine Eigeninitiative, sein Vertrauen, Probleme selbst in die Hand nehmen zu können und Entscheidungen zu treffen. Dazu kamen sein Idealismus und seine subjektive Überzeugung, das moralisch Richtige zu tun. Beaslai hatte sich einem Ideal verpflichtet, nicht seinen Vorgesetzten. Im Bürgerkrieg kam Beaslais Wunsch nach Autonomie entgegen, daß der Organisationsstil der vertragsbefürwortenden Armee noch lange Zeit sehr dem des Unabhängigkeitskrieges ähnelte: Persönliche Beziehungen, Freundschaften, Autorität und Kompetenz waren immer noch wichtiger als offizielle Kommandostrukturen, Titel und Ränge.68 Beaslai schätzte daher die Atmosphäre einer Politik, die persönliche Beziehungen über offizielle Strukturen stellte: Politik, Revolution und Bürgerkrieg waren für Beaslai eine Frage persönlicher Anteilnahme. Und als Freund des einflußreichsten Politikers und Militärs war dieser Stil ja auch nicht zu seinem Nachteil. So umging Beaslai auch im August noch häufig die offizielle Kommandostruktur und wandte sich mit Fragen an seinen alten Freund, den Commander in Chief, Collins.69 Nach dem Tod von Collins fehlte Beaslai nicht nur die persönliche Protektion, auf die er sich bisher verlassen konnte. Collins Tod markierte auch den Tod einer aktiven „stepping-stone“- Politik. Viele ehemalige Guerilleros, die überzeugte Anhänger dieser Politik waren, verloren nun in der Armee nach und nach ihre Posten. Das lag nicht an einer planmäßigen politischen Säuberung, sondern daran, daß die Armeeführung die Freistaatsarmee immer mehr zu einer professionellen und unpolitischen Berufsarmee machte. Eine herausragende revolutionäre Vergangenheit aus dem Unabhängigkeitskrieg genügte bald nicht mehr, um eine Karriere in der Armee zu garantieren. Ausgerechnet der letzte Anhänger der „stepping-stone“-Politik im Kabinett, der Verteidigungsminister und neue Armeechef Mulcahy, wurde zum
68 69
Beaslai’s Life of Michael Collins, in: Bullan. An Irish Studies Journal, II, 2, (1996), S. 55–65, passim. VALIULIS, Mulcahy, S. 44 f.; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 20; HOPKINSON, Green, S. 6, 17, 61 f., 67, 223. Z. B.: UCD, MP, P7/B/53, Beaslai an Collins, 13. Juli 1922; NLI, BP, box 6, Beaslai an Collins, 4. August 1922; 9. August 1922; 11. August 1922; 17. August 1922.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Vorreiter dieser Politik. Mulcahy setzte gegen den Widerstand vieler alter IRA-Aktivisten aus Collins Umfeld rein professionelle Kriterien bei der Offizierswahl durch. Dabei motivierte Mulcahy auch die Erfahrung der Vertragsspaltung, die zeigte, welche Sprengkraft eine politisierte Armee haben konnte. Für die pragmatische Denkart der Vertragsbefürworter war Mulcahys Kalkulation naheliegend. Als Realpolitiker setzte er auf eine Armee, die funktionierte, nicht auf eine Armee, die die revolutionären Verdienste ihrer Mitglieder honorierte. Ein Freistaat, der es nicht auf eine Konfrontation mit Großbritannien abgesehen hatte, hatte keinen Bedarf mehr an Berufsrevolutionären.70 Die Organisation des Militärs wurde nun anonymer. Entscheidend wurden bald klar abgegrenzte Kompetenzen, standardisierte Verwaltungsvorgänge und Kontrollmechanismen. Damit verschob sich auch die Sprachstrategie, nach der die Armee funktionierte und mit der die Macht innerhalb der Armee geregelt wurde. Die Armee war jetzt keine Organisation mehr, in der politisierte Freiwillige das Umsetzen von „the Republic“ und „Nation“ untereinander verhandelten. Sie wurde zu einer Institution, deren innere Logik auf Disziplin und Gehorsam beruhte. Die diskursive Strategie verschob sich von der „iudicatio“ zur „coercitio“.71 Wenn Beaslai jetzt eine Behörde leiten sollte, die streng in die Kommandostruktur einer professionellen Armee eingebunden war, dann waren seine revolutionären Qualifikationen kontraproduktiv. Als Propagandist der IRA und Chefzensor beherrschte Beaslai die Sprache, in der man Politik diskutierte, wie kaum ein Zweiter. Die Sprache von Zwang und Gehorsam verstand er nur gebrochen; denn sie ließ ihm keinen Raum, seine eigenen Vorstellungen zu artikulieren, seinem Platz in der Armee einen Sinn zu geben. Für Beaslai, der als Herausgeber der An tOglach „conviction“, nicht „force“ als Stärke der IRA definiert hatte, verriet die Armee ihre revolutionären Wurzeln.72 Aus Sicht der Freistaatsführung wurde Beaslai dagegen, anstatt als Rädchen im Getriebe zu funktionieren, zum Besserwisser und Querulanten. Für Beaslai galt wie für viele Veteranen des Unabhängigkeitskrieges, daß ein guter Guerillero nicht unbedingt ein guter Offizier, ein guter Untergrundpolitiker nicht unbedingt ein guter Bürokrat sein mußte. Wie An tOglach den Freistaatssoldaten erklärte, nachdem Beaslai die redaktionelle Kon-
70 71 72
VALIULIS, Mulcahy, S. 173, 201–6, 234, 337; LAFFAN, Partition, S. 97 f.; HOPKINSON, Green, S. 179, 225 f.; vgl. DEBATE ON TREATY, David Robinson, 7. Januar 1922, S. 289 f. DENNING, Mr. Bligh, S. 132. AN TOGLACH, 15. August 1918, S. 1.
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trolle verloren hatte: „The wisdom of the guerilla may be the folly of the regular soldier.“73 Die Professionalisierung der Armee in der Provinz zog sich bis lange nach dem Bürgerkrieg hin.74 Hier setzte sich erst langsam die Sprache von Befehl und Gehorsam durch. Britische Beobachter machten sich noch lange über die undisziplinierten „gunmen“ in der Freistaatsarmee lustig, die betrunken mit ihren Revolvern spielten und ihre Vorgesetzen „Mike“ oder „Pat“ nannten.75 The rank and file and many of the officers could not realize that the habits and practices they had adopted against the English during the ‚Trouble‘ no longer served. They were now an army and had to move and act as one, not as an indisciplined rabble, such as the Irregulars against whom they were fighting.76
Als die Armeeführung die kaum reorganisierte Freistaatsarmee nach dem Bürgerkrieg unter massivem finanziellem Druck verkleinerte, begann sie, scharenweise Offiziere, auch solche mit „war record“ zu entlassen. Diese Politik war in der Armee so unbeliebt, daß sie Anfang 1924 zu einer Meuterei führte, mit der sich auch Beaslai assoziierte.77 Doch auch die kurzfristig erfolgreiche Meuterei änderte nichts an der allgemeinen Entwicklung: Aus der einst politischen IRA wurde eine unpolitische und professionelle Armee.78 Wie die Meuterer nach ihm, vermengte auch Beaslai seine Frustration über das Ende seiner militärischen Laufbahn mit der Frustration über den neuen Staat, der keine weitere Konfrontation mit Großbritannien suchte. Er meinte, der Freistaat bevorzuge ehedem britische Offiziere. Alte Guerilleros würden nicht trotz, sondern wegen ihre Teilnahme am Unabhängigkeitskrieg, wegen ihrer republikanischen („stepping-stone“) Gesinnung entlassen. Mit Beaslai entfremdete sich eine ganze Gruppe von ehemaligen Revolutionären dem Freistaat.79 Beaslai, einst eine der zentralen Stützen der freistaatlichen Legitimation, war bald räsonierender Regierungskritiker geworden, gründete 1925 mit
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79
AN TOGALCH, 9. Dezember 1922, S. 1. VALIULIS, Mulcahy, S. 201 f., 230; HOPKINSON, Green, S. 136–8, 137, 152, 223–6. MEMORY, Memory’s, S. 139, 153; THE ROUND TABLE, XIII, no. 51 (Juni 1923), S. 559. MEMORY, Memory’s, S. 155 f.; Vgl. THE ROUND TABLE, XIII, no. 50 (März 1923), S. 257. AN TOGLACH, vol.1, no.11, (Winter 1965), S. 16; NAI, D/T, S-1760, „X“ an MacDunphy, 12. September 1923. Zur Armee-Meuterei siehe: MARYANN GIALANELLA VALIULIS, Almost a Rebellion. The Irish Army Mutiny of 1924. Cork 1985, passim; dies., Mulcahy, S. 204–20; FANNING, Department of Finance, S. 155–19. VALIULIS, Mulcahy, S. 202 f., 233.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
anderen enttäuschten Ex-Revolutionären den Veteranenverband „Association of the Old Dublin Brigade.“80 Doch Beaslai wurde über seinem Karriereende nicht zu einem verbitterten Zyniker. Er genoß sein neues Leben, fühlte sich nach dem Ende des Bürgerkrieges von der Last der politischen Macht geradezu befreit: „A glorious day, God be thanked. The Summer has come back again and I am feeling enormously cheerful. I have started my series of articles for the Freeman’s Journal and it feels like coming back into the old life again.“81 Nachdem er seine Collinsbiographie abgeschlossen hatte, konzentrierte sich Beaslai wieder auf sein Engagement für die irische Sprache. Er gründete eine neue Theatergruppe, für die er, wie schon vor der Revolution, zahlreiche Theaterstücke übersetzte, schrieb und inszenierte.82 Karriere im Freistaat zu machen, blieb denen vorbehalten, die pragmatisch genug waren, sich die neue Sprachstrategie der coercitio zu eigen zu machen. Egal ob sie nun revolutionäre Erfahrung hatten oder nicht, der Freistaat brauchte loyale Mitarbeiter, die effizient arbeiteten und die nötige Sachkenntnis hatten: Leute wie der Rechtsberater und spätere Attorney General Kennedy oder Sean Lester und die anderen Mitarbeiter des Freeman, die in der Propagandabehörde, später zum Teil auch im diplomatischen Dienst Karriere machten.83 In den Regierungsbehörden griffen die Minister pragmatisch auf das Know-how der britischen Verwaltungsangestellten und auf deren Verfahrensweisen zurück.84 In der Armee setzten sich funktionierende Offiziere gegenüber eigensinnigen Idealisten durch. Einer von ihnen war Eamon Price, jetzt zuständig für das neue Department for Military Statistics. Wie Beaslai war auch er schon im Unabhängigkeitskrieg Mitglied des Dubliner Hauptquartiers gewesen, hatte jedoch gelernt, sich anzupassen.85 Er und sein Mitarbeiters Hugh Smith, jetzt neuer Leiter der Army Publicity, organisierten das Department for Military Statistics als Dienstleister und Informationsquelle für die Führung der Freistaatsarmee.86 Eigeninitiative war dabei weder gefragt noch benötigt: Das Department stellte der Freistaatsführung nur Informationen zu Verfügung,
80 81 82 83 84 85 86
AN TOGLACH, vol.1, no.11, (Winter 1965), S. 16. NLI, BP, box 19, Diary, 6. September 1923; vgl. ebd., Tagebucheinträge ab August 1923. AN TOGLACH, vol.1, no.11, (Winter 1965), S. 2, Grabrede Mulcahys. KEOGH, Ireland and Europe, S. 11, 20, 23, 27, 53, 59; FANNING, Department of Finance, S. 103, 143 f., 147 f. FANNING, Department of Finance, S. 36–49. O’FARRELL, Who’s Who, S. 88, 189. NAI, D/T, S-3361, Memo, Aufgaben des Chief of General Staff, ca. April 1923; ebd., Memo zur Funktion der Militärbehörden, ca. April 1923; AA, MI/PR/7, Hugh Smith an Eamon Price, 9. Januar 1923.
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es reagierte nicht selbst auf diese Informationen. Es verfaßte tägliche und wöchentliche Übersichten über Kampfberichte in der Presse,87 erstellte aus Zeitungs- und Armeeberichten Statistiken über den Kriegsverlauf.88 Dazu gab das Department die offiziellen Erklärungen der Armee an die Presse weiter.89 Es beobachtete die irische und britische Tagespresse sowie die republikanische Untergrundpresse. Dabei registrierte es nicht nur anstößige Artikel, sondern bemühte sich, die allgemeine politische Ausrichtung der einzelnen Zeitungen einzuschätzen. Die „Irish Surveys“ des Department for Military Statistics beschrieben die Presselandschaft dabei mehr, als sie sie kommentierten.90 2. REPUBLIKANISCHE PROPAGANDA ZWISCHEN DROHPOLITIK UND UNTERGRUND-PUBLICITY Auch IRA-Aktivisten und republikanische Politiker registrierten, daß die Zensur in Dublin deutlich lockerer geworden war. Sie versuchten deshalb die Presse über Drohbriefe zu beeinflussen. Ich werde zeigen: Während die IRA mit dieser Politik zumindest zeitweise erfolgreich war, litt die republikanische Publicity nicht nur unter der freistaatlichen Verfolgung, sondern auch an internen Streitereien, einer chaotischen Organisation und der hohen Redundanz ihrer Propaganda. Auch Ernie O’Malley ist einer der Zeitgenossen, über die ich versuche, die politische Kultur des Bürgerkrieges zu entschlüsseln. Einmal repräsentiert er wie kaum ein zweiter den typischen „gunman“, den Guerillero, der lieber auf militärischen Aktionismus als auf politische Reflexion setzte. Gleichzeitig war O’Malley ein sehr untypischer „gunman“: Er investierte fast sein gesamtes Geld in Bücher, las europäische, auch sehr viel englische Literatur, und er gab sich gern als Intellektueller. Noch während seiner
87 88 89 90
Z.B.: AA, MI/PR/1, press analysis, ab 24. Oktober 1922 bis Ende 1924; UCD, MP, P7/B/155; Mulcahy an Price, 17. November 1922; 1. Dezember 1922. Army Archive, Civil War/Operations (AA, CW/OPS), 2; UCD, MP, P7/B/155; Price an Mulcahy, 15. November 1922, 30. November 1922. Z.B.: AA, MI/PR/2, official and unofficial statements issued to the Press, C[hief of the] G[eneral] S[taff], 12. Februar 1923–30. Mai 1923. UCD, MP, P7a/198, Irish Surveys; UCD, MP, P7a/161, summary of articles appearing in Irregular Propaganda; ebd., FitzGerald [?] an Mulcahy, ca. 5. November 1922; UCD, MP, P7a/197, Mulcahy an Price, 9. November 1922; Eamon Price an Mulcahy, 6. November 1922, 8. November 1922; AA, MI/PR/7, Hugh Smith an Eamon Price, 9. Januar 1923; AA, MI/PR/5, summary 8. November 1922; AA, MI/PR/3, summary 3. November 1922; survey of English Press, 8. November 1922–1. Mai 1923; ebd., general survey, 12. Dezember 1922– 18. August 1923.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Inhaftierung 1923 begann er, an seinen Memoiren zu schreiben, veröffentlichte später mehrere autobiographische Bücher zu Revolution und Bürgerkrieg.91 In diesen Büchern verherrlichte er nicht nur seine „Heldentaten“. Er lieferte auch einen differenzierten, wenn auch wenig selbstkritischen Einblick in das republikanische Denken. O’Malley wurde 1898 in Mayo geboren und studierte Medizin, als er 1916 am Osteraufstand teilnahm. Von da an, also bereits mit achtzehn Jahren, war er Berufsrevolutionär. Im Unabhängigkeitskrieg war er Anführer einer „Flying Column“ in Tipperary, neben Tom Barry der prominenteste Guerillero Irlands und schon zu Lebzeiten eine Legende. Von seinen Mitkämpfern wurde er wegen seiner hohen Ansprüche gleichzeitig geachtet und gefürchtet. Ab März 1921 war O’Malley Kommandant der neugegründeten Second Southern Division der IRA. Er nahm am Kampf um die Four Courts teil und machte danach eine steile Karriere: Liam Lynch, der Oberkommandierende der IRA, machte O’Malley zu seinem Stellvertreter und zum „Commanding O/C Nothern & Eastern Command“.92 Damit war O’Malley dafür verantwortlich, den Guerillakrieg in Leinster und theoretisch auch in Ulster zu koordinieren. Das war eine frustrierende, weil unmögliche Aufgabe: Ohne funktionierende Kommunikationskanäle und ohne direkten Einfluß auf die lokalen IRA-Offiziere, fühlte sich O’Malley nicht befördert, sondern zum „Schreibtischsoldaten“ degradiert. Nach dem Bürgerkrieg emigrierte der frustrierte und desillusionierte Revolutionär für zehn Jahre in die USA, kehrte dann nach Irland zurück und starb 1957 in Dublin.93 Als Schreibtischsoldat mußte sich der „gunman“ O’Malley widerwillig auf die politische Ebene des „spell-binding“ einlassen. Immer wieder schrieb er republikanische Gegendarstellungen und polemische Propagandaartikel an die Presse. Doch obwohl O’Malley ab Ende August die Presse immer wieder bedrohte, veröffentlichten die Zeitungen seine Artikel nicht.94 Auch der Versuch, Freeman und Independent über republikanische Sympathisanten in der Redaktion zu beeinflussen, scheiterte.95 Deshalb verschärfte O’Malley Ende September seinen Ton. Mit einer Morddrohung
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94 95
O’MALLEY, On Another Man’s Wound; ders., Singing Flame, ders., Raids and Rallys. Dublin 1982. UCD, FGP, P80/311, Ernie O’Malley an Patrick Hooper, 24. August 1922. Zusammengefaßt nach: BOYLAN, Dictionary, S. 302; Zu Ernie O’Malley siehe: ENGLISH, Inborn Hate; ders., Green on Red.; ders., Ernie O’Malley; vgl. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 220, 246, 254 f. UCD, FGP, P80/311, O’Malley an Patrick Hooper, 24. August 1922. AA, IRA/2, O’Malley an „X“, 6. September 1923.
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verband er seine Aufforderung: „[to] conduct your paper as a genuine Free Press, or to hand over your Journal to the Free State Authorities to be conducted officially by them.“96 Auch diese Briefe blieben wirkungslose Rhetorik. Seine Morddrohungen zeigten eher die Ohnmacht als die Entschlossenheit der IRA.97 Dazu kommt, O’Malley dachte gar nicht daran, ähnliche Befehle seines Vorgesetzten, des IRA-Oberkommandierenden Liam Lynchs, umzusetzen. So erinnert sich O’Malley in seiner Autobiographie: „I was ordered by Liam Lynch to capture and execute the editors of the Irish Independent and the Irish Times, but I did not carry out his order. [. . .] Why not the Cabinet and a few Bishops?“98 Auch O’Malley hielt, wie so viele IRA-Offiziere und Soldaten, sich selbst und nicht seinen Vorgesetzten für die geeignete Entscheidungsinstanz. Im Vergleich zur sich professionalisierenden Freistaatsarmee funktionierte in der IRA die Logik von „Befehl und Gehorsam“ noch viel weniger. Die IRA war immer noch eine politische Freiwilligenarmee, in der sich der Einzelne an „the Republic“ orientierte und nicht an seinem Vorgesetzten.99 Als O’Malleys Morddrohungen scheiterten, versuchte er mit einer realistischeren Strategie, ein moderateres Ziel zu erreichen. Er wechselte zu einer Realpolitik des Drohbriefeschreibens. Ende Oktober „informierte“ O’Malley die Redakteure: That a) the publication in your paper of the terms „Irregular“ and „Irregulars“ as applied to soldiers of the troops of the Irish Republican Army, either collectively or as individuals, and b) the practice of enclosing in inverted commas or brackets an officer’s title or rank, are forbidden as from this date.
Die Strafe von mindestens einem Pfund pro Verstoß würde mit allen Mitteln eingetrieben werden.100 O’Malley war mit Blick auf die freistaatliche Pressekontrolle realistisch genug, keine verbindliche Sprachregelung zu verlangen. Er bestand nicht auf republikanischen Termini, wie „IRA“, „Republican Army“, „Republicans“, „Free Staters“ oder gar „Freak Staters“.
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NLI, MS 13,098, O’Malley an W.V. Ryan, 21. September 1922. Zur Schwäche der IRA in Dublin siehe: HOPKINSON, Green, S. 211 f. O’MALLEY, Singing Flame, S. 175; vgl. UCD, MP, P7a/62, Lynch an O’Malley, 5. Oktober 1922. Endlose Beispiele für eigenmächtiges Handeln lokaler Offiziere in HOPKINSON, Green, S. 142–71. Besonders plakativ das Befehlschaos in der 2nd Southern Divison: ebd., S. 167, 208 f. Für die Zeit vor Ausbruch des Bürgerkrieges, ebd., S. 41. NLI, MS, 18896, O’Malley an Editor IRISH TIMES, 28. Oktober 1922; UCD, FGP, P80/281, O’Malley an Patrick Hooper, 28. Oktober 1922; vgl. O’MALLEY, Singing Flame, S. 177 f.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Diese Politik war vergleichsweise erfolgreich: O’Malley gelang es für ungefähr zwei Wochen, die offizielle freistaatliche Terminologie zu untergraben. Schon Anfang November klagte ein Mitarbeiter des Press Room Departments: „It is perfectly plain that these papers are ignoring the wishes of the Government authorities and are slavishly obeying the instructions they are pleased to receive from Mr. Ernie O’Malley and Co.“101 Aber nicht nur in der sensiblen Frage der Terminologie ließ sich die Presse von der orthodoxen vertragsbefürwortenden Version abbringen. „They [the newspapers] were continuing to publish unauthorised statements and articles regarding peace proposals, and [. . .] insert notices etc. issued by the Irregulars.“102 Dem Irish Independent unterstellte die Provisorische Regierung sogar, „that this paper is insidiously, rather than openly doing its best for the Irregulars.“103 Nun erwies es sich, wie ineffizient die Methode sein konnte, einen „libel“-Prozeß anzudrohen: Terminologische Probleme konnte die Provisorische Regierung damit nicht lösen, besonders dann nicht, wenn sich die Presse vor den angedrohten Strafen der IRA mehr fürchtete als vor der Freistaatsführung.104 Obwohl die Dubliner Tagespresse nach wie vor deutlich auf der vertragsbefürwortenden Seite stand, wirkte die Tendenz aus Sicht der Provisorischen Regierung bedrohlich. Sie befürchtete: „that the entire press will soon be tinged completely with the ‚COLOUR‘ of absolute IRREGULARISM“.105 Da die vertragsbefürwortende Seite ab August 1922 auch die Presse in Munster kontrollierte106, blieben im Untergrund hergestellte Flugblätter und Zeitungen das wichtigste Propagandamedium der Republikaner. Die Bedingungen, unter denen Brennan die republikanische Untergrundpropaganda in Dublin koordinierte, waren zwar kritisch, schienen bis November jedoch nicht völlig aussichtslos.107 Brennan war der letzte der drei wichtigsten republikanischen Propagandisten, der ab Mitte August noch in Dublin 101
102 103 104 105 106 107
UCD, FGP, P80/295, Memo re SUNDAY INDEPENDENT, 5. November 1922; Memo re Dublin Press 6. November 1922; vgl. ebd., Memo re Dublin Press, 27. Oktober–11. November 1922, with the Minister’s [FitzGerald’s] Complaints, 15. November 1922; UCD, MP, P7a/154, Memo re IRISH TIMES, 1. November 1922; NLI, BP, box 6, Beaslai an Sean O’Murthuile, 30. Oktober 1922. NAI, PG Minutes, PG 58a, 11. November 1922. UCD, P80/295, Memo re Dublin Press, 27. Oktober–11. November 1922, with the Minister’s [FitzGerald’s] Complaints, 15. November 1922. Vgl. O’MALLEY, Singing Flame, S. 178. UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 8. November 1922; NLI, BP, box 6, Beaslai an O’Murthuille, 30. Oktober 1922 (Hervorhebung im Original). NLI, BP, box 6, Memo on Work of Censor’s Department, ca. 15. August 1922. UCD, MP, P7a/62, O’Malley an Lynch, 22. September 1922; vgl. O’MALLEY, Singing Flame, S. 158 f.
II. Organisation von Propaganda und Zensur
297
arbeitete. Childers war seit dem Ende der Munster Republic im Süden Irlands isoliert,108 und Gallagher saß seit August im Mountjoy Gefängnis.109 Über die Publicity der IRA hatte Brennan keine Kontrolle. Zwar schätzte die IRA-Führung, allen voran Liam Lynch, die Bedeutung von Propaganda hoch ein, andererseits sah sie keinen Grund dafür, die Army Publicity den Routiniers der zivilen Propaganda unterzuordnen.110 Brennan hatte nie genügend Geld und bald nur noch wenig erfahrene Mitarbeiter. Denn die neugegründete freistaatliche Geheimpolizei CID111 und das vertragsbefürwortende Militär internierten immer mehr republikanische Politiker, darunter Anfang Oktober auch die meisten Mitarbeiter der Poblacht.112 Immer wieder beschlagnahmten die Freistaatsbehörden Druckmaschinen und unterdrückten Propagandablätter.113 Die zahlreichen Untergrundblätter Dublins wie Straight Talk, Dublin News, The Fenian, Freedom, Republican War Bulletin oder The Nation wurden Opfer dieser Verfolgung.114 Dabei hatten es diese Blätter auch ohne freistaatliche Verfolgung schwer genug: Sie waren meist nur als Matrizenabzüge vervielfältigt worden, erschienen unregelmäßig und ähnelten eher Flugblättern als Zeitungen. Ihre Auflage betrug meist um die 500 Stück, doch selbst die ließen sich bei der unattraktiven Aufmachung selten vollständig verkaufen.115 Die Poblacht war das einzige Dubliner Untergrundblatt, das das Jahr 1922 überlebte und bis auf zwei Wochen – nach den Verhaftungen im Ok108 109 110 111 112
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115
TCD, CP, 7852–55/ 1281, 1284, 1285, 1286, 1294, Childers an Mary Childers, 28. August 1922; 30. August 1922; 6. September 1922; 3. Oktober 1922. TCD, CP, 7847–52/386, Gallagher an Mary Childers, 22. August 1922. UCD, FGP, P80/763, Lynch an Liam Deasy, 27. August 1922; vgl. ebd., „M.T.“ for Lynch an Liam Deasy, 11. August 1922; ebd., O’Malley an Lynch, 3. September 1922. C.I.D.: Criminal Investigation Department; Dazu vgl. HOPKINSON, Green, S. 138, 225. AN POBLACHT, 6. Oktober 1922; 21. Oktober 1922; DAILY BULLETIN, 19. Oktober 1922; AA, CW/OPS/8, Report Eastern Command H.Q., 1. Januar 1923; UCD, FGP, P80/763, O’Malley an Lynch, 22. September 1922; TCD, CP, 7847–52/386, Gallagher an Mary Childers, 22. August 1922. THE FENIAN, 26. August 1922; 10. September 1922; IRISH WORLD, 11. November 1922, S. 3. Im einzelnen ist schwer nachweisbar, warum ein republikanisches Propagandablatt nicht mehr erschien. Die Kurzlebigkeit der Blätter spricht jedoch für sich: PLAIN PEOPLE, 9. April–2. Juli 1922; STRAIGHT TALK, 8. November 1922–28. Dezember 1922, insgesamt nur sechs Ausgaben; DUBLIN NEWS, 23. November 1922–16. Dezember 1922, insgesamt nur drei Ausgaben; THE FENIAN, 29. Juli 1922–3. Oktober 1922; FREEDOM, 29. August 1922–12. November 1922; REPUBLICAN WAR BULLETIN, 8. August–23. Dezember 1922; no. 35 erschien am 8. November 1922, danach gab es nurmehr vier Ausgaben; THE NATION 12. August 1922–18. November 1922. UCD, OMP, P17A/144, Cumman na mBan-Publicity an O’Malley, Publicity report for week ending, 16. September 1922; vgl. ebd., reports for weeks ending, 9. September 1922– 6. Dezember 1922.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
tober – regelmäßig erschien. Die Poblacht wurde täglich in einer Auflage von 3 000 bis 5 000 Stück gedruckt.116 Sie konnte jeder, der wollte, ohne größere Schwierigkeiten auf den Dubliner Hauptstraßen kaufen. Weniger aktuelle Pamphlete ließ Brennan heimlich bei drei verschiedenen Dubliner Druckern produzieren. Von ihnen konnte er im Oktober 1922 noch um die 100 000 Stück pro Woche herstellen.117 Die offensichtliche Präsenz der Poblacht in Dublin befremdete Regierungsanhänger, Briten und Unionisten gleichermaßen.118 Doch solange die Provisorische Regierung an ihrer Politik des „getting back to normal“ festhielt, solange sie vor drastischen Maßnahmen zurückschreckte, konnte sie die Poblacht von der Konsumentenseite her kaum unterdrücken. Wo das vertragsbefürwortende Militär und die Polizei Käufer der Poblacht einschüchterten, Zeitungshändler und Zeitungsjungen verhörten und verprügelten, untergruben sie die „liberal rights“ Legitimation der Regierung und lieferten der republikanischen Propaganda Material.119 Als am 17. November 1922 freistaatliche Truppen einen Zeitungshändler, der die Poblacht verkauft hatte, verhafteten, mußte Mulcahy auf eine parlamentarische Anfrage hin sogar öffentlich zugeben, daß die Poblacht offiziell gar nicht verboten sei. Da die Freistaatsführung sich in diesem Fall scheute, jenseits konstitutioneller Methoden zu handeln, blieb ihr nichts anderes übrig, als den Zeitungshändler wieder zu entlassen.120 Das größte Problem für die republikanischen Propagandisten waren die katastrophalen Kommunikationsmöglichkeiten. So wußte O’Malley, Schnittstelle zwischen IRA-Chef Liam Lynch und Brennan, und damit zwischen militärischer und ziviler Propaganda, nicht einmal, wer den Fenian, geschweige denn wer die anderen republikanischen Propagandablätter herausgab.121 Nachdem O’Malley den Fenian Ende September für wenige Tage
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FLK, DeV, 241, Robert Brennan an de Valera, 26. Oktober 1922; ebd., DeV, 307, Publicity Report, Januar 1923, ca. 2. Februar 1923. FLK, DeV, Brennan report on publicity, 30. November 1922. UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 18. November 1922; NAI, D/T, S-1784, Cosgrave an Winston Churchill, 29. September 1922; Eason’s Archive, Charles Eason an Beaslai, 4. Oktober 1922; UCD, MP, P7a/161, FitzGerald [?] an Mulcahy, ca. 5. November 1922; UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 18. November 1922; MORNING POST, 31. August 1922, S. 6; UCD, MP, P7a/62, Lynch an O’Malley, 28. September 1922. REPUBLICAN WAR BULLETIN, 13. Oktober 1922, AN POBLACHT-WAR NEWS, 25. September 1922; 15. November 1922; 12. Dezember 1922; THE FENIAN, 10. September 1922. DAIL DEBATES, Mulcahy, 7. Dezember 1922, S. 28; NAI, D/T, S-1899, parliamentary question of Darrell Figgis, 7. Dezember 1922; UCD, FGP, P80/338, Mulcahy an FitzGerald, ca. 5. Dezember 1922. UCD, FGP, P80/763, O’Malley an Lynch, 3. September 1922.
II. Organisation von Propaganda und Zensur
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an das Informationsnetz der IRA angeschlossen hatte, unterdrückte der CID das Blatt, verhaftete wenig später auch O’Malley.122 Dabei ist Informationsnetz sicher der falsche Ausdruck: Noch vergleichsweise einfach ließen sich Nachrichten aus und in die Dubliner Gefängnisse schmuggeln.123 Dagegen waren die lokalen IRA- Offiziere und Cumman na mBan-Aktivistinnen nur schwer dazu zu bewegen, regelmäßig Berichte zu schreiben.124 Wenn es wirklich einmal Neuigkeiten aus der Provinz gab, erreichten sie die Propagandisten meist erst dann, wenn sie nicht mehr aktuell waren. Nachrichten von Dublin in die Provinz zu verschicken, war lange Zeit noch schwerer.125 So war die Propaganda hauptsächlich auf die Dubliner Tagespresse angewiesen, um an aktuelle Informationen zu gelangen. Dazu kam die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Untergrundblättern: Um Eifersüchteleien zwischen den verschiedenen Redakteuren zu vermeiden, schickte Brennan jede Information an alle ihm bekannten Propagandisten, „resulting in the three papers [Poblacht, Fenian, Republican War Bulletin] containing the one news.“126 Darüber hinaus schrieben alle republikanischen Blätter schon publizierte Neuigkeiten von einander ab, wiederholten die gleichen Artikel oft wörtlich.127 Kein Wunder, daß sich die ohnehin wenigen Leser immer wieder beschwerten. Kein Wunder, daß die Leiterin der Cumman na mBan-Publicity zu der Einsicht gelangte, ihre Republican War Bulletin sei „of no use“.128 122 123
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UCD, FGP, P80/763, O’Malley an Lynch, 22. September 1922; THE FENIAN, 3. Oktober 1922. So auch die Einschätzung der vertragsbefürwortenden Führung: DAIL DEBATES, Ernest Blythe, 8. Dezember 1922, S. 86; O’MALLEY, Singing Flame, S. 205; GREAVES, Liam Mellows, S. 364. NAI, D/T, S-1859, Dept. O/C Field H.Q. South Wexford Brigade an O/C 3rd Battalion, 6. September 1922; UCD, OMP, P17a/144, Brigid M. Nadtain to all branches of Cumman na mBan, 14. August 1922; ebd., Cumman na mBan-Publicity an O’Malley, Publicity report for week ending, 16. Dezember 1922. Z.B. NAI, D/T, S-1859, Field H.Q. South Wexford Brigade an O/C 3rd Battaallion, 6. September 1922; UCD, MP, P7a/62, O’Malley an Lynch, 24. August 1922; 9. September 1922; 22. September 1922; Lynch an Southern Division A[djutant]/G[eneral], 29. Februar 1922; UCD, FGP, P80/763, O’Malley an Lynch, 3. September 1922; GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 98; vgl. O’MALLEY, Singing Flame, S. 147, 168, 194. UCD, OMP, P17a/144, Cumman na mBan-Publicity an O’Malley, Publicity report for week ending, 24. September 1922. Vgl. exemplarisch: Artikel aus AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 16. Dezember 1922, S. 1 in: REPUBLICAN WAR BULLETIN, 23. Dezember 1922 und AN POBLACHT-WAR NEWS, Christmas 1922. Die AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION bestand gut zur Hälfte aus Beiträgen der AN POBLACHT-WAR NEWS. Vgl. auch GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 99. UCD, OMP, P17a/144, Cumman na mBan-Publicity an O’Malley, Publicity report for week ending, 2. Dezember 1922.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Auch ohne die direkten Dopplungen war die republikanische Propaganda hochgradig redundant. Propagandacoups wie die Veröffentlichung von Beaslais Zensurrichtlinien129 oder Indiskretionen des britischen Geheimdienstes in Irland130 hatte die republikanische Propaganda selten zu bieten. Stattdessen wiederholte die Propaganda mit ermüdender Regelmäßigkeit dieselben Themen: Republikanische Siege, unsoldatisches Verhalten und Greueltaten des Freistaats, mißhandelte Gefangene, überfüllte Gefängnisse, Pressemonopol der Vertragsbefürworter. Waren das schon kaum mehr Neuigkeiten, hatten viele Beiträge überhaupt keinen aktuellen Bezug: historische Essays über Märtyrer und Selbstopfer, endlose Grundsatzartikel zum Vertrag, zum Bürgerkrieg als Freiheitskampf und zur Wahl vom Juni als Votum für Frieden und eine Koalitionsregierung. Die Artikel wiederholten dabei immer wieder die gleichen Argumente, waren häufig polemisch und unglaubwürdig übertrieben.131 Ohne aufregende neue Geschichten lief die Propaganda im September und Oktober 1922 Gefahr, sich totzulaufen. Teil der Politik des „getting back to normal“ war, daß die Führung der Vertragsbefürworter schrittweise die Zensur abschaffte und durch eine freiwillige Vorzensur und das Androhen von „libel“-Prozessen ersetzte. Der Effekt einer lockeren Vorzensur blieb so erhalten, nur daß die Verantwortung und Arbeit des Zensierens nun bei den Redaktionen selbst lag. Die Spielräume, die dadurch entstanden, nutzte nicht nur die Presse, sondern auch der IRA-Aktivist Ernie O’Malley, dem es zumindest zeitweise gelang, mit Hilfe von Drohbriefen, die offizielle freistaatliche Terminologie zu untergraben. Auch der republikanischen Untergrundpropaganda gelang es noch immer, zahlreiche Dubliner zu erreichen. Trotz Verfolgung, trotz chaotischer Kommunikationsstrukturen und trotz interner Eifersüchteleien konnte Brennan täglich zwischen 3 000 und 5 000 Exemplare der Poblacht sowie wöchentlich rund 100 000 Stück Pamphlete herstellen lassen. Als die Führung der Vertragsbefürworter die Zensur umorganisierte, verlor Beaslai nicht nur seine Machtstellung als Zensor, sondern auch die Kontrolle über die Army Publicity. Sein Karriereende war dabei bezeichnend für das Schicksal vieler ehemaliger Revolutionäre im vertragsbefürworten-
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CORK EXAMINER, 2. August 1922, S. 5; REPUBLICAN WAR BULLETIN, 12. August 1922, S. 2; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 6. Januar 1923. NAI, D/T, S-1784, Dublin District weekly Intelligence summary no. 176, for week ending, 28. Juni 1922; REPUBLICAN WAR BULLETIN, 17. September 1922, S. 2; AN POBLACHTWAR NEWS, 19. September 1922. Exemplarisch: CORK EXAMINER, 12. Juli 1922, S. 5; IRISH WORLD, 13. September 1922; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 23. September 1922; UCD, FGP, P80/807, Republican Publicity Committee Wexford, 11. August 1922, S. 1.
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda
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den Lager: Idealismus, Eigeninitiative und auch Selbstherrlichkeit hatten sie während der Revolution zu guten Untergrundorganisatoren und Guerilleros gemacht. Die gleichen Eigenschaften machten sie nun zu Querulanten in einem anonymer und effizienter werdenden Staatsapparat, der immer mehr auf Ausgleich statt auf Konfrontation mit England setzte. In der republikanischen IRA orientierten sich die einzelnen Aktivisten immer noch primär an „the Republic“ und erst dann an ihren Vorgesetzten. In der Freistaatsarmee löste dagegen die Sprache von Befehl und Gehorsam die Sprache der Politik ab. Während viele Ex-Revolutionäre ihre Stellung verloren, machten jetzt zunehmend Bürokraten, Juristen und andere Fachleute politische, militärische und administrative Karrieren.
III. DIE LEGITIMATORISCHE OFFENSIVE DER FREISTAATSPROPAGANDA 1. PUBLIC SAFETY ACT UND AMNESTIE Weil die Freistaatstruppen den Guerillakrieg der IRA nicht unter Kontrolle bekamen, wurde die Propaganda des „getting back to normal“ schnell unglaubwürdig. Die Führung der Vertragsbefürworter reagierte darauf zunächst mit einer legitimatorischen Offensive: Einerseits verabschiedete sie einen Public Safety Act, der der IRA mit Exekutionen drohte. Andererseits bot sie den einzelnen IRA-Aktivisten eine auf eine Woche befristete Amnestie an. Anders als die „will of the people“- und „war against the people“-Rhetorik setzte sich die neue Kampagne von „reconstruction“ und „getting back to normal“ in der Dubliner Tagespresse kaum durch. Schließlich lebte die Presse davon, Neuigkeiten zu veröffentlichen, nicht Wunsch- und Zielvorstellungen der Regierung. Und außer den Verfassungsdebatten lieferte die konstruktive Regierungsarbeit keine Schlagzeilen. Es gab sonst keine konstruktive Regierungsarbeit. Auflagefördernde Neuigkeiten brachte nach wie vor der Krieg: die Guerillaaktionen der IRA und die militärischen Operationen der vertragsbefürwortenden Armee.132 Anders als es ihr die republikanische Propaganda immer wieder vorwarf, wußten die Redakteure genau um den „market price of truth.“133
132 133
Vgl. IRISH TIMES, IRISH INDEPENDENT und FREEMAN’S JOURNAL im September und Oktober 1922: Leitartikel, je S. 4 und Titelgeschichte, je S. 5. EIRE, 3. März 1923, S. 5; vgl. AN POBLACHT-WAR NEWS, 25. Oktober 1922.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Je länger die Provisorische Regierung den Guerillakrieg nicht unter Kontrolle bekam, um so unglaubwürdiger wurde die Rhetorik des „getting back to normal“. Sie wirkte fast ebenso fiktiv wie „the Republic“. Doch selbst ohne Aussicht auf Erfolg war „the Republic“ immer noch „the Republic“. „Getting back to normal“ war dagegen ohne Erfolgsaussichten eine offensichtliche Lüge und damit eine kontraproduktive Propagandastrategie. Nicht nur die republikanische Untergrundpresse merkte, daß sich der Kontrast zwischen der „getting back to normal“-Rhetorik und dem andauernden Bürgerkrieg gegen die Provisorische Regierung wenden ließ.134 Faktische Macht, schnelle militärische Erfolge, die Erwartung von „reconstruction“ und die materiellen Vorteile des Vertrages, das waren bisher die besten Argumente der Vertragsbefürworter für den Freistaat gewesen – auch wenn die freistaatliche Propaganda das meist national verschlüsselt ansprach.135 Kommentare, die die IRA für die Arbeitslosigkeit und den wirtschaftlichen Stillstand attackierten, untergruben daher indirekt auch die Legitimität der Provisorischen Regierung. In den Worten des County Councils in Clare: „Get on with the work or get out!“136 Umgekehrt ermutigte solche Kritik die Regierung aber auch, härter gegen die IRA vorzugehen. Und ganz abgesehen von propagandistischen Erwägungen: Wozu hatten ihre Mitglieder den Vertrag akzeptiert, wenn nicht um zu regieren, Macht auszuüben, eine nationale Wirtschafts-, Kultur- und Innenpolitik durchzusetzen? Deshalb erwog die Provisorische Regierung schon bald „drastische“ Maßnahmen. Sie begann bereits am 27. September 1922 die Lesung einer Public Safety Bill im dritten Dail. Wenig später verabschiedete der Dail das Ausnahmegesetz: Militärische Sondergerichte durften jetzt für illegalen Waffenbesitz und eine ganze Reihe anderer Vergehen Strafen wie Zwangsarbeit, Gefängnis oder den Tod verhängen.137 Die Regierung ließ dabei gegen den Widerstand der Opposition namentlich über die Public Safety Bill abstimmen. So garantierte sie Parteidisziplin und verhinderte, daß einzelne
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UCD, MP, P7a/198, Irish Survey, 11. November 1922; UCD, MP, P7/B/321, O’Higgins, Memo for Defence Council, ca. 10. Januar 1923; Hogan, Memo for Defence Council, 11. Januar 1923; UCD, MP, P7a/78, Lieut. Barry, Memorandum on situation in Cork, 24. Januar 1923; vgl. auch AA, CW/OPS/1, Daily Intelligence Report, 2nd Southern Division, 10. Oktober 1922; vgl. HOPKINSON, Green, S. 222; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 4. November 1922, S. 3; AN POBLACHT-WAR NEWS, 25. Oktober 1922. UCD, MP, P7a/78, Lieut. Barry, Memorandum on situation in Cork, 24. Januar 1923, schätzt die Situation in Cork nach dem militärischen Erfolg der Freistaatstruppen als enthusiastisch vertragsbefürwortend ein; vgl. GALWAY OBSERVER, 19. August 1922, S. 4; WEXFORD PEOPLE, 5. August 1922, S. 2. NAI, D/T, S-4522, Clare County Council an Provisorische Regierung, 4. November 1922. HOPKINSON, Green, S. 181; VALIULIS, Mulcahy, S. 176 f.
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda
303
Abgeordnete sich im nachhinein von den unpopulären Maßnahmen distanzieren konnten.138 Im Vergleich zur britischen Verwaltung im Jahr 1920 hatte die Provisorische Regierung bei ihrer Zwangspolitik einen gewaltigen Vorteil: Sie konnte ihre Zwangsmaßnahmen von einem irischen Parlament demokratisch legitimieren lassen. Dennoch blieb es für sie schwer, ihrer britisch konnotierten Zwangspolitik einen nationalen Kontext zu geben. Ungewöhnlich entschlossen gab sich dabei das Propagandablatt Free State. Es versuchte, die Unpopularität eventueller Exekutionen durch einen betonten Mut zum Unpopulären abzufangen: „If executions are necessary – and surely all will pray that they shall not be – they must be carried with no fear of the chimera of public reaction.“139 Das Propagandablatt Young Ireland, vor allem aber die meisten Regierungsmitglieder, wie Regierungschef Cosgrave und FitzGerald, argumentierten dagegen schwammiger. Sie sprachen selten konkret von Exekutionen, sondern umschrieben sie meist als „persistance in the work of restoring ordered government“, als „firmness“ oder am häufigsten als „stern measures“.140 Diese „stern measures“ rechtfertigten sie dann mit einem Selbstverteidigungsrecht der Nation und mit der Sicherheit der Truppen.141 Die republikanische Propaganda etikettierte die Public Safety Billy als „murder bill“, die lediglich das Morden der Armee legalisieren solle.142 Doch während die republikanische Kritik kaum Leser fand, erreichte der Protest von prominenten Labourabgeordneten, wie die von Thomas Johnson oder Cathal Shannon, ein großes Publikum. Das galt genauso für kritische Mitglieder der Regierungsfraktion, wie den Unterzeichener des angloirischen Vertrages und Ex-Außenminister Gavan Duffy; denn die Presse veröffentlichte ihre kritischen Parlamentsreden häufig in ganzer Länge. Die Redakteure wußten, daß, solange ihnen nur ein „libel“-Prozeß drohte, das Risiko denkbar gering war. Die gängige „libel“-Rechtsprechung garantierte fast automatisch Straffreiheit, weil sie die Wiedergabe von Parlamentsdebatten privilegierte.143 So konnte die Presse wiedergeben, wie die Labourabgeordneten gegen verfassungswidrige Gerichte oder eine drohende Militär-
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DAIL DEBATES, 27. September 1922, S. 882. FREE STATE, 7. Oktober 1922, S. 2. YOUNG IRELAND, 4. November 1922, S. 4. DAIL DEBATES, Cosgrave, 27. September 1922, S. 805. AN POBLACHT-WAR NEWS, 29. September 1922, 25. Oktober 1922. Siehe: „libel“, in: Encyclopaedia Britannica 1910. Bd. 16, S. 536; vgl. exemplarisch: IRISH INDEPENDENT, 29. September 1922, S. 5.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
diktatur protestierten.144 Dazu warnten die Abgeordneten die Regierung vor den propagandistischen Risiken „britischer“ Zwangsmaßnahmen und vor der Eigendynamik republikanischen Leidens seit 1916: „The first execution [will] strengthen the Republicans both morally and materially.“145 Selbst wenn sich die Regierungsabgeordneten von diesen Warnungen unbeeindruckt zeigten, fürchteten sie sehr wohl die „chimera of public reaction.“ Sie wußten genau wie die Labourabgeordneten, daß auch demokratisch legitimierte Hinrichtungen unpopulär und „britisch“ waren. Auch sie fürchteten, daß Exekutionen „lauwarme“ Anhänger in die Arme der „Irregulars“ treiben könnten.146 Deshalb sollte eine Reihe von Maßnahmen die legitimatorischen Risiken von Exekutionen abfangen, sie bestenfalls sogar überflüssig machen. Zunächst beschränkte sich die Regierung darauf, ihre Staatlichkeit dadurch zu demonstrieren, daß sie die Zwangsmaßnahmen nur androhte. Mit dem Umsetzen des Public Safety Act ließ sie sich Zeit: Erst über zwei Wochen später kündigte die Armee offiziell die Gründung von Militärgerichten an. Danach dauerte es weitere drei Wochen, bis die Militärgerichte ihre Arbeit aufnahmen. Doch auch dann passierte weitere zwei Wochen nichts: Bis zum 15. November 1922 hatten die Gerichte nur einen einzigen IRA-Aktivisten zu Zwangsarbeit verurteilt.147 Bevor die Militärgerichte zu arbeiten begannen, erließ die Führung der Vertragsbefürworter eine Amnestie für alle IRA-Aktivisten. Wer seine Waffen abgab und sich verpflichtete, nicht mehr gegen die Regierung zu kämpfen, konnte straffrei nach Hause gehen.148 Die Freistaatsführung kalkulierte, daß die Kombination von drohender Todesstrafe und Amnestie die IRA demoralisieren würde. Sie hoffte, daß zumindest ein Teil der IRA nun aufgeben werde. Dennoch wandte sich die Amnestie weniger an die IRA als an die irische Bevölkerung: Sie sollte als „Act of Grace“ die freistaatlichen Zwangsmaßnahmen entschärfen und demonstrieren, wie großzügig und staatsmännisch die Regierung war. „I believe“, so schrieb der stellvertretende Rechtsberater der Regierung, Kevin O’Shiel, „such an amnesty would
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DAIL DEBATES, Thomas Johnson, 27. September 1922, S. 812, 863 f.; Cathal Shannon, 27. September 1922, S. 863 f.; William Davin, 27. September 1922, S. 865, 870 f. VOICE OF LABOUR, 30. September 1922, S. 1, 4; DAIL DEBATES, Cathal Shannon, 27. September 1922, S. 830; Gavan Duffy, 27. September 1922, S. 872 f.; vgl. skeptisch auch die IRISH TIMES, 28. September 1922, S. 4. UCD, KP, P4/542, Kevin O’Shiel, Memo on question of amnesty, 28. September 1922. FREEMAN’S JOURNAL, 11. Oktober 1922, S. 1. Abdruck der offiziellen Proklamation, in: FREEMAN’S JOURNAL, 7. Oktober 1922, S. 9; HOPKINSON, Green, S. 181.
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda
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have a very good effect on public opinion and would certainly lessen captious criticism of the New Bill.“149 Die Amnestie ermöglichte eine freistaatliche Argumentation, nach der die IRA-Aktivisten, die weiterkämpften, selbst die Schuld an ihrem Schicksal trugen.150 So gesehen, hatte die republikanisch-kommunistische Worker’s Republic recht, wenn sie argumentierte, die Amnestie sei kein Zeichen der Gnade, sondern ein Startsignal für den kommenden Terror.151 2. DAS KATHOLISCHE ARGUMENT Zusätzlich zu Public Safety Act und Amnestie erreichte die Provisorische Regierung, daß die katholischen Bischöfe die IRA exkommunizierten. Ich werde zunächst zeigen, wie die katholischen Bischöfe argumentierten, als sie dem Freistaat eine katholische Legitimität verliehen. Dann werde ich untersuchen, wie die Republikaner mit der Exkommunikation umgingen: Änderten sie ihren religiösen oder ihren politischen Glauben? Wie und mit welchen Verbündeten wehrten sie sich gegen die katholischen Bischöfe? a) Katholische Kirche und Bürgerkrieg: nationale oder theologische Argumentation? Im Irland der Zwanziger Jahre war Religion für die meisten Iren ein Bestandteil des täglichen Lebens. Weite Teile der Bevölkerung waren tief religiös. Durch die „devotional revolution“ der Jahre 1850–1870 hatte sich die religiöse Bindung der Iren an die katholische Kirche noch verstärkt. Fast alle Katholiken, darunter auch die späteren Revolutionäre, waren auf kirchlichen Schulen erzogen worden, das oft tägliche Beten eines Teils des Rosenkranzes und der sonntägliche Kirchgang waren der Regelfall.152 Mit dem Nationalismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts teilte die katholische Kirche das antithetische Weltbild und die Angst vor dem als materiell, protestantisch, urban und unmoralisch definierten England. Katholischer Antimaterialismus und Antimodernismus, katholische Sexualmoral und Erziehung prägten das politische und religiöse Denken fast aller Revolutio-
149 150 151 152
UCD, KP, P4/542, Kevin O’Shiel, Memo on question of amnesty, 28. September 1922. FREE STATE, 7. Oktober 1922, S. 2; IRISH TIMES, 12. Oktober 1922, S. 5. WORKER’S REPUBLIC, 14. Oktober 1922, S. 3. PATRICIA TWOMEY-RYAN, The Church, Education and Control of the State in Ireland, in: Eire/Ireland, XXII, 3, (1987), S. 92–114, hier: S. 98–103; EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 77–80, insbes., S. 77; COMERFORD, Ireland 1850–1870, S. 387; LYONS, Culture and Anarchy, S. 80; Roy Foster beobachtet erst für die fünfziger und sechziger Jahre eine schleichende Säkularisierung Irlands: ders., Modern Ireland, S. 386 f., 418, 569–75.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
näre. In diesem Sinn war die Revolution auch eine katholische Revolution gewesen.153 Auf Revolutionäre und Bevölkerung hatte die katholische Kirche einen großen Einfluß. Sie konnte konkurrenzlos ein entscheidendes legitimatorisches Feld besetzen: das katholische Argument. Die katholische Kirche schien den Zeitgenossen Wissen um Gottes Willen, ja Einfluß auf Gottes Segen zu haben. Und die Bischöfe waren Experten, wenn es um eine für die Revolutionäre entscheidende Frage ging: die moralische Verbindlichkeit des Eides auf die Republik. Mit ihrer bischöflichen Lehrautorität versuchten sie, dieses Problem zu Gunsten der Vertragsbefürworter zu entschärfen und erklärten: „no oath can bind any man to carry on a warfare against his own country in circumstances forbidden by the law of God.“154 Aus Sicht der irischen Bischöfe wandte sich eine weitere Revolution weder gegen eine unerträgliche Tyrannei, noch hatte sie Aussicht auf Erfolg. Damit fehlten der vertragsablehnenden Politik aus Sicht der Bischöfe die beiden entscheidenden Kriterien für einen theologisch legitimierbaren Umsturz.155 So sprachen sich die meisten katholischen Bischöfe und viele Priester schon im Dezember 1921 offen für den Vertrag aus. Häufig bemühten sie sich, vor der entscheidenden Abstimmung in Dail Eireann einzelne Abgeordnete zu beeinflussen.156 Ende April 1922 verurteilten die katholischen Bischöfe in einem Hirtenbrief erstmals die gewaltsamen Übergriffe der IRA.157 Nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges wurde die Allianz zwischen katholischer Kirche und Provisorischer Regierung noch enger. Die katholische Kirche wurde so neben der Dubliner Tagespresse und der Provinzpresse die wichtigste propagandistische Stütze der Vertragsbefürworter.158 Im Oktober 1922 griffen die katholischen Bischöfe zu ihrer stärksten religiösen Waffe: Zeitlich abgestimmt auf den Beginn der Amnestiewoche und kurz vor der offiziellen Proklamation der Militärgerichte exkommunizier-
153
154 155 156 157 158
GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 10, 57–77, 126–8; LYONS, Culture and Anarchy, S. 81 f.; BOYCE, Nationalism, S. 325–7; ENGLISH, inborn hate, S. 198. Vgl. exemplarisch für Mulcahy: VALIULIS, Mulcahy, S. 1 f. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/105, Pastoral letter, S. 9; AN POBLACHT, 10. Januar 1922, S. 1. FITZPATRICK, Undoing, S. 106; BOYCE, Nationalism, S. 325–7; vgl. MURRAY, Voices, S. 144–6. KEOGH, Vatican, S. 78, 80–2; vgl. CATHOLIC BULLETIN, supplement 1921, S. 7; LONGFORD und O’NEILL, De Valera, S. 168. IRISH ECCLESIASTICAL RECORD, Juli 1922, S. 80–2; CATHOLIC BULLETIN, Juli 1922, supplement. HOPKINSON, Green, S. 182; MURRAY, Voices, S. 139, 162; vgl. auch die Einschätzung von O’MALLEY, Singing Flame, S. 145; LANKFORD, Hope, S. 233.
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda
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ten sie in einem Hirtenbrief die IRA. Am 22. Oktober 1922 mußten die Gemeindepfarrer in ganz Irland den Hirtenbrief von den Kanzeln verlesen.159 Die katholische Kirche hatte damit in den Städten und in der Provinz ein organisatorisches Netz, von dem vertragsbefürwortende und erst recht vertragsablehnende Propagandisten nur träumen konnten. Zusätzlich veröffentlichten und kommentierten die Dubliner Tageszeitungen und die meisten Provinzblätter Teile des Hirtenbriefes schon vorab.160 Die religiöse Lehrmeinung beziehungsweise politische Propaganda des Hirtenbriefes erreichte so fast die gesamte katholische und damit nationale Bevölkerung. Zumindest aus zweiter Hand erreichte sie auch diejenigen IRA-Guerilleros, für die ein sonntäglicher Kirchgang im Regelfall zu gefährlich war. Die Ehrfurcht vor der kirchlichen Autorität und die Angst um ihre unsterbliche Seele sollten zumindest einen Teil der niederen Ränge und der Mannschaften der IRA zur Aufgabe bewegen. Wie die Amnestie wandte sich aber auch der Hirtenbrief vor allem an die Bevölkerung. Er sollte den legitimatorischen Schaden der angekündigten Zwangspolitik abfangen und der Bevölkerung zeigen, welche Seite im Bürgerkrieg den kirchlichen, ja den göttlichen Segen hatte.161 Da gerade auf der Ebene des weniger reflektierten Massennationalismus katholisch und national fast Synonyme waren, bedeutete katholische Legitimität automatisch auch nationale Legitimität für den Freistaat.162 Und katholische Legitimität garantierte etwas, was dem kopfgesteuerten Nationalismus der Vertragsbefürworter verlorengegangen war. Sie durchbrach, wie auch der republikanische Propagandist Aodh de Blacam erkannte, das republikanische Monopol auf Spiritulität: I feel Ireland can never be free till we win the spiritual battle. In the conflict with England, it was spirit against force, and Kevin Barry and MacSwiney carried us forward by spiritual power. The collapse last December [i.e. der Vertrag] was spiritual, not material. But we cannot have spiritual solidarity while the Bishops are against us.163
Wie konstruierten die Bischöfe katholische Legitimität? Fast möchte ich sagen: gar nicht. Der Hirtenbrief argumentierte fast ausschließlich politisch, war direkte nationale Propaganda. Außer dem allgemeinen Verweis auf die Gehorsamspflicht gegenüber der gottgesetzten Obrigkeit gab es keine theo159 160 161 162 163
TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/105, Pastoral letter; HOPKINSON, Green, S. 182. Exemplarisch: FREEMAN’S JOURNAL, 11. Oktober 1922, S. 4. Einen expliziten Zusammenhang zur Amnestie stellt ein Artikel in FREE STATE, 14. Oktober 1922, S. 2, her. MACDONAGH, Ambiguity, S. 114. UCD, KP, P4/292(11), Aodh de Blacam an Hannah Sheehy-Skeffington, 27. Juli 1922.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
logischen Argumente, keinen Hinweise auf Bibel, Kirchenlehrer oder Kirchendogmen, nur zwei Zitate der Heiligen Paulus und Petrus. Was theologisch war, war der Verweis auf die eigene Lehrautorität, die Bitte um Gebete und vor allem die Art, in der die Bischöfe ihre politischen Schlußfolgerungen sanktionierten: „for it must not be forgotten that killing in an unjust war is as much murder before God as if it were no war.“164 In den meisten Passagen drängte sich die Analogie zur vertragsbefürwortenden Propaganda deutlich auf. Die Bischöfe argumentierten mit dem „war against the people“165, unterstellten den Republikanern materielle und kriminelle Motive : „Greed for land, love of loot and anarchy.“166 Das reichte bis zur Terminologie: „National forces“, „National Government“, „Government set up by the Nation“, „revolt“, „disorder“, „Irregulars“. National-politische und katholische Argumentation fielen so in eins. Nur an einer Stelle schien zwischen den Zeilen auch Kritik an der Provisorischen Regierung durch: „We read with horror of the many murders recorded in the Press“, ließ sich auch auf unautorisierte Repressalien und Hinrichtungen durch undisziplinierte vertragsbefürwortende Truppen beziehen.167 War der Hirtenbrief hauptsächlich theologisch motiviert, dann war die Argumentation sehr unglücklich gewählt. War der Hirtenbrief ein als religiöse Lehrmeinung getarntes Stück freistaatlicher Propaganda, dann war die Tarnung nicht besonders gut. Alles deutet darauf hin, daß die Bischöfe das Organisationsnetz der Kirche nutzten, um ihren politischen Standpunkt bis in die tiefste Provinz hinein zu verbreiten. Diesen politischen Standpunkt sanktionierten sie dann durch ihre theologische Lehrautorität. Auch die Bischöfe merkten, wie naheliegend dieser Vorwurf war. Ihr Dementi, „that in all this there is no question of mere politics“ bestätigte die republikanische Propaganda mehr, als daß sie sie widerlegte.168
164 165 166 167 168
TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/105, Pastoral letter, S. 4; vgl. fast wortgleich ebd., S. 7; vgl. auch ebd., S. 10. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/105, Pastoral letter, S. 1: „[The „Irregulars“] have chosen to attack their own country as if she were a foreign Power.“ Ebd., S. 5; vgl. ebd., S. 4. Ebd., S. 9; AN POBLACHT-WAR NEWS, 23. Oktober 1922; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 250. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/105, Pastoral letter, S. 7 f. In diesem Zusammenhang bemühten die Bischöfe sogar einen Heiligen: Sie zitierten Petrus mit: „Obey God rather than men“: ebd., S. 8.
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda
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b) Republikaner und Exkommunikation: Glaube, Ungehorsam, Verbitterung, Auswege Army Proklamation, Amnestie und Hirtenbrief führten nicht zu massenhaften Desertionen aus der IRA. Der sichtbare Erfolg von Amnestieangebot und Hirtenbrief war so gering, daß die vertragsbefürwortende Propaganda darauf verzichtete, offizielle Zahlen zu veröffentlichen.169 Dahinter lag mehr als der effiziente Gruppendruck der IRA-Einheiten.170 Wieso ignorierten die katholischen Revolutionäre den Hirtenbrief? Wie gingen sie damit um, aus der Kirche ausgegrenzt zu sein? Offen antiklerikal reagierten nur wenige Revolutionäre auf den Hirtenbrief. Eine Säkularisierung des Republikanismus löste er nicht aus.171 O’Malleys oben zitierte (nachträgliche) Provokation, am liebsten gleich „a few bishops“ zu erschießen, war eine von wenigen Ausnahmen.172 Bezeichnender für den Umgang mit der katholischen Kirche war, wie die IRA in Sligo darauf reagierte, daß der Bischof von Elphin, Dr. Coyne, als lebender Schutzschild zur hoffnungslos unterlegenen vertragsbefürwortenden Einheit ins Justizgebäude ging: Die IRA-Einheit verzichtete auf einen sicheren Sieg und zog ab.173 Der Hirtenbrief entfremdete die Republikaner zwar vorübergehend der katholischen Kirche, aber nicht dem katholischen Glauben. Sie blieben wie ihre freistaatlichen Feinde gläubige, wenn auch weniger devote Katholiken.174 Aus der offiziellen Kirchengemeinschaft ausgeschlossen zu sein, traf die meisten Republikaner hart, verunsicherte sie und untergrub ihre Kampfmoral. Häufig wurden ihre Frauen oder Eltern sozial ausgegrenzt.175 Dennoch war ihre überwiegende Reaktion nicht Umkehr, sondern Verbitterung. Auch wenn sie unter der Exkommunikation litten, ertrugen sie den 169
170 171
172 173 174
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HOPKINSON, Green, S. 181 f.; VALUILIS, Mulcahy, S. 178; vgl. die Einschätzung des britischen Geheimdienstes: NAI, D/T, S-1784, Dublin District weekly intelligence summary no. 181, for week ending, 7. Oktober 1922. THE ROUND TABLE, XIII, no. 50 (März 1923), S. 267. Vgl. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 77–80, insbes. S. 77, zum geringen Ausmaß und der geringen Auswirkung antiklerikaler Strömungen im revolutionären Nationalismus und in der Labour Party. Vgl. ENGLISH, Green on Red, S. 181; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 173. E. O’MALLEY, Singing Flame, S. 175; vgl. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 253. YOUNGER, Civil War, S. 367 f. LANKFORD, Hope, S. 261; FALLON, Soul of Fire, S. 13; dies., Civil War Hungerstrikes, S. 77; WARD, Maud Gonne, S. 78, 112; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 303; FLK, DeV, 1475, Rory O’Connor an Norbert O’Connor, 8. August 1922. GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 108; MURRAY, Voices, S. 167; TWOMEY-RYAN, Church, S. 109; vgl. FLK, DeV, 1452, de Valera an Erzbischof Mannix, 6. November 1922; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 248; HOPKINSON, Green, S. 182.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Indentitätskonflikt zwischen „Katholik“ und „Republikaner“ – gaben keine der nun widersprüchlichen Rollen auf.176 Um sich weiter als Katholiken definieren zu können und um die propagandistische Wirkung des Hirtenbriefes zu entschärfen, trennten sie zwischen einer unfehlbaren religiösen „authority“ und einer fehlbaren politischen „opinion“ der Bischöfe.177 Weil der Hirtenbrief fast eins zu eins vertragsbefürwortende Rhetorik und Terminologie reproduzierte, war für überzeugte Republikaner offensichtlich: Der Hirtenbrief war politisch motiviert. „One might have looked for the Most Reverend Richard Mulcahy among the signatures.“178 Die Bischöfe irrten sich, weil die siebenhundertfünfzig Jahre alte „universal truth“ von „the Republic“ nicht irren konnte. Die Bischöfe mißbrauchten also ihr Amt und verletzten ihre seelsorgerische Pflicht.179 Auch die republikanische Propaganda argumentierte zunächst politisch, gegen die „evident bias [. . .] to use the Sacraments as political weapons [. . .] by attributing the views of Mr. William Cosgrave to Almighty God.“180 Wenn die Bischöfe politisch argumentierten, dann war für die republikanischen Propagandisten logisch, daß „whether the Free State or the Republican position is sound and morally good depends on whether their political view [. . .] is correct.“181 Dabei war der politische und moralische Dreh- und Angelpunkt des Hirtenbriefes aus republikanischer Sicht leicht zu widerlegen: Die „Republic“ und nicht die Provisorische Regierung war für sie die legitime gottgesetzte Obrigkeit.182 Wieder erkannte die republikanische Propaganda eine historische Gesetzmäßigkeit: die antinationale Vergangenheit der Bischöfe. „Alle“ führenden Revolutionäre hätten seit der ersten Landung der Sachsen „schon im176
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NAI, D/T, S-1859, Mary MacSwiney an Erzbischof Byrne, 17. Oktober 1922; UCD, MSW, P48a/206, Mary MacSwiney, statement re arrest, ca. 30. November 1922; EIRE, 28. April 1923, S. 5; AN POBLACHT-WAR NEWS, 12. Dezember 1922, Abschiedsbrief Liam Mellows; TCD, Early Printed Books, Samules Collection, box 1/18, Gallagher, a prisoner’s letter to his Grace the Archbishop of Dublin, 12. November 1922; O’MALLEY, Singing Flame, S. 172; FALLON, Soul of Fire, S. 87, 90. PLAIN PEOPLE, 30. April 1922, S. 2; AN POBLACHT-WAR NEWS, 30. Oktober 1922; TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box1/13, „Com Cille“, an Irish priest’s appeal, 3. Juli 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 30. Oktober 1922. AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 9. Dezember 1922, S. 3. TCD, Early Printed Books, Samules Collection, box 1/18, Gallagher, a prisoner’s letter to his Grace the Archbishop of Dublin, 12. November 1922, S. 2, 7 f. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box1/23, „Columban na Banban“, an appeal to the Irish bishops, ca. Oktober 1922. TCD, Early Printed Books, Samules Collection, box 1/18, Gallagher, a prisoner’s letter to his Grace the Archbishop of Dublin, 12. November 1922, S. 6–8.
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda
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mer“ die Bischöfe gegen sich gehabt. Das gelte von Tone, Emmet und den Feniern bis zu Pearse und der von Bischof Cohalan während des Unabhängigkeitskrieges exkommunizierten Corker IRA.183 Die Republikaner nutzten jetzt aus, daß die katholische Kirche seit der Revolution von 1798 mit der britischen Regierung und dem konstitutionellen Nationalismus kooperiert hatte und sich erst spät und unter Vorbehalt an Sinn Fein angenähert hatte.184 Trotz dieser antiklerikalen Argumente waren für die meisten IRA-Aktivsten Republikanismus und Katholizismus kein Widerspruch. Mehr noch: Ihr politischer und ihr religöser Glaube ergänzten sich strukturell und sogar inhaltlich. Die vertragsbefürwortende Propaganda griff trotz ihrer Allianz mit der katholischen Kirche selten auf religiöse Argumentationsmuster zurück, der gesamte Verfassungsentwurf kam, zum Entsetzen des Catholic Bulletin, ohne den Namen Gottes aus.185 Argumentierte der bischöfliche Hirtenbrief vergleichsweise nüchtern, so benutzte die republikanische Bürgerkriegspropaganda viel häufiger starke religiöse Metaphern und Bilder. Beispiele für diese religöse, non-rationale Logik war das Bild von der Seele Irlands186 und das Sprechen vom republikanischen „Glauben“: „Would you disestablish Christianity? No more can you the Republic.“187 Anders als der rationale Pragmatismus der Vertragsbefürworter, folgte der Republikanismus der logischen Struktur der christlichen Heilslehre.188 Religiöser und politischer Glaube versprachen ihren Anhängern eine paradiesische Zukunft, sobald die Geschichte ihr Ziel erreicht habe: nach dem Jüngsten Gericht beziehungsweise nach der letzten nationalen Revolution.189 In beiden 183
184
185
186 187 188 189
JAMES O’SHEA, Priests, Politics and Society in Post-Famine Ireland. A Study of County Tipperary, 1850–1891. Dublin 1983. S. 139 f., 145–7; RICHARD VINCENT COMERFORD, Gladstone’s First Irish Enterprise, 1864–1870, in: NHI, Bd.V, S. 431–50; hier: S. 434; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 53, FALLON, Soul of Fire, S. 63; republikanische Propaganda dazu: PLAIN PEOPLE, 30. April 1922, S. 2; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 14. Oktober 1922, S. 1, Artikel von „Sacerdus Republicanus“; 9. Dezember 1922, S. 3. O’SHEA, Priests, S. 140–5, 151; TWOMEY-RYAN, Church, S. 93–103; FOSTER, Modern Ireland, S. 417–9, 489 f.; GARVIN, Hatred, S. 110; ders., Nationalist Revolutionaries, S. 130; MACDONAGH, Ambiguity, S. 114, 120; CAPUCHIN ANNUAL, 1968, S. 357 f.; FITZPATRICK, Undoing, S. 106; BOYCE, Nationalism, S. 325–7; MURRAY, Voices, S. 144–6. CATHOLIC BULLETIN, Juli 1922, S. 421; Ganz bewußt entschied sich die vertragsbefürwortende Führung gegen den religiös geprägten Verfassungsentwurf „C“ von Alfred O’Rahilly: NAI, D/T, CoCo, „C/1“. PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2; EIRE, 14. April 1923, S. 1, zitiert Erzbischof Mannix. AN POBLACHT, 21. Februar 1922, S. 2. Grundlegend: GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 109–11; vgl.: ENGLISH, Inborn Hate, S. 176, 198, auch 176; GARVIN, 1922, S. 43, 134, 143, 147 f. Vgl. auch de Valeras Analogie zwischen Israel und Irland: AN POBLACHT, 14. Februar 1922, S. 3.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Fällen vermittelte eine kleine Gruppe von Wissenden die wahre Lehre: die Priester oder Jünger beziehungsweise die revolutionäre Elite. Und in beiden Fällen garantierte das Martyrium die Heilsgewißheit und den Triumph über den Tod: Das galt für den Opfertod Christi und der christlichen Märtyrer genauso wie für die „Illustrious Dead“. Der Import religiöser Vorstellungen war dabei kein Zufall, sondern ein bewußter Akt: So gehörte der spätmittelalterliche Mystiker Thomas A. Kempis zur Standardlektüre von prominenten Aktivisten und Märtyrern wie Terence und Mary MacSwiney, O’Malley oder Childers. Was Thomas A. Kempis in seiner Abhandlung „The Imitation of Christ“ als Nachfolge des christlichen Martyriums predigte, übertrugen sie ins Politische.190 Das war bei weitem nicht so abwegig, wie das aus heutiger Perspektive vielleicht klingt. Der Transfer von religiösem Martyrium auf das politische Martyrium lag nahe, da die meisten katholischen Iren das religiöse Wissen um den siegreichen Opfertod Christi verinnerlicht hatten. Sie kannten es aus den Gottesdiensten und aus den schmerzensreichen und glorreichen Mysterien des Rosenkranzes.191 Die Nähe zur Religion machte den Republikanismus nicht zu einer religiös-politischen Sekte, sondern sie machte den Republikanismus einer breiten Masse leichter zugänglich und verständlich – zumindest vor 1922. Die strukturelle Nähe zwischen Republikanismus und Religion erkannten die Zeitgenossen aller Lager: Die katholische Kirche hatte sie bereits bei Feniern und Neunzehnsechzehnern mißtrauisch beobachtet.192 Eoin MacNeill, Kulturminister des Freistaats, kommentierte den Kult um die Republik bitter als „Selbstbeweihräucherung“ der Republikaner: „[Principle. . .] becomes part of us. That makes worship of it very grateful to ourselves. We get all the benefits of the incense.“193 Der anglo-irische Intellektuelle George Russle sah das kaum wohlwollender: Er verglich das „eindimensionale“ republikanische Denken, das Kämpfen und Töten für dogmatische Formeln mit der (Un)-logik eines Religionskrieges.194 Am häufigsten beriefen sich jedoch die Republikaner selbst auf eine positiv bewertete Analogie zwischen christlichem und republikanischem Op-
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FALLON, Soul of Fire, S. 13 f., 51; O’MALLEY, Singing Flame, S. 196; THOMAS A. KEMPIS, The Imitation of Christ. Birmingham 1961. Vgl. wie GARVIN, 1922, S. 101, nach dem Bürgerkrieg eine Welle religiöser Berufungen unter Republikanern beobachtet. J[OHN] M[ILLNER], Key to Heaven, S. 345–57. O’SHEA, Priests, S. 139 f., 143; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 170; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 253. FREE STATE, 4. März 1922, S. 4, Artikel von Eoin MacNeill. IRISH STATESMAN, 13. Oktober 1923, S. 134.
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda
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fertod. Das galt für das Selbstverständnis und die Propaganda der Neunzehnsechzehner genauso195 wie für die Aktivisten des Unabhängigkeitskrieges196 und die des Bürgerkrieges.197 Anstatt zur Ersatzreligion zu werden, vermengte sich der politische Glaube der Republikaner so mit dem religiösen Glauben, daß beide oft nicht mehr voneinander zu trennen waren: „God has saved Ireland through her martyred dead.“198 Ostern wurde mit Blick auf „1916“ zum politischen und religiösen Symbol von Opfertod und Auferstehung.199 So segnete de Valera die IRA in seiner Osteransprache 1922: „Ireland has a God given destiny. You are the artifiers of that destiny. Yours is the faith that moves mountains. Yours is the faith and love that begat the enterprise of 1916.“200 Bei der Four Courts-Besatzung gingen religiöse und politische Martyrologie nahtlos ineinander über. Folgt man dem republikanischen Kapuzinerkaplan Father Albert, reagierten die Revolutionäre auf das freistaatliche Ultimatum mit einem religiös-politischen Gebet: The boys all knelt down and recited a decade of the Rosary in Irish, placing themselves and their cause under the protection of the Blessed Virigin and [!] the patriot martyrs of the Irish Republic.201
Im noch republikanisch kontrollierten Cork Examiner erklärte ein anonymer Priester den Bürgerkrieg offen zu einem apokalyptischen Glaubenskrieg: „I appeal to you in the name of Pearse and MacSwiney and Barry and all their comrade martyrs. [. . .] This is a battle between right and wrong,
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RUTH EDWARDS, Triumph, S. 19, 116 f., 140–2, 161 f., 190, 201, 253, 259, 261 f., 316; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 136; LYONS, Culture and Anarchy, S. 87 f.; PEARSE, Political Writings, S. 134–6. ENGLISH, inborn hate, S. 176; FALLON, Soul of Fire, S. 46; vgl. LANKFORD, Hope, S. 172, auch S. 161, beschriebt den republikanischen Märtyrer Thomas MacCurtain (unbewußt) mit den Attributen des Heiligen Franz von Assisi. YOUNG IRELAND, 13. November 1920, S. 3, zieht eine Analogie zwischen dem Opfertod Christi und dem Terence MacSwineys. NEW IRELAND, 22. April 1922, S. 314 f.; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 9. Dezember 1922, S. 7; vgl. FLK, DeV, 1459, Flugblatt mit Constanze de Markieviczs Gedicht: „In Memoriam Erskine Childers“, undatiert. In seinem Abschiedsbrief, AN POBLACHT-WAR NEWS, 12. Dezember 1922, kündigt Liam Mellows an, sein Opfertod gleiche der „road our Saviour followed.“ AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. Juli 1922; 24. Dezember 1922; vgl. FLK, DeV, 1459, Flugblatt mit Constanze de Markieviczs Gedicht: „Christmas wishes for our prisoners“, undatiert. Markeiviczs Gedicht vermengt die schmerzensreichen Mysterien Mariens bis zur Untrennbarkeit mit den Leiden der republikanischen Gefangenen; vgl. ZIMMERMANN, Songs, S. 71, zu Cathal Brugha: „He left this world on Friday, the same day like our saviour.“ Vgl. CATHOLIC BULLETIN, Mai 1922, S. 297. CATHOLIC BULLETIN, Mai 1922, S. 284. PLAIN PEOPLE, 2. Juli 1922, S. 1; genauso: AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Juni 1922. Vgl. GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 109.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Heaven and Hell. God is calling us.“202 Immer wieder identifizierte die republikanische Propaganda das britische Empire oder den Freistaat mit Kain, Judas, heidnischen Gottheiten, Luzifer oder dem Tier der Apokalypse.203 Diese Religionsanalogie prägte das republikanische Denken nicht nur in endlosen Propagandaartikeln.204 Auch in privaten Briefen argumentierten gerade die dogmatischeren Republikaner mit der gleichen politischreligiösen Logik.205 Auch jenseits der offen religiösen Metaphorik argumentierte die vertragsablehnende Rhetorik oft in einer Sprache, die in ihren formalen Aspekten dem religiösen Sprechen nahe kam. Mary MacSwineys zweieinhalbstündige Rede während der Vertragsdebatten glich einer Strafpredigt.206 Der erste Aufruf der Vertragsgegner nach Beginn des Bürgerkrieges glich durch die Anapher „The Republic“ und das formelhafte Aufzählen kanonischer Referenzpunkte einem Glaubensbekenntnis. Er war mehr ein politisches Gedicht als „rationale“ Prosa. Um das zu demonstrieren, begehe ich einen kleinen Tabubruch. Ich manipuliere eine Quelle und setzte die ersten „Strophen“ dieses republikanischen Aufrufs in Verse: The Republic is fighting for its life. The Republic proclaimed in arms at Easter 1916 established by law in January 1919 defended by an army and people with heroic bravery and sacrifice through Terror, torture and devastation in 1920 and 1921: The Republic consecrated by the blood of Pearse, Connolly and the dearest and noblest of our patriots.
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CORK EXAMINER, 12. Juli 1922, S. 5; auch ausführlicher als Pamphlet: TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box1/13, „Com Cille“, an Irish priest’s appeal, 3. Juli 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 17. November 1922; PLAIN PEOPLE, 7. Mai 1922, S. 2; AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. November 1922; PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2; UCD, FGP, P80/807, Republican Publicity Committee Wexford, 11. August 1922, S. 1. Vgl. GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 109–11. FLK, DeV, 302/3, Constanze de Markievicz an de Valera, ca. März 1923; UCD, MSW, P48a/235, Mary MacSwiney an Mulcahy, 24. April 1922; FLK, DeV, 1444/1, Mary MacSwiney an Eoin Duffy, ca. 24. April 1922; FLK, DeV, 1452, de Valera an Erzbischof Mannix, 6. November 1922. DEBATE ON TREATY, Mary MacSwiney, 21. Dezember 1921, S. 108–27.
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda
315
The Republic once more is fighting for its life. Citizens, defend your Republic!207
In dieser Sprache spiegelte sich nicht ein republikanischer Irrationalismus einfach nur wider. Viel wichtiger war: Auch dieses Genre der politisch-religiösen Rede erzwang ein Denken in Bildern, Symbolen, Metaphern und Gedichten und begrenzte die realpolitischen Denkmöglichkeiten der Republikaner. Der ehemalige republikanische Propagandist Sean O’Faolain beschreibt das rückblickend mit bitterem Unterton: Blinded and dazzled as we were by our ikons, caught in the labyrinth ouf our dearest symbols – our Ancient Past, our Broken Chains, our Seven Centuries of Slavery, the Silenced Harp, the Glorious Dead, the tears of dark Rosaleen, the miseries of the Poor Old Women, [. . .].208
Den katholischen Bischöfen gelang es nicht, die Exkommunikation der Guerilleros konsequent durchzusetzen. Vor allem Mitglieder religiöser Orden, insbesondere Franziskaner und Kapuziner, unterliefen den Hirtenbrief, weil sie als Mönche nicht direkt der bischöflichen Autorität unterstellt waren. Sie bildeten zwar keine organisierte Fraktion, die offen gegen die Bischöfe rebellierte, doch waren sie eine ausreichend große Minderheit, um die Ausgeschlossenen weiter mit den Sakramenten und dem Trost der Religion zu versorgen.209 Selbst in den Gefängnissen des Freistaates wurde die Exkommunikation nicht konsequent durchgesetzt. Immer wieder erhielten gefangene Guerilleros Kommunion und Absolution. Während viele Gefängnispriester den Hirtenbrief eins zu eins umsetzten, verzichteten andere darauf, nach politischen Überzeugungen zu fragen, oder gaben sogar erklärten Kämpfern die Sakramente, „when satisfied that they believed they were doing right.“ Unter den Gefangenen sprach sich schnell herum, welche Priester das waren.210 Republikanische Priester spendeten nicht nur geistlichen Beistand und beruhigten das Gewissen der Exkommunizierten, sie gewannen den Republikanern auch ein Stück katholischer Legitimität zurück. Sie halfen zu ver-
207 208 209
210
AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Juni 1922; vgl. CATHOLIC BULLETIN, Mai 1922, S. 284. O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 186; vgl. ebd., S. 189, 208; vgl. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 203. KEOGH, Vatican, S. 106 f.; GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 108 f.; UCD, KP, P4/292, Aodh de Blacam an Father Caineach, 27. Juli 1922; THE ROUND TABLE, XIV, no.54 (März 1924), S. 317. UCD, MSW, P48a/206, Mary MacSwiney, statement re arrest, ca. 30. November 1922; vgl. UCD, KP, P4/292, Aodh de Blacam an Father Caineach, 27. Juli 1922.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
hindern, daß die Bischöfe die aktive IRA als „Nicht-Katholiken“ definierten, sie aus dem „katholischen Irland“ ausgrenzten. Schon Rory O’Connors erstes kurzes Kommuniqué nach Beginn des Bürgerkrieges erwähnte den geistlichen Beistand für die Four Courts-Besatzung durch die Franziskanermönche Father Albert und Father Dominic, den geistlichen Vertrauten des Hungerstreikmärtyrers Terence MacSwiney.211 Die bloße Anwesenheit von zwei Geistlichen verlieh der republikanischen Sache nach außen ein Stück göttlichen Segens. Immer wieder transportierten republikanische Propagandablätter religiöse Inhalte, ohne direkt auf das katholische Argument des Freistaats einzugehen: Wenn der Präsident der Republik de Valera um Gottes Beistand für die IRA betete oder wenn republikanischen Gefangenen – auf Flugblättern – die Heilige Jungfrau erschien, signalisierte das: Gott steht auf seiten der Republik.212 Nach dem Hirtenbrief wurde katholische Legitimation für die Republikaner noch schwieriger und damit noch wichtiger. In den republikanischen Propagandablättern versuchten anonyme Priester oder Geistliche aus der irischen Diaspora den Hirtenbrief durch eine dezidiert theologische Argumentation zu widerlegen.213 Immer wieder stellten sie den irischen Bischöfen einen gütigen, fehlinformierten Papst entgegen oder kündigten an, den Hirtenbrief an höchster Stelle aufheben zu lassen.214 Sie erörterten, warum die irischen Bischöfe das kirchenrechtliche Prärogativ des Papstes verletzten, wenn sie sich zu „major causes“ äußerten.215 Gestützt auf Kirchenlehrer, von Thomas von Aquin bis zum irischen Heiligen Colmcille, breiteten die theologischen Apologeten seitenweise das Problem der legitimen Revolution und des gerechten Krieges aus.216 Durch ihren dezidiert kanonischen „Fachjargon“ bewiesen beziehungsweise suggerierten sie theologische Kompetenz. Der Kontrast zur politischen Argumentation der katholischen Bischöfe sollte deren wahre Motivation aufdecken und den Bischöfen doch 211
AN POBLACHT-WAR NEWS, READY, Annals, Bd. 2, S. 508.
212
FLK, DeV, 298, Weinachtsgrüße der republikanischen Regierung, ca. 24. Dezember 1922; FLK, DeV, 1459, mehrere Flugblätter von Constanze de Markievicz, ca. 24. Dezember 1922. Vgl. FREEMAN’S JOURNAL, 25. August 1922, S. 4 und IRISH INDEPENDENT, 25. August 1922, S. 6, Leserbrief Patrick Little. FLK, DeV, 228, Dail Eireann Communiqué, 26. Oktober 1922; TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box1/13, „Com Cille“, an Irish priest’s appeal, 3. Juli 1922. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/110, Rev. Dr. Yorke, „Irish Bishops usurp papal rights“; ca. Februar 1923, insbes. S. 5 f. In Ausschnitten auch, in: EIRE, 3. Februar 1923, S. 2. Artikelserie von Father Doyle, in: AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 21. Oktober 1922, S. 4 f.; 26. Oktober 1922, S. 6 f.; 4. November 1922, S. 4 f., 11. November 1922, S. 1; 16. Dezember 1922, S. 4; 23. Dezember 1922, S. 4.
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28. Juni 1922; GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 109; MAC-
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda
317
noch eine theologische Argumentation aufzwingen. So entstand die paradoxe Situation, daß die republikanische Propaganda auch jenseits ihrer politisch-religiösen Metaphorik theologischer, „katholischer“ argumentierte als die Bischöfe selbst. Die IRA und die Republikaner mußten sich nicht ausschließlich auf die Hilfe von unbekannten oder anonymen Geistlichen verlassen, deren Kompetenz beziehungsweise Existenz die freistaatliche Propaganda leicht anzweifeln konnte. Auch einige prominente Geistliche unterstützten die „republikanische Sache“; am wichtigsten darunter der irisch-stämmige Erzbischof Mannix von Melbourne. De Valera kannte Mannix noch aus der Zeit vor der Revolution, als Mannix Präsident des katholischen College in Maynooths gewesen war. Während des Unabhängigkeitskrieges war Mannix de Valeras „most powerful and influential clerical voice“ gewesen.217 In Australien war Mannix 1922/23 weit entfernt von der Realität des Bürgerkrieges und seit Jahren abgeschirmt von den Entwicklungen in seiner irischen Heimat.218 Von de Valera und dessen Vertrauten persönlich durch zahlreiche Briefe und Berichte beeinflußt, wurde Mannix zum Kronzeugen der katholischen Legitimation der Republikaner.219 Während des Bürgerkrieges bezog Mannix bald immer deutlicher zur Vertragsfrage Stellung. Mannix propagierte eine gegen England gewandte „national unity“ und unterstütze de Valeras Document No. 2.220 Obwohl er nie offen den bewaffneten Kampf gegen den Freistaat forderte, verwandte er das gesamte Repertoire der republikanischen Opferrhetorik: die Verpflichtung auf die Märtyrer, die Pflicht, notfalls für die Republik zu sterben und die Freiheitsflamme an die nächste Generation weiterzureichen. Auch wenn Mannix immer wieder auf religiöse Metaphern zurückgriff, seine Argumente waren wie die des Hirtenbriefs fast ausschließlich politisch, kaum theologisch.221 Selbst wenn sich Mannix scheute, den Hirtenbrief direkt zu kommentieren, konnten die Republikaner mit seiner Autorität die Lehrmeinung der 217 218 219
220
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MURRAY, Voices, S. 144, 49–152; BOYLAN, Dictionary, S. 219 f. So auch de Valeras eigene Einschätzung einige Jahre später: MURRAY, Voices, S. 159. FLK, DeV, 1452, de Valera an Erzbischof Mannix, 6. November 1922; FLK, DeV, 1296, Robert Barton an Erzbischof Mannix, ca. Januar 1922; MURRAY, Voices, S. 152–4, 161 f.; KEOGH, Vatican, S. 120. CATHOLIC BULLETIN, September 1922, S. 545; November 1922, S. 673; EIRE, 10. Februar 1923, S. 1; 14. April 1923, S. 1; 9. Juni 1923, S. 1; 3. November 1923, S. 1; AN POBLACHTWAR NEWS, 15. Dezember 1922; Mannix „national unity“ Rhetorik war (teilweise) so „neutral“, daß sie sich selektiv für die vertragsbefürwortende Propaganda zitieren ließ, etwa: IRISH INDEPENDENT, 18. Oktober 1922, S. 4. EIRE, 10. Februar 1923, S. 1; 14. April 1923, S. 1.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
Bischöfe relativieren. Auch das tief katholische und gleichzeitig überzeugt republikanische Catholic Bulletin half sich mit Mannix Irlandkommentaren aus dem Dilemma zwischen republikanischen und katholischen Loyalitäten: Ohne selbst Stellung zu nehmen, veröffentlichte es neben dem Hirtenbrief der Bischöfe eine Irlandrede von Mannix. Während es zum Hirtenbrief schwieg, empfahl es im Editorial Mannix Rede seinen Lesern zur Lektüre.222 Zum Glück für die vertragsbefürwortende Propaganda und zum Ärger der republikanischen Propagandisten war Mannix weit weg von seiner ehemaligen irischen Heimat. Auf aktuelles Tagesgeschehen konnte Mannix nicht reagieren. Bis ihn Nachrichten aus Irland erreichten und seine Kommentare den Weg zurück in die republikanische Untergrundpresse fanden, vergingen zwei, manchmal auch drei Monate.223 Die Provisorische Regierung sorgte dafür, daß das auch so blieb. Sie ignorierte Mannix Vermittlungsangebote und verhinderte, daß er zu einer erzbischöflichen Visite und Friedensmission nach Irland kam.224 c) Sechsundzwanzig irische Päpste? Monsignore Luzio als glückloser Vermittler Auch in Rom hatte der politische Flügel der Republikaner Sympathisanten in einflußreichen Schlüsselstellen: Vor allem Peter Magennis, Prior eines Karmeliterordens und Monsignore John Hagan, Rektor des Irischen Kollegs, der in den Monaten nach der Vertragsspaltung immer weiter von seiner einstigen vertragsbefürwortenden Haltung abrückte.225 Sie konnten zwar nicht erreichen, daß Papst Pius XI. den Hirtenbrief widerrief. Aber sie unterliefen, daß „freistaatliche“ Theologen und Propagandisten am Irischen Kolleg vorbei erreichten, daß der Papst selbst die IRA exkommunizierte. Während und auch noch lange nach dem Bürgerkrieg war das politische Klima zwischen den feindlichen Theologen und Propagandisten in Rom durch Grabenkämpfe, Intrigen und Gegenintrigen geprägt.226
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CATHOLIC BULLETIN, November 1922, S. 683–704. Vgl. Mannix Kommentar zu de Valeras Rückkehr zu Document No.2 am 17. Februar 1922, in: EIRE, 10. April 1923, S. 1 oder Mannix Deklaration vom 6. September 1922, in: AN POBLACHT-WAR NEWS, 15. Dezember 1922. CATHOLIC BULLETIN, September 1922, S. 545; NAI, D/T, S-4522, Civil War peace proposal, Tipperary County Council, 15. November 1922. KEOGH, Vatican, S. 80 f., 86 f., 98, 101. Ebd. S. 102–9, 120 f.; Siehe auch FLK, DEV, 275, summary of the catholic complaint against the Irish Hierachy, ca. 1. Januar 1923.
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda
319
Im März 1923 erreichte Magennis einen ersten kleinen Erfolg für die Republikaner. Er überzeugte Papst Pius XI, einen inoffiziellen Gesandten nach Irland zu schicken. Executive Council und irische Bischöfe waren alles andere als begeistert, als Monsignore Luzio am 19. März 1923 in Irland eintraf. Die Freistaatsführung hatte mittlerweile die IRA militärisch so gut wie besiegt und kein Interesse an einem Vermittler, der die republikanischen Rebellen als gleichberechtigte Verhandlungspartner zurück ins Spiel bringen wollte. Auch die irischen Bischöfe fürchteten um ihre politische Strategie gegen die Vertragsgegner. Doch sie argwöhnten zu recht noch Schlimmeres: Luzios Friedensmission sei nur das Vorspiel zu einer ständigen päpstlichen Nuntiatur in Irland: einer Nuntiatur, die zur Anlaufstelle des unzufriedenen niederen Klerus werden könne und über die der Papst die Wahl der irischen Bischöfe bestimmen würde. Für die an weitgehende kirchenpolitische Autonomie gewöhnten irischen Bischöfe war das ein Alptraum.227 Entsprechend frostig war die Atmosphäre für Monsignore Luzio. In dieser heiklen Situation verhielt sich Luzio noch dazu erstaunlich undiplomatisch. Als erstes brüskierte er Erzbischof Byrne von Dublin, in dessen Diözese er wohnte, weil er ihm keinen Höflichkeitsbesuch abstattete. Dann verprellte er Kardinal Logue von Armagh, den einzigen Bischof, der seine Visite unterstützt hatte: Luzio schlug ihm ohne Umschweife ein gemeinsames Treffen mit den führenden Republikanern vor. Spätestens jetzt hätte Luzio eigentlich wieder heimfahren können. Die irischen Bischöfe boykottierten und ignorierten ihn nun weitgehend. Auch gegenüber der Freistaatsführung verhielt sich Luzio denkbar ungeschickt: Während eines privaten Besuches bei Freistaatspräsident Cosgrave verzichtete er darauf, die offiziellen Papiere des Papstes vorzulegen. Das ermöglichte es der Freistaatsführung, ihn weiterhin aufmerksam zu ignorieren und seinen Besuch als reine Privatangelegenheit zu betrachten. Parallel dazu ließ die Freistaatsführung vorsichtshalber republikanische Aktivisten verhaften, denen gute Kontakte zur katholischen Kirche nachgesagt wurden. Erst als Luzio fast einen Monat nach seiner Ankunft in Irland Friedensvermittlungen ankündigte und seine päpstlichen Empfehlungsschreiben veröffentlichte228, reagierte das Executive Council offiziell: Es schickte einen Beschwerdebrief über den angeblich pro-republikanischen Gesandten an den Papst. Um Luzio so schnell als möglich wieder loszuwerden und
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KEOGH, Vatican, S. 85 f., 104, 109–12, 119. Luzios „credentials“, in: FREEMAN’S JOURNAL, 23. April 1923, S. 5; IRISH TIMES, 23. April 1923, S. 6; vgl. Andeutungen einer Friedensmission, in: IRISH INDEPENDENT, 17. April 1923, S. 4; 21. April 1923, S. 5.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
um den diplomatischen Schaden dabei so gering wie möglich zu halten, schickte das Executive Council ihren Propagandaspezialisten Nummer Eins, FitzGerald, nach Rom.229 Die republikanischen Politiker dagegen hofierten Luzio, versuchten, ihn von ihrem Standpunkt zu überzeugen und stellten ihn in ihrer Propaganda als Sympathisanten der Republikaner hin.230 Luzio verhalf den Republikanern zwar nicht dazu, mit der Freistaatsführung zu verhandeln. Dennoch war sein Aufenthalt ein Propagandageschenk für die mittlerweile demoralisierten Republikaner. Sie warfen dem Freistaat vor, einen päpstlichen Gesandten so zu behandeln „[as] if a delegate from the Imperial Wizard of the Ku Klux Klan had visited the shores.“231 Dadurch geriet Luzio gegen seinen Willen noch mehr zwischen die Fronten des Bürgerkrieges; denn jetzt beobachtete ihn die Freistaatsführung noch mißtrauischer als zuvor. Dagegen empörte sich die offizielle vertragsbefürwortende Propaganda nicht über den „desinformierten“ Luzio, sondern über die Republikaner: „He [Luzio] has our deep sympathy and those who attempted to exploit his good-will have our strongest condemnation.“232 Die eisige Behandlung durch die Regierung, ein Propagandakrieg um seine Person, den er vermutlich nur halb verstand, die Selbstherrlichkeit der irischen Bischöfe und dazu, wie er selbst meinte, das leidige irische Wetter: Luzio war mit seiner Mission sichtlich überfordert und bald reichlich verärgert. Ende Mai verabschiedete er sich offiziell und hoffte höflich, „that the blessing of complete peace may speedily raise this noble nation to the highest degree of greatness and prosperity.“233 Dagegen behauptet eine gern erzählte Anekdote, daß Luzio, als er glücklich wieder im sonnigen Rom angekommen war, meinte, er habe keine irischen Bischöfe angetroffen, sondern es mit sechsundzwanzig Päpsten zu tun bekommen.234 Wie sehr die katholische Kirche die politische Haltung der Bevölkerung Irlands beeinflußte, ist schwer einzuschätzen. Im großen und ganzen gelang es dem Freistaat sicher überzeugender, das katholische Argument zu beset229
230 231 232 233 234
Vgl. FREEMAN’S JOURNAL, 18. April 1923, S. 4; National Archive of Ireland, Executive Council Minutes (NAI, EC Minutes), C1/85, 17. April 1923, FLK, DeV, 273, Mary MacSwiney an de Valera, 17. März 1923. FLK, DeV, 273: de Valera an Mary MacSwiney, 8. April 1923; Mary MacSwiney an de Valera, 17. März 1923; EIRE, 14. April 1923, S. 2, 6; 28. April 1923, S. 5; 5. Mai 1923, S. 1. CATHOLIC BULLETIN, Juni 1923, S. 355. UNITED IRISHMAN, 28. April 1923, S. 1; vgl. IRISH TIMES, 21. April 1923, S. 7; FREEMAN’S JOURNAL, 23. April 1923, S. 4. CATHOLIC BULLETIN, Juni 1923, S. 354. Ereignisgeschichte der Luzio-Visite zusammengefaßt nach: KEOGH, Vatican, S. 112–21; zu den sechsundzwanzig Päpsten: ebd., S. 121; CATHOLIC BULLETIN, April 1923, S. 346–55.
III. Die legitimatorische Offensive der Freistaatspropaganda
321
zen. Auch nach Graham Walkers Einschätzung folgte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung dem nüchternen Katholizismus der offiziellen Kirche, nicht der politisierten religiösen Metaphorik der Republikaner.235 Doch ein durchschlagender Erfolg wurde der Hirtenbrief nicht. Der Ungehorsam republikanischer Priester, die Kritik von Erzbischof Mannix, die Luzio-Affäre und das Ausbleiben einer päpstlichen Exkommunikation nahmen dem Hirtenbrief viel von seiner Wirkung. Sie zeigten, daß sein Inhalt verhandelbar und nichts Absolutes war. Zu dieser Sichtweise trug auch die offensichtlich politische Argumentation und Motivation der Bischöfe bei. Auch sie untergrub die Glaubwürdigkeit des Hirtenbriefes. Wenn es den meisten Guerilleros gelang, den Hirtenbrief zu ignorieren, sich aber dennoch weiter als gute Katholiken zu definieren, so war das für republikanische Sympathisanten viel leichter. Sie waren ja selbst nicht von der Exkommunikation betroffen. Was läßt sich über die Propagandastrategien in den beiden ersten Monate des Guerillakrieges zusammenfassen? Nach dem Ende des offenen Krieges glaubte die Provisorische Regierung zunächst, den Krieg so gut wie gewonnen zu haben. Sie propagierte die Rückkehr zu normalen Verhältnissen und berief das neue Parlament ein. Damit schloß sie die empfindlichste Lücke ihrer demokratischen Legitimation. Doch je länger der Guerillakrieg der IRA weiterging, um so unglaubwürdiger wurde die freistaatliche Propaganda des „getting back to normal“; denn anders als die virtuelle „Republic“ war diese freistaatliche Propagandastrategie an meßbare Erfolge gebunden. Die Führung der Vertragsbefürworter drohte der IRA deshalb schon bald mit Exekutionen, während sie gleichzeitig eine einwöchige Amnestie ausrief. Doch die Republikaner gaben diesem Druck genauso wenig nach wie der Exkommunikation durch die irischen Bischöfe. Sie orientierten sich nach wie vor an ihrem politischen Glauben. Das heißt nicht, daß „the Republic“ als Ersatzreligion den Katholizismus verdrängte. Im Gegenteil: Die meisten Republikaner dachten ihren politischen und religiösen Glauben parallel zueinander. Katholizismus und Republikanismus ähnelten sich inhaltlich und strukturell. Gerade die Grenze zwischen politischen und religiösen Märtyrern verlief im Denken der Aktivisten fließend. Um den Widerspruch zwischen Exkommunikation und Glaube zu umgehen, griffen die Republikaner zu einer Art doppelter Buchführung. Sie trennten eine unfehlbare religiöse Lehrautorität von einer
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GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 111.
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E. Freistaat zwischen Normalität und Zwangsmaßnahmen
fehlbaren politischen Lehrmeinung der Bischöfe. Gestützt von anonymen republikanischen Priestern und Mönchen, aber auch von prominenten Geistlichen wie Erzbischof Mannix von Melbourne, konnten sie so die Effizienz des Hirtenbriefes unterlaufen. Anfang 1923 gelang es republikanischen Sympathisanten im irischen Kolleg in Rom sogar, eine päpstliche Friedensmission nach Irland zu initiieren. Der ungeschickte päpstliche Gesandte Monsignore Luzio scheiterte mit seinem Vermittlungsversuch zwar auf ganzer Linie, aber sein Besuch untergrub weiter den Anspruch des bischöflichen Hirtenbriefes, eine verbindliche und nicht verhandelbare Doktrin zu sein.
I. Republikanische Martyrologie
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F. VERBITTERUNG: DIE LETZTE PHASE DES BÜRGERKRIEGES In diesem Kapitel behandele ich die letzte Phase des Bürgerkrieges, von der ersten Hinrichtung im November 1922 bis zum einseitigen Waffenstillstand der Republikaner im Mai 1923. Im Mittelpunkt der drei großen Unterkapitel stehen dabei drei Kernfragen. Erstens: Wie funktionierte die republikanische Martyrologie im Bürgerkrieg? Zweitens: Wie bemühten sich die Republikaner, eine realpolitische Handlungsstrategie zu erfinden, ohne ihr politisches Wertesystem aufzugeben? Drittens: Wie versuchte die Freistaatsführung, die nationale Souveränität des Freistaats sichtbar zu machen, um damit ihre tiefe Legitimationskrise zu überwinden?
I. „THEY WHO CAN SUFFER MOST WILL CONQUER“1: REPUBLIKANISCHE MARTYROLOGIE Die nationale, religiös beeinflußte Martyrologie war das Erfolgsgeheimnis der Revolution. Sie war der Grund, warum das republikanische Geschichtsgesetz bisher funktioniert hatte. Erst Hungerstreiks, Exekutionen und Repressalmorde hatten nach 1916 und nach 1919 aus radikalen Rebellen Helden und Märtyrer gemacht. Sollte sich das republikanische Geschichtsgesetz noch einmal erfüllen, dann mußten die Republikaner ihr Leiden für die Nation so wirkungsvoll wie möglich inszenieren. Nur so konnten sie hoffen, ihre subversive Version von „law and order“, ihre Geschichte vom nationalen Freiheitskampf durchzusetzen. In einem ersten Schritt werde ich die republikanische Gefängnispropaganda vorstellen und diskutieren, warum es der republikanischen Propaganda schwer fiel, aus dem Tod der prominenten Aktivisten Cathal Brugha und Harry Boland ein Martyrium zu konstruieren. Danach zeige ich am Beispiel von Erskine Childers, wie die republikanischen Propagandisten einen „Opfertod“ inszenierten und was die freistaatliche Propaganda dieser traditionellen Martyrologie entgegensetzen konnte. Darauf diskutiere ich an einer Reihe von besonders signifikaten Fällen, welche legitimatorischen
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University College Dublin, Terence MacSwiney Papers (UCD, TMSW), P48b/400, Terence MacSwiney’s inaugural address to Cork Corporation, 20. März 1920.
324
F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
und realpolitischen Spielräume beiden Bürgerkriegsparteien hatten, wenn sie ihre Gegner exekutierten oder sich exekutieren ließen. Schließlich untersuche ich am Beispiel von Mary MacSwineys Hungerstreik den Zusammenhang zwischen Geschlechterkonzepten und Martyrologie. 1. LEIDEN UND OPFERTOD ALS REPUBLIKANISCHE TUGENDEN a) Gefängnispropaganda Ein Klassiker anti-britischer Leidensrhetorik waren die Gefängniskampagnen gewesen. Das Gefängnis galt als jahrhundertealtes Sinnbild britischer Unterdrückung. Werke wie das „Jail Journal“ John Mitchels gehörten zu den nationalistischen Standards, nachdem Pearse es zum „Johannesevangelium“ des radikalen Nationalismus erklärt hatte.2 Teil der Sinn Fein-Strategie nach 1916 war es gewesen, durch symbolische Auflehnungen Verhaftungen zu provozieren. Irish Volunteers und radikale Sinn Feiner trugen öffentlich die verbotenen Hurlingschläger, Uniformen und Abzeichen. Sie hielten offen Paraden ab, hielten revolutionäre Reden oder zogen Trikoloren auf.3 Zwischen 1916 und 1919 gehörte es für jeden Aktivisten, der etwas auf sich hielt, dazu, mindestens einmal im Gefängnis gewesen zu sein. So witzelte der ehemalige republikanische Propagandist Frank O’Connor: „‚Yes, he and I were in gaol together‘, which is rather like the English ‚Yes, he and I were in Eton together‘, but considerably more classy.“4 Was für Iren des frühen zwanzigsten Jahrhunderts selbstverständlich war, mußte der britische New Statesman seinen vermutlich pikierten Lesern erst erklären: Gefängnis bedeutete im irischen Kontext nationale Dignität.5 So instrumentalisierte de Valera seine Inhaftierungen von 1916 und 1918, um seine nationale Führungsrolle abzusichern. Als ihn die britischen Behörden gegen Ende des Unabhängigkeitskrieges nach wenigen Tagen ent-
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COMERFORD, Gladstone, S. 446 f.; JOHN NEWSINGER, Old Chartists, Fenians and New Socialists, in: Eire/Ireland, XVII, 2, (1982), S. 19–45, hier: S. 41–4; FITZGERALD, Memoirs, S. 89; GALVIN, Songs, S. 64 f.; ZIMMERMANN, Songs, S. 60, 101; vgl. „A new song on Michael Davitt“, S. 275 f.; „The Blackbird of Avondale“, S. 277 f.; „The Green Linnet“, S. 280 f.; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 227; John Mitchells „Jail Journal“ zitiert in: PLAIN PEOPLE, 16. April 1922, S. 4; 14. Mai 1922, S. 4; vgl. AN POBLACHT-WAR NEWS, 3. Oktober 1922. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 16–9; LANKFORD, Hope, S. 96–8; VALIULIS, Mulcahy, S. 23, 30 f.; FITZPATRICK, Politics, S. 132, 150, 156; HAYES-MCCOY, Irish Flags, S. 224 f. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 263. NEW STATESMAN, 2. Dezember 1922, S. 260.
I. Republikanische Martyrologie
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ließen, kam er dagegen unter Rechtfertigungszwang: Hatte de Valera sich auf geheime Absprachen eingelassen? De Valera fühlte sich kompromittiert und versuchte immer wieder, sich für seine frühzeitige Freiheit zu rechtfertigen.6 Auch wer im Freistaat Karriere machen wollte, profitierte von einer Gefängnislaufbahn; selbst wenn, wie im Fall Beaslai, eine solide revolutionäre Vergangenheit keine Garantie mehr für einen gut bezahlten Posten war.7 In den Gefängnissen ging der propagandistische Kampf weiter: Die Inhaftierten begannen eine Kampagne gegen tatsächliche und angebliche Gefangenenmißhandlungen. Und sie versuchten, sich einen Status als politische Gefangene, später Kriegsgefangene zu erstreiten. Das zielte nicht nur auf konkrete Privilegien, sondern sollte die Legitimität der britischen Herrschaft untergraben. „Politischer Gefangener“ implizierte, daß Dublin Castle politische Gegner mit unkonstitutionellen Zwangsmaßnahmen unterdrückte. „Kriegsgefangener“ entsprach der Lesart vom Freiheitskrieg, wertete die Guerilleros von „Mördern“ zu Soldaten auf, delegitimierte die Exekutionen als völkerrechtswidrig.8 Militärisch war die Kontrolle über die Gefängnisse für den Freistaat ein fast uneinholbarer Vorsprung gegenüber den Republikanern, die keine Gefangenen machen konnten. Legitimatorisch ergab sich daraus aber das gleiche Problem wie mit dem Angriff auf die Four Courts, dem Einsatz von Artillerie oder dem Rekrutieren von Weltkriegsveteranen. Der Freistaat griff auf „britische“ Methoden zurück, geriet dadurch, ob er wollte oder nicht, in Kontinuität mit der britischen Herrschaft.9 Neben der Kriegsgefangenen-Rhetorik übernahm die republikanische Propaganda die Mißhandlungskampagnen des Unabhängigkeitskrieges. Fast täglich berichtete die Poblacht oder eines der anderen Untergrundblätter über Gefangenenmißhandlungen: Das Essen sei ungenießbar, Fleisch verrottet, es gebe keine medizinische Versorgung, Gefangene würden krankenhausreif geschlagen, in Verhören mit dem Tode bedroht, ihnen würden die Arme verdreht, die Haare ausgerissen, Zigaretten ins Fleisch gedrückt, in den Magen geschlagen, Elektroschocks verabreicht, Gabeln ins Bein ge-
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MURRAY, Voices, S. 3–7. THE ROUND TABLE, XIII, no. 50 (März 1923), S. 256. Exemplarisch: IRISH BULLETIN, 28. Oktober 1920, S. 1 f.; 2. November 1920, S. 2, Artikel von Childers; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 129, 147; ALAN WARD, AngloAmerican Relations, S. 181. NEW STATESMAN, 2. Dezember 1922, S. 260.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
rammt, die Zähne ausgeschlagen, die Augen ausgestochen.10 Gegenüber diesen endlos wiederholten republikanischen Standards war die Strategie des weiterhin offen erscheinenden Catholic Bulletin vergleichsweise phantasievoll: Es veröffentlichte seitenweise Berichte über britische Gefangenenmißhandlungen im Unabhängigkeitskrieg. Die angelegte Analogie und Kontinuität zu den Gefangenenmißhandlungen des Bürgerkrieges machte es dabei nicht explizit und umging so die freistaatliche Pressekontrolle.11 Effizienter als die kaum gelesenen Propagandablätter waren die Aktionen der Women’s Prisoners Defence League, der WPDL. Hinter der WPDL standen die irische Nationalistin und Schauspielerin Maud Gonne und die britische Feministin Charlotte Despard, kurioserweise Schwester von Lord French, 1919–1921 als letzter Vizekönig offizielle Verkörperung der britischen Krone in Irland. Gonne und Despard waren erfahrene Propagandistinnen. Gonne hatte schon in den 1890er Jahren und während des Unabhängigkeitskrieges Propaganda für politische Gefangene gemacht. Despard beherrschte das propagandistische Repertoire des britischen Feminismus, wie Plakatumzüge und Demonstrationen.12 Mit ihren Protestmärschen und Kundgebungen stellte sich die WPDL in die Tradition der Anti-Gefängnis-Demonstrationen des Unabhängigkeitskrieges. Damit kopierte die WPDL auch die Politik der symbolischen Auflehnung, mit der Sinn Fein bis 1919 die britische Regierung zu Überreaktionen provoziert hatte. Sie versuchte, der Freistaatsführung die Rolle des britischen Unterdrückers aufzuzwingen. Die Aktivistinnen gewannen aber auch, wenn der Freistaat nicht eingriff. Dann blieb die republikanische Publicity-Arbeit ungestört und der offene und halboffene Widerstand der republikanischen Frauen blamierte die untätige Provisorische Regierung.13 Im Oktober und November 1922 erreichte die Agitation der WPDL ihren Höhepunkt und ihren größten Erfolg. Am 9. Oktober 1922 gelang es Gonne und Despard in einer Deputation zur Dublin Corporation14, eine unabhängige Untersuchungskomission zu den Gefängniszuständen durchzusetzen. Gonne und Despard versuchten, mit dem offiziellen Argument zu überzeugen, in den Dubliner Gefängnissen herrsche Seuchengefahr. Wer
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Beispiele aus: TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 1/36, Maud Gonne, Flugblatt der WPDL, ca. November 1922 und AN POBLACHT-WAR NEWS 10. August 1922. CATHOLIC BULLETIN, März 1923, S. 232–5. NAI, D/T, S-1784, Dublin District weekly intelligence report no. 181, for week ending 7. Oktober 1922; WARD, Maud Gonne, S. 36 f., 117, 136, 123. IRISH INDEPENDENT, 9. November 1922, S. 5; IRISH TIMES, 13. November 1922, S. 5 f.; FALLON, Civil War Hungerstrikes, S. 77 f.; WARD, Maud Gonne, S. 123, 134–6. Dublin Corporation: Dubliner Stadtrat.
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in der Dublin Corporation dann noch Zweifel hatte, den überzeugte ein inoffizielles Argument: Die Zuschauergalerie war bis zum Rand mit lautstarken Mitgliedern der WPDL gefüllt. Sie jubelten Gonne und Despard zu, schrieen alle vertragsbefürwortenden Redner nieder und wehrten sich erfolgreich dagegen, aus dem Saal geworfen zu werden.15 Als die Dublin Corporation mit ihrer Untersuchung beginnen wollte, reagierte die Provisorische Regierung zunächst mit einer Hinhaltetaktik, schließlich mit Repression: Gestützt auf die juristische Expertise ihres Rechtsberaters Kennedy erklärte sie die Untersuchung für illegal und drohte der Dublin Corporation mit Strafverfolgung.16 Gemessen am propagandistischen Risiko einer weitgehend neutralen Untersuchung, war das Interesse der Freistaatsführung an den tatsächlichen Gefängniszuständen gering. Selbst eine vertrauliche Untersuchung durch Mitglieder des irischen Senats ließ sie im März 1923 nicht zu.17 Doch auch die unterdrückte Untersuchung war ein Propagandaerfolg für die Republikaner: Die Dubliner Tagespresse nutzte ihre Spielräume und berichtete auch nach dem offiziellen Verbot der Untersuchungskommission über den Protest der Dublin Corporation.18 Zumindest für die WPDL stand fest: „If the Free State Government still refuses a public enquiry, it stands self-convicted before the world.“19 Auch sonst setzte der Freistaat beim sensiblen Thema „Gefängnis“ auf Repression: Solange es die obligatorische Vorzensur gab, sorgte Beaslai dafür, daß die Presse die Gefängnisse nicht thematisierte.20 Gefangenenbehandlung war ein Thema, das keinen Spielraum für Zwischentöne zuließ. Nachdem Beaslais Zensur immer lockerer wurde, registrierte FitzGeralds Presseüberwachung jeden Artikel zu Gefangenen als Indiz für Regierungs-
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IRISH INDEPENDENT, 10. Oktober 1922, S. 5; IRISH TIMES, 11. Oktober 1922, S. 4. NAI, D/T, S-1369/4: Provisional Government an Dublin Corporation, 13. Oktober 1922; John Murphy an William Cosgrave, 14. November 1922; Dublin Corporation an Cosgrave, 7. November 1922; IRISH TIMES, 24. Oktober 1922, S. 5; NAI, PG Minutes, PG 60a, 14. November 1922. NAI, S-1369/5, Andrew Jameson, William Butler Yeats, u. a. an Executive Council, 9. Mai 1923. Exemplarisch die Berichterstattung, in: IRISH TIMES, 24. Oktober 1922, S. 5; 14. November 1922, S. 6; 16. November 1922, S. 7; 18. November 1922, S. 5, 7, 8; 21. November 1922, S. 6; 25. November 1922, S. 6 f.; 28. November 1922, S. 7. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 1/36, Maud Gonne, Flugblatt der WPDL, ca. November 1922. UCD, FGP, P80/282, Military Censorship, general instructions, no.7, ca. 21. Juli 1922; vgl. ILPTUC, report, August 1922, S. 110–4 (unzensiert) mit IRISH INDEPENDENT, 9. August 1922, S. 7.
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kritik.21 Parlamentarische Anfragen zu einzelnen Gefangenen wiegelten die Regierungsmitglieder meist unwirsch ab.22 Auch auf einzelne Mißhandlungsberichte ging die vertragsbefürwortende Propaganda nicht ein. Nur selten nahm sie zu diesem neuralgischen Thema Stellung. So veröffentlichte sie zu Beginn des Krieges unter der ironischen Überschrift „Mountjoy Martyrs Menu“ den angeblich luxuriösen Speiseplan der Inhaftierten.23 Später versuchten die freistaatlichen Propagandabehörden, die republikanische Mißhandlungskampagne durch sorgfältig ausgewählte Passagen aus Gefangenenbriefen zu untergraben.24 Obwohl der Freistaat in der Gefängnisfrage unter Druck geriet, hatte er im Vergleich zur britischen Verwaltung vor 1922 einen großen Vorteil: Die freistaatlichen Propagandaprofis wußten aus eigener Gefängniserfahrung, wie man „illtreatment“-Propaganda machte.25 Michael Brennan, seit 1916 aktiver Berufsrevolutionär und einer der wenigen prominenten Guerilleros auf Seiten des Freistaats: „I have been there [Limerick jail] myself you see, so I am not likely to be fooled by methods we invented ourselves.“26 Während er sich so mit seiner eigenen Gefängniskarriere auswies, entkräftete er gleichzeitig die republikanischen Vorwürfe wesentlich wirkungsvoller, als wenn er sie nach britischem Vorbild einfach abgestritten hätte. Brennans Anschlag auf den nationalen Gefängnismythos traf dabei das Kernproblem republikanischer Gefängnispropaganda: mangelnde Glaubwürdigkeit. Schon im Oktober klagte die Leiterin der Cumman na mBan Publicity über die zweifelhafte Authentizität ihrer Information: „It must be authentic that is it must be reliable.“27 Folgt man der überzeugenden Einschätzung des anglo-irischen Intellektuellen George Russle setzte sich die klevere Einsicht dieser Aktivistin jedoch nicht durch:
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UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 22. August 1922; vgl. EVENING HERALD, 3. Juli 1922, S. 2. DAIL DEBATES, Question Time: 10. Januar 1923, S. 629; 8. März 1923, S. 2138; 12. April 1923, S. 21; 4. Mai 1923, S. 603; 25. Juni 1923, S. 603; 3. Juli 1923, S. 9; 18. August 1923, S. 1078; 10. Oktober 1923, S. 179. FREE STATE, 13. Juli 1922, S. 1. NAI, S-1369/3, no.9, extracts of prisoners letters; vgl. UCD, FGP, P80/298, extracts of prisoners letters. NAI, D/T, S-1784, Dublin District weekly intelligence summary no. 181, for week ending, 7. Oktober 1922. IRISH INDEPENDENT, 18. Oktober 1922, S. 6; DUNDALK DEMOCRAT, 21. Oktober 1922, S. 4; vgl. auch: FREE STATE, 13. Juli 1922, S. 1; Zu Michael Brennan: O’FARRELL, Who’s Who, S. 9 f., 145. UCD, OMP, P17a/44, Cumman na mBan Publicity, report for week ending, 10. Oktober 1922.
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The policy of representing every minor inconvenience of prison life as a part of a deliberate system of torture ordered by the Free State Cabinet has brought most people to the state of mind that they cannot distinguish between what is true and what is false, and end by sheer indifference.28
Obwohl das Thema Haftbedingungen von Propaganda überwuchert war, deutet alles darauf hin, daß die Verhältnisse in vielen der schnell drastisch überbelegten Gefängnisse tatsächlich eskalierten. Als Brennan während des Unabhängigkeitskrieges seine Zeit im Limericker Gefängnis absaß, war er, wie er selbst stolz erklärt hatte, der einzige politische Gefangene gewesen. Im November 1922 teilten sich 700 Republikaner die regulär für 120 Gefangene konzipierten Zellen.29 Selbst der Anglo-Ire George Russle, der kaum Sympathien für die Republikaner hatte, ging davon aus, daß vermutlich „furchtbare Dinge“ in den Gefängnissen passierten.30 b) Cathal Brugha: mißglückter „Heldentod“ Gefängnispropaganda war ein Weg, nationale Legitimität über Leiden herzustellen. Einen durchschlagenden Effekt konnten sich die republikanischen Propagandisten aber nur von neuen Märtyrern erwarten. Doch beim Räumen der Four Courts starb kein einziges prominentes Mitglied der Besatzung. Das war zwar ein persönlicher Glücksfall für die Republikaner, aber gleichzeitig eine symbolische Niederlage: Ein „1916“ ohne Märtyrer? Damit ließen sich für die Republikaner kaum große Emotionen wecken. So spottete der Free State: Die republikanischen „mock rebels“31 „[were] sheltered behind strong walls and knew that none of them would be executed afterwards. That was not heroism [. . .] They only sacrificed the life of others.“32 Erst am Ende der Kämpfe in der O’Connel Street starb dann schließlich ein prominenter IRA-Aktivist, der das nötige Format für einen Märtyrer hatte: Cathal Brugha. Brugha war schon zu Lebzeiten eine Ikone des revolutionären Republikanismus. Auf der republikanischen Seite gab es vielleicht fünf, höchstens zehn weitere Revolutionäre seines Formats. 1874 in Dublin geboren, war der asketische Abstinenzler und Nichtraucher Brugha, gemessen am Durchschnittsalter der republikanischen Aktivisten, ein alter Mann. Als 28 29 30 31 32
IRISH STATESMAN, 29. September 1923, S. 71; vgl. ebd., 22. September 1922, S. 40. IRISH INDEPENDENT, 18. Oktober 1922, S. 6; HOPKINSON, Green, S. 139. IRISH STATESMAN, 29. September 1923, S. 71; HOPKINSON, Green, S. 138 f. FREE STATE, 8. Juli 1922, S. 2. FREE STATE, 5. Juli 1922, S. 1 f.; vgl. ebd., 8. Juli 1922, S. 2; 13. Juli 1922, S. 2; UCD, MP, P7/B/240, Mulcahy an Hugh Smith, 29. August 1922, Entwurf eines Propagandaartikels für den FREEMAN.
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Gründungsmitglied des Keating Branch der Gaelic League, ab 1913 Mitglied der Irish Volunteers, nahm der Kerzenfabrikant Brugha 1916 am Osteraufstand im GPO teil. Dort kämpfte er Seite an Seite mit seinem „Klassenfeind“, dem Sozialrevolutionär James Connolly, und einem seiner mächtigsten Rivalen in der Gaelic League, Pearse. Den Osteraufstand überlebte Brugha schwerverletzt. Von mehreren Kugeln getroffen, hatte Brugha auf einem Tisch liegend solange mit seiner unversehrten linken Hand weiter geschossen, bis ihn das Bewußtsein verließ. Auch als Verteidigungsminister des Dail Kabinetts war Brugha nahezu ein Idealtyp des intransigenten Republikaners. Er lehnte es von Anfang an ab, mit Großbritannien zu verhandeln. Auch motiviert durch seine persönliche Abneigung zu Collins, war er nach der Spaltung der revolutionären Bewegung einer der erbittertsten Vertragsgegner.33 Während der Dubliner Kämpfe übernahm Brugha das Kommando über die IRA-Einheiten im Hamman Hotel. Als das Hotel zu brennen begann, befahl ihm Oscar Traynor, O/C der Dubliner IRA Brigade, sich zu ergeben. Doch Brughas Einheit kämpfte weiter. Als das brennende Hotel schon fast in sich zusammenstürzte, befahl Brugha seiner Besatzung aufzugeben. Er selbst blieb im Hotel zurück, rannte schließlich mit einem Revolver in der Hand auf die vertragsbefürwortenden Truppen zu. Wenig später brach Brugha im Kugelhagel zusammen und wurde ins Mater Hospital in Dublin eingeliefert.34 Auch im Krankenhaus arbeitete Brugha an seinem Heldenstatus. Brugha starb „soldatisch“: „Mannhaft“ ertrug er seine Schmerzen, während uniformierte Cumman na mBan-Aktivistinnen an seinem Bett eine Ehrenwache abhielten. Noch sterbend demonstrierte er seine „Irishness“, sprach die letzten Worte mit seiner Frau auf Irisch.35 „Death has always been [. . .] a towering element in Irish life.“36 Dieser ironische Kommentar Oliver MacDonaghs galt auch für Brugha, dessen politische Karriere mit dem Tod nicht vorbei war. Brugha war prädestiniert 33
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TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 4/93, „Cathal Brugha lies dead for Ireland“, Flugblatt, ca. Juli 1922; IRISH INDEPENDENT, 8. Juli 1922, S. 6; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 85, 87, 110. CATHOLIC BULLETIN, August 1922, S. 491 f. Eine Kurzbiographie Brughas in BOYLAN, Dictionary, S. 40. Cathal Brugha glich stark einem konstruierten Idealtyp. Als gedankliche Übersteigerung des dogmatischen Republikaners hätte er so in der Realität eigentlich gar nicht vorkommen dürfen. Vgl. WEBER, Objektivität, S. 190. CATHOLIC BULLETIN, August 1922, S. 493 f. IRISH INDEPENDENT, 8. Juli 1922, S. 6; vgl. WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 185; Solange männlichen Aktivisten die Verhaftung drohte, waren Frauen in Uniform die einzige Alternative. MACDONAGH, Ambiguity, S. 118.
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„[to join] the choir invisible of Ireland’s patriot dead.“37 Schon während der Vertragsdebatten hatte er den von militärischen Erfolgsaussichten unabhängigen Tod für die Republik glorifiziert und sich damit selbst ein Denkmal gesetzt: If [. . .] our last cartridge had been fired, our last shilling had been spent, and our last man were lying on the ground and his enemies howling round him and their bayonets raised ready to plunge them into his body, that man should say – true to the traditions handed down – if they said to him: ‚Now, will you come into the Empire?‘ – he should say and he would say: ‚No! I will not.‘ That is the spirit that has lasted through the centuries.38
Das Zitat des „letzten Mannes“ wurde nun zu einem neuen Klassiker republikanischer Märtyrerrhetorik. Dafür sorgte nicht zuletzt noch einmal Brugha selbst, der dieses Zitat während des Kampfes um die O’Connell Street auf einem Zettel in seiner Hosentasche trug.39 Immer wieder versuchte die republikanische Propaganda, Brugha in ihren Artikeln und Flugblättern einen Platz zwischen Tone, Emmet und Pearse zu erobern. Selbst J. J. O’Kelly argumentierte in seinem scheinneutralen Catholic Bulletin in einem sonst nüchternen Nachruf: „The bravest, most resolute and most unselfish soldier of our time and race joined the martyrs of the Gael when Cathal Brugha passed away in the Mater hospital.“40 Um Brugha für die Nachwelt zu erhalten, schickte seine Witwe den renommierten Bildhauer Albert Power, der schon die Totenmaske des prominenten Hungerstreikmärtyrers Terence MacSwineys angefertigt hatte, ins Krankenhaus.41 Doch auch viele Republikaner empfanden, daß Brughas Tod gegen die Spielregeln für einen „Heldentod“ verstoßen hatte. So schilderte kein republikanisches Propagandablatt detailliert die näheren Umstände von Brughas Tod. Denn Brugha, der seinen Revolver nicht fallen ließ, hatte den Frei37 38 39 40
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CATHOLIC BULLETIN, August 1922, S. 494. DEBATE ON TREATY, Cathal Brugha, 7. Januar 1922, S. 330. WORKER’S REPUBLIC, 5. August 1922, S. 1; EIRE, 20. Januar 1923, S. 3; DAILY BULLETIN, 10. Januar 1923. CATHOLIC BULLETIN, August 1922, S. 485–96, hier S. 485; AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. Juli 1922; UCD, FGP, P80/766, outline of republican policy, insbes. propaganda, ca. September 1922; TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 3/4, „Some famous Irregulars“, Flugblatt, ca. Juli 1922; ebd., box 4/93, „Cathal Brugha lies dead for Ireland“, Flugblatt, ca. Juli 1922; ebd., box 4/94, „Cathal Brugha“, Flugblatt, ca. Juli 1922; UCD, RP, P88/186(23), Flugblatt, „Cathal Brugha“, ca. Juli 1922. SATURDAY HERALD, 3. Juli 1922, S. 1; SIGHLE BHREATHNACH-LYNCH, ,Executed‘, The Political Commissions of Albert G. Power, in: Eire/Ireland, XIX, 1, (1994), S. 44–60, hier: S. 52; Albert Powers Totenmasken von Terence MacSwiney, Brugha, Collins und Griffith in National Museum of Ireland, permanente Ausstellung „1916“.
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staatssoldaten sein Martyrium geradezu aufgezwungen. O’Malley, der als prominenter Guerillero wußte, wie radikale Republikaner dachten, unterstellte Brugha deshalb einen kalkulierten Freitod. Er hätte mit seinem Martyrium die militärische Niederlage in den Four Courts kompensieren wollen: „That, to me, was a policy of desperation, and it was unsoldierly.“42 Dadurch bekam der Tod Brughas eine fast groteske Tragik: Von der Fiktion „the Republic“ überwältigt, opferte er sein Leben. Er ließ Irland zuliebe seine Frau mit sechs kleinen Kindern im Stich, sprach seine letzten Worte nicht in seiner Muttersprache. Trotzdem wurde er nach den republikanischen Spielregeln kein lupenreiner Märtyrer, weil er gegen die Etikette verstoßen hatte. Statt bis zum Ende im Hamman Hotel weiter zu kämpfen oder auf eine bessere Gelegenheit für den „Heldentod“ zu warten, lief er in den Tod. Zumindest solange die Umstände von Brughas Tod noch gut bekannt waren, ließen sich die Freistaatssoldaten nur schwer zu brutalen Mördern an einem Helden der Revolution machen. Erst langfristig wurde Brugha unumstritten in den Kanon republikanischer Märtyrer aufgenommen.43 Trotzdem war Brughas Tod für die freistaatliche Propaganda ein sensibles Thema, zu dem sie kaum Stellung nahm. Einzige Ausnahme war Kulturminister Eoin MacNeill. Im Free State, also gegenüber den vermeintlich überzeugteren Regierungsanhängern, versuchte er, Brughas Märtyrerstatus durch eine differenzierte Argumentation zu relativieren. MacNeill verzichtete auf alle Angriffe, argumentierte auch nicht mit den näheren Umstände von Brughas Tod. Statt dessen würdigte MacNeill Brughas Verdienste, verzieh ihm persönliche Beleidigungen. MacNeill billigte dem toten Brugha zu, was er über keinen seiner lebenden Feinde öffentlich gesagt hätte: „If [sic!] he was wrong, he was wrong in good faith, for Cathal Brugha, for all that I ever knew of him was an honest, honourable and unselfish man. I have no doubt at all that he [. . .] gave his whole hearted allegiance to Ireland.“44 Das war einmal Pietät und ein Akt der Fairneß, aber auch eine propagandistische Strategie, die die Opposition republikanischer Märtyrer – „britischer“ Aggressor unterlief. Mit Brughas Tod begründete sich eine Rhetorik des Feindeslobs, mit der beide Seiten im Bürgerkrieg die zu Briten erklärten Feinde als Tote wieder zu fehlgeleiteten „Iren“ machten.45 42 43 44 45
O’MALLEY, Singing Flame, S. 138; vgl. auch IRISH TIMES, 7. Juli 1922, S. 3. Mit heroischem Unterton schildert der IRISH INDEPENDENT, 8. Juli 1922, S. 6, Brughas „no surrender“. CATHOLIC BULLETIN, August 1922, S. 491. Brugha hatte einen Sohn und fünf Töchter im Alter zwischen vier Monaten und neun Jahren: SATURDAY HERALD, 3. Juli 1922, S. 1. FREE STATE, 13. Juli 1922, S. 3. IRISH INDEPENDENT, 8. Juli 1922, S. 6; FREE STATE, 12. August 1922, S. 1; IRISH INDEPENDENT, 2. August 1922, S. 5.
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c) Harry Boland: „attempt to escape“ Vor den ersten Hinrichtungen im November 1922 fehlte den Freistaatstruppen ein effizientes und legalisiertes Gegenmittel, um für die Hinterhalte der IRA Vergeltung zu üben. Sobald sich ihre Gegner ergaben, durften die Truppen sie offiziell nur ins Gefängnis abschieben, unabhängig von den eigenen Verlusten. Die Freistaatstruppen verübten deshalb so viele Repressalmorde, daß selbst die Freistaatsführung und die katholischen Bischöfe einige Einzelfälle zugeben mußten.46 Seit Beginn des Bürgerkrieges berichtete die republikanische Propaganda immer wieder von Guerilleros, die inoffiziell hingerichtet worden waren.47 Doch zum Nachteil der republikanischen Propaganda waren die Opfer dieser Morde meist unbekannte Guerilleros, und meist war die Beweislage schlecht. Gute Propagandageschichten konnten die Republikaner nur selten erzählen. Das ging nur, wenn sie an belastende Informationen aus dem Lager des Feindes gelangten48 oder wenn der einzelne Fall besonders tragisch war; etwa als Freistaatstruppen Brian MacNeill, einen Sohn des vertragsbefürwortenden Kultusministers, ermordeten.49 Auch der Fall Harry Boland zählte zu den wenigen, bei denen die republikanische Propaganda eine gute Ausgangsposition hatte: Boland war prominent, ja populär, und alle Aussagen sprachen dafür, daß die vertragsbefürwortende Armee Boland ohne Risiko lebend hätte verhaften können. Keine Person verkörpert die Tragik des Bürgerkrieges besser als Boland. Boland war einer der entscheidenden Organisatoren Sinn Feins vor dem Unabhängigkeitskrieg gewesen. Während des Unabhängigkeitskrieges begleitete Boland de Valera in die USA, war dort dessen vertrautester Mitarbeiter. Aber Boland war auch einer der besten Freunde von Collins. Er war so das Gelenkstück zwischen den beiden überragenden Führungspersönlichkeiten der Revolution. Gemeinsam mit Collins plante Boland so spektakuläre Aktionen wie de Valeras Ausbruch aus dem Lincoln Jail 1919. Doch 46
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DAIL DEBATES, Mulcahy, 27. September 1922, S. 849; AN POBLACHT-WAR NEWS, 23. Oktober 1922; vgl. FREEMAN’S JOURNAL, 28. September 1922, S. 4; VALIULIS, Mulcahy, S. 237, 177; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 274. AN POBLACHT-WAR NEWS, 30. August 1922; 18. September 1922; 4. Dezember 1922; DONEGAL VINDICATOR, 2. September 1922, S. 3; 30. September 1922, S. 2; vgl. UCD, FGP, P80/338, David L. Robinson, Oglaigh na hEireann [=IRA], HQ [Headquarters] Southern Division, an Gavan Duffy, 10. Oktober 1922. Vgl. den ungeschickten Versuch von Beaslais Zensur, den Mord an dem IRA-Aktivisten Patrick Mannion zu vertuschen: UCD, FGP, P80/285, Owen Tutty an H. Murray, 22. September 1922; ebd., Proof to Censor FREEMAN’S JOURNAL, 21. September 1922; AN POBLACHTSCOTTISH EDITION, 30. September 1922, S. 1 f. HOPKINSON, Green, S. 215; AN POBLACHT -SCOTTISH EDITION, 21. Oktober 1922, S. 7.
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Collins und Boland teilten nicht nur ihr gemeinsames Interesse an Politik, Revolution und der irischen Republik. Beide verliebten sich auch hollywoodreif in dieselbe Frau: Kitty Kieran.50 Dabei zog Boland schließlich den kürzeren, weil er offensichtlich zu lange in den USA gewesen war. Nach der Vertragsspaltung überlagerte sich der politische Konflikt mit der Rivalität um die geliebte Frau. Beide Freunde brachen den Kontakt miteinander ab.51 Am 31. Juli 1922 wurde Boland in einem Hotel in Skerries von Soldaten in seinem Zimmer schlafend überrascht. Als Boland im Schlafanzug und unbewaffnet aus dem Zimmer über die Treppe fliehen wollte, erschossen ihn die Freistaatssoldaten – ob das passierte, um ihn zu beseitigen, aus Unfähigkeit, um seine Flucht zu verhindern oder um sich selbst zu verteidigen, läßt sich nicht mehr klären.52 Sowohl de Valera als auch Collins ging der Tod ihres Freundes nahe.53 Doch mit Trauer allein konnten sich beide Seiten nicht lange aufhalten. Sie mußten versuchen, den Tod Bolands propagandistisch zu kontrollieren. Die offizielle Freistaatspropaganda veröffentlichte dazu ein knappes „official statement“: When accosted in his bedroom [Boland] made an unsuccessful attempt to seize a gun from one of the troops and then rushed out into the corridor. After firing two shots at random and calling on Mr. Boland to halt, it was found necessary to fire a third shot to prevent escape.54
Die republikanische Propaganda sah das ganz anders: Sie hatte mit Bolands „sacrifice“55 endlich ihren Märtyrer; einen Märtyrer, der, wie es Boland selbst in den Vertragsdebatten formuliert hatte, die „apostolic succession“56 der republikanischen Märtyrer in die Gegenwart fortsetzte.57 Was „attempt to escape“, „failing to halt“ oder „resisting arrest“ bedeutete, darüber gab es aus republikanischer Perspektive keinen Zweifel: Ireland has heard that excuse before, and knows what it means. It was the British Government’s excuse for the murder of those who stood in their way. It is the Pro-
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Vgl. „Michael Collins“. USA 1996. Regie: NEIL JORDAN; mit Liam Nesson als Collins und Julia Roberts als Kitty Kieran. LITTON, Civil War, S. 82; Eine Kurzbiographie Bolands, in: O’FARRELL, Who’s Who, S. 8, 144. HOPKINSON, Green, S. 132. FLK, DeV, 231, de Valera an Joe McGarrity, 12. Oktober 1922, „[. . .] the dearest friend I had on earth“; HOPKINSON, Green, S. 132; MURRAY, Voices, S. 93. FREEMAN’S JOURNAL, 1. August 1922, S. 5; AN TOGLACH, 12. August 1922, S. 3. AN POBLACHT-WAR NEWS, 2. August 1922. DEBATE ON TREATY, Boland, 7. Januar 1922, S. 304. AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 30. September 1922, S. 7.
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visional Government’s excuse for the murder of those who stand in their way to-day.58
Die offizielle freistaatliche Erklärung las sich aus republikanischer Perspektive so eindeutig subversiv, daß ihre Propagandisten sie erneut ungekürzt, wenn auch kommentiert, veröffentlichten.59 „Attempt to escape“ als Mord zu verstehen, war nicht nur Sache einer kleinen republikanischen Elite, sondern während des Unabhängigkeitskrieges allgemein üblich.60 Prominente Opfer von „Fluchtversuchen“ wie die Bürgermeister von Limerick und Cork, George Clancy und Thomas MacCurtain, zählten zu den wichtigsten Märtyrern der Revolution.61 Dabei unterschlug die republikanische Version von „attempt to escape“, daß die IRA mit derselben Methode gegen ihre Feinde vorgegangen war: Allein während der von Collins organisierten Aktion am „Bloody Sunday“ starben vierzehn zum Teil zu Unrecht als Spione verdächtigte Männer in ihren Betten.62 Genauso erschoß die IRA während des Bürgerkrieges freistaatliche Spione – oder wen sie dafür hielt.63 Folgt man der vermutlich dramatisierten Einschätzung des britischen Geheimdienstes in Dublin, so teilte auch 1922 noch eine Mehrheit der Bevölkerung diese revolutionäre Logik. Präsent war die republikanische Deutung von „attempt to escape“ auf alle Fälle noch.64 So reagierte die Tagespresse, anders als die offizielle vertragsbefürwortende Propaganda, sensibler: Sie vermied Formulierungen wie „attempt to escape“, verschwieg die näheren Umstände von Bolands Tod. Nur die unionistische Irish Times sah keinen historisch begründeten Grund, an freistaatlichen wie britischen „Fluchtversuchen“ mit ihren ritualisierten „Warnschüssen“ zu zweifeln.65 Zu spät fiel den freistaatlichen Propagandisten auf, wie ungeschickt ihre Erklärung gewesen war. Erst im nachhinein versuchten sie gegenzusteuern und warfen der republikanischen Propaganda vor, Bolands Tod zu instru-
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TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 3/6, „Boland is dead“, Flugblatt, ca. August 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 4. August 1922. Exemplarisch: MUNSTER NEWS, 24. November 1920, S. 3; vgl. IRISH BULLETIN, 24. November 1920, S. 2; O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 180. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 143 f.; siehe exemplarisch: IRISH BULLETIN, 24. November 1920, S. 2; Siehe auch CATHOLIC BULLETIN, November 1922, S. 711–22. TOWNSHEND, Political Violence, S. 338. IRISH TIMES, 22. November 1922, S. 6; 24. April 1923, S. 6. NAI, D/T, S-1784, Dublin District weekly intelligence summary no. 177, for week ending, 9. September 1922; ebd., no. 181, for week ending 7. Oktober 1922. FREEMAN’S JOURNAL, 2. August 1922, S. 5; IRISH INDEPENDENT, 2. August 1922, S. 5; IRISH TIMES, 2. August 1922, S. 5.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
mentalisieren: „The manner in which his name has been trailed, and the misuse of the sorrow of his relatives, reveal the desperate tactics of beaten men.“66 Entlastende Fakten konnten sie nicht vorlegen. Ganz abgesehen davon, daß Bolands Fluchtversuch fast genauso selbstmörderisch gewesen war wie Brughas letzter Kampf: Wenn die Freistaatstruppen nicht vorsätzlich gehandelt hatten, dann hatten sie sich zumindest denkbar ungeschickt verhalten. Bolands Tod folgte ein „inquest“, eine gerichtliche Voruntersuchung mit Geschworenenentscheidung, in der die Todesursache offiziell festgestellt werden sollte. Der „inquest“ wurde, nachdem die Jury die Leiche begutachtet hatte, von einem eigens darauf spezialisierten Richter, dem „coroner“ eingeleitet. Seine Pflicht war es, die Zeugen zu befragen und zu vereidigen, gegebenenfalls ein gerichtsmedizinisches Gutachten einzuholen und das Verfahren zu überwachen. Ein Anwalt vertrat meist die Partei des Toten, ein anderer die des Beschuldigten. Ein Staatsanwalt war nicht am Verfahren beteiligt, und auch ein belastendes Urteil der Geschworenen hatte als solches keine Rechtskraft. Es rechtfertigte lediglich eine vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten und diente als Beweisgrundlage in einem regulären strafrechtlichen Verfahren.67 So ein „inquest“ konnte für die Provisorische Regierung eine sehr unangenehme Sache werden. Sie hatte keine Kontrolle über das Gericht, konnte offenbar nicht beeinflussen, wer in der Jury saß. Noch weniger konnte die Provisorische Regierung unliebsame Zeugenaussagen vor Gericht unterbinden. Solange es die obligatorische Vorzensur gab, versuchte die Regierung daher, zumindest die Berichterstattung über „inquests“ zu kontrollieren.68 Da gegen die nationale Dignität von „attempt to escape“ schwer zu argumentieren war, waren Zensur und Informationskontrolle die wichtigste Stütze der freistaatlichen Propaganda. Da es bei Bolands Bekanntheitsgrad keinen Sinn machte, den Bericht ganz zu unterdrücken, mußte Beaslai ihn Satz für Satz nachbearbeiten.69 Für die Zensur- und Propagandastrategie der Vertragsbefürworter bezeichnend, verzichtete Beaslai auf grobe Manipulationen und offensichtliche Propagandalügen. Er beschränkte sich darauf, alle Zeugenaussagen in vertragsbefürwortende Terminologie umzuformulieren und einige normative Schlüsselbegriffe auszutauschen. Der repu-
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FREE STATE, 12. August 1922, S. 1. Siehe „inquest“ in: Encyclopaedia Britannica 1910, Bd. 14, S. 214; ebd., „coroner“, Bd. 7, S. 187 f. NLI, BP, box 6, J.W. Whitehead an John R. Murphy, 8. August 1922. NLI, BP, box 6, Mr. Butler an Beaslai, ca. 4. August 1922.
I. Republikanische Martyrologie
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blikanische Anwalt Michael Comyn erschien jetzt nicht mehr als Vertreter „for General Headquarters, Irish Republican Army“, sondern als Anwalt der „associates of the deceased“. Er warf nach Beaslais Version der vertragsbefürwortenden Armee nicht mehr vor, Boland in seinem Bett „ermordet“, sondern nur noch auf ihn geschossen zu haben.70 Zum Glück für die oder auf Druck der Provisorischen Regierung entschied die Jury allen Indizien zum Trotz, daß Boland nicht vorsätzlich ermordet worden sei. Dieser Urteilsspruch und Beaslais Zensur schränkten die Chancen der republikanischen Propaganda ein, die sich jetzt gegen den „tutored coroner and [the] hand-picked jury“ wandte.71 Doch richtig überzeugt von der offiziellen freistaatlichen Version war selbst Collins nicht. Auch er wußte, was „attempt to escape“ bedeuten konnte. Hinter den Kulissen versuchte er, aufzuklären, wie sein ehemals bester Freund tatsächlich ums Leben gekommen war.72 Dem toten Boland sprachen die Republikaner in Propagandaartikeln wie in privaten Einschätzungen eine Reihe von charakterlichen Eigenschaften zu: „frank, cheery, boyish, fearless – in soul a Celt of the Celts.“73 Offenheit, Furchtlosigkeit, Ritterlichkeit, häufig Fröhlichkeit und immer wieder „boyishness“ ergaben ein Abziehbild des republikanischen Helden im Bürgerkrieg, eben ein Idealbild dessen, was eine „Celt of the Celts“ sein sollte.74 „Boyishness“ nahm eine Rhetoriktradition auf, die sich auf die Neunzehnsechzehner und die Märtyrer des Unabhängigkeitskrieges, vor allem auf den achtzehnjährig exekutierten Kevin Barry bezog. Das stellte eine weitere Kontinuität zur revolutionären Martyrologie her.75 Das soll nicht heißen, daß Boland, der für seinen Humor bekannt war, nicht wirklich ein fröhliches Gemüt hatte. Die Synonyme „boys“ und „lads“ für die IRA waren nicht aus der Luft gegriffen: Kein Wunder, daß 70
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NLI, BP, box 6, unzensierter Artikel der EVENING MAIL vom 3. August 1922, S. 3 und zensierte Druckfahnen desselben Artikels; ebd., J.W. Whitehead an John R. Murphy, 8. August 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 4. August 1922. HOPKINSON, Green, S. 132. CATHOLIC BULLETIN, August 1922, S. 568. AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. Juli 1922; 2. August 1922; EIRE, 21. April 1923, S. 5; CATHOLIC BULLETIN, August 1922, S. 467 f.; Dezember 1922, S. 759; FLK, DeV, 2. August 1922, Aodh de Blacam an Mrs. Pegg, 2. August 1922; O’Malley an Mary Childers, 12. November 1923, in: RICHARD ENGLISH (Hrsg.), Prisoners: The Civil War Letters of Ernie O’Malley. Swords 1991, S. 48: „Childlike Mick Kilroy, our Officer Commanding, aged forty-five. . .“ IRISH INDEPENDENT, 1. November 1920, S. 5; CATHOLIC BULLETIN, August 1922, S. 467; Zu Kevin Barry als Mythos: MICHAEL HOPKINSON, Biographies of the Revoluitionary Period: Michael Collins and Kevin Barry, in: Irish Historical Studies, XXVIII, 111, (1993), S. 310–5, hier: S. 315.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
viele Aktivisten noch „childlike“ aussahen, wenn sie mit knapp über zwanzig Jahren für die Republik kämpften und starben.76 Doch was hinter diesen offenbar massenhaft auftretenden Eigenschaften stand, war keine verifizierbare Realität, sondern ein Idealbild, das nationale Dignität dokumentierte. Selbst dem knapp fünfzigjährigen Brugha schrieb die republikanische Propaganda eine „childlike gentleness“ zu.77 Wenn die Märtyrer fröhlich und jungenhaft waren, dann war das in Opposition zu ihrem tragischen frühen Tod konstruiert. Es sollte gleichzeitig eine Lesart blockieren, nach der die jungen Republikaner ihre Jugend und ihr Leben sinnlos wegwarfen. Jugendhaftigkeit und Fröhlichkeit verschleierten den Fanatismus, die Verbissenheit und Humorlosigkeit der meisten Guerilleros. Sie signalisierten Unschuld, Reinheit, Mangel an Kalkül. Schon Pearse hatte in Analogie zum Tod Christi Jugend und Unschuld zu Voraussetzungen eines erfolgreichen Blutopfers erklärt.78 Dem folgte auch die republikanische Bürgerkriegspropaganda. Sie charakterisierte selbst den fanatischen Aktivisten Liam Lynch nach dem Muster Boland und Kevin Barry: „He was as gentle as a child, and like those martyrs without personal ambition, incapable of deceit.“79 „Gentleness“ und „chivalry“ verschoben dabei auch den Blick vom Töten auf das Getötetwerden. Sie ästhetisierten so das blutige Geschäft eines Guerilleros, der wie Lynch bereit gewesen war, notfalls massenweise Zivilisten als Geiseln zu erschießen. Umgekehrt versuchte die freistaatliche Propaganda, aus einer wörtlich interpretierten „boyishness“ ihrer Gegner Kapital zu schlagen – selbst wenn auch die meisten Freistaatsgeneräle noch in ihren Zwanzigern waren80. In der Presse veröffentlichte die freistaatliche Propaganda-Photos von vierzehn- bis sechzehnjährigen Fianna boys, die in den Four Courts gekämpft hatten.81 In diesem Kontext stellte die Freistaatspropaganda die IRA einmal nicht als republikanische „Black and Tans“ dar, sondern als von de Valera und Childers indoktrinierte und schlecht erzogene Jugendliche. Aus dem „Terroristen“ Rory O’Connor wurde in diesem Zusammenhang ein „terrible boy“, aus den „männlichen“ IRA-Aktivisten „neurotic young men“:
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MEMORY, Memory’s, S. 108; AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. Juni 1922; PLAIN PEOPLE, 2. Juli 1922, S. 2; UCD, KP, P4/292(2), Aodh de Balcam an Father Caineach, 27. Juli 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. Juli 1922, 2. August 1922. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 142; Zu Pearse Idealisierung von jungen Knaben und „boyishness“: ebd., S. 52–4, 126–8, 130, 174 f., 177. EIRE, 21. April 1923, S. 5. MEMORY, Memory’s, S. 123. NAI, PG Minutes, G1/2, 20. Juli 1922.
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unreife Buben, die sich, von ebenso unreifen Cumman na mBan-Mädchen aufgehetzt, als ganze Kerle profilieren wollten.82 Beim Produzieren von Märtyrern hatten die republikanischen Propagandisten anfangs deutliche Probleme: Ihre Gefängnispropaganda knüpfte zwar nahtlos an die Kampagnen des Unabhängigkeitskrieges an, war jedoch trotz der katastrophalen Zustände in vielen Gefängnissen wenig glaubwürdig. Vor allem fehlte den Propagandisten lange Zeit eine prominenter Märtyrer: Cathal Brughas Tod in der O’Connellstreet glich mehr einem Selbstmord als einem „Heldentod“. Seinen Tod konnte die freistaatliche Propaganda leicht als normales Soldatenschicksal darstellen und die propagandistische Wirkung seines Martyriums durch die Technik des Feindeslobs weiter relativieren. Auch Harry Boland erklärte die republikanische Propaganda zum Märtyrer. Sie schrieb ihm dabei eine am Vorbild Kevin Barry orientierte körperliche und charakterliche „boyishness“ zu, die ihn bald zu einem Abziehbild des republikanischen Helden machte. Dabei erlaubte der „inquest“ zu Bolands Tod trotz der freistaatlichen Zensur, daß republikanische Propaganda ein breites Publikum erreichte. Doch ohne ein belastendes Urteil ließ sich Bolands „attempt to escape“ nicht zweifelsfrei zum Repressalmord erklären. 2. DIE HINRICHTUNG ERSKINE CHILDERS Anfang November lagen die Nerven der Provisorischen Regierung blank. Gut einen Monat vor der offiziellen Gründung des Freistaates war noch immer kein Ende des Bürgerkrieges in Sicht. Die Rhetorik des „getting back to normal“ wandte sich immer mehr gegen die Provisorische Regierung selbst. Die Freistaatsführung beschloß deshalb, die angedrohten Exekutionen auch umzusetzen. Am 17. November 1922 ließ die Provisorische Regierung erstmals vier republikanische Guerilleros wegen unerlaubten Waffenbesitzes hinrichten. Das waren die ersten von insgesamt siebenundsiebzig offiziellen Exekutionen. Die spektakulärsten Fälle waren dabei die Hinrichtung von Childers und Anfang Dezember der Mord an vier prominenten Republikanern, die schon lange vor dem Public Safety Act inhaftiert worden waren. Diese Zwangspolitik war zwar unpopulär, half der Regierung aber, den Widerstand der IRA zu brechen.83
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FREE STATE, 29. April 1922, S. 2; 8. Juli 1922, S. 1 und 15. Juli 1922, S. 2. Zusammengefaßt nach: HOPKINSON, Green, S. 189–92.
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So könnte die Zusammenfassung einer der üblichen „dünnen“ Beschreibungen der Hinrichtungspolitik aussehen.84 Damit scheint das Wesentliche gesagt – ist es aber nicht. Es lohnt sich, bei der Geschichte der Exekutionen genauer hinzusehen: Sich hinrichten zu lassen und hinzurichten war Kern der kulturellen Praxis der irischen Revolution. Sie waren durch das Genre des Märtyrertodes beziehungsweise der gerechten Strafe stark ritualisierte Handlungen und folgten einem festgelegten Ablauf und Deutungsschema.85 Nicht nur die Propaganda zu den Hinrichtungen, auch das Handeln der Menschen während und vor den Hinrichtungen wurde damit auf konkurrierenden Ebenen als ein Text lesbar, „in which the abstract realities are mythically read.“86 Eine dichte Beschreibung der Exekutionen erlaubt damit einen idealen Zugang in die Köpfe von IRA-Guerilleros, Freistaatsministern, republikanischen und freistaatlichen Propagandisten. a) Erskine Childers: ein frustrierter Propagandist Die vertragsbefürwortende Propaganda, aber auch das Freeman’s Journal hatten schon vor dem Bürgerkrieg Childers zum sinistren Hintermann der Republikaner aufgebaut, der einen düsteren Einfluß auf de Valera und die IRA ausübe.87 Ein sichtbares Ergebnis von Childers auch daraus resultierender Unbeliebtheit war dessen katastrophales Abschneiden in seinem Wahlkreis in Wicklow. Von insgesamt 34 514 Erstpräferenzstimmen hatte Childers gerade einmal 572 erhalten.88 Im Krieg machte die freistaatliche Propaganda Childers dann zum Drahtzieher der Republikaner, zum „able Englishman who is leading those who are opposed to this Government“.89 Egal, ob Plünderungen oder Mißbrauch der weißen Flagge, egal, ob die IRA Brücken, Schienen, Straßen oder Telegraphenstationen zerstörte, Childers steckte dahinter.90 84
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Vgl. F[rancis], S[tewart], L[eland] LYONS, Ireland since the Famine. London 1971, S. 460, 462; FOSTER, Modern Ireland, S. 512 f.; LEE, Ireland 1912–1985, S. 66 f.; KEOGH, Vatican, S. 99; Auch HOPKINSON, Green, S. 189–192, insbes. S. 192, geht kaum über diese Ebene hinaus. Zur Eigendynamik kulturell tief verwurzelter Genres vgl. STEPHEN GREENBLATT, Murdering Peasants: Status, Genre, and the Representation of Rebellion, in ders., Learning to Curse. London, New York 1992, S. 99–129, hier: S. 99–112, insbes. S. 111 f. DENNING, Mr. Bligh, S. 199. FREEMAN’S JOURNAL, 5. Januar 1922, S. 4; YOUNG IRELAND, 25. März 1922, S. 4; FREE STATE, 27. Mai 1922, S. 4; DAIL DEBATES, Griffith, 27. April 1922, S. 304 f. BRIAN MERCER WALKER, Parliamentary Election Results in Ireland, 1918–1992. Dublin 1992, hier: S. 106. DAIL DEBATES, O’Higgins, 27. November 1922, S. 859. FREEMAN’S JOURNAL, 31. August 1922, S. 3; NLI, BP, box 6, Anti-Childers-Artikel, ca. 15. August 1922; FREE STATE, 12. August 1922, S. 1.
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Immer wieder brachte die vertragsbefürwortende Propaganda dabei Childers teil-englische Abstammung gegen ihn ins Spiel und thematiserte sein früheres Engagement für das britische Empire, vor allem in Südafrika. Das ging von Griffith berüchtigtem Ausfall „damned Englishman“91 bis zur These der freistaatlichen Propaganda, Childers sei sein Leben lang „a consistent English Imperialist“ gewesen.92 Solche Angriffe sollten die nationale Legitimität von Childers und damit die der Republikaner insgesamt untergraben. Wegen des freistaatlichen Pressemonopols konnte sich Childers kaum gegen diese Vorwürfe wehren.93 Die These von Childers als Drahtzieher der IRA stand im direkten Gegensatz zu Childers wirklicher Lage: Wie die anderen republikanischen Politiker hatte auch er keinen Einfluß auf die militärische Strategie der IRA. Das galt für den „britischen“ Außenseiter Childers noch viel mehr als für prominente Politiker wie de Valera oder Mary MacSwiney. Auch Childers Einflußmöglichkeiten als Propagandist verschlechterten sich nach dem Ende der Munster Republic dramatisch. Von der IRA-Führung eher geduldet als erwünscht, war er ab dem 8. August 1922 mit dem IRA-Hauptquartier auf der Flucht. Dabei stellte er – als Ein-Mann-Betrieb – insgesamt achtzehn Ausgaben der An Poblacht – Southern Edition her. Childers arbeitete unter deprimierenden Umständen und war von aktuellen Nachrichten fast völlig abgeschnitten. Was immer die Dubliner Propagandisten angeblich regelmäßig in den Süden schickten, Childers erreichte es nur in Ausnahmefällen. Er wußte Anfang September nicht einmal, wer die Dubliner Propaganda koordinierte.94 Auch die fertiggestellten Zeitungen verteilen zu lassen, gelang Childers nicht.95 Eine ganze Ausgabe der Poblacht sah er selbst im Straßengraben verrotten.96 Von der militärischen Führung der IRA ignoriert, von den einfachen IRA-Aktivisten hinter der Hand als „Sonderling“ und „British Hybrid“ verspottet, resignierte Childers immer mehr.97 Wie Frank O’Connor zy-
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DEBATE ON TREATY, Griffith, 10. Januar 1922, S. 416. UCD, FGP, P80/307, Propagandaartikel „Sinister activities of Major Childers“, ca. August 1922. TCD, CP, 7852–55/1291, Childers an Mary Childers, 21. November 1922. Siehe: AN POBLACHT-SOUTHERN EDITION, 9. August 1922–25. Oktober 1922; TCD, CP, 7852–55/ 1285, Childers an Mary Childers, 6. September 1922; UCD, FGP, P80/739, O’Malley an Lynch, 22. September 1922. TCD, CP, 7852–55/1285, Childers an Mary Childers, 6. September 1922. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 235 f. TCD, CP, 7852–55/1285, Childers an Mary Childers, 6. September 1922; ebd., 1291, 21. September 1922; ebd., 1292, 22. September 1922; ebd., 1296, 16. Oktober 1922; FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 211–4, 225; WILKINSON, Zeal, S. 162 f.
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nisch beobachtete, ließ die IRA ihn trotz seiner Erfahrung im Buren- und Weltkrieg nicht an militärischen Aktionen teilnehmen: „After all, he was only a damned Englishman, elderly, sick, and absent minded.“98 Zwischen dem 6. September 1922 und dem 16. Oktober 1922 produzierte er nurmehr vier Ausgaben der Poblacht und gab es dann vorläufig ganz auf. Danach fühlte sich Childers sichtlich erleichtert: „I have just thrown a millstone from my neck and feel lighter for the future.“99 Doch leichter fühlte sich Childers nur kurze Zeit. Er blieb nachdenklich, resignativ, fast depressiv, und er produzierte noch einmal zwei Ausgaben seines „Opus“.100 Da Childers in Munster keine sinnvolle Aufgabe übernehmen konnte, berief ihn de Valera zurück nach Dublin.101 Doch schon auf dem Weg nach Dublin verhafteten die Truppen Childers im Haus seines Cousins und früheren Mitarbeiters Robert Barton. Dabei trug Childers einen kleinen Damenrevolver bei sich, ironischerweise ein Geschenk von Collins, aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges. Dieses Souvenir, für einen Revolutionär mehr ein Spielzeug als eine Waffe, erfüllte formal den Tatbestand des illegalen Waffenbesitzes. Childers wurde inhaftiert, ein anonymes Militärgericht machte ihm den Prozeß.102 Nun passierte etwas sehr Spannendes: Vertragsbefürworter und Republikaner versuchten, den Prozeß und den Tod von Childers in ihrem Sinne zu instrumentalisieren, ja zu inszenieren. Sie erzählten dabei zwei völlig unterschiedliche Geschichten. Während die freistaatlichen Propagandisten versuchten, über eine verschärfte Pressekontrolle ihre Version von der gerechten Strafe durchzusetzen, knüpften die Republikaner mit Childers Hinrichtung an die traditionelle Martyrologie an. Sie machten aus dem frustrierten Außenseiter Childers ein Mitglied der „illustrious dead“. b) Opfertod: die republikanische Inszenierung von Childers Tod Während Gefängnispropaganda unglaubwürdig war, während Brughas Heldentod einen Beigeschmack von Selbstmord hatte und Boland vielleicht
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FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 233; vgl. ebd., 232. TCD, CP, 7852–55/1296, Childers an Mary Childers, 16. Oktober 1922; AN SOUTHERN EDITION, 6. November 1922; 2. Oktober 1922; 4. Oktober 1922; 1922. TCD, CP, 7852–55/1298 Childers an Mary Childers, 20. Oktober 1922; AN SOUTHERN EDITION, 18. Oktober 1922; 25. Oktober 1922. TCD, CP, 7852–55/1298, Childers an Mary Childers, 20. Oktober 1922; P7a/154, de Valera an alle Mitglieder des Army Council, 13. November 1922. HOPKINSON, Green, S. 189; FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 213 f.
POBLACHT16. Oktober POBLACHTUCD, MP,
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wirklich auf der Flucht erschossen worden war, gab es bei einer Exekution nichts zu deuteln. Opfer und Täter, Art, Ort und Zeitpunkt des Todes waren klar definiert. Die Hinrichtungen, gerade die Hinrichtung Childers, lieferten für die republikanische Propaganda deshalb die beste Möglichkeit, die Geschichte des „noble self-sacrifice“ so wirkungsvoll wie möglich zu erzählen. Wer de Valeras Briefe an Childers Frau Mary liest, sieht, wie tief getroffen de Valera davon war, daß sein bester Propagandist und enger Vertrauter verhaftet worden war. De Valeras Anteilnahme war mehr als vorauseilende Kondolenz: Er fürchtete um Childers Leben und hatte eine extreme Wut auf die Freistaatsregierung. Doch bei aller Trauer erkannte de Valera auch, welch hervorragende Propaganda er mit dem Fall Childers machen konnte. Während er gleichzeitig sein ambivalentes Verhältnis zu „majority rule“ zeigte, klagte de Valera bereits in seinem ersten Brief an Mary Childers: Poor ‚people‘ how one begins almost to despair of democracy when one realises how little of the truth is allowed to reach them, and how misleading the information on which they must form their judgements.103
Um „Molly“ Childers Mithilfe zu erreichen, argumentierte de Valera, nur Publicity könne jetzt noch das Leben ihres Mannes retten.104 De Valera war taktvoll genug, zu verschweigen, daß gerade, wenn Childers nicht überleben sollte, Propaganda am wichtigsten war – wenn nicht für Childers, so doch für „the Republic“.105 Von seinem Propagandadirektor Brennan verlangte de Valera, die Propaganda allein auf den Fall Childers und die Exekutionen zu konzentrieren, über Nacht Poster, Flugblätter und Pamphlete zu produzieren: „Publicity! Publicity! Publicity!“106 De Valera übernahm nicht nur die Koordination der Childers-Propaganda persönlich, er sorgte auch dafür, daß die Propaganda eine gute Geschichte über Childers erzählen konnte: Zusammen mit Childers und mit dessen Anwalt Michael Comyn beriet de Valera die Prozeßstrategie.107 Comyn war mehr als ein Bote zwischen de Valera und Childers. Er war der fähigste Jurist im republikanischen Lager, gehörte wie der freistaatliche Rechtsexperte Hugh Kennedy zum elitären Kreis von Großbritanniens an-
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TCD, CP, 7847–51/278, de Valera an Mary Childers, 11. November 1922. TCD, CP, 7847–51/279, de Valera an Mary Childers, ca. 12. November 1922; ebd., 278, 11. November 1922; ebd., 280, 15. November 1922. Vgl. FLK, DeV, 207, Comyn an de Valera, ca. 18. November 1922; 19. November 1922. FLK, DeV, 241, de Valera an Brennan, 16. November 1922; 19. November 1922. Siehe dazu FLK, DeV, 207, Korrespondenz Comyn, de Valera, Childers, insbes. Comyn an de Valera, 18. November 1922.
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gesehensten und bestbezahlten „Barristers“, den King’s Counsels.108 Schon im Unabhängigkeitskrieg hatte ihn sein distinguierter britischer Titel nicht davon abgehalten, von der Todesstrafe bedrohte IRA-Aktivisten zu verteidigen.109 Im Bürgerkrieg war er an allen wichtigen Fällen beteiligt: Comyn half mit, den republikanischen Supreme Court des Unabhängigkeitskrieges gegen die Freistaatsregierung zu instrumentalisieren.110 Er übernahm zahlreiche „inquests“, darunter die Fälle Brugha und Boland, und er beriet und verteidigte Exekutionskandidaten wie Childers und später O’Malley.111 Doch Comyn arbeitete nicht nur als Jurist. Wie die freistaatlichen Rechtsberater Kennedy und Kevin O’Shiel schrieb auch er Propaganda. Im August 1923 kandidierte er für Sinn Fein in Clare. Kein Wunder, daß die Freistaatsführung schon früh überlegte, wie sie Comyn aus dem Verkehr ziehen könnte. Doch Comyn war zu schlau, um seinen Feinden einen justiziablen Vorwand zu liefern, und die Freistaatsbehörden verzichteten ihm gegenüber auf einen offenen Verstoß gegen die von ihnen propagierten konstitutionellen Methoden.112 Am Fall Childers arbeiteten also die führenden Experten des politischen Republikanismus: Comyn als der beste republikanische Jurist, Childers selbst und Brennan als die erfahrensten republikanischen Propagandisten. Die Regieanweisungen in der republikanischen Inszenierung von Childers Prozeß und „Heldentod“ gab der fähigste Politiker des politischen Republikanismus: de Valera. In Zweifelsfällen setzte er seine Vorstellungen auch gegenüber Childers durch.113 Beobachtet man, wie Childers, Comyn und de Valera zusammenarbeiteten, wird deutlich, welche Sogwirkung die Logik von „the Republic“ auf die Mitglieder der republikanischen Elite hatte. Gemeinsam planten sie eine propagandistisch wirkungsvolle und damit tödliche Prozeßstrategie.114 Frappierend ist dabei, wie Childers, gestützt von Comyn und de Valera, aber auch mit vollem Einverständnis seiner Frau, an seinem eigenen Tod
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FREE STATE, 30. September 1922, S. 2. LANKFORD, Hope, S. 215, 217 f. FLK, DEV, 222a, Saorstat na hEireann Supreme Court, 11. August 1922. SATURDAY HERALD, 8. Juli 1922, S. 1; FREEMAN’S JOURNAL, 4. August 1922, S. 6; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 30. September 1922, S. 1; FLK, DeV, 287/1, Lynch an de Valera, 10. Januar 1923; FLK, DeV, 287/1, Lynch an de Valera, 11. Januar 1923. NAI, D/J, C/R/FM2 (1993 release), Mary MacSwiney an de Valera, 1. März 1923; MICHAEL GALLAGHER, Irish Elections, S. 26; FLK, DeV, 234/A/3, Comyn, Manuskript einer Wahlkampfrede, ca. August 1923; UCD, KP, P4/253, Kennedy, Memo re Habeas Corpus-Oliver Plunkett, ca. 25. Juli 1922. FLK, DeV, 1322/1, Childers an de Valera, 9. Juni 1922. FLK, DeV, 207, 208, passim.
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mitarbeitete. Es war immer wieder Childers, der die Reinheit der Lehre, vor allem den propagandistischen Nutzen für die Republik, über sein eigenes Überleben stellte. So ließ er de Valera über Comyn ausrichten: He places himself unreservedly at the disposal of the Gov[ernmen]t of the Republic to take in his case whatever course is deemed best for the Republic. He thinks that they mean to shoot him but his death would be a benefit to the Republic.115
Das hieß nicht unbedingt, daß Childers lebensmüde war. Zumindest de Valera war kein eiskalt kalkulierender Politiker, der einen Mitarbeiter und Freund zum Wohl der Propaganda opferte. Wie ich zeigen werde, versuchten beide, die Exekution zu verhindern, aber nicht um jeden Preis. Das sekundäre Ziel Überleben konnten und wollten Childers, Comyn und de Valera nur auf dem Boden der Republik verfolgen. Hätte Childers seine republikanischen Ideale über Bord geworfen, zumindest stark strapaziert, hätte er zahlreiche erfolgversprechende Wege gehabt zu überleben: Er hätte sich auf seinen Status als britischer Staatsbürger berufen, das Gericht für unzuständig erklären und auf einer Ausweisung nach Großbritannien bestehen können.116 Oder: Er hätte sein republikanisches Engagement öffentlich widerrufen, zumindest den bewaffneten Kampf für illegitim erklären können. Aus beiden Fällen hätte die vertragsbefürwortende Propaganda soviel Kapital schlagen können, daß sie Childers Überlebensangebot vermutlich angenommen hätte. Doch so weit hätte Childers vermutlich gar nicht gehen müssen, um eine gute Überlebenschance zu haben. Er hätte einfach erklären können, was er seit Ausbruch des Krieges gemacht hatte: Childers hatte Artikel geschrieben, Propaganda koordiniert, Telegramme zensiert, aber vermutlich nie einen Schuß abgefeuert.117 Childers war zumindest seit dem Ende des Ersten Weltkrieges Propagandist, nicht Militär. Seine Pistole war ein Erinnerungsstück, in Frank O’Connors Worten „[a] toy gun“.118 Für diese Argumentation hätte Childers nicht die Republik verraten müssen, er hätte nur sich und die anderen republikanischen Politiker als „Schreibtischsoldaten“ diskreditiert.119
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FLK, DeV, 207, Comyn an de Valera, ca. 16. November 1922 (Hervorhebung durch mich). So eine Unterstellung in DUNDALK DEMOCRAT, 25. November 1922, S. 4. LONGFORD und O’NEILL, De Valera, S. 205; O’MALLEY, Singing Flame, S. 194. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 214; vgl. ebd., S. 213, 237. Childers deutete diese Möglichkeit in einem aus dem Gefängnis geschmuggelten Statement vom 19. November 1922 an, verwarf sie jedoch sofort: TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/53, Pamphlet „Childers“, ca. April 1923, 11 f. Vgl. auch die Angst seiner Frau Mary Childers vor einem entehrenden Kompromiß, selbst wenn er Childers Leben retten könnte: FLK, DeV, 207, Mary Childers an de Valera, 15. November 1922.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
Doch all diese Experimente lehnte Childers ab. Er hielt sich an die Rolle, die die republikanische Tradition für das Genre des Martyriums vorsah.120 Childers bekannte sich zu seinem formalen militärischen Rang als „StaffCaptain“ der IRA, behauptete den Vertrag „in speech, writing and in action“ bekämpft zu haben. Was er über Comyn mit de Valera und dem Kopf der IRA Liam Lynch abgesprochen hatte: Als „citizen of the Republic“121 und Kriegsgefangener verzichtete er darauf, sich förmlich zu verteidigen.122 Lynch, de Valera, Comyn und Childers verwendeten dabei eine propagandistische Strategie mit Tradition. So erklärte Beaslai 1918 in der ersten Ausgabe der An tOglach: „When captured the attitude of defiance must be maintained. No courts, laws, or institutions of the enemy must be recognised.“123 Ausgerechnet FitzGerald, Childers direkter Gegenspieler, war 1915 einer der ersten gewesen, der sich vor Gericht nicht als „good Irish subject of the British Government“ darstellte. FitzGerald hatte sich geweigert, das britische Gericht anzuerkennen, weil das für ihn eine Akzeptanz der britischen Herrschaft implizierte. Statt dessen hatte er das Gericht als Plattform für republikanische Propaganda genutzt und wurde darauf zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.124 Nach 1916 war diese Politik zumindest für die Offiziere der IRA Standard.125 Viele von ihnen bezahlten das nach 1919 mit dem Leben und wurden dafür von den Chefpropagandisten FitzGerald und Childers als Märtyrer verherrlicht.126 Es waren de Valera und Comyn, die gegen Childers Widerstand darauf bestanden, wenigstens ein Stück weit von dieser orthodoxen Linie abzuweichen. Sie hofften damit Childers Überlebenschancen zu erhöhen, zumindest aber durch einen öffentlichen Prozeß mehr Publicity für den ChildersFall zu erreichen. Comyn wandte sich an C.A. O’Connor, Master of the Rolls und Richter am britischen High Court of Justice in Southern Ireland,
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Zur Theatermetapher, insbes. im Zusammenhang mit Hinrichtungen: DENNING, Mr. Bligh, S. 35–54; vgl. auch LÜSEBRINK, Transfer, S. 38. Zitate aus Childers Verteidigungsrede vom 17. November 1922, in: AN POBLACHT-WAR NEWS, 29. November 1922; vgl. DAILY BULLETIN, 16. November 1922. FLK, DeV, 207, Lynch an Childers, 13. November 1922; Comyn an de Valera, ca. 16. November 1922; Lynch an de Valera, 16. November 1922; de Valera an Comyn, ca. 15. November 1922, 16. November 1922; Comyn an de Valera, Memo zur Illegalität des freistaatlichen Gerichts, 18. November 1922; NAI, PG Minutes, PG 68a, 22. November 1922; FLK, DeV, 202, statement of objection by Staff-Captain Childers, 17. November 1922. AN TOGLACH, 15. August 1918, S. 1. FITZGERALD, Memoirs, S. 77 f., 91–5. VALIULIS, Mulcahy, S. 23 f.; LANKFORD, Hope, S. 210. FITZGERALD, Memoirs, S. 95; LANKFORD, Hope, S. 210 f.; exemplarisch: Childers über Kevin Barry, in IRISH BULLETIN, 2. November 1920, S. 2.
I. Republikanische Martyrologie
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um für Childers eine Verfügung nach dem Habeas Corpus Act zu erreichen.127 Eine Verfügung nach dem Habeas Corpus Act konnte jeder britische Bürger bei einem Richter des High Court beantragen. Damit konnte der Antragsteller erzwingen, daß ein internierter Verdächtiger einem Haftrichter vorgeführt wurde. Der Habeas Corpus Act sollte so verhindern, daß Verdächtige auf Dauer ohne Prozeß festgehalten wurden. Er bildete damit seit dem siebzehnten Jahrhundert einen Grundpfeiler britischer Rechtsstaatlichkeit, galt in britischer Tradition als ein „well established remedy for the violation of personal liberty.“128 Hätte O’Connor im Fall Childers eine Verfügung nach Habeas Corpus erlassen, dann hätte er damit die gesamte freistaatliche Militärgerichtsbarkeit für illegitim erklärt. Childers hätte einem Haftrichter vorgeführt werden müssen und Anspruch auf einen zivilen und öffentlichen Prozeß gehabt. Ein solcher Prozeß wäre damit die optimale Bühne für republikanische Propaganda geworden, und Childers selbst hätte ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit überlebt.129 Comyn hatte durchaus Grund für gedämpften Optimismus. Kurz nach dem Waffenstillstand 1921 hatte O’Connor eine Verfügung nach Habeas Corpus für zwei von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilte Republikaner erlassen. Da die britische Militärführung seine Entscheidung damals ignorierte, war O’Connor so weit gegangen, einen einstweiligen Haftbefehl gegen den Oberkommandierenden der britischen Streitkräfte, Nevil Macready, zu erlassen. Als die Militärbehörden die Verurteilten wenig später frei ließen, war das ein Propagandatriumph für Sinn Fein und ein sensationeller Erfolg für den Anwalt der beiden: Comyn.130 Damit sich der Richter O’Connor auch an dem Präzedenzfall von 1921 orientierte, entwickelte Comyn eine Theorie, die unter juristischem Aspekt abenteuerlich, zumindest originell war. Der Kern von Comyns hier stark vereinfachter Argumentation war: Der Vertrag sei noch kein bindendes Gesetz, weil der britische König den Irish Free State Act des britischen Parlaments noch nicht offiziell bestätigt habe. Solange der Freistaat aber noch nicht existiere, gelte die Rechtslage von 1921, also der britische Restauration
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FLK, DeV, 208, Writ of summons, between Childers and Mulcahy, u. a., 18. November 1922; zur Rolle des „Master of the Rolls“ siehe: Encyclopaedia Britannica, 1910, Bd. 17, S. 873. Encyclopaedia Britannica, 1910, Bd. 12, S. 784–6, Zitat: S. 784. FLK, DeV, 208, Writ of summons, between Childers and Mulcahy, u. a., 18. November 1922; IRISH TIMES, 21. November 1922, S. 5; IRISH INDEPENDENT, 23. November 1922, S. 5 f. LANKFORD, Hope, 215–8; MACREADY, Annals, Bd. 2; 586–92.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
of Order in Ireland Act. Childers müsse daher entweder vor ein britisches Militärgericht oder vor ein ziviles britisches Gericht gestellt werden.131 Doch O’Connor ließ sich von Comyn nicht überzeugen. Wie er schon in den ersten Vorgesprächen mit Comyn durchblicken ließ, orientierte er sich nicht an Comyns Spitzfindigkeiten, sondern an einem fest verankerten Grundsatz der Habeas-Corpus-Rechtsprechung: Im Krieg sei Habeas Corpus von vorneherein immer aufgehoben. Die Provisorische Regierung als de-facto-Regierung Irlands befinde sich offensichtlich in einem Kriegszustand mit den Republikanern. Sein Gericht sei deshalb für den Antrag nicht zuständig.132 Auch der gescheiterte Antrag brachte eine Reihe propagandistischer Vorteile: Die immer wieder verschobene Hinrichtung zerrte nicht nur an den Nerven von Childers, sie machte seinen Fall auch für die Öffentlichkeit spannender, führte dazu, daß das republikanische Thema Childers weiter die Presse bestimmte. Täglich berichteten die Dubliner Tageszeitung von Childers Habeas-Corpus-Antrag, druckten die endlos in die Länge gezogenen Reden der republikanischen Anwälte.133 Auch wenn ein juristisch ungebildeter Leser, ja selbst ein gestandener Jurist wie O’Connor einigen Winkelzügen von Comyn nicht mehr folgen konnte und wollte, beeindruckend blieb Comyns Fachjargon allemal.134 Darüber hinaus waren weite Passagen ungebrochene republikanische Propaganda: Die Freistaatsarmee sei „the King’s Army“, das „Provisional Government“ sei „the King’s Government“, der Bürgerkrieg eine Fortsetzung des irischen Freiheitskrieges. Den größten propagandistischen Erfolg bildete trotz der Ablehnung des Habeas-Corpus-Antrags O’Connors Urteil. Jetzt gab es eine höchstrichterliche Entscheidung, die die „armed revolt“ der Republikaner als „Krieg“ definierte. Childers war damit Kriegsgefangener, seine Exekution wider-
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FLK, DeV, 207, Comyn an de Valera, ca. 16. November 1922; 18. November 1922, 19. November 1922; IRISH TIMES, 21. November 1922, S. 5; 22. November 1922, S. 5; IRISH INDEPENDENT, 23. November 1922, S. 5 f., 24. November 1922, S. 6. FLK, DeV, 207, Comyn an de Valera, 19. November 1922; IRISH INDEPENDENT, 24. November 1922, S. 5 f.; vgl. bereits IRISH TIMES, 22. November 1922, S. 6; Siehe auch: Encyclopaedia Britannica, 1910, Bd. 12, S. 785 f. IRISH INDEPENDENT, 22. November 1922, S. 5 f.; 23. November 1922, S. 5 f.; 24. November 1922, S. 5; IRISH TIMES, 21. November 1922, S. 5; 22. November 1922, S. 5f; 23. November 1922, S. 5 f., 24. November 1922, S. 5 f. Durch stundenlange Plädoyers versuchte Comyn, zum Ärger O’Connors, Zeit zu gewinnen: FLK, DeV, 207, Comyn an de Valera, 19. November 1922; insbes. IRISH INDEPENDENT, 23. November 1922, S. 5 f. IRISH INDEPENDENT, 23. November 1922, S. 6: „The Master of the Rolls remarked that he was unable to follow the observations of counsel.“
I. Republikanische Martyrologie
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sprach internationalem Recht – auch wenn das nichts an Childers Tod änderte.135 Um diese Propagandamöglichkeiten zu nutzen, mußten Comyn und de Valera jedoch von der orthodoxen republikanischen Linie abweichen. Sie versicherten sich zwar gegenseitig immer wieder „to keep the Republican position right“. Dennoch wußten sie genau, wie angreifbar ihre neue Strategie war.136 Dem Oberkommandierenden der IRA Liam Lynch ging bereits jede Äußerung vor Gericht zu weit, die über das bloße Nichtanerkennen des Gerichts hinausging.137 Denn die Habeas-Corpus-Strategie implizierte indirekt die Anerkennung des britischen Königs. Wie es auf dem von Comyn ausgefüllten Antragsformular stand, konnte Habeas Corpus nur der britische König gewähren: „George the Fifth by the Grace of God, of the United Kingdom of Great Britain and Ireland, and of the British Dominions beyond the Seas, King, Defender of the Faith and soforth“.138 Childers Anwälte klagten für den irischen Republikaner Childers in einem britischen Gericht britisches Recht von britischen Richtern im Namen des britischen Königs ein!139 An diesen schwer zu leugnenden Tabubruch knüpften sich weitere Verstöße gegen die republikanische Etikette und damit gegen die republikanischen Überzeugungen: Seit wann lehnten die Republikaner den Vertrag ab, weil einem britischen Act of Parliament die königliche Zustimmung fehlte? Seit wann erkannten sie den Restauration of Order in Ireland Act als legitimes Gesetz an?140 Seit wann forderten IRA-Aktivisten, die sich sonst prinzipiell weigerten, die britische Herrschaft in Irland anzuerkennen, einen Prozeß vor einem britischen statt vor einem irischen Militärgericht? Nachdem auch „Habeas Corpus“ das Leben verurteilter IRA-Aktivisten nicht retten konnte, verzichtete die republikanische Führung in Zukunft auf juristische Experimente, die das republikanische Gewissen strapazierten. Nach Childers Tod galt für alle Verurteilten wieder die traditionelle Strategie: Nichtanerkennen des Gerichts und Tod für die Republik.141 135 136 137 138 139 140 141
IRISH INDEPENDENT, 24. November 1922, S. 5 f.; vgl. Argumentation des republikanischen Anwalts Patrick Lynch: IRISH TIMES, 21. November 1922, S. 5. FLK, DeV, 207, Comyn an de Valera, ca. 18. November 1922; 19. November 1922; de Valera an Comyn, 16. November 1922. FLK, DeV, 207, Lynch an de Valera, 16. November 1922 „The danger is these Counsellors overreach their instructions“; vgl. ebd., de Valera an Comyn, ca. 15. November 1922. FLK, DeV, 208, Writ of summons, between Childers and Mulcahy, u. a., 18. November 1922. So Comyn, in: IRISH TIMES, 23. November 1923, S. 5; IRISH INDEPENDENT, 23. November 1922, S. 6. IRISH TIMES, 22. November 1922, S. 5; IRISH INDEPENDENT, 24. November 1922, S. 6. FLK, DeV, 308/2, de Valera an Patrick Ruttledge, 27. Januar 1923; Patrick Ruttledge an de
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
Childers tolerierte das Abweichen Comyns und de Valeras von der reinen Lehre nur ungern, rechtfertigte sich noch in seinen Abschiedsbriefen dafür.142 Was er selbst immer wieder betonte: Formal war er nicht an dem Verfahren beteiligt, das seine Anwälte „on his behalf“ führten.143 Childers selbst hielt sich, wie so viele Aktivisten vor und nach ihm, an das ungeschriebene Textbuch für werdende Märtyrer. Je näher die Exekution rückte, um so genauer diktierte „the Republic“ das Sprechen und Verhalten der Verurteilten. Die letzte Rede vor Gericht, der letzte Brief, das letzte Treffen mit dem Geistlichen, der letzte Wunsch, die letzte Geste, die letzten Worte: sie alle waren nur zum kleineren Teil eine ganz persönliche Angelegenheit. Das Genre des republikanischen Märtyrertodes stellte dem werdenden Märtyrer eine verbindliche Sprech- und Verhaltensweise zur Verfügung: Sie kanalisierte individuelle Gefühle und garantierte, daß der werdende Märtyrer in einen subjektiv sinnvoll erscheinenden Tod einwilligte.144 Fast alle IRA-Aktivisten wichen kaum vom Idealtyp des Genre „Märtyrertod“ ab.145 Häufig formulierten sie die verbindliche Rhetorik in fast identischer Wortwahl: Fast alle angehenden Märtyrer versicherten in Sätzen wie „I could not be happier“ ihre religiöse und politische Zuversicht. Die meisten erklärten ihren Angehörigen, daß sie im Vertrauen auf Gott und die Heilige Jungfrau stürben, viele erwähnten, daß sie trotz des Hirtenbriefes Kommunion und Absolution erhalten hätten.146 So gut wie jeder der Totgeweihten erkannte in seinem Sterben einen höheren Zweck, sie starben „for Ireland“, „for the Truth, Honour and Principle“, „as soldier of the Irish Republic.“147 Viele zitierten Pearse oder andere Märtyrer ,148 deuteten manch-
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Valera, 4. Februar 1923; vgl. aber FLK, DeV, 308/2, de Valera an Patrick Ruttledge, 15. März 1923. TCD, CP, 7852–55/1301, Childers an Mary Childers, 20. November 1922; 21. November 1922; 22. November 1922; 23. November 1922; 24. November 1922; FLK, DeV, 207, Comyn an de Valera, ca. 16. November 1922; 18. November 1922; Lynch an de Valera, 16. November 1922; Mary Childers an de Valera, 15. November 1922; de Valera an Comyn, 16. November 1922. IRISH TIMES, 23. November 1922, S. 5. Zur Tradition letzter Worte vgl. MACDONAGH, Ambiguity, S. 115 f. Vgl. WEBER, Objektivität, S. 190–212. Exemplarisch: AN POBLACHT-WAR NEWS, 21. Februar 1923, Abschiedsbrief. Zitate: AN POBLACHT-WAR NEWS, 20. November 1922; ebd., 12. Dezember 1922, Abschiedsbrief von Liam Mellows; IRISH BULLETIN, 25. Oktober 1920, S. 1, Statement von Terence MacSwiney; vgl. PIARAS MACLOCHLAIN, Last Words, Letters and Statements of the Leaders Executed after the Rising at Easter 1916. Dublin 1990, S. 32 f., 45, 156. EIRE, 20. Januar 1923, S. 6, Abschiedsbrief und Tagebucheintragung von Richard Barret mit Zitaten von Pearse; AN POBLACHT-WAR NEWS, 15. Dezember 1922, Abschiedsbrief Joe McKelvey.
I. Republikanische Martyrologie
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mal auch ihre zukünftige religiöse und politische Unsterblichkeit an. Dabei argumentierten nur wenige so offen wie Liam Mellows, der sich selbst explizit in die Nachfolge der „great dead“ stellte – anstatt das nach dem Tod den Propagandisten zu überlassen: „Though unworthy of the greatest honour that can be paid an Irishman or woman, I go to join Tone and Emmet, the Fenians, Tom Clarke, Connolly, Pearse, Kevin Barry and Childers. My last thoughts will be on God and Ireland and you.“149 Wo die werdenden Märtyrer in ihren privaten Abschiedsbriefen auf diese Rhetorik zurückgriffen, waren das mehr als persönliche Gefühle und republikanischer Automatismus. Abschiedsbriefe richteten sich nicht nur an die Ehefrau, Mutter oder die Kameraden in der IRA, sie waren Teil der traditionellen Exekutionspropaganda und damit auch ein kalkuliertes Statement gegenüber der Öffentlichkeit. Als Propaganda erreichte die darin ausgebreitete verbindliche Rhetorik, daß auch das „Publikum“ im Tod des Exekutierten einen Märtyrertod erkannte, daß der Tod auch für die zurückbleibenden Angehörigen einen Sinn machte.150 Als Propagandaprofi war Childers in der Lage, mehr als nur die republikanischen Standards herunterzubeten. Als „Konvertit“ vom Imperialismus zum Republikanismus griff er bewußter und weniger automatisch auf die republikanische Rhetorik zurück. In einer Verteidigungsrede, die Childers im Sinne der Nichtanerkennungs-Strategie als formloses Statement deklarierte, schilderte er in erstaunlich nüchternem Ton seine Karriere als britischer Soldat, Unionist, Aktivist der Home Rule Bewegung und Republikaner. Dahinter stand zum einen Childers persönlicher Wunsch, sich nach der Anti-Childers-Kampagne der Provisorischen Regierung zu rehabilitieren. Genauso war das aber auch kalkulierte Propaganda. Daß Childers eine imperialistische Vergangenheit hatte, war ohnehin bekannt. Daß er sie nun aus seiner Perspektive erzählte, war kein Zeichen dafür, „how little Erskine Childers understood the Irish“,151 sondern dafür, wie routiniert Childers seinen Beruf beherrschte: Childers log nicht, übertrieb nicht und argumentierte in einem sachlichen, glaubwürdigen Ton. Noch kurz vor seinem Tode
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AN POBLACHT-WAR NEWS, 12. Dezember 1922, Abschiedsbrief Liam Mellows. Weitere Abschiedsbriefe siehe: AN POBLACHT-WAR NEWS, 23. November 1922; 6. Februar 1923; 21. Februar 1923; EIRE, 27. Februar 1923, S. 2, 8; 5. Mai 1923, S. 1; vgl. IRISH BULLETIN, 25. Oktober 1920, S. 1. IRISH BULLETIN, 25. Oktober 1920, S. 1; 26. Oktober 1920, S. 2; vgl. FLK, DeV, 239A, de Valera, offizielle Mitteilung an Verwandte republikanischer Gefallener, ca. 30. November 1922; vgl. FLK, DeV, 289, de Valera an Tom Derrig, 18. November 1922; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 317, 326 f. WILKINSON, Zeal, S. 224.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
war sein Propagandastil der polemischen, manchmal apokalyptischen Rhetorik seiner meisten republikanischen Kollegen weit überlegen.152 Childers zeigte hier noch einmal sein propagandistisches Geschick, das de Valera so schätzte und dem er lange hinterhertrauerte.153 Neben der persönlichen Rechtfertigung blieb die republikanische Rhetorik auch für Childers bestimmend. So vertraute Childers, gestützt auf das republikanische Geschichtsgesetz, auf eine zukünftige „national unity“ von Vertragsbefürwortern und -gegnern unter republikanischen Bedingungen: Some day we shall be justified when the Nation forgets its weakness and reverts to the ancient and holy tradition which we are preserving in our struggle, and may God hasten the day of reunion amongst us all under the honoured flag of the Republic.154
Auch Childers Abschiedsbrief ging über die republikanischen Standards hinaus. Während die meisten Exekutierten mit Blick auf das weitere Publikum Emotionen herunterspielten und durch republikanische Standards ersetzten, fingierte Childers in seinen Briefen die Atmosphäre einer nur vom Gefängniszensor gestörten Vertraulichkeit – was zu intim war, davon konnte Childers mit Recht ausgehen, würden seine Frau und die republikanischen Propagandisten wieder kürzen können.155 Sein Brief war sicher auch der tragische Abschied von der geliebten Frau. Er war sicher auch ein Anzeichen dafür, daß Childers in den Worten des sonst so nüchternen Historikers Michael Hopkinson „with grace and heroism“ starb.156 Ja, aber Childers starb mit kalkulierter „grace and heroism“. Der „damned Englishman“ zeigte sich weitblickend, verzeihend, staatsmännisch, als liebender Ehemann und gefaßter Stoiker. Und wie alle anderen, die sich zu Märtyrern machten oder dazu gemacht wurden, vertraute er auf Gott und „the Republic“.157 Gerade in Childers letzten Stunden sind kalkulierte Propaganda, individuelle Gefühle und die Diktate des Genre „Märtyrertod“ nicht mehr voneinander zu trennen. Childers letzter Wunsch, seine letzte Geste und seine letzten Worte waren so angelegt, daß sie beim Publikum ein Maximum an 152 153 154 155
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AN POBLACHT-WAR NEWS, 29. November 1922, Childers Verteidigungsrede. FLK, DeV, 241, de Valera an Brennan, 12. Dezember 1922; FLK, DeV, 231, de Valera an Joe McGarrity, 28. November 1922; LONGFORD und O’NEILL, De Valera, S. 206. AN POBLACHT-WAR NEWS, 29. November 1922, Childers Verteidigungsrede. TCD, CP, 7852–55/1301, Childers an Mary Childers, 20. November 1922; 21. November 1922; 22. November 1922; 23. November 1922; 24. November 1922; vgl. ebd., Kopie der für die republikanische Propaganda ausgewählten Passagen. HOPKINSON, Green, S. 189; Gerührt war selbst der sonst wenig empfindsame britische Beobachter: MEMORY, Memory’s, S. 169. TCD, CP, 7852–55/1301, Childers an Mary Childers, 20. November 1922; 21. November 1922; 22. November 1922; 23. November 1922; 24. November 1922.
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Emotionen freisetzen sollten. Auf dem Weg in den Tod arbeitete Childers an der Legende seines eigenen Märtyrertodes. Sein letzter Wunsch, noch einmal die Sonne aufgehen zu sehen, demonstrierte, wie feinfühlig, und sensibel, wie „boyish“ er war. Das konnte selbst Unionisten anrühren: „That flash of tragic beauty was like the sharp thrust of a sword“.158 Seine letzte Geste, der Handschlag mit dem Erschießungskommando, war auf eine Christusanalogie angelegt: Der Märtyrer verzeiht sterbend den Tätern. Am ungewöhnlichsten waren seine letzten Worte: Wieder wich Childers relativ weit von den Vorgaben der republikanischen Tradition ab. Statt Irlands Freiheit galten sie dem Erschießungskommando: Childers „Come nearer boys, it will make it easier for you!“ inszenierte den unerschrockenen Heldenmut eines Mannes, der sich weder die Augen verbinden noch fesseln ließ.159 Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß Childers sich wirklich so verzeihend, feinfühlig und heldisch verhalten hat.160 Schließlich wollte er nicht umsonst sterben, wußte, daß die republikanische Propaganda so genau wie möglich über seinen Tod berichten würden. Childers letzte Minuten drangen ebenso nach draußen wie seine letzte Rede vor Gericht und die Briefe an seine Frau. Doch selbst oder gerade wenn die republikanische Propaganda Childers letzte Minuten stilisiert oder erfunden hätte: Das ändert nichts daran, daß diese letzten Worte und Gesten einen sinnvollen republikanischen Märtyrertod darstellten. Die republikanische Geschichte über Childers Tod war entscheidend für die Martyrologie – nicht „wie es eigentlich gewesen“. Wie de Valera es von Brennan verlangt hatte: Der drohende „Justizmord“ an Childers war für Wochen das Thema Nummer eins der republikanischen Propaganda.161 Die republikanische Propaganda baute Childers Tod schon während des Prozesses zu einem besonderen Fall von Martyrologie auf. Childers hatte das Format und den Bekanntheitsgrad für einen echten Märtyrer – von den „four lads“, die kurz vor Childers starben, kannten die Propagandisten bis zu ihrem Tod nicht einmal die Namen.162 Um Childers
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162
NEW STATESMAN, 2. Dezember 1922, S. 265. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/53, Pamphlet „Erskine Childers“, ca. April 1923, S. 2; THE NEW STATESMAN, 2. Dezember 1922, S. 260. So auch die Einschätzung eines britischen Journalisten, in: THE NEW STATESMAN, 2. Dezember 1922, S. 260. FLK, DeV, 241, de Valera an Brennan, 16. November 1922; Fast jede Ausgabe der AN POBLACHT-WAR NEWS vom 13. November 1922 bis zum 8. Dezember 1922 behandelte das Thema „Childers“; vgl. auch STRAIGHT TALK, 22. November 1922; 29. November 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 18. November 1922.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
mehr Gewicht zu geben, ernannte ihn de Valera trotz seiner Verhaftung, wie geplant, zum Publicityminister seiner republikanischen Gegenregierung.163 Endlose Artikel würdigten Childers Waffenschmuggel für die Volunteers 1914, rühmten seine Treue zur Republik nach 1921 und priesen immer wieder seine Propaganda während des Unabhängigkeitskrieges. Doch auch wenn die republikanische Propaganda übertrieb, in diesem Kontext blieb Childers noch immer Mensch. Erst sein „glorious sacrifice“ transformierte ihn zum Märtyrer, zum letzten Glied in der apostolischen Folge der „illustrious dead“ von Tone bis Brugha, „[who] rise from their individual seats, in that vast, spiritual Senate-house [. . .] and cry: HAIL, BROTHER!“164 Daß Childers zuvor ein ausgegrenzter, frustrierter Propagandist gewesen war, spielte jetzt keine Rolle mehr. Genau wie Maud Gonnes alkoholsüchtiger und gewalttätiger Ehemann John MacBride nach 1916 zum Märtyrer wurde, verlor auch Childers mit dem Tod seine irdischen Schwächen und Probleme.165 Der tote Childers wurde in Nachrufen und Gedichten Teil eines überpersönlichen, spirituellen Kontinuums, das Irland Leben verlieh.166 Childers Verteidigungsrede vor Gericht, seine letzten Worte, seine letzte Geste, sein letzter Wunsch, seine Abschiedsbriefe wurden, wie kalkuliert, fester Bestandteil des Childers-Kultes.167 Childers wurde zu einem „Klassiker“, dessen (letzte) Worte man zitierte. Sein Name strahlte für Republikaner soviel nationale Dignität aus, daß sein Cousin und Freund Robert Barton sich im Wahlkampf 1923 in Childers-Barton umbenannte.168 Auch Childers Frau Mary ließ sich von de Valera für die republikanische Propaganda gewinnen, wurde wie Margaret Pearse, wie Kate O’Callaghan und Kathleen Clarke zur lebenden Stimme des toten Märtyrers.169
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UCD, MP, P7a/154, de Valera an alle Mitglieder des Army Council, 13. November 1922. Zitate: AN POBLACHT-WAR NEWS, 30. November 1922; 25. November 1922 und UCD, FGP, P88/104, Flugblatt, „The Supreme Crime“, ca. 25. November 1922. Vgl. WARD, Maud Gonne, S. 110, 118; Die Verwandlung John MacBrides von einem Säufer zu einem Märtyrer hat William Butler Yeats sehr treffend beschrieben, während er gleichzeitig mit zu ihr beitrug, siehe: „Easter 1916“, in: YEATS, Poems, S. 287 f. AN POBLACHT-WAR NEWS, 30. November 1922; 8. Dezember 1922; vgl. auch: MACARDLE, Republic, S. 743. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/53, Pamphlet „Erskine Childers“, ca. April 1923; AN POBLACHT-WAR NEWS, 8. Dezember 1922; 9. Dezember 1922; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 9. Dezember 1922, S. 5. NAI, Robert Barton, 1093/11, THE REPUBLICAN LEADER-WICKLOW, 26. August 1923, S. 2; NAI, Sinn Fein, 1094/2/3, Poster, Mai 1923: „May God hasten the day of reunion amongst us all under the honoured banner of the Republic“; Vgl. UCD, RP, P88/335, Wahlplakat, ca. Juli 1923. TCD, CP, 7847–52/286, de Valera an Mary Childers, ca. 8. Dezember 1922.
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Martyrologie war nicht nur kalkulierte Propaganda, sondern tief verwurzelter Bestandteil des emotionalisierten republikanischen Denkens. Das Martyrium verlieh Childers Tod auch jenseits des propagandistischen Nutzens Sinn. Mary MacSwiney, von Childers Tod schwer mitgenommen und beeindruckt, richtete auf ihrem Kaminsims neben dem Gedächtnisschrein für ihren Bruder Terence eine Gedenkecke für Childers ein.170 De Valera tröstete Childers Witwe Mary mit dem bekanntesten Klassiker der republikanischen Selbstopfer-Rhetorik, einer Passage aus Pearses Grabrede für O’Donnovan Rossa: „From the blood of martyrs will spring the Ireland we seek to build.“171 Das war noch zurückhaltend, verglichen mit den Worten, die Gallagher als Freund und Mitarbeiter von Childers fand. Gallagher, als Redakteur des Irish Bulletin ein Meister emotionsloser, zurückhaltender Propaganda, benutzte in einem privaten Beileidsschreiben an Childers Frau religiöse Analogien, die nicht einmal seine unfähigsten Kollegen veröffentlicht hätten: A messiah came amongst us to free us [. . .] and we slew him [. . .] Say in your prayers to [sic!] old Erskine ‚Father they know not what they did‘ [. . .] This incomparable man has been raised on the Cross [. . .] It would have been sweet to have carried his Cross with him, I was not worthy of it.172
Als Märtyrer schrieben zumindest die untalentierteren Propagandisten dem toten Childers eine Reihe von Eigenschaften zu, die auf den lebenden kaum zutrafen. Wie Boland trug auch der früh gealterte, deprimierte und nur von seinen Freunden richtig akzeptierte Childers Züge von „boyishness“. Er war auf einmal „gentle“ und „without bitterness“.173 Frank O’Connor, der Childers in seinen letzten Lebensmonaten als einen bis zur Geistesabwesenheit in sich zurückgezogenen Gesinnungstäter kennengelernt hatte, mußte sich wundern: Wie kam ein Propagandaprofi wie Gallagher dazu, diesen bleichen, kranken und ausgegrenzten Mann in den Stereotypen der Shelleyschen Romantik zu beschreiben?174
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174
FALLON, Soul of Fire, S. 95. TCD, CP, 7847–52/286, de Valera an Mary Childers, ca. 8. Dezember 1922; PEARSE, Political Writings, S. 136 f. TCD, CP, 7847–51, 390, Gallagher an Mary Childers, 26. November 1922. MACARDLE, Republic, S. 743; vgl. FLK, DeV, 1459, Flugblatt, Constanze de Markievicz, ca. Dezember 1922: Darstellung in Anlehnung an die Ikonographie der „Pieta“, die den toten Childers als jungen Helden in den Armen Erins zeigt. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 211, 233, 237, 253 f.; Zum Einfluß der britischen Romantik um Percy Shelly auf den irischen Nationalismus: ebd., S. 253; ENGLISH, Inborn Hate, S. 187; vgl. Zitat Shellys über einer Elegie auf Childers, in: TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/53, Pamphlet „Erskine Childers“, ca. April 1923, S. 14.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
Doch ob diese Stereotypen jetzt im einzelnen dem lebenden Childers entsprachen oder nicht: Childers Martyrium wurde zu einer eigenen, selbstreferentiellen Realität. Nach den Exekutionen konnte die republikanische Propaganda auf das erfolgreichste Rhetorikmuster der Revolution zurückgreifen. Durch nichts ließen sich die „murder members“ im freistaatlichen Parlament und in der Regierung so gut als Engländer definieren wie dadurch, daß sie den „same mistake like the English“ machten: Exekutionen.175 Wie Brennan gegenüber Eamon de Valera versicherte: „The enemy has helped us by embarking on this course.“176 c) Freistaatliche Strategien gegen die Martyrologie Wie ein britischer Journalist seinen Lesern erläuterte, die die irischen Spielregeln nicht kannten: Beim Thema Hinrichtung gab es mehr noch als bei inoffiziellen Repressalmorden so starke emotions working up the Irish people [. . .] that the Irish Government, by analogy has inherited the ‚bad will‘, so to speak, which has been associated for centuries with all Government in Ireland.177
Das wußte auch die Provisorische Regierung. Und sie wußte, daß Freistaat, anders als britische oder republikanische Herrschaft, ohne den „will of the people“ keinen Sinn machte. Sie mußte daher der republikanischen Martyrologie eine Deutung entgegenstellen, die den propagandistischen Schaden begrenzte: die Exekutionen, gerade die Exekution Childers als gerechte Strafe, nicht als Rache. Bisher hatte die offizielle Propaganda Childers als Ausnahmetäter aufgebaut. Nun versuchte sie, ihm diesen Sonderstatus wieder zu nehmen, um Childers nicht noch zu mehr Prominenz zu verhelfen. Obwohl viele führende Vertragsbefürworter Childers persönlich haßten, stellte die offizielle Propaganda ihre Hetzkampagne gegen Childers ein und versuchte so den Eindruck zu vermeiden, der Freistaat wolle sich rächen oder ein Exempel statuieren.178 Die offiziellen Propagandablätter kommentierten den Fall Childers nicht weiter, überließen ihn seinen Richtern. Der politischen Entscheidung, Chil175 176 177 178
Zitate: AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 25. November 1922, S. 1; 4. November 1922, S. 8. FLK, DeV, 241, Brennan an de Valera, 18. November 1922; vgl. FLK, DeV, 207, Comyn an de Valera, 23. November 1922. NEW STATESMAN, 2. Dezember 1922, S. 261. Formulierungen wie „damned Englishman“ kamen jetzt nurmehr von nicht offiziellen Stellen: CORK EXAMINER, 25. November 1922, S. 5; Der FREE STATE stellte sein Erscheinen eine Woche vor den ersten Exekutionen ganz ein.
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ders hinzurichten, gab die Freistaatsführung so einen juristischen Deckmantel. Childers werde behandelt wie jeder andere einfache IRA-Aktivist auch: Sein „unerlaubter Waffenbesitz“ habe gegen den Public Saftey Act verstoßen – jetzt nehme „das Recht“ seinen Lauf. Damit ersparte sich die Regierung auch, die unbeweisbaren Anschuldigungen gegen Childers zu belegen. Schwer zu durchschauen war diese juristische Tarnung nicht. In Burke Wilkinsons zynischen Worten: „Childers the renegade Englishman, [. . .] was to be given a fairly fair trial and then shot!“179 Um ihre Lesart der juristischen Gleichbehandlung zu unterstützen, exekutierte die Provisorische Regierung eine Woche vor Childers Tod erstmals vier völlig unbekannte IRA-Aktivisten – ebenfalls wegen unerlaubten Waffenbesitzes.180 Als Innenminister O’Higgins das dem Dail erläuterte, geriet ihm das zur Freudschen Fehlleistung: If you took as your first case some man who was outstandingly active or outstandingly wicked in his activities the unfortunate dupes through the country might say, ‚Oh, he was killed because he was a leader,‘ or ‚He was killed because he was an Englishman,‘ [. . .] It was [. . .] more calculated to achieve the object, to achieve the deterrent object, to take simply the plain or ordinary case of the men who got out with arms to kill their fellow-countrymen.181
Seine Aussage implizierte – nicht nur für die republikanische Propaganda – ihr eigenes Dementi: Weil Childers eine so herausragende Figur war, weil man gerade dem „Englishman“ Childers ans Leben wollte, mußten erst einige Unbekannte als „hors d’ oeuvres“ den Weg ebnen.182 Während ein regierungsfreundlicher Unionist Mulcahy nahelegte, „that the action is so unusal that every means might be taken to present it to the public in the most favourable way“183, fehlten der Regierung die Worte, um die Exekutionen gegenüber der „chimera of public reaction“184 zu rechtfertigen. Was sich auf unionistisch leicht erklären ließ, war für Nationalisten schwer sagbar: Zu nahe lag die Parallele zur britischen Rhetorik des Unabhängigkeitskrieges, zu nahe lag die subversive Deutung von Zwangsherrschaft, von „British Law and Orange Order“.185 Die Geschichte vom Sieg 179 180 181 182
183 184 185
WILKINSON, Zeal, S. 226. HOPKINSON, Green, S. 189. DAIL DEBATES, O’Higgins, 17. November 1922, S. 2267. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 251; Hierzu vor allem Childers eigener Protest vom 19. November 1922; in: TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/53, Pamphlet „Erskine Childers“, ca. April 1923, S. 16–8. UCD, MP, P7/B/177, E.P. Culverwell an Mulcahy, ca. 15. Dezember 1922. FREE STATE, 7. Oktober 1922, S. 2. Wenig überzeugend übernimmt Tom Garvin hier die Propaganda des freistaatlichen Innenministers O’Higgins, der die Opposition zum Vertrag mit Selbstsucht, kriminelle Energie
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
des Rechts und der Ordnung, die britische Hinrichtungen in England traditionell so überzeugend transportierten, erreichten in Irland nur ein kleines, hauptsächlich unionistisches Publikum.186 Die Propagandablätter verzichteten deshalb meist auf rechtfertigende Kommentare, stellten ihre aggressivere Rhetorik aus der Zeit, als die Public Safety Bill beraten wurde, weitgehend ein. Wenn sie das Thema überhaupt ansprachen, dann zitierten sie meist „neutrale“ Quellen wie Labour Abgeordnete, oder sie formulierte im Passiv oder Infinitiv: „Stringent measures must be taken“; „their power must be broken“ oder „Bringing the shooters of the national troops to account.“187 Der Terminus „execution“ selbst war völlig Tabu.188 Da die freistaatliche Version von Childers Tod kaum mit der republikanischen Martyrologie konkurrieren konnte, versuchte die Provisorische Regierung mit allen Mitteln, die republikanische Version zu unterdrücken. Deshalb verstärkte sie den Druck auf die Presse. Daß auf die Presse kein Verlaß war, hatten zumindest Irish Times und Irish Independent Anfang November selbst bewiesen, als sie von der offiziellen Terminologie abwichen und „sklavisch“ den Drohbriefen O’Malleys gehorchten.189 Deshalb entschied sich die Provisorische Regierung schon im Vorfeld der Exekutionen für eine Strafe, die schneller und effektiver umsetzbar war als der schwerfällige Prozesse. Sie beschloß, die Presse in Zukunft für jeden Verstoß einen Tag lang zu unterdrücken, wenn sie weiterhin die republikanische Terminologie verwendete, republikanische Leserbriefe oder Artikel zu Friedensvorschlägen veröffentlichte.190 Solange es bei der Drohung blieb, war diese Form der Pressekontrolle kaum nachzuweisen, dazu war sie billiger und weniger arbeitsaufwendig als die Rückkehr zur formellen Vorzensur. Wieder verwendete die Provisorische Regierung pragmatisch ein
186 187 188 189
190
und Habgier erklärte. Garvin folgert daraus, die Mehrheit der Bevölkerung habe die Hinrichtungen unterstützt. Siehe ders., 1922, S. 101–3; vgl. auch S. 94. Zur Herstellung von „Wahrheit“ durch Hinrichtungen: DENNING, Mr. Bligh, S. 25–54. YOUNG IRELAND, 2. Dezember 1922, S. 1; 30. Dezember 1922, S. 2; 18. November 1922, S. 2. Einzige Ausnahme nach über vier Monaten Exekutionspolitik: UNITED IRISHMAN, 7. April 1923, S. 5; Nachträgliche Rechtfertigung in, O’HEGARTY, Victory, S. 142 f. UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 6. November 1922; Memos re Dublin Press, 6. November 1922; 8. November 1922–14. November 1922; Memo re Dublin Press, 27. Oktober–11. November 1922, with the Minister’s [FitzGerald’s] complaints, 15. November 1922; NAI, D/T, S-1394, Memo re IRISH TIMES, ca. 11. November 1922; NLI, BP, box 6, Beaslai an Sean O’Muirthile, 30. Oktober 1922. NAI, PG Minutes, PG 58a, 11. November 1922; NLI, MS, 18806, FitzGerald an John E. Healy, ca. 13. November 1922.
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Verfahren, das die meisten Vorteile bot, auch wenn sie dabei erneut gegen die Werte verstieß, für die sie zu kämpfen vorgab. In der Frage der Terminologie gerieten die Dubliner Tageszeitungen jetzt von beiden Seiten noch stärker unter Druck. Eine unangenehme Situation, die der zynische Kommentator der Morning Post Bretherton, durch seine Mitarbeit an der Irish Times bestens informiert, mit beißendem Spott kommentierte: For the moment, however, each of the warring sections of Sinn Fein is bending its pertinacious brows to the vexed question of what a submissive but contemptous Press shall be permitted to call it, and by what repulsive titles the other fellow shall be known. [. . .] It is now up to the newspapers to think up entirely new synonyms with which to describe the Sinn Fein factions which will describe these worthies to their own satisfation and at the same time entirely conceal what the newspapers really think of them.191
Brethertons bissige Prognose beschrieb die Politik von Irish Independent und Irish Times recht exakt. Sie wichen auf neutrale Synonyme aus, mit denen sie schon 1919 auf die britische Pressekontrolle reagiert hatten.192 Aus „Irregulars“ beziehungsweise „IRA“ wurden jetzt „armed men“, „armed civilians“, „bands“ oder „attackers“.193 Weil die Blätter immer noch von den Vorgaben abwichen, erhöhte FitzGerald unmittelbar nach der Exekution von Childers noch einmal den Druck auf die Dubliner Presse. Durch die Hintertür führte er eine partielle Vorzensur ein, die bis zum Ende des Krieges weiterexistierte. Er ordnete an: „During the following week no Irregular propaganda is to be published before being submitted to [me] for instructions.“194 Über diese Kontrollinstanz unterdrückte FitzGerald alle republikanischen Informationen, republikanische Droh- oder Leserbriefe sowie die Abschiedsbriefe der Exekutierten.195
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MORNING POST, 14. November 1922, S. 7; vgl. auch: TIMES (London), 28. November 1922, S. 12; THE ROUND TABLE, XIII, no.51 (Juni 1923), S. 565. IRISH INDEPENDENT, 22. Dezember 1919, S. 2; 20. Oktober 1920, S. 6; 2. November 1920, S. 5; 22. November 1920, S. 5; 13. Dezember 1920, S. 5. UCD, FGP, P80/295, Memos re Dublin Press, 6. November 1922; 8. November 1922; 13. November 1922–18. November 1922; Memo re Dublin Press, 27. Oktober–11. November 1922, with the Minister’s [FitzGerald’s] Complaints, 15. November 1922; vgl. KANZOG, Zensur, Sp. 1038, zum systematischen Umgehen von Reizworten. NAI, DFA, early files, „publicity overseas“, FitzGerald an J. Beringham, 11. Dezember 1922; NAI, FGP, P80/338, Mulcahy an FitzGerald, 2. März 1923; IRISH TIMES, 9. Dezember 1922, S. 6. NAI, PG Minutes, PG 67a, 21. November 1922; NAI, D/J, C/R/FM2 (1993 release), Mary MacSwiney an de Valera, 1. März 1923; NLI, MS 18 806, FitzGerald an John E. Healy, ca. 13. November.
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Damit keine Information nach draußen gelangte, verliefen die Militärprozesse geheim. Angehörige wurden nicht zu den Verurteilten gelassen, sie erfuhren anfangs erst aus der Zeitung von den Exekutionen.196 Alles, was die Provisorische Regierung jetzt noch tolerierte, war ihr eigenes offizielles Pressestatement: der Urteilsspruch, der Name der Verurteilten, der Todesort und Zeitpunkt. Trotz herber Kritik auch aus den eigenen Reihen hielt sie an dieser restriktiven Informationspolitik fest.197 Armeechef Mulcahy begründete das in den Dail-Debatten: „It is because of the weakness of the people and the dangers that are around the people and the subtle voices that are trying to betray the people.“198 Was Mulcahy nicht aussprach: Hinter den „subtle voices“ stand nicht einfach die republikanische Propaganda, sondern ein Eckstein der nationalistischen politischen Kultur Irlands. Propagandaprofis wie FitzGerald wußten von ihrer eigenen Arbeit aus dem Unabhängigkeitskrieg: Für alles, was irgendwie mit der Exekution zusammenhing, gab es zumindest vor 1922 nur eine konkurrenzlose Deutung: republikanische, zumindest nationale Martyrologie.199 Damals hatten die Tages- und Provinzzeitungen seitenweise über die näheren Umstände von Exekutionen berichtet: Bekanntgabe des Todesurteils, letzter Besuch durch Angehörige, letzte Ölung und Beichte, letzte Worte, Abschiedsbriefe, Ablauf der Hinrichtung, die Gebete der Demonstranten vor dem Gefängnis, Leichenreden. So hatten die Blätter an der britischen Pressekontrolle vorbei die republikanische Deutung der Exekutionen mit durchgesetzt, ohne die Hinrichtungen mit einem Wort selbst zu kommentieren.200 Für die republikanische Propaganda war die freistaatliche Informationspolitik deprimierend. Sie hatten einen neuen Märtyrer und fast alle Details, um eine mitreißende Geschichte zu erzählen, aber kaum organisatorische Möglichkeiten, die Geschichte auch zu verbreiten.201 Gegen die „conspir196 197
198 199 200
201
PG Minutes, PG 64a, 18. November 1922; DAIL DEBATES, Mulcahy, 30. November 1922, S. 2538; 30. Januar 1923, S. 1088; AN POBLACHT-WAR NEWS, 18. November 1922. NAI, PG Minutes, PG 68a, 22. November 1922; UCD, MP, P7/B/177, Minute des Army Councils, 9. Dezember 1922; DAIL DEBATES, Thomas Johnson, 17. November 1922, S. 2263; 30. November 1922, S. 2531 f.; Sean Lyons, 17. November 1922, S. 2263; William O’Brien, 17. November 1922, 2265 f.; Gavan Duffy, 29. November 1923, S. 2447; Darrell Figgis, 30. November 1922, S. 2534 f. DAIL DEBATES, Mulcahy, 30. November 1922, S. 2538. COMERFORD, Gladstone, S. 440 f.; MACDONAGH, Ambiguity, S. 115 f. Exemplarisch MUNSTER NEWS, 28. Juli 1920, S. 4; 22. September 1920, S. 3; 3. November 1920, S. 4; 24. November 1920, S. 3; 16. März 1921, S. 4; LIMERICK LEADER, 2. März 1921, S. 3; vgl. MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 545; IRISH INDEPENDENT, 2. November 1920, S. 5. TCD, CP, 7847–7852/394, Gallagher an Mary Childers, 7. Februar 1923; TCD, CP, 7847–51/279, de Valera an Mary Childers, ca. 12. November 1922; ebd., 278, 11. November
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acy of silence“ in der Tagespresse half es den Propagandisten wenig, wenn durch die Exekutionen die Nachfrage nach der Poblacht stark anstieg.202 Das Informationsdefizit behinderte genauso die Dubliner Tagespresse: Sie hatte zwar eine spannende, auflagensteigernde „story“. Doch zu den groß aufgemachten Schlagzeilen existierten kaum offizielle Informationen.203 Die größten Spielräume besaßen noch die Provinzblätter, die von den freistaatlichen Propagandisten zwar kritisch beobachtet wurden, aber nicht direkt von der Dubliner Pressekontrolle betroffen waren.204 So gab die wichtigste Provinzzeitung, der Cork Examiner, Teile der Parlamentsdebatten zu den Exekutionen wider. Der Examiner bat in einem Leitartikel um Gnade für Childers und zitierte sogar eine Erklärung de Valeras aus dem Republican War Bulletin.205 In Dublin funktionierte die erzwungene Kooperation mit der Presse wesentlich besser, wenn auch nicht lückenlos. Beschlagnahmungen ließen sich nicht dosieren, waren weithin sichtbar und gefährdeten die liberale und demokratische Legitimation der Provisorischen Regierung. Sie funktionierten wie der libel-Prozeß nur als Drohgebärde, nicht als angewandte Maßnahme. So konnte die Regierung nicht verhindern, daß die Dubliner Tageszeitungen austesteten, wieweit sie gehen konnten. Trotz Informationsdefizit und trotz strenger Strafandrohung entstand ein Spielraum, den Irish Times und Irish Independent nutzten, um über empfindliche Themen zu berichten und dabei auch die Regierungspolitik zu kritisieren. Sie bewiesen damit ein Stück weit journalistisches Ethos, demonstrierten Glaubwürdigkeit, befriedigten das Informationsbedürfnis und die Neugier ihrer Leser – und das nutzte auch der Auflage. Irish Times und Irish Independent machten die strikte Pressekontrolle sichtbar, wiesen immer wieder darauf hin, daß sie einzelne Leserbriefe nicht veröffentlichen durften.206 Beide Blätter durchbrachen nach wie vor die
202 203 204 205 206
1922; ebd., 280, 15. November 1922; ebd., 281, 16. November 1922; ebd., 282, 20. November 1922. November 1922; 9. Dezember 1922; DAILY BULLETIN, 16. November 1922. FLK, DeV, 234, Brennan an de Valera, 16. November 1922; FLK, DeV, 241, Sean de Burca, Report on Organisation on Publicity Department, 30. November 1922. Exemplarisch: EVENING MAIL, 19. Dezember 1922, S. 4; IRISH TIMES, 25. November 1922, S. 7; IRISH INDEPENDENT, 25. November 1922, S. 5. UCD, FGP, P80/297, [provincial] press survey, 28. November 1922–13. Dezember 1922. CORK EXAMINER, 20. November 1922, S. 5; 11. Dezember 1922, S. 5 f.; 23. November 1922, S. 4; 21. November 1922, S. 5; ROSCOMMON MESSANGER, 25. November 1922, S. 2. IRISH INDEPENDENT, 17. November 1922, S. 6; 18. November 1922, S. 6; 28. November 1922, S. 6; 11. Dezember 1922, S. 4; 13. Dezember 1922, S. 4; 5. Februar 1923, S. 4; IRISH TIMES, 27. November 1922, S. 4.
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offizielle Terminologie, umschrieben den Terminus „Irregulars“.207 In der Irish Times vom 27. November 1922 erschien Childers letzte Verteidigungsrede vor dem freistaatlichen Militärgericht zusammen mit seinem selbstverfaßten Lebenslauf vom Unionisten zum Republikaner.208 Während das als kalkulierter Propagandazug, vermutlich mit FitzGeralds Einverständnis, geschah und der „Objektivität“ eines fairen Prozesses entsprach, druckte die Irish Times zusätzlich einen Leserbrief de Valeras.209 Sie widmete dem „fehlgeleiteten Idealisten“ Childers sogar einen Leitartikel. Diesen Nachruf mußten Vertragsbefürworter und -gegner gleichermaßen mit gemischten Gefühlen, ja mit Unverständnis lesen: Die Irish Times lobte Childers Kampf im Burenkrieg und während des Ersten Weltkrieges und erkannte seine Arbeit als konstruktiver Anhänger der Home Rule Bewegung an. Childers Tod deutete sie aus ihrer unionistischen Perspektive gleichzeitig mit freistaatlichen und republikanischen Erklärungsmustern: Als „unselfish sacrifice“ und als notwendigen Preis, um „law and order“ wieder herzustellen.210 Für nationalistische Leser verständlicher argumentierte der Irish Independent, der als einzige Tageszeitung die Exekutionspolitik der Provisorischen Regierung in einem Leitartikel kritisierte.211 „Writing as strong supporters of the treaty [we doubt] the wisdom of inflicting the extreme penalty for the offences.“212 Deutlicher wurde da nur noch die Voice of Labour, die sich – wie schon zur Zeit der Vorzensur – größere Spielräume erlauben konnte: Sie verlangte ein Ende der Exekutionen, erklärte, der Tod Childers sei ein ähnlicher Verlust für Irland wie der Tod von Collins – und das, obwohl beide Gegner der Arbeiterklasse gewesen seien.213 Doch selbst die Voice of Labour stand dabei auf einem prinzipiell regierungstreuen Standpunkt: „It [die Exekutionspolitik] will continue until the workers are brought to a realization of the fact that the service and worship of ‚Ireland‘ as distinct from her people is a delusion and a farce.“214 Solange solche Kri-
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UCD, P80/295, Memo re Dublin Press, 14. November 1922; 18. November 1922. IRISH TIMES, 27. November 1922, S. 6; UCD, FGP, P80/307, IRISH INDEPENDENT an FitzGerald, 20. November 1922; FitzGerald an FREEMAN’S JOURNAL, 30. November 1922; Evening Mail, 27. November 1922, S. 7; vgl. TIMES (London), 28. November 1922, Zeitungsausschnitt in TCD, CP, 7917. UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 18. November 1922. IRISH TIMES, 25. November 1922, S. 6; vgl. IRISH INDEPENDENT, 25. November 1922, S. 5, kommentarlose Vita Childers; vgl. TIMES (London), 28. November 1922, S. 12. UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 18. November 1922. IRISH INDEPENDENT, 18. November 1922, S. 6. VOICE OF LABOUR, 2. Dezember 1922, S. 4. VOICE OF LABOUR, 25. November 1922, S. 4.
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tik nicht republikanisch formuliert war und solange sie die Ausnahme blieb, registrierte FitzGeralds Propagandabehörde zwar alle Verstöße, griff aber nicht ein.215 Wichtiger als die Kritik in den Kommentaren war die indirekte Kritik, die die Zeitungen in ihrem Nachrichtenteil wiedergaben. Alle Blätter referierten Regierungskritik: aus Childers Habeas-Corpus-Antrag, aus den Reihen von County Councils und anderen lokalen Selbstverwaltungskörperschaften sowie aus wirtschaftlichen Interessengruppen und vor allem aus den Redebeiträgen im Dail Eireann.216 Über diesen Umweg kritisierte die Presse auch die Exekutionen.217 Dail Eireann wurde so zum eigentlichen Schwachpunkt der freistaatlichen Propagandastrategie, das sensible Thema Exekutionen soweit als möglich zu verschweigen. Die Opposition verlangte öffentliche und zivile Gerichtsverfahren, warnte die Regierung vor dem republikanischen Geschichtsgesetz, prophezeite ihr eine „deep revulsion of feeling against the Army and against the Government.“218 Gavan Duffy, ein ehemaliger Minister und Unterzeichner des anglo-irischen Vertrages, würdigte Childers Verdienste, kritisierte ein Verfahren, das Childers illegalen Waffenbesitz nur als Vorwand benutzte, um einen verhaßten Gegner der Regierung zu beseitigen.219 Im Dail konnte die Regierung diese Angriffe nicht einfach ignorieren, auch wenn die Debatten zu den Hinrichtungen von der Opposition erzwungen und dominiert wurden. Die meisten Abgeordneten der Regierungsfraktion vermieden den tabuisierten Terminus „executions“, argumentierten wie schon während der Debatte um die Public Safety Bill abstrakt, verklausuliert und in Metaphern: „unless we take sterner measures, we will not throw back the tide of lawlessness and the tide of lust and loot.“220 War schon diese gedämpfte Rhetorik von „law and order“ republikanisch deutbar, konnten die Propagandaprofis der Vertragsbefürworter 215 216
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UCD, FGP, P80/295, Memo re Dublin Press, 5. November 1922–20. November 1922; UCD, MP, P7a/198, Irish Surveys, ab 18. November 1922. Exemplarisch die IRISH TIMES zur geplanten Untersuchung der Gefängnisse durch die Dublin Corporation: IRISH TIMES, 14. November 1922, S. 6; 16. November 1922, S. 7; 18. November 1922, S. 5; 21. November 1922, S. 6; vgl. GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 100. IRISH TIMES, 18. November 1922; S. 7; 25. November 1922, S. 7; insbes. 28. November 1922, S. 7, Gavan Duffys Forderung nach öffentlichen Prozessen und freier Berichterstattung; IRISH INDEPENDENT, 14. Dezember 1922, S. 9; Vgl. in der Provinz, z. B.: CORK EXAMINER, 9. Dezember 1922, S. 5, S. 6; ROSCOMMON MESSANGER, 25. November 1922, S. 2; WATERFORD NEWS, 24. November 1922, S. 7; vgl. 15. Dezember 1922, S. 6; WESTERN PEOPLE, 25. November 1922, S. 2; WEXFORD PEOPLE, 2. Dezember 1922, S. 2. DAIL DEBATES, Thomas Johnson, 17. November 1922, S. 2263. DAIL DEBATES, Gavan Duffy, 28. November 1922, S. 2356–62. DAIL DEBATES, Mulcahy, 17. November 1922, S. 2265; 30. November 1922, 2538.
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nicht verhindern, daß einzelne ranghohe Regierungsmitglieder wesentlich deutlicher wurden. Wie schon vor Childers Hinrichtung war es erneut Innenminister O’Higgins, der seine Emotionen schwer kontrollieren konnte: „Anybody coming in here for adventure will get it.“221 d) Childers als Außenseiter, Abenteurer und Geschichtenerzähler Wie soll man Childers Leben und Tod deuten? Republikanisch: Hatte sich Childers vom britischen Imperialisten zum republikanischen Märtyrer, vom Saulus zum Paulus gewandelt? Freistaatlich: War Childers ein Verbrecher, der seine gerechte Strafe erhielt? Unionistisch: War Childers ein talentierter Mann und Idealist, der sich dem falschen Ziel verschrieben hatte und so zum Verräter an seinen britischen Wurzeln wurde?222 Solche Stereotypen können die vielschichtige und schillernde Persönlichkeit Childers kaum fassen. Doch um, wie Theodore Moody, Robert Edwards und der frühe Revisionismus, diesen „Mythen“ eine wertfreie, professionelle „historische Wahrheit“ entgegenzustellen, bin ich nicht optimistisch genug.223 Solange die stereotypen Deutungen keine grundlegenden Tatsachen verfälschen, gibt es keinen archimedischen Punkt, von dem aus sie sich widerlegen ließen.224 Deutungen gewinnen ihre Überzeugungskraft eben nicht auf ihrer faktischen sondern auf ihrer fiktionalen Ebene, dadurch, wie stimmig sie sind. Sie sind so nur mittelbar an Quellen zurückgebunden. Man kann sie deshalb nicht „wissen“, nur glauben – oder nicht. Hier zeigt sich die realitätsschaffende Kraft der Sprache: Zu was die Propagandisten Childers machten, das war er, zumindest für alle, die mit dem Propagandisten denselben Wortschatz, dieselben normativen Grundannahmen teilten: Childers war Märtyrer, Verbrecher oder Verräter, je nachdem ob man republikanisch, freistaatlich oder unionistisch sprach. Dagegen werde ich eine konkurrierende Deutung anbieten; eine Deutung, die die anderen Lesarten zwar nicht falsifiziert aber relativiert. Ich mische mich ein, schaffe eine neue Realität, mache mir meinen eigenen Childers: Ich erzähle die Geschichte eines Außenseiters und Abenteurers, die
221 222 223 224
DAIL DEBATES, O’Higgins, 29. November 1922, S. 2404–09, hier: S. 2409. So: IRISH TIMES, 25. November 1922, S. 6. MOODY, Irish History and Irish Mytholoy, S. 71–86, passim; vgl. auch LYONS, Three Essays, S. 223 f. Vgl. BRIAN MURPHY, Roy Foster’s ‚Modern Ireland‘, S. 73, zum historischen Mythos als „Realität“ eigener Ordnung. In diesem – und nur in diesem – Punkt argumentiert der nationalistische Historiker Murphy überzeugend.
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Geschichte vom tragischen Tod eines Geschichtenerzählers, der mehr als seine Leser an seine eigene Propaganda glaubte.225 Über alle Brüche hinweg gab es in Childers Leben zwei Konstanten: Childers liebte es, Geschichten zu erzählen und Abenteuer zu erleben. Am liebsten erlebte und erzählte er Abenteuergeschichten. Childers war ein talentierter Autor, hatte ein überdurchschnittliches Gespür für Sprache. Sein Bericht über den Burenkrieg „In the Ranks of the CIV“ erlebte allein in den ersten Monaten drei Auflagen. In der anti-deutschen Spionagegeschichte „The Riddle of the Sands“ erzählte er die Geschichte eines britischen Seglers, der in der Nordsee deutsche Invasionspläne gegen England aufdeckt. Dieser Bestseller machte Childers zu einem bekannten Schriftsteller. Das Buch wurde bis in die siebziger Jahre hinein ungefähr zwei Millionen mal verkauft, erlebte allein bis 1937 siebzehn Auflagen. Kein Aktivist der Irish Parliamentary Party war in der Lage gewesen, das Programm von Home Rule so geschickt und so konkret zu formulieren wie Childers im „Framework of Home Rule“.226 Im Unabhängigkeitskrieg konnte er durch seinen britischen Hintergrund die republikanische Geschichte so vermitteln, daß sie Amerikanern und liberalen Briten verstehbar wurde.227 Im Bürgerkrieg war er der talentierteste Propagandist der Vertragsgegner, auch wenn seine Propaganda zum Schluß niemanden mehr erreichte. Bei allem literarischen Talent zielte Childers nicht primär auf ästhetische Qualität, sondern auf die propagandistische Wirkung seiner Geschichten. Immer entsprachen sie seinen politischen Überzeugungen. Die meisten seiner Geschichten waren Abenteuergeschichten vom Kampf von Gut gegen Böse. Sie handelten von Helden, Gefahren und Bösewichtern, unabhängig davon, ob die Helden Engländer oder Iren hießen oder die Bösewichter Buren, Deutsche, Engländer oder Freistaatler waren. Damit unterschied Childers sich nicht nur von Yeats und den Dichtern der Irish Literary Renaissance, sondern auch von vielen Propagandisten des Unabhängigkeits- und des Bürgerkrieges. So hatte sich der jugendliche FitzGerald als Mitglied von Ezra Pounds elitärer Dichtergruppe „imagists“ vor 1913 nur an ästhetischen Gesichtspunkten orientiert, hatte am liebsten englische und französische Klassiker gelesen. Auch Beaslai fabrizierte nicht einfach Irish-Ireland-Propaganda, wenn er irische Theaterstücke schrieb,
225 226 227
Verschiedene Lesarten von Childers Tod referiert: WILKINSON, Zeal, S. 241–4; vgl. HAYDEN WHITE, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, S. 128–30. WILKINSON, Zeal, S. 1, 59, 67 f., 82–7; So auch die Einschätzung eines britischen Journalisten, in: NEW STATESMAN, 2. Dezember 1922, S. 261. Vgl. DAIL DEBATES, Gavan Duffy, 28. November 1922, S. 2356–62.
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Goethe und Molière ins Gälische übersetzte. Selbst der nationalistische Schriftsteller Daniel Corkery und sein Schützling Frank O’Connor, republikanische Propagandisten beim Cork Examiner, lachten hinter der Hand über Childers derben literarischen Geschmack, den sie vergeblich zu veredeln suchten.228 Doch Childers reichte es nicht aus, politische Abenteuergeschichten nur zu lesen und zu erzählen. Er wollte, wie viele IRA-Guerilleros auch selber Abenteuer erleben, für seine Ideale kämpfen.229 In seinem Bericht „In the ranks of the CIV“ schilderte er eigene Kriegserfahrungen in Südafrika. Sein Roman „The Riddle of the Sands“ war deshalb so erfolgreich, weil Childers selbst ausgedehnte Segeltörns in Nordsee und Wattenmeer unternommen hatte und diese realistisch beschrieb. Childers legendärer Waffenschmuggel für die Irish Volunteers 1914 war ein halsbrecherisches Abenteuer gewesen. Mit einer Crew, der auch seine gehbehinderte Frau Mary angehörte, schmuggelte Childers am Vorabend des Ersten Weltkrieges Waffen aus Deutschland über die stürmische Nordsee. Teile der Munition stapelte Childers Crew dabei in der offenen Blicht. Im Ersten Weltkrieg unternahm Childers riskante Spionageflüge. Im Unabhängigkeitskrieg riskierte er seine Existenz, indem er sein Wohnhaus zur Propagandazentrale umfunktionierte. Insofern hatte Innenminister O’Higgins recht, daß Childers auch für ein Abenteuer nach Irland gekommen war.230 Childers war immer bereit gewesen, viel, häufig sogar sein Leben, für die Geschichte zu riskieren, an die er gerade glaubte. Er war ein „all or nothing man“.231 Und umgekehrt glaubte er auch immer fest an die Geschichte, die er gerade erlebte und erzählte. Childers litt an einer verbreiteten Berufskrankheit unter republikanischen Propagandisten: wie FitzGerald, der 1914 vergeblich versuchte, den irischen Westen für die Republikaner zu missionieren; wie Frank O’Connor, der auf die „Front“ vertrauend in Gefangenschaft geriet; wie Gallagher, der in seinem Beileidsschreiben an Mary Childers deren Mann zum Messias erhob; genauso beeindruckte auch Childers mit seiner Propaganda am meisten sich selbst.232 228 229
230 231 232
FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 233; vgl. 215, 225, 232. ENGLISH, Inborn Hate, S. 195 f.; ROY FOSTER, A Patriot for whom? Erskine Childers, a very English Irishman, in: History Today, XXXVIII, 10, (1988), S. 27–32, hier: S. 28–30. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 236 f., setzt die abenteuerliche Reise von Childers und Robinson von Cork nach Dublin in direkte Korrelation zu den Abenteuerromanen, die Childers zu dieser Zeit laß. WILKINSON, Zeal, S. 35, 43–58, 74, 99–120, 126–37, 159–78, insbes. S. 167 f. NEW STATESMAN, 2. Dezember 1922, S. 261. TCD, CP, 7847–51/390, Gallagher an Mary Childers, 26. November 1922; FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 215–9; vgl. FITZGERALD, Memoirs, S. 50.
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Childers Übertritt zum Republikanismus war zunächst ein rationaler Akt gewesen, begründet durch das Versagen von Home Rule. Doch schnell geriet er in den Bann von „the Republic“, an der er mit seiner Propaganda selbst mitschrieb – so kühl und rational er dabei auch immer argumentierte. Im Sog der inneren Logik von „the Republic“ wurde Childers zum Prototypen eines altruistischen Gesinnungsethikers und Gesinnungstäters, der nicht einmal im eigenen Interesse pragmatisch handeln konnte.233 Radikaler Republikanismus war für den Halbengländer Childers die erfolgversprechendste Strategie, um in den eigenen Augen und in den Augen anderer zum „Volliren“ zu werden. Pragmatismus gegenüber dem Empire war dagegen kaum möglich für jemanden, der schon als radikaler Republikaner unter dem permanenten Verdacht stand, Imperialist zu sein: „It became necessary for people like myself, of mixed birth, to choose our citizenship once and for all.“234 Wie schon 1919, verzichtete Childers 1921 erneut auf eine politische Karriere und sicheres Einkommen. In einem Brief an de Valera wird dabei deutlich, wie sehr Childers auch nach der Vertragsspaltung unter seiner imperialistischen Vergangenheit litt: „When all is said and done my antecedents did of course make my use to the cause infinitesimal enough, anyway by comparison with those whose sacrifices made the cause.“235 Als er verhaftet wurde, verhielt er sich so, daß er seine republikanische „Irishness“ endgültig unumkehrbar machte. Die Angst um seine Identität, auch die davor, in den Augen der Vaterfigur de Valera zu versagen, wurde dabei durch Childers Kindheitstrauma, den frühen Verlust beider Eltern, vermutlich noch verstärkt. In Roy Fosters vielleicht etwas überspitzt psychologisierenden Worten: „Inside the man of action, there was a small boy seeking to belong.“236 Jetzt sah er seine Chance, auch zu denjenigen zu gehören, „whose sacrifices made the cause.“ In Passagen seiner Abschiedsbriefe, die die republikanische Propaganda bezeichnenderweise nicht veröffentlichte, gestand er: „Dead I shall have a better chance of being understood [. . .] Thank God I am dying, thank God.“237 Statt als Ex-Engländer und Ex-Ire gleichermaßen ausgestoßen weiterzuleben, hielt er sich selbst an den Text, den die Heldengeschichten, die er so oft erzählte, für die Rolle 233 234 235 236 237
FLK, DeV, 207, Brennan an de Valera, 15. November 1922; FOSTER, Childers, S. 32; vgl. WEBER, Politik als Beruf, S. 237–50. AN POBLACHT-WAR NEWS, 29. November 1922, Childers Verteidigungsrede. FLK, DeV, 1322/1, Childers an de Valera, 9. Juni 1922, (Unterstreichung durch Childers). FOSTER, Childers, passim, Zitat, S. 30. TCD, CP, 7852–55, 1301, Childers an Mary Childers, 20. November 1922, 23. November 1922.
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eines republikanischen Märtyrers vorsahen: „He played [sic!] a true man’s part.“238 Auch dem irischen Nationalismus gegenüber kritische Zeitgenossen beobachteten, wie sehr Childers das republikanische Selbstopfer verinnerlicht hatte: „He was thinking that a dead man is a spoon to stir the boiling pot.“239 Wahrscheinlich versuchte Childers sogar, wie viele andere politische Konvertiten, von der „marginalen“ protestantischen zur „nationalen“ katholischen Religion überzutreten. Zumindest verlangte er nach Father Albert, jenem Franziskanermönch, der den Beginn des Bürgerkrieges bei der IRA in den Four Courts erlebte hatte. Doch diesen Versuch, seine Irishness zu perfektionieren, verhinderte die Provisorische Regierung. So mußte sich Childers auf den geistlichen Beistand eines protestantischen Priesters verlassen, unterstützt von katholisch-republikanischen Reliquien: einem durch Father Albert eigens gesegneten Kruzifix, einem Medaillon mit einem Heiligen und dem Rosenkranz, der im Sarg des aufgebahrten Brugha gelegen hatte.240 Durch seinen Tod verwandelte sich der Politiker und „Schreibtischsoldat“, der nie völlig akzeptierte britische Sonderling, endgültig zum vollwertigen irischen Helden und Märtyrer. Erst im republikanischen Himmel – zwischen Tone, Pearse und MacSwiney – hörte Childers auf, ein „damned Englishman“ zu sein. In meiner Deutung ist Childers Tod das tragische Schicksal eines Außenseiters, „[who] tried too hard to be Irish“.241 Das Schicksal eines Abenteurers und Propagandisten, der seine eigene Propaganda glaubte und sich danach verhielt. Ein Propagandist, der wie Pearse und die Neunzehnsechzehner, der wie der Hungerstreikmärtyrer Terence MacSwiney, wie Brugha und Boland seinen Tod provozierte, ja erzwang und so in das Welt- und Geschichtsbild einging, an dem er selbst mitgeschrieben hatte.242 238
1922, S. 7; exemplarisch: IRISH BULLE-
240
FLK, DeV, 207, Childers an Father Albert, 20. November 1922; AN POBLACHT-WAR NEWS, 28. November 1922; EIRE, 17. Februar 1923, S. 5; TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/53, Pamphlet „Erskine Childers“, ca. April 1923, S. 10. YOUNGER, Civil War, S. 486; vgl. WILKINSON, Zeal, S. 242 f. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 252–60, 327. Für Pearse, den wichtigsten Erfinder und Umsetzer des republikanischen Geschichtsgesetzes, waren das vor allem seine späten Schriften: „Ghosts“ (erstmals 24. Dezember 1915), in: PEARSE, Political Writings, S. 219–55; „The Separatist Idea“ (erstmals 1. Februar 1916), ebd., S. 261–93; „The Spiritual Nation“ (erstmals 13. Februar 1916), ebd., S. 299–329; „The Sovereign People“ (erstmals 31. März 1916), ebd., S. 335–71. Für Terence MacSwiney, den wichtigsten Repräsentanten republikanischer Leidensfähigkeit, die posthum herausgegebene Sammlung seiner Aufsätze für die IRB-nahe
AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 9. Dezember TIN, 2. November 1922, S. 2, Artikel von Childers. 239 THE NEW STATESMAN, 2. Dezember 1922, S. 260.
241 242
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Auch ein anglo-irischer Leser des britischen New Statesman sah diese Tragik von Childers Tod. Obwohl er die Exekution als politische Notwehr verteidigte, kritisierte er einen britischen Journalisten hart, den Childers Schicksal offenbar ungerührt ließ. Über die politische Feindschaft zu den Republikanern hinweg erkannte der anglo-irische Leserbriefschreiber, wie Childers Opfer der inneren Logik seiner eigenen Fiktionen wurde: The spectacle of a poet dying for his dream-republic leaves this strong man cold. No doubt, the spectacle of that young fanatic from Nazareth nailed to a Roman gibbet between two thieves would have left him equally unmoved.[. . .] Childers was mad, no doubt, mad enough to be dangerous, mad enough to see a vision and die for it.243
Ein genauer Blick auf die Exekution von Erskine Childers erlaubte einen tiefen Zugang in die Köpfe von republikanischen und freistaatlichen Propagandaprofis, Politikern und Militärs. Die freistaatlichen Propagandisten versuchten, über eine verschärfte Pressekontrolle ihre Version von der gerechten Strafe durchzusetzen, während die Republikaner mit Childers Hinrichtung an die traditionelle Martyrologie anknüpften. Sie machten aus dem frustrierten Propagandisten ein Mitglied der „illustrious dead“, stellten ihn auf eine Stufe mit den republikanischen Ikonen Pearse und Wolfe Tone. Um den propagandistischen Effekt von Childers Opfertod optimal zu nutzen, arbeiteten die führenden republikanischen Politiker, Juristen und Propagandisten zusammen: de Valera, Comyn, Brennan und vor allem Childers selbst. De Valera und Comyn waren dabei mit ihrem Habeas-Corpus-Antrag bereit, zu Gunsten von mehr Propaganda und zu Gunsten von Childers Überleben die Reinheit der Lehre aufzuweichen. Dagegen hielt Childers konsequent an den Vorgaben von „the Republic“ fest. Fast automatisch, dabei jedoch mit ausgeprägtem propagandistischen Kalkül fügte er sich in die Rolle, die die nationale Tradition für einen republikanischen Märtyrer vorsah. Das Schicksal des Abenteurers und Geschichtenerzählers Childers wurde es, daß er als „damned Englishman“ immer unter dem Zwang stand, seine „Irishness“ zu demonstrieren, daß er mehr als die meisten seiner Leser an seine eigene Propaganda glaubte.
243
Zeitung IRISH FREEDOM: TERENCE MACSWINEY, Principles of Freedom. 3. Aufl. Dublin 1936 (erstmals 1921). NEW STATESMAN, 2. Dezember 1922, S. 265. Den republikanischen Propagandisten gefiel dieser Nachruf so gut, daß sie ihn in AN POBLACHT-WAR NEWS, 20. Dezember 1922 und AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 16. Dezember 1922, S. 2, wieder abdruckten.
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3. ZWANGSMASSNAHMEN UND NATIONALE LEGITIMITÄT: STAATSTERROR, EXEKUTIONEN, GREUELTATEN Welche Spielräume für Realpolitik und Propaganda hatten Vertragsbefürworter und Republikaner bei der Politik des Tötens und sich Tötenlassens? Dazu werde ich einige Grenzfälle diskutieren: Ich zeige, wie die Freistaatsführung vier republikanische Aktivisten ermorden ließ, damit einerseits den republikanischen Gegenterror unterband, andererseits jedoch ihre Legitimationskrise verschärfte. Danach untersuche ich, warum sie auf die Exekution des schwerverletzten O’Malley verzichtete, welche propagandistischen Auswirkungen es hatte, daß Hinrichtungen zum Massenphänomen wurden und wie sich Liam Deasy dem Märtyrertod entzog. Am Ende dieses Unterkapitels erkläre ich, wie die freistaatlichen Greueltaten in Kerry zum republikanischen Symbol für den Bürgerkrieg wurden und warum sie während des Bürgerkrieges nur eine beschränkte propagandistische Wirkung hatten. a) Staatsterror: die legitimatorischen Kosten militärischer Effizienz Für die republikanischen Politiker waren Hinrichtungen, wenngleich schockierend, die größte propagandistische Chance für einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung.244 Die militärische Führung der IRA hatte dagegen scheinbar handfestere Sorgen: Sie mußte zeigen, daß die IRA handlungsfähig war, daß sie das Töten republikanischer Kriegsgefangener nicht einfach hinnahm. Das war eine Frage des Überlebens, aber auch des Prestiges. Liam Lynch, Kopf der IRA, setzte deshalb gegen die Bedenken der republikanischen Politiker eine Politik des Gegenterrors durch, versuchte so, die Hinrichtungspolitik zu unterbinden. Weil die Stärke des „man of action“ Lynch nicht im Formulieren von Proklamationen lag, ließ er sich einen Entwurf von de Valera schreiben. Dann ergänzte er de Valeras mit eher zurückhaltender Rhetorik formulierten Text durch einige drastische Passagen und schickte ihn an den Sprecher Dail Eireanns, um ihn zu „informieren“, daß alle Abgeordneten, die für die „murder bill“, also den Public Safety Act, gestimmt hatten, ihrerseits mit der Todesstrafe rechnen müßten.245 Am 7. Dezember 1922 erschossen Mitglieder der Dublin No. 1 Brigade den vertragsbefürwortenden Abgeordneten Sean Hales und verletzten den 244
AN POBLACHT-WAR NEWS, 11. Dezember 1922; 13. Januar 1923; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 2. Dezember 1922, S. 1; EIRE, 27. Januar 1923, S. 5; 21. April 1923, S. 5.
245
FLK, DeV, 239A, Lynch an de Valera, 25. November 1922; de Valera an Lynch, 27. November 1922; NLI, WOB, L.O., P117, Flugblatt no. 84, ca. Dezember 1922; AN POBLACHTWAR NEWS, 4. Dezember 1922.
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Abgeordneten Patrick O’Maille schwer. Das Datum des Anschlags war so ausgesucht, daß es eine starke symbolische Wirkung garantierte: als Bluttaufe nach dem Gründungstag des Freistaats, der zugleich erster Jahrestag des Vertrages war. Die Provisorische Regierung, ab jetzt Executive Council, reagierte sofort auf diesen Anschlag, der ihre Autorität und die persönliche Sicherheit der Abgeordneten gefährdete. Um handlungsfähig zu bleiben, verstieß die Freistaatsführung diesmal frontal gegen die konstitutionellen Methoden, auf die sie sich berief.246 Am nächsten Morgen ließ sie vier führende Republikaner der ehemaligen Four Courts-Besatzung erschießen: Rory O’Connor, Kommandant der Four Courts, Liam Mellows, IRAOffizier und prominentester sozialistisch-republikanischer Politiker, Joe McKelvey, Chief of Staff der Four Courts, und Richard Barret. Das geschah ohne Prozeß und ohne rechtliche Grundlage. Alle vier Republikaner saßen schon lange vor dem Public Safety Act im Gefängnis. Für sie waren die militärischen Sondergerichte, die sonst dem Tod von IRA-Aktivisten einen juristischen Anstrich gaben, nicht zuständig. Machtpoltisch war dieser Akt des Staatsterrors äußerst effektiv. Die Politik des republikanischen Gegenterrors kollabierte. Weil das freistaatliche Executive Council ungleich schneller und härter auf IRA-Terror reagieren konnte als umgekehrt, setzte die lokale IRA Liam Lynchs Politik des Gegenterrors nicht weiter um. Wie es Lynch befürchtet und das Executive Council erhofft hatte: Die militärische Überlegenheit freistaatlicher Zwangsmaßnahmen, vor allem die Exekutionspolitik demoralisierte die IRA, Defätismus breitete sich aus. Immer mehr Einheiten waren bald „sick of the business“.247 Was auf der militärischen Ebene ein durchschlagender Erfolg war, war auf der symbolisch-propagandistischen Ebene ein Desaster. Begonnen mit dem durch den Unabhängigkeitskrieg vorbelasteten Terminus „reprisal“, hatte der Staatsterror auch für Sympathisanten der Regierung einen „flavour of British rule.“248 Nach den vier Repressalmorden erreichte die Regierung eine Flut von Beschwerdebriefen, auch von einflußreichen Regierungsanhängern wie Erzbischof Byrne von Dublin. Byrne, ein persönlicher Freund von Regierungschef Cosgrave, hatte zuvor vergeblich versucht, die 246 247
248
HOPKINSON, Green, S. 190 f. NAI, D/T, S-3361, army report March 1923, 1. April 1923; UCD, KP, P4/547, Kennedy, Entwurf einer Rede für Cosgrave, 16. Februar 1923; HOPKINSON, Green, S. 190–2, 236; VALIULIS, Mulcahy, S. 181–5; vgl. LITTON, Civil War, S. 112–3; YOUNGER, Civil War, S. 493 f. UCD, FGP, P80/721, Hugh Smith, memo on visit to London, 22. Dezember 1922; zu „reprisal“ als britischer Terminus: DAIL DEBATES, Thomas Johnson, 8. Dezember 1922, S. 48.
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Regierung von den Repressalmorden abzuhalten, hatte sie immer wieder vor dem Risiko eines Stimmungsumschwunges gewarnt.249 Auch ein Stimmungsbericht der Armee-Publicity schätzte die Lage dramatisch ein: „Public opinion was dead against the executions in Mountjoy. They did not turn against the Government mainly because there is no alternative, but unquestionably their sense of justice and humanity was outraged.“250 Mit dem Rücken zur Wand fehlten den vertragsbefürwortenden Propagandisten die Worte, die „present tragic happenings“251 zu erklären. Die offizielle vertragsbefürwortende Propaganda in Young Ireland und An tOglach schwieg das Thema tot. Im Dail Eireann konnte die Regierung dem Thema nicht ausweichen. Dort wurde sie von der Opposition in einer Weise kritisiert, die sie bis dahin nicht gewohnt war. Zwar wechselten die LabourAbgeordneten nicht ins republikanische Lager, dennoch prophezeiten sie dem Freistaat und seiner britischen Zwangspolitik einen frühen Untergang. Sie warfen der Regierung Versagen und Mord vor: ihre Politik unterscheide sich moralisch nicht mehr von der der IRA.252 Der Innenminister und führende Freistaatspolitiker O’Higgins zeigte sich einmal mehr ungerührt, als er das ansprach, was die offizielle Propaganda verschwieg: We are not frightened when people stand up and draw along analogies with the British, not in the least frightened by fictitious analogies. The situation here is now radically altered from what it was eigtheen months ago. Our only moral basis against the British was that deliberately and judicously in 1918 the majority of the Irish people put constitutional agitation definitely behind them and gave the word to go ahead.253
Ob O’Higgins tatsächlich glaubte, die Repressalhinrichtungen wären legitimatorisch nicht riskant, ist fraglich. Sicher ist, daß O’Higgins mit seiner eigenen ungebrochenen „law and order“-Rhetorik der republikanischen Propaganda zahlreiche Analogien zum britischen Sprachgebrauch lieferte.254 O’Higgins Parteikollegen waren da vorsichtiger, sie zogen sich auf das Argument Notwehr zurück.255 249 250 251 252 253 254 255
KEOGH, Vatican, S. 97–9; VALIULIS, Mulcahy, S. 182 f.; vgl. auch: FLK, DeV, 1319, Erzbischof Byrne an Cosgrave, 19. März 1923 . UCD, MP, P7a/198, Irish Survey, 14. Dezember 1922; siehe auch: ebd., Irish survey, 28. November 1922; 2. Dezember 1922; 9. Dezember 1922. YOUNG IRELAND, 16. Dezember 1922, S. 4. DAIL DEBATES, Cathal Shannon, 8. Dezember 1922, S. 54–6; Thomas Johnson, 8. Dezember 1922, S. 49. DAIL DEBATES, O’Higgins, 8. Dezember 1922, S. 70. Vgl. ebd. S. 68–71. DAIL DEBATES, Mulcahy, 8. Dezember 1922, S. 52f; Sean Milroy, 8. Dezember 1922, S. 60,
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Wieder erreichte die Regierungskritik im Dail Eireann über die Dubliner Tagespresse eine breite Öffentlichkeit.256 Doch damit nicht genug: Nach den Repressalmorden versagte kurzfristig die freistaatliche Pressekontrolle. So erklärte die Irish Times am 9. Dezember 1922 ihren Lesern, wie die Pressekontrolle des Executive Councils funktionierte: On November 26th it [the Irish Times] received a „direction“ from the Minister of Foreign Affairs [FitzGerald] that ‚during the coming week no Irregular propaganda is to be published‘ before being submitted to him for instructions. [. . .]. We suggest that the present censorship of newspapers ought to be abolished.257
Im Anschluß kritisierte die Irish Times die vier „reprisal executions“ mit einer Stoßrichtung, die für das Executive Council besonders unangenehm war. Die Irish Times relativierte vor dem Hintergrund des unkonstitutionellen Staatsterrors die britische Hinrichtungspolitik als zivilisiertes Verfahren. Der wehmütige Rückblick auf das Zeitalter der britischen Herrschaft vermischte sich mit der berechtigten Angst, die Hinrichtungen würden das politische Klima des Freistaates langfristig vergiften. Der neue Staat sei deshalb kaum überlebensfähig. Was warnen und rückblickend die britische Herrschaft rechtfertigen sollte, ließ sich zwischen den Zeilen sehr einfach republikanisch lesen: Die Freistaatsführung ist noch schlimmer als die britische Regierung, ihr Staat dem Untergang geweiht.258 Auch der Irish Independent hoffte in seinem Leitartikel, „that what happened yesterday morning may not occur again“. Er veröffentlichte am selben Tag kurze Biographien und Photos der Ermordeten. Das Abendblatt des sonst so regierungstreuen Freeman, der Evening Telegraph, ignorierte unter den Drohungen der IRA sogar direkt die freistaatlichen Auflagen: Er druckte die Abschiedsbriefe von Liam Mellows und Joe McKelvey.259 Für die republikanische Propaganda waren die Repressalhinrichtungen neben Childers Tod die beste Story des Bürgerkrieges. Die Republik hatte vier neue Märtyrer. So prominente Namen wie Rory O’Connor und Liam Mellows „were added to the long role of Ireland’s martyred dead.“260 Auch
256 257 258 259
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62; Eoin MacNeill, 8. Dezember 1922, S. 75 f.; Ernest Blythe, 8. Dezember 1922, S. 88 f.; Patrick Hogan, 8. Dezember 1922, S. 90 f., Cosgrave, 8. Dezember 1922, 93 f. IRISH INDEPENDENT, 9. Dezember 1922, S. 7; VOICE OF LABOUR, 16. Dezember 1922, S. 4 f., 8. IRISH TIMES, 9. Dezember 1922, S. 6. IRISH TIMES, 9. Dezember 1922, S. 6; vgl. IRISH TIMES, 19. März 1922, S. 6; vgl. AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 30. Dezember 1922, S. 1. IRISH INDEPENDENT, 9. Dezember 1922, S. 4, 6; EVENING TELEGRAPH, 12. Dezember 1922, S. 4; vgl. IRISH INDEPENDENT, 13. Dezember 1922, S. 4; UCD, FGP, P80/295, Memo re EVENING TELEGRAPH, 16. November 1922. AN POBLACHT, 9. Dezember 1922; 12. Dezember 1922.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
ihnen sprach die Propaganda die Versatzstücke der republikanischen „boyishness“ zu.261 Wieder durchzog religiöse Metaphorik die Nachrufe.262 Eine der Propagandageschichten zu den Repressalmorden war dabei fast zu gut: Erst jetzt, nach Rory O’Connors und lange nach Collins Tod, berichtete die republikanische Propaganda erstmals von deren gemeinsamer Nordirlandpolitik vor dem Krieg und vom Waffentausch für die Einheiten in Ulster.263 Aber auch wenn das wahr war, wer, außer dem Korrespondenten der Morning Post, Bretherton, sollte das glauben? Auch die vier Opfer der Repressal-Hinrichtungen hielten sich wie alle anderen Opfer des Freistaats an das ungeschriebene Textbuch für werdende Märtyrer: Sobald sie von ihrem nahen Tod erfuhren, schickten sie einen letzten Gruß an Frau, Mutter, Verlobte oder Schwester, starben im Vertrauen auf Gott und „the Republic“. Alles sieht so aus, als hätte sich keiner der vier darauf berufen, schon vor dem Public Safety Act verhaftet worden zu sein. Bei ihnen war wie bei Childers der Sog von „the Republic“ stärker als die Angst vor dem Tod.264 Nach den vier Repressalmorden war das Executive Council von der heftigen öffentlichen Reaktion erschrocken.265 Deshalb erfand es wenig später eine legalistische Strategie, mit der es ebenso hart und effizient auf IRA-Anschläge reagieren konnte wie mit den Repressalmorden: ausgesetzte Exekutionen. Die Freistaatsführung ließ durch ihre Sondergerichte IRA-Aktivisten aus allen Teilen Irlands zum Tode verurteilen. Dann setzte sie den Vollzug der Todesstrafe aus, bis die Einheit, aus der der Verurteilte stammte, ihren nächsten Anschlag verübte. Die Guerilleros konnten nun selber entscheiden, wann ihr Kamerad, in einigen Fällen ihr Bruder, sterben sollte. Diesen psychologischen Druck hielten die lokalen IRA-Einheiten kaum aus, ihr militärischer Widerstand versickerte zunehmend.266
261 262 263 264
265 266
EIRE, 20. Januar 1923, S. 6; AN POBLACHT-WAR NEWS, 9. Dezember 1922; 13. Dezember 1922; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 13. Januar 1923, S. 5. AN POBLACHT-WAR NEWS, 24. Dezember 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 20. Dezember 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 12. Dezember 1922, Abschiedsbrief Liam Mellows; ebd., 15. Dezember 1922, Abschiedsbrief Joe McKelvey; EIRE, 20. Januar 1923, S. 6, Abschiedsbrief Dick Barret. UCD, MP, P7a/198, Irish Survey, 14. Dezember 1922. NAI, DFA, PG/IFS, box 4, Captured Documents „E“, O/C Dublin No.1 Brigade an Adjutant General, 3. April 1923; FLK, DeV, 1319, Cosgrave an Erzbischof Byrne, 18. März 1923; FLK, DeV, 275, summary of the complaint against the Irish Hierachy, ca.1. Januar 1923; HOPKINSON, Green, S. 228 f.
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b) Hilfe aus dem Jenseits: wie James Connolly Ernie O’Malleys Leben rettete Symbolischen Katastrophen ging die Freistaatsführung nach den vier Repressalmorden aus dem Weg. Die Politik verschobener Hinrichtungen war schon unpopulär genug. So reagierte die Regierung im Fall O’Malley flexibel und verhinderte einen besonders wirkungsvollen republikanischen Märtyrertod. Ich habe O’Malley oben vorgestellt: als ehemaligen Guerillero, frustrierten „Schreibtischsoldaten“ und Autor zahlreicher Drohbriefe an die Dubliner Tagespresse. Am 4. November 1922 verhaftete ihn eine Einheit der Freistaatsarmee nach einer wilden Schießerei. Danach war er, der sich getreu Brughas „no surrender“ bis zum letzten gewehrt hatte, mehr tot als lebendig. Doch wie Brugha den „Heldentod“ zu erzwingen, gelang ihm nicht.267 O’Malley wußte, daß er als prominenter Republikaner bevorzugtes Opfer einer Exekution sein würde, sobald er sich einigermaßen erholt hätte. Er hatte also viel Zeit, darüber nachzudenken, was er tun würde. O’Malley war, schon bevor ihn die vertragsbefürwortende Armee verhaftete, vom Bürgerkrieg frustriert. Der Wundschmerz in seinem Hintern, das Fieber, die permanente Nähe des Todes durch die Verletzungen oder eine Exekution verstärkten zudem seine düstere Stimmung. Er begann, über sein Leben zu reflektieren und an einer autobiographischen Skizze zu schreiben. In einem sehr wörtlichen Sinne wurde die sich abzeichnende Niederlage der Republik für ihn ein „pain in the ass“.268 Als ihm der Freistaat am Anfang Januar den Prozeß machen wollte, kam ihm die Absurdität des Bürgerkrieges noch einmal greifbar entgegen: Ein alter Schulfreund, jetzt Captain in der Freistaatsarmee, stellte sich als O’Malleys Ankläger vor dem Militärgericht vor. Er brachte ihm die Nachricht vom drohenden Prozeß, plauderte mit ihm über die alten Zeiten und versuchte, ihn zu überreden, sich wenigstens einen Anwalt zu nehmen.269 Dennoch hielt sich O’Malley eins zu eins an das republikanische Textbuch: Er weigerte sich, das Gericht anzuerkennen, wollte anders als Childers nicht einmal einen Anwalt nehmen, ohne seinen Vorgesetzten Liam Lynch zu fragen. Dazu schmuggelte er über einen befreundeten Freistaatssoldaten einen Brief an Liam Lynch:
267 268 269
O’MALLEY, Singing Flame, S. 180–90; zum Neid O’Malleys auf Brughas Martyrium: ebd., S. 138. O’MALLEY, Singing Flame, S. 190–214. Ebd., S. 210 f.; IRISH INDEPENDENT, 11. Januar 1923, S. 7.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
Hospital Wing/ Mountjoy/ [. . .]1. Today a Free State captain, [. . .] informed me that I was to be tried, and wished to know if I required legal assistance. As I had already made up my mind on the matter, I informed him that I did not require legal assitance; that as a soldier, I had fought and killed the enemies of our nation, [. . .], so the trial for the express purpose of passing sentence did not require any defence on my part. [. . .] 2. As I do not know the Staff decision on the point of legal advice, I think it desirable to drop you this note. If I do not hear from you, I will refuse their Court. 3. As I may be removed from here and this may be the last chance I may have of writing to you, I would like to be remembered to the members of the Staff and my comrades. Another bit of lead won’t do me any harm. Earnan O’Maille.270
Der Brief war mehr als eine einfache Rückfrage eines zum Sterben entschlossenen Guerilleros. O’Malley wußte, daß die republikanische Propaganda seinen Brief an Lynch ausschlachten würde. Seine Rückfrage war also zugleich kalkulierte Propaganda, verpackt als emotionslose, soldatische Rhetorik von Befehl und Gehorsam. Das signalisierte eine militärische Professionalität, die es in der IRA gar nicht gab und an die sich, wie ich gezeigt habe, auch Ernie O’Malley nicht hielt. Auch Lynchs Antwort erhielt die Illusion einer funktionierenden Befehlskette aufrecht, wies O’Malley an, das Gericht nicht anzuerkennen. Dazu versprach Lynch O’Malley indirekt einen Platz unter den „Glorious Dead“, und er versicherte ihm, das republikanische Geschichtsgesetz werde auch in Zukunft weiter gelten: „Rest assured that those of us left will see that the Established [sic!] REPUBLIC is maintained.“271 Lynchs Antwort war damit fast schon ein vorgezogener Nachruf auf O’Malley. O’Malley und Lynch verwendeten die typischen republikanischen Standards: Furchtlosigkeit, Nichtanerkennen des Gerichts und Tod für die Republik. Aber O’Malley lieferte der Propaganda noch ein anderes Argument, seine schwere Verletzung, auf die er mit „another bid of lead won’t do me any harm“ bewußt unerschrocken anspielte. O’Malley wußte, neben seiner Prominenz als Guerillaheld war es seine schwere Verletzung, die seinem Martyrium ein besonderes Gewicht verleihen würde. Damit stellte er sich in eine Tradition, die jeder, der sich nur annähernd für die „Sache der Nation“ interessierte, verstehen mußte: 1916 erschoß ein britisches Exekutionskommando James Connolly, der durch die Kämpfe bereits so schwer verletzt gewesen war, daß er zur Exekution getragen werden mußte.272 Die führenden republikanischen Politiker und Militärs erkannten, daß sich hier eine der besten Propagandageschichten des Krieges an-
270 271 272
FLK, DeV, 287/, O’Malley an Lynch, 9. Januar 1923. FLK, DeV, 287/1, Lynch an O’Malley, 10. Januar 1923. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 325; vgl. 297 f.
I. Republikanische Martyrologie
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bahnte.273 Die Untergrundblätter priesen O’Malleys revolutionären Verdienste, seine „heroische“ Gegenwehr bei der Verhaftung, und sie führten immer wieder die Analogie zu Connolly aus: „He is in present at hospital and unable to stand without assistance so apparently the Murder Ministry propose to have him carried to face the firing squad as the British did with Connolly.“274 Den Propagandisten gelang es sogar, O’Malleys Brief und Liam Lynchs Antwort in entschärfter Form auch im Irish Independent zu veröffentlichen.275 Nachdem O’Malleys Verletzung soviel Publicity erhalten hatte, ersparte sich die Freistaatsführung nach den Repressalmorden ein neues legitimatorisches Desaster. Sie verzichtete darauf, den Prozeß gegen O’Malley zu eröffnen. James Connolly hatte aus dem Jenseits O’Malleys Leben gerettet. Nachdem O’Malley weder den Brugha- noch den Connolly-Tod sterben konnte, blieb er weiter mit seinen schweren Verletzung in seiner Zelle und grübelte über die Niederlage von „the Republic“.276 c) „77“: abgenutzter Märtyrertod? Der emotionale und propagandistische Effekt von Brughas, Bolands, Childers, O’Connors und Mellows Martyrium ließ sich für die republikanische Propaganda nicht endlos reproduzieren. Die Produktion von Martyrologie konzentrierte sich hauptsächlich auf diese prominenten Aktivisten mit hohem Bekanntheitsgrad. Über sie ließen sich tragische Geschichten erzählen, die vier Repressalmorde verstießen dazu direkt gegen die selbstgesetzten Normen des Freistaats. Daher nahm die Presse und auch die republikanische Propaganda an ihrem Schicksal ungleich mehr Anteil als an dem der zahlreichen republikanischen Nobodys. Selbst Childers Gefängniswärter registrierten, daß Childers Tod etwas besonderes war. Sie versuchten, sich kleine Souvenirs des zukünftigen Märtyrers zu sichern.277 War das aus Sicht der republikanischen Tradition selbstverständlich,278 so beschwerte sich die sozialistisch-republikanische Worker’s Republic. Sie 273
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FLK, DeV, 287/1, Lynch an Brennan, 10. Januar 1923; de Valera an Lynch, 24. Januar 1923; Lynch an de Valera, 25. Januar 1923; FLK, DeV, 1296, Robert Barton an Tom Derrig, 24. Februar 1923. EIRE, 20. Januar 1923, S. 3; vgl. AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. November 1922; 17. November 1922; 11. Januar 1923; 13. Januar 1923. IRISH INDEPENDENT, 11. Januar 1923, S. 7. O’MALLEY, Singing Flame, S. 214–90; insbes, S. 214–22. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/53, Pamphlet „Erskine Childers“, ca. April 1923, S. 10. Vgl. AN POBLACHT-WAR NEWS, 13. November 1922–24. Dezember 1922; FLK, DeV, 278, Eileen McGrane an de Valera, 26. Februar 1923; de Valera an E. Doyle, 16. April 1923; FLK, DeV, 298, de Valera Interview mit DAILY MAIL, 26. Januar 1923.
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ärgerte sich, daß die republikanische Propaganda bourgeoise Märtyrer wie Childers den exekutierten „rank and file“-Aktivisten aus der Arbeiterklasse vorzog.279 Ohne soziale Unterschiede zu thematisieren, reproduzierte die republikanische Martyrologie so die untergeordnete Rolle der irischen Unterschicht in der revolutionären Bewegung. Dahinter stand mehr als die nach wie vor von der Petite Bourgeoisie bestimmte soziale Zusammensetzung der revolutionären Elite: Bei den unbekannten Opfern griff die restriktive freistaatliche Informationspolitik viel besser. Was sollte man über einen Aktivisten erzählen, den außer Freunden und Verwandten keiner kannte? Was konnte man über jemanden schreiben, von dem man gerade Namen und Todeszeitpunkt wußte? Wo war die Story, wenn letzte Worte, Gesten und Wünsche, Abschiedsbriefe, politische Bekenntnisse, der Bericht über die letzten religiösen Riten der freistaatlichen Pressekontrolle zum Opfer fielen? Entsprechend informationsarm waren deshalb häufig selbst die Berichte der republikanischen Propaganda.280 Schon die vier ersten Opfer der Hinrichtungspolitik erhielten nicht einen Bruchteil von Childers Publicity.281 Als „four lads“ gingen sie immerhin mit einem eigenen Etikett in die republikanische Martyrologie ein. Die fünf IRA-Aktivisten, die Ende November hingerichtet wurden, bekamen schon überhaupt keinen eigenen Namen mehr, ebensowenig die meisten Exekutierten, die bis Anfang Mai 1923 „für die Republik“ starben. Verglichen mit den sechzehn Hinrichtungen 1916 und weiteren dreizehn 1920/21 wurden die siebenundsiebzig Exekutionen der Jahre 1922/23 zu einem relativen Massenphänomen. Dadurch verloren sie auch ihre Einzigartigkeit.282 Die Leser von Tagespresse und Propagandablätter stumpften zwangsläufig ab. Und rein praktisch gedacht: Wer kann und konnte sich schon siebenundsiebzig Märtyrer merken? Erst später bekamen sie zusammen mit den prominenten Märtyrern ein gemeinsames Etikett, in dem der einzelne jedoch unterging: „77“.283 Unbekannte Opfer wurden, wie die noch vergleichsweise prominenten vier „Dromboe martyrs“, als Märtyrer zweiter Klasse, hauptsächlich in ih-
279 280 281 282 283
Vgl. WORKER’S REPUBLIC, 25. November 1922, S. 3; 23. Dezember 1922, S. 1. AN POBLACHT-WAR NEWS, 23. November 1922; 1. Dezember 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 17. November 1922. Zahlangaben aus: VAUGHAN (Hrsg.), Chronology, S. 391 f., 399 f. NAI, Sinn Fein, 1094/2/7, Poster mit Photos der britischen Führung des Unabhängigkeitskrieges und der freistaatlichen Führung des Bürgerkrieges mit Namensliste der von ihnen exekutierten Republikaner, ca. Juni 1923; NLI, WOB, L.O., P117, Flugblatt no. 86, „77 arguments against the treaty“, ca. Juni 1923; ebd., Flugblatt no. 57, ca. Juni 1923.
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rer Heimatregion verehrt und besungen.284 Diese lokale Bindung der Märtyrer verstärkte sich noch durch die freistaatliche Politik der verschobenen Hinrichtungen: Sie band die Hingerichteten eng an ihre Einheit, erweckte den Eindruck, als wolle das freistaatliche Militär eine ganz bestimmte Region treffen.285 Genau wie die Presse und Propaganda von 1922/23 leidet man als Historiker unter der freistaatlichen Informationspolitik. Fast alle Exekutierten bleiben Namen, junge IRA-Aktivisten meist in ihren Zwanzigern. Was sie verband, war, wie unbeirrbar und selbstverständlich sie an der verbindlichen republikanischen Rhetorik festhielten, wie sie „the Republic“ über ihr eigenes Überleben stellten, obwohl die Verurteilten wegen des Hirtenbriefes nicht einmal sicher sein konnten, die letzten Sakramente zu erhalten. Auch wenn es keiner der veröffentlichten Abschiedsbriefe zugab: Vermutlich hatten die meisten Verurteilten Angst um ihr Leben und um ihre unsterbliche Seele. Sie wollten sicher nicht in ihrer Jugend sterben. Aber der Sog von „the Republic“, die greifbare Unsterblichkeit, die Verpflichtung gegenüber den vorangestorbenen Kameraden und der Gruppendruck funktionierten weiterhin. Das alles tabuisierte eine Rhetorik, die Überleben wahrscheinlich(er) gemacht hätte. Sean O’Faolain, im Bürgerkrieg republikanischer Propagandist, beschreibt diese republikanische Sterbewilligkeit rückblickend fast wehmütig – und das, obwohl oder gerade weil er sich nach dem Bürgerkrieg weit vom mythischen Nationalismus seiner Jugend entfremdet hatte: There was only one thing that every one of us knew he could do well, and must do well if called on to do it, the least active rank-and-filer, the humblest citizen, if arrested and condemned for any or no reason, each man knew he could die – „For Ireland“. This is not romanticism; the time for being romantic about these years has long since gone; and a young man of those years, and there were enough, who died facing a firing squad may well have been white and terrified in the end – But it must surely have helped him to know that he was dying for something he believed in as fervently as we believed in Ireland then. I wish to God I could believe in anything as fervently now.286
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FLK, DeV, 268/1, de Valera an Brennan, 7. Juni 1923; FLK, DeV, 287/1, Lynch an de Valera, 13. Januar 1923; NEESON, Civil War, S. 279; vgl. HOPKINSON, Green, S. 162; GALVIN, Songs, S. 100 f.; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 292. FLK, DeV, 275, summary of the complaint against the Irish Hierachy, ca. 1. Januar 1923; vgl. LITTON, Civil War, S. 99. O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 175 (hier zum Unabhängigkeitskrieg).
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d) Liam Deasy: verweigerter Märtyrertod Liam Deasy war der einzige prominente IRA-Aktivist, der sich nachweisbar und offen dem Märtyrertod entzog. Er war einer der prominentesten IRA-Aktivisten des Unabhängigkeitskrieges, wie O’Malley fast eine lebende Legende. Als Adjutant, dann O/C der legendären West Cork Brigade nahm Deasy unter anderem an der spektakulären Guerillaktion in Cross Barry teil und wurde 1921 Adjutant der neu gegründeten 1st Southern Division der IRA unter Liam Lynch. Im Bürgerkrieg O/C für das Southern Command gehörte er zum inneren Führungskreis der IRA: Er bildete mit Liam Lynch, O’Malley, Frank Aiken und Tom Derrig ab September 1922 das Army Council der IRA.287 Ab Januar war Deasy tief vom Bürgerkrieg desillusioniert. Er sah keine Chance mehr, den Krieg militärisch zu gewinnen, war deprimiert über die feindlichen Reaktionen der Zivilbevölkerung. Um ein Ende des Bürgerkrieges zu erreichen, bemühte er sich, Liam Lynch zu kontaktieren und ein Treffen der IRA-Exekutive zu organisieren. Doch noch vor diesem Treffen, am 18. Januar 1923, nahm die Freistaatsarmee Deasy gefangen. Ein Militärgericht machte ihm den Prozeß und verurteilte ihn wegen illegalen Waffenbesitzes zum Tode. Doch Deasy wollte nicht in einem seiner Meinung nach sinnlosen Krieg sterben und als nächster prominenter Märtyrer dazu beitragen, daß der Krieg bitterer und länger geführt wurde. Deasy entschied sich zu überleben.288 Die Angst vor dem Tod zu Deasys primärem Motiv zu erklären, wäre eine falsch verstandene und übereifrige Form der Quellenkritik; ein Kurzschluß, der den Weg in die Köpfe der so sterbewilligen Republikaner verstellt. Überleben war für Liam Deasy nur ein sehr angenehmer, wenn auch unendlich peinlicher Nebeneffekt, für den er sich den Rest seines Lebens versuchte zu rechtfertigen.289 Das sah auch Florence O’Donoghue so, der als Guerillero des Unabhängigkeitskrieges, Mitglied der IRA-Exekutive vom März 1922 und späterer Biograph von Liam Lynch wußte, wie Republikaner dachten. Als Mitglied der neutralen IRA 1923 selbst Kritiker eines militärischen Kampfes gegen den Freistaat, erkannte er an, daß Deasy „fairly and courageously“ argumentierte und handelte.290 Seine Einschätzung teilte auch die Voice of
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O’DONOGHUE, No Other Law, S. 272, 274; O’FARRELL, Who’s Who, S. 26, 154. DEASY, Brother against Brother, S. 96, 73; VALIULIS, Mulcahy, S. 192. DEASY, Brother against Brother, passim. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 290; vgl. die Einschätzung des ehemaligen Guerilleros
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Labour. Sie würdigte Deasys „moral courage“, weil er trotz der drohenden Todesstrafe mit dem Freistaat kooperierte.291 Was aus heutiger Sicht selbstverständlich scheint, war 1923 eine Sensation: Deasy ignorierte den verbindlichen Text für einen werdenden Märtyrer und entzog sich dem republikanischen Gruppendruck. Er riskierte, als „Feigling“ und „Verräter“ zu gelten, und kooperierte mit dem Freistaat. Was er dachte, sprach und tat, sprengte die bis dahin möglichen Parameter republikanischen Denkens. Was Deasy gezwungenermaßen unterschrieb, mußte er auch von der politischen und militärischen Führung der Republikaner verlangen: „I accept and I will aid in immediate and unconditional surrender of all arms and men as required by General Mulcahy.“292 Das war aus orthodox republikanischer Sicht ein mehrfacher Tabubruch: Es hieß einmal, daß der Bürgerkrieg militärisch sinnlos und „the Republic“ nicht durch Gewalt zu erstreiten sei. Es implizierte aber auch, daß das Executive Council die rechtmäßige Regierung Irlands sei. Da die Freistaatsführung hoffte, Deasys Tabubruch könne wenigstens einen Teil der republikanischen Führung zum Aufgeben bewegen, erlaubte sie Deasy, dem vom Freistaat diktierten Schreiben eine vertrauliche Mitteilung beizulegen. Auch in diesem Schreiben argumentierte Deasy für ein Ende des Krieges, aber in einer Sprache, die die republikanische Führung leichter verstehen konnte: Weder Freistaatstruppen noch IRA seien stark genug, um ein militärisches Ende des Krieges zu erzwingen. Der Krieg entwickle sich daher zu einem sinnlosen Brudermorden, von dem nur der gemeinsame Feind England profitiere. Gemäß der Logik des republikanischen Geschichtsgesetzes befürwortete Deasy deshalb einen neuen Kampf um die Republik – aber erst in der nächsten Generation.293 Die militärische und politische Führung der Republikaner reagierte auf Deasys Schreiben gleichermaßen entsetzt und verunsichert. Sie fürchtete um die Moral der durch die Exekutionen ohnehin verunsicherten Truppe.294 Entsprechend harsch fiel ihre offizielle Antwort vom Boden der Republik aus. Liam Lynch, dem einmal mehr de Valera die passenden Worte diktierte: „I am to inform you officially on behalf of the Government and Army Council, that the proposal contained in your circular letter of the
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und Freistaatsoffiziers Michael Brennan, in: YOUNGER, Civil War, S. 499: „[. . .] greatest act of moral courage I have known in my life.“ VOICE OF LABOUR, 17. Februar 1923, S. 4. Veröffenticht, in: IRISH INDEPENDENT, 9. Februar 1922, S. 5. FLK, DeV, 299, Liam Deasy an de Valera, 30. Januar 1923. FLK, DeV, 287/1, de Valera an Lynch, 2. Februar 1923; 6. Februar 1923; Lynch an de Valera, 5. Februar 1923.
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29th of January and the enclosure, cannot be considered.“295 Da für die Republikaner mit dem Thema „Deasy“ nichts zu gewinnen war, warteten sie nervös darauf, wann der Freistaat Deasys Appell endlich veröffentlichen würde.296 Erst als der Freistaat mit seiner diskreten Strategie scheiterte, nutzte er den Fall Deasy für Publicity. Um die Effizienz von Deasys Aufruf gegenüber den einfachen IRA-Aktivisten zu erhöhen, genehmigte die Freistaatsführung erneut, daß Deasy seinen Aufruf auch öffentlich auf Republikanisch rechtfertigte.297 Dazu verband sie Deasys Aufruf mit einer Neuauflage ihres Amnestieangebots: Nach Deasys Vorbild sollten die Guerilleros ihre Waffen abgeben, dem Kampf abschwören und die Freistaatsregierung anerkennen.298 Während vertragsbefürwortende Propaganda und Tagespresse zurückhaltend optimistisch auf Deasys Appell reagierten,299 veröffentlichte jetzt auch die republikanische Propaganda Lynchs offizielle Antwort. Warum Deasys Vorschlag nicht erwogen werden konnte, erklärte sie dabei mit der republikanischen Standardrhetorik: den historischen Gesetzen des „eternal cause“300 und den „glorious sacrifices made for the Republic in the past.“301 Während sie dem Freistaat ein illegtimes „Brechen einzelner Offiziere“302 vorwarf, ging die Propaganda mit Deasy selbst vergleichsweise milde um: Deasy sei „no statesman“, habe sich vom vertragsbefürwortenden Armeechef Mulcahy hereinlegen lassen.303 Einige Blätter führten Deasys Verhalten auf seine Todesangst zurück und versuchten dabei gleichzeitig, Deasys Tabubruch zu verschleiern: „Liam Deasy still proclaims his Republican principles. But he was weak enough to yield to duress applied under the threat of a firing squad.“304 Mit dieser gegenüber Deasy betont verständnisvollen und gegenüber dem Freistaat betont entschlossenen „not an inch“-Rhetorik versuchten Lynch und de Valera, den Fall Deasy herunter-
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UCD, OMP, P17a/23, Lynch an Liam Deasy; dasselbe auch als Rundbrief an alle O/Cs, ca. 3. Februar 1922. FLK, DeV, 287/1, de Valera an Lynch, 5. Februar 1922; 6. Februar 1923; Lynch an de Valera, 5. Februar 1922; 6. Februar 1923; FLK, DeV, 299, de Valera an Mary MacSwiney, 6. Februar 1923; FLK, DeV, 301, de Valera an Robert Brennan, 6. Februar 1923. IRISH INDEPENDENT, 9. Februar 1923, S. 5; IRISH TIMES, 9. Februar 1923, S. 5. IRISH INDEPENDENT, 13. Februar 1922, S. 7. IRISH INDEPENDENT, 9. Februar 1923, S. 4; wortgleich: IRISH TIMES, 9. Februar 1923, S. 5. EIRE, 17. Februar 1923, S. 5; AN POBLACHT-WAR NEWS, 14. Februar 1923. UCD, OMP, P17a/23, Lynch’s manifesto, 9. Februar 1922. Ebd. EIRE, 17. Februar 1923, S. 5; AN POBLACHT-WAR NEWS, 14. Februar 1923. AN POBLACHT-WAR NEWS, 14. Februar 1923.
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zuspielen. Aus Angst, eine Eigendynamik von Deasys Appell mitanzuheizen, verharmlosten sie nach außen, was sie intern entsetzte. So empfahl de Valera Mary MacSwiney, auch in Zukunft Anschläge auf die Moral der IRA diskret von innen zu bekämpfen: „Any shouting or sign of excitement on our part would do far more harm than good.“305 Obwohl der Deasy-Fall viele IRA-Aktivisten verunsicherte, war Deasys Aufruf und das erneute Amnestieangebot des Exekutive Councils wenig effizient. Die durch die Exekutionen verbitterte IRA ging kaum auf das Angebot ein. Wieder veröffentlichte der Freistaat keine Zahlen, die Gefängnisse blieben brechend voll. Wie die Voice of Labour argumentierte: Die Amnestie war zu harsch formuliert, um Erfolg zu haben, implizierte eine Unterwerfung der IRA. Solange die Exekutionen weitergingen, solange Deasy unter Todesdrohungen stand, verloren Amnestie und Deasys Aufruf viel von ihrer Glaubwürdigkeit.306 Wer in der IRA demoralisiert, übermüdet, erschöpft, hungrig, durchnäßt und von der bald als „republican itch“307 bekannten Krätze geplagt aufgab, der schwor dem bewaffneten Kampf nicht offiziell ab, der versteckte sein Gewehr und schlich auf Umwegen nach Hause.308 In den Gefängnissen wirkte sich Deasys Tabubruch noch demoralisierender aus. Viele Aktivisten sahen nicht mehr ein, warum sie für die Republik sterben sollten, wenn selbst ein führender Guerillero wie Deasy sich weigerte. Auch sie taten, was als „to sign the form“309 bekannt wurde, und unterschrieben Deasys Aufruf. So retteten zwar ganze Einheiten ihr Leben, doch eine unkontrollierte Kettenreaktion löste der Deasy-Fall nicht aus.310 Auch wenn das Angebot „to sign the form“ weiterbestand, die meisten Guerilleros gingen nicht darauf ein. Dann hätten sie ja gleich den Treueid auf die britische Krone schwören können.311 Das Angebot der Regierung lag für sie genauso außerhalb der Denkgrenzen von „the Republic“ wie
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309 310
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NAI, D/J, C/R/FM2, (1993 release), de Valera an Mary MacSwiney, 2. März 1922. VOICE OF LABOUR, 17. Februar 1923, S. 4. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 279; HOPKINSON, Green, S. 230. NEESON, Civil War, S. 253; HOPKINSON, Green, S. 219. O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 205 f., beschreibt, wie sich O’Faolain hungrig, naß, stinkend und von Läusen und Parasiten geplagt über Weihnachten und Neujahr 1922/23 bei seinen Eltern einen kleinen Urlaub von der Revolution gönnte. Eine spätere Fassung der „form“, in: FLK, Dev, 287/2, ca. Juni 1923. Übertrieben die Angaben in FREEMAN’S JOURNAL, 9. Februar 1922, S. 4: 600 Gefangene in Limerick hätten sich Deasys Apell angeschlossen. Vgl. dagegen die IRISH TIMES, 9. Februar 1922, S. 5: Sie spricht von zwölf republikanischen Gefangenen, die vorgaben, im Namen der 600 Inhaftierten zu sprechen. Vgl. HOPKINSON, Green, S. 232, 240. DAIL DEBATES, Patrick Hogan, 15. März 1924, S. 533 f.
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Deasys Verhalten. Beides machte für die meisten Republikaner keinen Sinn. Deasys Handeln ließ sich für sie nur als Verrat, Feigheit, bestenfalls als Undisziplin lesen. So verlor O’Malley, obwohl er Deasy selbst ehrenwerte Motive zugestand, beinahe die Selbstbeherrschung, als ein Gefängniskaplan andeutete, auch O’Malley könne ja sein Leben auf dieselbe Methode wie Deasy retten: „I was glad I got to contain myself when he was in my cell, but when he left I went up in smoke.“312 Auch nach Deasys Aufruf starben Dutzende verurteilte Guerilleros den vorgesehenen Tod; vermutlich mit mehr Zweifeln, aber sie starben. Gruppendruck und die innere Logik von „the Republic“ funktionierten nach wie vor, waren bei vielen stärker als die Angst vor dem Tod. e) Ballyseedy: verzögerter Propagandaeffekt von Greueltaten In keinem Teil Irlands führte die IRA einen so erbitterten Guerillakrieg wie in West Cork und Kerry. Anders als in den meisten anderen Teilen Irlands, bekamen die Freistaatstruppen diese Gebiete trotz zahlreicher Exekutionen kaum unter Kontrolle. Die IRA verminte Brücken, Straßen und Waffenverstecke. Am 7. März 1923 starben deshalb sechs Freistaatssoldaten beim Räumen eines Waffenverstecks bei Knocknagashel. Danach gingen die verbitterten Freistaatstruppen dazu über, republikanische Gefangene zum Minenräumen einzusetzen. Doch die Frustration und Aggression einiger Freistaatssoldaten ging noch weiter: Am 8. März 1923 banden Freistaatssoldaten neun republikanische Gefangene bei Ballyseedy aneinander und zündeten in ihrer Mitte eine Mine. Genauso erging es in den folgenden Tagen insgesamt neun weiteren republikanischen Gefangenen in Countess Bridge und Cahersiveen. Nach dem Mord in Ballyseedy kratzten die Freistaatssoldaten im wörtlichen Sinn die Überreste der Ermordeten von den Bäumen und verteilten sie, weil sie zu ihrem Erstaunen nur acht Körper fanden, auf acht Särge. Gegenüber den Angehörigen erklärten sie, die Gefangenen seien beim Minenräumen gestorben. Als die Angehörigen gegen den Widerstand der Freistaatssoldaten trotzdem die Särge mit den kreuz und quer zusammengewürfelten Leichenteilen öffneten, gab es einen chaotischen Tumult. Die Version der Freistaatssoldaten kollabierte schnell: Ob durch ein Wunder oder durch die Konstruktion der Mine, in Ballyseedy und Countess Bridge entkam jeweils ein IRA-Aktivist, den die Druckwelle unverletzt zur Seite geschleudert hatte. So erreichte die Greuelgeschichte nicht nur die
312
O’Malley an Lynch, 10. Februar 1923, in: ENGLISH (Hrsg.), Prisoners, S. 28 f.
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republikanische Propaganda, sondern auch das Dubliner Hauptquartier der Freistaatsarmee. Armeechef Mulcahy setzte eine Untersuchungskommission ein, die aus zwei führenden Militärs aus Kerry bestand und aus Eamon Price, dem neuen Propagandachef im Department for Military Statistics. Daß eine Kommission aus einem Propagandaprofi und zwei Verantwortlichen zu dem Ergebnis kam, es habe keine Morde gegeben, war sicher nicht überraschend. Wichtiger, als die eigene Armee zu disziplinieren, war für die Kommission und die Freistaatsführung, die eigene Stellung und eigene Legitimität zu schützen. Dagegen zog die Freistaatsarmee in Kerry aus dem Fall Ballyseedy Konsequenzen. Bei dem Minenmord in Cahersiveen erschossen die Freistaatssoldaten ihre Opfer, bevor sie sie über eine Mine legten. Damit waren sie sicher, daß in Zukunft kein Zeuge mehr entkam. Leichen republikanischer Gefangener wurden nur noch an Ort und Stelle beigesetzt, um öffentlichen Tumulten aus dem Weg zugehen.313 Für die republikanische Propaganda war Ballyseedy eine einzigartige Geschichte. Sie „bewies“: Nicht einige undisziplinierte, verbitterte Soldaten, nein „der Freistaat“ selbst war grausamer und pietätloser, als es die Briten je gewesen waren.314 Auch IRA-Chef Liam Lynch erkannte, welches Potential die Geschichte hatte. Er beauftragte seinen Adjutant General, die verfügbaren Informationen über Ballyseedy zu sammeln, um sie an alle DailAbgeordneten zu schicken.315 Auch der Vorsitzende der Labour Party Thomas Johnson zweifelte an der offiziellen Version und forderte eine unabhängige Untersuchungskommission. Seine kritische Nachfrage in Dail Eireann gab Ballyseedy weitere Publicity, auch in der Dubliner Tagespresse.316 Mehr noch als Childers Tod und die vier Repressalmorde wurde Ballyseedy aus republikanischer Sicht nach dem Bürgerkrieg zum symbolträchtigsten Ereignis des Krieges; ein Zeichen dafür, zu welchen Untaten der Freistaat in der Lage war.317 Propagandaklassiker, wie Dorothy Macardles bald nach dem Krieg erschienenes Buch „Tragedies of Kerry“, verliehen Ballyseedy einen fast kultischen Status.318 Der Mythos „Ballyseedy“ wurde zu einer eigenen Realität, die viel geschichtsmächtiger wurde als die militä313 314 315 316 317 318
VALIULIS, Mulcahy, S. 188–91; HOPKINSON, Green, S. 240–2. EIRE, 31. März 1923, S. 2, 7. VALIULIS, Mulcahy, S. 190. DAIL DEBATES, Thomas Johnson, 17. April 1923, S. 133, 185–90; IRISH TIMES, 18. April 1923, S. 7; IRISH INDEPENDENT, 18. April 1923, S. 5. Vgl. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 266. MACARDLE, Tragedies of Kerry, passim.
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risch marginale Tatsache, daß Freistaatssoldaten am 7. März 1923 neun Republikaner in die Luft sprengten. Bis in die fünfziger Jahre, ja bis heute war und ist „Ballyseedy“ ein hoch emotionales Argument Fianna Fails und Sinn Feins.319 Im und kurz nach dem Bürgerkrieg hatte die Geschichte „Ballyseedy“ weniger Wirkung. Ihr propagandistischer und traumatischer Effekt blieb zunächst im wesentlichen auf den Tatort in Kerry und seine nähere Umgebung beschränkt.320 Selbst in der republikanischen Untergrundpresse war „Ballyseedy“ nicht das Thema Nummer Eins des Tages.321 Außerhalb Kerrys war Ballyseedy damit trotz der offiziellen Untersuchungskommission nur eine von zahlreichen Greuelgeschichten, die sich beide Seiten gegenseitig vorwarfen; Greuelgeschichten, denen man von außen nicht ansah, ob sie erfunden, übertrieben oder blutige Realität waren.322 Der drastische und unglaubwürdige Ton der republikanischen Propaganda zu Gefängniszuständen und den „Fluchtversuchen“ ließ sich jetzt bei wirklichen Horrorgeschichten nicht mehr steigern. Den Republikanern fehlte ein Propagandist vom Format Childers, der wußte, wie man in einem betont sachlichen Stil Emotionen freisetzte. Bei der Politik des Tötens und sich Tötenlassens hatten Freistaatler und Republikaner nur enge realpolitische und legitimatorische Spielräume. Während sich die Minenmorde zunächst nur schwer nachweisen ließen, stellten Hinrichtungen ein politisches Minenfeld dar. Exekutionen waren bis in die Details mit nationaler Bedeutung, mit einem traditionellen Verständnis von Gut und Böse aufgeladen. Sie waren zwar ein hocheffizientes Zwangsmittel, um die IRA zu demoralisieren, untergruben jedoch gleichzeitig die nationale Legitimität des Freistaats. Im Fall der vier nicht einmal scheinbar legalisierten Repressalmorde drohte dabei sogar die politische Stimmung zu kippen. Auch deshalb verzichtete die Freistaatsführung später auf die Exekution des schwerverletzten O’Malley. Sie verhinderte damit, daß die Republikaner eine direkte Nachfolge zum Martyrium James Connollys herstellen konnten. Ein schnelles Zurückschlagen legalisierte die Freistaatsführung nach den Repressalmorden durch die Strategie vorläufig ausgesetzter Exekutionen.
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YOUNGER, Civil War, S. 484, erkennt den Unterschied zwischen dem Mythos „Ballyseedy“ und Ballyseedy, übersieht aber, daß auch der Mythos „Ballyseedy“ eine geschichtsmächtige Realität war. Vgl. VALIULIS, Mulcahy, S. 192; HOPKINSON, Green, S. 240. Vgl. BRIAN WALKER, Election Results, S. 112. EIRE, 31. März 1923, S. 2, 7. Exemplarisch: AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. März 1923.
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Da Liam Deasy der einzige prominente Aktivist blieb, der sich offen dem Martyrium entzog, und auch eine erneute Amnestie wenig Erfolg hatte, setzte die Freistaatsregierung ihre Exekutionspolitik fort. Sie produzierte Dutzende von republikanischen Märtyrern. Dadurch verlor das republikanische Martyrium jedoch auch etwas von seiner Einmaligkeit, wurde zu einem Massenphänomen. Weniger prominente Exekutionsopfer wurden hauptsächlich in ihrer Heimatregion verehrt, gingen später dann in das Kollektiv der „77“ ein. 4. HUNGERSTREIK UND GESCHLECHTERKONZEPTE Frauen waren für die Propaganda auf zwei Ebenen wichtige Akteure: Zum einen stellten sie die überwiegende Mehrheit der Mitarbeiter der republikanischen Propaganda. Zum anderen nutzten die Propagandisten beider Seiten das Argument „Frau“ für ihre Propaganda. Vor allem am Beispiel von Mary MacSwineys Hungerstreik werde ich zeigen, wie beide Seiten weibliche Geschlechterkodierungen instrumentalisierten. a) Frauen als Propagandistinnen und „Frau“ als Argument der Propaganda Wie schon im Unabhängigkeitskrieg arbeiteten hunderte von Cumman na mBan-Mädchen und -Frauen als Propagandistinnen für die Republikaner:323 Sie schrieben und organisierten für die offizielle republikanische Propaganda und für die Cumman na mBan-Publicity,324 beschrieben Wände mit Parolen oder hielten umstürzlerische Reden. Frauen stellten die Totenwache für gefallenen Guerilleros, nahmen an den Protestmärschen der WPDL teil, organisierten Hilfszahlungen an Verwandte republikanischer Gefangener. Gerade auf der lokalen Ebene in Limerick, Athlone und Kerry scheinen Frauen das Rückgrat des politischen Republikanismus gewesen zu sein. Was als Republican War Bulletin nach außen wie eine offizielle Pressemitteilung der IRA aussah, wurde in Absprache mit O’Malley und Brennan ausschließlich von den Cumman na mBan-Aktivistinnen Dublins hergestellt.325
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Zum Unabhängigkeitskrieg: WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 151 f. Exemplarisch: UCD, MP, P7/B/92, Brennan an Lynch, 20. März 1923; UCD, MP, P7a/62, O’Malley an Lynch, 22. September 1922. UCD, FGP, P80/763, O’Malley an Lynch, 22. September 1922; UCD, OMP, P17a/144, Cumman na mBan publicity report for week ending 24. September 1922; 30. September 1922; 20. Oktober 1922; Brigid M. Nadtain an O’Malley, 12. August 1922; 14. August 1922; AA, MI/PR/5, statistical summary of office reports for week ending 26. Januar 1923; NLI, BP, box 6, Memo to Mulcahy with reference to question of Deputy Cathal O’Shannon re
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Die Republikaner nutzten, daß die überwiegende Mehrheit der politisch aktiven Frauen auf der vertragsablehnenden Seite standen. Und da immer mehr männliche Propagandisten im Gefängnis saßen oder am Guerillakrieg teilnahmen, war die republikanische Propaganda auf weibliche Mitarbeiterinnen schlichtweg angewiesen. Bei den Vertragsbefürwortern arbeiteten dagegen kaum Frauen in der Propagandamaschinerie.326 Der freistaatlich Frauenverband Cumman na Saoirse327 blieb im wesentlichen ein politisch kaum aktiver Verband von Ehefrauen prominenter Vertragsbefürworter.328 Das lag nicht daran, daß Vertragsbefürworter und -gegner unterschiedliche Frauenbilder hatten: Sie teilten beide das traditionelle Frauenbild der katholischen Kirche Irlands: die Frau als Hausfrau und Mutter, als Hüterin des religiösen und nationalen Glaubens in der Familie.329 Der Fanatismus der Aktivistinnen, ihre oft demonstrative äußerliche Vernachlässigung kam selbst einigen ebenso fanatischen männlichen Propagandakollegen unweiblich vor.330 Die Vertragsbefürworter nutzten das erfolgreich für ihre Propaganda. Sie instrumentalisierten, daß politisch aktive Republikanerinnen gegen einen breiten Konsens traditionell verankerter Geschlechterrollen verstießen.331 Frauen, so Patrick O’Hegarty, sollten sich auf die private, weibliche Sphäre beschränken, sich in der Öffentlichkeit höchstens um „poor children and things like that“ kümmern. Doch statt sich der „Dinge des Lebens“ anzunehmen, beschäftigten sich politisch aktive Frauen mit den „things of death – first-aid, bandages, splints, gun shot wounds and broken limbs and broken bodies.“332 Mit dem Übertreten der Geschlechtergrenzen
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Censorship, ca. 25. September 1922; NAI, D/T, S-3361, army report March 1923, 1. April 1923; ebd., general survey, week ending 15. April 1923; UCD, KP, P4/1387, Bendict O’Sullivan an Margaret Collins-O’Driscoll, 18. Oktober 1923; FLK, DeV, 239A, de Valera an Lynch, 20. November 1922; FLK, DeV, 308/2, Secretary Irish Republican Prisoners Dependents Fund an de Valera, 2. Februar 1923; FREEMAN’S JOURNAL, 8. Juli 1922, S. 4; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 23. September 1923, S. 3; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 245; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 178, 190 f.; O’MALLEY, Singing Flame, S. 158 f.; GEORGE MORRISON, The Irish Civil War. An Illustrated History. Dublin 1974, hier: S. 140. JACQUELINE VAN VORIS, Constance de Markievicz in the Cause of Ireland. Amhurst 1967, hier: S. 326–8; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 17. Cumman na Saoirse: Freiheitsverein. WARD, Unmanagable Revolutionaries, 172 f. Ebd., S. 174–8, 250–4. O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 214 f.; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 260. DAILY MAIL, 7. April 1922, S. 9; FREEMAN’S JOURNAL, 14. Juli 1922, S. 3; YOUNG IRELAND, 25. November 1922, S. 2; UCD, FGP, P80/784, Secretary Cumman na mBan an Lynch, ca. 14. Dezember 1922; MCKILLEN, Feminism, no.4, S. 88. O’HEGARTY, Victory, S. 56 f.
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sprach Patrick O’Hegarty den diabolischen „Furies“ und „gunwomen“ ihren Status als Frauen ab: „They became practically unsexed, their mother’s milk blackened to make gun powder, their minds working on nothing but blood and hate.“333 Nach freistaatlicher Logik verloren diese Frauen durch ihre aktive Mithilfe am „Terror“ der IRA ihre Weiblichkeit, ließen sich nicht mehr als „ordinary females“ betrachten. Das rechtfertigte dann auch, Frauen theoretisch mit derselben Härte zu bestrafen wie männliche Aktivisten.334 Wurden Frauen so einerseits entweiblicht, versuchten die freistaatlichen Propagandisten gleichzeitig und konträr dazu, gerade aus den als weiblich definierten Eigenschaften ihrer Gegnerinnen Kapital zu schlagen. Sie argumentierten, daß „die meisten“ ihrer politischen Feinde „nur“ Frauen seien und apostrophierten sie, auch mit Blick auf eine angeblich privilegierte soziale Stellung, spöttisch als „ladies“. Sie werteten ihre Gegnerinnen als „neurotic girls“, „emotional young women“ oder „embittered widows“ ab, stellten dabei manchmal sogar deren Sexualmoral in Frage.335 In diesem Kontext definierte die vertragsbefürwortende Propaganda die republikanische Kriegsführung als eine Frauensache: „The busiest people in Ireland are the ladies, who are carrying on a propagandist campaign based on the alleged illtreatment, underfeeding, congestion, etc. of these prisoners.“336 Den aus republikanischer Perspektive mannhaften Kampf und das männlich definierte Selbstopfer der IRA erklärten die Freistaatspropagandisten so zu einer „Weiberangelegenheit“.337 Dabei spielte die freistaatliche Propaganda die „well known radical tendencies“ ihrer Gegnerinnen aus und nutzte, daß die meisten prominenten weiblichen Aktivistinnen früher Suffragetten gewesen waren.338 Das ging ab Frühjahr 1923 Hand in Hand
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Ebd., S. 102; vgl. S. 56 f., 103–8, 125, 147 f.; vgl. auch DAIL DEBATES, O’Higgins, 25. April 1923, S. 440, spricht von „unsexed“ women. Vgl. YOUNG IRELAND, 25. November 1922, S. 2. DAIL DEBATES, Cosgrave, 17. April 1923, S. 193 f.; Ernest Blythe, 20. April 1923, S. 354; O’Higgins, 20. April 1923, 355; Sean Milroy, 15. April 1923, S. 441. Zitate: NAI, D/T, S-3361, army report March 1923, 1. April 1923; FREEMAN’S JOURNAL, 1. Januar 1923, S. 4, Neujahrsansprache Cosgraves; FREE STATE, 8. Juli 1922, S. 1; DEBATE ON TREATY: Ada English, 4. Januar 1922, S. 250; Kate O’Callaghan, 20. Dezember 1921, S. 59; Siehe auch: FLK, DeV, 275, summary of the complaint against the Irish Hierachy, ca. 1. Januar 1923; vgl. DAIL DEBATES, Patrick O’Maille, 25. April 1923, S. 435: „disgrace to Irish womenhood“; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 209. DUNDALK DEMOCRAT, 21. Oktober 1922, S. 4. Vgl. MARY CONDRON, Sacrifice, S. 161. UCD, FGP, P80/298, Dr. Curley, Archbishop of Baltimore on visit to Ireland, ca. September 1922; DUNDALK DEMOCRAT, 21. Oktober 1922, S. 4; DAILY MAIL, 6. Februar 1923, S. 10; WARD, Maud Gonne, S. 102, 117, 136; MCKILLEN, Feminism, passim.
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mit einer wiederbelebten Propaganda des „getting back to normal“. Der Bürgerkrieg sei nur noch ein Papierkrieg, eine Drohbriefkampagne des „women’s wing of the conspiracy“.339 Doch wieder blockierte die gemeinsame revolutionäre Tradition eine rhetorische Strategie, die dieses Argument hätte weiterführen können. Das republikanische Leiden, die „abnormal and inherited capacity for suffering“ als weibisch, als „a women’s policy“ zu diskreditieren, machte für anglo-irische Unionisten Sinn.340 Nationalistische Ex-Revolutionäre konnten das nicht sagen, kaum denken. b) Mary MacSwineys Hungerstreik: Prinzipientreue, Flexibilität und Geschlechterrolle Nach republikanischer Tradition war der bewaffnete Kampf, das Ausüben von Gewalt, Männersache.341 Frauen nahmen nicht an Blutopfer oder Guerillakrieg teil. Cumman na mBan definierte sich als Hilfstruppe: Neben ihrer Arbeit für die republikanische Propaganda nähten Frauen Fahnen, organisierten Beerdigungen, versorgten Verwundete und transportierten Nachrichten. Davon gab es im Bürgerkrieg nur wenige Ausnahmen.342 „The greatest honour that can be paid an Irishman or woman [..] to join Tone and Emmet, the Fenians, Tom Clarke, Connolly, Pearse, Kevin Barry and Childers“ blieb entgegen Liam Mellows Rhetorik Frauen vorenthalten.343 Mary MacSwiney war die erste Aktivistin, die versuchte, das männliche Monopol auf das republikanische Martyrium zu durchbrechen. Sie verkörperte wie keine andere oder kein anderer die Linie eines doktrinären, kompromißlosen Republikanismus, setzte sich mit unglaublicher Zähigkeit, ja Penetranz für ihre Ideale ein. 1872 als ältestes von sieben Geschwistern geboren, arbeitete sie als Lehrerin, gehörte damit wie Pearse oder de Valera zu der revolutionsanfälligsten Berufsgruppe. Zunächst engagierte sich MacSwiney im frühen irischen Feminismus, war Mitglied der Munster Wo339 340 341
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DFA, early files, P 91, Publicity Department an „various traders“, 7. April 1923. IRISH STATESMAN, 27. Oktober 1923, S. 197. Vgl. DIRK SCHUMANN, Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegung zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte, 37, (1997), S. 366–86, hier: S. 379 f. Vgl. AA, MI/PR/5, official report for week ending, 26. Januar 1923; AA, MI/PR/7, official report 2nd Eastern, 19. Dezember 1922; UCD, FGP, P80/784, Secretary Cumman na mBan an Lynch, ca. Dezember 1922; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 182; LITTON, Civil War, S. 88 f.; SHEEHAN, Cumman na mBan, S. 90 f., 95, 97. AN POBLACHT- WAR NEWS, 12. Dezember 1922, Abschiedsbrief Liam Mellows; vgl. CONDRON, Sacrifice, S. 161.
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men’s Franchise League. Dabei wurde Mary MacSwiney wie viele andere radikale Nationalistinnen auch durch einen von Anfang an national und anti-britisch ausgerichteten Feminismus politisiert. Auch später, als Gründungsmitglied Cumman na mBans, gab sie ihren Feminismus nie ganz auf, betrachtete ihn aber schon früh als zweitrangiges Ziel.344 Durch ihre Schlüsselrolle während des Hungerstreiks ihres Bruders Terence wurde Mary MacSwiney schlagartig prominent. Terence MacSwiney war als Bürgermeister von Cork und als Führungsoffizier der ersten Corker IRA-Brigade Nachfolger des im März 1920 „auf der Flucht erschossenen“ Corker Bürgermeisters Thomas MacCurtain. Im August verhaftet, folgte auch er dem republikanischen Textbuch: Er weigerte sich, das Gericht anzuerkennen, und begann einen Hungerstreik, um seine Freiheit zu erpressen. Lange, qualvolle 74 Tage hungerte sich Terence MacSwiney für „the Republic“ zu Tode.345 Damit setzte er sein bald zu einem der erfolgreichsten Klassikerzitate gewordenes Diktum in die Tat um: „I wish to point out again the secret of our strength and the assurance of our final victory [. . .] It is not they who can inflict most, but they who can suffer most who will conquer.“346 Und in der Tat „eroberte“ Terence MacSwiney: Über zwei Monate demontierte sein Sterben die Legitimität der britischen Herrschaft. Es beschäftigte die Öffentlichkeit in Irland, den USA und Großbritannien, sorgte für Schlagzeilen und Titelstorys. Obwohl von der britischen Pressekontrolle behindert, berichteten die Blätter alle Details über MacSwineys Gesundheitszustand, seine politischen Überzeugungen und seinen Tod.347 Dabei war es Mary MacSwiney, die Terence während seines Hungerstreik immer wieder ermutigt hatte, durchzuhalten. Sie wurde Terences Sprachrohr gegenüber der Presse, transportierte dessen letzten Worte – „God save Ireland“ – nach draußen, wenn sie sie nicht selbst formulierte.348 Nach dem Tod ihres Bruders trug sie den Rest ihres Lebens fast ausschließlich
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FALLON, Soul of Fire, S. 11–27, 97 f.; CURTIS, Ireland in 1914, 167 f.; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 50–87; MCKILLEN, Feminism, no.3, S. 52–67; no.4; S. 72–82. Zur Ereignisgeschichte des Hungerstreiks: COSTELLO, Terence MacSwiney, S. 139–222. UCD, TMSW, P48b/400, Terence MacSwiney, inaugural address to Cork Corporation, 20. März 1920; vgl. MACSWINEY, Principles, S. 70 f.; als Klassikerzitat, in: AN POBLACHT, 15. März 1922, S. 1; EIRE, 12. Mai 1923, S. 2. FALLON, Hungerstrikes, S. 76; dies., Soul of Fire, S. 47; COSTELLO, Terence MacSwiney, S. 223–6; vgl. auch IRISH BULLETIN, 25. Oktober 1920; YOUNG IRELAND, 13. November 1920, S. 3. IRISH BULLETIN, 25. Oktober 1920; FALLON, Soul of Fire, S. 50 f.
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Schwarz. Mit Terences Witwe Muriel ging sie auf Propagandatour durch die USA und sammelte Gelder für die Untergrundrepublik. Doch anders als Terences gebrochene Witwe, erweckte sie nicht nur Mitleid und Sympathie, sondern beeindruckte als charismatische, begeisterte und begeisternde Rednerin.349 Während Muriel nach Terences Tod bald an schweren Depressionen erkrankte und fast lebensunfähig wurde, lag vor Mary eine lange Karriere als „Jeanne d’Arc“350 des radikalen Republikanismus.351 Als Stimme ihres toten Bruders war sie nach der Vertragsspaltung Kronzeugin der republikanischen Bemühungen, den wichtigsten Märtyrer neben Pearse und Wolfe Tone post mortem zu einem Vertragsgegner zu machen.352 Doch anders als die politisch ungebildete Margaret Pearse, anders als Kathleen Clarke, Kate O’Callaghan oder Mary Childers war Mary MacSwiney mehr als nur Mutter, Witwe oder Schwester von . . .353 Neben Constanze de Markievicz war sie die bedeutendste Revolutionärin der irischen Geschichte. Auch im Bürgerkrieg ging sie als Propagandistin auf Tour durch die USA, wenn auch mit wesentlich geringerem Erfolg. Zurück in Irland, versuchte sie, den politischen Republikanismus zu organisieren, von einem unübertroffenen Sendungsbewußtsein beflügelt: „A priest told me some time ago, if all the Republicans or even a tenth of them had my absolute faith, we would be invincible.“354 Die Freistaatsführung identifizierte sie deshalb schnell als führende Aktivistin. Durch ihren unnachgiebigen, dogmatischen Republikanismus wurde „that diabolical McSweeney [sic!] woman“ vielen Vertragsbefürwortern bald ebenso so verhaßt wie Childers und de Valera.355 So war sie am 4. November 1922 eine der ersten Frauen, die der Freistaat verhaftete.356 Wie ihr Bruder 1920, begann auch Mary MacSwiney sofort einen Hungerstreik, setzte den Freistaat mit der wirkungsvollsten Propagandawaffe
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FALLON, Soul of Fire, S. 53, 56–60. AN POBLACHT, 21. Februar 1922, S. 6. COSTELLO, Terence MacSwiney, S. 238–44. DEBATE ON TREATY, Mary MacSwiney, 21. Dezember 1921, S. 108–27; UCD, P48a/235, Mary MacSwiney an Mulcahy, 24. April 1922; CATHOLIC BULLETIN, Juni 1922, S. 405–16. FALLON, Soul of Fire, S. 54; zur politischen Unbedarftheit von Margaret Pearse: RUTH EDWARDS, Triumph, S. 332 f. FLK, DeV, 1444/1, Mary MacSwiney an de Valera, 10. September 1922. UCD, KP, P4/1387, Benedict O’Sullivan an Margret Collins-O’Driscoll, 18. Oktober 1923; Ein eigenes „Haßkapitel“ widmete ihr O’HEGARTY, Victory, S. 106–8. FALLON, Hungerstrikes, S. 77.
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der republikanischen Leidenstradition unter Druck. Darin unterstütze sie bald auch ihre Schwester Anne, die vor den Gefängnistoren einen Hungerstreik begann, um eine Besuchserlaubnis zu erpressen.357 Als Schwester(n) von Terence MacSwiney garantierte(n) sie eine direkte, auch familiäre Kontinuität zu den „glorious dead“: „Is a second MacSwiney and a woman this time to be sacrificed by Irish traitors and slaves on the altar of the same British imperialism as her patriot brother?“358 Über ihre Rolle als Frau transportierte die hungerstreikende Mary MacSwiney mehrere zentrale Aussagen des antithetischen Weltbildes von Irland versus England, von „Maid of Erin“ versus „John Bull“. Die Geschichte von „spirituell“ versus „materiell“ ließ sich über Frauen, die Trägerinnen der reinen Lehre, besser erzählen. Und wer verkörperte die unbestechliche Reinheit von „the Republic“ besser als Mary MacSwiney. Das galt auch für die Oppositionen edel – grausam, schwach – stark und „irisches“ Leiden – „britische“ Brutalität. Als Vertreterinnen des als „schwach“ definierten Geschlechtes waren Frauen aussagekräftigere Opfer der „britischen“, männlich konnotierten Gewalt359 – besonders wenn diese Schwäche durch den Hungerstreik täglich zunahm.360 Ein „war on women“ war etwas anderes, etwas unmoralischeres als ein „war on men“.361 Auch deshalb arbeiteten so viele Frauen in der republikanischen Publicity: Weil die Freistaatsbehörden gute Gründe hatten, behutsam gegen sie vorzugehen, waren Frauen lange Zeit relativ sicher vor Verhaftungen.362 Publicity bekam der Fall MacSwiney nicht nur durch die republikanischen Propagandablätter, sondern auch durch die Protestmärsche der oben vorgestellten Women’s Prisoners’ Defence League, WPDL. Als Freistaats-
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UCD, FGP, P80/282, Annie MacSwiney an EVENING MAIL und IRISH TIMES, 26. November 1922; FALLON, Hungerstrikes, S. 78 f. AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. November 1922. DAILY BULLETIN, 19. Oktober 1922; DONEGAL VINDICATOR, 23. September 1922, S. 3; 30. September 1922, S. 2; EIRE, 20. Januar 1923, S. 5; NAI, D/T, S-1369/3, Kopien von republikanischer Propaganda zur Mißhandlung inhaftierter Frauen; UCD, FGP, P80/293, Memo re DAILY MAIL, 14. Februar 1923. IRISH INDEPENDENT, 10. November 1922, S. 5; IRISH TIMES, 24. November 1922, S. 6, Leserbriefe der Cumman na mBan Publicity; TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 1/20, Flugblatt, „news not in the press“, ca. 20. November 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 3. März 1923. NLI, BP, box 6, Memo to Mulcahy with reference to question of Deputy Cathal O’Shannon re Censorship, ca. 25. September 1922; DONEGAL DEMOCRAT, 29. September 1922, S. 4; NAI, D/T, S-3361, army report March 1923, 1. April 1923: „Their arrest came as a great surprise to them“.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
truppen Ende November 1922 über die Köpfe der Demonstrantinnen hinweg schossen und im anschließenden Handgemenge eine junge Frau ums Leben kam, nutzte auch die Dubliner Tagespresse ihren kleinen Spielraum für Kritik: Sie berichtete knapp und emotionslos über Mary MacSwineys Hungerstreik, die Proteste der WPDL und die Übergriffe der Freistaatstruppen. Diese Berichte transportierten trotz ihres nüchternen Tons zwischen den Zeilen die republikanische Version; denn der Hungerstreik Mary MacSwineys und der Tod der WPDL-Demonstrantin sprachen auch an der Pressekontrolle vorbei ihre eigene Sprache. Daneben gelangte immer noch kaum gebrochene republikanische Propaganda in die Presse. Die Zeitungen veröffentlichten den „coroner’s inquest“ nach dem Tod der jungen Demonstrantin, einschließlich des Plädoyers des republikanischen Staranwalts Comyn. Genauso druckten sie immer noch einzelne republikanische Leserbriefe, auch wenn die meist durch FitzGerald entschärft waren.363 Was die republikanische Propaganda verschwieg: Auch führende Republikaner wie de Valera und Brennan hatten schwere Bedenken gegen weibliche Hungerstreiks und gegen die Art, in der die MacSwiney Schwestern gegen die traditionell männliche Kodierung des Selbstopfers verstießen. Genauso erkannte die Führung der IRA Mary MacSwineys Hungerstreik nie als offizielle Politik an.364 Während die Politiker ihren Hungerstreik unterstützten, eignete sich der Hungerstreik ihrer Schwester Anne kaum für Propaganda: Die Zusammenstöße von johlenden Freistaatssoldaten und „hysterischen Frauen“ vor dem Mountjoy-Gefängnis und die nach Angriffen mit einem Wasserwerfer klatschnassen Frauen erschienen den Republikanern peinlich. Immer wieder versuchten sie daher, Anne MacSwiney zur Aufgabe zu bewegen.365 Selbst Mary MacSwiney machte sich nicht nur Sorgen um die Gesundheit ihrer Schwester. Auch sie fürchtete, daß Annes Streik propagandistisch kontraproduktiv sei.366 Gegenüber der britischen Regierung hatte die Freistaatsführung einen entscheidenden Vorteil: Ihr war nach dem Tod der Hungerstreikenden 1920 präsent, wie lange ein Mensch ungefähr ohne Nahrung überleben
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IRISH INDEPENDENT, 7. November 1922, S. 4; 8. November 1922, S. 6; 9. November 1922, S. 5; 10. November 1922, S. 5; 17. November 1922, S. 3 f.; 24. November 1922, S. 5; 25. November 1922, S. 5, jeweils (zensierte) Leserbriefe; IRISH TIMES, 13. November 1922, S. 5; 24. November 1922, S. 5; 27. November 1922, S. 6. FLK, DeV, 287/1, de Valera an Lynch, 30. Januar 1923; FALLON, Hungerstrikes, S. 90. FLK, DeV, 241; Brennan an de Valera, 18. November 1922. FLK, DeV, 1444/1, Mary MacSwiney an de Valera, 19. November 1922.
I. Republikanische Martyrologie
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konnte.367 Deshalb wartete sie zunächst einfach ab, wie ernst es Mary MacSwiney mit ihrem Streik war. Auch das Aufsehen, das der MacSwineyFall erregte, hielt sich zunächst in Grenzen. Ein Stimmungsbericht des Army Publicity Department schätzte die Lage nach zwei Wochen Hungerstreik als nicht dramatisch ein: „MacSwiney affair cuts no ice.“368 Wenn dieser Bericht die Stimmung einigermaßen traf, dann nicht, weil die Bevölkerung kein Mitleid mit der fanatischen Mary MacSwiney hatte. Es lag eher daran, daß jetzt auch die Bevölkerung durch Terence MacSwineys Beispiel „wußte“, daß ein Hungerstreik nach zwei Wochen noch gar nicht richtig begonnen hatte. Doch obwohl der Gefängnispriester ihr zeitweise die Sakramente verweigerte, war MacSwiney offenbar fest entschlossen, als erste weibliche Märtyrerin in die Geschichte einzugehen. Von ihrem Sendungsbewußtsein beflügelt, thematisierte sie in privaten Briefen wie in ihren Verlautbarungen ihr eigenes Martyrium in der direkten Nachfolge ihres Bruders.369 Daran änderte sich auch nichts, als Bischof Cohalan von Cork erklärte, ihr Hungerstreik sei ein Selbstmordversuch. MacSwiney reagierte auf die angedrohte Exkommunikation wie die meisten männlichen IRA-Aktivisten: als Leserin katholischer Mystik und Mitglied eines Benediktiner-Laienordens irritiert, als überzeugte Republikanerin wütend und unnachgiebig.370 Da das Verdikt des Bischofs für sie implizierte, auch ihr Bruder Terence habe Selbstmord begangen, schrieb sie noch aus dem Gefängnis einen wütenden Protestbrief an Cohalan, provozierte den Bischof mit der Indiskretion, noch gestern die Sakramente bekommen zu haben.371 Langsam erhöhte sich der Druck auf die Provisorische Regierung. WPDL und Cumman na mBan organisierten eine Flut von Telegrammen und Bittbriefen an Presse und Regierung.372 Da Mary MacSwiney ab dem
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GEORGE SWEENEY, Irish Hungerstrikes and the Cult of Self-Sacrifice, in: Journal of Contemporary History, 28, (1993), S. 421–38, hier: S. 424 f. UCD, MP, P7a/198, Irish Survey, 18. November 1922. FLK, DeV, 444/1, Mary MacSwiney an de Valera, 19. November 1922; UCD, MSW, P48a/206, Mary MacSwiney, statement re arrest, ca. 30. November 1922; P48a/377, Mary MacSwiney an IRISH INDEPENDENT, 23. November 1922. Cohalans Predigt, in: IRISH INDEPENDENT, 23. November 1922, S. 6; IRISH TIMES, 23. November 1923, S. 5; UCD, MSW, P48a/206, Mary MacSwiney, statement re arrest, ca. 30. November 1922; FALLON, Soul of Fire, S. 13 f., 51, 94. UCD, MSW, P48a/377, Mary MacSwiney an IRISH INDEPENDENT, 23. November 1922. Die zensierte Form wurde veröffentlicht, in: IRISH INDEPENDENT, 25. November 1922, S. 5. FALLON, Hungerstrikes, S. 78 f.; dies., Soul of Fire, S. 92.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
zwanzigsten Tag sichtlich schwächer wurde, mußte sich die Provisorische Regierung entscheiden.373 Hardliner wie Innenminister O’Higgins setzten dabei auf unbedingte Härte, um die Republikaner zu demoralisieren. Er und auch Regierungschef Cosgrave dachten primär in der Kategorie Staatsräson, wollten keine Schwäche zeigen. Sie fürchteten sich vor einem Präzedenzfall, der weitere Hungerstreiks provoziere.374 Doch sie konnten sich nicht gegen diejenigen durchsetzen, die wie Mulcahy noch immer pragmatisch mit dem Wert „law and order“ umgehen konnten. Die Exekution der „four lads“, der Tod von Childers und wenig später die vier Repressalmorde gefährdeten Ende November die nationale Legitimität des Freistaates schon genug. Das war nicht nur Wunschdenken der Republikaner. Vor einem Stimmungsumschwung warnten einflußreiche Regierungsfreunde wie Erzbischof Byrne von Dublin oder Cardinal Logue genauso wie die Berichte des Army Publicity Department.375 So erklärte ein freistaatlicher Hinterbänkler in einer ähnlichen Situation im April 1923 der Regierung: Hunger-striking may be right or may be wrong. It may be justifiable or it may be unjustifiable, but the death of Terence MacSwiney created a sentiment in this country that will take some time to get over. No matter whether the strikers are right or wrong, public opinion in this country would be strongly in their favour.376
Wie bei britischen Waffenimporten, „Fluchtversuchen“ und Exekutionen: Die traditionell nationale Lesart von Hungerstreiks gefährdete die Legitimation des Freistaats und engte damit dessen Handlungsmöglichkeiten ein. Als die Provisorische Regierung Mary MacSwiney am 28. November 1922 nach 24 Tagen entließ, ersparte sie sich eine propagandistische Katastrophe. Die Freistaatsführung, die vor der ersten Exekution noch auf unnachgiebige Härte gesetzt hatte, entschied sich für eine flexible Strategie.377 Sie orientierte sich an der britischen Politik gegenüber hungerstreikenden Suffragetten, dem sogenannten „Cat and Mouse Act“ von 1913. Sie beschloß, Mary MacSwiney zu entlassen, um sie bei der nächsten Auffälligkeit
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Auch die IRISH TIMES, 23. November 1923, S. 6, spricht von „growing protest“. IRISH TIMES, 23. November 1923, S. 6; DAIL DEBATES, O’Higgins, 25. April 1922, S. 439; FALLON, Hungerstrikes, S. 79; vgl. NAI, D/T, S-1369, Liam Cosgrave an Patrick MacCartan, ca. 15. April 1923. UCD, MP, P7a/198, Irish Survey, 25. November 1922; NAI, PG Minutes, PG 63a, 17. November 1922, FALLON, Hungerstrikes, S. 78 f. DAIL DEBATES, Patrick MacCartan, 20. April 1923, S. 342. NAI, PG Minutes, PG 63a, 17. November 1922; FALLON, Hungerstrikes, S. 79.
I. Republikanische Martyrologie
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wieder zu inhaftieren. Was in der Vorkriegszeit den feministischen Widerstand brechen sollte, sollte jetzt auch Mary MacSwiney demoralisieren und körperlich schwächen: Ein Wechsel von Hunger- und Eßphasen, ein Hinund Her zwischen Freiheit und Gefangenschaft.378 Damit versuchte die Freistaatsführung implizit, den Kontext von Mary MacSwineys Hungerstreik zu ändern: von „irischer Martyrologie“ zu „britischem Feminismus“.379 Der Gesichtsverlust für die Provisorische Regierung hielt sich in Grenzen. Einzig die republikanische Untergrundpresse triumphierte: Der Freistaat handle nicht aus Großzügigkeit, sondern aus Angst vor der irischen Öffentlichkeit und der spirituellen Stärke Mary (und Terence) MacSwineys. Wie die Poblacht im Februar 1923 den erfolgreichen Hungerstreik zweier Republikanerinnen kommentierte: „The spirit of two girls has triumphed over the military bullies of Mountjoy.“380 Die Freistaatsführung und die vertragsbefürwortende Propaganda kommentierten, was für eine Mehrheit im Kabinett eine Politik der Schwäche war, nicht mit einer Zeile.381 Erst fünf Monate später lieferte Innenminister O’Higgins eine Erklärung für die freistaatliche Großzügigkeit nach: „In a way that was due to her family, that a life was owed and she was given back that life.“382 Das war für Mitglieder der Freistaatsführung nicht nur Propaganda, sondern ein ernstes Anliegen. So war Armeechef Mulcahy während des Unabhängigkeitskrieges enger Freund der MacSwineys und Trauzeuge von Terence gewesen. Er setzte sich auch deshalb für Mary MacSwineys Leben ein.383 Doch Freundschaft allein, das zeigte wenig später der Tod von O’Higgins Trauzeugen Rory O’Connor, bedeutete Ende 1922 keinen ausreichenden Schutz mehr. Auch das Familienargument war in erster Linie kalkulierte Propaganda: Es kontrastierte legitimen mit illegitimem Hungerstreik, britische Brutalität und britisches Unrecht mit freistaatlicher Milde und Gnade. Implizit versuchte der Freistaat so, Terence MacSwiney für seine Tradition zu reklamieren.384
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UCD, MP, P7a/198, Irish Survey, 25. November 1922; JOHN CANNON (Hrsg.), The Oxford Companion to British History. Oxford 1997, S. 175. Vgl. O’HEGARTY, Victory, S. 105; DAIL DEBATES, Thomas O’Connell, 25. April 1923, S. 431. AN POBLACHT-WAR NEWS, 3. Februar 1923; vgl. ebd., 1. Dezember 1922; EIRE, 14. April 1923, S. 6; UCD, MSW, P48a/369, ISDL an Mary MacSwiney, 11. Dezember 1922. IRISH INDEPENDENT, 28. November 1922, S. 5. DAIL DEBATES, O’Higgins, 25. April 1923, S. 439; vgl. auch, ders., 2. Mai 1923, S. 524. FALLON, Hungerstrikes, S. 78; so auch ein Vorwurf, in: EIRE, 17. Februar 1923, S. 5. Vgl. die offene Inanspruchnahme Terence MacSwineys durch den Freistaat: DAIL DEBATES,
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
Gekoppelt an „freistaatliche Milde“ statt an „britische Härte“ relativierte die Geschlechterrolle „Frau“ die Inkonsequenz der Freistaatsführung. Die Argumente, mit denen Labour und die innerparteiliche Opposition der Vertragsbefürworter gefordert hatten, weibliche Hungerstreikende zu entlassen, rechtfertigten jetzt das Handeln der Regierung. Sie artikulierten, was die freistaatliche Propaganda, gebunden durch ihr Argument, „entweiblichte“ Frauen müßten genauso bestraft werden wie Männer, nicht sagen konnte: Anders als bei männlichen Aktivisten war das Nachgeben gegenüber einer Frau weniger ein Zeichen der Schwäche als ein Akt der Gnade.385 Bis zum Herbst 1923 versuchte kein republikanischer Gefangener, sich für die Republik zu Tode zu hungern. Die IRA-Führung verbot aus Angst vor Streikbrechern Hungerstreiks sogar explizit. So blieb den Republikanern der Zugriff auf die neben den Hinrichtungen wirksamste Leidensgeschichte versperrt. Es gelang ihnen nicht, eine direkte Nachfolge zu Terence MacSwiney herzustellen. Frauen waren für die Propaganda auf zwei Ebenen wichtige Akteure: Zum einen stellten sie die überwiegende Mehrheit der republikanischen Propagandisten. Zum anderen nutzten die Propagandisten beider Seiten das Argument „Frau“ für ihre Propaganda. Vor allem am Beispiel von Mary MacSwineys Hungerstreik ließ sich zeigen: Die Republikaner instrumentalisierten weibliche Geschlechterkodierungen und parallelisierten vermeintlich „weibliche“ und „irische“ Eigenschaften, wie „Reinheit“, „Schwäche“ und „Leidensfähigkeit“. Dagegen argumentierten die freistaatlichen Propagandisten, daß die politisch aktiven „Furien“ gegen die herrschenden Rollenbilder verstießen. Gleichzeitig versuchten sie aber auch, den „mannhaften Kampf“ der IRA zu einer „Weiberangelegenheit“ umzudeuten. So machte es ihnen das Argument „Frau“ auch leichter, im Fall der weiblichen Hungerstreiks den Wert Staatsräson zu kompromittieren und sich den legitimatorischen Schaden einer weiblichen Märtyrerin zu ersparen. Martyrologie blieb so auch im Bürgerkrieg eine männliche Domäne.
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Mulcahy, 17. November 1922, S. 2265; PATRICK SARSFIELD O’HEGARTY, Terence MacSwiney. Dublin 1922. DAIL DEBATES, William Magennis, 17. April 1923, S. 193; William O’Brien, 17. April 1923, S. 193; Patrick McCartan, 17. April 1923, S. 190 f., 20. April 1923, S. 343; FALLON, Hungerstrikes, S. 89 f.
II. Realpolitik?
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II. REALPOLITIK? SOZIALREVOLUTIONÄRE DYNAMIK, TERROR UND PRAGMATISCHE POLITIK Die neuen Märtyrer garantierten den Republikanern zwar eine gewisse Sympathie bei weiten Bevölkerungskreisen. Doch den vom Freistaat befürchteten „swing of public opinion“386, die von den Republikanern immer wieder beschworene „rally“ der Bevölkerung zur „true allegiance“, lösten auch die Exekutionen nicht aus.387 Soweit boten die Republikaner in den bereits oben zitierten Worten eines freistaatlichen Stimmungsberichts „no alternative“388, sie verfügten über keine erfolgversprechende realpolitische Handlungsstrategie. Im Gegenteil: Die Leidensstrategie schränkte die konkreten Handlungsmöglichkeiten der Republikaner weiter ein. Für den Protagonisten endete die Exekution mit dem Tod. Die IRA und die republikanischen Politiker verpflichtete sein Martyrium weiter zum orthodoxen Republikanismus. Das republikanische Geschichtsgesetz funktionierte also offensichtlich nicht schnell genug, um den Krieg zu gewinnen. Deshalb suchten die Republikaner nach Alternativen, zumindest nach zusätzlichen Möglichkeiten, um dem Geschichtsgesetz nachzuhelfen. IRA-Aktivisten und republikanische Politiker erwogen dazu eine ganze Reihe teilweise widersprüchlicher Strategien: Solche, die sich eins zu eins mit den Vorgaben von „the Republic“ deckten, aber auch Strategien, die „the Republic“ umdeuteten und aufweichten. Sozialistische Republikaner und republikanische Sozialisten setzten auf eine sozialrevolutionäre Dynamik. Die IRA probierte verschiedene militärische Konzepte: vom Kampf bis zum letzten Mann, über einen erzwungenen Verhandlungsfrieden, bis zu einem neuen Krieg gegen den gemeinsamen Feind Großbritannien. Die pragmatischeren Politiker um de Valera suchten einen realpolitischen Ausweg aus der republikanischen Zwangsjacke. Und radikale Dogmatikerinnen wie Mary MacSwiney hielten, von der externen Realität kaum berührt, an der de jure-Republik fest.
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UCD, MP, P7a/198, Irish survey, 2. Dezember 1922; vgl. auch ebd., Irish survey, 28. November 1922; 25. November 1922; 28. November 1922; 7. Dezember 1922; 9. Dezember 1922. IRISH WORLD, 13. Januar 1923, S. 1; 17. Februar 1923, S. 1. UCD, MP, P7a/198; Irish Survey, 14. Dezember 1922.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
1. SOZIALISTISCHE REPUBLIKANER UND REPUBLIKANISCHE SOZIALISTEN Im republikanisch-sozialistischen Lager gab es zwei Gruppierungen, die mit fließender Grenze ineinander übergingen: sozialrevolutionäre Republikaner und republikanische Kommunisten. Während die sozialrevolutionären Republikaner primär in der Kategorie „the Republic“ dachten, orientierten sich die irischen Kommunisten an internationalistischen Vorstellungen. Für sie war „the Republic“ weniger Kern ihres Denkens als Mittel zum Zweck. Sozialrevolutionäre Republikaner und nationalrevolutionäre Kommunisten waren zwar fast verschwindend kleine Splittergruppen im Lager der Vertragsgegner, doch propagandistisch waren sie sehr aktiv.389 Sie hinterließen eigene Propagandablätter, die Plain People und vor allem die Worker’s Republic. Dazu konstruierten sie sich aus ganz unterschiedlichen nationalen und sozialistischen Elementen ihre eigene revolutionäre Tradition und Martyrologie: der sozialrevolutionäre Neo-Young-Irelander Fintan Lalor, der große Streik von 1913, das vom Engländer und späteren Vertragsbefürworter Thomas Johnson entworfene Democratic Program Dail Eireanns und die Ermordung von Liam Mellows Anfang Dezember 1922.390 Der wichtigste Bezugspunkt für die Sozialrevolutionäre blieb James Connolly und der Osteraufstand, den sie, wo sie konnten, der weitgehend vertragsbefürwortend orientierten „Royal Irish Labour Party“ streitig machten.391 Obwohl beide Gruppen kaum Einfluß hatten, lohnt es, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und zu beobachten, wie ihr „modernes“, materialistisches Denken dem antimateriellen Republikanismus widersprach und sich mit ihm vermischte. Die Communist Party of Ireland, CPI, war die offizielle Vertreterin Irlands in der dritten Internationalen. Sie gruppierte sich im wesentlichen um die Redaktion und die Mitarbeiter der ab 8. Oktober 1921 wöchentlich erscheinenden Worker’s Republic. Um 1923 war das eine Gruppe von dreißig bis vierzig aktiven Mitgliedern, angeführt von James Connollys Sohn Roddy. Die CPI war finanziell abhängig von der Sowjetunion und Zuschüssen einzelner Sympathisanten in der IRA. Sie hatte kaum Arbeiter unter
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ENGLISH, Green on Red, S. 175, 179; EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 16, 152 f., 189; GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 113; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 168. WORKER’S REPUBLIC, 15. Januar 1922, S. 5; 22. Juli 1922, S. 3; 19. August 1922, S. 3; 16. Dezember 1922, S. 1, 3; VOICE OF LABOUR, 10. November 1923, S. 8; vgl. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 244. WORKER’S REPUBLIC, 28. Juli 1923, S. 1; vgl. ebd., 24. Juni 1922, S. 3; 1. Juli 1922, S. 1; 25. November 1922, S. 3; 16. Dezember 1922, S. 3; PLAIN PEOPLE, 30. April 1922, S. 1.
II. Realpolitik?
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ihren Aktivisten, also keine Klassenbasis, und außerhalb Dublins keine Mitglieder. Ihr unscharf definiertes politisches Ziel, das sie als Speerspitze der Arbeiterklasse durchsetzten wollte, war eine lose am sowjetischen Vorbild orientierte „Worker’s Republic“.392 Anders als die de facto sozialreformerische Führung von Labour Party und Gewerkschaftsbewegung setzte die CPI auf Umsturz und Revolution. Aus diesem Grund und nur aus diesem Grund unterstützte die Redaktion der Worker’s Republic von Anfang an die Vertragsgegner.393 In Anlehnung an Lenins Theorie vom Imperialismus als höchster Form des Kapitalismus, aber ohne Lenin offen zu zitieren, argumentierte die Worker’s Republic, ein Sieg über den britischen Imperialismus sei auch ein Sieg der Arbeiterklasse.394 „Political independence is a preliminary to industrial freedom.“395 Um diese „industrial freedom“ zu erreichen, propagierte die Worker’s Republic – und hier bezog sie sich explizit auf Lenin – wechselnde taktische Allianzen mit der Bourgeoisie: Mit Sinn Fein gegen den britischen Imperialismus, mit den Anhängern von Document No. 2 gegen den Freistaat, mit den radikalen Republikanern gegen Document No. 2 und erst zum Schluß gegen die Republikaner für die Worker’s Republic.396 Während die Redaktion der Worker’s Republic die nationale Revolution aus materialistischen Motiven unterstützte, lehnte sie die mythischen Aspekte von „the Republic“ ab. Schon vor dem Bürgerkrieg kündigte sie an: „Don’t think we are about to become sentimental or gush about victories or defeats, and honour and keeping the flag flying and so on.“397 Zwar konnten sich auch einige Journalisten der Worker’s Republic nicht ganz der Logik von Martyrologie und Verrat entziehen,398 doch anders als die orthodoxen Republikaner propagierte die Worker’s Republic schon im Januar 1922 einen Tabubruch: Die Republikaner sollten den Eid auf den britischen
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EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 152 f., 189; WORKER’S REPUBLIC, 8. Oktober 1921, S. 5. WORKER’S REPUBLIC, 8. Oktober 1921, S. 5, 7; 17. Dezember 1921, S. 5; 24. Dezember 1921, S. 5. Siehe Lenin, direkt zum nationalen Aufstand in Irland 1916: WLADIMIR ILJITSCH LENIN, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, in: ders., Werke. Band 22. Berlin 1960 (erstmals 1916), S. 326–68, hier: S. 361–6. Allgemein zu Lenins Imperialismustheorie; ders., ebd., Der Imperialismus als höchste Form des Kapitalismus, S. 189–309, passim. WORKER’S REPUBLIC, 10. Dezember 1921, S. 5; Diese Idee Lenins war vermutlich über James Connolly vermittelt: vgl. FOSTER, Modern Ireland, S. 439. WORKER’S REPUBLIC, 8. Oktober 1921, S. 5, 7; 17. Dezember 1921, S. 5; 24. Dezember 1921, S. 5. WORKER’S REPUBLIC, 10. Dezember 1921, S. 5; 22. Juli 1922, S. 1. WORKER’S REPUBLIC, 14. Januar 1922, S. 5.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
König schwören, um auch im Parlament gegen den Freistaat zu kämpfen.399 Genauso rational und pragmatisch attackierte das Blatt die defensive Politik der IRA. Es beging ab April 1922 einen weiteren Tabubruch, als es offen einen Bürgerkrieg propagierte. Dabei entdeckte die Worker’s Republic ihr eigenes Geschichtsgesetz: „A revolution, political or social, without Civil War is something that history hasn’t produced yet.“400 Für die irischen Kommunisten war der Republikanismus kein politischer Glaube, sondern Mittel zum Zweck. Sie träumten davon, den Republikanismus von innen steuern zu können, zumindest einen Teil seiner Klientel zu übernehmen. Um ein breiteres Publikum zu erreichen, biederte sich die Worker’s Republic den Republikanern geradezu an. Solange die Republikaner noch kein eigenes Propagandablatt herstellten, bot die Redaktion der Worker’s Republik ihnen vergeblich an, sechs von acht Seiten des Blattes zu übernehmen.401 Der Ausbruch des Bürgerkrieges bedeutete fast das Ende der kleinen Gruppe der irischen Kommunisten. Ein Teil der Redaktion der Worker’s Republic emigrierte nach London, propagierte von dort aus, republikanische und sozialistische Interessen zusammenzulegen.402 Um dem aussichtslosen militärischen Konflikt eine neue Dynamik zu geben, forderte Roddy Connolly: „We must broaden the basis of the war – from a military to a military and social struggle against Free State oppression and exploitation.“ Dazu sollten die Republikaner Roddy Connollys „now famous practical revolutionary Social Program“ übernehmen und die „sentimentale“ Republik an die materiellen Bedürfnisse der Arbeiter anpassen. „Definite and concrete advantages“ sollten die Arbeiter motivieren, für die Republik zu kämpfen. Darunter fielen für Roddy Connolly die Verstaatlichung von Banken, Transportwesen und Fabriken, das Aufteilen des Landes, ein Achtstundentag und eine 48-Stunden-Woche sowie das Streichen aller Schulden und Hypotheken. Doch berühmt wurde Roddy Connollys Programm nur bei den wenigen Lesern der Worker’s Republic. Woche um Woche wiederholte das Blatt sein politisches Credo, bis Roddy Connollys soziales Programm bald ähnlich redundant war wie „the Republic.“403
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WORKER’S REPUBLIC, 14. Januar 1922, S. 5. WORKER’S REPUBLIC, 6. Mai 1922, S. 3. WORKER’S REPUBLIC, 24. Dezember 1921, S. 5; vgl. ebd., 22. Juli 1922, S. 3. NAI, S-1784, Dublin District Weekly Intelligence Summary, no.178, for week ending 16. September 1922; Letzte Dubliner Ausgabe: WORKER’S REPUBLIC, 1. Juli 1922; Erste Londoner Ausgabe: WORKER’S REPUBLIC, 22. Juli 1922. WORKER’S REPUBLIC, 22. Juli 1922, S. 3; 21. Oktober 1922, S. 3; 5. August 1922, S. 3 und 22. Juli 1922, S. 3.
II. Realpolitik?
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Im Januar 1923 merkten auch die irischen Kommunisten um Roddy Connolly, daß ihre vom Republikanismus ignorierte sozialrevolutionäre Propaganda chancenlos war. Sie änderten deshalb ihre politische Strategie und organiserten neu, was Roddy Conolly gegenüber der vierten Internationale vollmundig als „resistance of the Irish masses against the enslavement to the British Empire“ deklarierte. Aus dem Scheitern der republikanischen Revolution zog Roddy Connolly die Konsequenz, in Zukunft über eine Allianz mit der Labour Party nachzudenken und sich auf den Arbeitskampf zu konzentrieren.404 Anders als die an der metaphysischen Republik orientierten Republikaner wagte die CPI ein Umdenken. Weil sie sich primär an materiellen Zielen, also meßbaren Ergebnissen, orientierte, gelang es ihr früh, sich neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Sie erfanden eine neue Programmatik für die soziale Revolution und befreiten sich so aus der republikanischen Zwangsjacke. Doch so flexibel wie Roddy Connolly, der Initiator der neuen Politik, reagierten nicht alle Mitglieder der kleinen CPI. Auch für die Worker’s Republic arbeiteten Propagandisten, für die die Republik mehr war als nur „airy nothings“.405 Aktivisten wie Peadar O’Donnell406 warfen Roddy Connolly „Verrat“ an der Republik vor und predigten auch in der Worker’s Republic den Kampf bis zum letzten Mann.407 Dennoch setzte sich in der Worker’s Republic eine Politik durch, die sich immer weiter von „the Republic“ entfernte. Vor den Wahlen im August 1923 empfahl das Blatt seinen Lesern, ihre Präferenzstimmen folgendermaßen zu vergeben: Sie sollten zuerst für republikanische Sozialisten stimmen, dann je nach Vorliebe für arbeiterfreundliche Republikaner oder möglichst
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WORKER’S REPUBLIC, 6. Januar 1923, S. 1, Resolution Roddy Connollys zur Abschußsitzung der vierten Internationalen. WORKER’S REPUBLIC, 13. Mai 1922, S. 1. Peadar O’Donnell (1893–1986): geboren in County Donegal, arbeitete als Lehrer. 1916 wurde er Vollzeitaktivist in der ITGWU, 1918 Mitglied der IRA, Guerillero im Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg; 1922–1924 inhaftiert. Peadar O’Donnell war bis in die dreißiger Jahre Kopf verschiedener linker IRA-Splittergruppen: Saor Eire, Left IRA, Republican Congress. 1936 führte er im spanische Bürgerkrieg die Connolly Column an. O’Donnell gab politische Zeitschriften heraus und schrieb mehrere autobiographische Romane: Zusammengefaßt nach FOSTER, Modern Ireland, S. 515. Zum politischen Denken Peadar O’Donnells, siehe: ENGLISH, Green on Red, S. 161, 176–82; Grundlegend und kurios auch Peadar O’Donnells späte Forschungen zu Arno Schmidt: PEADAR O’DONNELL (Hrsg.), New Light on Arno Schmidt from the Irish Perspective. With a Preface by Ernst Krawehl and an Afterword by Bernd Rauschenbach (=Essays and Daresays Series 22). Galway 1987. Rezension von Michael Ringel dazu, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN, 9. Oktober 1998, S. 28–30, insbes. S. 29. WORKER’S REPUBLIC, 3. Februar 1923, S. 1.
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radikale vertragsbefürwortende Sozialisten, zum Schluß sollten sie sogar für die „least oppressive Free Staters“ stimmen.408 Die Worker’s Republic sagte damit das für Republikaner Unsagbare. Sie propagierte eine Politik des kleineren Übels und indirekt eine Teilnahme am Freistaat. Ein durchschlagender Erfolg war diese Realpolitik dennoch nicht. Im Gegenteil: Die Spannung zwischen materialistischen Kommunisten und spirituellen Republikanern sprengte die CPI. Die Komintern war im Herbst 1923 so wenig von der „resistance of the Irish masses“ beeindruckt, daß sie sich nach einer neuen irischen Basis umsah. Sie löste 1924 die CPI auf und organisierte die von James Larkin neu gegründete Irish Workers’ League als Teil der vierten Internationale.409 Auch unter den Republikanern gab es eine kleine Gruppe mit sozialrevolutionären Zielen. Fast auf der Grenze zum irischen Kommunismus stand der oben erwähnte Kritiker Roddy Connollys, der Schriftsteller und Politiker Peadar O’Donnell. Die beiden anderen prominenten sozialistischen Aktivisten unter den Vertragsgegnern waren der republikanische Guerillero, Politiker und Märtyrer Liam Mellows und die anglo-irische Gräfin und ehemalige Arbeitsministerin Constance de Markievicz, neben Mary MacSwiney die bedeutendste Frau in der irischen Revolution. Anders als für die meisten Mitglieder der CPI waren für die sozialrevolutionären Republikaner „Eid“, „Nation“ und „Ehre“ keine Sentimentalitäten. Wie Peadar O’Donnells Widerstand gegen Roddy Connollys neue Politik deutlich macht, war für sie „the Republic“ Dreh- und Angelpunkt ihres Denkens. Dahinter mußten notfalls auch sozialrevolutionäre Ziele zurückstehen. Die politische Idealvorstellung der meisten sozialistisch beeinflußten Republikaner war die Rückkehr zu einer angeblich egalitären Urgesellschaft des gälischen Mittelalters: Irland als Land grundbesitzender Kleinbauern, eventuell organisiert in kleineren Agrargenossenschaften, dazu eine auf kooperativen „soviets“ basierende Industrie.410 Bei einem Sozialrevolutionär wie Aodh de Blacam waren sozialistische Ideen durch den republikanischen Antimaterialismus so stark verwässert, daß er eher antimodernistisch als sozialistisch argumentierte: „Machinery means capitalism and handcraft means independence and superiority of character.“411
408 409 410
411
WORKER’S REPUBLIC, 25. August 1923, S. 1. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 153. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 47 f., 53; vgl. ENGLISH, Green on Red, S. 175 f., 178–80; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 136–8, 154 f.; HENRY PATTERSON, The Politics of Illusion. A Political History of the IRA. London 1997, hier: S. 26. UCD, FGP, P80/736, Aodh de Blacam an Hanna Sheehy-Skeffington, 27. Juli 1922.
II. Realpolitik?
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Der Sozialismus dieser Republikaner war wenig von Theorien beeinflußt. Auch wenn Aktivisten wie Peadar O’Donnell Marx lasen; direkte und bewußte Einflüsse von Marx, Engels und Lenin sind in der republikanisch-sozialistischen Propaganda nicht zu finden. Wo sich sozialistische Republikaner oder Blätter wie The Plain People auf Klassiker stützten, zitierten sie James Connolly und Pearse.412 Auch das taten sie nicht, um komplexe Theorien zu belegen, sondern als Autoritätsbeweis, häufig auch als in sich abgeschlossenen Gedanken: „Labour seeks that an Ireland free should be the sole mistress of her own destiny, supreme owner of all material things within and upon her soil.“413 Die Plain People, für die der Kampf gegen den Vertrag das einzige und beherrschende Thema blieb, entwickelte über solche Sentenzen James Connollys hinaus keine konkreten sozialen Vorstellungen.414 Dabei vermischten sich der nationalistische Antimaterialismus und der sozialistische Materialismus dort, wo sich beide gegen den gemeinsamen Feind, den britischen Kapitalismus, wandten. So fand die Plain People in denen, die materialistisch vom Vertrag profitierten, ein gleichermaßen sozialistisches wie nationalistisches Feindbild. Immer wieder agitierte sie so gegen „political twisters, gombeen men415 and Unionists.“416 Diesem heterogenen Denken kam eine Argumentation in Bildern entgegen, in der sich diese logischen Widersprüche zwischen Materialismus und Antimaterialismus auflösten. So etwa in einer Karikatur, die Ende April 1922 auf der Titelseite der Plain People erschien. Die Karikatur zeigte Griffith und Collins, die sich in einer teuren Limousine kutschieren ließen. Dabei war Collins als Geck mit Pelzmantel und modisch karierter Hose bekleidet, trank Champagner und rauchte Zigarre. Er erklärte dem verwunderten Griffith, soweit es seine Generation beziehungsweise ihn selbst betreffe, habe er allen Grund mit dem Vertrag zufrieden zu sein und nichts an ihm zu ändern. Das georgianische Gebäude im Hintergrund war dabei gleichzeitig Symbol für die britische Herrschaft und für die Schauplätze des Osteraufstandes. Es spielte genau wie das fiktive Emblem des Freistaats, S[aorstat] E[ireann] mit erhobenen Händen, auf die „Kapitulation“ der Vertragsbefürworter und auf den „Verrat“ an der Republik an. Collins Äußerung sollte dazu 412 413 414 415
416
Vgl. ENGLISH, Green on Red, S. 177 f., 182; FOSTER, Modern Ireland, S. 381. James Connolly Zitat, in: PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2; vgl. ebd., 23. April 1922, S. 4. Zur vertragsablehnenden Polemik siehe exemplarisch: PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2. Gombeen man: einflußreicher Laden- oder Pubbesitzer einer Region, der, so das Klischee, durch Geldverleih sein Umfeld, vor allem kleinere Bauern, in seine Abhängigkeit manövriert. PLAIN PEOPLE, 25. Juni 1922, S. 4; vgl. ebd., 9. April 1922, S. 2; 30. April 1922, S. 1.
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COLLINS: „Look at here, Arthur, that stuff of yours about this settlement being no more final than this generation is all right for the people – they don’t count – but you’ve gotta remember that I’ve decided that THIS is quite good enough for MY generation.“ Plain People, 30. April 1922, S. 1
seine „stepping-stone“-Rhetorik als reine Propaganda diskreditieren. Während das rein nationale Anspielungen waren, ermöglichten andere Bildelemente, sozialistischen Materialismus und republikanischen Antimaterialismus zusammenzudenken. Republikanisches Askesegebot und sozialistischer Klassenkampf fanden in dem Karrieristen Collins ein gemeinsames Feind-Bild, das logische Brüche und Widersprüche zudeckte. Pelzmantel, Champagner, Zigarre und teure Limousine waren einerseits Insignien des Kapitalismus, andererseits Symbole des britischen Materialismus, des „saxon gold“. Einmal symbolisierten sie illegitimen kapitalistischen Reichtum und Ausbeutung, einmal Bestechung und Verrat an der Republik.417 417
Vgl. FLK, DeV, 1459, Flugblatt mit Karikatur von Constanze de Markievicz [?], ca. November 1922. Hier erklärt eine Mutter ihren drei verarmten Kindern den offensichtlichen Wohlstand einer Passantin: „That one must have a job in the Free State, would you look at her new coat!“
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Nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges verfolgten die sozialistischen Republikaner die gleiche Strategie wie Roddy Connolly. Eine sozialrevolutionäre Dynamik sollte die nationale Revolution neu anschieben. Um die soziale Revolution für die nationalrevolutionären Republikaner akzeptabel zu machen, änderten die republikanischen Sozialrevolutionäre wie Mellows die Vorzeichen von Roddy Connollys sozialem Programm. So erklärte Mellows den sozialen Umsturz nicht zum Ziel an sich, sondern als Mittel zum Zweck.418 Mellows empfahl der militärischen und politischen Führung dazu das sozialrevolutionäre Programm aus der Worker’s Republic. Die Passage zum Neuaufteilen des Landes führte Mellows, genau wie Roddy Connolly, näher aus: That the lands of the aristocracy – who live in luxury in London, and at a distance support the Free State – will be seized and divided amongst those who will and can operate it for the nation’s good – among the landless workers, the working farmer, the small farmer.419
Land war ein von Mellows gut ausgewähltes Thema, denn seine Rhetorik ließ sich nicht nur sozialrevolutionär, sondern auch nationalrevolutionär verstehen. Landrhetorik gehörte seit den 1840er Jahren zum nationalen Repertoire. Das galt besonders für die Rhetorik gegen die sogenannten Absentees, deren Gutsverwalter auf den irischen Ländereien die Bauern aussaugten, während die Absentees selbst in London das Geld verpraßten. AntiAbsentee-Rhetorik war ein Klassiker der Landunruhen der Siebziger und Achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts gewesen. „Britische“ Absentees um ihr Land zu bringen, war kein illegitimer sozialer Umsturz, sondern ein Akt nationaler Befreiung. Das galt als ein „undoing of conquest“, durch den die rechtmäßigen Besitzer ihr Land „zurück“-bekamen.420 Aus dieser traditionellen Perspektive waren Mellows Thesen primär national und nicht sozialrevolutionär, sie waren in den Worten von David Boyce „essentially political judgements couched in social terms“.421 Aus Mellows Perspektive galt gleichzeitig das Gegenteil. Für ihn war Absenteerhetorik „essentially social judgements couched in national terms.“ Mellows nahm seiner Politik ein Stück weit den marxistischen Schrecken.
418 419 420
421
UCD, FGP, P80/298(15) Mellows, Memo on general situation, 26. August 1922; ebd., Mellows an Austin Stack, 11. September 1922. Hier zitiert nach: WORKER’S REPUBLIC, 22. Juli 1922, S. 3; vgl. UCD, FGP, P80/298(15) Mellows, Memo on general situation, 26. August 1922. FOSTER, Modern Ireland, S. 374 f., 381–4, 402–21; GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 114; LYONS, Culture and Anarchy, S. 22; ZIMMERMANN, Songs, S. 15; GALVIN, Songs, S. 21 f.; NOEL KISSANE, The Famine. A Documentary History. Dublin 1995, hier: S. 3. BOYCE, Nationalism, S. 332.
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Er tarnte seine sozialrevolutionären Absichten hinter einer konsensfähigeren traditionell nationalen Rhetorik und bettete sein sozialistisches Programm in die Logik der republikanischen Tradition ein. Dazu deklarierte er es als die Übersetzung des Democratic Program von 1919 „into something definite“.422 Auch was Marx Proletariat, was Roddy Connolly „Irish masses“ nannte, umschrieb Mellows mit einem national besetzten Schlagwort, das der Kopf der Revolution von 1798, Wolfe Tone, geprägt hatte: „men of no property“. So bekam Mellows Zugriff auf eine sozialrevolutionäre Variante des republikanischen Geschichtsgesetzes: The ‚men of no property‘ [. . .] have always borne Ireland’s fight.[. . .] The ‚stake in the country‘ people were never with the Republic. [. . .] money and the gombeenman are on the side of the treaty, because the treaty means Imperialism and England.423
Selbst hier, wo Mellows den irischen Kapitalismus direkt angriff, argumentierte er national: anti-englisch und anti-imperialistisch.424 Mellows Plan, genauer, Mellows Rhetorik hatte dabei nur eine Schwachstelle: Die Ländereien der Absentees waren um 1923 in Irland fast genauso abwesend wie die Absentees selbst. Und auch die Absentees waren nicht einfach „abwesend“. Sie waren nicht beim Saufen, Kartenspielen und Huren in London, sondern sie waren bis auf wenige Ausnahmen Geschichte. Schon nach 1870 war Absentismus eine Ausnahme. Er betraf nurmehr knapp ein Viertel aller irischen Bauern. Schon damals war der Absentee ein Klischeebild und die irische Landwirtschaft auch für die abwesenden Landlords keine Goldgrube, sondern häufig ein unrentables Geschäft.425 1923 lebten fast alle Landlords in Irland und hatten dort durch die britischen Landgesetze einen großen Teil ihrer Ländereien bereits verloren. Anders ausgedrückt: Mellows Rhetorik verschwieg ganz bewußt, daß beim Neuverteilen des Landes irische Bauern mit mittleren und größeren Farmen betroffen gewesen wären. Nach Mellows sollten die Vertragsgegner sich also gegen Irlands einflußreichste soziale Gruppe stellen. Eine Gruppe, deren Söhne einen Großteil der IRA im Unabhängigkeitskrieg gestellt hatte und die selbst neben der städtischen Mittelschicht das soziale Rückgrat Sinn Feins gewesen war. Auch wenn Kleinstbauern und verarmte Arbeiter gerade im Westen und
422 423 424 425
UCD, FGP, P80/298(15) Mellows, Memo on general situation, 26. August 1922. Ebd.; vgl. FLK, DeV, 1417, Peadar O’Donnell an Mary Childers, 10. Dezember 1923; WOLFE THEOBALD TONE, Autobiography, 2 Bde. Dublin O.J, hier: Bd. I., S. 274. Vgl. PATTERSON, Political History of the IRA, S. 27 f. FOSTER, Modern Ireland, S. 374; LYONS, Culture and Anarchy, S. 22.
II. Realpolitik?
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Südwesten Irlands ein beachtliches sozialrevolutionäres Potential darstellten, Aussicht auf Erfolg hätte ein sozialrevolutionärer Bürgerkrieg kaum gehabt. „That great body ‚the men of no property‘ “ waren nicht nur vom sozialen Status her eine marginale Gruppe, sie waren auch rein rechnerisch eine Minderheit.426 Kein Wunder, daß Mellows sich bei de Valera oder IRA-Chef Liam Lynch genauso wenig durchsetzen konnte wie Roddy Connolly.427 Die meisten Republikaner hatten nach wie vor schlichtweg kein Interesse an sozialen Fragen. So schildert der Guerillero Charles Stewart Andrews in seiner Autobiographie, mit welch geringem Erfolg Peadar O’Donnell ihn zum Sozialismus bekehren wollte: I felt nothing less than bewilderment at his references to the ‚uprising of the masses‘ or ‚the gathering together (with appropriate gestures) of the workers, small farmers and peasants‘ [. . .] The ‚class war‘ about which Peadar spoke so convincingly would have been unknown – even as a phrase – to almost everyone in the Movement. In our estimation there were only two classes: there were the British with their dependants and hangers-on [. . .] and there were the Irish. [. . .] While Peadar’s spell was on me I was fascinated by this new idea. Alas! When I said goodbye to Peadar in Letterkenny the vision he had evoked for me vanished. I reverted to the ‚Aisling‘428 that Pearse had created [sic!] for me.429
So diente der Bürgerkrieg, außerhalb von Mellows Propaganda und außerhalb der Werke seines Biographen Desmond Greaves nie den sozialrevolutionären Interessen der „men of no property“.430 Republikanische Kommunisten und sozialistische Republikaner waren politische Splittergruppen mit einer spannenden Programmatik; denn auf das Feindbild, den bourgeoisen Freistaat ausgerichtet, verschmolz bei ihnen materialistisches und anti-materialistisches Denken. Doch während für die irischen Kommunisten „the Republic“ nur Mittel zum Zweck war, stellte es für republikanische Sozialisten wie Mellows den Dreh- und Angelpunkt ihres politischen Denkens dar. Beide Gruppierungen versuchten, dem Bürgerkrieg eine sozialrevolutionäre Dynamik zu geben. Doch auch wenn Mellows versuchte, den sozialen Umsturz national zu legitimieren, die So-
426 427 428 429 430
UCD, FGP, P80/298(15) Mellows, Memo on general situation, 26. August 1922; BOYCE, Nineteenth Century, S. 278; ENGLISH, Green on Red, S. 179 f. GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 114; HOPKINSON, Green, S. 135; WORKER’S REPUBLIC, 6. Januar 1923, S. 8; 3. Februar 1923, S. 4. Aisling: Lied- und Gedichtform, in der eine weibliche Irlandallegorie dem träumenden Revolutionär häufig eine goldene nationale Zukunft prophezeit. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 200. Vgl. VOICE OF LABOUR, 5. Mai 1923, S. 4; HOPKINSON, Green, S. 136; BOYCE, Nationalism, S. 331 f.; Vgl. GREAVES, Mellows, passim.
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zialrevoltionäre blieben mit ihren Vorstellungen eine einflußlose Minderheit. 2. IRA: DIE SPRACHE DER GEWALT Als Sozialist beeinflußte Mellows die politische Strategie der Republikaner kaum. Als prominenter Guerillero des Unabhängigkeitskrieges, als Mitglied der IRA-Exekutive und der Four Courts-Besatzung hingegen gehörte Mellows zu den entscheidenden Männern der IRA. Er wurde in der IRA nicht wegen sondern trotz seines Sozialismus anerkannt.431 Wie oben gezeigt, hatten die meisten IRA-Aktivisten ein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber Politikern, politischen Strategien oder gar politischen Kompromissen. Der Kopf der IRA, Liam Lynch, stand zwar in ständigem Kontakt mit de Valera und ließ sich in politischen Fragen von ihm beraten. Doch an der Führungsrolle der IRA und damit an seiner Führungsrolle gab es für Lynch keinen Zweifel. Wie er im August einem vertrauten Offizier erklärte: „views and opinions of political people are not to be too seriously considered.“432 Die IRA-Führung dachte kaum darüber nach, ob und wie sich „the Republic“ zu einem massenwirksamen und handlungsfähigen Konzept machen ließ. Sie vertrauten auf eine militärische Logik und dachten, wie auch Mellows kritisierte, allein in „terms of guns and men“.433 Gewalt sollte dabei dennoch nicht nur unmittelbar Macht durchsetzen, sondern der irischen Bevölkerung, der Freistaatsführung, der britischen Regierung und den Republikanern selbst immer auch eine sinnstiftende Geschichte erzählen. Die IRA propagierte „the Republic“ in der Sprache der Gewalt.434 Doch auch wenn die Gewalt der IRA immer auch Sprache war, sie blieb immer auch Gewalt: ein Übergriff gegen Eigentum und den menschlichen Körper, blutig und tödlich.435 Dabei verfolgte die IRA mit ihren blutigen Geschichten teilweise widersprüchliche Konzepte: einen erzwungenen Verhandlungsfrieden, einen Krieg gegen den gemeinsamen Feind England oder den Kampf bis zum letzten Mann.
431 432 433 434
435
HOPKINSON, Green, S. 186; zu Mellows militärischer Karriere: O’FARRELL, Who’s Who, S. 69, 177 f. UCD, FGP, P80/763, Lynch an Liam Deasy, 30. August 1922; vgl. UCD; FGP, P80/298(27), Lynch an de Valera, 30. August 1922. UCD, FGP, P80/298(15) Mellows, Memo on general situation, 26. August 1922. Gewalt als das Gegenteil von Kommunikation zu definieren, ist ein weit verbreiteter Kurzschluß. Vgl. ROLF PETER SIEFERLE, Einleitung, in: Ders. und BREUNINGER (Hrsg.), Kulturen der Gewalt, S. 9–29. S. 24. Vgl. CURTIS, Language of Violence, S. 159; LÜDTKE, Thesen zur Wiederholbarkeit, S. 283.
II. Realpolitik?
411
Auch viele IRA-Aktivisten merkten bald: Trotz der „britischen“ Gewalt des Freistaats funktionierte das republikanische Geschichtsgesetz nicht. Zumindest erfüllte es sich zu langsam, um aktiv zum Umsturz des Freistaats beizutragen.436 In den Worten eines IRA-Publicity-Offiziers aus Cork: Even when our Army held the South intact the people did not support our side with the prospect of victory. They will not be with us now either, [. . .] It will take public conscience some time to realise the depth of their iniquity just as it did after 1916, too long indeed to affect the immediate struggle now beyond what their personal needs dictate. The more they feel the pinch of war and economic pressure the sooner they will call for peace.437
Wenn die Mehrheit der Bevölkerung die freistaatliche Gewalt, also das republikanische Leiden, nicht richtig verstand, dann mußte sie eben die republikanische Gewalt verstehen lernen. Aus dieser Sicht reduzierte sich die Sympathie der Bevölkerung für beziehungsweise deren Angst vor der IRA von einer revolutionären Perspektive zu einem rein militärischen Faktor: Er garantierte sichere Verstecke, Übernachtungsplätze, Nahrung und Schutz vor Verrat.438 Der eigentliche Adressat republikanischer Gewalt blieb die Freistaatsführung. Wie Beaslai eineinhalb Jahre zuvor die offizielle Politik der IRA erklärt hatte, war Gewalt die einzige „Sprache“, die ein britischer Feind verstand.439 Wie so oft, orientierte sich auch hier das Denken der IRA an einer historischen Logik, an einer um die Mithilfe der Bevölkerung gekürzten Sicht des Unabhängigkeitskrieges: Wie 1919–1921 wollte die IRA ihren Gegner so lange tyrannisieren, bis er sich gezwungen sah, zu verhandeln oder aufzugeben. Der oben zitierte Corker Publicity-Offizier formulierte dabei eine in der IRA lange unumstrittene Strategie, wenn er weiter ausführte: We will not give peace unless the terms are satisfactory therefore the Military Junta must give us honourable terms or go, most likely the latter. The people will soon come to recognise that we can continue indefinitely, so will Collins and Co.440
436 437 438
439 440
DEASY, Brother against Brother, S. 73, 96; LONGFORD und O’NEILL, de Valera, S. 197, 206, 209 f.; O’MALLEY, Singing Flame, S. 145, 148, 164. UCD, MP, P7/B/93, SMacC an O/C 1st Southern, ca. 15. August 1922. DEASY, Brother against Brother, S. 12, 73; O’MALLEY, Singing Flame, S. 145, 148, 164; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 107, 266 f.; O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 197; BEASLAI, Collins, S. 405. AN TOGLACH, 1. Februar 1921, S. 2. UCD, MP, P7/B/93, SMacC an O/C 1st Southern, ca. 15. August 1922; vgl. FLK, DeV, 239A, Lynch an de Valera, 14. Dezember 1922.
412
F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
Wie und über was dann eines Tages verhandelt werden sollte, ohne „the Republic“ zu verraten, darüber diskutierte die IRA nicht. Selbst der sonst so realistische Publicity-Offizier aus Cork hielt jedes Gerede über Friedensverhandlungen für schädlich. Sein Optimismus, daß der Freistaat schließlich nachgeben werde, gründete sich allein auf die inneren historischen Gesetzmäßigkeiten von „the Republic“. Anders als „Collins and Co.“, die „antinational“ seien und dadurch auf einer „rotten basis“ stünden, könnten die Republikaner gar nicht nachgeben441: Sie bauten auf Prinzipien „[which] are by their nature irreducible and not open to compromise.“442 Diese im republikanischen Lager weit verbreite Logik glich fast einer Selbsterkenntnis: Die IRA war (ver)handlungsunfähig, steckte in einer kulturellen Sackgasse. In dieser Situation waren die IRA-Aktivisten dazu verdammt, endlos weiterzukämpfen; denn der Freistaat war militärisch nicht zu besiegen.443 Auch wenn außer Liam Deasy kein führender Guerillero aufgab; je länger der Krieg dauerte, um so mehr Aktivisten erkannten: Zu Verhandlungen unter republikanischen Bedingungen war der Freistaat nicht zu zwingen.444 Das freistaatliche Executive Council verstand die Sprache der Gewalt nicht so, wie es sollte. Im Gegenteil: Es beherrschte diese Sprache weit besser, konnte ungleich schneller und härter zuschlagen als ihre republikanischen Gegner. Gerade die Hinrichtungen waren für IRA-Aktivisten auf mehreren Bedeutungsebenen deutbar, nicht nur als Martyrologie.445 Wie am kollabierenden Widerstand der IRA zu erkennen war, erzählte dieser „most base of all essays [!] in ‚resolute Government‘ “ auch davon, daß der Widerstand der IRA militärisch sinnlos war.446 Der verbitterte Kampf der IRA ähnelte immer weniger den Propagandaklischees von Abenteuer und Lagerfeuerromantik. Die kranken, ausgehungerten und demoralisierten Aktivisten selbst glichen immer weniger den von Cumman na mBan-Mädchen bewunderten, respektabel gekleideten und gut genährten Freiheitskämpfern auf den Flugblätter der republikanischen Untergrund-Publicity.447 Dennoch hielt IRA-Chef Liam Lynch an seiner bisher erfolglosen Politik des Gegenterrors fest und richtete sie bald nach den vier Repressalmorden 441
442 443 444 445 446 447
UCD, MP, P7/B/93, SMacC an O/C 1st Southern, ca. 15. August 1922; vgl. UCD, FGP, P80/311, O’Malley an FREEMAN’S JOURNAL, 24. August 1922: „They could have yielded, since they stood for compromise; we could not, as we stood for principle.“ AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. November 1922. Vgl. HOPKINSON, Green, S. 228 f. HOPKINSON, Green, S. 192, 229 f., 235 f. Vgl. DENNING, Mr. Bligh, S. 199. AN POBLACHT-WAR NEWS, 21. November 1922. FLK, DeV, 1459, Flugblatt von Constanze de Markievicz, ca. 24. Dezember 1922.
II. Realpolitik?
413
auch gegen britische Ziele. Wenn die Freistaatsregierung die Sprache der Gewalt nicht verstand, dann vielleicht doch die britische Regierung. Um die auch von de Valera geforderten Anschläge in Großbritannien durchzuführen, war die IRA jedoch bereits zu schwach.448 Was als militärisches Ziel blieb, waren die restlichen britischen Truppen in Irland und, nachdem diese Ende 1922 komplett abgezogen waren, vor allem unionistische Herrenhäuser. Es greift zu kurz, die Kampagne gegen das Eigentum irischer Unionisten in Nachfolge der freistaatlichen Propaganda als „destruction for its own sake“449 zu verurteilen. Dabei würde man das Kalkül von Lynchs Provokationsstrategie übersehen. Lynch rechnete damit, daß Anschläge auf britische Truppen und Bilder von niedergebrannten Herrenhäusern die britische Regierung innenpolitisch so unter Druck setzen würden, daß sie einfach zurückschlagen mußte. Sobald die IRA dann gegen britische Truppen kämpfte, würden sich Republikaner, Bevölkerung, ja auch die Freistaatstruppen und Teile der Freistaatsregierung gegen den gemeinsamen Feind verbinden.450 Doch da die britische Regierung keinen Grund sah, warum sie sich die aus ihrer Perspektive leidige irische Frage erneut aufhalsen sollte, weil sie diesmal nicht die Rolle des britischen Aggressors übernahm, funktionierte das republikanische Geschichtsgesetz nicht.451 So konnten die Freistaatsführung und Presse den republikanischen Gegenterror für ihre Propaganda nutzen und der IRA die Rolle des britischen Aggressors zuschreiben.452 Wo die Überfälle der IRA das Eigentum von Unionisten zerstörten, konnte die republikanische Propaganda das noch als „undoing of conquest“ darstellen. So half es Sir Horace Plunkett nichts, daß er sich seit der Jahrhundertwende in zahlreichen Konferenzen und als Initiator der Agrarkooperativen für seine irische Heimat aufgeopfert hatte.453 Die IRA brannte das Haus des „antikatholischen Imperialisten, Freimaurers und britischen
448 449 450
451 452 453
HOPKINSON, Green, S. 235, 255; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 281. LITTON, Civil War, S. 116. HOPKINSON, Green, S. 194, 255; vgl. auch UCD, FGP, P80/298, The political program of the antitreaty leaders, 21. September 1922; AA, MI/PR/5, summary official reports, 11. März 1923 spricht von wöchentlich durchschnittlich 9,5 „burnings“ während der letzten acht Wochen. Vgl. auch UCD, FGP, P80/298, The political program of the antitreaty leaders, 21. September 1922; MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 652–4; HOPKINSON, Green, S. 194. FREEMAN’S JOURNAL, 15. März 1923, S. 4; UCD, KP, P4/547, Kennedy, Entwurf einer Rede für Cosgrave, 16. Februar 1923; IRISH HOMESTEAD, 3. Februar 1923, S. 61. LYONS, Culture and Anarchy, S. 52 f., 73–5, 106–9; FOSTER, Modern Ireland, S. 426; IRISH HOMESTEAD, 3. Februar 1923, S. 61; 24. März 1923, S. 154 f.
414
F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
Spions“ nieder.454 Die IRA-Führung betrachtete protestantische Großgrundbesitzer, ob ausbeutende Absentees oder verdiente Patrioten, als Symbole der Fremdherrschaft und behandelte sie entsprechend. Zurück ließ sie in Plunketts Fall nicht nur ein zerstörtes Baudenkmal, sondern auch einen psychosomatisch erkrankten Mann, der die Welt nicht mehr verstand und ein Jahr später nach Großbritannien emigrierte.455 Die Provokationsstrategie erwies sich für die Republikaner schnell als legitimatorische Katastrophe: Sie wandte sich nicht nur gegen anglo-irische Adlige und Repräsentanten des Staates, sondern auch gegen ihre unbeteiligten Verwandten. Als die IRA einen Tag nach den vier Repressalmorden das Haus des Abgeordneten Sean MacGarry abbrannte und dabei dessen junger Sohn starb, hatte auch der Freistaat einen Märtyrer: keinen nationalen Helden, sondern ein vollkommen unschuldiges Opfer. Young Ireland folgerte: „The present campaign amounts to nothing more or less than baby murder.“456 De Valera, der schon zuvor Lynchs Repressalpolitik skeptisch gegenüberstand, ärgerte sich maßlos über das stümperhafte Vorgehen der IRA: auch weil ein unschuldiges Kind gestorben war, vor allem aber, weil der Tod von MacGarrys Sohn das republikanische Monopol auf Märtyrer relativierte: The burning of MacGarry’s and the loss of the little boy prevented the rising up of the tide of feeling which was just swelling when the F[ree] S[tate] murdered Liam [Mellows] and Rory [O’Connor] and [Joe] McKelvey and [Richard] Barrett. It is by contrast with their methods as far as possible, not by following them, that we will win the people.457
Auch die Führung der sonst so radikalen Cumman na mBan forderte von Lynch, den propagandistisch verheerenden Gegenterror und das Verbrennen von Häusern zu beenden.458 Wochenlang stritt sich de Valera mit Lynch herum, erreichte dabei aber nur einen kleinen Erfolg: Lynch ließ sich zumindest davon abhalten, Hinrichtungen mit dem Mord an freistaatlichen Geiseln zu vergelten.459 Sonst hielt Lynch aber weiter an seiner legitimatorisch wie militärisch gescheiterten Repressalpolitik fest. Allein im Januar
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AN POBLACHT-WAR NEWS, 17. Februar 1923; HOPKINSON, Green, S. 190. UCD, Horace Plunkett Papers (UCD, HPP), P27, Horace Plunkett an Mrs. Hamilton, 10. Juli 1923. YOUNG IRELAND, 23. Dezember 1922, S. 2; LITTON, Civil War, S. 113. FLK, DeV, 287/1, de Valera an Lynch, 15. Januar 1923. UCD, FGP, P80/784, Secretary Cumman na mBan an Lynch, ca. 14. Dezember 1922. FLK, DeV, 287/1: Lynch an de Valera, 10. Januar 1923; 31. Januar 1923; 3. Februar 1923; de Valera an Lynch, 15. Januar 1923; 18. Januar 1923.
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und Februar 1923 brannte die IRA die Häuser von fünfunddreißig irischen Senatoren nieder.460 Lynch war und blieb unverwüstlich optimistisch. Er war fest überzeugt, daß der Sieg nicht nur gewiß, sondern auch nahe war. Das war bei Lynch nicht nur Propaganda, um seine Führungsoffiziere und die demoralisierten niederen Ränge und Mannschaften zu täuschen. Lynch täuschte sich auch systematisch selbst. Dabei produzierte er indirekt die Quellen seines eigenen Optimismus. Denn Lynchs Bild der militärischen Lage basierte auf den Berichten seiner untergebenen Offiziere. Die übertrieben ihre Erfolge meist und verschwiegen Unangenehmes. Sie wußten: Negatives hörte Lynch nicht gerne, es reizte ihn dazu, den Boten zu bestrafen, dem betreffenden Offizier Inkompetenz und Versagen vorzuwerfen.461 Lynchs Optimismus hatte jedoch noch eine wichtigere Quelle als selbstproduzierte Fehlinformation: „the Republic“. Obwohl er weniger mit der inneren Logik von „the Republic“ argumentierte als mit den militärischen „Fakten“, war er doch so auf die symbolische Republik fixiert, daß er an den militärischen Realitäten systematisch vorbeischaute.462 Anfang 1923 war Lynch beinahe eine Karikatur des idealistischen und fanatischen IRA“Helden“. Noch zu Beginn des Bürgerkrieges als Moderater auf Ausgleich und „army unity“ bedacht, war sein Denken bald völlig unflexibel. In den Worten seines Biographen Florence O’Donoghues: „His mind had set in its final mould.“463 Lynch konnte „the Republic“ nicht mehr modifiziert denken. Für ihn existierte, so der Titel von O’Donoghues Biographie, „no other law“. Wollte Lynch die Republik durchsetzen, dann mußte die IRA die freistaatliche Regierung in die Knie zwingen. Und da zumindest für Lynch nicht sein konnte, was nicht sein durfte, war für ihn der Sieg gewiß.464 Lynch verkörperte dieses Denken zwar in Reinkultur. Er war aber keine Ausnahme. Im Gegenteil, für seine Politik des „no surrender“ fand Lynch lange eine Mehrheit in der IRA-Exekutive. Auch die Offiziere, die die Lage realistischer einschätzten, ließen sich von Lynchs militärisch abenteuerlichen Thesen immer wieder überreden, zumindest vorerst weiterzukämpfen. 460
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FLK, DeV, 239A, Lynch an de Valera, 14. Dezember 1922; FLK, DeV, 287/1, Lynch an de Valera, 3. Februar 1923; de Valera an Lynch, 18. Januar 1923; UCD, OMP, P17a/144, Deputy Adjutant General an Secretary Cumman na mBan, 15. Dezember 1922. FLK, DeV, 239A, Lynch an de Valera, 11. Dezember 1922; FLK, DeV, 1420, Lynch an de Valera, 9. April 1923; AN POBLACHT-WAR NEWS, 14. Februar 1923, Manifesto of Lynch; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 267; HOPKINSON, Green, S. 229 f. FLK, DeV, 239A, Lynch an de Valera, 11. Dezember 1922; FLK, DeV, 1420, Lynch an de Valera, 9. April 1923; FLK, DeV, 299, Lynch an Mary MacSwiney, 6. Februar 1923. O’DONOGHUE, No Other Law, S. 267, 287. AN POBLACHT-WAR NEWS, 14. Februar 1923, Manifesto of Lynch.
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Sie hofften auf Lynchs Beteuerungen, der Westen Irlands sei fest in der Hand der IRA und der Import von Artillerie aus Deutschland stehe unmittelbar bevor, was einen Angriff auf Dublin militärisch möglich mache.465 Für ihr Verhalten gab es noch andere Gründe als Lynchs hoffnungslosen Optimismus: eine pessimistischere Variante von „the Republic“. War die Verpflichtung auf das Selbstopfer nicht unabhängig vom militärischen Erfolg? Und was hatte der immer wieder zitierte Märtyrer Cathal Brugha gelehrt: Auch der letzte irische Soldat werde im Angesicht der britischen Bajonette auf die Frage „ ‚Now, will you come into the Empire?‘ “, antworten: „ ‚No! I will not.‘ “466 Das war die Logik, nach der die spirituelle Republik auch in der Niederlage qua Definition unbesiegbar war. Wie die Poblacht erläuterte: „Force [. . .] cannot kill the indestructible atom of nationality or conscript us into the Empire.“467 In diesem Kontext war nicht entscheidend, wie die Bevölkerung, der Freistaat oder Großbritannien die Sprache der Gewalt verstand, sondern was sie den Revolutionären selbst erzählte: die Geschichte vom Selbstopfer der wahren Elite, von der Einheit mit „the Republic“ und ihren „glorious dead“. Die Logik des glorreichen Untergangs und Lynchs Optimismus widersprachen sich zwar auf einer streng logischen Ebene, aber sie führten praktisch zu demselben Ergebnis: Weiterkämpfen bis zum Ende. Über diese gemeinsame Konsequenz ließen sich beide Ansätze harmonisieren und zusammendenken. De Valera formulierte beide im November 1922 zu einem neuen Klassiker orthodox-republikanischer Durchhalterhetorik: „Victory for the Republic or utter defeat and extermination are now the alternatives.“468 Die Gewalt der IRA sollte unterschiedlichen Adressaten teils widersprüchliche Geschichten erzählen. Gewalt gegen die Freistaatstruppen sollte der Bevölkerung erklären, daß die IRA niemals aufgeben werde und der Freistaatsregierung begreiflich machen, daß sie nachgeben müsse. Das war die Strategie des Verhandlungsfriedens – auch wenn die IRA-Führung
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O’DONOGHUE, No Other Law, S. 300; TROY DAVIS, The Irish Civil War and the „International Proposition“ of 1922–23, in: Eire/Ireland, XXIX, 2 (Sommer 1994), S. 92–112, hier: S. 98–102; vgl. FLK, DeV, 299, Lynch an Mary MacSwiney, 6. Februar 1923; FLK, DeV, 287/1, Lynch an de Valera, 6. Januar 1923; 31. Januar 1923. DEBATE ON TREATY, Cathal Brugha, 7. Januar 1922, S. 330; zitiert, in: WORKER’S REPUBLIC, 5. August 1922, S. 1; EIRE, 20. Januar 1923, S. 3; DAILY BULLETIN, 10. Januar 1923 und FLK, DeV, 273, Mary MacSwiney, Memo to Cabinett an Army Council, 16. Mai 1923. AN POBLACHT-WAR NEWS, 27. Januar 1923. FLK, DeV, 228, Dail Eireann Government of the Republic of Ireland (official communique), 5. November 1922; AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. November 1922.
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letztlich kulturell kompromißunfähig war. Gewalt gegen britische Truppe und anglo-irische Herrenhäuser sollte den irischen Unionisten zeigen, daß sie als „English garrison“ keine Iren waren, und die britischen Regierung dazu provozieren, in den Konflikt einzugreifen. Das war die Strategie eines Krieges gegen den gemeinsamen Feind. Und Gewalt erzählte auch der IRA selbst eine Geschichte: daß sie als nationale Elite das republikanische Geschichtsgesetz erfüllte und die Flamme der Freiheit weiterreichte. Das war die Strategie des Kampfes bis zum letzten Mann. Doch weder Bevölkerung noch Freistaatsregierung, weder Unionisten noch britische Regierung verstanden die Sprache der Gewalt so, wie es sich die IRA erhoffte. Und nicht nur Liam Deasy, auch große Teile der IRA begannen, immer mehr an ihrer eigenen Geschichte zu zweifeln. 3. EAMON DE VALERA IN DER ZWANGSJACKE VON „THE REPUBLIC“ Ohne eine reelle Chance auf „final victory“ war de Valeras Durchhalterhetorik eine Bankrotterklärung des perspektivlos gewordenen dogmatischen Republikanismus. Das ließ sich auch durch die Freistaatspropaganda instrumentalisieren, die de Valeras Diktum umformulierte zu: „victory over or utter extermination of the Irish Nation“.469 Auch die Voice of Labour reagierte mit zynischem Spott, der sich jedoch auch auf die Freistaatsarmee beziehen ließ. In einer Karikatur ließ sie den letzen überlebenden Iren ausrufen: „Is this the end? O Heaven! Send me someone else to fight with!“470 Ähnliche Bedenken wie die Voice of Labour hatten auch die pragmatischer orientierten Politiker im republikanischen Lager, allen voran de Valera selbst. Einigen radikalen IRA-Aktivisten und dogmatischen Republikanern mochte es genügen, einfach das republikanische Geschichtsgesetz zu erfüllen.471 De Valera und seine Anhänger wollten zurück an die Macht, und dazu brauchten sie eine andere Perspektive als „utter defeat and extermination“. Schon im September 1922 suchte de Valera nach einer Version von „the Republic“, durch die die Republikaner wieder handlungsfähig würden: am besten einen Ausgleich mit dem Freistaat und/oder Großbritannien, zumindest aber eine Strategie, die einen politischen Kampf gegen den Freistaat zu-
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UCD, KP, P4/547, Kennedy, Entwurf einer Rede für Cosgrave, 16. Februar 1923; YOUNG IRELAND 11. November 1922, S. 4; FREEMAN’S JOURNAL, 20. November 1922, S. 4; 10. Februar 1923, S. 4. VOICE OF LABOUR, 5. Mai 1923, S. 5. Vgl. TROY DAVIS, International Proposition, S. 109 f.
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ließ. Seine Korrespondenz zeigt, daß er nicht an der Berufskrankheit republikanischer Propagandisten litt, seine eigene Propaganda zu glauben. De Valeras Gedanken kreisten nicht um die Reinheit der Lehre, sondern um die Rückkehr zur Realpolitik. So gestand er der dogmatischen Mary MacSwiney: Unfortunately Reason rather than Faith has been my master. [. . .] I have felt for some time that this doctrine of mine unfitted me to be leader of the Republican Party. [. . .] I must be the heir to generations of conservatism. Every instinct of mine would indicate that I was meant to be a dyed-in-the-wool-Tory or even a Bishop, rather than the leader of a Revolution.472
Wenn de Valera weder an einen republikanischen Sieg noch an den Kampf bis zum letzten Mann glaubte, warum propagierte er dann öffentlich „final victory or utter defeat“? Wie behinderte oder ermöglichte er mit dieser Rhetorik seine Rückkehr zur Realpolitik? In diesem Teilkapitel werde ich mehrere Versuche de Valeras untersuchen, die republikanische Handlungskrise zu überwältigen und „the Republic“ schrittweise zu modifzieren. a) Zwischen Tradition und Innovation: Untergrundregierung und soziales Programm Dem an „Reason“ orientierten de Valera schlugen die von „Faith“ geleiteten IRA-Militärs im September und Oktober 1922 eine politische Initiative vor, die sich zu hundert Prozent an die Vorgaben von „the Republic“ hielt. Ihr Plan, eine republikanische Gegenregierung zu gründen, sollte eine Kontinuität zur revolutionären und demokratischen Tradition des Unabhängigkeitskriegs herstellen. Eine demokratische Legitimation konnten die Republikaner dabei nur über etliche Umwege herstellen: Das Provisional Parliament of Southern Ireland habe den im Juni 1922 gewählten dritten Dail usurpiert. Daher sei der zweite Dail weiterhin demokratisch legitimiert.473 Für de Valera war der Vorschlag der IRA-Führung wenig verlockend. Zu gut noch erinnerte er sich an die Zeit zwischen Januar und Juli 1922 und daran, wie unangenehm es sein konnte, offiziell die Verantwortung für die republikanische Politik und die Übergriffe der IRA zu tragen, aber nichts kontrollieren zu können. Seinem Vertrauten dem republikanischen Abge-
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FLK, DeV, 1444/1, de Valera an Mary MacSwiney, 11. September 1922; vgl.: FLK, DeV, 205, de Valera, an Charles Murphy, 7. September 1922; FLK, DeV, 208, de Valera, Memo to Lynch and members of the Executive, 12. Oktober 1922; FLK, DeV, 231, de Valera an Joe MacGarrity, 12. Oktober 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 26. Oktober 1922; FLK, DeV, 228, Dail Eireann, Proclamation, 22. November 1922.
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ordneten Charles Murphy erklärte er in einer Reihe von Briefen, er wolle keine republikanische Gegenregierung, because we [i.e. die republikanischen Politiker] could [not] get from the Army that unconditional allegiance without which our Government would be a farce. Rory O’Connor’s unfortunate repudiation of the Dail, that I was so foolish as to defend even to a straining of my own views in order to avoid the appearance of a split, is now the greatest barrier that we have.
De Valera schlug der IRA deshalb vor, eine Militärregierung zu gründen. Auch de Valera sah, wie konstruiert die demokratische Legitimation einer republikanischen Gegenregierung sein würde: We cannot, as in the war with the British, point to the authority derived from the vote of the majority of the people. We will be turned down definitely by the electorate in a few months’ time in any case.474
Daß de Valera der IRA schließlich doch nachgab, dem halfen die irischen Bischöfe und die Provisorische Regierung nach: die irischen Bischöfe, weil ihr Hirtenbrief die Republikaner unter Druck stellte, sich über eine eigene gottgesetzte Regierung zu legitimieren;475 die Provisorische Regierung, weil sie de Valeras Korrespondenz mit Charles Murphy abfing, veröffentlichte und de Valera damit zwang, sich hinter die Politik der IRA zu stellen.476 Wie Anfang 1922 bewahrte de Valera nach außen die innerrepublikanische Einheit zu den Konditionen der radikalen IRA.477 Wieder verhinderte er „the appearance of a split [. . .] even to a straining of [his] own views.“ Mit den vertragsablehnenden Mitgliedern des zweiten Dail gründete er Ende Oktober ein revolutionäres Parlament und eine republikanische Gegenregierung, und er erklärte bald darauf wie oben zitiert „final victory or utter defeat or extermination“ zur offiziellen Politik. Eine Gegenregierung zu gründen, das war ein symbolischer Akt: eben ein Zitat aus dem Unabhängigkeitskrieg. „Practical politics“ war das nicht. Dazu genügte schon der spottende Blick, den der Galway Observer auf de Valeras Kabinett warf. Wie sollte de Valera regieren, wenn sein Publicityminister Childers tot, die Hälfte des Kabinetts im Gefängnis und die andere auf der Flucht war.478
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UCD, OMP, P17a/18, de Valera an Charles Murphy, 13. September 1922; vgl. ebd., 7. September 1922; 12. September 1922. FLK, DeV, 208, de Valera an Frank Aiken, 26. Oktober 1922; vgl. FLK, DeV, 228, Dail Eireann, Proclamation, 26. Oktober 1922. FLK, DeV, 205, Dail Eireann, correspondence of Mr. de Valera and others, ca. Oktober 1922. FLK, DeV, 208, de Valera an „each member of the Army Council“, 23. Oktober 1922. GALWAY OBSERVER, 2. Dezember 1922, S. 2; IRISH TIMES, 8. Dezember 1922, S. 5.
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Zwar verabschiedete das Kabinett zahlreiche Beschlüsse: Sie erließ Steuern, gründete republikanische Untergrundgerichte, verbot die Provisorische Regierung oder erneuerte den Belfastboykott.479 Doch auch wenn einige Minister immer wieder großangelegte Pläne für die Zukunft entwarfen, auch sie machten in ihren internen Schreiben kein Geheimnis daraus, daß ihre Politik keinen realen Effekt hatte und nichts weiter als Rhetorik blieb.480 Und das, Rhetorik, blieb die eigentliche Aufgabe der Gegenregierung. Sie war eine Propagandazentrale, die versuchte, der Bevölkerung das Stück „Regierung der Republik“ möglichst glaubhaft vorzuspielen. Dabei formulierte sie mit oft pedantischer Liebe zum Detail in wochenlang überarbeiteten Entwürfen die offizielle republikanische Position.481 Schon bald versuchte de Valera, „the Republic“ und die Gegenregierung für Sympathisanten attraktiver zu machen. Deshalb formulierte er eine Politik, die nicht nur vom Tod für Irland erzählte, sondern auch von konkreten, materiellen Vorteilen. Um die innere Einheit der Republikaner nicht zu gefährden, hielt er sich so nahe wie möglich an die Vorgaben von „the Republic“. Nur vorsichtig testete er, wo er das republikanische Dogma erweitern oder aufweichen konnte. Zunächst beschränkte sich de Valera darauf, „the Republic“ um eine Reihe sozialer und ökonomischer Ideen zu erweitern. Damit machte er dem Freistaat ein Themenfeld streitig, das die republikanische Propaganda bis dahin überhaupt nicht besetzt hatte: „konstruktive“ Politik. Sein Programm zielte auf Kleinbauern, Landlose, Arbeiter und Arbeitslose, also all diejenigen, die davon enttäuscht waren, daß das freistaatliche Executive Council weitgehend am ökonomischen und sozialen status quo festhielt und keinen Nerv für soziale Experimente hatte.482 Erst jetzt, auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges, entdeckten die republikanischen Politiker um de Valera sozio-ökonomische Unzufriedenheit als Mittel zum Zweck: als Motor für die entscheidende nationale Politik. Doch anders als Liam Mellows und Roddy Connolly setzte de Valera auf eine 479 480 481
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Republikanische Erlasse und Proklamationen unter: FLK, DeV, 228, 26. Oktober 1922– 2. Dezember 1922; FLK, DeV, 309/2, 19. Februar 1923; 14. März 1923; 17. Oktober 1923. NAI, FLK, DeV, 308/2, Patrick Ruttledge an de Valera, 15. März 1923; ebd., 309/2, Austin Stack an de Valera, 16. Februar 1923. Siehe exemplarisch die sich über mehrere Monate erstreckende Korrespondenz zum Steuererlaß, von dem keiner der Beteiligten annahm, er würde sich mehr als nur ansatzweise umsetzen lassen: FLK, DeV, 308/1; 309/1. MARYANN GIALANELLA VALIULIS, After the Revolution: the Formative Years of Cumman na Ghaedael, in: EYLER und GARRAT (Hrsg.), Uses, S. 131–42, hier: S. 134–6; EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 97, 104, 106–9, 113, 115–24, 140 f., 154–64.
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soziale, nicht auf eine sozialrevolutionäre Dynamik. Sein korporatives Programm, das er 1923 zu einem griffigen Manifest ausbaute, war so unverbindlich formuliert, daß es soziale Konflikte verschleierte und Platz für die unterschiedlichsten Projektionen und Wünsche ließ. De Valera propagierte die Kooperation von Produzenten, Konsumenten und Handel für einen höheren Lebensstandard: die Nutzung der Ressourcen des Landes, vor allem Kohle und Wasserkraft, die technische Entwicklung von Landwirtschaft und Industrie, die Förderung von Wissenschaft und Volksgesundheit, Förderung der Milchwirtschaft, der Viehzucht und der Fischerei, die Entwicklung einer Transportinfrastruktur und Aufforstung, die Schlichtung von Arbeitskämpfen, die Entwicklung eines öffentlichen Versicherungswesens und gerechtere Steuern. Wie Liam Mellows argumentierte auch de Valera auf dem wirtschaftlichen und sozialen Feld immer wieder national: Er forderte eine nationale Währung und eine protektionistisch geschützte Industrie, einen souveränen Außenhandel, eine irische Handelsmarine, Strafsteuern für Kapitalflucht, ein Landkaufprogramm und die Kriminalisierung (der Geister) des Absentismus.483 Wie die meisten irischen Nationalisten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts ließ auch de Valera offen, wie er dieses Programm im einzelnen umsetzen wollte. Propagandistisch kalkuliert und naiv zugleich, ging auch er davon aus, daß sich ohne britische Fremdherrschaft alle Bereiche der irischen Wirtschaft von selber konfliktfrei entwikkeln würden.484 Sein soziales und ökonomisches Programm hatte de Valera dabei nicht selber erfunden. De Valera besetzte national legitimierte Vorgaben, die möglichst viele Iren aus der revolutionären Tradition kannten: Erstens die Sinn Fein constitution von 1917, zweitens Dail Eireanns sozialpolitische Absichtserklärung von 1919, das „Democratic Program“, und drittens Pearse „the Sovereign People“. Dazu kamen viertens Elemente der Sozialrevolutionäre Fintan Lalor und James Connolly und am wichtigsten fünftens das protektionistische Wirtschaftsprogramm von Arthur Griffith. So versuchte de Valera, den unbelasteten Griffith von vor 1922 in die republikanische Tradition einzubinden. Er spielte jetzt Griffith Protektionismus gegen die „antinationale“ Freihandelspolitik seiner Nachfolger aus, weil die 483 484
NAI, D/J, 1993 release, S1/23, Sinn Fein Ard Fheis 1923, Colonel „X“ an Director Intelligence, 28. Juli 1923. EIRE, 3. Februar 1923, S. 4; FLK, DeV, 298, Wahlplakat, ca. Juni 1923; RUTH EDWARDS, Triumph, S. 183 f., 257 f., 280 f.; M. A. GEAROID Ó TUATHAIGH, De Valera and Sovereignty: A Note on the Pedigree of a Political Idea, in: MURPHY und O’CARROLL (Hrsg.), De Valera, S. 62–73, hier: S. 64–70, insbes., S. 69 f.; LEE, Ireland 1912–1985, S. 117–20; TWOMEYRYAN, Church, S. 106 f.; TERENCE BROWN, Ireland, S. 15.
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auch viele produzierende irische Kapitalisten enttäuschte. Freihandel war volkswirtschaftlich vielleicht rational. Aber solange die Sozial- und Wirtschaftspolitik des Freistaats am status quo des britischen Irlands vor 1921 festhielt, konnte sie sich nicht über eine „nationale“ Ökonomie legitimieren. Unter der am ökonomischen Tauschwert orientierten kapitalistischen Rationalität litt die emotionale Qualität des Staates, und das bot de Valeras nationalem Wirtschafts- und Sozialprogramm Angriffsfläche.485 b) Zusammenbruch der republikanischen Propaganda Republikanische Märtyrergeschichten wurden zwischen den Zeilen auch über die Tagespresse verbreitet. Dagegen war de Valeras neues sozial-ökonomisches Programm und die Politik der Gegenregierung fast ausschließlich auf die desolate republikanische Propagandamaschinerie angewiesen. Während nach den Exekutionen die Nachfrage nach republikanischer Propaganda stark zunahm, wurde die Produktion von Propaganda in Dublin immer schwieriger. Noch Anfang November konnte Brennan bei drei verschiedenen Druckern in Dublin pro Woche fast 100 000 Pamphlete drukken lassen. Doch aus Angst vor der freistaatlichen Verfolgung sprangen binnen kurzem die beiden wichtigsten Drucker ab.486 Ein Jahr nach Gründung der An Poblacht im Januar 1923 war der erste Manager Joseph MacDonagh im Gefängnis gestorben, zwei seiner Nachfolger waren inhaftiert. Die beiden ersten Herausgeber des Blattes, Mellows und Childers hatte die Freistaatsführung exekutieren lassen. Die meisten republikanischen Druckanlagen waren beschlagnahmt, Dutzende von Propagandisten saßen im Gefängnis. So mußten zwangsläufig weniger talentierte Propagandisten deren Aufgaben übernehmen.487 Die Blätter litten unter chronischem Geld- und Informationsdefizit, waren unattraktiv aufgemacht und hatten eine kleine Auflage. Die Koordination zwischen den einzelnen Untergrundorganen brach immer wieder zusammen. Das Kompetenzgerangel zwischen Militärs und Zivilisten behinderte weiterhin die ohnehin mangelhafte Kommunikation. Es dauerte bis Mitte Februar, bis die offiziellen Resolutionen der republikanischen Gegenregierung nicht nur in der Poblacht, sondern auch auf Postern und Flugblättern erschienen. So führten de Valera und seine Minister das Stück von der
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Vgl. UNITED IRISHMAN, 15. Februar 1923, S. 4; ebd., 28. April 1923, S. 1; Vgl. auch MANNConservative Thought, S. 84–7. FLK, DeV, 241, Brennan Report on Publicity, 30. November 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 3. Januar 1923; FLK, DeV, 241, de Valera an Brennan, 19. Dezember 1922; Brennan an de Valera, 13. Dezember 1922. HEIM,
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republikanischen Regierung weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit auf.488 Die wenigen Presseerklärungen, die de Valera als „interview“ deklariert in der britischen Presse unterbringen konnte, änderten wenig an der organisatorischen Unterlegenheit der republikanischen Propaganda.489 Regelmäßig erschien ab Dezember 1922 nur noch die Poblacht, weiter in einer Auflage von 3000–5000 Stück. Dazu verschickte die Propaganda die offizielle Presseerklärung der republikanischen Regierung, das Daily Bulletin, täglich an 250 ausländische und 200 irische Adressen.490 Nach wie vor waren viele Artikel unglaubwürdig übertrieben und wiederholten ständig dieselben Themen. Trotz de Valeras Ansätzen zur Realpolitik zog sich die Argumentation ab November 1922 immer mehr auf die spirituelle Ebene zurück.491 Obwohl die Freistaatspropagandisten die republikanische Konkurrenz detailliert und mißtrauisch beobachten, sahen sie ab Frühjahr 1923 in der republikanischen Propaganda immer weniger eine Gefahr. Sie schätzten sie als ermüdend, redundant und unglaubwürdig ein.492 Auch de Valera, der zusammen mit seinem Publicityminister Brennan versuchte, die republikanische Propaganda zu steuern, kritisierte immer wieder ihren ausfallend aggressiven Stil.493 Selbst ein unerschütterlicher Optimist wie IRA-Chef Lynch meinte Anfang Februar 1923 zur Organisation der republikanischen Propaganda in der Provinz: „Publicity is, so far, a frost. [. . .] All areas I passed through have no publicity and get none from Dublin.“494 Zu dieser desolaten Situation hatte nicht zuletzt auch Lynch 488
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FLK, DeV, 241, Brennan, Report on Publicity, 30. November 1922; ebd., 287/1, de Valera an Brennan, 4. Januar 1923; ebd., 310/1, Brennan an de Valera, ca. 12. Februar 1923; UCD, MP, P7/B/92, Dept. Adjudant General an Brennan, 5. März 1923; ebd., Brennan an Lynch, 20. März 1923. FLK, DeV, 298, de Valera, autorisierte Fassung des Interviews mit der DAILY MAIL, 16. Januar 1923; FLK, DeV, 250, Interview mit der MANCHESTER EVENING NEWS; MURRAY, Voices, S. 69–72. FLK, DeV, 241, Brennan an de Valera, 26. Oktober 1922; ebd., 307, Publicity Report, Januar 1923, ca. 2. Februar 1923. Exemplarisch für die zunehmende Rhetorik von „spirit versus force“: POBLACHT-WAR NEWS, 7. November 1922; 11. Dezember 1922; 17. Januar 1923; 6. Februar 1923; 14. Februar 1923; 2. März 1923; EIRE, 12. Mai 1923, S. 2. NAI, D/J, 1993 release, S1/23, Sinn Fein Ard Fheis 1923, Colonel „X“ an Director Intelligence, 28. Juli 1923; siehe captured documents, unter: UCD, MP, P7/B/92, P7a/87, P7a/198, memo re press, 23. Januar 1923; NAI, DJ/CR/FM/2, passim. FLK, DeV, 241, de Valera an Brennan, 12. Dezember 1922; ebd., 287/1, de Valera an Lynch, 8. März 1923. NAI, DFA, PG/IFS, box 4, Captured documents, „E“, Lynch an Adjudtant General, 5. Februar 1923.
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selbst beigetragen: Trotz mehrerer Anläufe war es ihm nicht gelungen, regelmäßige Armeeberichte für die Propaganda zu organisieren, geschweige denn, das immer wieder angekündigte Armeeblatt An tOglach herstellen zu lassen.495 Außerhalb Dublins erschien nur in Cork eine gedruckte Ausgabe der Poblacht. Sonst beschränkte sich Propaganda in der Provinz auf in lokaler Eigeninitiative hergestellte Matrizenabzüge und auf die Pakete mit republikanischen Pamphleten, die in unregelmäßigen Abständen aus Dublin eintrafen.496 Um diese hoffnungslose Unterlegenheit der republikanischen Propaganda zu überwinden, verfolgten Militär und Politiker unterschiedliche Strategien. Die IRA kehrte zu ihrer schon vor Oktober 1922 ineffizienten Politik von Drohungen und Anschlägen zurück. Am 6. Dezember 1922 bedrohte die Dubliner No.1 Brigade der IRA die Besitzer von Irish Independent und Freeman’s Journal mit dem Tod, falls sie nicht innerhalb von zwei Tagen Irland verließen.497 Doch die Zeitungsbesitzer gaben erwartungsgemäß nicht nach. Der Freeman veröffentlichte den Drohbrief sogar provokant als Leitartikel.498 Deshalb führte die IRA im Dezember 1922 und Januar 1923 einen regelrechten Krieg gegen die Dubliner und Corker Presse. Wo es ihr möglich war, zerstörte die IRA bis April 1923 Lieferungen der Dubliner Tageszeitungen und brannte Zeitschriftenkioske nieder.499 Im Dezember und Januar warfen motorisierte IRA-Kommandos wiederholt Bomben vor und in die Verlagsgebäude von Irish Independent und Freeman’s Journal. Doch die Effizienz dieser Anschläge war gering: Die Bomben- und Brandanschläge richteten nur begrenzten Schaden an, falls die Sprengsätze überhaupt explodierten.500 Als die Anschläge der militärisch geschwächten IRA Anfang Februar abflauten, versuchte Lynch noch einmal, durch eine große Drohgebärde den Druck auf die Presse zu erhöhen. Er setzte auch „Proprietors, Directors, Editors, Sub-Editors & Leader Writers of hostile Press.“ auf seine Todeslisten.501 Doch unter der Drohung weiterer Exekutionen führte die IRA nur wenige, dazu erfolglose Mordanschläge auf Presseleute durch und brannte nur
495 496 497 498 499 500 501
FLK, DeV, 287/1, Brennan an Lynch, 5. Februar 1923; de Valera an Lynch, 8. März 1923. FLK, DeV, 307/1, Brennan, Publicity Report, Januar 1923; Publicity Report, Februar 1923. NAI, D/T, S-2922, Headquarters Dublin Brigade an Martin FitzGerald, 6. Dezember 1922; IRISH INDEPENDENT, 12. Dezember 1922, S. 7. FREEMAN’S JOURNAL, 9. Dezember 1923, S. 4; vgl. ebd., 27. November 1922, S. 4. Z.B.: AA, MI/PR/5, summary of official reports, 6. November 1922; CULLEN, Easons, S. 218. Summaries of official reports in: AA, MI/PR/5; MI/PR/6; MI/PR/7; CW/OPS/8. UCD, MP, P7a/86, Notebook of Lynch, operation order no. 17, 3. Februar 1923.
II. Realpolitik?
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selten deren Häuser nieder.502 Dabei gingen einzelne IRA-Einheiten mit zum Teil an Komik grenzender Ineffizienz oder Unlust vor. So begründete ein Publicity-Report der Dubliner IRA-Brigade lakonisch, warum ihr Anschlag auf den Besitzer des Irish Independent gescheitert war: „This failed as Murphy refused to open the door and this was the only way in.“503 Wie sollten sie auch jemanden umbringen, der einfach die Tür nicht aufmachte? Der IRA gelang es nicht, den Dubliner Tageszeitungen ernsthaft wirtschaftlich zu schaden. Die Posten, die schon seit Beginn des Bürgerkrieges an allen Verlagsgebäuden in Dublin stationiert waren, boten wirksamen Schutz. Ungewollt unterstützte die IRA so die Kooperation zwischen Freistaat und Presse: Solange die Presse auf militärischen Schutz angewiesen war, Redakteure und Journalisten unter Belagerungsbedingungen arbeiteten, gab es für sie nur wenig Spielraum und Motivation für eine regierungskritische Politik. De Valera suchte einen politischen Ausweg aus der hoffnungslosen Lage der republikanischen Propaganda. Um sein Programm eines konstruktiven Republikanismus zu propagieren, setzte er auf eine neue Propagandazeitung, die im Januar 1923 die An Poblacht – Scottish Edition ablöste: Eire.504 Eire sollte gemäßigten republikanischen Sympathisanten nicht nur die moralische Überlegenheit von „the Republic“, sondern auch die konkreten Vorteile von „a republic“ nahebringen. Patrick Little, vor dem Bürgerkrieg Herausgeber des gemäßigten New Ireland, sollte als Chefredakteur diesen neuen Stil umsetzen.505 Eires neue Politik, den Spagat zwischen materiellen Interessen und Reinheit der Lehre, deutete schon der erste Grundsatzartikel an: „Honour comes first and interest afterwards, but it just happens that in the case of Ireland Honesty is the best policy.“506 Schon der Titel des Blattes war Programm und von de Valera bewußt gewählt: Eire – The Irish Nation war nicht An Poblacht na hEireann – The Irish Republic. Eire war etwas „zwischen“ Republik und Freistaat, sollte auch moderate Sympathisanten ansprechen.507 Wie mit dem protektionisti502 503 504 505 506 507
FREEMAN’S JOURNAL, 19. Dezember 1924, S. 5; ORAM, Newspaper Book, S. 152; AA, MI/ PR/5, Summary of official reports, 2. Februar 1923. NAI, DFJ, C/R/FM 2 (1993 release), Report of Brigade H.Q. [IRA] for Publicity, 28. Februar 1923. AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 13. Januar 1923, S. 1; EIRE, 20. Januar 1923; VAN VORIS, Markievicz, S. 328. FLK, DeV, 241, Brennan an Patrick Little, 22. Dezember 1922. EIRE, 20. Januar 1923, S. 5; vgl. EIRE, 27. Januar 1923, S. 6. FLK, DeV, 241, de Valera an Brennan, 15. Dezember 1922; Brennan an de Valera, 13. Dezember 1922.
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schen Wirtschaftsprogramm reklamierte de Valera dabei erneut den noch unkomprommittierten Griffith und die Wurzeln Sinn Feins für die Republikaner: Eire war auch der Titel einer Zeitschrift, in der Griffith ab 1914 gegen Home Rule und die britische Weltkriegsrekrutierung agitiert hatte.508 Von der üblichen republikanischen Drehorgel unterschied sich Eire dann jedoch nur in Nuancen. Wie auch das obige Zitat deutlich macht, zuerst kam die Ehre. Auch in Eire dominierten die klassischen Themen der republikanischen Propaganda, republikanisches Leiden, Grundsatzartikel zum Vertrag, historische Beweise. Auch was de Valera selbst zur republikanischen Propaganda einfiel, war weitgehend konventionell: Gefängniszustände, das Martyrium von Liam Mellows und Rory O’Connor, die britische Kriegsdrohung und die Aggression des Freistaats gegen die Four Courts.509 Pragmatischen Republikanismus propagierte de Valera auch in seinen eigenen Artikeln nur zwischen den Zeilen.510 Die Artikel in Eire waren fast immer hoffnungslos veraltet: Bis die Nachrichten die Propagandisten in Großbritannien erreichten, dort gedruckt und wieder nach Irland geschmuggelt waren, vergingen zwischen einer und drei Wochen.511 Der Verkauf an die Iren in England, Wales und Schottland lief nur schleppend, weil die republikanischen Propagandisten nur einen Großhändler dazu bringen konnten, mit Eire zu handeln. Noch ineffizienter war der Plan, Eire über die Ortsvereine der Irish Selfdetermination League, ISDL, zu verkaufen.512 Denn die ISDL, im Unabhängigkeitskrieg Rückgrat der republikanischen Agitation in Großbritannien, war nach der Vertragsspaltung zu einem kleinen in sich verstrittenen vertragsablehnenden Verein zusammengeschrumpft. Während Eire in Schottland immerhin 2000 Stück absetzen konnte, wurde das Blatt in England anfangs fast gar nicht gelesen – wegen der vielen Anzeigen der schottischen ISDL wirkte es wie ein irisch-schottisches Regionalblatt.513
508 509 510 511 512 513
GLANDONE, Advanced Nationalist Press, S. 268. Vgl. oben: S. 357, 427. FLK, DeV, 285, de Valera’s Notebook, Topics for Propaganda, ca. März 1923. EIRE, 20. Januar 1923, S. 1; 27. Januar 1922, S. 1; 3. Februar 1923, S. 3 f. Exemplarisch: EIRE, 26. Mai 1923, S. 1, Gegendarstellung zu einem Bericht der Dubliner Presse vom 7. Mai 1923. NLI, AOB, MS 8431, Mr. Humphreys an Sean McGarth, 14. Januar 1923; 19. Januar 1923; 23. Februar 1923. FLK, DeV, 308/2, Patrick Ruttledge an de Valera, 5. Januar 1923; 5. März 1923; NLI, AOB, MS 8432, report on present situation and incidents and events since March 1922, ca. Oktober 1923; NAI, Sinn Fein, 1094/15/6, Seamus Duggan an de Valera, ca. 17. Mai 1923; NLI, AOB, MS 8431, Mr. Humphreys an Sean McGarth, 25. Januar 1923.
II. Realpolitik?
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Untergrundblätter nach Irland zu schmuggeln war schwierig. So schätzte Roddy Connolly, Herausgeber der in London produzierten Worker’s Republic, daß nur circa ein Viertel seiner Blätter einen Leser erreichte. Geld sah er dafür nur in seltenen Fällen.514 Die offizielle republikanische Propaganda war im Vergleich dazu besser organisiert. Sie produzierte wöchentlich rund 20 000 Exemplare Eire, dazu zahlreiche Pamphlete, von denen sie ebenfalls meist 20 000 Stück herstellte. Wenn die Propaganda im günstigsten Fall alle Exemplare verteilen konnte, erreichte sie – so der unzufriedene Brennan – gerade jeden vierzigsten Haushalt in Irland. Doch auch dabei behinderten nicht nur die Freistaatsbehörden die republikanischen Propagandisten. Die desillusionierten lokalen Aktivisten und vor allem die Bevölkerung interessierten sich nur wenig für die redundante republikanische Propaganda. Nach Brennan machte es organisatorisch kaum einen Unterschied 600 oder 6000 Exemplare Eire in eine Region zu schmuggeln, doch: „No amount of spoon-feeding from here will avail if the local people have not sufficient energy and enthusiasm to build up a strong circulation for the paper.“515 Noch schlechter als Eire erging es den in Dublin produzierten Blättern: Das freistaatliche Executive Council ging ab Februar 1923 radikal gegen sie vor.516 Es setzte sich jetzt über alle juristischen und legitimatorischen Bedenken hinweg. Am 15. Februar 1923 durchsuchte der freistaatliche Geheimdienst, CID, die republikanische Propagandazentrale in der Suffolk Street 23, verhaftete einmal mehr Mary MacSwiney, Kathleen Clarke, und die Schwester von Kevin Barry, Eileen. Der CID, der bisher nur prominente Republikanerinnen inhaftiert hatte, ging jetzt auch konsequent gegen Frauen vor und traf damit die republikanische Publicity hart.517 Ab Januar 1923 durchsuchte der CID regelmäßig alle einschlägig bekannten republikanischen Adressen, bis Februar allein sechsmal die neu gegründete Sinn Fein-Zentrale in der Harcourt Street. Dabei nahm der CID nicht nur Propagandamaterialien und die Korrespondenz, sondern auch Schreib-
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WORKER’S REPUBLIC, 6. Januar 1923, S. 8. UCD, MP, P7/B/92, Brennan an Lynch, 20. März 1923. UCD, MP, P80/295, memo re press, 18. November 1922; NAI, D/T, S-1899, Mc Dunphy an Mulcahy, 13. Dezember 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 16. Februar 1923; vgl. NAI, Sinn Fein, 1094/1/13, de Valera an organising committee, 10. Juni 1923; UCD, OBP, P13/1, Lily O’Brien an Fanny Ceannt, 10. November 1922; AA, CW/OPS/8, Eastern Command an Publicity Department, 30. Dezember 1922; NAI, DFA, PG/IFS, box 4, Publicity Department 1922–27, „D“, Sean Lester an Captain Murray, 25. April 1923; AN POBLACHT-WAR NEWS, 16. März 1923; vgl. DONEGAL VINDICATOR, 14. April 1923, S. 2; EIRE, 21. April 1922, enthält auf der Frontseite eine Liste aller in Irland inhaftierten Frauen; vgl. ebd., 5. Mai 1923, S. 5; 9. Juni 1923, S. 3.
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maschinen, Tische und Stühle mit.518 Bei einer Razzia am 1. März 1923 durchsuchte der CID zwanzig Dubliner Zeitungsläden nach republikanischen Propagandablättern und Devotionalien und warnte die Besitzer, „any attempt to repeat the offence will be severely dealt with.“519 Knapp eine Woche später stellte der CID die Druckanlage der Poblacht sicher und verhaftete alle Mitarbeiter(innen). An Poblacht erschien nur noch ein einziges Mal als Matrizenabzug. Am 21. März 1923 durchsuchte der CID erneut zehn Häuser in Dublin und beschlagnahmte „tons of literature“. Er verhaftete dabei auch vierzehn Mitglieder Cumman na mBans, darunter alle Mitarbeiterinnen der republikanischen Pressemitteilung Daily Bulletin. Zwei Tage später hob er eine republikanische Propagandazentrale in der North Great George Street aus.520 Die republikanische Publicity in Dublin, deren Zustand ein IRA-Offizier schon vor der Verhaftungswelle als „very poor“ eingeschätzt hatte,521 war damit zusammengebrochen. Ein Mitarbeiter von IRA-Chef Lynch: This Dep[artmen]t is probably burst up. I see the staff of the „Daily Bulletin“ are reported as captured yesterday. If the turning out of EIRE fails it is a bad job. I am sick of it. I think more was written about Publicity from this Dep[artmen]t than was ever printed – I mean amount of print alone.522
Auch in der Provinz existierte trotz groß angelegter Reorganisationspläne keine republikanische Propaganda mehr.523 Selbst gegen reguläre tarifliche Bezahlung war im Mai 1923 kein Drucker mehr bereit, republikanische Propaganda zu drucken.524 Die republikanische Publicity bestand ab Ende März fast nur mehr aus in Glasgow hergestellten Pamphleten und aus Eire.525 Aber auch in Schottland war Eire nicht sicher vor den Zwangsmaßnahmen der Freistaatsführung. Britische Regierung und später auch freistaatliches Executive Council ließen die radikale republikanische Agitation in Großbritannien ausspionie-
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AN POBLACHT-WAR NEWS, 5. Februar 1923; vgl. NAI, Sinn Fein, 1094/2/6, report re raids on Harcourt Street, ca. 20. April 1923. AN POBLACHT-WAR NEWS, 2. März 1923. IRISH INDEPENDENT, 22. März 1923, S. 5; UCD, MP, P7/B/92, captured documents vom 24. März 1923. UCD, MP, P7/B/92, O/C Brigade to Adjudant General, ca. 25. Februar 1923. UCD, MP, P7/B/92, „M.T“ an Lynch, 22. März 1923. NAI, DFA, PG/IFS, box 4, Captured documents. „E“, summary of Lynch’s report, 24. März 1923; NAI, D/T, S-1859, Publicity Offizier Field H.Q. an alle Divisions Western Command, 10. April 1923; GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 99. läßt sich von diesem „blue print“ täuschen. NAI, Sinn Fein, 1094/7/2, de Valera an Brennan, 12. Mai 1923. UCD, MP, P7/B/92, Brennan an Lynch, 20. März 1923.
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ren. Beide waren beunruhigt: Die ISDL lag außerhalb des Zugriffs des Executive Council, versorgte die Republikaner mit Propaganda, Geld und Waffen. Schon im Dezember bot die britische Regierung deshalb der Freistaatsführung eine gemeinsame Aktion gegen die ISDL an.526 Mitte März 1923 verhaftete Scotland Yard dann in einer großangelegten Aktion hundertsechzig irische Republikaner und deportierte sie nach Irland.527 Die rechtliche Grundlage für die Deportationen war, auch wenn die britische Regierung vorsorglich die einschlägigen Präzedenzfälle studiert hatte, äußerst fragwürdig: Sie stützte sich auf den „Restoration of Order in Ireland Act“, also auf das anti-republikanische Ausnahmegesetz aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges.528 Damit stützte sie indirekt die republikanische These, nach der der Bürgerkrieg eine Fortsetzung des Unabhängigkeitskrieges sei. Auch für die ehemaligen Revolutionäre im freistaatlichen Executive Council mußte dieses Gesetz eigentlich der Inbegriff britischen Übels sein. Dennoch ging die Führung des Freistaats pragmatisch vor. Sie ging über gesetzliche und symbolische Feinheiten und den Protest der Presse hinweg. Innenminister O’Higgins sprach das, wie immer, direkter aus als seine Kollegen: [We] are not going into quibbling metaphysics as to citizenship or anything else. Those men were planning war [. . .] None of us [. . .] lay awake at night wondering if we had lost our sovereignty, because we knew we had not.529
Noch erstaunlicher war, daß auch die britische Regierung bereit war, jenseits konstitutioneller Methoden zu handeln. Sie hätte der absterbenden Agitation der Republikaner in Großbritannien eigentlich gelassen entgegensehen können; sie fühlte sich selbst nicht bedroht.530 Trotzdem nützte sie die Chance, ihren geschwächten Feind im Inneren zu beseitigen und die in Irland schon fast siegreiche Freistaatsregierung zu unterstützen. Sie griff auf ein Gesetz zurück, das durch die Gründung des Freistaats obsolet geworden war, und deportierte britische Staatsbürger in einen Teil des britischen Empires, in dem der Ausnahmezustand herrschte. Als sie sich dafür gegen die zahlreichen Proteste im Unterhaus verteidigte, lieferte sie der
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527 528 529 530
University College Dublin, Ernest Blythe Papers (UCD, EBP), P24/50, Duke of Devonshire an Timothy Healy, 15. Dezember 1922; UCD, MP, P7/B/84, britische Geheimdienstberichte über die ISDL; UCD, FGP, P80/331, Mr. Mac Donagh an FitzGerald, 22. Januar 1923. NLI, AOB, MS 8432, report on present situation and incidents and events since March 1922, ca. Oktober 1923; KEOGH, Ireland and Europe, S. 18. UCD, EBP, P24/50, Duke of Devonshire an Timothy Healy, 15. Dezember 1922. DAIL DEBATES, O’Higgins, 20. März 1923, S. 2350 f. UCD, EBP, P24/50, Duke of Devonshire an Timothy Healy, 15. Dezember 1922.
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republikanischen Propaganda neues Material. Ihr Argument, sie helfe dem Executive Council nur, die Interessen des Empires in Irland durchzusetzen, war nicht nur auf Unionistisch, sondern im selben Wortlaut auch auf Republikanisch lesbar.531 So umstritten der Schlag gegen die ISDL legitimatorisch war, machtpolitisch war er effizient: Fast alle wichtigen republikanischen Führungskräfte in Großbritannien waren interniert. Einzig das Propagandablatt Eire überlebte die Verhaftungswelle, erschien bis weit nach Ende des Bürgerkrieges.532 c) Umdeuten des republikanischen Weltbildes? De Valeras Politik des „konstruktiven Republikanismus“ brachte keinen sichtbaren Erfolg, auch weil sie ein viel zu kleines Publikum erreichte. Ein neuer Ansatz sollte deshalb möglichst so aufsehenerregend sein, daß er nicht auf republikanische Propagandablätter angewiesen war, um nach draußen zu dringen. Und er sollte – anders als „konstruktiver Republikanismus“ – die erstarrte republikanische Denkweise wieder handlungsfähig machen, also einen Ausweg aus dem Bürgerkrieg ermöglichen. Je mehr der Krieg die IRA demoralisierte, desto mehr Chancen hatte de Valera, das republikanische Lager auf einen Kompromiß vorzubereiten. De Valera ging dabei sehr behutsam vor und arbeitete eng mit der militärischen Führung und den dogmatischeren Republikanern zusammen. Einerseits war ein Frieden, der das republikanische Prinzip zu sehr kompromittierte, auch für ihn selbst undenkbar. Andererseits wußte de Valera, wie eng sein Spielraum im eigenen Lager war.533 Radikale Republikaner wie Mary MacSwiney reagierten gereizt auf alle Friedensinitiativen, ob sie nun von einzelnen IRA-Offizieren, der sogenannten neutralen IRA oder von prominenten Anglo-Iren wie George Russle stammten. Um selbst nicht als Kompromißler dazustehen, zog sich de Valera deshalb bis Mitte April 1923 immer wieder auf die von ihm im November verwendete orthodoxe Rhetorik des „final victory or utter defeat“ zurück.534 Und de Valera torpedierte
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HOUSE OF COMMONS, Parliamentary Debates, 12. März 1922, Sp. 1043–8; Sp. 1151–94; FLK, DeV, 268/1, Flugblatt, „Lloyd George speaking. . .“, ca. April 1923; IRISH TIMES, 15. März 1923, S. 7. NLI, AOB, MS 8432, Report on present situation and incidents and events since March 1922, ca. Oktober 1923, NLI, AOB, MS 8433, emergency committee to all branches, 21. August 1923. FLK, DeV, 308/1, de Valera an Patrick Ruttledge, 23. Dezember 1922. FLK, DeV, 228, Dail Eireann, Proklamation, 5. November 1922; FLK, DeV, 268/1, 2. Februar 1923; de Valera an Brennan, 2. Februar 1923; FLK, DeV, 298, de Valera, „Message to
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alle unautorisierten Friedensverhandlungen: durch Dementis in der Untergrundpresse, vor allem aber, wie im Fall Deasy, „quietly and from within“.535 Dabei verband de Valera gerade mit Mary MacSwiney ein besonderes Vertrauensverhältnis und das, obwohl, ja gerade weil de Valera wußte: MacSwineys Loyalität galt in erster Linie „the Republic“ und erst dann deren Präsidenten. De Valera, der sich während seiner gesamten politischen Karriere fast nur mit loyalen Mitarbeitern umgab536, sah Mary MacSwiney nach, was er bei anderen kaum tolerierte: fundamentale Kritik. Basis ihres gegenseitigen Vertrauens war, daß beide nach außen verteidigten, was sie intern aneinander kritisierten: De Valera die dogmatische Republik, Mary MacSwiney de Valeras politische Initiativen.537 Untereinander sprachen beide dann aber Klartext miteinander: De Valera kritisierte MacSwiney offen für einen Irrationalismus, „[that] drive[s] all who would reason with you to despair“.538 Dafür ließ er sich von Mac Swiney belehren: „You must have the Faith that moves mountains – no compromise now with any of them.“539 De Valera betrachtete die kompromißlose Mary MacSwiney vielleicht als sein republikanisches Gewissen, vor allem aber als Prüfstein, wieweit seine Ansätze zur Realpolitik konsensfähig waren. Mit Mary MacSwiney konnte er ausprobieren, vorfühlen, wie die dogmatischen Republikaner auf Verstöße gegen die reine Lehre reagieren würden. Er wußte, wenn es ihm gelang, Mary MacSwiney zu überzeugen, dann würden fast alle anderen dogmatischen Republikaner mitziehen. Mary MacSwineys Kritik war damit für de Valera eine Art Geheimdienstbericht über das Denken seiner innerrepublikanischen Opposition. Im Februar 1923 kehrte de Valera zunächst öffentlich zu Document No. 2 zurück, bevor er versuchte, wenigstens ein paar republikanische Mi-
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the Irish race“, 17. März 1923; FLK, DeV, 287/1, de Valeras adress to the army, 12. April 1923. NAI, D/J, 1993 release, C/R/FM2, de Valera an Mary MacSwiney, 2. März 1923; FLK, DeV, 215, de Valera an Culverwell, 29. September 1922; FLK, DeV, 231, de Valera an Aodh de Blacam, 11. Dezember 1922; 7. März 1923; FLK, DeV, 289, de Valera an Tom Derrig, 22. Februar 1923; 5. März 1923; FLK, DeV, 263, de Valera an „neutrale IRA“, 10. Februar 1923; 15. Februar 1923; AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. November 1922; 1. März 1923. Zu de Valera’s loyalen Mitarbeitern zählten u. a.: Gallagher, Childers, Brennan, Dorothy Macardle, Kathleen O’Donnell; vgl. MURRAY, Voices, S. 116–38, 255; vgl. BRIAN FARRELL, De Valera: Unique Dictator or Charismatic Chairman, in: MURPHY und O’CARROLL (Hrsg.), de Valera, S. 35–47, passim. FLK, DeV, 273, de Valera an Mary MacSwiney, 16. Februar 1923; 19. Februar 1923; 24. Februar 1923; Mary MacSwiney an de Valera, 12. Mai 1923; 15. Mai 1923; 17. Mai 1923. FLK, DeV, 1444/1, de Valera an Mary MacSwiney, 11. September 1922. FLK, DeV, 1444/1, Mary MacSwiney an de Valera, 10. September 1922.
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nimalforderungen gegenüber der Freistaatsregierung durchzusetzen. Als er auch damit scheiterte, gelang es ihm im Mai 1923, die IRA zu einem einseitigen Waffenstillstand zu überreden. Für das eigentlich unlösbare Problem, den Vertrag ins Republikanische zu übersetzten, hatte de Valera bereits im Dezember 1921 ein Patentrezept erfunden: Document No. 2. Auch wenn Document No. 2 republikanische Minimalforderungen garantierte, es war eine wesentlich heiklere Angelegenheit als konstruktiver Republikanismus. Document No. 2 weichte die republikanische Orthodoxie auf. Spätestens ab September 1922 plante de Valera, Document No. 2 zu einem geeigneten Zeitpunkt als Basis für Friedensverhandlungen wiederzubeleben.540 Der IRA-Exekutive erklärte er schon kurz vor Gründung der republikanischen Gegenregierung: „The only public policy necessary for the moment is the policy of maintaining the Republic and the sovereign Independence of the Nation, but in private. . ..“. „In private“ solle die IRA sich auf einen Kompromiß im Sinne von Document No.2 vorbereiten.541 Im Februar 1923 veröffentlichte de Valera schließlich seinen Vorschlag, Document No.2 zur Grundlage eines Verhandlungsfriedens zu machen.542 Gegenüber den republikanischen Dogmatikern versuchte de Valera, dieses Abweichen von „the Republic“ durch die Rhetorik von „national unity“ erträglich zu machen. Dabei nutzte de Valera die offensichtliche realpolitische Schwäche von Document No. 2, um durch die Hintertür zumindest einige Bilder des orthodoxen Republikanismus wieder einzuführen: Falls England Document No.2 nicht akzeptiere, würde ein Krieg gegen den gemeinsamen Feind die irische Nation, Vertragsbefürworter- und -gegner, erneut vereinen.543 Dennoch geriet de Valera in Widerspruch zu sich selbst: Er relativierte die spirituelle Republik, die er als Präsident der revolutionären Gegenregierung öffentlich verkörperte. IRA-Chef Lynch und andere führende IRA-Aktivisten lehnten Document No. 2 deshalb kategorisch ab. Document No. 2 war für sie „like a red rag before a bull.“544 Vor allem Lynch ärgerte sich darüber, daß de Valera versuchte, die politische Initiative zurückzugewinnen und
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FLK, DeV, 1444/1, de Valera an Mary MacSwiney, 11. September 1922. FLK, DeV, 208, de Valera an Lynch und alle Mitglieder der IRA-Exekutive, 12. Oktober 1922; vgl. FLK, DeV, 239A, de Valera an Patrick Ruttledge, 15. Dezember 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 20. Februar 1923; IRISH INDEPENDENT, 17. Februar 1923, S. 7. IRISH INDEPENDENT, 17. Februar 1923, S. 7; FLK, DeV, 298, Interview mit DAILY MAIL, Fassung vom 23. Januar 1923. FLK, DeV, Mary MacSwiney an de Valera, 7. März 1923, Ausschnitt aus einem Brief eines IRA-Offiziers aus Munster an Mary MacSwiney.
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den Führungsanspruch der IRA zu untergraben.545 Auch dogmatischere Politiker waren durch de Valeras offene Rückkehr zu Document No. 2 irritiert. Der Bruder von Frank Gallagher, Roland, war so entsetzt von de Valeras „readiness to compromise on the vital issue“, daß er seine Position als Publicity-Agent in Cork aufgab.546 Wie er war auch Mary MacSwiney eher bereit, den Krieg abzubrechen, als mit Document No.2 einen zweiten „split“ zu riskieren. Während de Valera sich über das Unverständnis der IRA ärgerte, argumentierte Mary MacSwiney: Railing at their common sense, their want of understanding won’t do any good. They would be the men of Faith, the men who count and who can be relied to stick out. They will not yield for you or me or anyone till they are convinced the Republic is safe.547
Erzbischof Mannix von Melbourne war einer der wenigen einflußreichen Sympathisanten, die de Valera unterstützten. Doch bis sein Brief aus Australien die republikanische Propaganda erreichte, war es bereits Mitte April und de Valeras Initiative längst gescheitert.548 Genauso schwiegen die einflußreichen Führer der „neutralen“ IRA zum Thema Document No. 2, und das, obwohl sie de Valeras Vorschlag für eine hervorragende Idee hielten. Damit revanchierten sie sich nicht nur dafür, daß de Valera ihre Friedensinitiativen hintertrieb, sie kalkulierten auch realistisch: Document No. 2 habe keine Breitenwirkung.549 Die Freistaatsführung nutzte Document No. 2 nicht für etwaige Friedensverhandlungen, sondern für ihre Propaganda. Dabei ging FitzGerald sehr geschickt vor: Er ließ eine nicht sichtbar gekürzte Version von de Valeras Vorschlag im Freeman’s Journal veröffentlichen. Seine vorgetäuschte Toleranz untergrub dabei de Valeras Vorwurf, in der freistaatlichen Presse herrsche eine rigide Informationskontrolle.550 Gleichzeitig garantierte die unsichtbare Informationskontrolle, daß die Leser nichts von de Valeras überzeugenderen Ideen erfuhren. FitzGerald unterdrückte die Passagen, in denen de Valera propagierte, den Eid und den britischen Governor General zu ignorieren und gegenüber Großbritannien eine Politik des permanenten
545 546 547 548 549 550
FLK, DeV, 287/1, Lynch an de Valera, 6. März 1923; de Valera an Lynch, 7. März 1923; vgl. HOPKINSON, Green, S. 234. FLK, DeV, 307; Roland Gallagher an Brennan, 24. Februar 1923. FLK, DeV, 273; Mary MacSwiney an de Valera, 7. März 1923. EIRE, 14. April 1923, S. 1. NAI, Sinn Fein, 1094/6/1, Director Intelligence an de Valera, 11. Mai 1923. Vgl. NAI, DFA, PG/IFS, box 4, captured documents, „B“, Entwurf eines freistaatlichen Propagandaartikels von „FTC“, 17. Februar 1923.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
Formbruchs einzuschlagen.551 Dagegen begründete FitzGerald mit der gekürzten Fassung von de Valeras Vorschlag zwei Lieblingsargumente der vertragsbefürwortenden Propaganda neu: De Valera leide an einer „disinclination to face facts“ und schicke die IRA-Aktivisten für den „shadow“, Document No. 2, in den Tod.552 De Valeras Friedensangebot zeige, wie kriegsmüde die Republikaner inzwischen seien.553 Obwohl de Valera nach dem erneuten Scheitern von Document No. 2 deprimiert seine ganze Machtlosigkeit spürte, hoffte er immer noch auf einen realpolitischen Ausweg aus dem Bürgerkrieg. Diesmal distanzierte er sich nicht mehr nachträglich von Document No.2.554 Als sich die Exekutive der IRA Ende März heimlich traf, war auch de Valera anwesend. Auch wenn Lynch dem Politiker vorsichtshalber kein Stimmrecht zubilligte, unterstütze de Valera die „Realisten“ in der IRA-Exekutive. Sie hatten schon Ende Februar versucht, Lynch davon zu überzeugen, mit dem Freistaat zu verhandeln und notfalls aufzugeben. Dieses letzte Treffen der IRA-Exekutive unter Lynch war bewegter als jedes andere zuvor. Die Vorstellungen der emotional und körperlich erschöpften Aktivisten lagen weit auseinander. Während Tom Barry vorschlug, den bewaffneten Kampf gegen den Freistaat einzustellen, setzte Lynch weiter auf „no surrender“. Ihm gelang es, eine knappe Mehrheit der IRA-Exekutive davon zu überzeugen, weiterzukämpfen und seine aktuellen Berichte aus dem angeblich so siegreichen republikanischen Westen abzuwarten. Damit hatte Lynch einen letzten Aufschub bekommen.555 Wenige Tage später erschossen Freistaatstruppen Lynch in der Nähe von Newcastle. Die „fight to the finish“ -Aktivisten der IRA hatten damit ihren mächtigsten, optimistischsten und ausdauerndsten Vertreter verloren.556 Sein Nachfolger Frank Aiken,557 der Ende März noch gegen einen Waffenstillstand gestimmt hatte, erwies sich schnell als loyaler de Valera-Mann.558
551 552 553 554 555 556 557
558
AN POBLACHT-WAR NEWS, 20. Februar 1923; IRISH INDEPENDENT, 17. Februar 1923, S. 7. UNITED IRISHMAN, 22. Februar 1923, S. 4. FREEMAN’S JOURNAL, 17. Februar 1923, S. 4. FLK, DeV, 277, de Valera an Miss Ellis, 26. Februar 1923. HOPKINSON, Green, S. 237 f.; vgl. S. 235 f.; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 296–301. HOPKINSON, Green, S. 239. Frank Aiken (1898–1983): geboren in Armagh; Mitglied der Irish Volunteers seit 1914; Kommandant der vierten nördlichen IRA Division ab 1921; nach Ausbruch des Bürgerkriegs erst neutral, dann vertragsablehnend; im April 1923 Nachfolger Lynchs als Chief of Staff der IRA; 1932–1945 Verteidigungsminister; 1945–1948 Finanzminister; 1951–1954 und 1957–1969 Außenminister; starb 1983 in Dublin, zusammengefaßt, nach: BOYLAN, Dictionary, S. 2. MURRAY, Voices, S. 270 f.; O’DONOGHUE, No Other Law, S. 296.
II. Realpolitik?
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Beim nächsten Treffen der IRA-Exekutive setzten sich die Realisten durch. Obwohl es im republikanischen Lager immer noch genügend Aktivisten gab, „[who] refuse[d] absolutely to believe it“559, beauftragte die IRAFührung de Valera, mit dem freistaatlichen Executive Council zu verhandeln. IRA und de Valera erklärten Ende April ein „einstweiliges Ende der Offensive“.560 Während de Valera nach Lynchs Tod in einer Ansprache an die IRA noch einmal auf die orthodoxe Rhetorik des „death before dishonour“ zurückgriff561, bereitete die republikanische Propaganda bereits im ersten Nachruf auf Lynch einen neue Politik vor. Sie rückte von der Rhetorik des militärischen Sieges ab. Ein Verhandlungsfriede werde die „minimum principles of patriotism“ garantieren: The political future of Irish Freedom we now regard as full of hope. The military work of the IRA has achieved its purpose. It has [preserved] the full claim of the Irish Republic. Ireland never accepted the treaty by an election.
Die Propaganda machte damit aus der militärischen Niederlage der IRA einen symbolischen Sieg im Sinne von 1916: „The republican strength [is] increased by martyrdom and suffering.“562 Zwei Wochen später trennte die republikanische Propaganda auch sprachlich zwischen dem militärisch unerreichbaren „immediate victory“ und dem historisch unvermeidbaren „ultimate and inevitable victory“.563 Zeitgleich mit dem Ende der Offensive machte de Valera der Freistaatsführung einen weiteren Verhandlungsvorschlag. Dabei stütze er sich auf eine Reihe „fundamentaler Prinzipien“: 1. That the sovereign rights of this nation are indefeasible and inalienable. 2. That all legitimate governmental authority in Ireland, legislative, executive, and judical, is derived exclusively from the people of Ireland. 3. That, as a practical rule of order and democratic government, political issues shall be decided by majority vote of the duly elected representatives of the people, subject always to the right of referendum and appeal directly to the people and to an understanding that 1 and 2 are fundamental.
De Valera gestand darüber hinaus einer so gewählten Regierung ein uneingeschränktes Gewaltmonopol zu. Dazu forderte er, den Treueid auf den 559 560 561 562 563
FLK, DeV, 1444/2, Anne MacSwiney an de Valera, 26. April 1923; vgl. FLK, DeV, 273, Mary MacSwiney an de Valera, 11. April 1923. FLK, DeV, 293, de Valera, Proklamation, 27. April 1923. FLK, DeV, 287/2, de Valera, adress to the army, 12. April 1923: „[. . .] better to die nobly, as your Chief died, than live as slaves.“ EIRE, 21. April 1923, S. 5. EIRE, 5. Mai 1923, S. 5.
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englischen König abzuschaffen, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit zu garantieren.564 Wieder zeigte sich de Valeras Fähigkeit zur Ambivalenz und Mehrdeutigkeit, die einen anglo-irischen Beobachter dazu veranlaßte, sein Angebot als „one of the most amusing documents ever published“ zu bezeichnen.565 De Valera verzichtete bewußt auf die Standardformeln der republikanischen Rhetorik. Er griff scheinbar auf die Sprache seiner politischen Gegner zurück: „Majority rule“, „liberal rights“ und Gewaltmonopol des Staates. Doch nicht ohne Widerhaken, nicht ohne die Bedeutung dieser Schlüsselbegriffe neu zu definieren: Die „fundamentalen“ Artikel 1 und 2 garantierten eine republikanische Version von „Volkssouveränität“, nämlich den Ausschluß der britischen Königs aus der Verfassung. Damit formulierte de Valera erneut die Position von „Document No.2“, ohne das Reizwort selbst auszusprechen.566 Diese Taktik, die Essenz von Document No.2 in freistaatlicher Terminologie zu verstecken, war eine für de Valera typische Beschwörungsformel, mit der er versuchte, wenigstens den Beginn von Verhandlungen zu ermöglichen. Letztlich sollte de Valeras wortreicher Vorschlag nur Verhandlungsmasse erzeugen, um eine zentrale Minimalforderung durchzusetzen: Die Abschaffung des Treueids, der wie kein zweites Hindernis die Republikaner von der Teilnahme am Freistaat ausschloß.567 Wollte de Valera die republikanischen Dogmatiker damit täuschen, so hatte er damit wenig Erfolg: Mary MacSwiney etwa bombardierte de Valera und die IRA-Führung mit einer ganzen Serie von Protestbriefen. Sie wehrte sich gegen jede Art von Verhandlungen mit dem „Murder Ministry“ und verlangte von de Valera, den Primat von „the Republic“ über „majority rule“ viel unmißverständlicher zu formulieren: „Make that clear to the meanest intelligence which may not understand the word fundamental and will not bother to refer back to ‚1 and 2‘.“568 Allein die Freistaatsführung verhinderte, daß diese prinzipielle Kompromißunfähigkeit der Dogmatiker zu einem neuen Bruch im republikanischen Lager führte. Auch ihr gegenüber scheiterte de Valera an den bekannten Problemen: Nicht das Executive Council, sondern die britische Regierung 564 565 566 567 568
FLK, DeV, 273, Fassung aus DAILY BULLETIN, 10. Mai 1923. THE ROUND TABLE, XIII, no. 51 (Juni 1923), S. 567. Vgl. dazu: FLK, DeV, 268/1, de Valera an Patrick Ruttledge, 19. Mai 1923. Vgl. auch: TCD, CP, 7847–51/ 183, Mary Childers an Herausgeber FREEMAN’S JOURNAL, IRISH TIMES und IRISH INDEPENDENT, 9. März 1923. FLK, DeV, 273, Mary MacSwiney, Memo [dreizehnseitig!] an Kabinett und Army Council, 16. Mai 1923.
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stand hinter dem Eid auf den britischen König. Dazu hatte die Freistaatsführung gute Gründe, daran zu zweifeln, daß de Valera einen Kompromiß im eigenen Lager würde durchsetzen können. So kommentierte Regierungschef Cosgrave bereits im März gegenüber seinem Freund Erzbischof Byrne von Dublin: „We have now over 10 000 [prisoners]. These [. . .] are so ridiculous in their notions that they might want some thousand different peace arrangements.“569 Selbst wenn ein einziger Friedensvertrag gereicht hätte: Das freistaatliche Executive Council hatte überhaupt kein Interesse, sich mit den republikanischen Politikern zu einigen und so de Valera und seine Anhänger wieder politik- und salonfähig zu machen.570 Soweit die Republikaner davon betroffen waren, wollte die Freistaatsregierung den Treueid gar nicht beseitigen: Er garantierte weniger verinnerlichte Treue zum britischen König als stabile Mehrheiten für die Vertragsbefürworter: Solange der Eid die Republikaner wie eine magische Zauberformel aus dem Dail fernhielt, brauchte die Regierungspartei keinen Koalitionspartner, konnte alle Gesetze mühelos verabschieden.571 Dennoch geriet die Freistaatsführung durch das von der Irish Times bereits am 28. April 1922 veröffentlichte Angebot de Valeras unter Druck. Sie mußte verhindern, als unnachgiebiger Aggressor zu erscheinen.572 Das Executive Council beobachtete genau die Reaktion der irischen und britischen Presse573, holte ausführliche Memoranden von Innenminister O’Higgins und seinem ehemaligen Rechtsberater, jetzt Generalstaatsanwalt, Kennedy ein. Diese Memoranden definierten den Tenor der freistaatlichen Propaganda zu de Valeras Friedensvorschlag. Sie verstanden de Valeras Version von staatlicher Souveränität, „liberal rights“ und „majority rule“ absichtlich miß und schlossen sie mit ihrer freistaatlichen Definition der Termini kurz: [They] are guaranteed by the Constitution and therefore should have no place in peace conditions.574 Even a belated acceptance of these principles by Mr. de Valera and his associates is welcomed by the Government.575
569 570 571 572 573 574 575
FLK, DeV, 1319, Cosgrave an Erzbischof Byrne, 18. März 1923. UCD, MP, P7/B/177, DUBLIN DOINGS, 31. Mai 1923; vgl. UNITED IRISHMAN, 5. Mai 1923, S. 5; 12. Mai 1923, S. 4; 19. Mai 1923, S. 1. HOPKINSON, Green, S. 261; vgl. auch Kritik daran, in: IRISH STATESMAN, 22. Dezember 1923, S. 454. IRISH TIMES, 28. April 1922, S. 6. NAI, D/T, S-2210, English press survey, 10. Mai 1923. UCD, FGP, P80/298, Executive Council an Andrew Jameson, 8. Mai 1923. NAI, D/T, S-2210, Memo O’Higgins an Cosgrave, ca. 29. April 1923; UNITED IRISHMAN, 5. Mai 1923, S. 5; UCD, KP, P4/549, Kennedy, draft reply to de Valera, ca. 15. Mai 1923; EIRE, 19. Mai 1923, S. 5.
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Wieder hatte de Valera nichts erreicht, außer seine Kompromißbereitschaft öffentlich demonstrieren zu können. Soweit waren alle militärischen und politischen Strategien von IRA und Republikanern gescheitert. Den Republikanern blieb nichts anderes übrig als aufzugeben. Aber wie? Wie konnte de Valera republikanischen Dogmatikern wie Mary MacSwiney den Unterschied vermitteln „between what one desires and what one has means to accomplish“?576 De Valera hatte mittlerweile eine beachtliche Übung im ambivalenten Sprechen, auch wenn er bisher damit wenig Erfolg gehabt hatte. Hatte sein Friedensvorschlag Ende April noch republikanische Positionen hinter einer realpolitischen Rhetorik verschleiert, so ging de Valera jetzt den umgekehrten Weg: Er formulierte Realpolitik in den Bildern des dogmatischen Republikanismus. Am 24. Mai 1923 erklärte de Valera einen einseitigen Waffenstillstand: Soldiers of Liberty – Legion of the rearguard: The Republic can no longer be defended by your arms. [. . .] Your efforts and the sacrifices of your dead comrades in this forlorn hope will surely bear fruit. You have saved the nation’s honour and kept open the road to Independence. [. . .] You will yet see [the people] recover and rally again to the standard.[. . .] What you endure will keep you in communion with your dead comrades who gave their lives [. . .] for Ireland. May God guard every one of you and give to our country in all times of need sons who will love her as dearly and devotedly as you.577
Mit de Valera bis aufs Wort abgesprochen, erklärte auch der neue Chief of Staff der IRA Frank Aiken am selben Tag den Krieg für beendet.578 Beide Proklamationen erschienen in der Tagespresse und in vielen Provinzblättern.579 Die Freistaatsregierung hatte in diesem Fall ein offensichtliches Interesse, republikanische Propaganda unbearbeitet zu tolerieren, ja selbst an die Presse weiterzuleiten.580 Mit gutem Recht: Denn de Valeras und Aikens Proklamationen waren so gut gelungen, daß auch die unnachgiebigen IRAEinheiten den Guerillakrieg beendeten, die noch nicht von selbst aufgegeben hatten.581
576 577 578 579 580 581
FLK, DeV, 273, Randnotiz de Valeras auf einem Brief Mary MacSwineys, 15. März 1923; vgl. FLK, DeV, 287/2, de Valera an Mary MacSwiney, 21. Mai 1923. FLK, DeV, 287/2, de Valera to all ranks, 24. Mai 1923. FLK, DeV, 287/2, Frank Aiken to all ranks, 24. Mai 1923; vgl. NAI, S-1859, Frank Aiken to all officers, 28. Mai 1923. EIRE, 9. Juni 1923, S. 1; exemplarisch: IRISH INDEPENDENT, 29. Mai 1923, S. 4. IRISH TIMES, 29. Mai 1923, S. 7. NAI, S-3361, army report for week ending, 5. Mai 1923; ebd., general report, 16. Juni 1923; 30. Juni 1923; 14. Juli 1923; 28. Juli 1923; 20. September 1923.
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Das Pathos von de Valeras Proklamation lädt noch heute zum Spott ein.582 Vor allem die freistaatliche Propaganda machte sich über de Valeras „swansong of Irregularism“ lustig. Obwohl de Valera den Krieg verloren und das Land zerstört habe, sei er immer noch zu einer „pompous phraseology full of fighting images“ fähig.583 Auch die Tagespresse wertete de Valeras pathetische Proklamation als das, was sie war: ein Eingeständnis, daß der Freistaat den Bürgerkrieg militärisch gewonnen hatte.584 Doch so amüsant und nachvollziehbar dieser Spott auch ist; leicht geht darüber de Valeras politische Leistung verloren, seine „legendary ability to speak simultaneously to the men of faith and the men of reason.“585 Jedes Wort hatte sich de Valera mehrmals überlegt, immer wieder an verschiedenen Versionen seiner Erklärung gearbeitet.586 Schließlich gelang ihm ein Sprachspagat, der der radikalen IRA einen Ausstieg aus dem Krieg bahnte, der in ihren Augen sinnvoll und ehrenhaft war. Während Lynch in der Rhetorik angeblicher militärischer Fakten den endlosen Kampf für „the Republic“ begründet hatte, machte de Valera Realpolitik dadurch möglich, daß er die von der Freistaatspropaganda verspotteten „fighting images“ des kompromißlosen Republikanismus benutzte. De Valeras gelang es, einen Waffenstillstand zu verkünden, der keinen Verrat an der Republik und keine Aufgabe der Waffen verlangte. Er besetzte die Tradition der republikanischen Märtyrer und beendete gleichzeitig die republikanische Martyrologie – bis zur nächsten Generation. Was läßt sich zur republikanischen Handlungskrise festhalten? Nach dem Angriff auf die Four Courts funktionierte das republikanische Geschichtsgesetz offenbar nicht schnell genug, um den Krieg zu gewinnen. So suchten die Republikaner nach Wegen, um dem Geschichtsgesetz nachzuhelfen. Sozialistische Republikaner, IRA-Aktivisten und republikanische Politiker erwogen dazu eine ganze Reihe teilweise widersprüchlicher Strategien. Dabei waren es die gemäßigteren Politiker um de Valera, die am ehesten bereit waren, die Vorgaben von „the Republic“ umzudeuteten und aufzuweichen. Sie suchten trotz unnachgiebiger Rhetorik schon früh einen politischen Ausweg aus dem Bürgerkrieg. Zunächst gründete de Valera widerwillig eine republikanische Gegenregierung und entwickelte wenig später ein soziales Programm, um den dogmatischen Republikanismus 582 583 584 585 586
LITTON, Civil War, S. 122: „another proclamation praising the IRA“. UCD, MP, P7/B/177, DUBLIN DOINGS, 31. Mai 1923. IRISH INDEPENDENT, 29. Mai 1923, S. 4. GARVIN, 1922, S. 50. FLK, DeV, 262, Entwürfe der Proklamation, 22. Mai 1923 (2 Versionen); 23. Mai 1923; 24. Mai 1923; undatiert.
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attraktiver zu machen. Doch die ineffiziente Propagandamaschinerie, die unter dem Druck der freistaatlichen Verfolgung schließlich völlig zusammenbrach, machte es de Valera fast unmöglich, seine politischen Initiativen zu propagieren. Neugründungen wie das in Schottland hergestellte Blatt Eire änderten daran nur wenig. Anfang 1923 begann de Valera deshalb, immer weiter von der reinen Lehre der Republik abzuweichen. Im Februar kehrte er öffentlich zu Document No. 2 zurück, danach versuchte er vergeblich, republikanische Minimalforderungen durchzusetzen. Da der bewaffnete Kampf der IRA immer aussichtsloser wurde, ließ die IRA sich schließlich von de Valera überzeugen, den Bürgerkrieg einseitig abzubrechen. De Valera erwies sich dabei als regelrechter Sprachkünstler: In Document No. 2 formulierte er den Vertrag in einer gemäßigt republikanischen Terminologie. In seinem Friedensvorschlag Anfang Mai propagierte er Document No. 2 auf Freistaatlich. In seiner Waffenstillstandserklärung erklärte er dann den zeitweisen Sieg des Freistaats auf Republikanisch. Während er mit dieser Fähigkeit zur Ambivalenz vor dem Bürgerkrieg immer wieder gescheitert war, machte sie ihn in den folgenden Jahrzehnten zu Irlands erfolgreichstem Politiker.
III. PRAGMATISMUS UND DIE KONSTRUKTION FREISTAATLICHER SOUVERÄNITÄT Anders als die Republikaner hatte das freistaatliche Executive Council keine Probleme mit pragmatischen und am realpolitischen Erfolg orientierten Handlungsstrategien. Doch die Geschichten, die die freistaatliche Propaganda noch erzählen konnte, waren, wie schon mehrfach gezeigt, reichlich prosaisch und rational. Die freistaatliche Propaganda konstruierte nationale Legitimität über Umwege, über eine Reihe leicht angreifbarer Versatzstücke: Materielle Vorteile ließen sich als britisch definieren. Die Politik des Freistaats untergrub die ohnehin schon in sich brüchige „majority rule“- und „liberal rights“-Argumentation: Der Freistaat internierte politische Gegner, zensierte und erpreßte die Presse, verschob das Parlament monatelang. Prominente Kritiker wie Erzbischof Mannix unterliefen das katholische Argument und die freistaatliche „law and order“-Rhetorik ließ sich auch subversiv lesen, als „British Law and Orange Order“. Legitimatorisch am verheerendsten war der Einsatz von Zwangsmitteln, die die nationale Tradition als eindeutig britisch identifizierte. Durch sie be-
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kam das Executive Council den Krieg zwar zunehmend militärisch unter Kontrolle. Doch sie geriet gleichzeitig in eine Legitimationskrise, die sich nach den vier Repressalmorden akut verschärfte. Am besten konnte sich der Freistaat bei vielen kritischen Iren noch ex-negativo definieren: Der republikanische Terror und Rigorismus boten keine realpolitische Alternative. Auch der überzeugte Vertragsbefürworter Patrick O’Hegarty diagnostizierte dem Freistaat eine Legitimationskrise: The Irregulars were allowed to annex, without dispute, every nationalist principle and phrase which had been the common property of the separatist movement for generations. The people who were striking at the very life of the nation were allowed to pose as pure-souled patriots while those who upheld the nation did so in a sort of sackcloth – and ashes.587
Doch anders als O’Hegarty vorgab, fehlte es dem Freistaat nicht an einer effizienten Propagandamaschinerie: Die Propaganda und Pressekontrolle des Freistaats war in den letzten Monaten des Bürgerkrieges fast reibungslos organisiert und erreichte bald auch die Provinz. Was die Vertragsbefürworter brauchten, war ein durchschlagendes Propagandakonzept. Für ihre Propaganda fehlte der Freistaatsführung lange ein integratives Schlagwort, das der Mehrheit der Bevölkerung eine ähnlich große Projektionsfläche bot wie „a republic“, „self-determination“ oder Home Rule. „Freistaat“ beziehungsweise „Nation“ sollte diese Funktion übernehmen. Doch dabei wurden die Propagandisten immer wieder mit der symbolischen und faktischen Beschränkung der irischen Souveränität durch den Vertrag konfrontiert. Ich werde zeigen, wie die Vertragsbefürworter versuchten, dieses Problem durch symbolische Politik zu lösen: Sie besetzten die nationale Flagge und die nationale Hymne, erfanden nationale Briefmarken, Postkästen und Uniformen. Dazu inszenierten sie an nationalen Feiertagen ihre staatliche Souveränität in Militärparaden und Sportfesten. Neben der rein symbolischen Politik untersuche ich auch die symbolische Ebene der freistaatlichen Realpolitik. Ich beschreibe, wie die Freistaatsführung über den Einsatz für die irische Sprache und eine demonstrativ „souveräne“ Scheinaußenpolitik „Irishness“ herstellte. Außerdem versuchte sie, ihre Innenpolitik als national darzustellen, um so an die revolutionäre Tradition anzuknüpfen. Doch „Staat“ wurde für die vertragsbefürwortende Elite bald mehr als nur Propaganda, sie wurde zu dem zentralen und nicht hinterfragbaren Dogma ihres Denkens.
587
O’HEGARTY, Victory, S. 142.
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1. „STAAT“: SOUVERÄNE NATION ODER DEMONTAGE DER REPUBLIK? Ohne integratives Schlagwort bündelte die freistaatliche Propaganda die verschiedenen Versatzstücke ihrer Legitimation auf ein Abstraktum: den „Freistaat“. Der Freistaat war nach dieser Logik „vernünftig“, garantierte das materielle Wohl der Bevölkerung, „liberal rights“, „law and order“, eine nationale Aufbaupolitik, beruhte auf dem „will of the people“ und dem kirchlichen Segen. Doch die Propagandisten machten „Freistaat“ nicht nur zum Ziel, sondern in einem Zirkelschluß auch zum Ausgangspunkt freistaatlicher Legitimität: Weil der Freistaat ein souveräner Staat war, hatte er das Recht, materielle Vorteile, „law and order“ und „liberal rights“ zu gewähren, hatte er Anspruch auf die Loyalität der Bevölkerung und auf den kirchlichen Segen. So machten die Propagandisten souveräne Staatlichkeit als solche zum legitimierenden Argument.588 Aber „Freistaat“ war trotz seiner rationalen Versatzstücke kein rationales und verfassungspatriotisches, sondern ein nationales Konzept. Es definierte sich über nationale Unabhängigkeit und Volkssouveränität. Über das Konzept „Freistaat“ wollten sich die Vertragsbefürworter so die Definitionsmacht darüber sichern, was „Irland“, was „Nation“ bedeutete. So sollte es nationale Emotionen freisetzen und die kopfgesteuerte Legitimation der Vertragsbefürworter an historische Gesetzmäßigkeiten ankoppeln: an die Tradition irischer Staatlichkeit vor der Invasion und an eine erfolgreiche Revolution seit 1916. Damit sollte „Freistaat“ die oben ausgeführte Tradition des „being against the Government“ durchbrechen, die wie so viele traditionelle Definitionen von Gut und Böse die freistaatliche Legitimation erschwerte.589 Britische Beobachter, die erwartet hatten, Irland werde sich über seine neue Rolle im Commonwealth definieren, reagierten verwirrt: There is a little of what I can only describe as camouflage, much as I dislike the word. A lack of readiness to admit frankly the real facts. Ireland is a member of the Commonwealth of Nations which forms the British Empire, with the King as its head. I sometimes think there is a tendency to endeavour to cloak that fact as if it were a disgraceful secret.590
Was auch der britische Beobachter auf seine Weise erkannte: Wollten die Propagandisten mit „Freistaat“ Propaganda machen, bekamen sie legiti-
588 589 590
O’HEGARTY, Victory, S. 156–60, 180. UCD, FGP, P80/298, Entwurf einer Rede, 15. Februar 1923; O’HEGARTY, Victory, S. 156–60, 180, insbes., S. 157, 180; IRISH INDEPENDENT, 24. November 1922, S. 5. THE ROUND TABLE, XIV, no. 55 (Juni 1924), S. 526; vgl. ebd., S. 530.
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matorische Schwierigkeiten. Sie waren in der Tat darauf angewiesen, ihr „disgraceful secret“, die Mitgliedschaft im britischen Empire zu tarnen. Das begann schon mit der britisch konnotierten Vokabel „Staat“, die die offizielle Terminologie meist durch „Nation“ ersetzte.591 Darüber hinaus untergruben viele der konkreten Geschichten, die sich über den neuen Staat erzählen ließen, die nationale Legitimation der Vertragsbefürworter. So übernahm der Freistaat die britische Gesetzgebung sowie die Struktur, Verfahrensweise und fast das gesamte Personal der britischen Ministerialbürokratie: 1923 stammten noch achtundneunzig Prozent, 1934 immer noch fünfundvierzig Prozent der Bürokraten aus der Zeit vor 1922. Nicht einmal in diesem Punkt wagte das freistaatliche Executive Council eine „stepping-stone“-Politik. Es hielt am bewährten System fest, ersparte sich teure Entschädigungszahlungen und setzte auf die erfahrenen Bürokraten. Die waren meist Unionisten, häufig Engländer, dafür sehr wahrscheinlich keine Republikaner. Patrick O’Hegarty, der die freistaatliche Legitimationskrise oben mit einer ineffizienten Propagandamaschinerie begründet hatte, mußte dieses Problem eigentlich kennen: Er war der einzige Verwaltungschef eines Ministeriums, der aus der revolutionären Untergrundadministration Dail Eireanns stammte.592 Gegen die zunehmende Frustration seiner so auch in ihren Karrieremöglichkeiten blockierten Anhänger konnte der Freistaat nur schwer offen argumentieren. Die Freistaatspropagandisten verschwiegen daher das unangenehme Thema.593 Besonders unangenehm waren die Geschichten über den neuen Staat da, wo der Freistaat die Reste der Untergrundrepublik beseitigte. Etwa, als die Freistaatsführung beim ersten Treffen des „dritten Dail“ auch offiziell die ehemals revolutionäre Regierung der Republik auflöste. Doch während sich die Provisorische Regierung früher oder später zwangsläufig von ihrer republikanischen Fassade trennen mußte, beseitigte sie auch republikanische Institutionen, die im Freistaat hätten weiter existieren können.594 Der spektakulärste Fall war die Demontage der republikanischen Untergrundgerichte Ende Juli 1922.
591 592 593
594
YOUNG IRELAND, 23. Dezember 1922, S. 2; DAIL DEBATES, FitzGerald, 27. September 1922, S. 809 f.; Sean Milroy, 27. September 1922, S. 818, 821. FANNING, Department of Finance, S. 36–59; FOSTER, Modern Ireland, S. 522; VALIULIS, After the Revolution, S. 135 f.; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 167 f. VALIULIS, After the Revolution, S. 135–42; vgl. dazu auch die Kritik heutiger Anti-Revisionisten, exemplarisch: DECLAN KIBERD, Post-colonial Ireland – ‘Being different‘, in: DALTÚN O’CEALLAIGH (Hrsg.), Reconsiderations, S. 94–112, hier insbes.: S. 94 f. THE ROUND TABLE, XII, no. 47 (Juni 1922), S. 511.
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Die sogenannten Dail Courts, republikanische Schiedsgerichte, waren die Erfolgsgeschichte der konstruktiven Arbeit der Untergrundrepublik: Sie hatten während des Unabhängigkeitskrieges fast die gesamte niedere britische Gerichtsbarkeit ausgehebelt.595 Nach Ausbruch des Bürgerkrieges instrumentalisierten einige republikanische Richter und Anwälte, unter ihnen Comyn, das ehemals revolutionäre Gerichtssystem. Sie erwirkten beim republikanischen Supreme Court Verfügungen nach Habeas Corpus für internierte IRA-Aktivisten. So unter Druck gesetzt, hob die Provisorische Regierung den Habeas Corpus Act auf und verhinderte das Fortbestehen der ehemals revolutionären Dail Courts.596 Den wichtigsten sichtbaren Erfolg und damit auch das wichtigste Symbol der „existing Republic“ zu beseitigen, das war eine Politik, die nicht nur republikanische Sympathisanten erregte. Selbst Gavan Duffy, Außenminister und Unterzeichner des Vertrages, war das zu viel. Er trat Ende Juli 1922 zurück.597 Auf Grund der hohen Sensibilität des Themas versuchte die Freistaatsführung noch während des Bürgerkrieges, den legitimatorischen Schaden durch das Ende der Dail Courts zu begrenzen. Ab Januar 1923 arbeiteten die Rechtsexperten um Kennedy an einem neuen „irischen“ Gerichtssystem. Das war mehr als was ein britischer Beobachter als „change for the sake of a change“ verspottete.598 Zugegeben, in der Substanz änderte sich wenig in dem nun gestrafften und etwas vereinfachten System. In den neuen Gerichten galten nicht das irische Brehon Law des gälischen Mittelalters, sondern britische Verfahrensweisen, britische Präzedenzfälle und das britische Common Law. Aber das allein war noch kein Bruch mit der revolutionären Tradition. Auch die Dail Courts hatten sich an der britischen Justiz orientiert.599 Entscheidend war, wie die freistaatlichen Rechtsexperten die meisten formalen Elemente der britischen Herrschaft beseitigten und somit „Irishness“ herstellten. Zur Irritation britischer Beobachter waren in den Gerichten,
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KOTSONOURIS, Retreat, S. 19. Zum Ende der republikanischen Gerichte grundlegend: KOTSONOURIS, Retreat, S. 13 f., S. 81–6; FLK, DeV, 201, Pamphlet, the proceedings and judgements of the Supreme Court of the Irish Republic [. . .], ca. August 1922. NAI, D/T, S-1393, Gavan Duffy an Cosgrave, 16. Juli 1922; vgl. ebd.: Gavan Duffy an Cosgrave, 20. Juli 1922; Gavan Duffy an Collins, 24. Juli 1922. THE ROUND TABLE, XIV, no. 53 (Dezember 1923), S. 92. KOTSONOURIS, Retreat, S. 108–35, insbes. 112, 133; TWOMEY-RYAN, Church, S. 106; LEE, Ireland 1912–1985, S. 127 f.
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wie im irischen Parlament, „pomp and panoply [. . .] and the formalities [that] inspired respect“, verschwunden. An den niederen Gerichten trugen die Richter nicht einmal mehr Perücken.600 Die Hierarchie der Gerichte orientierte sich an der Organisation der revolutionären Dail Courts, die meisten Termini und Symbole waren gälisiert, nicht immer mit durchschlagendem Erfolg: Die angeblich an gälischen Richterhauben des Mittelalters orientierte Kopfbedeckung, die 1926 die britisch konnotierte Perücke ablösen sollte, sorgte für so viel öffentliche Belustigung, daß sie bald wieder aus dem Gebrauch verschwand.601 Auch der zurückgetretene Gavan Duffy schloß jetzt Frieden mit dem neu gälisierten System und machte Karriere. Er wurde schließlich Vorsitzender am freistaatlichen High Court.602 Die symbolische Unterordnung Irlands war während der Vertragsverhandlungen das wichtigste Ziel der britischen Regierung gewesen. Sie wurde schließlich zum entscheidenden Grund für den Bürgerkrieg. Diese Unterordnung schlug sich zwangsläufig auch im grundlegende Text über die freistaatliche Souveränität, also in der Freistaatsverfassung nieder. Der Verfassungstext ließ sich sehr einfach subversiv lesen als „unconditional surrender to King and Empire [which] entrenched the King in every department.“603 Auch wenn das polemisch war: Die symbolische Repräsentation des Königs in der Legislative, der Judikative und der Exekutive des Freistaats prägte tatsächlich die Artikel der Freistaatsverfassung.604 In der Presse und in Dail Eireann fand daher kaum eine grundsätzliche Verfassungsdiskussion statt. Das lag nicht, wie der anglo-irische Intellektuelle George Russle beklagte, an einer „silence of absence of ideas“605, sondern daran, daß es kaum Gestaltungsspielraum für die mit der britischen Regierung zuvor abgesprochene Verfassung gab.606 Die Regierung ver-
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THE ROUND TABLE, XIV, no. 53 (Dezember 1923), S. 92; vgl. ebd., XIII, no.52 (September 1923), S. 791 f.; GARVIN, 1922, S. 171 f. UCD, KP, P4/286, Kennedy an Lord Chief Justice, 23. Juli 1922; ebd., P4/1174, 8. Februar 1923, Kennedy an Lord Chief Justice, 8. Februar 1923; Siehe die auch heute noch komisch wirkenden Photos, in: IRISH INDEPENDENT, 13. März 1926, S. 3; 20. April 1926, S. 3; vgl. GARVIN, 1922, S. 172. KOTSONOURIS, Retreat, S. 132. AN POBLACHT, 22. Juni 1922, S. 4. Vgl. CATHOLIC BULLETIN, Juli 1923, S. 4–16, Verfassungsentwurf, Art. 12, 17, 24, 36, 40, 41, 50, 58, 65, 67, 69, 79. IRISH HOMESTEAD, 16. September 1922, S. 560. VOICE OF LABOUR, 23. September 1922, S. 1; THE ROUND TABLE, XIII, no.52 (September 1923), S. 787; AKENSON und FALLIN, Drafting, no.4, S. 64 f.
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suchte deshalb, den Verfassungstext, so schnell es ging, durch das Parlament zu schleusen. Sie verabschiedete die erste Lesung in zweieinhalb Wochen. Bei den Artikeln, die die britische Krone in der Verfassung verankerten, spielte sich dabei immer wieder dasselbe Ritual ab: Die Labour Party und prominente Regierungskritiker, zu denen jetzt der ehemalige Außenminister Gavan Duffy oder der ehemalige Vorsitzende der Verfassungskommission Darrell Figgis gehörten, versuchten, mit zahllosen Änderungsvorschlägen den britischen König aus der Verfassung zu drängen, bevor sie von der Regierungsmehrheit überstimmt wurden.607 Dabei blieb den Regierungskritikern der Zugriff auf eine wichtige Grundlage ihrer Argumentation abgeschnitten. Sie verlangten vergeblich die Originale der irischen Verfassungsentwürfe zu sehen.608 Die Regierung verhinderte mit massivem Druck auf die Mitglieder der Verfassungskommission, daß die noch stark republikanisch beeeinflussten Entwürfe veröffentlicht wurden.609 Wenn die Freistaatsregierung mit der Verfassung Propaganda machen wollte, dann mußte sie selektiv zitieren610 oder deren realpolitische Essenz sinngemäß in nationalen Formeln zusammenfassen: „the union is dead, the alien power is broken.“611 Um diesen Problemen beim Sprechen über die Verfassung auszuweichen, argumentierte die Propaganda häufig in Bildern. So titelte Young Ireland im Dezember mit einem Weihnachtsmann, der zur Bescherung Freistaat und Verfassung aus dem Sack holt.612 Oder sie argumentierte in einer für die freistaatliche Propaganda sonst seltenen religiösen Metaphorik. Dabei stellte sie die Verfassung als den Baum dar, der gute Früchte trägt: „safety, land, development, law, trade, Irish ideals, progress.“613
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Siehe Debatten zu Artikel: 12, 17, 24, 40, 50, 65, 79, 58, in DAIL DEBATES, 26. September 1922–12. Oktober 1922, S. 761–78; 1038–76; 1082–96; 1168–84; 1274–90; 1401–16; 1457–65; 1616–31; vor allem die Redebeiträge von Cathal Shannon, Thomas Johnon, Gavan Duffy und Darrell Figgis. DAIL DEBATES, Gavan Duffy, 14. September 1922, S. 255; 21. September 1922, S. 534–6; Cathal Shannon, 18. September 1922, S. 354; IRISH INDEPENDENT, 9. Oktober 1922, S. 6. NAI, D/T, S-8959, proposed publication of Draft C, insbes. Secretary Provisional Government an Prof. Alfred O’Rahilly, 12. August 1922; 25. August 1922; 9. September 1922; Alfred O’Rahilly an Provisional Government, 18. August 1922; 2. September 1922; Leserbrief Alfred O’Rahillys an IRISH INDEPENDENT, 18. Oktober 1922; NAI, PG Minutes, G1/3, 11. August 1922; 7. September 1922. Freistaatliche Verfassungspropaganda demontiert, in: AN POBLACHT-WAR NEWS, 9. Februar 1923. YOUNG IRELAND, 9. Dezember 1922, S. 1. Ebd., 23. Dezember 1922, S. 1. Ebd., 28. Oktober 1922, S. 1.
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2. SYMBOLISCHE KONSTRUKTION NATIONALER SOUVERÄNITÄT In seiner Legitimationskrise konnte sich der Freistaat nicht allein auf die über seine staatlichen Institutionen abgesicherte Macht verlassen. Um seine Macht auszuüben, um die Bevölkerung an sich zu binden, war er auf nationale Symbole und Rituale angewiesen.614 Das habe ich oben bereits am Fall der neuen juristischen Etikette ausgeführt. Auch darüber hinaus griffen die Propagagandisten immer wieder auf symbolische Politik zurück; denn was die Vertragsbefürworter schwer sagen konnten, das konnten sie viel leichter singen, noch leichter als Bild und Briefmarke zeichnen oder als Briefkasten anmalen. Genau so ließ sich „Nation“ als Flagge und Uniform tragen oder als Fest oder Beerdigung inszenieren. a) Hymne, Flagge, Briefmarken, Postkästen, Uniformen Neue Revolutionslieder entstanden während des Bürgerkrieges kaum: Die legitimatorisch verunsicherten Vertragsbefürworter produzierten fast überhaupt nichts. Unter den Republikanern erfand nur der Abgeordnete Brian O’Higgins einige mäßig erfolgreiche Songs.615 Die Texte der meisten traditionellen Lieder ließen sich wesentlich leichter in das republikanische als in das freistaatliche Weltbild integrieren. Sie handelten vom Kampf gegen England, vom nationalen Martyrium und vom Leiden in den Gefängnissen. Dennoch versuchten auch die freistaatlichen Propagandisten, die populären Texte, manchmal auch nur Melodien aus der nationalen Tradition zu besetzen;616 denn Revolutionslieder waren mehr als ihr Text und ihre Melodie, sie zitierten Emotionen, stellten so eine direkte Verbindung zur einer revolutionären Vergangenheit her. Schon bald entstand zwischen Republikanern und Freistaatlern ein Konflikt um das moralische Recht an der irischen Revolutionshymne, dem „Soldier’s Song“. Der Freistaat machte den empörten Republikanern „ihre“ republikanische Hymne streitig – auch wenn die Freistaatsarmee im Morgengrauen nicht mehr gegen den „Saxon foe“, sondern gegen ehemalige Kameraden aufbrach. Daß es dem Freistaat letzlich erfolgreich gelang, den
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Vgl. HUNT, French Revolution, S. 52–74, insbes., S. 52–4, 56. ZIMMERMANN, Songs, S. 73; vgl. FLK, DeV, 287/1, Lynch an de Valera, 13. Januar 1923. ZIMMERMANN, Songs, S. 73, „Who fears to speak of treaty week“, nach der Melodie „The Memory of the Dead“; PLAIN PEOPLE, 9. April 1023; S. 2: Neuer Text zur Melodie von „the Wearing of the Green“; EIRE, 21. Oktober 1922, S. 3, Wiederabdruck von Robert Dwyer Joyce, „The Wind that shakes the Barley“; YOUNG IRELAND, 12. August 1922, S. 1, zitiert Thomas Davis, „A Nation Once Again“.
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„Soldier’s Song“ zu besetzen, dabei half ihnen nicht zuletzt der Autor des Liedes, Peadar Kearney. Als Bekannter von Collins unterstütze er den Freistaat, arbeitete zunächst als Gefängniszensor, bis er Ende 1922 wegen seiner starken „stepping-stone“-Überzeugungen den Dienst quittierte. Dennoch bekamen die Vertragsbefürworter eine Reihe von Problemen mit dem „Soldier’s Song“. Wie schon zitiert, paßte der Text des revolutionären, anti-englischen „Soldier’s Song“ nicht mehr ganz zum Programm. Das irritierte die neuen Verbündeten des Freistaats, die protestantischen Unionisten, und störte deshalb auch Propagandisten wie FitzGeralds Stellvertreter Sean Lester. Er ging deshalb soweit, einen öffentlichen Wettbewerb für eine neue Hymne zu erwägen. Auch im Ausland bekam das Executive Council als Regierung eines britischen Dominions Schwierigkeiten mit dem anti-englischen Kampflied. Um einen Eklat zu vermeiden, wich die Freistaatsführung deshalb außerhalb Irlands lange Zeit auf Thomas Moores „Let Erin remember“ aus. In Irland eignete sich Moores Lied dagegen kaum als Ersatzhymne. Einerseits unterstellte die nationale Tradition Thomas Moore eine britische „drawing room“-Ästhetik, andererseits ließen sich die ersten beiden Zeilen des Liedes leicht republikanisch deuten und dabei direkt auf den Vertrag beziehen: „Let Erin remember the days of old// Ere her faithless sons betray’d her. . ..“617 Die Freistaatsregierung geriet so unter Zugzwang: Solange es keine offizielle Nationalhymne gab, sangen die ehemaligen Unionisten auf der Dublin Horse Show oder am Armistice Day weiter: „God save the King“. So erklärte das Executive Council Ende der Zwanziger Jahre den „Soldier’s Song“ schließlich zur Nationalhymne; doch wieder nicht ohne Umwege. Nur der Refrain, der keinen expliziten Verweis auf den Kampf gegen England enthielt, wurde offizielle Hymne – um weitere (Miß-)Verständnisse zu vermeiden, in der zum Original erklärten gälischen Übersetzung. Die jetzt gälische Hymne war einmal Engländern und Unionisten im Regelfall nicht direkt verständlich, produzierte jedoch gleichzeitig über die nationale Sprache irische Identität.618
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THOMAS MOORE, The Poetical Works of Thomas Moore. Reprinted from the Early Editions with Explanatory Notes, etc. Dublin o.J [ca. 1890]. S. 205. ‚A Soldier’s Song‘, in: GREAVES, Easter Rising in Song, S. 24; EYCK, National Anthems, S. 93–5; vgl. THE ROUND TABLE, XIII, no. 50 (März 1923), S. 256; EWAN MORRIS, ‚God save the King‘ vs. ‚the Soldier’s Song‘: The 1929 Trinity College National Anthem Dispute and the Politics of the Irish Free State, in: Irish Historical Studies, XXXI, no.121. (1998), S. 72–90, hier: S. 74–7.
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Während Lieder häufig noch einen mittlerweile widersprüchlichen Text mitschleppten, folgte die freistaatliche Bildsprache ihrer eigenen non-verbalen Logik. Nicht nur die Karikaturisten der Plain People, auch die freistaatlichen Propagandisten nutzten Bilder, um logische Brüche zu umgehen. Was als Verfassungstext widersprüchlich und verfänglich klang, konnte als „Verfassungsbaum“ oder „Weihnachtsmann“ ganz logisch sein. Doch Weihnachtsmänner, Verfassungsbäume oder auch der Zug oder das Auto „reconstruction“: das alles waren Allegorien ohne direkten Bezug zur Ikonographie der Revolution.619 Der Freistaat tat sich schwer, eine neue, kohärente Bildsprache zu finden. Auf Bilder republikanischer Märtyrer und die Geister der Toten konnte die freistaatliche Propaganda kaum mehr zurückgreifen.620 Die Karikaturisten Young Irelands probierten daher ungewöhliche Lösungen aus: Sie bemühten sich, mit einer aktiven männlichen „Nation“ die vorherrschende Darstellung Irlands als passive, leidende Frau abzulösen. Sie testeten religiöse Anspielungen und benutzten sogar die Freiheitssonne von Home Rule.621 In der Regel versuchten die Freistaatspropagandisten jedoch, diejenigen Symbole der Revolution zu übernehmen, die nicht direkt auf den Märtyrertod verwiesen. Da war einmal das offizielle Emblem der Freistaatsarmee, das sich am Abzeichen der Dubliner Volunteers orientierte. Denn an diesem Symbol hielten die Vertragsbefürworter gewissermaßen die Urheberrechte: Eoin Mac Neill jetzt Kulturminister des Freistaats, hatte es 1914 entworfen.622 Noch wichtiger für die symbolische Politik des Freistaats wurde die Fahne der Revolution, die Trikolore. Um die Farben grün-weiß-orange lieferten sich die Vertragsbefürworter einen erbitterten Kampf mit den Republikanern. Sie verwendeten sie auf Staatsfeiern, auf Beerdigungen, selbst für den Blumenschmuck auf den Hochzeiten prominenter Militärs.623 Aus Sicht der Republikaner hatten die freistaatlichen Verräter kein Recht, die republikanische Fahne zu reklamieren, für ihren „Free State tied up with
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YOUNG IRELAND, 23. Dezember 1922; 28. Oktober 1922; 30. September 1922; 4. November 1922, jeweils S. 1. Ebd., 12. August 1922, S. 1. Männliche Irland-Allegorien: YOUNG IRELAND, 12. August 1922; 19. August 1922; 2. September 1922; 30. September 1922, jeweils S. 1; religiöse Anspielungen: ebd., 21. Oktober 1922; 28. Oktober 1922, jeweils S. 1; Home Rule-Sonne: ebd., 30. September 1922; 11. November 1922, jeweils S. 1. HAYES-MCCOY, Irish Flags, S. 202; AN TOGLACH, 17. Juni 1922, S. 1; 24. Juni 1922, S. 1, 3. IRISH INDEPENDENT, 18. Oktober 1922, S. 4.
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Red, White and Blue“.624 So beschlagnahmten empörte Cumman na mBanAktivistinnen auf Wahlkampfveranstaltungen der Provisorischen Regierungen immer wieder „ihre“ Flagge.625 Griffiths Diktum: „We have brought back the flag“, wandten sie gegen die Vertragsbefürworter: Griffith hatte für sie nicht die Trikolore, sondern den Union Jack nach Hause gebracht.626 Bis auf wenige Ausnahmen vermieden die freistaatlichen Propagandisten das reichhaltige Bildprogramm des vorrevolutionären Nationalismus. Das hätte gerade die Kontinuität hergestellt, die die republikanische Propaganda dem Freistaat anhängen wollte: der Freistaat als eine Form von Dominion Home Rule.627 Gerade weil die Freistaatsführung seit Dezember 1921 erfolgreich Politik im Sinne der Home Rule-Bewegung machte, vermied sie jede sichtbare Kontinuität mit diesen von Sinn Fein diskreditierten Kompromißlern. Diese Sensibilität im Umgang mit der vorrevolutionären Ikonographie zeigte sich, als die Freistaatsführung die Motive für die ersten Briefmarken beschloß. Als die Provisorische Regierung dafür einen öffentlichen Wettbewerb ausschrieb, landeten die meisten Vorschläge im Papierkorb, weil sie auf konventionelle, von Home Rule belastete Motive zurückgriffen.628 Die Freistaatsführung entschloß sich schließlich zu vier Motiven, die den nationalen Anspruch des Freistaats unverfänglicher dokumentierten. Zwei Abbildungen symbolisierten indirekt den Anspruch auf Nordirland: die Wappen der vier Provinzen und eine Karte Irlands ohne Grenzen.629 Eine weitere Marke stellte gälische und revolutionäre Kontinuität zugleich her: Sie zeigte das Lichtschwert, An Claidheam Soluis, und spielte damit auf das Organ der Gaelic League und ihren langjährigen Herausgeber Pearse an. Nur ein Motiv, ein keltisches Kreuz, folgte konventionellen Mustern, doch auch dieser Entwurf orientierte sich an einer Sinn Fein-Propagandamarke von 1908.
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Siehe die Lieder „Take it down from the mast[. . .]“ und „The Irish Free State“, in: GALVIN, Songs, S. 71 f., 77. Rot, Weiß und Blau repräsentieren hier den Union Jack. WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 171; vgl. S. 193. DEBATE ON TREATY, Griffith, 19. Dezember 1921, S. 21; PLAIN PEOPLE, 16. April 1922, S. 1; 21. Mai 1922, S. 1; AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 26. August 1922, S. 1. AN POBLACHT, 3. Januar 1922, S. 1 f.; 5. Januar 1922, S. 1; 17. Januar 1922, S. 2; 7. Februar 1922, S. 1; 8. März 1922, S. 1, 4; 22. März 1922, S. 4; 22. Juni 1922, S. 4. Vgl. das Fehlen von Home Rule-Symbolen bei der Gestaltung der irischen Münzen 1928: TERENCE BROWN, Ireland, S. 97 f. Die Harfe wurde dagegen offizielles Symbol des Freistaats: ebd., S. 80. Eine Abbildung in: BRIAN P. KENNEDY, The Irish Free State, 1922–1949. A Visual Perspective, in: ders. und RAYMOND GILLESPIE (Hrsg.), Art into History. Dublin 1994, S. 132–54, hier: S. 135.
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Noch wichtiger als das, was die Briefmarken darstellten, war, was sie nicht mehr darstellten: das Portrait des britischen Königs Georg V. Briefmarken waren damit ein wichtiges und sichtbares Zeichen der nationalen Souveränität des neuen Staates, der pünktlich zur Staatsgründung am 6. Dezember 1922 die erste Briefmarke herausgab.630 Auch auf einer anderen Ebene gab die freistaatliche Führung ihrer Post einen nationalen Anstrich: In einer groß angelegten Aktion ließ sie alle „britisch-roten“ Postkästen „irisch-grün“ übermalen. Das Resultat dieser Propagandaaktion war, verglichen mit den nationalen Briefmarken, ein Fehlschlag. Die Postkästen waren jetzt zwar grün, trugen unter dem Anstrich aber immer noch das königliche Monogramm und die Krone. Die britischen Insignien ließen sich nur schwer entfernen: Dazu hätte man ein Loch in den Postkasten schlagen und wieder verschließen müssen. So deckte sich das Aussehen der Postkästen mit dem Bild, das die republikanische Propaganda vom Freistaat zeichnete.631 Der Freistaat sei dasselbe in grün wie die britische Fremdherrschaft, wurde so ein naheliegender und recht erfolgreicher Witz; ein Witz, der sich auf viele Bereiche übertragen ließ: auf grün gefärbte Panzer und Lastwagen und vor allem immer wieder auf die grünen Uniformen des Freistaats. Denn gerade die Identitätsstiftung über die neuen „irischen“ Uniformen mißglückte beinahe. Langsam sickerte durch, daß sie zunächst nur grün umgefärbte britische Uniformen waren, bevor die Armeeführung eine an deutschen Vorbildern orientierte Gestaltung fand.632 Und während die britische Herkunft der Uniformen zunächst nur wenige Kenner bemerkten, konnte jeder, der erst einmal die unfreiwillige Pointe bemerkt hatte, die grünen Postkästen auf Republikanisch lesen. Die Postkästen blieben lange, viele bis heute, stehen und erinnerten mit ihren zwei impliziten Lesarten täglich Tausende Benutzer und Passanten an das Ende von „national unity“.633
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MORRIS, Nationalist Symbols, S. 6; DEBATE ON TREATY, Beaslai, 3. Januar 1922, S. 177. Siehe das Lied „The Irish Free State“, in: GALVIN, Songs, S. 72; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 306. TCD, Early Printed Books, box 5/94, Spottlied, „Battle of the Four Courts“; AN POBLACHT-WAR NEWS, 7. November 1922; PLAIN PEOPLE-WAR OF DEFENCE ISSUE, 2. Juli 1922, S. 2; TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 2/53, Pamphlet, „Childers“, ca. April 1923, S. 2; NEESON, Civil War, S. 162. Ein solcher Postkasten mit dem königlichen Monogram von Edward VII. (E[dwardius] R[ex] VII) steht heute noch schräg gegenüber von der ehemaligen Sinn Fein-Zentrale in der Harcourt Street 6. Eine Abbildung, in: BRIAN KENNEDY, Visual Perspective, S. 134.
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b) Der Tod von Michael Collins: zwischen Martyrologie und Staatstrauer An dieser Stelle werde ich noch einmal auf die republikanische Martyrologie zurückgreifen und untersuchen, wieweit es dem Freistaat gelang, diese zu besetzen. Die Rhetorik der freistaatlichen Propaganda und die Choreographie des Beerdigungsritus griffen dabei fast nahtlos ineinander. Collins Tod in einem Hinterhalt in der Grafschaft Cork beschäftigt bis heute die Populärgeschichte. Er hat ähnlich viele und ähnlich abenteuerliche Spekulationen ausgelöst wie der Mord an John F. Kennedy.634 Schon zu Lebzeiten war Collins eine Legende, ein populärer Volksheld. Seinen Tod empfanden selbst zahlreiche Republikaner als Schock. So beteten die republikanischen Gefangenen in Kilmainham Jail nach der Nachricht von Collins Tod spontan einen Rosenkranz für die Seele des Verstorbenen.635 Das war sicher nicht so pathetisch, wie das für den heutigen Leser klingt, sondern einfach das, was ein guter Katholik ohnehin täglich tut; erst recht, wenn er vom Tod eines alten Kameraden erfährt. Das republikanische Hauptquartier dagegen reagierte euphorisch, hoffte, den Freistaat jetzt schnell zu Verhandlungen zwingen zu können.636 Doch auch hier gab es jemanden, der ein Gespür dafür hatte, daß der Tod von Collins sich auf der propagandistischen Ebene gegen die Republikaner wenden würde: Childers. Inmitten der jubelnden IRA-Aktivisten zog er sich zurück, um einen aus seiner Sicht sachlich ausgewogenen Nachruf auf Collins zu schreiben.637 Zugegeben: Im August 1922 interessierten sich nicht einmal die Aktivisten im IRA-Hauptquartier, was der in Munster isolierte Childers über Collins zu sagen hatte. Dennoch ist Childers Artikel ein Hinweis darauf, wie populär Collins war. Ein erfahrener Propagandist wie Childers wußte, daß ein breites Publikum mit hämischen Angriffen auf Collins nicht zu gewinnen war. Deshalb bediente er sich eines zurückhaltenden Tons, würdigte Collins Fleiß, Intelligenz und seine Integrität genauso, wie er Collins fehlgeleitete vertragsbefürwortende Poli-
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HOPKINSON, Green, S. 177 f.; Am bekanntesten sind die Bücher: EOIN NEESON, The Life and Death of Collins. Cork 1968 und JOHN M. FEEHAN, The Shooting of Michael Collins. Dublin 1981. Allein Feehans Buch erlebte zwischen 1981 und 1991 sechs Auflagen. VALIULIS, Mulcahy, S. 169. Vgl. HOPKINSON, Green, S. 178; FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 232. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 232; Vgl. die Einschätzung des britischen Geheimdienstes: FLK, DeV, 221, 24th Infantry Brigade, Weekly Intelligence Summary, 26. August 1922.
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tik kritisierte.638 Wie Childers bedienten sich auch seine Propagandakollegen in Dublin, ja selbst die Journalisten der sonst so kämpferischen Worker’s Republic gegenüber dem toten Collins der Technik des Feindeslobs.639 Nach Collins und Griffiths Tod produzierten nicht nur die freistaatlichen Propagandisten, sondern auch fast alle hochrangigen Regierungsmitglieder massenweise Propaganda. Der Free State machte eine erst acht-, dann sechzehnseitige Ausgabe zur „Collins memorial edition“.640 Doch auch als die vertragsbefürwortende Propaganda versuchte, den Freistaat über ihre prominenten Toten spirituell zu überhöhen, bekam sie durch ihre pragmatische Politikstrategie einmal mehr legitimatorische Probleme; etwa aufmunternde Worte von der britischen, also von der falschen, Seite: Beileidstelegramme, vor allem eine persönliche Kondolenz des englischen Königs an Griffiths Frau, untergruben die nationale Legitimation des Freistaats vor einem breiten Publikum, weil sie auch in der Dubliner Tagespresse erschienen.641 Die republikanische Propaganda kommentierte das bissig: „Surely their bodies will turn in their graves.“642 Noch im Tod verfolgte Collins und Griffith ein Problem, das sie seit der Vertragsspaltung unter Druck gestellt hatte. Sie hatten, ob sie wollten oder nicht, neue „antinationale“ Verbündete: „England’s loyal supporters, ex-RIC,643 Unionists, retired Army Colonels and Majors, the seoinini,644 the time-servers, the place hunters, the whole British officialdome.“645 Gestützt von der Autorität des Erzbischofs Mannix, wurde aus diesem Argument ein Klassiker der republikanischen Propaganda: „Every enemy of Ireland, without exception, is on the side of the Free State.“646 Die freistaatliche Propaganda konnte auch kaum Kapital daraus schlagen, daß Collins in einem Hinterhalt starb.647 Aus britischer Sicht ließen sich die 638
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AN POBLACHT-SOUTHERN EDITION, 25. August 1922, S. 1; vgl. Würdigung des „war records“ von Patrick O’Maille und Sean Hales, in: AN POBLACHT-WAR NEWS, 9. Dezember 1922. AN POBLACHT-WAR NEWS, 24. August 1922; WORKER’S REPUBLIC, 2. September 1922, S. 1. NAI, S-1628; UCD, FGP, P80/299; FREE STATE, 30. August 1922, special edition. IRISH TIMES, 14. August 1922, S. 4 f.; 23. August 1922, S. 4; 24. August 1922, S. 4 f. CATHOLIC BULLETIN, Dezember 1922, S. 761. RIC: Royal Irish Constabulary, bewaffnete irische Polizeitruppe vor 1922. Seoinini (anglisiert: shoneen): Kriecher, Nachäffer englischer Sitten. PLAIN PEOPLE, 9. April 1922, S. 2; AN POBLACHT-WAR NEWS, 3. August 1922. EIRE, 10. Februar 1923, S. 1; SINN FEIN, 25. August 1923, S. 1. Eine der wenigen Ausnahmen, die zaghaft versucht Collins Tod als Mord darzustellen: YOUNG IRELAND, 26. August 1922, S. 4; und aus der Distanz, ein Jahr später: UNITED IRISHMAN, 11. August 1923, S. 1.
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Hinterhalte des Unabhängigkeitskrieges und Collins, ihr angeblicher Drahtzieher, leicht delegitimieren. Republikanische Hinterhalte waren in den Worten des britischen Oberkommandierenden Nevil Macready „methods [. . .that] can be only characterized as murder and assassination by those who hold that even the art of slaying one’s fellow-creatures should be marked by some adherence to the chivalry of bygone days.“648 Aus Sicht der irischen Revolutionäre waren Hinterhalte dagegen die effizientesten Operationen des republikanischen Guerillakrieges, also die Vollendung der„art of slaying one’s fellow-creatures“.649 Wie so oft behinderte die politische Kultur des irischen Nationalismus die Propagandamöglichkeiten des Freistaats. Die nationale Tradition definierte Exekutionen und den Tod auf der Flucht als illegitim, den Tod im Hinterhalt als normales Soldatenschicksal: „Mick Collins died fighting gun in hand among his friends in daylight – Harry McEntee (& many others) were murdered friendless and unarmed in the dead of night.“650 Das Kernstück der freistaatlichen Propaganda stellten Nachrufe und Grabreden dar. Sie waren mehr als individuelle Gefühlsäußerungen, mehr als persönliche „warm, moving and human picture[s] of Collins.“651 Die Vertragsbefürworter mußten das Genre ihrer Trauerrede erst aus den alten Vorgaben neu modifizieren. So waren ihre Nachrufe flexibler, vielschichtiger und individueller als die starre republikanische Rhetorik. Aber auch ihre Reden waren diktiert von propagandistischem Kalkül und den Konventionen des nationalen Genres Nachruf, das nach gewissen Standards verlangte: Biographie des Toten, Tod für Irland, Unsterblichkeit, Betroffenheit der Hinterbliebenen, religiöse Wendungen.652 Auch wenn Collins populär gewesen war, der Eingang in die Litanei der „illustrious dead“ blieb ihm verwehrt. Das lag nicht daran, daß die rationale freistaatliche Rhetorik nicht pathetisch seien konnte. Für Beaslai war Collins ein „heaven sent leader“.653 Young Ireland griff, wenn es um Griffith und Collins ging, sogar zu der für die Freistaatspropaganda so untypischen, religiösen Metaphorik: „Griffith like Moses left behind a Joshua in Collins.“654
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MACREADY, Annals, S. 602; 663; MEMORY, Memory’s, S. 83, 100. TOWNSHEND, Political Violence, S. 336; MEMORY, Memory’s, S. 83. UCD, RP, P88/286(4), Flugblatt, ca. September 1922. So VALIULIS, Mulcahy, S. 169; ebenso oberflächlich, HOPKINSON, Green, S. 178. Vgl. zum Eigengewicht des Genres: GREENBLATT, Murdering Peasants, S. 99–112, insbes., S. 111 f. UNITED IRISHMAN, 18. August 1923, S. 1, Artikel von Beaslai. YOUNG IRELAND, 2. September 1922, S. 4; O’HEGARTY, Victory, S. 27, 61.
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Weil die ungebrochene republikanische Martyrologie ohne den Zugriff auf „the Republic“ nicht mehr funktionierte, verlegten sich die Freistaatspropagandisten auf eine neue Traditionsbildung: Gefeiert wurden nicht die großen Märtyrer, sondern die großen Staatsmänner und Helden Irlands. Dieser freistaatlichen Variante der „great dead“655 gehörten zum großen Teil dieselben Personen an wie der republikanischen Martyrologie. Solche Traditionsreihen waren etwa: „Pearse and Parnell, Emmet and Tone, Owen Roe und Sarsfield.“656 Sie konnten, nach der Logik des Freeman’s Journal, aber auch anders aussehen: Griffith, Redmond, Parnell, Emmet, O’Connell.657 Einem Republikaner, ja auch einem Anhänger der „steppingstone“-Politik, mußten sich bei solchen Traditionsbildungen die Haare aufstellen. Nicht nur, daß Pearse und Tone fehlten, der Freeman stellte republikanische Märtyrer wie Robert Emmet neben einen „Opportunisten“ wie Daniel O’Connell und einen „Verräter“ wie den letzten Führer der Home Rule-Bewegung, John Redmond.658 Auch den offiziellen freistaatlichen Propagandisten war bei dieser Traditionsbildung des Freeman sicher nicht ganz wohl zumute, zumindest nahmen sie O’Connell selten, Redmond nie in ihr Repertoire auf.659 Was die Nachrufe auf Collins prinzipiell von der republikanischen Martyrologie unterschied, war ihre Neubewertung des Todes, als abruptes Ende einer hoffnungsvollen politischen Karriere. Die freistaatliche Propaganda definierte Collins nicht über das Martyrium, sondern über seine Leistungen zu Lebzeiten: seinen Arbeitseinsatz und seine Erfolge im Unabhängigkeitskrieg. „Statesmanship“ und „energy“ wurden zu Schlüsselbegriffen der freistaatlichen Nachrufe. Die Rhetorik wandelte sich von der Martyrologie zur Staatstrauer.660 Auch wo die Propaganda republikanische Märtyrer zu Vorläufern von Collins stilisierte, änderte sie den Blickwinkel vom sinnstiftenden Heldentod zu deren konstruktiven Verdiensten, vermied die Vokabel „martyr“ zu Gunsten von „hero“ oder „victor“.661 Quintessenz jeden
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YOUNG IRELAND, 26. August 1922, S. 4; NAI, S-1628, Gedicht, „Died for Ireland“, ca. 20. Dezember 1922. FREE STATE, 30. August 1922, special edition no.2, S. 3; vgl. NAI, S-1628, Gedicht, „Died for Ireland“, ca. 20. Dezember 1922; YOUNG IRELAND, 9. Dezember 1922, S. 1. FREEMAN’S JOURNAL, 24. August 1922, S. 5. Zur Abwertung Daniel O’Connells durch Pearse: FARRELL, Paradox, S. 19. Noch vor Collins und Griffith Tod: YOUNG IRELAND, 29. Juli 1922, S. 2. NAI, S-1628, Cosgrave an International News Service, 23. August 1922; ebd., Mulcahy, official statement Army Publicity, 23. August 1922; IRISH INDEPENDENT, 23. August 1922, S. 5; 24. August 1922, S. 4; UNITED IRISHMAN, 18. August 1923, S. 1, Artikel von Beaslai. FREE STATE, 30. August 1922, special edition no.2, S. 3; vgl. NAI, S-1628, Gedicht, „died for Ireland“, ca. 20. Dezember 1922; YOUNG IRELAND, 9. Dezember 1922, S. 1.
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Nachrufs war: Collins Arbeitseifer, sein unvollendetes Lebenswerk sollte die Hinterbliebenen zum harten Durchgreifen gegen den Feind und zu eigenen Anstrengungen verpflichten. Die eigenen Anhänger auf das Lebenswerk eines überragenden Staatsmannes zu verpflichten, war sicherlich rationaler, als sie auf den Tod eines Märtyrers einzuschwören. Aber es hatte auch weniger emotionale Zugkraft. Die republikanische Propaganda rief ihre Märtyrer Boland, Brugha, Childers, Liam Mellows und Rory O’Connor wie Heilige an. Mit Collins war das schwieriger. Vor die unmittelbare mystische Einheit war eine rationale Ebene geschaltet. Damit erinnerte der Collins-Kult mehr an den Glanz vergangener Zeiten, als daß er die Provisorische Regierung mystisch überhöhte.662 Nur über Umwege konnten die freistaatlichen Propagandisten ein Stück republikanischer Tradition für Collins retten. So schrieben sie Collins, ja selbst dem gealterten und gebrochenen Griffith die Charaktermerkmale des knabenhaften, republikanischen Märtyrers zu: „gay bravery“ und „gentleness“.663 Beaslai versuchte, eine direkte Kontinuität zwischen Collins und dem Neunzehnsechzehn-Märtyrer Sean MacDermott herzustellen. MacDermott habe schon früh Collins Berufung erkannt und weiter: „I have sometimes felt in after times that the mantle of Sean MacDiarmada had fallen on Collins.“664 Auch Collins Verhalten in den letzten Minuten vor seinem Tod orientierten die Propagandisten – oder Collins selbst?- an einer Stereotype republikanischer Tapferkeit. Diese Stereotype hatte ausgerechnet Collins Intimfeind Brugha im Osteraufstand 1916 prominent gemacht: „He continued to fire until his strength failed.“665 Das war ein Verhalten, das in einem gewissen Gegensatz zur Christusanalogie stand, die in Collins offiziellen letzten Worten angelegt war: „forgive them.“666 Was die freistaatliche Propaganda in Worten kaum mehr sagen konnte, inszenierte sie auf der Beerdigung von Collins als nationalen Ritus: Sie stellte über die Beerdigung erfolgreich Staatlichkeit und revolutionäre Kon-
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IRISH INDEPENDENT, 24. August 1922, S. 4; 14. November 1922, S. 6; YOUNG IRELAND, 19. August 1922, S. 2; UNITED IRISHMAN, 11. August 1923, S. 1; ebd., 18. August 1923, S. 1, Artikel von Beaslai. Zitate: NAI, S-1628, Mulcahy, official statement Army Publicity, 23. August 1922 und FREE STATE, 19. August 1922, S. 1. FREE STATE, 30. August 1922, special edition no.2, S. 5. NAI, S-1628, official statement, 23. August 1922. FREEMAN’S JOURNAL, 24. August 1922, S. 5; FREE STATE, 30. August 1922, S. 3.
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tinuität her, machte Collins zu einem der „glorious dead“ und überhöhte so den Freistaat spirituell.667 Beerdigungen politischer Märtyrer hatten bereits 1920 in Irland eine lange Tradition. Sie entwickelten durch die Präsenz des toten Märtyrers und ihren rituellen Ablauf eine gewisse Eigendynamik. So setzten sie Emotionen frei, die republikanisch, zumindest national besetzt waren. Das heißt nicht, daß jeder, der an so einer Beerdigung teilnahm, auch radikaler Republikaner war. Wie Wahlkampfreden, gälische Sportfeste und Paraden waren auch (Märtyrer-)Beerdigungen eine Form der Unterhaltung. Aber auch für die politisch weniger engagierten Schaulustigen gab es für das, was sie sahen, nur ein sinnvolles Erklärungsmuster: die Identifikation mit dem Toten, also die nationale Lesart.668 Die Beerdigungen von Terence McManus 1861, den Manchester Märtyrern 1867, Jeremiah O’Donovan Rossa 1915, von Thomas Ashe 1917 und von Terence MacSwiney 1920 waren gelungene anti-britische Massendemonstrationen gewesen.669 Wie eine solche Beerdigung abzulaufen hatte, darin hatte die Freistaatsführung einschlägige Erfahrung: Bereits 1917 hatte Mulcahy die Beerdigung des an britischer Zwangsernährung gestorbenen Hungerstreikmärtyrers Thomas Ashe organisiert. Auch damals mußte er nichts neu erfinden. Mulcahy orientierte sich an der schnell legendär gewordenen Beerdigung, die Pearse zwei Jahre zuvor für den Fenier Jeremiah O’Donovan Rossa organisiert hatte.670 Auch wenn Collins Tod besonders pompös inszeniert war, die trauernden Propagandisten folgten Punkt für Punkt den verbindlichen Vorgaben der republikanischen Tradition: Zunächst nahm der Künstler Albert Power Collins eine Totenmaske ab, sicherte sich damit später die Aufträge für die offizielle Collinsbüste und die Plaketten am Collins-Griffith Kenotaph. Power war dabei nicht irgendein Bildhauer, sondern hatte in beiden Bürgerkriegslagern ein hohes künstlerisches, vor allem aber politisches Renommee. Er hatte 1920 dem noch lebenden hungerstreikenden Terence MacSwiney prophylaktisch in der britischen Haft eine „Totenmaske“ abgenom-
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Vgl. GEERTZ, Centers, S. 124. Vgl. RICHARD VINCENT COMERFORD, Conspiring Brotherhoods and Contending Elites, 1857–1863, in NHI: Bd.V, S. 415–30, hier: 425 f.; ders., Fenians, S. 78 f.; MACDONAGH, Ambiguity, S. 115 f. VALUILIS, Mulcahy, S. 24; COMERFORD, Conspiring Brotherhoods, S. 424–6; COSTELLO, Terence MacSwiney, S. 226–35. VALIULIS, Mulcahy, S. 24; Zur Beerdigung von O’Donovan Rossa: RUTH EDWARDS, Triumph, S. 235–7.
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men. Danach hatte er für die Republikaner die toten Brugha und Boland, für die Freistaatler den toten Griffith verewigt.671 Dem Abnehmen der Totenmaske folgte das tagelange Aufbahren des Toten in Uniform – nur halbbedeckt von der Trikolore und flankiert von einer militärischen Ehrenwache. Dazu kamen die Schlangen der Kondolierenden, die Messen in allen Kirchen der Stadt und der offizielle Beerdigungsgottesdienst in der Pro-Cathedral. Im Mittelpunkt der Beerdigung stand dann der vom Angelusläuten der Kirchenglocken begleitete Zug durch die Stadt: der von der Trikolore bedeckte Sarg und Hunderte von Trikoloren am Rande des Weges, Tausende, die am Umzug teilnahmen, darunter prominente Politiker, Klerus und Militärs in grüner Uniform und weit über Hunderttausend, die vom Straßenrand, aus Fenstern, auf Bäumen oder Denkmälern zuschauten. Am Ende standen schließlich die Rituale am Grab: Gebete, Grabreden und Salutschüsse durch die Ehrengarde.672 Auch wer wie Pearse 1915, Collins 1917 und Mulcahy 1922 bei einer solchen Beerdigung die Grabrede hielt, übernahm eine besondere symbolische Rolle: Er stellte sich in die Nachfolge des großen Toten, versuchte, rituell dessen Dignität und Führungsrolle zu übernehmen.673 Eine besondere Rolle spielte bei diesem Ritus der Friedhof: die traditionellen „republican plots“ in Cork und in Dublin/Glasnevin. In deren Nähe hatte die vertragsbefürwortende Armee bereits Anfang Juli die ersten Freistaatssoldaten beigesetzt.674 Doch direkt neben dem Fenier Jeremiah O’Donovan Rossa, dem Hungerstreikmärtyrer Thomas Ashe und den Exekutierten des Unabhängigkeitskrieges konnten die Freistaatspropagandisten Collins nicht beerdigen: Dort lagen schon Brugha und Boland. Die Republikaner hatten den spirituellen Boden schon für sich besetzt.675 Dennoch, auch kaum vierzig Meter vom „republican plot“ entfernt, ließ sich als Handlung inszenieren, was in Worten kaum mehr sagbar war: Collins ging für alle An-
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BHREATHNACH-LYNCH, Power, S. 44–8. Albert Powers Totenmasken von Terence MacSwiney, Brugha, Collins und Griffith, in: National Museum of Ireland, permanente Ausstellung „1916“. FREE STATE, 30. August 1922, special edition, no.2, S. 10 f.; IRISH TIMES, 24. August 1922, S. 5; 29. August 1922, S. 5; FREEMAN’S JOURNAL, 24. August 1922, S. 5; 29. August 1922, S. 4 f.; 31. August 1922, S. 3; IRISH INDEPENDENT, 24. August 1922, S. 6; 29. August 1922, S. 5. VALIULIS, Mulcahy, S. 24, verbindet Collins Durchbruch zur Macht direkt mit dessen Rede auf Thomas Ashes Beerdigung. NAI, D/T, S-1376, Memo re Dublin press, 8. Juli 1922; EVENING HERALD, 5. Juli 1922, S. 3. Siehe „republican plot“ und Umgebung in Glasnevin Cemetery. Die Angaben aus: DUBLIN CEMETERIES COMMITTEE (Hrsg.), Glasnevin Cemetery. Dublin 1990, stimmen nicht mit der tatsächlichen Anordnung der Gräber überein.
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wesenden sichtbar in den Kreis der „glorious dead“ ein. Er lag nun zwischen „Tom Ashe, Thomas MacCurtain, Traolach MacSuibhne [i.e. Terence MacSwiney], Dick McKee“676 – auch wenn MacCurtain und MacSwiney in Cork begraben lagen. Diese Inszenierung war auch als bis ins Detail genauer Bericht von dieser rituellen Handlung immer noch verstehbar – wenngleich nicht mehr so eindrucksvoll. Alle Tageszeitungen berichteten ausführlich und mit zahlreichen Photos über die Beerdigung von Collins und Griffith. So erreichten die inszenierten Beerdigungen nicht nur die Anwesenden, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit in der Provinz.677 Während die äußere Form der Beerdigung fast gleich blieb, verschob sich die kulturelle Bedeutung der Symbole und Requisiten. Sie wandelten sich vom Inventar republikanischer Trauer zum Inventar der Staatstrauer. Etwa die Flagge: War das noch die Fahne der Revolution oder bereits die Fahne des neuen Staates? Auch die Massen, die dem Sarg folgten und der Beerdigung zuschauten, demonstrierten keine Auflehnung gegen die Fremdherrschaft mehr, sondern sichtbare Staatstreue. Das galt genauso für die prominenten Politiker und Militärs, die am offenen Sarg kondolierten. 1922 war das keine riskante Geste mehr, mit der man gleichzeitig Anteilnahme, Verwegenheit und die Verpflichtung auf die republikanische Martyrologie demonstrieren konnte.678 Neu und legitimatorisch wichtig bei den freistaatlichen Beerdigungen war die Anwesenheit ausländischer Diplomaten. Sie demonstrierte nach außen die staatliche Souveränität des noch ungegründeten Staates. Prominente Politiker, Militärs und nationale Interessenverbände erwiesen jetzt einem toten Staatsmann ganz offiziell die letzte Ehre, zeigten damit, daß sie dazugehörten. Durch die Sitzordnung in der Kirche, vor allem durch die Gruppierungen, in denen sie dem Sarg folgten, machten sie die Ordnung und die Hierarchie des Staates sichtbar und definierten sich selbst als Teile und Stützen des Staates: Vor dem Sarg liefen hunderte von Klerikern, Bischöfe, Priester und Mönche. Dort marschierte auch die St. James Blasmusik, die Händels Trauermarsch spielte und die Ehrengarde von Collins ursprünglicher IRA-Einheit. Neben dem Sarg marschierten die Sargträger – alles alte IRB676 677
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FREE STATE, 30. August 1922, special edition no.2, S. 7, Grabrede Mulcahy. FREE STATE, 30. August 1922; IRISH TIMES, 24. August 1922, S. 5; 29. August 1922, S. 5; FREEMAN’S JOURNAL, 24. August 1922, S. 5; 29. August 1922, S. 5; 31. August 1922, S. 3; IRISH INDEPENDENT, 24. August 1922, S. 6; 29. August 1922, S. 5. Die Anwesenheit „flüchtiger“ prominenter Guerilleros war im Unabhängigkeitskrieg eine häufige Geste republikanischer Entschlossenheit. Siehe dazu exemplarisch: O’DONOGHUE, No Other Law, S. 58.
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Kameraden. Sie wurden am linken und rechten Straßenrand von je fünfzig bewaffneten Soldaten in grünen Uniformen flankiert. Hinter dem Sarg folgten die Mitglieder des Hauptquartiers der Freistaatsarmee und ein größeres Kontingent Freistaatssoldaten; alle angeführt von Collins Nachfolger als Armeechef, Mulcahy. Dann folgte das Kabinett der Provisorischen Regierung sowie eine Gruppe mit knapp sechzig Abgeordneten des Dail, vor den Mitgliedern des Dubliner Stadtrats und den Honoratioren der Dubliner Universitäten. Dahinter gingen verschiedene Militär- und Polizeieinheiten, persönliche Freunde von Collins, Abordnungen Sinn Feins, der Gaelic League, der Gaelic Athletic Association, der vertragsbefürwortenden Frauen Cumman na Saoirse, der Iren aus Cork, der Iren aus London, der Dubliner Feuerwehr, der Interessensverbände der irischen Wirtschaft, der Gewerkschaften und verschiedener Berufszweige – alle begleitet von insgesamt zweiundzwanzig verschiedenen Musikkapellen.679 Diesem affirmativen, den Staat sichtbar machenden Charakter des Umzugs entsprach auch eine sich verschiebende Bedeutung von Uniformen, Waffen und Salutschüssen. Sie waren keine Zeichen einer subversiven Auflehnung mehr. Die Soldaten, die die Schüsse abfeuerten, mußten nicht, wie ihre Vorgänger im Unabhängigkeitskrieg so schnell wie möglich in der Menge verschwinden. Statt Gleichrangigkeit mit dem „Kriegs“-Gegner Großbritannien inszenierten Waffen, Uniformen und Salutschüsse jetzt das Gegenteil: staatliche Überlegenheit über illegitime Rebellen. Das galt besonders für das von den Sargträgern eskortierte und von sechs Pferden gezogene Artilleriegeschütz, auf dem Collins Sarg ruhte. Dieser Effekt war der Freistaatsführung so wichtig gewesen, daß sie eigens dafür der britischen Artillerie besonders schöne Pferde abgekauft hatte.680 Daß traditionelle Märtyrerbeisetzung und offizielle Staatstrauer in Collins Fall so weit verschmolzen, daß sie nicht mehr voneinander zu trennen waren, war kein Zufall. Sie harmonierten deshalb so gut miteinander, weil die irischen Nationalisten ihre Form der Märtyrerbeerdigung an der britischen Staatstrauer orientiert hatten. Das subversive Potential der republikanischen Beerdigungen lag nicht in einer eigenen revolutionären Formensprache, sondern darin, daß sie britische Rituale kopierten und damit staatliche Legitimität für Irland reklamierten.681 Auch noch bei Collins Beerdi-
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FREEMAN’S JOURNAL, 29. August 1922, S. 5; IRISH INDEPENDENT, 24. August 1922, S. 5. MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 662; FREE STATE, 30. August 1922, S. 11; IRISH INDEPENDENT, 24. August 1922, S. 5. Vgl. das „Lying in State“, das Begräbnis und die anderen – über vierzehn Tage dauernden – Riten der Staatstrauer nach dem Tod des britischen Königs Edward VII.: IRISH TIMES,
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gung provozierte das die britischen Militäreinheiten. So versuchten einige Soldaten der britischen Artillerie zu verhindern, daß ausgerechnet ihre Pferde an der Beerdigung von Collins teilnahmen. Als Drahtzieher des Unabhängigkeitskrieges galt Collins für sie immer noch als „embodiment of the campaign of ruthless murder“.682 Zu Beginn des Bürgerkrieges lieferten sich vertragsbefürwortende und vertragsablehnende Propagandisten einen regelrechten Wettkampf darin, ihre prominenten Toten Brugha, Boland, Griffith und Collins so symbolträchtig wie möglich zu beerdigen.683 Dabei übernahmen auf den republikanischen Beerdigungen uniformierte Cumman na mBan-Frauen die Rolle der in den Untergrund abgetauchten IRA-Aktivisten.684 Erst nach den ersten Exekutionen schnitt die Provisorische Regierung den Republikanern den Zugriff auf diese effiziente und traditionsreiche Agitationsform ab: Sie ließ die Exekutierten heimlich beisetzen.685 Mit der Beerdigung von IRA-Chef Lynch gelang es den Republikanern erstmals wieder, zumindest auf lokaler Ebene Aufsehen zu erregen. Auch sie folgten den Vorgaben der republikanischen Tradition, auch wenn sie nicht annähernd die organisatorischen Möglichkeiten hatten wie die Freistaatsführung.686 Da sich die von den Freistaatsbehörden gesuchten prominenteren Aktivisten wie de Valera offiziell vertreten ließen, mußte der republikanische Abgeordnete William Stockley die Grabrede halten.687 Eine handvoll Mönche mit republikanischen Sympathien, darunter ein Bruder und ein Onkel des Toten, gaben Lynch den letzten Segen. Sie unterliefen so die Exkommunikation Lynchs durch den Hirtenbrief. Tausende von Sympathisanten, Trauernden und Schaulustigen besuchten die Beerdigung in Fermoy. Folgt man der unionistischen Irish Times, die kaum Motive hatte zu übertreiben, war der Friedhof schon Stunden zuvor überfüllt. Hunderte von Besuchern legten Kränzen nieder, bevor auch Lynch sichtbar in das Reich der „great dead“ einging: Sein Sarg, gehüllt in eine mit „IRA“ be-
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9. Mai 1910, S. 7; 9. Mai 1910, S. 7; 16. Mai 1910, S. 5, 7; 18. Mai 1910, S. 5; 19. Mai 1910, S. 7–9; 20. Mai 1910, S. 6–8; 21. Mai 1910, S. 7–9. MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 663. WORKER’S REPUBLIC, 19. August 1922, S. 3; 2. September 1922, S. 3. NLI, WOB, L.O., P117, Flugblatt no. 91, Republican Publicity Department, 9. Juli 1922; LOUIS MCREDMOND (Hrsg.), Ireland the Revolutionary Years. Photographs from the Cashman Collection. Ireland 1910–1930. Dublin 1992, hier: S. 90. Vgl. in RUTH EDWARDS, Triumph, S. 328, wie die britische Regierung die Leichen der Neunzehnsechzehner beschlagnahmte. Vgl. NLI, MS, 33 355, Brian O’Higgins, Anweisungen für die Beerdinung von Austin Stack. FLK, DeV, 273, de Valera an Mary MacSwiney, 11. April 1923; vgl. EIRE, 9. Juni 1923, S. 2.
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schriebene Trikolore, wurde neben dem Grab seines Freundes, dem 1920 am Hungerstreik gestorbenen Märtyrer Martin FitzGerald beigesetzt.688 Der „republican plot“ in Glasnevin entwickelte sich zur eigentlichen Kultstätte der Republikaner: Hier wurden nach dem Bürgerkrieg die in den Gefängnissen exhumierten republikanischen Märtyrer Childers, Rory O’Connor und Liam Mellows sowie die „four lads“ beigesetzt.689 Viele, die zur republikanischen Prominenz des Bürgerkrieges gehört hatten, wurden in den folgenden Jahren im „republican plot“ beerdigt: Die sozialistische Gräfin Constanze de Markievicz, der Propagandist Frank Gallagher und seine Frau, Mary Childers, der republikanische Propagandist Roddy Connolly, der Guerillero Oscar Traynor und bisher zuletzt, im April 1998, Julia Ahern, die Mutter des heutigen Ministerpräsidenten. Trotz des Bürgerkrieges suchten ab den vierziger Jahren auch ehemals überzeugte Anhänger der „stepping-stone“-Politik im Tod die Nähe zu Märtyrern wie Thomas Ashe: 1942 ließen sich der Dichter des „Soldier’s Song“ Peadar Kearney, 1965 auch Chefzensor Beaslai fast direkt in Ashes Grab beisetzen. Überzeugte Freistaatler wurden hingegen häufig in der Nähe von Collins und Griffith beerdigt.690 c) Feste Beerdigungen waren zwar die wichtigsten, aber nicht die einzigen politischen Feste des Bürgerkrieges. Gerade in den Jahren nach dem Bürgerkrieg versuchte der Freistaat, an einer ganzen Reihe von nationalen Gedenk- und Feiertagen staatliche Souveränität sichtbar zu machen. Nevil Macready, Oberbefehlshaber der britischen Truppen in Irland, war nicht nur ein Fachmann für den Krieg und die „art of slaying one’s fellowcreatures“, sondern ein Kenner, ja Liebhaber militärischer Riten. Noch drei Wochen vor dem Bürgerkrieg hatte er zum Geburtstag des Königs die traditionelle Militärparade der irischen Einheiten organisiert: Wie er selbst zufrieden betonte, nach allen Regeln der Kunst, inklusive Flaggenappell vor dem Union Jack. Bis zu seiner letzten Minute in Irland hielt Macready an der Etikette und den Symbolen fest, die seine Britishness garantierten: Bevor die Freistaatstruppen auch das britische Hauptquartier im Royal
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IRISH TIMES, 16. April 1923, S. 7. SINN FEIN, 18. April 1925, S. 5; siehe auch Glasnevin Cemetery, „republican plot“. Siehe „republican plot“ sowie Gräber von Griffith und Collins sowie deren Umgebung in Glasnevin Cemetery. Siehe dort auch, wie die National Graves Association versucht, die „Provisional IRA“ der Gegenwart an die traditionelle republikanische Kultstelle anzuschließen. Sie verwendet bis heute das Gräberfeld neben dem „republican plot“ für Beerdigungen.
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Hospital übernahmen, rettete er persönlich die Regimentsinsignien und ließ feierlich den Union Jack einholen. Als der Chef der Freistaatsarmee Mulcahy die Trikolore aufziehen ließ und das Ende der britischen Besatzung verkündete, hatte Macready sein ehemaliges Hauptquartier schon bewußt vorzeitig verlassen. So vermied er es, der Flagge des Feindes seine Referenz erweisen zu müssen. Macreadys Einheit zog, trotz der damit verbundenen Sicherheitsrisiken, in militärischer Marschformation zum Hafen und ging unter den Klängen von Salutschüssen und „God save the King“ an Bord. Für Macready, der sich selbst als letzten Commander in Chief seit Strongbow stilisierte, ging damit die siebenhundertfünfzigjährige britische Geschichte Irlands wenigstens in aller Form zu Ende.691 Dem würdigen Ende der britischen Herrschaft stellte Macready einen aus seiner Sicht form- und würdelosen Anfang der irischen Herrschaft entgegen. Er beobachtete, was auch republikanische Propagandisten mit Genugtuung registrierten: The proclamation setting up the Free State Government [. . .] was received with apparent apathy and indifference in Dublin. From what I saw when strolling through the town a general air of depression seemed to have settled on the place, no demonstrations, no music or occasional revolver shots, no flags, except a few whitishlooking bits of bunting that once displayed the green, yellow [sic!], and white national colours but had become washed out by rain and sun. One might have thought that instead of the occasion being a declaration of almost complete independence it was the anouncement of the return of the oppressor. [. . .] the gloom and indifference depicted on the faces of the people was only equalled by the proverbial dirt of the streets.692
Die freistaatlichen Propagandisten wußten doch eigentlich, wie man ein nationales Fest inszenierte und hatten bei Collins Beerdigung selbst britische Beobachter beeindruckt.693 Bereits kurz nach der Vertragsspaltung hatte Collins die neue irische Souveränität inszeniert, als er Dublin Castle, Symbol und Zentrale britischer Zwangsherrschaft in Irland, übernommen hatte. Mit einer kleinen Gruppe von den IRA-Aktivisten, die den Vertrag unterstützen, hatte er damals mit Marschmusik die „Niederlage des Castle“ entgegengenommen. Dabei war er, um irische Souveränität zu demonstrieren, absichtlich fünf Minuten zu spät gekommen.694 Warum jetzt diese Ruhe? Einmal schien den Propagandisten auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges eine große Feier unangebracht. Ein Umzug im 691 692 693 694
MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 649 f., 669–74. Ebd. S. 670 f.; vgl. AN POBLACHT-WAR NEWS, 12. Dezember 1922. MEMORY, Memory’s, S. 155. MACREADY, Annals, S. 616 f.; vgl. PLAIN PEOPLE, 16. April 1922, S. 1.
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Stil der Collins-Beerdigung wäre jetzt ein wesentlich höheres Sicherheitsrisiko gewesen: Kein religiöser, Pietät gebietender Anlaß schützte diesmal die Teilnehmer, zumal die IRA die Ermordung von Abgeordneten zum Programm erklärt hatte. Doch das war noch nicht alles. Wie, was und mit wem sollte die Freistaatsführung eigentlich feiern? Die Souveränität Irlands oder den Beitritt zum Commonwealth? Beides? Wie wäre man auf einer Feier mit dem Governor General, dem offiziellen Vertreter der britischen Krone, umgegangen, hätte man Vertreter aus den britischen Dominions einladen müssen? Schon allein die Gruß- und Gratulationsadressen aus anderen Ländern des Empire stützten die republikanische Propaganda, wenn sie Irland zum Beitritt in die „Imperial partnership“ und zur Aufnahme „into the British family of nations“ gratulierten.695 So beschränkte sich die Freistaatsführung auch bei der kleinen offiziellen Staatsgründungsfeier im Haus des Govenor Generals und anschließend im Parlamentsgebäude bewußt auf ein „minimum of pomp and ceremony.“696 Die Abgeordneten legten den Treueid auf den König demonstrativ so lustlos wie möglich ab und gingen schnell zur Tagesordnung über. Um „Freistaat“ zu inszenieren, gab es während und nach dem Krieg geeignetere Daten als den Staatsgründungstag: den St. Patricks Tag, den Todestag Wolfe Tones und die gemeinsam gefeierten Todestage von Griffith und Collins. An solchen Tagen versuchten die Freistaatspropagandisten, nationale Emotionen neu zu beleben und griffen dabei zur Irritation ihrer unionistischen Verbündeten häufig auf die traditionelle anti-britische Rhetorik zurück.697 Mittelpunkt dieser Feiern war neben den Festreden jedesmal eine groß angelegte Militärparade mit Appell vor der „flag that came out of the fires of Easter Week“.698 Eigens dafür angeheuerte Reichswehroffiziere vermittelten eine deutsche Drillpraxis und sorgten so dafür, daß sich das Zeremoniell dieser Paraden sichtbar von dem der britischen Armee abhob. Denselben Zweck hatten Elemente deutscher Uniformen und eine in England produzierte Variante des deutschen Stahlhelms.699
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IRISH TIMES, 8. Dezember 1922, S. 4, Grußadressen des High Commissioners von Südafrika und Neufundland; ebenso in: AN POBLACHT-WAR NEWS, 11. Dezember 1922; FLK, DeV, 241, de Valera an Brennan, 11. Dezember 1922. EVENING HERALD, 7. Dezember 1922; YOUNG IRELAND, 23. Dezember 1922, S. 3. IRISH TIMES, 18. März 1923, S. 6, 8. IRISH TIMES, 18. März 1923, S. 8; IRISH INDEPENDENT, 19. März 1923, S. 7, Bericht über das Aufziehen der Flagge; AN TOGLACH, 24. März 1923, S. 8 f. GARVIN, 1922, S. 61, 123 f.
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Mit diesen Paraden transportierte die Freistaatsführung noch lange nach dem Bürgerkrieg unterschiedliche Geschichten für unterschiedliche Adressaten: den Republikanern erzählten die Paraden von der militärischen Überlegenheit des Freistaats, der Bevölkerung von „law and order“ und staatlicher Souveränität und der Armee selbst von militärischer Professionalität und Patriotismus. Wie An tOglach den Freistaatssoldaten Ende 1922 erklärte: „The soldierly spirit with its patriotism and love of country, which impells man to sacrifice himself [. . .] may be developed by ceremonial parades on the occasions of national festivals.“700 Der freistaatliche Versuch, nationale Feiertage zu belegen, gelang nicht immer gleich gut. Den St. Patrickstag konnte die Freistaatsführung erfolgreich besetzen: 1925 erklärte sie ihn zum Nationalfeiertag und machte ihn damit zum sichtbaren Zeichen irischer Souveränität.701 Dazu lockerte sie das militärische Zeremoniell durch zivile Veranstaltungen auf. Die Endspiele des Freistaatcups in den nationalen Sportarten Hurley und Gaelicfootball fanden bald mehr Zulauf als die offiziellen Staatsfeiern. Doch auch diese scheinbar unpolitischen Veranstaltungen stellten freistaatliche „Irishness“ her, zeigten, wie das Executive Council die nationale gälische Kultur förderte.702 Während republikanische Feiern am St. Patrickstag öffentlich kaum auffielen, machten die Republikaner der Freistaatsführung das Monopol auf die jährliche Pilgerfahrt zum Grab von Wolfe Tone streitig. Sobald die freistaatliche Prominenz heimgekehrt war, kamen die führenden Republikaner auf das Gelände, um ihre Wolfe-Tone-Feier abzuhalten. Nicht nur, daß sie denselben Märtyrer mit denselben Worten, denselben Liedern und unter derselben Flagge ehrten: Selbst die Blumenkreuze, die der freistaatliche Regierungschef Cosgrave und der Präsident der „de jure Republic“ de Valera an Tones Grab niederlegten, sahen 1925 identisch aus.703 Endete der Kampf um Wolfe Tone so in einer rückblickend fast grotesken Pattsituation, so verlor die Freistaatsführung mit dem Zugriff auf „1916“
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AN TOGLACH, 23. Dezember 1922, S. 1; IRISH TIMES, 18. März 1923, S. 8, registriert bei der Parade am St. Patrickstag 1923 eine deutliche Verbesserung der äußeren Disziplin; IRISH INDEPENDENT, 18. März 1925, S. 5; 18. März 1926, S. 3, 6, 7. Zu Griffiths und Collins Todestag: IRISH INDEPENDENT, 18. August 1924, S. 3; 20. August 1926, S. 3; 23. August 1926, S. 3; Zur „Wolfe Tone commemoration“ siehe: IRISH INDEPENDENT, 25. Juni 1923, S. 3, 5; 23. Juni 1924, S. 3; 22. Juni 1925, S. 3, 7; 21. Juni 1926, S. 5. IRISH INDEPENDENT, 18. März 1925, S. 4. Ebd., 18. März 1924, S. 4; 18. März 1925, S. 5; 18. März 1926, S. 9. Ebd., 22. Juni 1925, S. 3; vgl. 23. Juni 1924, S. 5; 22. Juni 1925, S. 3; 21. Juni 1926, S. 5; AN POBLACHT, 20. Juni 1925, S. 1, 26. Mai 1925, S. 1–3.
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auch den Zugriff auf die Feiern am Ostermontag. Während die Republikaner Jahr für Jahr Ostermontag an den Gräbern der Märtyrer des Bürgerkrieges feierten, verzichtete die Freistaatsführung sogar am zehnten Jahrestag des Osteraufstandes auf eine groß angelegte Feier.704 Zu groß schien offenbar das Risiko einer peinlichen Gegendemonstration durch die noch lebenden Angehörigen der Neunzehnsechzehner, die fast ausschließlich die Republikaner unterstützten. In diesem Kontext war der meist nahe an Ostern liegenden St. Patrickstag ein gelegener Ausweichtermin, um auch „1916“ zu thematisieren. Erst spät im Jahr 1926 enthüllte die Freistaatsführung auf dem Friedhof in Glasnevin ein Denkmal – in gebührendem Sicherheitsabstand vom mittlerweile von republikanischen Bürgerkriegsmärtyrern belegten „republican plot“.705 Relativ wenig Erfolg, nationale Dignität herzustellen, hatten die Freistaatsaktivisten auch mit einem ursprünglich von de Valera angeregten gälischen Sport- und Kulturfest.706 Mit ihrer gälischen Form der Olympischen Spiele wollten die freistaatlichen Aktivisten an eine bis ins Jahr 1600 vor Christus zurückreichende Tradition von Tailteann-Spielen anknüpfen. Erst im August 1924 konnten die für 1922 geplanten Spiele doch noch stattfinden. Dabei versuchte der Freistaat über ein elaboriertes Bild- und Sportprogramm, aber auch durch prominente Gäste „Irishness“ herzustellen: Aus den USA hatten die freistaatlichen Propagandisten de Valeras Intimfeind, den mittlerweile zweiundachtzig Jahre alten Fenier John Devoy, nach Irland gebracht. Damit demonstrierten sie die lebende Kontinuiät des Freistaats zur revolutionären Vergangenheit des neunzehnten Jahrhunderts. Dazu hatten sie den als „King of Irish Song“ bekannten irischen Amerikaner John McCormack gewinnen können. Das Rahmenprogramm und die Requisiten der Spiele waren mit nationalen Symbolen überladen. Dabei orientierten sich die Propagandisten offenbar auch am stärker traditionellen Geschmack der Iren aus der britischen, australischen und amerikanischen Diaspora. Athleten und Schauspieler erschienen mit als keltisch deklarierten Waffen und Kostümen, begleitet von Wolfshundrückzüchtungen. Am Eingang zum Dubliner Stadion in Croke
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Republikanische Feiern: IRISH INDEPENDENT, 21. April 1924, S. 5; SINN FEIN, 19. April 1924, S. 1; am „republican plot“ in Glasnevin; SINN FEIN, 18. April 1925, S. 1, 5, am Grab Lynchs in Fermoy; SINN FEIN, 9. April 1926, S. 1, 3, in Glasnevin. Es zeigte in klassischer Ikonographie der Pieta einen toten Revolutionär mit den Zügen von Pearse in den Armen des weiblichen Irlands. Abbildung, in: IRISH INDEPENDENT, 3. August 1926, S. 3. MANDLE, The Gaelic Athletic Association, S. 196.
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Park hatten die Propagandisten die Ruine eines Rundturms und eine keltische Burg nachgebaut. Die Trophäen hatte der renommierte Bildhauer Albert Power in der Form traditioneller weiblicher Irlandallegorien entworfen.707 Die Ansprache zur Eröffnung hielt der Cheforganisator der Spiele, Postminister James Walsh, nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Irisch. Auch im Mittelpunkt der Spiele stand das Herstellen von „Irishness“. Wettkämpfe gab es ausschließlich in nationalen Sportarten wie Hurling- und Gaelicfootball. Dabei transportierte schon ein einfacher Gegenstand wie ein Hurling-Schläger eine ganze Reihe nationaler Assoziationen: In den keltischen Sagen war er das Lieblingsspielzeug des mythischen Helden Cuchulain gewesen. Nach 1916 diente er bei den Paraden und Übungen der Irish Volunteers als Übungsgewehr. So vermittelten nationale Sportarten den Zuschauern über deren sportliches Interesse zugleich die gälische Identität des Freistaats.708 James Walsh hatte die Tailteann-Spiele als „biggest Athletic festival held in any country in modern time“709 geplant. Doch die Spiele fanden in der durch den Bürgerkrieg vergifteten politischen Atmosphäre wenig internationalen und nur geteilten nationalen Zulauf: Die Republikaner boykottierten die Spiele. Selbst Regierungschef Cosgrave erschien nicht persönlich zur Eröffnung, weil er einen offenbar dringenderen Termin in England hatte. Athleten aus der irischen Diaspora in Amerika und Australien kamen nur zu den Spielen, weil sie wegen der Olympischen Spiele in Paris ohnehin in Europa waren. Internationale Touristen interessierten sich mehr für die „britische“ Dublin Horse Show als für die „gälischen“ Spiele, Gesangswettbewerbe und Theaterstücke. Noch ein anderer, schwer kontrollierbarer Faktor relativierte den freistaatlichen Versuch, „Irishness“ zu produzieren: Die irischen Athleten gewannen kaum einen Wettbewerb.710
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BHREATHNACH-LYNCH, Power, S. 49. IRISH INDEPENDENT, 1. August 1924, S. 3 f., S. 9; 15. August 1924, S. 5, Photos von Theateraufführungen; vgl. 4. August 1924, S. 7; MCREDMOND (Hrsg.), Photographs, S. 102 f.; MANDLE, Gaelic Athletic Association, S. 216–9. YOUNG IRELAND, 17. Juni 1922, S. 5. IRISH INDEPENDENT, 1. August 1924, S. 3 f., 9; 18. August 1924, S. 4; SINN FEIN, 19. April 1924, S. 5; Ein positiveres Fazit zieht MANDLE, Gaelic Athletic Association, S. 219.
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3. GÄLISCH SPRECHEN – IRISCH SEIN Nicht nur beim Kampf um die Hymne, die Trikolore und die „geweihten“ Plätze in Glasnevin konkurrierten die beiden Bürgerkriegsparteien um das alleinige Recht an der nationalen Tradition. Wie mit den „gälischen“ Tailteann-Spielen, wie mit irisch-sprachigen Festreden und einer offiziell irisch-sprachigen Hymne versuchten die Freistaatspropagandisten, gälische Kultur und gälische Sprache zu monopolisieren. Britische Kritiker beobachteten immer wieder amüsiert bis kopfschüttelnd, wieviel Energie die Freistaatsführung in anscheinende Nebensächlichkeiten wie die Farbe von Postkästen oder die Förderung der irischen Sprache investierte. Warum beschäftigte sich ein Staat, der um sein Überleben kämpfte, mit Trivialitäten, ließ etwa Dutzende von Straßennamen in eine Sprache übersetzen, „which [was] beyond the powers of nintey-nine per cent of the population to pronounce, much less to read.“711 Was die britischen Beobachter nicht verstanden, war: Für den neu gegründeten Freistaat war Kulturnationalismus eine Überlebensfrage, eine der wichtigsten Möglichkeiten, „Irishness“ zu produzieren. Vertragsbefürwortende und vertragsablehnende Propaganda übernahmen nach der Spaltung Sinn Feins bruchlos die „Irish Ireland“-Rhetorik von Gaelic League und revolutionärer Bewegung. Sie grenzten auch weiterhin über die irische Sprache das spirituelle, reine und keltische Irland vom materiellen und sächsischen England ab.712 Der irische Freistaat versuchte sich, wo er konnte, einen gälischen Anstrich zu geben: Aus dem von Beaslais Zensur tabuisierten, aber juristisch korrekten Terminus „Provisional Government“ machte Kennedy das „Rialtas Sealadach na hEireann“713, aus „Provisional Parliament of Southern Ireland“ wurde „Dail Eireann“,714 aus „Free State“ wurde „Saorstat Eireann“. „Saorstat Eireann“ war dabei kein neu erfundenes Etikett, sondern eine geschickte Wortwahl. Es war während des Unabhängigkeitskrieges, alternativ zu „An Poblacht na hEireann“, die offizielle Übersetzung von „Irish Republic“ gewesen.715 Außerhalb des offiziellen Schriftverkehrs galten aber auch gälische Termini, die auf den Vertrag verwiesen, als anstößig.
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MACREADY, Annals, Bd. 2, S. 620; THE ROUND TABLE, XIII, no. 50 (März 1923), S. 256. IRISH INDEPENDENT, 10. November 1922, S. 5, Rede von Beaslai; UCD, FGP, P80/298, MANCHESTER EVENING PRESS, Interview mit de Valera, 11. September 1922; vgl. PEARSE, Political Writings, S. 135. UCD, KP, P4/286, Kennedy an Lord Chief Justice, 23. Juli 1922. DAIL DEBATES, 5. September 1922, S. 1. Exemplarisch: FREEMAN’S JOURNAL, 11. Oktober 1922, S. 1; GARVIN, 1922, S. 54, 138.
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Als der Herausgeber des Catholic Bulletin J.J. O’Kelly und die Vertragsgegner in der Gaelic League am Terminus „Rialtas Sealadach na hEireann“ festhielten, unterdrückten die vertragsbefürwortenden Truppen ab Ende August das Journal der Gaelic League für über zwei Monate.716 Als offizielles Gesetzblatt taufte die Führung der Vertragsbefürworter schon im Februar 1922 die ehemals britische Dublin Gazette in Iris Oifigiul um.717 Beaslai mußte für dieses Blatt Gesetzestexte und Proklamationen ins Irische übersetzen. Alle offiziellen Erlasse erschienen darauf bald zweisprachig.718 Die republikanische Gegenregierung bekam ab Oktober 1922 dasselbe Problem: Während de Valera und seine Minister ihre Proklamationen als „english translations“ ausgaben, suchten sie lange nach einem geeigneten Mann, der die dazu passenden irischen Originale herstellen konnte.719 Genauso hatte auch das „Government of the Republic of Ireland“ offiziell einen gälischen Titel: „Dail Eireann“. Es hieß damit wie das freistaatliche Parlament.720 Im Freistaatsparlament wie auf offiziellen nationalen Festen blieb es – wie schon im Unabhängigkeitskrieg – Konvention, Reden mit ein paar irischen Sätzen einzuleiten. Das verlieh dem irischen Parlament aus britischer Sicht einen Hauch Exotik, aus Sicht der Vertragsbefürworter nationale Dignität.721 Auch vertragsbefürwortende und vertragsablehnende Propagandablätter enthielten meist irisch-sprachige Artikel. Dazu erfanden sich auch die Revolutionäre selbst neue gälische Identitäten. Schon lange vor der Vertragsspaltung hatten sich die meisten Aktivisten einen gälischen Zweitnamen zugelegt. Aus Michael Collins wurde Mícheál O Coileáin, aus Ernie O’Malley Earan Ó Maille – auch wenn beide wenig Irisch sprachen.722 Innerhalb Dail Eireanns hatte jeder Abgeordnete seit 1919 einen offiziellen gälischen Namen – bis auf de Valera und Childers, deren Namen sich auch mit Gewalt nicht übersetzen ließen.723 Gerade der als „damned Eng-
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FAINNE AN LAE, 26. August 1922 (=no. 145), 4. November 1922 (= no. 146); THE NATION 26. August 1922, S. 5; Eason’s Archive, Conradh na Gaelige (Gaelic League) an Charles Eason, 29. August 1922. NAI, PG Minutes, G1/1, 8. Februar 1922; NAI, D/T, S-463, Brief an alle irischen Zeitungen, 15. Februar 1922. NAI, PG Minutes, G1/1, 10. Februar 1922; FREEMAN’S JOURNAL, 11. Oktober 1922, S. 1. FLK, DeV, 241, de Valera an Brennan, 26. Oktober 1922; 12 November 1922; 14. November 1922; Brennan an de Valera, 26. Oktober 1922; FLK, DeV, 310/1. Exemplarisch: FLK, DeV, 268/3, Kathleen O’Connell an Tagespresse, 19. August 1923. THE ROUND TABLE, XIII, no.52 (September 1923), S. 791 f.; IRISH TIMES, 18. März 1923, S. 8. Vgl. ENGLISH, Green on Red, S. 173. DEBATE ON TREATY, roll call, 19. Dezember 1921, S. 17 f.
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lishman“ ausgegrenzte Childers hätte gerne von der mit einem gälischen Namen verbundenen „Irishness“ profitiert. Er bat deshalb den Abgeordneten Professor Michael Hayes, „Childers“ ins Gälische zu übersetzen. Folgt man Carlton Youngers Anekdote, bekam er darauf die entmutigende Antwort: „It was like asking the English for Figaro“.724 Zumindest als Minister für Propaganda hatte Childers einen eindrucksvollen gälischen Titel: „An tAire um Chraobhscaoileachan.“725 Das Phänomen massenweise gälisierter Namen beschränkte sich nicht auf die revolutionäre Elite. So beobachtete der ehemalige republikanische Propagandist Frank O’Connor spöttisch: Mit einem neuen gälischen Etikett ließ sich mit wenig Risiko und ohne viel Aufwand auch der Umsatz steigern. It was childish, of course, but so was everything else about the period, like the little grocery shop you saw being re-painted and the name on the fascia board changed from „J[ohn] Murphy“ to „Sean O’Murchadha“.726
Namen ließen sich nicht nur gälisieren, sie ließen sich genauso auch anglisieren. So übersetzte die Bürgerkriegspropaganda Namen der gegnerischen Seite ins Englische, um sie als „britisch“ zu diskreditieren. Das war gerade bei Revolutionären wirkungsvoll, deren englische Namen schon halb vergessen waren. So machte die gegnerische Propaganda aus Beaslai wieder Pierce Beasley, aus Aodh de Blacam Hugh Blacke und aus Cathal Brugha Charles Burgess.727 Darüber hinaus ließen sich englische Akzente als antinationales Merkmal instrumentalisieren: Dem in London aufgewachsenen FitzGerald wurde ein Cockney-Akzent nachgesagt.728 Die Feministin Charlotte Despard, Childers und sein Cousin Robert Barton sprachen einen englischen upper-class-Akzent. Dazu kam gerade bei Childers ein ganzer als britisch identifizierbarer Habitus.729 Ein falscher Akzent konnte die Handlungsmöglichkeiten eines Aktivisten völlig lahmlegen. So konnte
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YOUNGER, Civil War, S. 486. DAIL DEBATES, Childers, 17. August 1921, S. 76. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 186; vgl. THE ROUND TABLE, XIV, no. 54 (März 1924), S. 320; vgl. RUTH EDWARDS, Triumph, S. 79–81. AN POBLACHT-WAR NEWS, 24. Juli 1922, AN POBLACHT-SCOTTISH EDITION, 26. August 1922, S. 7; FENIAN, 19. September 1922; FREE STATE, 13. Mai 1922, S. 1; NAI, DFA, PG/ IFS, box 3, John J. O’Keefee an Minister Publicity, 18. April 1923; IRISH TIMES, 8. Juli 1922, S. 7; FREE STATE, 13. Mai 1922, S. 1; vgl. UCD, FGP, P80/736, FitzGerald an Austin Clarke, 5. September 1922; ebd., Memo, FitzGerald, 19. August 1922; IRISH TIMES, 8. Juli 1922, S. 7. MORNING POST, 31. August 1922, S. 6; IRISH STATESMAN, 22. September 1922, S. 40. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 211; O’MALLEY, Singing Flame, S. 194; RING, Childers, S. 280; BOYLE, Childers, S. 298 f., 315.
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Charlotte Despard auf den von ihr organisierten anti-Gefängnis-Demonstrationen keine Reden halten. Solange ihre Partnerin Maud Gonne selbst inhaftiert war, mußte sie notgedrungen eine Ersatzrednerin organisieren.730 Irish-Ireland-Rhetorik war für viele Aktivisten mehr als ein Versteckspiel um Namen und Etiketten, mehr als eine Rhetorikkonvention oder ein Lippenbekenntnis. Auf der vertragsablehnenden Seite fanden sich dezidierte Sprachaktivisten wie Cathal Brugha oder der Herausgeber des Catholic Bulletin J.J. O’Kelly. Auch auf der vertragsbefürwortenden Seite war für viele ehemalige Revolutionäre das Engagement für die irische Sprache bitterer Ernst, ja Lebensaufgabe. Zu ihnen zählte etwa Bildungsminister Eoin MacNeill, der 1893 zusammen mit Douglas Hyde die Gaelic League gegründet hatte. Die beiden Chefpropagandisten der Vertragsbefürworter, FitzGerald und Beaslai, waren genauso engagierte Gaelic Leaguer wie Finanzminister Ernest Blythe. Wie erwähnt, verfaßte Beaslai vor und nach der Revolution nicht nur irische Theaterstücke. Er schrieb während des Bürgerkrieges selbst seine Tagebücher auf Irisch. So vergewisserte er sich, daß er trotz Vertrag und trotz seiner Arbeit als Zensor immer noch „irisch“ war.731 Über diese entschlossenen Sprachaktivisten versuchten beide Bürgerkriegsparteien, die Gaelic League auf ihre Seite zu ziehen.732 Irish-Irland-Rhetorik ließ sich auch direkt auf die Vertragsfrage beziehen. Die Republikaner argumentierten einmal mehr moralisch: mit der Antithese vom spirituellen gälischen Irland und materiellen England. Sie unterstellten, der Vertrag besiegele die Anglisierung Irlands endgültig, der „Hof“ des englischen Govenor Generals werde zum Einfallstor für dekadente britische Sitten.733 Umgekehrt sprach die vertragsbefürwortende Propaganda der IRA das Gälisch-Sein ab. Sie attestierte ihr statt einer spirituellen „Gaelic culture“ eine militaristische „German culture“.734 Dabei nutzten die Vertragsbefürworter den Kampf um die irische Sprache als Argument für den Vertrag. Beaslai: If the British Army clears out you will have a real Irish national education in twelve months, and you can have all Ireland Irish-speaking in two generations. [.. .] I tell
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WARD, Maud Gonne, S. 136. AN TOGLACH, vol.1, no.11, (Winter 1965); NLI, BP, box 19, Diary, 1922. UNITED IRISHMAN, 14. April 1921, S. 6; IRISH INDEPENDENT, 10. November 1922, S. 5. DEBATE ON TREATY, Constanze de Markievicz, 3. Januar 1922, S. 184; PLAIN PEOPLE, 21. Mai 1922, S. 3. UNITED IRISHMAN, 14. April 1921, S. 6.
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you if you reject this treaty it will not take ten years or twenty years or forty years, for you will never see the day it will happen.735
Auf dieser pragmatischen Ebene lag eine legitimatorische Chance für den Freistaat, die die moralisierenden Vertragsgegner nicht hatten: Die Freistaatsführung konnte sich durch eine aktive gälische Sprachpolitik national legitimieren. Im Konsens mit der katholischen Kirche setzte sie einen Lehrplan um, der irische Sprache und den Unterricht in irischer Geschichte als Kern freistaatlich-nationaler Identitätsstiftung garantierte. Ab 1924 war Irisch Pflichtfach an jeder Schule – auf Kosten von Geistes- und Naturwissenschaften. Eine Generation später konnte fast jeder Ire, ob er wollte oder nicht, etwas Irisch. Das Aussterben der Sprache konnte diese Politik jedoch nicht bremsen. Nicht zuletzt das unbeliebte „Zwangsirisch“ zerstörte viel vom bis dahin verbreiteten Enthusiasmus für die Sprache.736 4. AUSSENPOLITIK, INNENPOLITIK UND DAS HERSTELLEN NATIONALER LEGITIMITÄT Auch die Außen- und Innenpolitik der Freistaatsregierung verfolgte mal weniger, mal übermäßig deutlich legitimatorische Ziele. Außenpolitik war ein geeignetes Politikfeld, um staatliche Souveränität nach innen zu demonstrieren. Sie hatte fast ausschließlich propagandistische Ziele und wurde von FitzGerald als Schaustück für das irische Publikum inszeniert.737 Auch innenpolitische Maßnahmen beschränkten sich nicht nur auf Realpolitik: Der Malicious Injuries Act, die Landgesetzgebung und die konservative Kulturund Familienpolitik der Regierung sollten auch helfen, nationale Legitimität herzustellen. Im Bürgerkrieg kämpfte die Freistaatsführung innenpolitisch ums Überleben. Deshalb hatte sie keine Zeit, den diplomatischen Dienst auszubauen, der durch die Vertragsspaltung auf fünf Mann zusammengeschrumpft war. Nach dem Bürgerkrieg erwog die Freistaatsführung sogar, das überflüssige Außenministerium zu streichen. Viele Hinterbänkler und vor allem das mächtige Finanzministerium dachten eher in der Kategorie Geld als in der Kategorie Propaganda: Sie sahen im Außenministerium ein teures, theatra735 736
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DEBATE ON TREATY, Beaslai, 3. Januar 1922, S. 179; FREE STATE, 25. Februar 1922, S. 4, Artikel von Griffith. O’CALLAGHAN, Language, S. 229 f., 241, 243–5; TWOMEY-RYAN, Church, S. 108–13; DOHERTY, National Identity, S. 337–43; LANKFORD, Hope, S. 125, 232; TERENCE BROWN, Ireland, S. 47–53, 60–2. FREEMAN’S JOURNAL, 13. November 1923, S. 4; Auch hier verwende ich die Theatermetapher im Sinne von: DENNING, Mr. Bligh, passim; LÜSEBRINK, Transfer, S. 38.
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lisches Prestigeobjekt und eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für den neuen Außenminister FitzGerald.738 FitzGerald war eine naheliegende Wahl für diesen Posten. Er hatte seit dem Unabhängigkeitskrieg die Auslandspropaganda koordiniert, sprach mehrere Sprachen und hatte gute Kontakte zur internationalen Presse. Ab 6. Dezember 1922 Mitglied des freistaatlichen Executive Council, gehörte FitzGerald zu den einflußreichsten Politikern des neuen Staates.739 Was machte FitzGerald als Außenminister? Auf der Imperial Conference Ende 1923 etwa befürwortete er einen souveränen Dominion-Status für Indien. Damit demonstrierte FitzGerald dem irischen Publikum nicht nur, daß der irische Außenminister eine andere Meinung als die britische Regierung haben durfte. Er propagandierte freistaatliche Souveränität auch damit, daß er sie an seinen Vorschlägen für Indien ausführte: „Now we recognise the Dominions as independent sovereign countries.“740 Sein erster großer außenpolitischer Propagandacoup gelang FitzGerald im September 1923. Was er schon im Februar 1922 als Zeichen irischer Souveränität angekündigt hatte, setzte das Executive Council nun um: Der Freistaat wurde als selbständiges Mitglied im Völkerbund aufgenommen.741 In den folgenden Jahren nutzte FitzGerald den Völkerbund als Bühne, um irische Unabhängigkeit und Neutralität zu inszenieren. Er begründete damit eine propagandistische Übung, die de Valera in den Jahren nach 1932 zur Perfektion führte.742 Während FitzGerald über den Völkerbund freistaatliche Souveränität sichtbar machte, scheiterte er schon bei einer vergleichsweise unspektakulären Maßnahmen wie dem Herstellen irischer Pässe. Die britische Regierung tolerierte nicht, daß der Freistaat einen sichtbaren Beweis seiner Souveränität an seine Bürger auslieferte und erkannte die irischen Pässe nicht an.743 Auch wo FitzGeralds Auftritte nicht für das irische Publikum gedacht waren, verfolgte er propagandistische Ziele. Das galt schon für seine erste Auslandsreise, als er im April 1923 nach Rom fuhr, um so taktvoll wie möglich
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KEOGH, Ireland and Europe, S. 12–22, Zitat S. 22. Ebd., S. 15; NAI, PG Minutes, G1/3, 30. August 1922; NAI, EC Minutes, S. 1. FREEMAN’S JOURNAL, 2. November 1923, S. 5 f.; UCD, MP, P7/B/240, DUBLIN DOINGS, 7. Juni 1923. UCD, MNP, LA/1/F/27, MacNeill, Memo, 13. November 1923; FREE STATE, 25. Februar 1923, S. 1, Artikel von FitzGerald; vgl. DAIL DEBATES, FitzGerald, 14. September 1922, S. 265. KEOGH, Ireland and Europe, S. 23; FOSTER, Modern Ireland, S. 516 f., 533. BRIAN KENNEDY, Visual Perspective, S. 137.
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zu erreichen, daß der unliebsame päpstliche Gesandte Luzio Irland wieder verließ.744 Erst langsam entwickelte sich in den zwanziger Jahren aus solchen Ansätzen ein funktionierendes Außenministerium und eine eigenständige Außenpolitik – im Schatten Großbritanniens.745 Eine wirklich unabhängige Außenpolitik wäre ein legitimatorisch riskantes, vermutlich kontraproduktives Politikfeld geworden: Gerade außenpolitisch war die Souveränität des Freistaats nicht nur symbolisch beschränkt. Bis 1927 liefen alle offiziellen außenpolitischen Kontakte über das Symbol der britischen Krone in Irland, den Governor General Timothy Healy.746 Wieweit unter diesen Umständen eine unabhängige Außenpolitik überhaupt möglich gewesen wäre, das hätte das freistaatliche Executive Council erst einmal ausloten müssen. Selbständige Außenpolitik, außenpolitische Provokationen wären ein klassisches Feld für „stepping-stone“-Politik gewesen.747 Doch die Freistaatsführung wollte ja nationale Souveränität, nicht die Grenzen ihrer nationalen Souveränität thematisieren. Auf Brüche in der nationalen Souveränität lauerte die republikanische Propaganda. Sie mußte sich dabei nicht nur auf allgemein formulierte Vorwürfe beschränken. Durch einen Informanten im Department for Industry and Commerce gelangten die republikanischen Propagandisten an brisante und aktuelle Geschichten. So konnte Eire am 30. Juni 1923 gleich zwei Indiskretionen berichten, die den Freistaat als „britisch“ belasteten: Es gab im Ausland keine unabhängigen irischen Handelsvertretungen, sondern nur „Free State Agents under the Union Jack“. Und: Das Executive Council hatte nicht die Schweizer Regierung, sondern nur die britische Delegation in Bern über den Amtsantritt ihres Vertreters beim Völkerbund informiert. In diesem Kontext wurde der Völkerbund von einem Symbol der Souveränität zu einem Symbol von Irlands „Kolonialstatus.“748 Im Juli 1923 reagierte der republikanische Informant erneut auf eine symbolische Unterordnung Irlands. Wieder reichte er einen Brief des britischen Colonial Office an die Presse weiter. Danach durften irische Schiffe in Seenot nicht mit Hilfe rechnen, solange sie die irische Trikolore führten. Auf die Symbole der Unterjochung Irlands fixiert, fiel dem Informanten 744 745 746 747 748
KEOGH, Ireland and Europe, S. 21; ders., Vatican, S. 188. KEOGH, Ireland and Europe, S. 26. KEOGH, Ireland and Europe, S. 22. Vgl. dazu Gavan Duffys Vorstellungen einer unabhängigen Außenpolitik: DAIL DEBATES, Gavan Duffy, 25. Juni 1923, S. 2387–91; KEOGH, Ireland and Europe, S. 14 f. CATHOLIC BULLETIN, Oktober 1923, S. 672 f.; vgl. UCD, P4/551, Sean Lester, Memo Irregular Propaganda, 4. Januar 1924.
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nicht auf, wie unwahrscheinlich seine Geschichte schon aus seerechtlichen Gründen war. Er war einer nur an ihn lancierten Ente aufgesessen, wurde damit enttarnt und wenig später entlassen.749 In der Dubliner Tagespresse konnte sich die Freistaatspropaganda so kurz vor den Wahlen über die Naivität des Spions lustig machen. Dabei täuschte sie gleichzeitig auch über einen wunden Punkt hinweg; denn auf See galt weiter, auch symbolisch „Britannia rule[s] the waves“. Die britische Regierung tolerierte nach wie vor keine selbständige irische Handelsflagge. Die irischen Schiffe fuhren deshalb bis 1939 mit der irischen Trikolore aus den Häfen aus, zogen aber, sobald sie außer Sichtweite waren, die britische Handelsflagge auf.750 Auch durch Innenpolitik konnte das freistaatliche Executive Council nationale Souveränität und revolutionäre Kontinuität demonstrieren. Innenpolitik war auf Dauer jedoch nicht als reines Schauspiel zu inszenieren. Sie war nur dann glaubwürdig, wenn sie trotz republikanischer Widerstände umgesetzt und damit erfahrbar wurde. Dafür konnten die Vertragsbefürworter im Gegensatz zu den Republikanern ihre Anhänger durch „practical politics“, am besten durch materielle Vorteile an sich binden – zumindest, wenn sie genug Geld dafür aufbringen konnten. Verglichen mit dem Kampf um Symbole oder mit der Scheinaußenpolitik war Innenpolitik eine ungleich teurere und mühsamere Angelegenheit. Da der Freistaat durch die enormen Kosten des Bürgerkrieges bereits hoch verschuldet war, kamen für die Regierung nur relativ preiswerte Maßnahmen in Frage.751 Dieser Zwang zum Sparen konnte den propagandistischen Nutzen einer innenpolitischen Maßnahme ruinieren, etwa beim Malicious Injuries Act. Dieses Gesetz sollte die Entschädigung für materielle Verluste aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges regeln. Körperliche Verletzungen oder Todesfälle zu entschädigen, war der Regierung jedoch zu teuer. Darauf reagierte die Dubliner Tagespresse wochenlang mit herber Kritik. Der sonst so linientreue Freeman geißelte, für die Regierung sei „property more sacred than human life“.752 Der Irish Independent varierte immer wieder dasselbe zynische Bild: Wo bei einem Mord das Opfer ins Herz getroffen wurde, ent-
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NAI, D/T, S-3151, H/1/18, Ministry for Industry and Commerce an Mr. Fawsitt, 21. August 1923; ebd., Memorandum, „Mr. Fawsitt“ 19. September 1923; ebd., fiktiver Brief des Colonial Office, 19. Juli 1923. HAYES-MCCOY, Irish Flags, S. 226 f.; NAI, D/T, S-3151, H/1/18, Zeitungsausschnitte: FREEMAN’S JOURNAL, 14. August 1923. HOPKINSON, Green, S. 273; FANNING, Department of Finance, S. 50, 54 f.; THE ROUND TABLE, XIII, no. 52 (September 1923), S. 794. FREEMAN’S JOURNAL, 13. Februar 1923, S. 4; vgl. ebd., 24. Februar 1923, S. 4.
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schädige der Malicious Injuries Act die Hinterbliebenen für den ruinierten Anzug, wo dabei die Tür aufgebrochen wurde, bezahle der Staat ein neues Schloß. Für den Ausfall des Familienernährers gebe es dagegen kein Geld.753 Der propagandistische Nutzen des Malicious Injuries Act blieb so auf halbem Wege stecken, weil das Executive Council wieder pragmatisch, diesmal ökonomisch dachte. Materielle Verluste zu entschädigen, belastete die Staatsfinanzen einmalig und war Teil des wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Und was die Regierung vor Dail Eireann nicht weiter thematisierte: Über die Hälfte der Kosten konnte die Regierung auf die britische Regierung und auf irische Versicherungsunternehmen abwälzen. Renten belasteten dagegen den Staatshaushalt auf Dauer. Sie machten 1922/23 ohnehin schon fünfzehn Prozent des Staatshaushalts aus. Die Regierung, die sich bereits ein Jahr später zu der unpopulären Maßnahme entschloß, die Renten deutlich zu kürzen, sah keinen Grund, mit weiteren Hinterbliebenenrenten Geld in die Taschen von Personen zu lenken, die überwiegend republikanisch dachten: Mütter, Witwen und Waisen republikanischer Märtyrer.754 Propagandistisch erfolgreicher und preiswerter war dagegen die andere große politische Initiative, die das Executive Council noch während des Bürgerkriegs einleitete: der Land Act. Der Land Act sollte einen Teil derjenigen Bauern zu Besitzern ihres Pachtlandes machen, die bisher noch nicht von der britischen Landgesetzgebung profitiert hatten. Weil die Bauern die ehemaligen Verpächter selbst entschädigen mußten, war diese Politik für die Freistaatsregierung nicht sehr teuer: Sie mußte nur Überbrückungskredite vorfinanzieren und zehn Prozent der Kaufsumme zuschießen. Die meist protestantischen Landlords wurden zwar nicht einfach entschädigungslos enteignet, aber sie waren gezwungen, ihr Land weit unter Marktwert, zumindest zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt zu verkaufen: Bürgerkrieg, Agrardepression und ein Überangebot durch die massenweise emigrierenden protestantischen Landbesitzer drückten die Preise.755 Das Landgesetz war propagandistisch und realpolitisch eine intelligente Politik. Das Executive Council entschärfte ein Stück (sozial)-revolutionären Potentials und ermöglichte einigen abhängigen Pächtern den lange er-
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IRISH INDEPENDENT, 1. März 1923, S. 4; 29. März 1923, S. 4. FANNING, Department of Finance, S. 110 f., 139, 142 f., 146 f., 154 f.; DAIL DEBATES, Cosgrave, 8. Februar 1923, S. 1362–7; 22. Februar 1923, S. 1618. IRISH INDEPENDENT, 29. Mai 1923, S. 7; LEE, Ireland 1912–1985, S. 71 f., 112–5.
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sehnten sozialen Aufstieg. Sie erlaubte ihnen den Zugriff auf die in Irland wichtigste Ernährungsgrundlage und das wichtigste Statussymbol: Land.756 Die kurz vor den Wahlen im August verabschiedete Landgesetzgebung machte aus abhängigen Kleinpächtern einen Teil einer gedachten Idealgesellschaft unabhängiger, landbesitzender Bauern.757 Sie ließ sich in die Tradition mit der Landagitation des neunzehnten Jahrhunderts stellen und mit einer traditionellen anti-britischen Rhetorik begründen: als Rückgabe an die „rechtmäßige Besitzer“, als Ende eines jahrhundertealten Kampfes gegen Ausbeutung.758 Wie die republikanische Propaganda richtete sich also auch die freistaatliche Politik gegen die Gespenster des Absentismus. Das machte den Land Act zu einer „nationalen“ Politik, legitimierte den Freistaat als souveränen Staat – auch bei denen, die nicht materiell durch den Land Act gewannen. Der Land Act ermöglichte zwar nationale, fast revolutionäre Rhetorik; revolutionär war die freistaatliche Politik aber nicht. Das Landgesetz von 1922/23 war weit weniger spektakulär als noch der britische Wyndham Act von 1903. Es war heimlich mit der britischen Regierung abgesprochen, die im Zuge der finanziellen Abwicklung des Vertrages auch die Kredite für den Landkauf vorfinanzierte.759 Wie Landwirschaftsminister Patrick Hogan auch im Parlament zugab, war der Land Act nur eine Fortsetzung der britischen Landgesetzgebung seit 1870. Um nicht in den Verdacht zu geraten, Sozialrevolutionäre zu sein, relativierten die Regierungsmitglieder so immer wieder die revolutionäre Tradition ihrer Politik und betonten, ihr Gesetz solle gleichermaßen fair zu Bauern und Landlords sein.760 Insgesamt änderte der Land Act nur wenig an der ineffizienten Agrarstruktur. Weil er die Bauern immer noch zu hoch belastete und nicht genügend Land zur Verfügung stellte, griff er nie richtig und wurde nur schleppend umgesetzt. Er blieb das einzige Gesetz, mit dem das Executive Council in den sozialen und ökonomischen Status quo eingriff.761
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TOWNSHEND, Political Violence, S. 108; GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 114; RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism, S. 37; FOSTER, Modern Ireland, S. 513 f.; THE ROUND TABLE, XIII, no. 52 (September 1923), S. 793; IRISH INDEPENDENT, 29. Mai 1923, S. 4. IRISH INDEPENDENT, 29. Mai 1923, S. 7. UCD, MP, P7/B/177, DUBLIN DOINGS, 31. Mai 1923; vgl. IRISH HOMESTEAD, 2. Juni 1923, S. 335; IRISH INDEPENDENT, 29. Mai 1923, S. 7. FANNING, Department of Finance, S. 136 f., 146. IRISH INDEPENDENT, 29. Mai 1923, S. 7; vgl. THE ROUND TABLE, XIII, no. 52 (September 1923), S. 793 f. VALIULIS, After the Revolution, S. 135; LEE, Ireland 1912–1985, S. 71 f., 112–5; vgl. auch das zurückhaltende Lob der VOICE OF LABOUR, 10. November 1923, S. 8.
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Am billigsten und effizientesten demonstrierte das Executive Council nationale Souveränität über seine restriktive katholische Kultur- und Familienpolitik. Über diese Politik konnte es auf einen Kern der traditionellen antithetisch angelegten, anti-britischen Rhetorik zurückgreifen: spirituelles, ländliches und moralisches Irland kontra materielles, urbanes und neoheidnisches England.762 Wieder war das keine Politik, mit der sich die Freistaatsführung von den Republikanern abgrenzte. Kultur- und familienpolitisch dachten Freistaatler und Republikaner gleichermaßen reaktionär.763 Wie bei Sprachpolitik, Landpolitik oder dem Kampf um Trikolore und „Soldier’s Song“ wollte die Freistaatsführung einmal mehr gemeinsame nationalistische Traditionen alleine besetzen. Schon im Unabhängigkeitskrieg hatte die IRA immer wieder britische Zeitschriften, Zeitungen und Klatschblätter verbrannt. Kampagnen gegen sogenannte „evil literature“764 waren Teil der traditionell antibritischen Rhetorik schon lange vor 1916 und noch lange nach 1922. Ob katholische Kirche, Home Rule, Gaelic League oder Sinn Fein: Fast alle Richtungen des irischen Nationalismus propagierten, das spirituelle Irland vor den unmoralischen, liberalen und materiellen Versuchungen Englands zu schützen.765 Doch während die Republikaner nur kommentierten, konnten die Vertragsbefürworter eine nationale Kultur- und Familienpolitik umsetzen und so beweisen, wie souverän, anti-britisch, also irisch ihr Staat war. Binnen weniger Jahre verbot die Regierung Scheidung und Geburtenkontrolle und erschwerte gemischt konfessionelle Ehen. Die Kontrolle über Grund- und weiterführende Schulen überließ der Staat fast völlig der katholischen Kirche.766 Noch in den letzten Tagen des Bürgerkrieges begann der Dail mit der Lesung eines „Censorship of Films Act“, „[to protect] the religious and moral welfare of our people.“767 Ab 1929 führte in Irland das bald berüchtigte Censorship Board den Kulturkampf gegen „evil literature“. Unter den 1200 Büchern, die die Behörde in den dreißiger Jahren verbot, war nicht nur die
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O’HEGARTY, Victory, S. 176–81. DOHERTY, National Identity, S. 337–43; FOSTER, Modern Ireland, S. 544–7. Exemplarisch: LIMERICK LEADER, 22. Februar 1922, S. 3. TERENCE BROWN, Ireland, S. 68–74; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 102–6; JOHN MURPHY, Censorship, S. 51 f.; EASON’S ARCHIVE, file „censorship“, Memo Bookstall Wexford Station, 6. Mai 1922. O’HEGARTY, Victory, S. 176–81; TWOMEY-RYAN, Church, S. 108–13; TERENCE BROWN, Ireland, S. 40 f. NAI, D/T, S-3026, statement by deputation to Minister of Home Affairs, ca. 30. April 1923.
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Pornographie und Groschenliteratur der Zeit, sondern eine ganze Reihe literarischer Werke renommierter zeitgenössischer irischer, englischer und europäischer Autoren. Namhafte Schriftsteller, darunter Frank O’Connor und Sean O’Casey, sahen sich bis in die siebziger Jahre von der Zensur gegängelt und emigrierten.768 Gegenwärtige und zeitgenössische Kommentatoren, vor allem die betroffenen Schriftsteller selbst, haben diese reaktionäre Kulturpolitik mit beißendem Spott und ohnmächtiger Wut kommentiert. Der Freistaat entfremdete sich so seine besten Literaten, seine kritischsten und fähigsten Intellektuellen und einen Gutteil der südirischen Unionisten, die ihre protestantische Identität gefährdet sahen.769 Entscheidender als das Entsetzen von Intellektuellen und Protestanten war aus der Perspektive des legitimatorisch unsicheren Freistaats jedoch der Konsens der Vielen.770 So gab es zur Filmzensur im Dail Eireann kaum Diskussion und keinen nennenswerten Widerstand. In den Worten des Abgeordneten William Magennis: „This is one of the few Bills for which I expect absolute unanimity.“771 Die Presse, aber auch die Mehrheit der Bevölkerung unterstützte die Kulturpolitik des Executive Council.772 Für die meist religiöse Bevölkerung waren moralische Kriterien sowohl verstehbar als auch legitim. Poetologische und ästhetische Kriterien waren dagegen etwas für Intellektuelle – eine ohnehin als antinational verdächtigte, als Wähler irrelevant kleine Minderheit.773 5. PRESSEPOLITIK ZWISCHEN DRUCK UND MANIPULATION Um Berichte über ihre als national identifizierbare Politik zu verbreiten, stützte sich die Freistaatsführung auf die von FitzGerald mittlerweile fast reibungslos organisierte Propaganda- und Pressekontrolle. Dabei vertraute das Executive Council immer weniger auf offizielle Propaganda. Die meisten vertragsbefürwortenden Blätter stellten schon früh 768 769
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TERENCE BROWN, Ireland, S. 40 f., 76, 149 f. Ders., S. 69, 149–54; FRANK O’CONNOR, My Father’s Son, S. 102, 152; O’CALLAGHAN, Language, S. 230–4, 238–240; LYONS, Burden, S. 99; FOSTER, Modern Ireland, S. 533–5; BOYCE, Nationalism, S. 339. DOHERTY, National Identity, S. 337 f.; TERENCE BROWN, Ireland, S. 30–41, 45, 149; O’CALLAGHAN, Language, S. 226, 229 f. DAIL DEBATES, William Magennis, 10. Mai 1923, S. 753. FREEMAN’S JOURNAL, 7. November 1922, S. 8; IRISH INDEPENDENT, 3. Januar 1922, S. 4; DROGHEDA INDEPENDENT, 19. Mai 1923, S. 4; LIMERICK LEADER, 22. Februar 1923, S. 3. Zurückhaltende Kritik an einer „intellectual censorship“, in: IRISH TIMES, 3. Januar 1922, S. 3; 9. August 1922, S. 4.
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ihr Erscheinen ein.774 Ab Januar 1923 existierte nur noch eine halboffizielle Propagandazeitschrift, der United Irishman, der erst im November 1923 aufgab. Die Freistaatsführung folgte dabei der Einsicht, daß offizielle Propaganda das Publikum ermüdete. FitzGerald: „We have ample evidence that the country is sick of this.“775 Das war ein erstaunlich selbstkritisches, aber nachvollziehbares Urteil. Dazu genügt ein Blick auf das Blatt Young Ireland, das zwischen September und November 1922 in endlosen Artikeln eine nicht vorhandene Politik der „reconstruction“ und des „getting back to normal“ propagierte.776 Statt dessen konzentrierten sich die vertragsbefürwortenden Propagagandisten auf ihre Pressepolitik. Wie im November und Dezember 1922 war die Politik der unkonstitutionellen Drohung, der „friendly interviews“ und formlosen „directions“ auch Anfang 1923 weitgehend effizient. Kritische Kommentare blieben die Ausnahme. Die Presse kooperierte und war in den Worten FitzGeralds bereit, „to omit anything which the Government desires them to omit.“777 Als Außenminister der Provisorischen Regierung gliederte FitzGerald im August 1922 das vormalige Dail Eireann Publicity Department, Mitte November 1922 auch das Press Room Department in das Außenministerium ein und beendete damit das Nebeneinander von mehreren zivilen Propagandabehörden.778 In diesem Zusammenhang war das Außenministerium auch eine willkommene Front, um unauffällig hohe Beträge in die Kassen der Propagandamaschinerie zu lenken.779 Denn auch als Außenminister beschäftigte sich FitzGerald nach wie vor hauptsächlich mit seiner Aufgabe als Chefpropagandist. Wie der unionistische Zyniker der Morning Post, Bretherton, zu Recht spottete:. „Having presumably no foreign affairs to administer for the moment . . .“780
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NAI, DFA, early files, Memorandum C/76, 1. Februar 1923; UCD, MP, P7/B/240, Saosam O’Broin an Provisional Government, 20. Oktober 1922; vgl. GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 100–3; Letzte Ausgaben: IRISH PEOPLE, 20. August 1922; THE SEPARATIST, 9. September 1922; FREE STATE, 11. November 1922, IRIS AN ARIM; 23. Dezember 1922; siehe auch: SOUTHERN BULLETIN, 6. Januar 1923–24. Februar 1923, Matrizenabzüge insgesamt zehn Ausgaben. NAI, DFA, early files, „publicity overseas“, FitzGerald an Cosgrave, 3. November 1922. YOUNG IRELAND, 16. September 1922, S. 4; 23. September 1922, S. 4; 21. Oktober 1922, S. 4; 30. September 1922, S. 4; 28. Oktober 1922, S. 1; 11. November 1922, S. 4. NAI, DFA, early files, PV, Memo re Propaganda, 7. Februar 1923. NAI, D/T, S-1882, Cosgrave an FitzGerald, 18. November 1922; Mr. Spillane an Provisorische Regierung, 20. November 1922. DAIL DEBATES, Thomas Johnson, 25. Juni 1923, S. 2397. MORNING POST, 14. November 1922, S. 7.
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Die Pressearbeit der Armee übernahm Captain Hugh Smith vom Department for Military Statistics. Er beeinflußte Journalisten, versorgte sie mit Information und verbot, sogenannte „undesirable matters“ zu veröffentlichen. Smith und FitzGerald kooperierten eng miteinander. Mit dem funktionierenden Militär Smith mußte sich FitzGerald nicht erst lange herumärgern wie mit dem querköpfigen Idealisten Beaslai. In Zweifelsfällen ordnete sich Smith FitzGerald unter, akzeptierte ihn faktisch als Vorgesetzten – und das, obwohl FitzGerald keinen militärischen Rang innehatte.781 Anfang Februar 1923 entlastete FitzGerald die zivile Publicity völlig von repressiven Maßnahmen. Er instruierte Smith: „It is obviously desirable that the suppression of items in the press should be done by the Military not by the Government.“782 Pressekontrolle ließ sich „offensichtlich“ besser als militärische Notstandsmaßnahme rechtfertigen, anstatt damit langfristig das Ansehen der Regierung zu belasten. Den Umstand, daß FitzGerald dennoch oft in letzter Instanz über Verbote entschied, erklärte er in einem Brief an den Herausgeber des Freeman’s Journal, Patrick Hooper, unschuldig damit, daß er durch ein Telephon in seinem Schlafzimmer auch nachts erreichbar sei.783 Ob die Presse das nun glaubte oder nicht, der Form nach war FitzGerald nichts nachzuweisen. Im Januar 1923 beschloß die Freistaatsführung, die Propaganda noch einmal drastisch auszubauen.784 Nachdem das Publicity Department seine restriktiven Aufgaben erfolgreich an das Militär weitergereicht hatte, baute es FitzGerald als Servicestelle für die Presse um. Für diese Aufgabe engagierte er einen Fachmann, der wußte, was die Presse erwartete: Sean Lester, Nachrichtenredakteur beim Freeman. Lester war ein alter Bekannter von FitzGerald und hatte schon während des Unabhängigkeitskrieges mit FitzGerald kooperiert, als er Sinn Fein-Propaganda über die Telegraphenanschlüsse des Freeman versandt hatte.785 Ab Februar 1923 übernahm Lester offiziell das Publicity Department, während FitzGerald als sein Vorgesetz-
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UCD, FGP, P80/306, Herausgeber des IRISH INDEPENDENT an Publicity Department, 20. November 1922; UCD, FGP, P80/338, FitzGerald an Mulcahy, 1. März 1923; AA, MI/ PR/7, report for week ending 9. Januar 1923; NAI, D/T, S-3361, report on structure of army, ca. 1. April 1923. UCD, FGP, P80/282, FitzGerald an Hugh Smith, ca. 5. Februar 1923. UCD, FGP, P80/282, FitzGerald an Patrick Hooper, 8. Februar 1923. UCD, MP, P7/B/321, O’Higgins, Memo for Defence Council, ca. 13. Januar 1923; ebd., Patrick Hogan, memo for Defence Council, 11. Januar 1923. UCD, MP, P7/B/178, Sean Lester an alle Minister, 26. Februar 1923; UCD, FGP, P80/295, Memorandum re MORNING POST von Lester für FitzGerald, 19. Juni 1923; KEOGH, Ireland and Europe, S. 11. In den zwanziger Jahren machte Lester im diplomatischen Dienst des Außenministeriums Karriere: ebd., S. 26, 28; FLK, DeV, 1413.
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ter im Hintergrund blieb. Lester bemühte sich um ein möglichst enges und vertrautes Verhältnis zur Presse, nutzte die bald täglichen Pressekonferenzen aber auch, um informell Druck auszuüben: I am anxious to establish at least one meeting daily with journalists at which I could dispense news of various departments and use the occasion, in as casual a way as possible, to discuss questions raised in the Press, checking mistaken points of view, and making suggestions for the Press to follow up. I cannot very well ask the journalists to attend merely to lecture them, but a constant supply of news items from the departments would give a raison d’ etre for a daily discussion.786
Das Publicity Departement setzte jetzt überwiegend auf scheinbar emotionslos formulierte Informationen.787 Wie schon seit Beginn des Bürgerkrieges, versorgte es die Presse mit abgefangenen republikanischen Briefen und mit ausgewählten Dokumenten, die der republikanischen Propaganda widersprachen.788 Ab Februar 1923 veröffentlichte das Publicity Department durchschnittlich drei bis vier offizielle Pressemitteilungen pro Tag. Dazu versorgte es die Dubliner Presse mit regierungsfreundlichen Artikeln aus ausländischen Zeitungen, gab ein wöchentliches Nordirlandbulletin heraus und schickte ein wöchentliches Informationsblatt an einflußreiche Personengruppen wie Klerus, Banker, Ärzte und Rechtsanwälte. Poster und Flugblätter ließ es in der Provinz durch die Truppen verteilen.789 Weil die Provinzpresse ihre überregionale Information fast ausschließlich aus der Dubliner Tagespresse und den britischen Zeitungen bezog, hatte sich das Publicity Department lange nicht um diese Blätter gekümmert. Auch das änderte sich jetzt: Ebenfalls ab Februar 1923 erhielten dreißig Provinzblätter eine wöchentliche Pressemitteilung der Regierung. Im Mai baute das Publicity Department sie zum Informationsblatt Dublin Doings aus. Die Dublin Doings waren ein durchschlagender Erfolg. Da die meisten Provinzblätter froh waren, endlich Informationen aus erster Hand zu ha-
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UCD, MP, P7/B/178, Sean Lester an alle Minister, 26. Februar 1923; Die Armee veröffentlichte ihre Nachrichten weiter unabhängig von Lester über das Army Publicity Department: UCD, MP, P7/B/178m Army Council meeting, 28. Februar 1923. UCD, MP, P7/B/321, O’Higgins, Memo for Defence Council, ca. 13. Januar 1923; ebd., Patrick Hogan, memo for Defence Council, 11. Januar 1923. Ab November funktionierte diese Form der Pressearbeit immer professioneller, siehe: NAI, DFA, early files, „publicity overseas“, FitzGerald an Cosgrave, 3. November 1922; UCD, MP, P7a/162, Correspondence of Mr. de Valera and others, Oktober 1922. NAI, DFA, early files, PV, Memo re Propaganda, 7. Februar 1923; NAI, DFA, PG/IFS, box 3, Sean Lester an Cosgrave, 26. Februar 1923; UCD, FGP, P80/298, Copies of official statements, Februar-April 1923.
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ben, übernahmen sie regelmäßig unverändert Artikel, auch ohne sie als Regierungsmitteilung zu kennzeichnen.790 Die Presse über selektive Informationen zu manipulieren, war ungleich eleganter, als sie zu bedrohen oder sie mit polemischer und leicht erkennbarer Propaganda zu versorgen. Ausgewählte Informationen erleichterten den Journalisten, die sich noch im Januar 1923 über die stockende Informationspolitik der Regierung beschwert hatten, die Arbeit.791 Dabei propagierten die scheinbar neutralen Informationen ganz nebenbei nationale und staatliche Legitimität für das Executive Council. Informationen über Außenpolitik, Gesetzesinitiativen, umgestrichene Postkästen, Gedächtnisfeiern – so neutral sie auch immer formuliert waren – transportierten immer auch: Der Freistaat existierte, war ein souveräner und handlungsfähiger Staat. Dazu ergänzten gerade die Dublin Doings ihre Spalten durch unpolitische Nachrichten, berichteten über das neueste Theaterstück im Gaiety, das schönste Aprilwetter seit neunzehn Jahren oder die Dublin Spring Show und suggerierten so Normalität.792 Weil jeder Bericht über Initiativen des Executive Council die Legitimität des neuen Staates stützte, bedrängte Lester die einzelnen Ministerien immer wieder um jede noch so kleine Information, die als „manifestation of authority“ gedeutet werden konnte.793 Hier lag der Flaschenhals der Informationspolitik: Was sollten die großteils nicht funktionierenden Ministerien schon berichten?794 Doch was Ende Februar 1923 noch ein ehrgeiziger Plan war, die täglichen Treffen und der Informationszufluß aus den Ministerien, funktionierte spätestens ab Mitte April reibungslos.795 Nur in einem Punkt scheiterte die Informationspolitik des Executive Council, zum Ärger FitzGeralds. Die Presse ließ sich auch im Januar und Februar 1923 nicht dazu überreden, den Bürgerkrieg herunterzuspielen. Solange der Krieg andauerte, war er die hohe Auflagen garantierende Nachricht Nummer Eins. Bitten, sanfter Druck und Drohungen halfen der Regierung nichts. Auch die Berichte über Anschläge ganz zu unterdrücken, war kein effizientes Gegenmittel. Eine so offensichtliche Manipulation hätte die Glaubwürdigkeit der Regierung schnell untergraben.796
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NAI, DFA, early files, PV, Memo re Propaganda, 7. Februar 1923. IRISH INDEPENDENT, 15. Januar 1923, S. 4. UCD, MP, P7/B/240, DUBLIN DOINGS, 16. Mai 1923; 22. Mai 1923; 31. Mai 1923; 7. Juni 1923. UCD, MP, P7/B/178, Sean Lester an alle Minister, 26. Februar 1923. HOPKINSON, Green, S. 140, 223. UCD, MP, P7/B/240, Sean Lester an FitzGerald, 17. April 1923. Vgl. THE ROUND TABLE, XIII, no. 50 (März 1923), S. 254f; NAI, DFA, early files, PV,
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
Schwieriger war es für die vertragsbefürwortenden Propagagandisten, die britische Presse zu kontrollieren. Auch wenn die britische Presse meist den „Bitten“ FitzGeralds nachgab, hatte das Executive Council lange kein Druckmittel, um breitere Spielräume in der britischen Presse zu unterbinden.797 So hätte kein Dubliner Redakteur gewagt, Artikel zu veröffentlichen, wie sie in der Daily Mail erschienen. Die Daily Mail verwendete fortlaufend den Ausdruck „Republicans“, sie veröffentlichte ungekürzt das Manifest von IRA-Chef Lynch nach der Kapitulation von Liam Deasy. Glossen, die unter dem Pseudonym „Real Dubliner“ geschrieben wurden, griffen wiederholt die Freistaatsführung in bissiger Ironie an.798 Ende Januar 1923 gelang dem Irland-Korrespondenten der Daily Mail, F.W. Memory, ein journalistischer Coup, um den sich auch andere ausländische Journalisten schon lange bemüht hatten: Er veröffentlichte ein persönliches Interview mit de Valera.799 Dabei wußte auch Memory, daß er nach einer Irrfahrt durch Dublin nicht mit de Valera, sondern mit Propagandachef Brennan gesprochen hatte. Dennoch spielte er das wenig überzeugende Täuschungsmanöver der republikanischen Publicity mit, um seinen Bericht als Sensation verkaufen zu können.800 Auch wenn die Daily Mail republikanische Manifeste offiziell nur druckte, um der britischen Öffentlichkeit die Sturheit der Republikaner zu demonstrieren: Die in Irland am häufigsten gelesene britische Zeitung veröffentlichte, unter den Augen der Provisorischen Regierung, ungebrochen republikanische Propaganda.801 Auch Brethertons zynische Kommentare in der Morning Post verärgerten die Freistaatsführung.802 Schon im Dezember 1922 hatten zahlreiche
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Memo re Propaganda, 7. Februar 1923; UCD, MP, P7/B/177, Minute of Army Council Meeting, 15. Oktober 1922. UCD, FGP, P80/282, FitzGerald an P.J. Hooper, 8. Februar 1923; UCD, FGP, P80/289, Lord Beaverbrook (SUNDAY EXPRESS) an Cosgrave, 21. Februar 1923; UCD, MP, P7a/197, Memos re British press, Januar 1923; Februar 1923. DAILY MAIL, 19. Januar 1923, S. 8; 3. Februar 1923, S. 7; 6. Februar 1923, S. 8; 10. Februar 1923, S. 8; 12. Februar 1923, S. 8, 10; UCD, MP, P7a/198, Memo re DAILY MAIL, 20. Dezember 1922; UCD, FGP, P80/293, Memo re DAILY MAIL, 14. Februar 1923. FLK, DeV, 241, T. S. Ryan an de Valera, 28. Dezember 1922; de Valera an T.S. Ryan, 23. Dezember 1922. DeV, FLK, DeV, 168/1, Brennan an de Valera, 23. Januar 1923; FLK, DeV, 307, Brennan an de Valera, 20. Januar 1923; FLK, DeV, 298, Mr. Memory an Miss Beresford, 23. Januar 1923; FLK, DeV, 298, Brennan an de Valera, 25. Januar 1923; MEMORY, Memory’s, S. 171–83. DAILY MAIL, 3. Februar 1923, S. 7; 10. Februar 1923, S. 8; 12. Februar 1923, S. 10; UCD, FGP, P80/293, Memo re DAILY MAIL, 14. Februar 1923. UCD, MP, P7a/154, Memo re MORNING POST, vom Department for Military Statistics, 14. November 1922; 23. Dezember 1922; 2. Januar 1923; 15. Januar 1923–15. Februar 1923.
III. Pragmatismus und die Konstruktion freistaatlicher Souveränität
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irische Journalisten den Leiter der Armee-Publicity, Hugh Smith, aufgefordert, die „anti-irische“ Morning Post in Irland zu verbieten.803 Dennoch tolerierte die Freistaatsführung die häufig beleidigenden Polemiken der Morning Post genauso lange wie die, aufs Ganze gesehen, wenigen Verstöße der Daily Mail. Sie folgte bis Februar 1923 der von Beaslai bereits im Oktober 1922 formulierten Einsicht: „Matter appearing in the ‚Morning Post‘ is not likely to do us any harm in regard to any interest with which we are concerned.“804 Zu gering war die Auflage der Morning Post im Freistaat.805 Dazu lasen kaum nationalistische Iren dieses Sprachrohr eines kompromißlosen Unionismus. Daß ausgerechnet die Morning Post Sympathie für radikale Republikaner bewirken würde, schien den freistaatlichen Propagandisten unwahrscheinlich. Bretherton hätte sich vermutlich genauso wie die Freistaatsführung gewundert, wenn er gewußt hätte, wer zu seinen begeistertsten Lesern gehörte: O’Malley und viele seiner internierten IRA-Kameraden im Mountjoy-Gefängnis warteten ungeduldig auf das ins Gefängnis geschmuggelte Blatt und amüsierten sich über Brethertons radikal unionistische Sichtweise. Aus radikal nationalistischer Perspektive lasen sich Brethertons Kommentare als absurde Grotesken und bestätigten so unfreiwillig das verzerrte nationalistische Bild vom irischen Unionismus.806 Erst als sich die irische Presse auch öffentlich über die ungleiche Behandlung beschwerte und die Daily Mail zunehmend anstößiges Material veröffentlichte, wuchs der Druck auf das Executive Council zu handeln.807 Es verwendete, wie gegenüber der irischen Presse, schnell wirksame, wenn auch unkonstitutionelle Maßnahmen. Am 13. Februar 1923 beschlagnahmte die Küstenwache in Dun Laghoire Morning Post und Daily Mail. Hugh Smith verbot den Handel mit den beiden Blättern in Irland. Dazu ließ die Armeeführung den Korrespondenten der Daily Mail, F. W. Memory, ausweisen. Auch gegenüber der britischen Presse übernahm nach außen offiziell das Militär die restriktive Rolle.808 803 804 805 806 807 808
UCD, FGP, P80/721, Hugh Smith, Memo on visit to London, 22. Dezember 1922. NLI, BP, box 6, Beaslai an James Walsh, 28. Oktober 1922. UCD, FGP, P80/295, Memorandum „MORNING POST“ von Lester für FitzGerald, 11. Juni 1923. O’MALLEY, Singing Flame, S. 205. UCD, FGP, P80/282, FitzGerald an Patrick Hooper; FitzGerald an Hugh Smith, 10. Februar 1923; 8. Februar 1923; UCD FGP, P80/293, Memo re DAILY MAIL, 14. Februar 1923. IRISH INDEPENDENT, 14. Februar 1923, S. 4; Eason’s Archive, telephone message, from Publicity Department HQ, 13. Februar 1923; NAI, D/T, S-2078, Telegramm Cosgrave an DAILY MAIL, 13. Februar 1923; MEMORY, Memory’s, S. 181–3: Memory verschiebt die Ereignisse rückblickend um einen Monat.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
Während die Morning Post nicht nachgab und deshalb bis zum Ende des Bürgerkrieges aus Irland ausgeschlossen blieb,809 versuchte die Daily Mail, sich so schnell wie möglich mit dem Executive Council zu arrangieren. Sie verzichtete darauf, sich als Märtyrer für die Pressefreiheit zu stilisieren, und verschwieg der britischen Öffentlichkeit, daß sie im Irischen Freistaat verboten worden war.810 Ihr Manager Andrew Caird wandte sich direkt an die Freistaatsführung. In Telegrammen und Briefen an Cosgrave fragte er nach, warum seine Zeitung verboten worden sei.811 Zusätzlich setzte Caird auf diplomatische Kanäle: Er beschwerte sich beim Colonial Office in London, von wo aus sein Brief auf den protokollarisch offiziellen Weg ging. Gut für die freistaatliche Propaganda, daß dieser protokollarische Weg geheim blieb; denn er beinhaltete im Kleinen die symbolische Unterordnung des Freistaats unter Großbritannien. Dieser Dienstweg hätte nicht nur orthodoxe Republikaner erregt: Der Duke of Devonshire, Secretary for the Colonies, wandte sich an den Vertreter seiner Majestät in Irland, den Governor General, den prominenten Aktivisten der Home Rule-Bewegung und AntiParnelliten Timothy Michael Healy.812 Der wiederum reichte die Beschwerde an Cosgrave weiter. Auf diesem Weg erreichte die freistaatliche Regierung noch einmal das gleiche Anliegen Cairds, diesmal mit diplomatischem Nachdruck und den offiziellen Symbolen von Crown und Empire.813 Doch die im offiziellen Dienstweg abgesicherte symbolische Unterordnung Irlands änderte nichts daran, daß das freistaatliche Executive Council, vom diplomatischen Druck unbeeindruckt, souverän entschied. Sie gab keine verfänglichen schriftlichen Erklärungen ab und zwang den neuen Korrespondenten der Daily Mail „to conform to the conditions accepted by the Dublin Press.“814 Erst als die Daily Mail damit die Auflagen des Executive Council erfüllte, durfte sie ab dem 17. Februar 1923 im Freistaat wieder
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UCD, FGP, P80/295, Memorandum „Morning Post“ von Lester für FitzGerald, 19. Juni 1923. Siehe: DAILY MAIL, 14. Februar 1923–18. Februar 1923. UCD, FGP, P80/293, Andrew Caird an Cosgrave, 13. Februar 1923; 14. Februar 1923. Eine Kurzbiographie von Timothy Michael Healy (1855–1931), in: BOYLAN, Dictionary, S. 141 f. UCD, FGP, P80/293, Caird an Duke of Devonshire (Secretary for the Colonies), 13. Februar 1923; 14. Februar 1923; Duke of Devonshire an Timothy Healy, 15. Februar 1923; Timothy Healy an Cosgrave, 16. Februar 1923; Reizworte für Republikaner habe ich kursiv gesetzt. UCD, FGP, P80/293; T. Marlowe an Mulcahy, 21. Februar 1923; NAI, D/T, S-2078, Timothy Healy an Duke of Devonshire, 3. April 1923.
III. Pragmatismus und die Konstruktion freistaatlicher Souveränität
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erscheinen.815 Die neu geknüpften Kontakte zur Daily Mail, von denen sich die republikanische Propaganda soviel versprochen hatten, blieben abgebrochen.816 6. „STAAT“ ALS NEUES DOGMA Trotz der wohlüberlegten symbolischen und propagandistischen Initiativen der Freistaatsführung blieb „Staat“, offiziell meist als „Nation“ deklariert, eine ernüchternde, zumindest nüchterne Geschichte. Doch auch „Staat“ war nicht nur ein integratives Schlagwort, das möglichst viele Anhänger für die Vertragsbefürworter gewinnen sollte. Als neuer politischer Glaube der freistaatlichen Elite wurde es zum Gegenstück von „the Republic“. „Staat“ entwickelte nach dem für die vertragsbefürwortende Elite schokkierenden Tod von Griffith und Collins eine Eigendynamik, die sich in der Diskussion um die Legitimität von Gewaltanwendung und Exekutionen noch verstärkte. „Staat“ rechtfertigte zumindest den Mitgliedern der vertragsbefürwortenden Elite, den eigenen materiellen Vorteil zu suchen und ehemalige Kameraden zu töten. „Staat“ legitimierte und überhöhte die eigene Härte und Verbitterung, war der legitimatorische Motor hinter den Exekutionen, hob „law and order“ auf eine höhere Ebene.817 Das konnte „Staat“ nur leisten, wenn die Elite damit nicht so flexibel umging wie mit seinen Bestandteilen „liberal rights“ und „majority rule“ oder zuvor mit „the Republic“. So entwickelte sich „Staat“ für das Executive Council und die Mitglieder der vertragsbefürwortenden Elite immer mehr zu der zentralen, nicht hinterfragbaren Fiktion, zum neuen Dogma. „Staat“ wurde unter dem Druck des IRA-Terrors auch in einem ganz unmittelbaren Sinn das neue Zuhause der Vertragsbefürworter. Ab Ende 1922 arbeiteten, schliefen und aßen fast alle Kabinettsmitglieder, von der Außenwelt abgeschottet, in den Regierungsbehörden, häufig bis zur Erschöpfung überanstrengt.818 Selbst aus Sicht eines wohlwollenden anglo-irischen Beobachters, der die Entschlossenheit der Freistaatsführung bewunderte, wirkte das
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NAI, EC Minutes, C1/47, 16. Februar 1923; UCD, FGP, P80/293, Mulcahy an Herausgeber DAILY MAIL, 17. Februar 1923. FLK, DeV, 301, Miss Presscott an de Valera, 16. Februar 1923. DAIL DEBATES, O’Higgins, 27. September 1922, S. 858; 17. November 1922, S. 2267–9; 20. April 1923, S. 357 f.; 25. April 1923, S. 438, 442; 15. Juni 1923, S. 2003; YOUNG IRLAND, 2. Dezember 1922, S. 4; UCD, KP, P4/547, Kennedy, Entwurf einer Rede für Cosgrave, 16. Februar 1923. THE ROUND TABLE, XIII, no. 50 (März 1923), S. 255, 271; ebd., no. 51 (Juni 1923), S. 558; ebd., XIV, no. 55 (Juni 1924), S. 529.
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
Executive Council bald ebenso elitär und von der irischen Bevölkerung abgehoben wie seine britischen Vorgänger.819 Mit „Staat“ als neuem Dogma verlor das Executive Council in einem zentralen Punkt seine Flexibilität. Das Executive Council tat (fast) nichts mehr, was seine freistaatliche Souveränität in Frage stellte. Nur in Ausnahmesituationen, wie bei O’Malley und Mary MacSwiney, war es noch zu pragmatischer Milde gegenüber den Republikanern in der Lage. Sonst setzte es unflexibel und unnachgiebig auf Staatsräson.820 Das Dogma „Staat“ begann wie „the Republic“, pragmatisches, ergebnisorientiertes Handeln zu beschränken. Das zeigte sich besonders, als sich die Freistaatsregierung im Frühjahr 1923 weigerte, mit de Valera zu verhandeln. Sicher war es machtpolitisch opportun, die Republikaner nicht mit Verhandlungen aufzuwerten und sie weiter aus dem Parlament auszugrenzen. Doch in diesem Punkt dachte die Führung der Vertragsbefürworter nicht nur praktisch, sondern vor allem prinzipiell. Egal auf welcher Grundlage: Ein Kompromiß mit Staatsfeinden, also den Feinden des Dogmas „Staat“, kam für das Executive Council nicht mehr in Frage.821 Damit erschwerte sich das Executive Council, wie ihm viele Kritiker prophezeiten, langfristig das Überleben, zwang sich dazu, den Ausnahmezustand mit immer neuen Public Safety Acts permanent zu machen. Das Konstrukt „Staat“ behinderte so, daß der Staat normal funktionierte. Ohne einen Formelkompromiß zwischen „Staat“ und „the Republic“ verfestigte sich die legitimatorische Frontstellung des Bürgerkriegs.822 Bis Anfang der dreißiger Jahre blieb die größte oppositionelle Gruppe dem Staat gegenüber illoyal und verfügte über geheime Waffenverstecke. Einige Radikale verübten immer wieder Anschläge auf die Regierung, ermordeten 1927 den Minister, der wie keine anderer „Staat“ verkörperte und propagierte: O’Higgins.823
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Ebd., XIII, no. 50 (März 1923), S. 255 f., 269; ebd., no. 51 (Juni 1923), S. 558, 563, 566. REGAN, Reaction, S. 552–4; GARVIN, 1922, S. 163 f.; Zu O’Higgins als Exponenten einer rein an der Staatsräson orientierten Politik der eisernen Hand, siehe: HOPKINSON, Green, S. 222 f., 263. DAIL DEBATES, Sean Milroy, 17. November 1922, S. 2271; UCD, KP, P4/547, Kennedy, Entwurf einer Rede für Cosgrave, 16. Februar 1923; Dazu ließ sich die Regierung in ihrer Propaganda gerne durch Dritte auffordern: UCD, MP, P7/B/177, DUBLIN DOINGS, 31. Mai 1923; vgl. UNITED IRISHMAN, 5. Mai 1923, S. 5; 12. Mai 1923, S. 4; 19. Mai 1923, S. 1. CATHOLIC BULLETIN, Juni 1923, S. 337 f.; VOICE OF LABOUR, 17. Februar 1923, S. 4; 19. Mai 1923, S. 1; vgl. GARVIN, 1922, S. 139 f. FOSTER, Modern Ireland, S. 525; BOYCE, Nationalism, S. 340, 342; TERENCE BROWN, Ireland, S. 46; TWOMEY-RYAN, Church, S. 106.
III. Pragmatismus und die Konstruktion freistaatlicher Souveränität
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Was läßt sich über die Methoden zusammenfassen, mit denen der Freistaat versuchte, seine Legitimationskrise zu überwinden? Die Legitimationskrise des Freistaats lag nicht an einer ineffizienten Propaganda und Pressekontrolle. FitzGerald organisierte seine Behörde spätestens ab Anfang 1923 professionell und reibungslos, steuerte die Dubliner und die britische Presse über gezielte Informationen und Veröffentlichungsverbote. Wichtigster Grund für die Legitimationskrise war die unpopuläre Exekutionspolitik, die den Freistaat in Kontinuität zur britischen Herrschaft rückte. Um sich aus dieser Krise zu befreien, versuchten die Vertragsbefürworter, die Souveränität des „Freistaats“ zum Kern einer neuen nationalen Identität zu machen. Doch „Freistaat“ hatte – auch als „Nation“ deklariert – legitimatorische Brüche: Die Ministerialverwaltung blieb strukturell und personell weitgehend britisch. Dazu beseitigte die Freistaatsregierung das wichtigste Symbol der „existing Republic“, das revolutionäre Justizsystem. Im Verfassungstext selbst schlug sich die symbolische Repräsentation des Königs und der „Verrat“ an der Republik nieder. Der Freistaat litt so in Konkurrenz zu „the Republic“ an einem Mythendefizit, das er versuchte, durch verschiedene Formen von symbolischer Politik auszugleichen. Er besetzte die traditionelle Revolutionshymne und die revolutionäre Flagge, gab nationale Briefmarken heraus und färbte Postkästen und Uniformen grün ein. Auch an nationalen Feiertagen versuchte die Freistaatsführung, „Nation“ in Militärparaden und Sportfesten sichtbar und hörbar zu machen. Über Symbole konnten die Propagandisten dabei Dinge sagen, die in Worten keinen Sinn mehr machten. Flagge und Hymne stellten eine direkte emotionale Kontinuität zur revolutionären Vergangenheit her. Der Beerdigungsritus machte Collins zumindest teilweise zu einem nationalen Märtyrer. Dabei konnte die Freistaatspropaganda jedoch nicht verhindern, daß die Republikaner eine subversive Sicht freistaatlicher Symbole propagierten: Flagge und Hymne waren für sie Sinnbild eines unkompromittierten Republikanismus. Der „republican plot“ in Glasnevin war auch für sie „geweihte“ Erde und wurde von ihnen durch die republikanischen Märtyrer Brugha und Boland zuerst besetzt. Genauso unterliefen sie die Identitätsstiftung durch die grüngestrichenen Postkästen, unter denen das königlich-britische Monogram sichtbar blieb. Die Aktivisten beider Lager kämpften auch um das Recht auf die gälische Kultur und Sprache – teils aus Opportunismus, teil aus tief verwurzelter politischer Überzeugung. Sie versuchten dabei, ihrem jeweiligen Lager eine gälische Identität zu verleihen, übersetzten politische Schlüsselbegriffe, aber auch ihre eigenen Namen ins Gälische. Gegenüber den Republikanern hatten die Freistaatspolitiker dabei den Vorteil, daß sie gälische „Irishness“
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F. Verbitterung: Die letzte Phase des Bürgerkrieges
nicht nur propagierten, sondern im Rahmen ihrer restriktiven Kulturpolitik notfalls mit Zwang verordnen konnten. Auch außen- und innenpolitische Maßnahmen nutzte der Freistaat, um nationale Souveränität sichtbar zu machen, und das, obwohl gerade die außenpolitische Souveränität des Freistaats durch den Vertrag symbolisch und faktisch stark eingeschränkt war. Anders als bei der Scheinaußenpolitik stand bei der Innenpolitik immer auch der realpolitische Nutzen im Vordergrund. Fehlendes Geld konnte dabei, wie beim Malicious Injuries Act, den propagandistischen Nutzen einzelner Maßnahmen weitgehend ruinieren, während preiswerte Maßnahmen, wie die reaktionäre Kulturpolitik, einen breiten Konsens mit katholischer Kirche und Bevölkerung herstellten. Auch wenn „Freistaat“ und „Nation“ trotz all dieser Maßnahmen nicht dieselbe Zugkraft entwickelten wie „Republic“ vor 1922: Für die freistaatliche Elite wurde „Staat“ bald immer mehr zum zentralen und nicht hinterfragbaren Wert. Als neue zentrale Fiktion, als neues Dogma, schränkte die Festlegung auf „Staat“ bald die Flexibilität der Regierung ein und verpflichtete sie zu einer Politik weitgehend kompromißloser Staatsräson.
I. Wahlkampf: Organisation und rhetorische Strategie
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G. VERHÄRTETE FRONTEN: NACH DEM BÜRGERKRIEG Nach dem Bürgerkrieg setzten Freistaatsanhänger und Republikaner den Konflikt auf der legitimatorischen Ebene fort. In diesem letzten chronologischen Abschnitt werde ich zeigen, wie beide Seiten dabei versuchten, eine irlandweite Partei zu organisieren und wie sie die Propaganda der Bürgerkriegszeit im Wahlkampf modifizierten.
I. WAHLKAMPF: ORGANISATION UND RHETORISCHE STRATEGIE 1. ORGANISATION DER FREISTAATSPROPAGANDA Für einen Propagandakrieg fehlte sowohl Vertragsbefürwortern als auch Republikanern eine irlandweite Infrastruktur, eine Partei. Die alte Sinn Fein war im Bürgerkrieg endgültig zerfallen. Das freistaatliche Executive Council und die vertragsbefürwortenden Abgeordneten in Dublin waren ein Wasserkopf, eine Führung ohne Anhänger, zumindest ohne organisierte Anhänger. Das Executive Council befand sich so in einer kuriosen Situation: Eine sich über den „Willen des Volkes“ legitimierende Regierung, die sich nicht auf eine große Partei stützen konnte, sondern eine staatstragende Regierungspartei erst von oben gründen mußte.1 Ab Januar 1923 begann das Executive Council, seine Anhänger in der Partei Cumman na nGaedheal zu organisieren. Wie immer im Bürgerkrieg, sagten Etiketten viel aus: Cumman na nGaedheal, „Verband der Gälen“, so hatte ab 1900 noch vor Sinn Fein Griffiths erste nationalistische Sammlungsbewegung geheißen.2 Mit dem Etikett Cumman na nGaedheal reklamierte das Executive Council das Recht auf die ursprünglichen Wurzeln des radikalen irischen Nationalismus. Die Führung der Vertragsbefürworter, die sich im Zusammenhang mit der Vertragsspaltung eine neue Denkweise erfunden hatte, konstruierte sich damit ihre eigene nationale Tradition. In allen Grafschaften gründeten sich bald Cumman na nGaedheal-Verbände, doch die Organisation der Regierungspartei ging nur schleppend
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NAI, DFA, early files, PV, Memo re Propaganda, 7. Februar 1923; VALIULIS, After the Revolution, S. 132; HOPKINSON, Green, S. 264. FOSTER, Modern Ireland, S. 457; WARD, Maud Gonne, S. 68, 83.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
voran. Mit dem spontanen, unkontrollierbaren Entstehen von Sinn FeinVerbänden im Jahr 1917 hatte die Organisation Cumman na nGaedheals nichts zu tun. Cumman na nGaedheal blieb eine aus dem Executive Council heraus gesteuerte, auf Loyalität zum Staat verpflichtete Partei, mit einer deutlich auf Dublin zentrierten Basis. Sie wurde nie eine dynamische nationale Bewegung.3 Die Pressepolitik von Publicity Department und Department for Military Statistics funktionierte nach dem Krieg dagegen reibungslos.4 Der Grundtenor der freistaatlichen Propaganda unterschied sich kaum von dem des Bürgerkriegs. Nach dem Krieg organisierte das Publicity Department immer aufwendigere Aktionen. Im Oktober 1923 etwa, also bereits nach der Wahl, sollte die angeblich unter Childers Kommando zerstörte Brücke bei Mallow wieder eröffnet werden. Die Aufgabe, die moderne Stahlkonstruktion einzuweihen, übernahm Präsident Cosgrave persönlich und fuhr in das ehemalige Zentrum der Munster Republic. Publicity Director Sean Lester kalkulierte zu Recht, daß die Anwesenheit des Präsidenten den nationalen und internationalen Nachrichtenwert des Ereignisses erhöhen würde: Neun Journalisten, neun Photographen und zwei Kameraleute kamen in die Provinz, um zu sehen, wie der Freistaat Normalität und Wiederaufbau inszenierte. Sie sahen, wie Cosgrave mit einer symbolischen Handlung die Verbindung zwischen Cork und Dublin wiederherstellte und demonstrierte, „that Ireland is setting down to work and that reconstruction has been going ahead.“5 Doch während die Presse die Informationspropaganda der Regierung annahm, entzog sie sich der Kontrolle durch das freistaatliche Executive Council. Das bewährte Mittel des „friendly interview“ griff nicht mehr. So verließ im Juni 1923 der Chefredakteur und gleichzeitig wichtigste Leitartikelschreiber der Irish Times, John Edward Healy, vorzeitig ein Gespräch mit Sean Lester, weil er keine Lust mehr hatte, sich weiter von der Regie-
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VALIULIS, After the Revolution, S. 132; FOSTER, Modern Ireland, S. 543; HOPKINSON, Green, S. 264. NAI, DFA, PG/IFS, box 3, Memo on Publicity Work, 22. Juni 1923; ebd., 20. November 1923; UCD, MP, P7/B/240, card index; NAI, DFA, early files, „publicity overseas“, Publicity Campaign for National Loan, 20. Oktober 1923–7. Januar 1924; UCD, FGP, P80/296, Sean Lester an FitzGerald, Memos on Publicity, Dezember 1923; UCD, MP, P7a/197, English Press Surveys, November 1922-July 1923; vgl. auch AA, MI/PR/3, English Press Surveys, Dezember 1922- Juni 1923; AA, MI/PR/4, files on Provincial Press, 1924, 1925. UCD, KP, P4/698, Memo, Sean Lester an FitzGerald, 16. Oktober 1923; zur „news value“ des Präsidenten, siehe: NAI, S-1394, Sean Lester an Cosgrave, 6. Februar 1924.
I. Wahlkampf: Organisation und rhetorische Strategie
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rung belehren zu lassen.6 Ebenso unzufrieden war das Publicity Department mit dem Irish Independent, der laufend die Finanzpolitik des Executive Council kritisierte. Lester unterstellte, dem Irish Independent sei alles recht, was die Auflage steigere, „whether it is in the public interest or not.“7 Einzig der Freeman blieb auch noch nach dem Mai 1923 ein linientreues Regierungsblatt und genügte den strengen Kriterien des durch den Bürgerkrieg dünnhäutig gewordenen Publicity Department.8 Im Freeman veröffentlichte die Regierung wiederholt Sonderbeilagen über ihre konstruktive Aufbauarbeit, bedachte das Management dafür mit Regierungsanzeigen, vermittelte Firmen, die für die Regierung arbeiteten, als Anzeigenkunden und belohnte die Redaktion mit exklusiven Informationen.9 Doch auch das rettete den Freeman nicht. Als inoffizielles Regierungsorgan fand er immer weniger Leser. So konnte er die finanziellen Verluste nicht mehr ausgleichen, die sich durch die Revolution und durch Fehlspekulationen auf dem Zeitungsmarkt nach 1916 immer weiter vergrößert hatten. Der Freeman meldete Ende 1924 Konkurs an und wurde von der expandierenden Independent-Gruppe aufgekauft.10 2. REPUBLIKANER: ZWISCHEN „THE REPUBLIC“ UND „PRACTICAL POLITICS“ Auch die Republikaner versuchten nach dem Krieg, eine Parteiorganisation aufzubauen. Dabei hatten sie mit den gleichen Problemen zu kämpfen, die schon während des Krieges die republikanische Politik blockierten: die Verfolgung durch die Freistaatsbehörden, vor allem aber der interne Kampf zwischen republikanischem Dogma und Realpolitik. Nach dem Bürgerkrieg waren die meisten einflußreichen IRA-Offiziere tot, inhaftiert, desillusioniert und/oder Anhänger de Valeras.11 Jetzt über-
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UCD, FGP, P80/295, Memo, Sean Lester an FitzGerald re IRISH TIMES, 12. Juni 1923; NAI, DFA, PG/IFS, box 4, Publicity Department 1922–27, „D“, Memo für FitzGerald re IRISH TIMES, 20. Dezember 1922. UCD, FGP, P80/296, Lester an FitzGerald, Memo on IRISH INDEPENDENT, 24. Dezember 1923. UCD, MP, P7/B/240, Lester an Cosgrave, 7. November 1923; NAI, DFA, PG/IFS, box 4, Captured Documents, „C“, Lester, Memo on FREEMAN’S JOURNAL, 13. Dezember 1924. UCD, KP, P4/696, Sean Lester an FitzGerald, 29. Mai 1923. LARKAN, Freeman’s Journal, S. 111–3; ders., Nachruf für Kathleen Bowles, in: IRISH TIMES, 24. Juni 1997, S. 7; FREEMAN’S JOURNAL, 24. Dezember 1924; NAI, DFA, PG/IFS, box 4, Publicity Department 1922–27, „D“, Lester, Memo on FREEMAN’S JOURNAL 13. Dezember 1924. FLK, DeV, 287/2, Frank Aiken an de Valera, 9. Mai 1923.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
nahmen die republikanischen Politiker wieder die Kontrolle über die Vertragsgegner. Auch wenn die republikanische Propaganda sich jetzt langsam vom fast völligen Zusammenbruch im Bürgerkrieg erholte, bis zur Gründung der Irish Press Anfang der Dreißiger Jahre blieb sie der professionellen vertragsbefürwortenden Propaganda hoffnungslos unterlegen.12 Das lag einmal am weiterbestehenden Druck durch die Freistaatsführung. Diese versuchte zwar nicht mehr, die Blätter völlig zu unterdrücken, aber sie ließ immer wieder Unterlagen beschlagnahmen und verbot dem Zeitungsgroßhändler Eason den Handel mit republikanischen Zeitungen.13 Die Möglichkeiten für republikanische Publicity war für mehrere Jahre nach dem Bürgerkrieg stark begrenzt, die republikanischen Organisationen im Ausland waren so gut wie tot.14 Die Organisation des republikanischen Department für Publicity war, bevor es Mary MacSwiney im Januar 1924 übernahm, teilweise chaotisch, wurde durch persönliche Eifersüchteleien und Rivalitäten zusätzlich blockiert. Unter ihrem Einfluß waren die Blätter, gemessen an de Valeras pragmatischeren Vorstellungen, aber schon zuvor unansprechend und dogmatisch.15 So beurteilte Sean Lester aus dem freistaatlichen Publicity Department das Risiko, das mit einer republikanischen Übernahme des Freeman’s Journal verbunden wäre, relativ gelassen. Als einer der wenigen treuen Leser der republikanischen Propaganda kam er zu dem Schluß: „If their paper were run merely on the lines of their present weekly Press – abuse and highly coloured propaganda – [. . .] they would sicken the average newspaper reader.“16 Doch um eine republikanische Tageszeitung zu etablieren, fehlte den Republikanern letztlich weniger das Know-how als genügend Geld. De Valera bereits Ende 1922: „It is a question of money, money, money now.“17 Auch wenn das freistaatliche Department for Military Statistics ab 1924 wieder einige republikanische Provinzblätter registrierte, eine republikanische Tageszeitung blieb bis 1931 ein Traum.18
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Vgl. auch: UCD, P7a/87, Patrick Ruttledge an de Valera, 2. Dezember 1924. UCD, MP, P7a/87, „captured documents“; Eason’s Archive, O’Higgins an Charles Eason, ca. 15. November 1923. HOPKINSON, Green, S. 255; UCD, MP, P7a/87, Captain MacC S. an Frank Aiken, 24. Oktober 1923; ebd., anonymer Brief, 25. Oktober 1923. FLK, DeV, 297/1 und 297/2 Korrespondenz Mary MacSwiney und Patrick Ruttledge, Dezember 1923-Januar 1924. NAI, DFA, PG/IFS, box 4, Publicity Department 1922–27, „D“, Lester, Memo on FREEMAN’S JOURNAL 13. Dezember 1924. FLK, DeV, 231, de Valera an Joe McGarrity, 28. November 1922. NAI, D/T, S-580, DAILY SHEET; AA, MI/PR/4, file, CONNAUGHTMAN; UCD, MP, P7/B/240, Sean Lester an Cosgrave, Memo on „Provincial Press“, 7. November 1923.
I. Wahlkampf: Organisation und rhetorische Strategie
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Entscheidender und effizienter war kurz- und mittelfristig die Neugründung einer republikanischen Partei unter dem Etikett Sinn Fein. Wie der Freistaat mit Cumman na nGaedheal, wollte auch de Valera die Wurzeln der Revolution belegen und sich den Begriff „Sinn Fein“ sichern, bevor es seine Gegner taten. Schon ab Dezember 1922, zeitgleich zur neuen Politik des konstruktiven Republikanismus, hatte die politische Führung um de Valera vergeblich versucht, eine republikanische Partei zu reorganisieren.19 Nach dem Waffenstillstand wollte de Valera die kommende Wahl nutzen, um eine Partei aufzubauen. Doch auch wenn die Konzentration der meisten Aktivisten in den freistaatlichen Gefängnissen eigentlich optimale Voraussetzungen bot, machte die republikanische Partei nur langsam Fortschritte. Obwohl de Valera die treibende Kraft in Sinn Fein war, übernahmen die offizielle Führung des Reorganisationskomitees andere: Republikanische Politiker aus der zweiten und dritten Reihe, die de Valera mit seinen Vertrauten aussuchte und nach vorne schob, darunter die Hinterbänkler Con Murphy, Frank Fahy, George Daly und Kathleen Lynn, Cathal Brughas Witwe, Childers Anwalt Comyn, die Mönche Father Burbage und Father Wall sowie James Connollys Sohn Joseph. De Valera bevorzugte kontrollierbare und wenig einflußreiche Aktivisten, die ihm die Partei nicht zu schnell aus der Hand nehmen würden. Bis ins Detail instruierte er sie über die Reorganisation und den geplanten Neugründungskongreß Sinn Feins.20 Konträr zum geringen Einfluß in der Partei, sollten die Mitglieder des Reorganisationskomitees nach außen eine möglichst große symbolische Wirkung haben: Father Burbage, Father Wall und Dr. Con Murphy, der enge Beziehungen zum Vatikan unterhielt, sollten die angeschlagene katholische Legitimität der Republikaner stützen.21 Um weibliche Wähler anzusprechen, setzte de Valera drei Frauen auf seine Kandidatenliste, darunter Cathal Brughas Witwe und die Abgeordnete Kathleen Lynn. Allein de Valeras lapidare Bemerkung „women could be added“22 zeigt: Diese Frauen
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NAI, Sinn Fein, 1094/1/1/9a; 1094/1/1/9d; 1094/1/10b, insbes.: de Valera und Austin Stack to all members and officers of Sinn Fein, ca. 15. Januar 1923; NAI, Sinn Fein, 1094/2/6, report re raids on Harcourt Street, ca. 20. April 1923. NAI, Sinn Fein, 1094/1/13, de Valera an organising committee, 10. Juni 1923; NAI, Sinn Fein, 1094/1/11, de Valera an organising committee, 31. Mai 1923; NAI, S-3361, Eoin O’Duffy an Mulcahy, report on the general situation, 20. September 1923. EIRE, 14. April 1923, S. 6; NAI, S-1369, report to each member of the Army Council, 23. April 1923. NAI, Sinn Fein, 1094/8/1, de Valera an „AL“, 16. Mai 1923.
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hatten, anders als Mary MacSwiney oder Constanze de Markievicz, kaum Einfluß und kaum eigene Vorstellungen. Präsident des Organisationkomittees sollte Joseph Connolly werden. Als Sohn des Neunzehnsechzehners James Connolly hatte er einen gewichtigen Namen, ohne gewichtig zu sein: Zumindest de Valeras Vertrautem, Brennan, schien er leicht zu kontrollieren und daher ein optimaler Kandidat.23 Neben Machtlosigkeit und hohem Symbolwert verband die Mitglieder des Reorganisationskomittes eine dritte Qualifikation: Sie galten wie Connolly, der gute Verbindungen zur neutralen IRA unterhielt, durchwegs als gemäßigt. So waren sie sicherer vor freistaatlicher Verfolgung als offizielle Staatsfeinde wie de Valera, Frank Aiken oder Mary MacSwiney.24 Frauen und Mönche nahmen qua Definition nicht am Krieg teil. Comyn kämpfte als Anwalt mit juristischen, nicht mit militärischen Mitteln gegen den Freistaat. Gemäßigte Republikaner wie Frank Fahy waren auch von der Freistaatspropaganda immer wieder für ihre konsequent gewaltfreie Opposition ausgezeichnet worden.25 Da de Valera fürchtete, daß Guerilleros in der Parteiführung die Wähler verschreckten, setzte er auf eine demonstrativ nicht-radikale Führungsmannschaft, um die Partei auch für moderatere Republikaner attraktiv zu machen. Sinn Fein sollte eine offen operierende Platform für einen moderaten und realpolitischen Republikanismus werden, keine radikale Untergrundorganisation. Immer wieder versuchten de Valera und andere Realpolitiker, den Rest der Partei davon zu überzeugen, „to organise not merely Republican opinion, strictly so-called, but what might be called ‚Nationalist‘ or ‚Independence‘ opinion in general.“26 Damit propagierten sie den Tabubruch, zumindest teilweise das republikansiche Dogma zugunsten von politischer Opportunität zu opfern. De Valera in einem Memorandum vom Mai 1923: „Methods to be effective must change with the conditions in which they operate.“27 Um effektiv zu werden, sollten die Republikaner jetzt das lernen, was sie im Bürgerkrieg nicht geschafft hatten: Sie sollten nicht ungebrochen die republikanisch definierte Wahrheit predigen, sondern bei sensiblen Punkten taktieren, verschweigen und notfalls lügen.28
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NAI, Sinn Fein, 1094/7/5, Brennan an de Valera, ca. 15. Juni 1922. So auch die Einschätzung de Valeras: NAI, Sinn Fein, 1094/1/13, de Valera an organising committee, 6. Juni 1923; ebd., 1094/8/1, de Valera an „AL“, 16. Mai 1923. FREEMAN’S JOURNAL, 11. April 1922, S. 2; IRISH INDEPENDENT, 8. November 1922, S. 3. NAI, Sinn Fein, 1094/1/11, de Valera an organising committee, 31. Mai 1923. NAI, Sinn Fein, 1094/1/12, de Valera [?], Memo, ca. Mai 1923. NAI, Sinn Fein, 1094/1/11, de Valera an organising committee, 31. Mai 1923.
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Eine am Erfolg, nicht an historischen Lehrsätzen orientierte Politik forderte de Valera dabei so allgemein wie möglich. Er nahm weiter Rücksicht auf die Tabus und Ängste der dogmatischeren Republikaner. De Valera, der sich bis 1926 offiziell noch immer „President of the Republic“ nannte,29 scheute sich, offen als Kompromißler identifiziert zu werden; denn Hardliner in der IRA und immer wieder Mary MacSwiney mißtrauten de Valeras Experimenten. Schon de Valeras Friedensangebot vom Mai 1923 war ihnen zu weit gegangen.30 Nachdem sich MacSwiney nicht auf eine Propagandatour durch die USA schicken ließ,31 mußte de Valera notgedrungen weiter mit ihr zusammenarbeiten. Er bezog sie in Organisationsfragen mit ein, diskutierte mit ihr die Prinzipien republikanischer Politik. Auch gestützt durch de Valeras Vertrauen in – beziehungsweise de Valeras Angst vor – Mary MacSwiney, wurde sie in den Jahren 1923/24 zur inoffiziellen Nummer Zwei Sinn Feins.32 So geriet die Reorganisation Sinn Feins zu einem Eiertanz zwischen Realpolitik und „the Republic“. Um die republikanischen Dogmatiker wenigstens ein Stück weit zu bewegen, bot de Valera ihnen einen Kompromiß an, der keiner war: Sinn Fein solle versuchen, moderate Republikaner zu gewinnen. Dafür könne es „for those who prefer to stick to the word Republic“ innerhalb Sinn Feins eine institutionell getrennte republikanische Plattform geben: „Cumman na Poblachta“. So eine Partei in der Partei sei nicht an Kompromisse Sinn Feins gebunden.33 Wie das im konkreten Fall funktionieren sollte, wie die republikanische Bewegung „einig“ zwei politische Strategien verfolgen sollte, das wußte vermutlich auch de Valera nicht. Seine nie umgesetzte, unpraktikable Idee zeigte, wie experimentierfreudig und wie verzweifelt de Valera war, wie sehr er in der Zwickmühle zwischen Realpolitik und reiner Lehre gefangen war. De Valera gelang es schließlich, die Dogmatiker wenigsten zu einem kleinen Schritt zu bewegen. Während Politikerinnen wie Mary MacSwiney und Militärs wie O’Malley es zunächst prinzipiell ablehnten, an den Wahlen des „illegitimen Freistaats“ teilzunehmen, überzeugte de Valera die Dogmatiker
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33
MURRAY, Voices, S. 229. FLK, DeV, 273; Mary MacSwiney an de Valera, 11. April 1923; 12. Mai 1923; 15. Mai 1923; 17. Mai 1923. FLK, DeV, 273, de Valera an Mary MacSwiney, 15. Juli 1923. FLK, DeV, 273, de Valera an Mary MacSwiney, 26. Mai 1923; 15. Juli 1923; 26. Juli 1923; FLK, DeV, 297/1 und 294, Korrespondenz zwischen Mary MacSwiney und Patrick Ruttledge, Oktober bis Dezember 1923; FALLON, Soul of Fire, S. 113 f. NAI, Sinn Fein, 1094/8/4, de Valera an „AL“, 29. Mai 1923; vgl. NAI, Sinn Fein, 1094/1/11, de Valera an organising committee, 31. Mai 1923.
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mit einem historischen Argument: Sinn Fein habe auch seit 1917 britische Unterhaus- und Kommunalwahlen für ihre Zwecke genutzt. Einmal mehr lieferte die revolutionäre Vergangenheit die Anleitung für das Handeln in der Gegenwart, wenn auch ausnahmsweise im Sinne von weniger statt mehr Dogmatik. De Valera setzte sich durch, weil er unter diesen Umständen die Methoden nicht ändern mußte, um effektiv zu sein.34 Bestimmend blieben nicht solch kleine Schritte Richtung Realpolitik, sondern die Sackgasse, in die der irische Republikanismus geraten war. Sean O’Faolain, der nach dem Bürgerkrieg für den erkrankten Brennan die republikanische Propaganda leitete, diagnostizierte sich rückblickend eine Art politischer Schizophrenie. Einerseits habe er 1923 sehr genau gewußt, daß die revolutionäre Republik faktisch tot gewesen sei, andererseits habe er weiter an der „dream Republic“ mitgeschrieben – unfähig, Pragmatismus und politische Träume zu vereinbaren: „We were all idealists, self-crazed by abstractions, lost in the labyrinths of the dreams to which we had retreated from this pragmatical pig of a world.“35 Am deutlichsten wurde dieser Rückzug aus der so „säuisch pragmatischen Welt“ beim Thema Treueid. Nüchterner ausgedrückt, nicht nur die radikale Mary MacSwiney, fast alle Republikaner waren überzeugt: „A broken oath is worse than a broken bridge.“36 Auf dem realistischsten Weg zur Realpolitik, nämlich am freistaatlichen Parlament teilzunehmen und notfalls den Treueid zu schwören, lag damit ein Denkverbot. Dieses Denkverbot war für die Republikaner deshalb so schwer zu durchbrechen, weil es den Kern seiner politischen Kultur ausmachte. Erst über das von ihnen selbst verhängte Tabu „Eid“ konstituierten sich die Republikaner als politische Gruppierung. Erst ein spezifisches Sprechen und Schweigen über den Eid machte die Republikaner zu Republikanern – nicht etwa scheinbar objektive soziale, politische oder religiöse Formationen oder Interessen. Das gemeinsame Tabu verband Sozialrevolutionäre, „gunmen“, Dogmatiker und Gemäßigte, und es grenzte sie von ihren politischen Feinden ab.37 Umgekehrt: Ein Republikaner, der den Eid schwor, war keiner mehr, sondern er war ein freistaatlicher Anhänger der „stepping-stone“Politik. 34
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NAI, D/J, 1993 release, S1/23, Sinn Fein Ard Fheis 1923, Colonel „X“ an Director Intelligence, 28. Juli 1923; NAI, Sinn Fein, 1094/1/11, de Valera an organising committee, 31. Mai 1923. O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 213–5, Zitat: S. 215. UCD, MSW, P48a/378, Mary MacSwiney an alle Dubliner Tageszeitungen, 30. Juli 1923; FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 251. Vgl. MANHEIM, Aufklärung, S. 29.
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Dennoch beschäftigte das Tabu „Eid“ die Phantasie der Republikaner. Im Rahmen von Document No. 2 war de Valera ja schon im Dezember 1921 bereit gewesen, den britischen König als Kopf der Staatengemeinschaft Commonwealth anzuerkennen.38 Wer jedoch wie der republikanische Querdenker Aodh de Blacam in einem Grundsatzartikel im Irish Statesman das Tabu „Eid“ zu sehr verletzte und sogar erwog, einen Eid zu schwören, solange dieser nur „freiwillig“ sei, der zog sich den heiligen Zorn der Dogmatiker zu.39 Aus der Perspektive Mary MacSwineys war so etwas nichts anderes als „rank British imperialism“, den sie in einer wütenden Replik im Irish Statesman in einem Schwall von persönlichen Beleidigungen und republikanischen Glaubensgrundsätzen zu ersticken versuchte.40 Indirekt zielte Mary MacSwiney mit solchen Ausfällen auch auf die moderaten Politiker um de Valera und machte ihnen deutlich, wie eng die Toleranzgrenzen des dogmatischen Republikanismus waren. Auch wenn es de Valera und MacSwiney gelang, den Richtungskonflikt innerhalb der republikanischen Führung zu kontrollieren, schlug er doch auf die republikanische Wahlkampfrhetorik durch. Sie bediente sich aus beiden Bereichen: „the Republic“ und „practical politics“. So hielt de Valera im Sinne von Realpolitik an Document No. 2 fest, formulierte sein Programm des konstruktiven Republikanismus, zu einem griffigen sozial-ökonomischen zweiundzwanzig Punkte Manifest aus.41 Die soziale Argumentation Sinn Feins war dabei gleichzeitig immer auch national. Sie überhöhte soziale und sozialneidische Argumente als Kampf gegen den vom irischen Volk bezahlten „britischen“ Wohlstand der vertragsbefürwortenden Elite.42 Wenn die republikanische Propaganda auch aus Sicht des freistaatlichen Geheimdienstes „much milder in tone“ geworden war, an den Standards der traditionellen republikanischen Propaganda und auch an den Formen der
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Vgl. auch bereits im September 1922: UCD, OMP, P17a/18, de Valera an Charles Murphy, 7. September 1922: „If at a future time a course other than non-attendance should seem wise.“ IRISH STATESMAN, 22. September 1923, S. 44–6 und 17. November 1923, S. 302, Artikel von Aodh de Blacam; AN POBLACHT, 22. März 1922, S. 7; 29. März 1922, S. 6; YOUNG IRELAND, 21. April 1917, S. 1; 28. Juni 1918, S. 1; UCD, FGP, P80/736, Aodh de Blacam an Hanna Sheehy-Skeffington, 27. Juli 1922. IRISH STATESMAN, 6. Oktober 1923, S. 109 und 22. Dezember 1923, S. 463 f Artikel von Mary MacSwiney. NAI, D/J, 1993 release, S1/23, Sinn Fein Ard Fheis 1923, Colonel „X“ an Director Intelligence, 28. Juli 1923. NAI, RP, P88/336, Wahlplakat, ca. Juli 1923.
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Agitation änderte sich wenig.43 Geschichtsgesetz und Martyrologie blieben Kern der republikanischen Wahlkampfrhetorik, wobei sich der Akzent etwas verschob: Die Propagandisten erzählten von den Märtyrern nicht mehr in Gegenwart und Zukunft, sondern fast nur noch in der Vergangenheit.44 Sie versuchten, wie Sinn Fein nach 1916, die Dignität von „Heldentum“ und „Blutopfer“ zu besetzen, ohne ihre Wähler zu verschrecken.45 Die offensiven Aktionen der IRA während des Bürgerkrieges thematisierten die republikanischen Propagandisten gar nicht.46 Zumindest ansatzweise lernten sie jetzt zu manipulieren, taktische Abstriche von der Reinheit der Lehre und der „historical truth“ zu machen. Doch auch hier blockierte republikanischer Dogmatismus eine erfolgversprechendere Rhetorik. Die IRA konnte sich nicht endgültig vom bewaffneten Kampf distanzieren; denn das republikanische Geschichtsgesetz verlangte von der revolutionären Elite weitere Blutopfer – spätestens in der nächsten Generation.47 Solange die IRA ihre Waffen behielt, konnte die freistaatliche Propaganda diese Bedrohung leicht für sich nutzen.48 Genauso instrumentalisierte die vertragsbefürwortende Propaganda die Militanz radikaler Aktivisten und Aktivistinnen, die immer wieder mit lautstarken Gegendemonstrationen freistaatliche Wahlkampfveranstaltungen störten. Wie die Worker’s Republic kritisch beobachtete, war das äußerst kontraproduktiv: The ultimate result of the interruption campaign is that the Republicans go away happy that they prevented the Treatyites from addressing the people, and the Free Staters go away satisfied that the Republicans demonstrated that under a Republican regime there would be no toleration for any doctrines opposed to the Republican doctrines.49
43
44
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UCD, MP, P7/B/240, Lester, Memo on seditious propaganda, 2. November 1923; 8. Dezember 1923; 18. Dezember 1923; 22. Dezember 1923; UCD, FGP, P80/296, Sean Lester an FitzGerald, Memo „Irregular Propaganda“, 27. Oktober 1923; 9. November 1923; 7. Dezember 1923; 16. Dezember 1923; 22. Dezember 1923; 29. Dezember 1923. FLK, DeV, 309/4, Entwurf eines Pamphlets, ca. August 1923; FLK, DeV, 298, Statement of de Valera, 28. Juni 1923; FLK, DeV, de Valera, Grußadresse an Sinn Fein-Treffen, 17. Juli 1923. NAI, Sinn Fein, 1094/7/5, Brennan an de Valera, ca. 15. Juni 1923; vgl. SINN FEIN, 20. Oktober 1923, S. 1; CATHOLIC BULLETIN, Dezember 1923, S. 828. NAI, D/J, 1993 release, S1/23, Sinn Fein Ard Fheis 1923, Colonel „X“ an Director Intelligence, 28. Juli 1923. NAI, Sinn Fein, 1094/9/2, anonymes Statement, 13. Juni 1923; NAI, S-1859, Frank Aiken to all Officers, 28. Mai 1923. FREEMAN’S JOURNAL, 23. Juli 1923, S. 4; 27. August 1923, S. 4. WORKER’S REPUBLIC, 18. August 1923, S. 2; vgl. UNITED IRISHMAN, 25. August 1923, S. 1.
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3. SYMBOLISCHE AUFLEHNUNG UND DAS CHARISMA DE VALERAS Auch die republikanischen Propagandisten versuchten, taktisch unkluge Übergriffe ihres Feindes propagandistisch zu instrumentalisieren, ja gezielt zu provozieren. Sie orientierten sich dabei an Sinn Feins Politik der symbolischen Auflehnung, die zwischen 1916 und 1919 den Republikanern zum Durchbruch verholfen hatte. Als die Worker’s Republic ab Anfang Mai 1923 wieder in Dublin erschien, plante auch Brennan, ein Propagandablatt offen in Dublin herauszugeben. Dieses Blatt sollte eine gemäßigte republikanisch-konstitutitionelle Politik vertreten, wobei konstitutionell bei Brennan nicht Verfassungstreue, sondern passiver Widerstand hieß.50 Brennan kalkulierte dabei mit der Logik der symbolischen Auflehnung: Griff der Freistaat nicht ein, so hätten die Republikaner endlich wieder ein in Irland hergestelltes Organ, das schnell auf aktuelle Ereignisse reagieren konnte.51 Aber auch ein sofort wieder unterdrücktes Blatt sei „money well spent“: „The F[ree] S[taters] if they took action, would [. . .] render hollow their pretentious lies about constitutional action.“ Dafür war Brennan sogar bereit, in eine viertelseitige Frontanzeige zu investieren, obwohl er sonst nur in den letzten Tagen vor der Wahl genügend Geld aufbrachte, um Anzeigen im Irish Independent schalten zu lassen.52 Nicht nur um die Spielräume für republikanische Agitation zu erweitern, sondern auch um Übergriffe der Freistaatsbehörden zu provozieren, verfolgte de Valera eine kalkulierte Politik des „coming out into the open“, organisierte er Sinn Fein, wie gezeigt, konsequent als offene agierende Partei.53 Bald schickte de Valera nicht nur die moderaten Politiker des Reorganisationskomittees „ins Freie“, sondern auch Politiker, die eher damit rechnen mußten, verhaftet zu werden, etwa Mary MacSwiney und Constanze de Markievicz.54 50 51 52
53 54
Vgl. FLK, DeV, 294, report on meeting, 19. September 1923; WORKER’S REPUBLIC, 5. Mai 1923. NAI, Sinn Fein, 1094/8/5, Brennan an „AL“, 29. Mai 1923. NAI, Sinn Fein, 1094/7/5, Brennan an de Valera, ca. 15. Juni 1923; vgl. ebd., 1094/8/5, Brennan an „AL“, 29. Mai 1923; IRISH INDEPENDENT, 25. August 1923, S. 2, 4; 27. August 1923, S. 7, 8. NAI, Sinn Fein, 1094/8/1, de Valera an „AL“, 16. Mai 1923. NAI, Sinn Fein, 1094/2/3, Poster, Republican monster meeting in Tuam, 6. Mai 1923: „Many prominent speakers will attend to assert the right of free speech“. FLK, DeV, 308/2, de Valera an Constanze de Markievicz, 24. Juli 1923; FLK, DeV, 289, Tom Derrig an de Valera, 16. Mai 1923; FLK, DeV, 268/1, de Valera an Brennan, 24. Juli 1923; FLK, DeV, 308/3, de Valera an Patrick Ruttledge, 13. April 1923; FLK, DeV, 308/2, Patrick Ruttledge an de Valera, 4. Mai 1923.
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Nicht jeder, den de Valera oder Brennan als Köder für die freistaatliche Geheimpolizei, CID, vorsahen, war begeistert. Während de Valera die Mitglieder des Reorganisationskommittees noch erfolgreich ermutigen konnte,55 erhielt er von einem Corker Propagandisten eine deutliche Absage: „Is it intended to come into the open in a pseudo-constitutional [!] fashion or what is required of me in connection with it? [. . .] I couldn’t even show my nose in Cork at the moment.“56 Auch Brennan konnte lange weder einen Drucker noch eine geeignete Druckmaschine für sein Blatt finden. Erst Anfang August 1923 erschien das neue republikanische Blatt: Sinn Fein.57 Die Freistaatsführung tolerierte zwar das Blatt und entschied sich gegen eine systematische Unterdrückung des politischen Republikanismus.58 Dennoch machte sie immer noch republikanische Aktivisten zu politischen Märtyrern: Der CID verhaftete republikanische Politiker vom Rednerpult weg, löste Anti-Gefängnis-Demonstrationen auf, durchsuchte kurz vor der Wahl die offizielle Propagandazentrale in der Suffolk Street 23 und internierte den republikanischen Wahlkampfmanager Eamon Donnelly.59 Dabei erleichterte die Freistaatsführung den Republikanern die Propaganda noch dadurch, daß sie kurz vor der Wahl einen neuen Public Safety Act verabschieden ließ. Während die Dubliner Presse dieses sensible Thema in ihren Leitartikeln weitgehend verschwieg,60 bestätigte sich für die republikanische Propaganda die Identität der Zwangsmittel von Empire und Freistaat.61 Die permanente Sondergesetzgebung der nächsten Jahre unterminierte alle Versuche des Executive Council, die Kontinuität zu britischen Herrschaftsmethoden zu durchbrechen.62 Höhepunkt der Politik der symbolischen Provokationen war de Valeras Auftritt bei einer öffentlichen Wahlkampfkundgebung in Ennis, in der Grafschaft Clare. Wieder zeigte sich die für Republikaner so bezeichnende 55 56 57 58 59
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NAI, Sinn Fein, 1094/8/1, de Valera an „AL“, 16. Mai 1923. NAI, Sinn Fein, 1094/7/3, anonymisierter Brief, 3. Juni 1923. NAI, Sinn Fein, 1094/8/7, Brennan an „AL“, 6. Juni 1923; SINN FEIN, 7. August 1923. UCD, KP, P4/1387, Benedict O’Sullivan an Margaret Collins-O’Driscoll, 18. Oktober 1923. NAI, Robert Barton, 1093/11, REPUBLICAN LEADER-WICKLOW EDITION, 26. August 1923, S. 2; SINN FEIN, 18. August 1923, S. 2; 20. Oktober 1923, S. 4; UCD, MP, P7/B/93, Raid on Suffolk Street 23, 18. August 1923; ebd., arrest of E[amon] Donnelly, 19. August 1923. Soweit ich sehe, gibt es keine Kommentare zur Public Safety Bill, in: IRISH TIMES, FREEMAN’S JOURNAL und UNITED IRISHMAN, sondern nur eine zurückhaltende Rechtfertigung in IRISH INDEPENDENT, 17. Juli 1923, S. 4. CATHOLIC BULLETIN, August 1923, S. 507–10. TWOMEY-RYAN, Church, S. 106; NAI, D/T, S-3361, confidential monthly report, Februar 1923, 14. März 1923.
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Bereitschaft, persönliche Nachteile, ja das Leben für politische Ziele zu riskieren. Doch das Risiko, das de Valera einging, war verglichen mit dem von Childers, O’Malley oder auch Mary MacSwiney während des Bürgerkrieges gering. Der Freistaat hatte die Hinrichtungspolitik eingestellt, ein offener Mordanschlag hätte die Legitimität des Freistaats demontiert und aus de Valera den republikanischen Märtyrer schlechthin gemacht. Er war deshalb unwahrscheinlich. De Valera opferte zwar seine Freiheit „für Irland“, aber wieder einmal zeigte sich: De Valera hatte wenig Ehrgeiz, für die dogmatische Republik zu sterben, an die er nicht mehr so richtig glaubte. Wieder erwies er sich als Überlebenskünstler: 1916 als amerikanischer Staatsbürger zu lebenslanger Haft begnadigt, ab 1919 nicht mehr „on active service“ und hauptsächlich in den USA, während des Bürgerkriegs gut versteckt im Untergrund, und später, während des Massenhungerstreiks im Oktober 1923, gut genährt in Einzelhaft, kam de Valera auch diesmal mit dem Leben davon.63 Er war damit die einzige charismatische Führungspersönlichkeit, die die Revolution überlebte und noch die Politik mitbestimmte, als Griffith, Collins, Lynch, Rory O’Connor, Mellows, Terence MacSwiney, Pearse und James Connolly schon über fünfzig Jahre tot waren.64 De Valeras Auftritt war genau vorbereitet und gelungen inszeniert. Schon der Ort war sorgfältig ausgesucht: Weit weg von der „westbritischen“ Regierungszentrale in Dublin, war Clare seit 1917 de Valeras Wahlkreis, sein Auftritt ein Heimspiel. Der Wahlsieg des Außenseiters und 1916-Veteranen bei der Nachwahl 1917 in Clare galt allgemein als Durchbruch zu Sinn Feins Wahlerfolg 1918.65 Bereits drei Wochen vor der Veranstaltung hatte de Valera öffentlich angekündigt, in seinem Wahlkreis aufzutreten: Der Freistaat werde ihn nicht auf Dauer in den Untergrund zwingen.66 Republikanische Plakate und Propagandablätter verbreiteten die Nachricht, daß der Staatsfeind Nummer Eins sich öffentlich zeigen würde.67 Diese Kampagne hatte einen durchschlagenden Erfolg, selbst der Freeman schätzte die Menge der Zuschauer auf 3000. Dazu war das Podium gesteckt voll mit Journalisten und Pressephotographen, die auf die kommende Sensation warteten. Um ein optimal großes Publikum zu erreichen, hatten die Propagandisten einen
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Vgl. dazu Spott, in: UNITED IRISHMAN, 17. November 1923, S. 4. Vgl. HOPKINSON, Green, S. 274. SINN FEIN, 16. August 1923, S. 2. FLK, DeV, 280, statement of de Valera, 24. Juli 1923; FLK, DeV, 308/2, de Valera an Constanze de Markievicz, 24. Juli 1923; de Valera an Patrick Ruttledge, 24. Juli 1923. MURRAY, Voices, S. 5; SINN FEIN, 16. August 1923, S. 2 f.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
öffentlichen Feiertag für de Valeras Auftritt ausgewählt und eine Reihe von Musikgruppen engagiert.68 Die Stimmung erreichte einen ersten Höhepunkt, als der nach Ennis geschmuggelte de Valera aus dem Auto stieg, begleitet von der sichtbaren Verkörperung katholischer Legitimation und Spiritualität: einem Mönch. Am Auto wurde er von einer in weiß gekleideten Cumman na mBan-Aktivistin, mit einer Trikolore in der Hand empfangen. Um diese Flagge – und mit ihr die Trikoloren in der Menge – von denen des Freistaats abzugrenzen, trug die Fahne die Initialen „I[rish] R[epublic]“. Dann begleitete diese lebende Allegorie der irischen Republik de Valera aufs Podium, wo er als Präsident der Republik begrüßt wurde. „Kathleen ni Houlihan“ beziehungsweise das republikanische „Young Ireland“ führte für alle Zuschauer sichtbar seinen Präsidenten an den Ausgangspunkt von dessen nationaler Karriere: ein Rednerpodium in Ennis.69 Die freistaatlichen Propagandisten, die den machtlosen de Valera schon während des Bürgerkrieges als Schreibtischtäter und Initiator der IRA-Zerstörungen identifiziert hatten,70 projizierten nach dem Waffenstillstand die gesamten Übel des Bürgerkrieges auf de Valera. Sie versuchten so, mit der politischen Führungspersönlichkeit den gesamten politischen Republikanismus zu diskreditieren. Teilweise selbst tief von de Valeras persönlicher Kriegsschuld überzeugt, wandten sie das konstruktive Aufbauprogramm Sinn Feins gegen de Valera, maßen seine ökonomischen Pläne an den Ruinen, die die IRA (und Freistaatsarmee) im ganzen Land hinterlassen hatte.71 So überzeugend die Argumentation der Freistaatler auch den republikanischen Zugriff auf „practical politics“ verhinderte, sie hatte einen unbeabsichtigten Nebeneffekt: Die Anti-de-Valera-Kampagne funktionierte wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Sie verschaffte dem als Kompromißler verdächtigten de Valera im eigenen Lager eine Dignität, die ihm half, die vom Freistaat angenommene Führungsrolle tatsächlich zu übernehmen. Sie identifizierte den noch im März 1923 machtlosen de Valera gegenüber der Bevölkerung und auch gegenüber dem eigenen Lager als Kopf der Republikaner.72
68 69 70 71
72
FREEMAN’S JOURNAL, 16. August 1923, S. 5. Ebd. UNITED IRISHMAN, 22. Februar 1923, S. 4; FREE STATE, 15. April 1922, S. 5; 5. Juli 1922, S. 3; IRISH INDEPENDENT, 23. November 1922, S. 4. UCD, MP, P7/B/240, DUBLIN DOINGS, 22. Mai 1923; FREEMAN’S JOURNAL, 23. Juli 1923; S. 4; O’HEGARTY, Victory, S. 64, 71 f., 73, 82–4, 97–100, 103, 116, 123, 148–55, 158 f.; VALIULIS, Mulcahy, S. 87, 185. Vgl. CATHOLIC BULLETIN, Oktober 1923, S. 663–5.
I. Wahlkampf: Organisation und rhetorische Strategie
505
Als de Valera im August 1923 in Ennis auftrat, war das freistaatliche Executive Council nicht mehr pragmatisch genug, um mit seinem neuen Kernwert „Staat“ flexibel umzugehen. Solange Tausende von weniger prominenten Republikanern in den Gefängnissen saßen, konnte und wollte es einen offenen Auftritt des Mannes nicht tolerieren, den es selbst zum Staatsfeind Nummer Eins aufgebaut hatte.73 Wie kalkuliert, zwang de Valeras Auftritt das Executive Council zu einer repressiven Reaktion. Obwohl die freistaatlichen Propagandaexperten die Regierung warnten, daß eine Verhaftung de Valeras den Republikanern nütze,74 tat das Executive Council genau dies: Kaum hatte er einige Minuten auf Irisch und Englisch einen friedlichen Republikanismus propagiert, verhaftete die Armee de Valera und sprengte die Versammlung. Zum Glück für die Republikaner stellten sich die Freistaatstruppen dabei auch noch erstaunlich ungeschickt an: Sie verwendeten Bajonette, also Waffen, die in der nationalen Tradition als Symbol britischer Unterdrückung galten,75 und sie ermöglichten de Valera den dramatischen Effekt von Schüssen, Panik und verletzten Zivilisten. Die republikanische Propaganda stilisierte das zu einem Mordanschlag auf de Valera und zu einem zweiten „Bloody Sunday Massacre“. Sie begann eine Freilassungskampagne für den angeblich von einer Exekution bedrohten de Valera.76 Obwohl das vermutlich nicht einmal die republikanischen Propagandisten glaubten, wurde de Valeras Verhaftung ein politischer Erfolg. Der Freistaat stellte sich aus republikanischer Sicht direkt in die Tradition britischer Zwangsherrschaft. Wie die britischen Behörden 1919 verhaftete das Executive Council seinen schlimmsten politischen Gegner: den Präsidenten der Republik. Die in de Valeras Auftritt angelegten Parallelen zum Wahlsieg 1917 und zu seinen Inhaftierungen 1916 und 1919 erinnerten zugleich an seine Rolle als die selbstlose nationale Führungspersönlichkeit. Wie geplant, gelang dem zuvor so machtlosen und frustrierten de Valera der Anschluß an seine eigene nationale Erfolgsgeschichte.77
73 74 75
76 77
MURRAY, Voices, S. 5. UCD, MP, P7/B/240, Sean Lester an President’s Office, ca. 15. Juli 1923. Bajonette als Symbol britischer Grausamkeit: CATHOLIC BULLETIN, Januar 1923, S. 9; DEBATE ON TREATY, Cathal Brugha, 7. Januar 1922, S. 330; IRISH BULLETIN, 28. Oktober 1920, S. 1; GALVIN, songs, S. 56. EIRE, 25. August 1923, S. 5; 1. September 1923, S. 1, 5; SINN FEIN, 16. August 1923, S. 2 f.; 17. August 1923, S. 1 f., 18. August 1923, S. 2, 20. Oktober 1923, S. 4. Bereits angelegt, in: FLK, DeV, 280, statement of de Valera, 24. Juli 1923; EIRE, 25. August 1923, S. 5; SINN FEIN, 17. August 1923, S. 1 f., 18. August 1923, S. 2; MURRAY, Voices, S. 3 f.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
Die Republikaner hatten de Valeras Verhaftung so sorgfältig inszeniert, daß auch die freistaatlichen Berichte diese Version zwischen den Zeilen transportierten. Denn auch für die Tagespresse war wenige Tage vor der Wahl de Valeras spektakuläre Verhaftung Thema Nummer Eins. Zwar verteidigten die Kommentare in allen drei Dubliner Tageszeitungen das Executive Council. Doch auch Irish Times und Irish Independent fürchteten, daß de Valera politisch von seiner Verhaftung profitieren werde. Deshalb hielten sie sich, genau wie die offizielle Propaganda des Freistaats, mit „law and order“-Rhetorik zurück. Selbst der Freeman freute sich nicht über eine lang ersehnte Abrechnung, sondern zählte stattdessen die Vergehen de Valeras auf.78 Der Fall de Valera löste momentan auch den Richtungsstreit in Sinn Fein: Als beherrschendes Propagandathema lenkte er von programmatischen Unstimmigkeiten ab. De Valera selbst entzog sich den politischen Querelen: im wörtlichen Sinn, weil er im Gefängnis nur schwer mit den Dogmatikern streiten konnte; übertragen, weil ihn seine Verhaftung automatisch als politischen Märtyrer legitimierte. Obwohl er momentan die faktische Kontrolle über Sinn Fein verloren hatte, machte ihn das freistaatliche Executive Council endgültig zum unumstrittenen Kopf der Republikaner. Die Verhaftung half den Freunden de Valeras, ihn auch in der Partei endgültig als spirituellen Führer und Vaterfigur durchzusetzen.79 Als Opfer politischer Verfolgung und „britischer“ Aggression erreichte de Valera ein „deep and intimate involvement [. . .] in the master fictions“ des irischen Nationalismus. Und das verlieh ihm politisches Charisma.80 Was läßt sich über die ersten Nachkriegsmonate zusammenfassen? Nach dem Bürgerkrieg organisierten beide Seiten ein irlandweites Vereinsnetz ihrer Parteien. Auch die Propaganda der Bürgerkriegszeit setzten sie nur wenig modifiziert fort. Die Vertragsbefürworter konzentierten sich darauf, wo immer es möglich war, den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu inszenieren. Zusätzlich bündelten sie die Kampagne gegen die Republikaner auf ein neues Feindbild: de Valera. Auch die Republikaner wichen nur leicht von der Propaganda des Bürgerkrieges ab: Sie thematisierten zwar de Valeras soziales Programm. Im Mittelpunkt ihrer Propaganda stand aber weiterhin das – vergangene – Martyrium für die Republik. Um dieser Rhetorik bei
78 79 80
IRISH INDEPENDENT, 16. August 1923, S. 6; FREEMAN’S JOURNAL, S. 4 f.; IRISH TIMES, 16. August 1923, S. 4. CATHOLIC BULLETIN, September 1923, S. 546; Oktober 1923, S. 666; EIRE, 5. Mai 1923, S. 5. GEERTZ, Centers, S. 146.
II. Bevölkerung und Bürgerkrieg: handfeste Interessen und Fiktionen
507
der Bevölkerung etwas von ihrem Schrecken zu nehmen, deuteten die republikanischen Propagandisten an, der bewaffnete Kampf für die Republik sei vorerst beendet. Mit viel Gespür für die politische Symbolik handelte de Valera, als er sich kurz vor den Wahlen in Ennis verhaften ließ: Die freistaatliche „Aggression“ wies ihn im eigenen Lager als politischen Märtyrer aus. Gleichzeitig hielt de Valera für sich das persönliche Risiko gering, vermied, selbst Teil der ruhmreichen Toten zu werden.
II. BEVÖLKERUNG UND BÜRGERKRIEG: HANDFESTE INTERESSEN UND FIKTIONEN Viel schwerer als über das Denken der politischen Elite lassen sich Aussagen über das der irischen Bevölkerung machen. Was dachte die Bevölkerung oder dachten einzelne Bevölkerungsgruppen von dem Theater um „Heldentod“, Märtyrertum beziehungsweise um staatliche Souveränität, das die politischen Eliten beider Seiten für sie inszenierten? Wie lasen sie die Propaganda, und lasen sie sie überhaupt? Wie beeinflußten sozialer Status, Nähe zur Zentralgewalt und Kriegserfahrung ihr Urteil über den Bürgerkrieg? Was stand im Vordergrund: „objektive“ handfeste soziale und materielle Interessen oder „Fiktionen“ über Nation und „Irishness“? Auch wenn sich diese Arbeit hauptsächlich mit der politischen Kultur der Elite beschäftigt hat, werde ich einige Tendenzen darstellen. Die Wahl vom 27. August 1923 liefert eine relativ genaue Momentaufnahme der politischen Haltung der Bevölkerung. Das Abstimmen nach Wahlkreisen erlaubt regional, teilweise auch sozial zu differenzieren. Über den Einfluß von Propaganda lassen sich nur sehr vorsichtige Aussagen machen. Trotzdem bleibt das Wahlergebnis die beste, zumindest die am leichtesten greifbare Quelle, um abzuschätzen, wieweit Propaganda wirkte. Die Wahl nur wenige Monate nach dem Bürgerkrieg ließ den Republikanern kaum Zeit, sich neu zu organisieren. Der Tradition irischer Wahlen entsprach es, daß auch bei dieser Wahl gelegentlich Lebende für schon Verstorbene zur Wahl gingen, Wähler eingeschüchtert wurden, andere unter falschen Namen mehrfach wählten.81 Doch auch wenn die republikanische Propaganda versuchte, solche Probleme zum Wahlbetrug hoch zu stilisieren, waren das – gemessen an der Paktwahl 1922 und der Wahl ohne Gegen-
81
IRISH INDEPENDENT, 3. September 1923, S. 4; DAIL DEBATES, Ernest Blythe, 2. August 1923; WARD, Unmanagable Revolutionaries, S. 198; GARVIN, 1922, S. 173.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
kandidaten im Mai 1921 – Kleinigkeiten. Die Wahlen 1923 waren die ersten freien Wahlen in Irland seit 1918 und die ersten Wahlen mit uneingeschränktem, allgemeinem Wahlrecht für Männer und Frauen überhaupt. Auch die lokalen Wählerverzeichnisse waren jetzt weitgehend aktualisiert.82 Das offizielle Wahlergebnis stand wegen des komplizierten Auszählungsmodus erst Anfang September fest: Cumman na nGaedheal erhielt 38,97 Prozent der ersten Präferenzen, und 63 Sitze, Sinn Fein 27,4 Prozent und 44 Sitze, Labour 10,62 Prozent und 14 Sitze, Farmer 12,07 Prozent und 15 Sitze. Darüber hinaus erhielten unabhängige Kandidaten 10,94 Prozent und 17 Sitze.83 Entgegen der Erwartung des freistaatlichen Executive Council, der britischen Regierung, der Dubliner Tageszeitungen und der meisten Republikaner hatte Sinn Fein überraschend großen Zulauf. Sie erreichte ein viel besseres Ergebnis als das, was die Vertragsgegner 1922 ohne Wahlpakt hätten erreichen können. Diesen Wahlerfolg, trotz der Verfolgung durch den Freistaat und trotz der Übermacht der freistaatlichen Propagandamaschinerie, wertete die Sinn Fein-Propaganda als Sieg, als Zeichen dafür „That the people are returning to their allegiance.“84 Cumman na nGaedheal erhielt ungefähr genausoviel Stimmen wie die vertragsbefürwortende Sinn Fein 1922 und erklärte sich als stärkste Partei ebenfalls zur Siegerin der Wahl.85 Während die Labour Party die eigentliche Verliererin der Wahl war und über die Hälfte ihrer Stimmanteile verlor, hatte sich ihr „Klassenfeind“, die Farmerpartei, um gut vier Prozent verbessert.86 Labours Mißerfolg lag einmal daran, daß die mit ihnen verbundenen Gewerkschaften während der (Agrar-)Depression seit Ende 1921 langsam zerfielen. Ohne Wirtschaftswachstum gab es keine Zugewinne zu verteilen, waren auch die Arbeitgeber, ermutigt vom freistaatlichen Executive Council, in den Tarifkonflikten unnachgiebiger. Auch die Arbeitgeber der Landarbeiter hatten sich nun effizient als Farmers Freedom Force organisiert, setzten sich mit militanten Mitteln gegen die ebenso militante ITGWU
82 83 84 85 86
EIRE, 11. August 1923, S. 1; SINN FEIN, 17. August 1923, S. 2; 25. August 1923, S. 2; 1. September 1923, S. 4; GARVIN, 1922, S. 173 f. MICHAEL GALLAGHER, Irish Elections, S. 44 f. NAI, S-1859, Brief von Frank Aiken, 15. September 1923; SINN FEIN, 1. September 1923, S. 4. UNITED IRISHMAN, 8. September 1923, S. 4. MICHAEL GALLAGHER, Irish Elections, S. 14, 45.
II. Bevölkerung und Bürgerkrieg: handfeste Interessen und Fiktionen
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durch.87 Dieser wirksame Schutz gegen den irischen Sozialismus machte Farmer und unabhängige „Business“ Kandidaten für die städtische Oberund Mittelschicht und für besitzende Bauern zu interessanten Alternativen zu Cumman na nGaedheal.88 Labour litt nicht nur unter „objektiven“ Konjunkturzyklen und dem Druck des Klassenfeindes, sondern geriet auch zwischen die Fronten des Bürgerkrieges. Was 1922 den Erfolg Labours ausgemacht hatte, hatte sich 1923 stark relativiert. 1922 war Labour eine neutrale und dennoch nationale Alternative zu Vertragsbefürwortern und -gegnern gewesen. Sie hatte als Gegengewicht zu einem drohenden Bürgerkrieg gegolten und hatte von Wählern profitiert, die mit ihrer Stimme für Labour gegen den Wahlpakt protestierten. In der polarisierten Atmosphäre nach dem Bürgerkrieg war Labours Scheinneutralität kein Vorteil mehr. Sie konnte die entscheidenden Themen Vertrag und Bürgerkrieg nicht polarisierend besetzen.89 Zwar attackierte Labour das freistaatliche Executive Council, aber nicht als „Verräter an der Republik“, sondern als „Agenten des Klassenfeindes“. Für republikanisch denkende Wähler hatte Labour damit den richtigen Feind, aber das falsche Feindbild; ein Feindbild, das Irish Labour dazu genauso gegen die Republikaner wandte.90 Als de facto vertragsbefürwortende Partei, die den Treueid akzeptierte, war Labour für republikanische Sympathisanten nicht wählbar. Die Kooperation mit Cumman na nGaedheal im Parlament und die klar sozialreformerische Linie relativierte den Oppositionsstatus Labours auch bei den Wählern, die stärker entlang sozialen Fragen orientiert waren.91 Viele vom Freistaat enttäuschte Arbeiter und Landarbeiter setzten daher auf eine scheinbar „echte“ Opposition. Sie projizierten ihre Hoffnungen auf das soziale Programm Sinn Feins. Oder sie orientierten sich – gerade in Dublin – an Jim Larkins stärker republikanischem Flügel der ITGWU.92 Entschieden sich mit Labour, Farmer und Unabhängigen ein Drittel der Wähler entlang sozialer Prioritäten, so erfaßte die nationale Polarisierung
87 88 89 90 91 92
IRISH TIMES, 3. September 1923, S. 4; EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 97–135, insbes. S. 120–7; Zum Niedergang des irischen Syndikalismus nach 1923: ebd., S. 143–5. Siehe EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 154–64. VOICE OF LABOUR, 18. August 1923, S. 1; vgl. HOPKINSON, Green, S. 111; MICHAEL GALLAGHER, Pact Election, S. 416. VOICE OF LABOUR, 25. August 1923, S. 1; vgl. ebd., 10. November 1923, S. 8; 17. November 1923, S. 5. EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 150–2, 164; LITTON, Civil War, S. 127. RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism, S. 65; LAFFAN, ‚Labour must wait‘, S. 218; EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 151.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
entlang der Vertragsfrage zwei Drittel der Wähler.93 Selbst diese Annahme ist untertrieben: Auch Labour und Farmer, vor allem auch viele unabhängige Kandidaten definierten sich nicht nur über soziale Interessen, sondern als vom Bürgerkrieg unbefleckte nationale Alternative. So argumentierte die Labour Party, ihre Hände seien „clean from bloodshed and civil war.“, versprach ihren Wählern „class unity, which will lead them to national unity, national independence and economic security.“94 Irish Labour drehte damit den traditionell propagierten Zusammenhang von nationaler und sozialer Freiheit um: Sozialismus wurde jetzt zur Vorbedingung für einen erfolgreichen Nationalismus. Auch unionistische Beobachter beklagten immer wieder die Dominanz von nationalen „lofty issues“95 über die Fragen des sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Aufbaus. In dem für den konstruktiven Unionismus so typischen paternalistischen Ton meinte ein anglo-irischer Journalist: „just as a child needs an alphabet book before it can learn to spell, so many of our people need an elementary treatise in economics (if possible with coloured illustrations) before they can distinguish between facts and fancies.“96 Wer durch soziale Umwälzungen und vor allem durch einen neuen Konflikt mit Großbritannien etwas zu verlieren hatte, hatte ein handfestes Interesse, Cumman na nGaedheal zu wählen; denn die vertragsbefürwortende Partei apellierte über den abstrakteren und edleren Wert „national reconstruction“ direkt an das materielle Interesse der Wähler. Das spiegelte sich auch in der regionalen Verteilung des Wahlergebnisses zwischen Stadt und Land und nach Regionen wider: Cumman na nGaedheal schnitt am besten in Leinster, Dublin und Cork ab. Hier lebten die kleine irische Mittel- und Oberschicht und die von der exportorientierten Fleischwirtschaft lebenden Großbauern. Das komplexere Wirtschaftsgefüge in Dublin und Cork hatte besonders unter den Schießereien, Straßensperren und Ausgehverboten von Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg gelitten.97 Die kleineren Städte waren schon im Unabhängigkeitskrieg weniger radikal gewesen. Die Bevölkerung war hier insgesamt weniger politisiert, der Organisationsgrad der politischen Vereine geringer als auf dem Land, wo Kirche und nationale Bewegung nahezu die einzigen Anbieter von Unterhaltung waren. Die britischen 93 94 95 96 97
MICHAEL GALLAGHER, Irish Elections, S. 45. VOICE OF LABOUR, 25. August 1923, S. 1. IRISH HOMESTEAD, 4. August 1923, S. 489. THE ROUND TABLE, XIV, no. 55 (Juni 1924), S. 527; IRISH HOMESTEAD, 2. Juni 1923, S. 437. Vgl. HOPKINSON, Green, S. 240; RUMPF und HEPBURN, Nationalism and Socialism, S. 61.
II. Bevölkerung und Bürgerkrieg: handfeste Interessen und Fiktionen
511
und später die freistaatlichen Truppen konnten hier republikanische Aktionen und Propaganda besser kontrollieren als in den Großstädten oder auf dem Land.98 Auch in Munster, ohne West Cork und Kerry, war Sinn Fein nicht besonders erfolgreich. Zwar waren die Bauern, die hier Milchwirtschaft betrieben, nicht genauso auf exportfreundliche Wirtschaftsbedingungen angewiesen wie die Bauern in Leinster, aber auch sie setzten auf den sozialen Status quo.99 Cumman na nGaedheal-Wähler entschieden sich jedoch nicht nur für ihr materielles Interesse, sondern auch für eine klare Position zur nationalen Frage. Cumman na nGaedheals Programm setzte keineswegs auf nackten Materialismus, es war primär national. So wandte sich die vertragsbefürwortende Propaganda gegen Labour, Farmer und Unabhängige, wertete sie als „sectional interests“ ab, die sich auf den „devious paths of party politics“ befänden.100 Auch wenn Cumman na nGaedheal-Wähler ihr materielles Interesse im Auge hatten, die meisten von ihnen waren als irische Nationalisten politisch sozialisiert worden, erst als Anhänger der Home Rule-Bewegung, dann als Sinn Feiner. Ohne nationalen Kern, zumindest ohne nationalen Anstrich, war für sie vertragsbefürwortende Politik uninteressant und schwer verstehbar. Wie ich oben immer wieder gezeigt habe: Nationalismus war die entscheidende Ebene, auf der Cumman na nGaedheal seine Legitimität konstruierte. Die Werte „majority rule“, „liberal rights“ und noch mehr materieller Wohlstand erhielten ihren höheren Sinn erst dadurch, daß sie auf diesen Kernwert bezogen blieben. Je weiter entfernt ein Wahlkreis von Dublin lag, um so erfolgreicher war Sinn Fein. In den zum großen Teil von Subsistenzwirtschaft geprägten Gebieten, im Westen Irlands, schnitt Sinn Fein am besten ab. Hier nutzte Sinn Fein den sozialen Unmut, den traditionellen Landhunger und agrarischen Radikalismus der Landarbeiter und Häusler für ihre Zwecke. In diesen armen und regierungsfernen Bezirken hatte die Bevölkerung ein handfestes Interesse daran, daß Steuereintreibung, die Überwachung der Puböffnungszeiten und die Reglementierung von Jagd und Fischerei weiterhin nicht funktionierten.101 Doch handfeste Interessen erklären die Motive der Sinn Fein-Wähler nur zum Teil. Sinn Fein blieb auch 1923 eine Partei, die erstens, zweitens und drittens national dachte, die sich nur am Rande für soziale Fragen interes-
98 99 100 101
GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 50 f.; FITZPATRICK, Politics, S. 120 f. Vgl. HOPKINSON, Green, S. 175, 212. Exemplarisch: UNITED IRISHMAN, 9. Juni 1923, S. 4; vgl. 13. Oktober 1923, S. 5. Vgl. HOPKINSON, Green, S. 175, 212; GARVIN, 1922, S. 93.
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sierte. Anders als für die Wähler Labours, war für Sinn Fein-Wähler die republikanische Konstruktion von „Nation“ ausschlaggebend – nicht soziale Interessen. Wenn sozial Benachteiligte häufiger Sinn Fein wählten, dann weniger, weil sie etwas zu gewinnen hatten, sondern hauptsächlich, weil es für sie materiell wenig zu verlieren gab.102 Solange Sinn Fein das Parlament boykottierte, waren die Chancen, das schwammige sozial-reformerische Programm Sinn Feins zu realisieren, nahe Null. De Valeras soziales Programm sollte verhindern, daß das absolute Desinteresse der vertragsablehnenden Elite an sozialen Fragen zum Ausschlußkriterium wurde. 1922 hieß Republikanismus, zugunsten des nationalen Primats auf jede soziale und ökonomische Überlegung zu verzichten. 1923 sollte Republikanismus zumindest nicht frontal gegen die elementaren Interessen aller Iren verstoßen.103 Der relative Wahlerfolg Sinn Feins spricht nicht nur für die Enttäuschung der Bevölkerung über die Sozialpolitik des Freistaates. Mehr noch zeigt er, welche Eigendynamik, welche Überzeugungskraft noch immer im republikanischen Mythos steckte und wie wirkungsmächtig die republikanische Martyrologie, wie unpopulär die Exekutionen gewesen waren. Immer noch erreichte das poetisch-nationalistische Konzept „the Republic“ eine große Wählerschaft – auch ohne eine realistische Hoffnung auf materielle Belohnung. Sobald kein unmittelbar neues Blutopfer drohte, verlor „the Republic“ seinen Schrecken, wurde weniger elitär und bedingt wieder ein Massenkonzept.104 Bis zu einem gewissen Grad hatte das republikanische Geschichtsgesetz, die „Erweckung der Bevölkerung“ auch nach dem „Blutopfer“ des Bürgerkriegs wieder funktioniert. Die auffällige regionale Verteilung des Wahlergebnisses korrespondierte nicht nur mit sozialen Hintergründen, sondern auch mit lokalen Identitäten und der Dauer des Guerillakrieges. Politischer Radikalismus läßt sich nicht einfach auf die Größe der Farm oder die Art der Produktion reduzieren.105 Lokale Identitäten, denen ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu dem entsprach, was man als die eigenen Leute identifizierte, wirkten sich entscheidend auf das Wahlergebnis aus. Die Wähler waren sehr empfänglich für Geschichten, die einen Bezug zur Region hatten: In Cork Borough emotiona102
103 104 105
Zum Zusammenhang zwischen dem Denken einer agrarischen Bevölkerung in Nullsummen-Modellen und der sozialen Programmatik Sinn Feins nach 1922, vgl.: GARVIN, 1922, S. 151–5. Auch George Russle sah darin einen minimalen Fortschritt des Denkens der Republikaner: IRISH STATESMAN, 15. September 1922, S. 7. Vgl. Einschätzung durch THE ROUND TABLE, XIII, no. 52 (September 1923), S. 794 f. Vgl. FITZPATRICK, Geography, S. 429–31.
II. Bevölkerung und Bürgerkrieg: handfeste Interessen und Fiktionen
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lisierten sie der „Heldentod“ von Collins, in Kerry die Ballyseedy-Opfer. In Wahlkreisen mit prominenten republikanischen Kandidaten gab es deutliche Wahlerfolge für die Republikaner. Gerade in Clare wirkte die Loyalität der Bevölkerung zu de Valera, „ihrem“ Präsidenten. Vor allem die spektakuläre Verhaftung kurz vor der Wahl schlug sich deutlich nieder. De Valera erhielt mit 17 762 mehr als doppelt so viel Stimmen wie sein direkter vertragsbefürwortender Kontrahent, Kulturminister Eoin MacNeill. Darunter waren auch 2 000 Stimmen von Wählern, die mit ihren niederen Präferenzen für Labour oder Farmer gestimmt hatten. Umgekehrt schnitt in Wahlkreisen mit vertragsbefürwortender Prominenz Cumman na nGaedheal überdurchschnittlich gut ab: acht von elf Ministern wurden mit überwältigender Mehrheit gewählt.106 In den ländlichen Gebieten, vor allem im Westen Irlands wirkte sich noch etwas anderes aus: die mindestens bis ins späte achtzehnte Jahrhundert zurückreichende Ablehnung der städtischen, „westbritischen“ Regierungszentrale Dublin und eine ebenso alte Tradition agrarischer und nationaler Militanz. Ein Cork-, Kerry- oder Clareman zu sein, hieß aus deren Perspektive irischer, nationaler zu sein als ein Dubliner. Das hatte die nationale Propaganda – und die Tourismusindustrie der Zeit – über die letzten Jahrzehnte vermittelt und vermittelt es noch bis heute.107 Mit diesem Klischee erklärte jetzt auch die republikanische Propaganda ihren überproportionalen Erfolg auf dem Land: „The election illustrates that if some people in the big cosmopolitan cities have changed their principles, the country remains true to itself.“108 Auch die regional sehr verschiedene Dauer des Krieges korrelierte signifikant mit der regionalen Verteilung des Sinn Fein-Erfolgs: In der Cumman na nGaedheal Hochburg Leinster hatte die Freistaatsarmee den Krieg schnell für sich entschieden. Auch in Munster, ohne West Cork und Kerry, war der Krieg nach dem Ende der Munster Republic in den meisten Gebieten vorbei. Die Freistaatstruppen wurden dort häufig enthusiastisch als Befreier vom republikanischen Chaos begrüßt.109 Dagegen wirkte sich im
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108 109
Siehe „first preference votes“ und „transfers“, in: MICHAEL GALLAGHER, Irish Elections, S. 25–52; zu Clare: S. 26; Vgl. BRIAN WALKER, Election Results, S. 108–15; DAILY TELEGRAPH, 9. September 1923, S. 7; CATHOLIC BULLETIN, Oktober 1923, S. 669. Vgl. exemplarisch O’DONOGHUE, No other Law, S. 52. Siehe auch: YOUNGER, Civil War, S. 326; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 12; Für die Langlebigkeit des WestirlandMythos: TERENCE BROWN, Ireland, S. 83 f., 92–7; Westirland-Mythos als Tourismusklischee: THE ROUND TABLE, XIV, no. 54 (März 1924), S. 311, 313, 316. CATHOLIC BULLETIN, Oktober 1923, S. 669. GARVIN, 1922, S. 103, 127.
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Westen die lange Dauer des erbitterten Guerillakrieges zugunsten Sinn Feins aus.110 Warum? Einen Guerillakrieg lasen viele Iren, auch unabhängig von schriftlicher Propaganda, offenbar auf Republikanisch. Sie schrieben die Rollenverteilung des Unabhängigkeitskrieges fort. Gestützt wurde das dadurch, daß die Freistaatssoldaten meist nicht aus der Region stammten, während die IRA sich aus „local boys“ rekrutierte und vom Lokalpatriotismus profitierte. Je länger der Krieg dauerte, um so mehr häuften sich die mit der Region verbundenen Geschichten über undisziplinierte Freistaatssoldaten. Während der Freistaat die Rolle des britischen Unterdrückers übernahm und unter der subversiven Deutung von „law and order“ litt, konnte er ohne militärischen Erfolg das Interesse großer Bevölkerungskreise an der Umsetzung von „law and order“ nicht befriedigen.111 Kriegserfahrung war die unmittelbarste, an Objektivität grenzende Konfrontation mit der Realität des Krieges. Wer politisch wenig engagiert war und im Bürgerkrieg einen nahen Angehörigen verloren hatte, dem konnte die Propaganda der Täter meist erzählen, was sie wollte, seine Kultur gab ihm nur wenige Möglichkeiten, sich seinen Verlust zu erklären: als notwendiges Opfer für „the Republic“ oder für „law and order“, vielleicht auch als sinnloses persönliches Unglück. Auch kleinere Verluste, beschlagnahmte Autos, geplünderte Vorräte, gestohlenes Vieh beeinflußten die Wahlentscheidung vermutlich nachhaltiger als Propaganda. So eindeutig mußten die Kriegserfahrungen aber nicht sein. Der Tod eines nahen Angehörigen betraf im Bürgerkrieg mit vermutlich zwei- bis dreitausend Toten nur vergleichsweise wenige.112 Wo der Krieg schnell vorbei war, waren kleinere materielle Verluste leichter zu verkraften, wo der Krieg länger dauerte, litt die Zivilbevölkerung oft unter beiden Seiten. Die nackte Realität des Krieges überwand nur in wenigen Fällen die Macht der Sprache, der Geschichten. Für die meisten Iren waren Opfer die Opfer der anderen. Von Anfang an hatte der Krieg für viele Iren etwas seltsam Irreales. Obwohl die Kämpfe in Dublin schon begonnen hatten, fuhren noch lange Zeit die Straßenbahnen in der O’Connel Street. Angestellte in
110 111
112
HOPKINSON, Green, S. 238 f. NAI, D/T, S-3361, confidential monthly report, Februar 1923, 14. März 1923; ebd., army report, März 1923, 1. April 1923; general surveys for week ending, 15. April 1923; 21. April 1923; 28. April 1923; 5. Mai 1923. Vgl. HOPKINSON, Green, S. 173, 201 f., 209, 212 f., 243, 262 f. HOPKINSON, Green, S. 273.
II. Bevölkerung und Bürgerkrieg: handfeste Interessen und Fiktionen
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der Dubliner Innenstadt gingen in ihrer Mittagspause an die Liffey, um zu sehen, wie sich der Krieg auf der anderen Seite des Flußes entwickelte.113 Auch auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges ging das Leben in den meisten Gegenden Irlands fast uneingeschränkt weiter. So gesehen beschwerte sich FitzGerald zurecht darüber, daß die Presse den Krieg zum Thema Nummer Eins machte: Er lieferte zwar die aufsehenerregendsten Schlagzeilen, er dominierte aber nicht das alltägliche Leben. Selbst ein britischer Beobachter erklärte im März 1923 lakonisch, man müsse schon sehr viel Pech haben, wenn man bei einer Sonntagsfahrt sein Auto oder gar sein Leben verlieren sollte.114 Was vertragsbefürwortende und vertragsablehnende Propagandisten von Freistaatsarmee und IRA behaupteten, das behauptete der Betreiber des Corinthian Theaters auch von Mary Carrs neuem Stück „Silver Wings“: „It’s sweeping the nation!“115 Auch wenn die Republikaner versuchten, alle öffentlichen Vergnügungen zu verbieten: während des gesamten Bürgerkrieges hatten alle Theater, Kinos, Stadien und Rennbahnen geöffnet. Die Freistaatsführung zwang die entsprechenden Besitzer, ihre Programme fortzusetzen und so „Normalität“ herzustellen.116 Dieser Schein von Normalität war der Freistaatsführung so wichtig, daß sie im März 1923 zum ersten und letzten Mal zu der Maßnahme griff, eine Zeitungsausgabe vollständig zu beschlagnahmen. Sie bestrafte den Evening Herald so dafür, daß er einen republikanischen Drohbrief gegen Kino und Theaterbesitzer veröffentlicht hatte.117 Was die Bevölkerung nicht selbst erlebte, ja sogar, was sie selbst erlebte, machte für sie nur als Geschichte Sinn. Damit sie Kriegserfahrung begriff, mußte sie erzählbar sein: als Bericht des Nachbarn, wie die IRA ihm das letzte Huhn geschlachtet oder die Freistaatsarmee die Scheune durchwühlt hatte, als Predigt des Dorfpfarrers gegen die IRA, als Gerücht über einen Viehdiebstahl im übernächsten Ort oder eben auch als freistaatliche oder republikanische Propaganda. Auf die Wahlentscheidung wirkte sich dabei aber nicht nur aus, wie die Iren das Vergangene lasen, sondern mehr noch, was sie von der Zukunft erwarteten, befürchteten und erhofften. Doch Zu-
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MEMORY, Memory’s, S. 125, 128 f., 130; SATURDAY HERALD, 8. Juli 1922, S. 1; MCREDMOND (Hrsg.), Photographs, S. 86. THE ROUND TABLE, XIII, no. 50 (März 1923), S. 269, 272. FREEMAN’S JOURNAL, 15. März 1923, S. 4, siehe dort und in jeder beliebigen Ausgabe der Dubliner Tagespresse Anzeigen für Kino, Theater, Pferderennen, Sportveranstaltungen. FLK, DeV, 309/2, Patrick Ruttledge, Proklamation, 14. März 1923; FLK, DeV, 308/2, Patrick Ruttledge an de Valera, 12. Februar 1923; de Valera an Patrick Ruttledge, 17. Januar 1923; vgl. HOPKINSON, Green, S. 246 f. NAI, EC Minutes, C1/63, 15. März 1923.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
kunft war überhaupt nicht erfahrbar, existierte nur als Projektion, als Fiktion, als Bild oder Text. Wenn Geschichten so entscheidend auf die Wähler wirkten, waren dann die Effizienz von Propaganda, Pamphleten, Zensur und Pressekontrolle und der Einfluß der katholische Kirche nicht entscheidend? Brachte die haushohe organisatorische Überlegenheit Cumman na nGaedheal nicht einen uneinholbaren Vorsprung? Klagte de Valera zu Recht im Juni 1923, Cumman na nGaedheal werde die Wahl nur gewinnen wegen der „rigid press censorship and a distortion of every statement that does not favour the Free State.“118 So einfach war der Zusammenhang nicht: Es gab keine direkte Korrelation zwischen Perfektion der Propagandamaschinerie und Wahlerfolg. Auch de Valera litt daran, die Wirkung von Propaganda zu überschätzen – wie auf der anderen Seite bis zu seinem Tod Collins.119 Die irischen Wähler waren keine willenlose Gefäße, in denen sich die Summe der konsumierten Propaganda einfach addierte. Die Propaganda war für sie gemacht, das heißt, sie orientierte sich zumindest teilweise an ihren Erwartungen und Bedürfnissen, nicht allein am Standpunkt der Propagandisten.120 Dazu mußten die Wähler nicht jede einzelne Propagandageschichte neu beurteilen, sondern sich zwischen zwei konkurrierenden politischen Kulturen entscheiden, zwischen „Free State“ und „the Republic“. Erst die politischen Kulturen stellten zusammenhanglose, einzelne Geschichten in einen sinngebenden Kontext. Und weil diese politischen Kulturen keine elaborierten Gedankengebäude waren, sondern auf wenigen, nicht zwangsläufig vollkommen kohärenten Grundannahmen basierten, waren sie schnell zu transportieren und für die Zeitgenossen leicht zu verstehen. Um von „the Republic“ überzeugt zu sein, mußte man nur wenige Sätze über die Feindschaft zu England, die Gesetze der Geschichte und die republikanische Martyrologie wissen, vielleicht auch, daß ein neuer Aufstand vorerst nicht zu befürchten sei. Dazu mußte man nicht wöchentlich die Poblacht lesen, es reichten Informationen aus dritter und vierter Hand: Die politische Diskussion im Pub, der Streit mit dem Nachbarn über die letzte Predigt des Pfarrers oder eine Resolution des County Council, die kritische Lektüre der lokalen Presse. Pressekontrolle, Zensur und freistaatliche Pro-
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NAI, DFA, PG/IFS, box 4, Publicity Department 1922–1927, „D“, Statement of de Valera, 15. Juni 1923; vgl. NAI, Sinn Fein, 1094/1/12, de Valera [?], Memo, ca. Mai 1923; EIRE, 16. Juni 1923, S. 4. Vgl. dazu: DANIEL und SIEMANN, Historische Dimensionen, S. 10 f. ERNST MANHEIM, Aufklärung, S. 27–9.
II. Bevölkerung und Bürgerkrieg: handfeste Interessen und Fiktionen
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paganda konnten die republikanische Kommunikation zwar behindern, aber die Grundannahmen von „the Republic“ nicht unterdrücken. „Freistaat“ erzählte: der Freistaat ist ein legitimer Staat, steht in der nationalen irischen Tradition, hat den kirchlichen Segen und garantiert „law and order“, „liberal rights“ und den „will of the people“. Um das zu erzählen, brauchten die Propagandisten nicht unbedingt wöchentlich die Dubliner Redakteure zu manipulieren. Dennoch bot die professionelle Propagandamaschinerie dem Freistaat einen deutlichen Vorteil: Ihre neu zusammengebastelte freistaatliche politische Kultur war vom Boden der nationalen politischen Tradition aus viel erklärungsbedürftiger als „the Republic“. Gerade in den wenigen Gebieten, in denen die Bevölkerung lange Zeit nur „irregular fighting for Ireland dope“ zu lesen bekommen hatte, war die Unterstützung für den Freistaat mäßig.121 In den meisten Teilen Irlands jedoch, vor allem in den Städten, gelang es der Freistaatsführung, durch Pressekontrolle, verordnete Terminologie, Zensur und Informationsmonopol ihre Sichtweise zu verordnen, sich über Umwege und Konstrukte in den Kontext der nationalen Tradition zu stellen. Im Wahlergebnis vom August 1923 spiegelt sich grob das polarisierte Verhältnis der irischen Bevölkerung zu den Bürgerkriegsparteien wider. In der auffälligen regionalen Verteilung überschneiden sich dabei eine Reihe von sozialen und kulturellen Faktoren, die nur schwer voneinander zu trennen sind: Iren, die entfernt vom Dubliner Zentrum und auf dem Land lebten, Iren, die aus Gebieten stammten, die länger unter dem Bürgerkrieg gelitten hatten und Iren, die aus sozial unterprivilegierten Schichten kamen, stimmten überproportional für Sinn Fein. Das galt besonders dann, wenn aus ihrer Region eine prominente republikanische Führungspersönlichkeit oder ein republikanischer Märtyrer stammte. Dagegen war die Mehrheit für Cumman na nGaedheal in Dublin, Cork und ganz Leinster ebenso erdrükkend wie unter den Iren, die sozial privilegiert waren. Auch bei den Vertragsbefürwortern wirkte sich ein prominenter Kandidat deutlich positiv auf das Wahlergebnis aus.
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AA, MI/PR/5, weekly army report for week ending, 28. April 1923; NAI, D/T, S-3361, Report on operations carried out in the West Cork, and South Kerry areas, 29. April 1923– 6. Mai 1923; ebd., confidential monthly report, Februar 1923, 14. März 1923; NAI, D/T, S-1394, Cosgrave, Memo, 30. November 1923.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
III. DER MASSENHUNGERSTREIK UND DAS ENDE DER MAGISCHEN IMPROVISATION Der Massenhungerstreik vom Oktober 1923 enthält, wie in einer Miniaturausgabe, viele grundlegende Probleme des Bürgerkrieges. Denn beide Seiten legitimierten sich und handelten nach den Mustern, die sie im Bürgerkrieg erlernt hatten. Die Geschichte des Massenhungerstreiks ist damit auch ein Einstieg in ein Resümee über die konkurrierenden politischen Kulturen des Bürgerkrieges. Während des Bürgerkrieges und vor der Wahl waren die radikaleren IRA-Aktivisten mit ihrem Plan eines groß angelegten Massenhungerstreiks noch an de Valera und der IRA-Führung gescheitert. Jetzt setzten sie sich über die Bedenken derjenigen Skeptiker hinweg, die einen Massenhungerstreik für undurchführbar hielten.122 Der Hungerstreik, an dem sich ab 13. Oktober 1923 nach internen Freistaatsangaben 7 608 von 8 426 inhaftierten Republikanern beteiligten,123 hatte ein vergleichsweise realistisches Ziel: die bedingungslose Freilassung aller republikanischen Gefangenen. Doch seine innere Logik war alles andere als „practical politics“. Sie folgte den Gesetzen des republikanischen Selbstopfers. Über die Exekution von Erskine Childers, über den Repressalmord an Liam Mellows und Rory O’Connor sowie über den Tod der „four lads“ und der anderen der „77“ hatten die Republikaner im Bürgerkrieg an die revolutionäre Martyrologie von Wolfe Tone zu Pearse und Terence MacSwiney angeknüpft. Auch die Opfer des Minenmordes von Ballyseedy, Cathal Brugha und „boyish, cheerful“ Harry Boland gehörten bald fest zum Repertoire der „glorious dead“. Die Ballyseedy-Opfer, je mehr über die konkreten Umstände ihres Todes bekannt wurde; Cathal Brugha, je mehr die konkreten Umstände seines erzwungenen Heldentodes vergessen wurden. Der Massenhungerstreik sollte diese Tradition republikanischen Leidens zu einem neuen Höhepunkt führen, nach der Logik des republikanischen Geschichtsgesetzes die Bevölkerung erwecken und die durch den Bürger-
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UCD, MP, P7/B/93, IRA General Headquarters an alle Gefangenen, 31. Juli 1923; FLK, DeV, 286, Republican Army Executive 1923, 11. Juli 1923/12. Juli 1923; vgl. FLK, DeV, 239A, Lynch an de Valera, 11. Dezember 1922; FLK, DeV, 287/2, de Valera an Frank Aiken, 28. Juli 1923; FALLON, Hungerstrikes, S. 86. UCD, MNP, LA/F/270, Hungerstrike report, 9. November 1923.
III. Das Ende der magischen Improvisation
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krieg geschundene Nation spirituell verjüngen: „There lies in this sublime sacrifice healing for the whole nation.“124 Nicht die erfolgreichen Hungerstreiks der republikanischen Frauen im Bürgerkrieg wurden zum Referenzfall für die Streikenden, sondern das Martyrium Terence MacSwineys. In fast jedem Artikel stellte die republikanische Propaganda die Parallele zu diesem Urtypus des Hungerstreikenden und prominentesten Märtyrer des Unabhängigkeitskrieges her.125 So blieb der Massenhungerstreik in klassisch republikanischer Tradition ein männliches Martyrium: Die wenigen Hungerstreiks der weiblichen Inhaftierten wurden von der Propaganda nicht thematisiert. Da die Freistaatspropaganda den gesamten Hungerstreik verschwieg, mußten sich die führenden republikanischen Propagandisten diesmal nicht darum sorgen, daß hungerstreikende Frauen gegen herrschende Geschlechterkonzepte verstießen. Dafür konnte die Propagandisten jetzt auch nicht davon profitierten, vermeintlich irische und vermeintlich weibliche Eigenschaften, wie Schwäche und Reinheit, gleichzusetzen. Die IRA setzte im Hungerstreik auf eine Strategie des alles oder nichts: „Freedom or the Grave“.126 Dieses Zitat Terence MacSwineys war die beliebteste Parole der nach wie vor meist weiblichen Propagandisten, die jede Nacht Wände beschrieben, Plakate klebten und Flugblätter verteilten. Ihre Propagandazeitungen widmeten sich fast ausschließlich dem Hungerstreik, waren zum Teil extra dafür neu gegründet worden.127 Noch mehr als ein Jahr zuvor beim Fall Erskine Childers konzentrierten sich diesmal die führenden republikanischen Propagandisten ausschließlich auf ein Thema. Begleitet wurde die Hungerstreikkampagne von der üblichen Gefängnispropaganda: ungeheizte, überfüllte Zellen, Übernachtungen im Freien, schlechte Ernährung, fehlende medizinische Versorgung, Morde und Mißhandlungen. Diese Propaganda belegte zwar eine spätestens seit dem neunzehnten Jahrhundert als national kodierte Tradition. Sie war aber schon
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SINN FEIN, 27. Oktober 1923, S. 4; 10. November 1923, S. 2, official statement, Frank Aiken vom 30. Oktober 1923; SINN FEIN, 17. November 1923; EIRE, 27. 10. 1923. EIRE, 10. November 1923, S. 1–3; SINN FEIN, 27. Oktober 1923, S. 4; UCD, RP, P88/315, Poster, ca. 20. Oktober 1923; ebd., P88/297, Poster, ca. 20. Oktober 1923. TCD, Early Printed Books, Samuels Collection, box 3/43, Sinn Fein Publicity Department, Manifesto, 13. Oktober 1923; NAI, D/T, S. 1859, Sinn Fein Headquarters an alle Bischöfe, 24. Oktober 1923. Siehe Flugblattsammlung unter: UCD, RP, P88/286 und Plakate unter UCD, RP, P88/295–319; Dominanz des Themas Hungerstreik exemplarisch, in EIRE: ebd., 27. Oktober 1923, S. 1–3, S. 5 f.; 3. November 1923, S. 1–7; 10. November 1923, S. 1–8; Eine Neugründung aus Anlaß des Hungerstreiks war das kurzlebige DAILY SHEET 25. Oktober 1923–22. Dezember 1923.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
während des Bürgerkrieges wenig glaubwürdig gewesen und mittlerweile so stark abgenützt, daß sie selbst ein freistaatlicher Geheimdienstbericht spöttisch als „refreshing topics“ einschätzte.128 Die republikanische Propaganda differenzierte dabei selten, die freistaatliche Publicity nie zwischen maßlos überfüllten Gefängnishöllen wie Mountjoy und den dazu vergleichsweise komfortablen Internierungslagern.129 Anstatt republikanische Leidensfähigkeit in gigantischem Ausmaß zu demonstrieren, entwickelte sich der Massenhungerstreik zu einem Debakel. Wie schon seit der Vertragsspaltung litt die republikanische Propaganda am erdrückenden freistaatlichen Pressemonopol und an der organisatorischen Überlegenheit der Freistaatspropaganda. Dazu kamen die schon für die Zeit des Bürgerkrieges charakteristischen internen Rivalitäten, eine oft chaotische Organisation sowie Übergriffe der Freistaatsbehörden. Die Dubliner Tageszeitungen berichteten zur Wut der Republikaner nur sporadisch über den Hungerstreik.130 Zu dieser Situation hatten die Abgeordneten des republikanischen Gegenparlaments selbst beigetragen, als sie kurz vor Beginn des Streiks einen Boykott der „antinationalen“ Dubliner Tagespresse beschlossen. Patrick Ruttledge, als „Acting President“ de Valeras Stellverteter, war von dieser dogmatischen Politik wenig begeistert: Er mußte eine im Irish Independent geplante Anzeigenkampagne zum Hungerstreik wieder absagen.131 Wie schon nach der Übernahme des Cork Examiner, wie in den Artikeln der Dubliner Untergrundpresse war die republikanische Propaganda nicht zu taktischen Zugeständnissen bereit. Sie orientierte sich erneut an der Reinheit der Lehre und blockierte damit eine effiziente Propagandastrategie. Im Oktober schwiegen Irish Times und Freeman’s Journal das Thema Hungerstreik fast völlig tot. Nur der Irish Independent berichtete ab dem 23. Oktober 1923 hin und wieder vom Streik, nachdem die Republikaner der Redaktion versprachen, das Blatt nicht weiter zu boykottieren.132 Erst
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NAI, D/J, 1993 release, S1/23, Sinn Fein Ard Fheis 1923, Colonel „X“ an Director Intelligence, 28. Juli 1923; IRISH STATESMAN, 29. September 1923, S. 71; vgl. ebd., 22. September 1922, S. 40. Eine seltene Ausnahme: SINN FEIN, 27. Oktober 1923, S. 4; typischer: UCD, RP, P88/304, Poster, ca. 15. November 1923. Dieses Poster bezeichnet die Camps als „Knochenhäuser“. Zum Unterschied zwischen Camps und Gefängnissen, siehe: FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 246 f., 249, 242–4; NAI, D/T, S-1859, Dan O’Brien an Pat Hayes, 5. November 1923. EIRE, 3. November 1923, S. 1; IRISH STATESMAN, 10. November 1923, S. 262. FLK, DeV, 297/1, Patrick Ruttledge an Mary MacSwiney, 19. Oktober 1923. UCD, MP, P7a/87, D/O [Director of Organisation] an ADP [Assistant Director of Publi-
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als der Streik Anfang November weitgehend kollabierte, erschienen auch in den anderen Blättern Berichte zum Hungerstreik. Während Irish Independent und Irish Times es vorzogen, weder Republikaner noch Regierung mit Kommentaren zu diesem Reizthema zu provozieren, machte der Freeman in seinen Leitartikeln aus den hungerstreikenden Republikanern Opfer ihrer herzlosen und gut genährten politischen Führung.133 Auch die offizielle freistaatliche Propaganda reagierte mit einem bekannten Mittel: Totschweigen.134 Wie beim wochenlangen Verschieben des dritten Dails, wie beim sensiblen Thema Habeas Corpus und Dail Courts, wie bei der Exekutionspolitik, gab sie – wenn überhaupt – nur kurze Grundsatzerklärungen ab.135 Statt offizieller Kommentare setzte sie auf eine Methode, die die zunehmend professionellere freistaatliche Publicity im Bürgerkrieg perfektioniert hatte. Sie veröffentlichte selektive Informationen: ausgewählte Zitate aus den Briefen von Gefangenen, die beweisen sollten, die Gefangenen seien „quite fit and hilarious“.136 Auch das sichtbare öffentliche Interesse hielt sich in Grenzen, der Zulauf zu den Demonstrationen der WPDL war gering – selbst gemessen an den Protestaktionen auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges im November 1922. Die Bevölkerung war durch die Schreckensnachrichten des Bürgerkrieges verroht, zumindest abgestumpft. Das Hungerstreiken wurde mehr noch als die Exekutionen der „77“ anonym und massenhaft. Durch den Streik von rund 7 600 IRA-Aktivisten verlor es im Vergleich zum Martyrium Terence MacSwineys das Exemplarische und Außergewöhnliche. Noch entscheidender als das war jedoch, genauso wie bei Mary MacSwineys Hungerstreik im November 1922, ein schlichter Erfahrungswert: Hungerstreiks dauerten sechzig bis achtzig Tage. Wenn schon eine Frau vierundzwanzig Tage Hunger ertrug, war es keine Sensation, wenn männliche IRA-Aktivsten zwei Wochen ohne Essen auskamen.137 Zur Indifferenz gegenüber den Hungerstreikenden trug auch die redundante Propaganda bei. Seit Ende 1921 hatte de Valera daran gearbeitet, über eine oft mehrdeutige Rhetorik Pragmatismus und Republikanismus zu ver-
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city], 24. Oktober 1923; UCD, MP, P7a/87, D/P (Director Publicity) Jail an D/P, 24. Oktober 1923; IRISH INDEPENDENT, 23. Oktober 1923, S. 8. FREEMAN’S JOURNAL, 7. November 1923; 15. November 1923, S. 5; vgl. THE ROUND TABLE, XIV, no.53 (Dezember 1923), S. 91. UNITED IRISHMAN, 27. Oktober 1923, S. 4; 17. November 1923, S. 4. IRISH INDEPENDENT, 26. Oktober 1923, S. 7; FREEMAN’S JOURNAL, 23. November 1923. NAI, D/T, S-1859, hier exemplarisch: Dan O’Brien an Pat Hayes, 5. November 1923. DAILY SHEET, 12. November 1923; vgl. IRISH STATESMAN, 27. Oktober 1923, S. 197–9; 10. November 1923, S. 262; vgl. bereits ebd., 29. September 1923, S. 71; FALLON, Hungerstrikes, S. 79, 87, 89; COSTELLO, Terence MacSwiney, S. 237; WARD, Maud Gonne, S. 141 f.
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binden. Dazu hatte er viele meist vollkommen vergebliche Anläufe genommen: External Association, Document No.2, „konstruktiver Republikanismus“, der Habeas Corpus-Antrag für Childers, die Friedensvorschläge vom Frühjahr 1923 und die Reorganisation Sinn Feins als möglichst undogmatische Partei. Kurz vor Beginn des Hungerstreiks – auf dem Ard Fheis Anfang Oktober 1923 – schien sich Sinn Fein noch unter dem Motto „organize and educate“138 im Sinne de Valeras in eine pragmatische Richtung zu entwickeln. Doch jetzt konnte der im Gefängnis isolierte de Valera nicht verhindern, daß der Hungerstreik den Dogmatikern um Mary MacSwiney ermöglichte, die verbindliche Rhetorik von Leiden und Opfertod erneut durchzusetzen. Dazu kam, daß es im republikanischen Lager keine routinierten Propagandisten mehr gab, die ähnlich wie Frank Gallagher im Irish Bulletin des Unabhängigkeitskrieges, die ähnlich wie Erskine Childers im Bürgerkrieg, durch bewußt emotionslose Rhetorik Emotionen erwecken konnten. In einem Brief an den neuen IRA-Chef Frank Aiken kritisierte ein Propagandist aus Westirland unerbittlich diese „jammernde“ Propaganda, die während einer längeren Krankheit Brennans von Mary MacSwiney und Sean O’Faolain organisiert wurde: For instance we have EIRE and SINN FEIN both turning out the same kind of futile sob stuff which even we do not read. Do you read it? Then how can we expect our enemies to read it? [. . .] We seem to be duplicating, triplicating and even quadruplicating futile work.139
Die übertriebene und unglaubwürdige „Alles oder nichts“-Propaganda stellte auch die republikanischen Gefangenen unter einen enormen Erwartungsdruck. Schon nach zehn Tagen Streik beschwerte sich der republikanische Publicitychef im Gefängnis bei seinen Kollegen draußen: Tell whoever is in charge of publicity for heaven’s sake not to exaggerate [. . .] If the careless statements go on the public will disbelieve half of what we say before the strike is a quarter over and then God help us!140
Genauso wenig war der hungerstreikende O’Malley von der republikanischen Propaganda beeindruckt. Er warnte Childers Frau Mary, nur nicht alles zu glauben, was so im Propagandablatt Sinn Fein stehe.141
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SINN FEIN, 27. Oktober 1923, S. 4. UCD, MP, P7a/87, Captain MacC S. an Frank Aiken, 24. Oktober 1923; vgl. Ebd; D/P [Director of Publicity] Jail an Brennan, 24. Oktober 1923; siehe auch Kritik, in: WORKER’S REPUBLIC, 3. November 1923, S. 1. UCD, MP, P7a/87, D/P (Director Publicity) Jail an D/P, 24. Oktober 1923. O’Malley an Mary Childers, 20. November 1923, in: ENGLISH (Hrsg.), Prisoners, S. 54 f.
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Nicht nur das Desinteresse von Bevölkerung und Presse machten den Hungerstreik zum Mißerfolg. Von Anfang an hatte er einen Schönheitsfehler, der kaum wegzudiskutieren war: De Valera, der in Einzelhaft erst später vom Hungerstreik erfuhr, sah offensichtlich keinen Grund, für den Dogmatismus zu sterben, den er in Sinn Fein beseitigen wollte. So ließ er sich von seinen loyalen Parteigängern in Sinn Fein verbieten, mitzustreiken. De Valeras Freunde argumentierten, sein Hungerstreik habe keine Aussicht auf Erfolg: der Freistaat würde ihn in jedem Fall sterben lassen.142 Die freistaatliche Propaganda, vor allem das Freeman’s Journal, konnte so de Valeras Status als Republikaner erster Klasse und sein Überlebenstalent ausschlachten.143 Dazu kam eine mißglückte Allianz zwischen den Republikanern und dem radikaleren Flügel der Arbeiterbewegung um den Arbeiterführer Jim Larkin, der Mitte 1923 aus den USA zurückgekehrt war. Ähnlich wie Roddy Connolly und Mellows mit ihrem Kampf gegen imaginäre „Absentees“: Larkin wollte dem irischen Sozialismus eine nationale Dignität verschaffen und damit eine sozialrevolutionäre Dynamik auslösen. Um die Forderung nach Freilassung der Hungerstreikenden durchzusetzen, plante Larkin einen Generalstreik. Doch der Larkin-Flügel war viel zu klein, um gegen die im Hungerstreik „neutrale“, also faktisch vertragsbefürwortend orientierte Labour Party einen Generalstreik durchzusetzen. Larkins Engagement für die republikanischen Gefangenen vertiefte nur die kaum mehr kaschierbare Spaltung der irischen Arbeiterbewegung entlang der nationalen Frage.144 Auch der hungerstreikenden IRA brachte die Allianz mit Larkin nur Nachteile: Sie kam in den Ruch des antiirischen, antikatholischen und materialistischen Sozialismus. Kein Wunder also, daß viele führende Vertragsgegner wenig begeistert von der Hilfe waren, mit der sich Larkin ihnen anbiederte – zumal sie sozialen Fragen nach wie vor weitgehend indifferent gegenüberstanden.145 Auch Larkin scheiterte damit, republikanische und soziale Ziele zu verknüpfen – genauso wie vor ihm die irischen Kommunisten und die sozialrevolutionären Republikaner. Nationalen Antimaterialis-
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NAI, D/T, S-1859, Patrick Ruttledge an alle „Soldiers of the Republic“, 31. Oktober 1923; EIRE, 3. November 1923, S. 5; 24. November 1923, S. 5. UNITED IRISHMAN, 17. November 1923, S. 4; FREEMAN’S JOURNAL, 7. November 1923; S. 4. Vgl.: WORKER’S REPUBLIC, 27. Oktober 1923, S. 3; 3. November 1923, S. 1; VOICE OF LABOUR, 3. November 1923, S. 1, 4; 10. November 1923, S. 8; EMMET O’CONNOR, Syndicalism, S. 108–10. VOICE OF LABOUR, 3. November 1923, S. 2.
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mus und internationalistischen Materialismus konnten und wollten nach wie vor nur sehr wenige Revolutionäre zusammendenken. Doch das waren nur die harmloseren Seiten des republikanischen Mißerfolges. Der Hungerstreik zerbrach an einer viel elementareren Sache: Hunger. Hunger diktierte die Gedanken der republikanischen Gefangenen. Wie Frank O’Connor über die Gefangenen in seiner Baracke berichtete: Anders als nach 1916 diskutierten die Inhaftierten nicht mehr über „the Republic“, sondern über ihre Lieblingsgerichte. O’Connor, der sich als einer der wenigen in seinem Camp dem Streik entzog, mußte seinen Freunden in allen Einzelheiten erzählen, wie sein Essen geschmeckt hatte.146 Sobald einzelne Gefangene den Streik abgebrochen hatten, ließen sie sich von ihren Angehörigen kleine Leckereien wie Kekse und Butter schicken. Nicht nur „bread and butter issues“, auch „cookie and butter issues“ siegten über die virtuelle Republik.147 Das galt ähnlich auch für die Radikalen, die den Streik bis zum offiziellen Ende durchhielten. So zitiert der republikanische Sozialist Peadar O’Donnell aus seinem Gefängnistagebuch: „All I know is that I am hungry, damned hungry and if I try to review the situation how shall I know whether it is my mind or my hunger I’m following.“148 Selbst zwei martyriumssehnsüchtige Fanatiker wie der Guerillero O’Malley und der Propagandist Gallagher dachten nach dem offiziellen Streikende nur noch mit dem Magen. Gallagher: „Ah!! Joy!!! I hear egg-flips being beaten. HURRAH!!! [. . .] It’s good to be alive, but life after hungerstrike is heaven.“149 Der Plan, den Fall Terence MacSwiney tausendfach zu wiederholen, scheiterte daran, daß keine achttausend felsenfest überzeugte Fanatiker beziehungsweise Idealisten in den Gefängnissen saßen – keine achttausend Terence MacSwineys, die psychisch und physisch in der Lage waren, sich zwei bis drei Monate zu Tode zu hungern, sondern normale „rank and file“-Aktivisten, die hofften, ohne Gesichtsverlust möglichst schnell frei zu kommen.150 Sie hatten sich oft nicht frei für den Hungerstreik entschieden, sondern konnten sich häufig nur dem enormen Gruppendruck und der kollek-
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FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 268. NAI, D/T, S-1859, exemplarisch: Dan O’Brien an Pat Hayes, 5. November 1923, wünscht sich Butter und Kekse. PEADAR O’DONNELL, The Gates Flew Open. Cork 1965, S. 91. TCD, CP, 7847–51, Frank Gallagher an Mary Childers, 24. November 1923. Vgl. O’Malley an Mary Childers, 26. November 1923; 27. November 1923; 28. November 1923, in: ENGLISH (Hrsg.), Prisoners, S. 68 f., 93 f., 95 f. Vgl. IRISH STATESMAN, 10. November 1923, S. 262.
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tiven Verachtung für Streikbrecher nicht entziehen.151 Anders als Terence MacSwiney fehlte den Hungerstreikenden meist medizinischer und geistlicher Beistand, vor allem eine für den Republikanismus entbrannte Schwester wie Mary MacSwiney, die ihnen die Hand hielt und sie zum Weitermachen drängte.152 Mary MacSwiney, als erfolgreiche Hungerstreikende und als Schwester von Terence eine ausgewiesene Hungerstreikexpertin, hatte genau aus diesem Grund vor den geringen Erfolgsaussichten eines Massenhungerstreiks gewarnt.153 Ich habe gezeigt, mit welch verblüffender Konsequenz republikanische Aktivisten wie Childers an den Vorgaben von „the Republic“ festhielten, auch wenn sie das ihr Leben kostete. Childers weigerte sich im November 1922, das Gericht anzuerkennen, lehnte alle Möglichkeiten zu überleben ab, die mit „the Republic“ kollidierten. Selbst de Valeras und Comyns Habeas Corpus-Experiment beugte er sich nur ungern. Fast automatisch fügte sich der ausgegrenzte „damned Englishman“ in die Rolle, die die von ihm mitfabrizierte nationale Tradition für einen republikanischen Märtyrer vorsah. Ähnlich handelten auch Ernie O’Malley, Liam Mellows und offenbar fast alle „77“ – wenn sie auch nicht zu so viel propagandistischer Raffinesse in der Lage gewesen waren wie Childers. Doch diese tödliche, vom Gruppendruck der IRA sanktionierte Eigendynamik von „the Republic“ funktionierte unter den Bedingungen des Massenhungerstreiks nicht mehr. Später argumentierte auch die republikanische Propaganda: Für die Republik zu sterben, „in action“ oder „under the gallows“, das ließ sich schnell hinter sich bringen. Aber sich täglich, stündlich neu für den eigenen Tod zu entscheiden, gegen den Hunger anzusterben, war etwas anderes.154 Das war vor allem dann etwas anderes, wenn der bewaffnete Kampf für die Republik gescheitert war, erst recht, wenn die Zellengenossen, darunter zahlreiche führende Aktivisten, schon wieder aßen und danach zügig frei kamen. Nach zehn Tagen begann der Streik sich aufzulösen, erst langsam, dann in einer Kettenreaktion innerhalb von wenigen Tagen. Am 27. Oktober 1923 aßen von 1428 Inhaftierten im Curragh Camp bereits wieder 1300, worauf der republikanische Führungsoffizier des Lagers ohne Rücksprache mit der 151 152
153 154
FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 265 f., 268, vgl. S. 254 f.; FALLON, Hungerstrikes, S. 86. So argumentierte auch: SINN FEIN, 10. November 1923, S. 4; vgl. zum häufigen Ausschluß der Hungerstreikenden von den Sakramenten: NAI, D/T, S-1859, O/C Mountjoy an Erzbischof von Dublin, Byrne, 17. Oktober 1923; FALLON, Soul of Fire, S. 50 f. FLK, DeV, 297/1, Mary MacSwiney an Patrick Ruttledge, 19. Oktober 1923. SINN FEIN, 10. November 1923, S. 2, official statements, Frank Aiken, 5. November 1923; 6. November 1923.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
IRA-Führung entschied, den Streik abzubrechen.155 Diese Eigendynamik des Hungers konnte die republikanische Führung auch in den anderen Gefängnissen nicht mehr aufhalten. Irlandweit streikten von anfangs 7 608 Gefangenen am 9. November 1923 noch 407; als der Streik nach dem zweiten Todesfall am 24. November 1923 endgültig abgebrochen wurde, noch 176 Republikaner. Gemessen an den zu Beginn des Streiks insgesamt 8 426 Inhaftierten, erfüllten gerade 2,09 Prozent das „Terence MacSwiney-Kriterium“. Für die restlichen 97,91 Prozent war Hunger und Überleben stärker als „the Republic“.156 Hier siegten, was die Sozialhistoriker beruhigen dürfte, kliometrisch messbar, die handfesten Interessen über die politische Kultur: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“. Die vertragsbefürwortende Elite reagierte auf den Hungerstreik mit den Strategien, die sie im Bürgerkrieg gelernt hatte: So desinteressiert sich das Executive Council nach außen gab, intern reagierte es mit professionell organisiertem Krisenmanagement. Während zu Beginn des Krieges nicht nur Beaslais Zensurstelle hektisch improvisierte, funktionierte die Organisation jetzt reibungslos. Das im Oktober 1922 nach Beaslais Entlassung gegründete Department for Military Statistics organisierte aus allen Gefängnissen Irlands täglich einheitlich aufbereitete Tabellen und Statistiken. Diese Statistiken hatten nichts mehr mit den selten und dann nach Gusto zusammengestellten Berichten des Unabhängigkeitskrieges gemein.157 Sie enthielten die Zahl der Inhaftierten, der Hungerstreikenden, der Streikbrecher seit Beginn des Hungerstreiks, der Streikbrecher seit dem letzten Bericht, die Anzahl der in der letzten Woche Entlassenen und Angaben über den Gesundheitszustand der Hungerstreikenden. Das Department for Military Statistics faßte diese Statistiken dann zu einem Gesamtüberblick zusammen und informierte das Executive Council zweimal täglich.158 Die Regierung begegnete dem Streik mit einer taktisch raffinierten Doppelstrategie: Während sie einerseits gegenüber den Hungerstreikenden hart blieb, beschleunigte sie andererseits ihre Politik, internierte Republikaner und Guerilleros schrittweise zu entlassen. Sobald erst einzelne, dann Hun-
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NAI, D/T, S-1859, anonymer Brief aus dem Curragh Camp, 28. Oktober 1923; ebd., C. Byrne (O/C Camp) an seine Frau, 28. Oktober 1923. UCD, MNP, LA/F/270, Hungerstrike report, 9. November 1923; FREEMAN’S JOURNAL, 23. November 1923, S. 5; 24. November 1923, S. 7. O’Malley an Mary Childers, 26. November–1. Dezember 1923, in: ENGLISH, Prisoners, S. 69–93, hier: S. 81; TOWNSHEND, Political Violence, S. 337. UCD, MNP, LA/F/270, Hungerstrike report, 9. November 1923–12. November 1923.
III. Das Ende der magischen Improvisation
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derte Republikaner den Streik abbrachen, verstärkte diese Politik die Kettenreaktion beim Kollaps des Hungerstreiks. Das freistaatliche Executive Council nahm dem Hungerstreik sein Ziel, die eigene Freiheit zu erzwingen. Der Lohn für die Treue zur Republik war jetzt nicht mehr „freedom or the grave“, sondern das Grab. Der Lohn für den „Verrat“ an der Republik hieß jetzt Freiheit. Gegenüber den wenigen entschlossenen Hungerstreikenden blieb das Executive Council hart. Auf sie erhöhte das Executive Council den psychologischen Druck, ließ in den Gefängnissen immer wieder Essen ausfahren.159 Die Freistaatsführung zeigte sich unbeeindruckt von Bittgesuchen Kardinal Logues,160 erwog sogar Zwangsmaßnahmen gegen rebellische County Councils, die die Freilassung der Hungerstreikenden forderten.161 Für männliche Hungerstreikende erwog das Executive Council kein „cat and mouse arrangement“. Milde gegenüber männlichen Hungerstreikenden schien dem Exekutive Council den Wert „Staat“ weit mehr zu kompromittieren als Milde gegenüber hungerstreikenden Frauen. Das Executive Council folgte mit dieser Härte einem Handlungsmuster, das die Politik Cumman na nGaedheals von den ersten Exekutionen 1922 bis zum Anfang der Dreißiger Jahre prägte. Auch wenn das, wie der angloirische Intellektuelle George Russle kritisierte, gerade beim Massenhungerstreik weder propagandistisch clever noch staatsmännisch war.162 Nur wenn es darum ging, ausgesprochene propagandistische Katastrophen zu vermeiden, reagierte das Executive Council auch da flexibel, wo es um Staatsräson ging. So hatte es im November 1922 den Hungertod von Terence MacSwineys Schwester verhindert und vermieden, daß der schwerverletzte Ernie O’Malley das Martyrium von James Connolly nachsterben konnte. Doch das waren Ausnahmen, bezeichnender waren: das unbeirrte Festhalten an der Exekutionspolitik, „ausgesetzte“ Exekutionen, die konsequente Weigerung, mit den republikanischen Staatsfeinden Frieden zu schließen, sowie die Verhaftung de Valeras in Ennis. Zum Glück für das Executive Council sorgte nicht die fanatische Entschlossenheit der Wenigen, sondern das Nachgeben der Vielen für Publicity. Vor dem Hintergrund eines angekündigten Massensterbens erzählte der 159 160
161 162
UCD, RP, P88/305, Poster, ca. 10. November 1923; FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 269. UCD, MNP, LA/F/270, Hungerstrike report, 9. November 1923–12. November 1923; IRISH TIMES, 19. November 1923, S. 4; EIRE, 1. Dezember 1922, S. 3; SINN FEIN, 1. Dezember 1923, S. 4. UCD, MNP, LA/F/269, Cosgrave an alle Minister, 3. November 1923. IRISH STATESMAN, 27. Oktober 1923, S. 197; 3. November 1923, S. 227.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
Tod von Dinney Barry und Andrew O’Sullivan im November 1923 keine mitreißende Märtyrergeschichte mehr. So wunderte sich das Catholic Bulletin offen, wie wenig Aufsehen der Tod der beiden Hungerstreikenden erregte, fragte sich, ob das Volk seinen „sense of vision“ verloren habe. Für das Catholic Bulletin war der Hungertod der beiden kein Sieg für die Republik, sondern ein Sieg Englands.163 Statt in die Tradition der ruhmreichen Toten von Tone bis Pearse einzugehen, standen Dinney Barry und Andrew O’Sullivan im Kontext der bisher größten symbolischen Niederlage des Republikanismus.164 Trotzdem ging die freistaatliche Regierung auf Nummer Sicher: Sie beschlagnahmte, wie bei Childers und den anderen Exekutionsopfern, die Leichen, verhinderte so, daß die Beerdigungen doch noch zu einer Großdemonstration gegen die Regierung werden konnten.165 Die schon durch die Niederlage im Krieg demoralisierten IRA-Aktivisten fühlten sich durch das Abbrechen des Streiks gedemütigt und frustriert. So gestand der republikanische Offizier, der sich im Curragh Camp gezwungen gesehen hatte, den Streik ganz abzubrechen, seiner Frau: „I am almost heartbroken.“166 Das Hereinbrechen der elementaren Bedürfnisse über die Ideale empfanden fast alle Aktivisten als entwürdigend, es demontierte die republikanische Fiktion vom Sieg des Geistes über das Fleisch. Frank O’Connor beschrieb, wie mit dem Scheitern des Hungerstreiks die Würde der Revolutionäre und mit ihr die Dynamik, die „magische Improvisation“ der Revolution, endgültig zerbrach: Immediately the whole camp became hysterical. Even the sentries dropped their rifles and dragged buckets of soup to the barbed wire, and the prisoners tore their hands as they thrust their mugs through it, pushing and shouldering one another out of the way. A tall, spectacled man who had not been invited to join the strike came up to me with an oily smile. ‚Well professor‘, he said gleefully ‚the pigs feed‘, and I turned away in disgust because that was exactly what the scene resembled, and I knew it was the end of our magical improvisation.167
Auch der Guerillero Charles Stewart Andrews beobachtete im Corker Gefängnis wie der irische Nationalismus seine Dynamik verlor: Keiner der Gefangenen verwendete mehr die ehemalige Schlüsselvokabel „movement“. Andrews: „Cathleen ni Houlihan was something of a joke [now].“168 Auch
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CATHOLIC BULLETIN, Dezember 1923, S. 829. WARD, Maud Gonne, S. 154; ANDREWS, Dublin Made Me, S. 301; O’DONNELL, Gates, S. 90. DAIL DEBATES, Mulcahy, 21. November 1923, S. 1076. NAI, D/T, S-1859, C. Byrne (O/C Camp) an seine Frau, 28. Oktober 1923. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 270 f. ANDREWS, Dublin Made Me, S. 296 f.
III. Das Ende der magischen Improvisation
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andere Indikatoren zeigen, wie die einst fanatische Begeisterung vieler Aktivisten für ihre „Irishness“ zusammenbrach: In den Lagern ging das Engagement der Inhaftierten für den gälischen Sprachunterricht stark zurück. Die Gefangenen genierten sich nun auch nicht mehr, das zu tun, was in den Lagern des Unabhängigkeitskrieges striktes Tabu war: Sie spielten lieber „englisches“ Fußball und Rugby als Gaelic Football.169 In der IRA kollabierte mit dem Scheitern des Hungerstreiks die Disziplin. Das nutzte das Executive Council und schickte Aktivisten, die schriftlich zusicherten, nicht mehr bewaffnet gegen die Regierung zu kämpfen, meist sofort nach Hause. Und während nach Deasys Kapitulation angesichts der drohenden Exekutionen nur wenige Republikaner „the form“ unterschrieben hatten, gingen jetzt niedere Ränge und Mannschaften, aber auch prominente Aktivisten reihenweise auf dieses Angebot ein. Nachdem sie mit dem Abbruch ihres Streiks „die Republik verraten“ hatten, kam es für viele „entehrte“ Republikaner nicht mehr darauf an, auch den zweiten Schritt zu tun. Sie gaben ganz auf, nicht nur halb.170 Auf die Zeit des Massenhungerstreiks zurückblickend kommentierte Frank O’Connor die fanatische Entschlossenheit, ja Lebensfeindlichkeit einiger radikaler Aktivisten: „Dead was the great thing to be, and there was nothing to be said in favour of living except for the innumerable possibilities it presented of dying in style.“171 Wenn Frank O’Connors zynischer Kommentar auf einen der Revolutionäre zutraf, dann auf O’Malley. Während des Hungerstreiks konnte er in einem Brief an Childers Frau mit einigem Recht von sich behaupten: „I am very much used to dying by this.“172 Unter den oft so sterbewilligen Revolutionären der republikanischen Elite hatte O’Malleys Überleben seine eigene Tragik: Bei seiner Verhaftung schwer verletzt, gelang es ihm nicht, den Cathal Brugha-Tod zu sterben. Als das Executive Council aus propagandistischen Gründen auf seine Hinrichtung verzichtete, mißlang ihm der Erskine Childers- beziehungsweise James Connolly-Tod. Auch während des Hungerstreiks hatte er wieder alle Voraussetzungen, Märtyrer erster Klasse zu werden: Anders als die Hungerstreiksopfer Dinney Barry und Andrew O’Sullivan war er ein kein Unbekannter, sondern ein legendärer Guerillero. Er war so prominent, daß sein Hungerstreik der republikanischen Publicity eine eigene Kampagne
169 170 171 172
Ebd., S. 295 f., beobachtet diese Demoralisierung schon vor dem Streik. FLK, DeV, 287/2, de Valera an Brennan, 11. Juni 1923. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 255. O’Malley an Mary Childers, 27. Oktober 1923, in: ENGLISH (Hrsg.), Prisoners, S. 40.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
wert gewesen war.173 Doch obwohl er durch seine Verletzung geschwächt war, mißlang ihm auch der Terence MacSwiney-Tod. Nach dem offiziellen Ende des Streiks war er tief deprimiert, erwog sogar zusammen mit Gallagher, den Streik auf eigene Faust fortzusetzen. Schließlich gab er auf, brach gemeinsam mit Gallagher in einem Weinkrampf zusammen und klagte: „There is not enough spirituality in the movement“.174 Nachdem O’Malley alles versucht hatte, um ein Mitglied der „glorious dead“ zu werden, beendete er seine Karriere als Berufsrevolutionär. Jetzt wählte er eine andere Strategie, um unsterblich zu werden: Er schrieb mehrere Memoirenbände über die Revolution und sicherte sich damit wenigstens seinen Status als Guerillaheld – auch in diesem Buch.175 Frank O’Connor, O’Malley und die vielen anderen IRA-Aktivisten waren nicht die einzigen, die durch den Bürgerkrieg, spätestens nach dem Massenhungerstreik, tief desillusioniert wurden. Viele wandten sich nun frustriert, einige – wie Siobhan Lankford – offenbar psychosomatisch erkrankt von der Politik ab.176 Die grausame Erfahrung des Brudermordens verdrängte nicht nur bei der revolutionären Elite ein romantischeres Verständnis von Revolution und Gewalt: Die Voice of Labour kommentierte schon zu Beginn des Krieges, was für die meisten Republikaner ein schrittweiser Lernprozeß war: [The Civil War] has blown sky high the fable that grew up during the war against the Black and Tans – the fable, that the practice of arms and the waging of war would ennoble and glorify those who took part in it in defence of Irish Liberties.177
Der irische Nationalismus verlor auch bei der Bevölkerung seine Dynamik. „The Republic“ war jetzt ein klar definiertes unflexibles Dogma, „Freistaat“ ein ernüchternder status quo (ante). Beide Seiten boten ihren Anhängern jetzt kaum mehr Projektionsfläche für heterogene Ideen, Visionen und Träume. Bei vielen setzte sich eine „defätistische“ Deutung des Bürgerkrieges durch, die quer zur freistaatlichen und republikanischen Version des Krieges lag: der Bürgerkrieg als sinnloses Brudermorden um ein letztlich unbedeutendes Problem. Dabei zeigte sich, wie sich eine überzeugende Deutung 173 174 175 176 177
SINN FEIN, 6. November 1923, S. 4; UCD, RP, P88/311, Poster, ca. 15. November 1923; ebd., P88/312, ca. 15. November 1923 (für O’Malley). O’Malley an Mary Childers, 23. November 1923 [erster Tag nach dem offiziellen Ende des Hungerstreiks], in: ENGLISH, Prisoners, S. 57 f.; O’MALLEY, Singing Flame, S. 285. O’MALLEY, Singing Flame; ders., On Another Man’s Wound; ders., Raids and Rallies. ENGLISH, Green on Red, S. 161, 169; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 164; FALLON, Hungerstrikes, S. 90; LANKFORD, Hope, S. 250; O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 217. VOICE OF LABOUR, 22. Juli 1922, S. 1.
III. Das Ende der magischen Improvisation
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des Konflikts ganz ohne organisierte Propaganda ausbreiten konnte. Was auch die zeitgenössische Tagespresse auf eine weit verbreitete politische Apathie zurückführte: Im August 1923 lag die Wahlbeteiligung bei nur 59 Prozent, sank in den Nachwahlen 1923 und 1924 teilweise auf unter 50 Prozent.178 Dabei waren Nichtwähler nicht nur die üblichen politisch Indifferenten, sondern auch die, die, durch den Bürgerkrieg frustriert, politisch indifferent geworden waren. Nationalismus bedeutete jetzt nicht mehr „national unity“, sondern „national disunity“. Nationalismus verlor für die bis dahin hochpolitisierte Bevölkerung den Großteil seines Unterhaltungswertes, machte keinen Spaß mehr. Nationalismus hieß nur noch selten Feiern, Singen, Maschieren, Trommeln, Bier trinken und den gemeinsamen Feind hassen, häufiger hieß es dem Nachbarn mißtrauen, Schlägereien im Pub, bei Republikanern oft berufliche Diskriminierung. Unter der hohen Zahl der Nichtwähler mußten auch solche gewesen sein, die über Geselligkeit hinaus an Politik interessiert (gewesen) waren. Sie waren durch den Tabubruch des Brudermordens und das traumatische Ende der „national unity“ schockiert: Exekutionen, republikanische Zerstörungen, der Tod der nationalen Ikonen Collins, Boland, Griffith und Brugha verbitterte viele gleichermaßen. Ohne „national unity“ machte Politik für sie keinen Sinn mehr. Vom Primat des Nationalen her denkend, kam es für sie aber ebensowenig in Frage, für „egoistische“ partikulare Interessen zu stimmen. Auch bei vielen der scheinbar unpolitischen Nichtwähler dominierte also die Frage des Nationalen.179 Der gespaltene Nationalismus verlor nicht nur seinen Unterhaltungswert, sondern auch seine Offenheit und Poesie. Das Denkklima der Revolution, in dem vieles, ja alles möglich schien, kam nicht nur Frank O’Connor wie eine „magische Improvisation“ vor. Die wenigsten Intellektuellen konnten sich der nationalen Aufbruchstimmung seit der Jahrhundertwende entziehen. Sie ästhetisierten mal gelungener, mal weniger gelungen Freiheitskampf und Selbstopfer. Selbst ein elitärer protestantischer Intellektueller wie der Anglo-Ire William Butler Yeats, 1923 Nobelpreisträger für Literatur, kam nicht daran vorbei, an der Ästhetik der Revolution mitzuschrei-
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IRISH INDEPENDENT, 3. September 1923, S. 6; THE ROUND TABLE, XIV, no. 55 (Juni 1924), S. 528; MICHAEL GALLAGHER, Irish Elections, S. 45. O’FAOLAIN, Vive Moi, S. 217 f.; HOPKINSON, Green, S. 274; BOYCE, Nationalism, S. 341 f.; GARVIN, 1922, S. 25, 45.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
ben: So verherrlichte er den Aufstand von 1916 in seinem Gedicht „Easter 1916“ als „terrible beauty“.180 Erst nach und im Bürgerkrieg holte auch diese irischen Intellektuellen ein Revolutionskater, ein „post-revolutionary hangover“,181 ein. Ihre Träume von einem Literatenstaat gingen in der Gewalt des Bürgerkrieges und der reaktionären Kulturpolitik des Freistaats unter. In George Russles Worten: The champions of physical force have, I am sure without intent, poisened the soul of Ireland. All that was exquisite and loveable was dying. They had squandered a spirit created by poets, scholars and patriots of a different order.182
Ihre Enttäuschung versuchten die Intellektuellen unterschiedlich zu rationalisieren. George Russle propagierte in seinen Blättern Irish Homestead und später Irish Statesman einen konstruktiven, demokratischen Nationalismus, eine Rückkehr zur kulturellen Blüte der Jahrhundertwende, einen ökonomischen Aufbau durch Agrarkooperativen, eine irische Demokratie ohne Englandhaß, Personen- und Märtyrerkult. Dabei erkannte er auch, welche Macht kulturelle Vorstellungen und ein Denken in nationalistischen „Bildern“ über die Revolutionäre hatten: So forderte er, die dominierenden „eindimensionalen“ Feindbilder, durch andere images und andere Ideale zu ersetzten.183 Einer der wenigen, die sich seinem „Kulturkampf“ anschlossen, war der ehemalige republikanische Propagandist Frank O’Connor. Er wandte sich vom Nationalismus, auch vom Katholizismus ab und machte Karriere als Bibliothekar, Theatermanager und Schriftsteller, rationalisierte sein politisches Engagement im Bürgerkrieg später rückblickend als politische Pubertät eines Muttersöhnchens.184 William Butler Yeats wählte eine „irischere“ Strategie: Er suchte nicht nach einer individual-psychologischen Deutung für seine persönliche Rolle im Bürgerkrieg, sondern nach einer „historischen“ Erklärung für die Ursachen und Folgen des Konflikts. Damit war auch er einer der vielen, die meinten, Geschichtsgesetze zu kennen. Yeats schrieb jetzt an einer neuen historische Fiktion über den irischen Nationalismus mit, die in den kommenden Jahren Konjunktur bekam: Der wahre Nationalismus verkörpere sich in der überragenden Führungspersönlichkeit der unkorrumpierten
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„Easter 1916“, in: YEATS, Poems, S. 287–9, Zitat: S. 287. GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 141. UNITED IRISHMAN, 14. April 1923, S. 4. IRISH HOMESTEAD, 15. Juli 1922, S. 439. FRANK O’CONNOR, Only Child, S. 251; ders., My Father’s Son, passim.
III. Das Ende der magischen Improvisation
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Home Rule-Bewegung der Jahre 1877 bis 1890, Charles Stewart Parnell.185 Über das – in Russles Sinn – „neue Bild“ Parnell belastete Yeats scheinbar ausgewogen die politischen Führer beider Bürgerkriegslager. Schuld am Dilemma des Freistaats, so Yeats, sei de Valera. Wäre er so weise wie Parnell gewesen und hätte eingelenkt, hätte es keinen Bürgerkrieg gegeben. Ebenso schuld sei auch Cosgrave, der nicht die nationalen Phantasien der Bevölkerung anspreche und dessen reaktionäre Kulturpolitik das intellektuelle Klima des Freistaats lähme: [. . .] Had de Valera eaten Parnell ’s heart No loose-lipped demagogue had won the day, No Civil rancour torn the land apart. Had Cosgrave eaten Parnell ’s heart, the land ’s Imagination had been satisfied, [. . .]186
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Sowohl de Valera, als auch Cosgrave versuchten sich nach 1923 als neuer Parnell zu stilisieren: MURRAY, Voices, S. 248 f.; vgl. auch FOSTER, Modern Ireland, S. 489. „Parnell’s Funeral“, in: YEATS, Poems, S. 395 f., Zitat: S. 396. Zum Bürgerkrieg und Unabhängigkeitskrieg als Kette zusammenhangloser und sinnloser Momente der Gewalt, siehe ebd., „Meditations in Time of Civil War“, S. 308–14; „Nineteen Hundred and Nineteen“, S. 314–318.
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G. Verhärtete Fronten: Nach dem Bürgerkrieg
Schluß: Irischer Nationalismus – „a dead horse“?
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SCHLUSS: IRISCHER NATIONALISMUS – „A DEAD HORSE“? Im Dezember 1914 schrieb der schon zu Lebzeiten berühmte irische Schriftsteller George Bernhard Shaw an seine ehemalige Sekretärin Mable, die Frau von FitzGerald. Shaw war Mable noch immer freundschaftlich verbunden, jedoch entsetzt, genauer pikiert, über ihren radikalen anglophoben Nationalismus. Als Mann von Welt, Kosmopolit und angesehener Intellektueller fühlte er sich in einer patriarchalisch fürsorglichen Rolle gegenüber Mable, meinte sich berufen, sie darüber zu belehren, wie abstrus und ungebildet ihr „little view from Dingle“1 sei. Er klärte sie auf, wie die Weltgeschichte demnächst verlaufen werde. Wie die Neunzehnsechzehner, wie die Anhänger der Home Rule-Bewegung, wie die Unionisten in Ulster, wie die radikalen Republikaner, die pragmatischen Freistaatler und wie Yeats: So hatte auch George Bernhard Shaw die Gabe, historische Gesetzmäßigkeiten zu konstruieren. Dabei erfand er als einziger der Genannten ein antinationales Geschichtsgesetz, als er vom Ersten Weltkrieg unbeeindruckt einen säkularen Trend erkannte: Except for nations still denied self-government, nationalism is a dead horse: and even the subject nations like Ireland must never forget that the moment they gain home rule, the horse will drop down under them and reveal, by a sudden and horrible decomposition, that it has been dead for years.2
Ganz zu schweigen vom Rest der Welt, auch für Irland war bei Shaws Prognose der Wunsch der Vater des Gedanken. Nicht sein Kosmopolitismus, nicht einmal der gemäßigte Nationalismus des Jahres 1914, sondern Mables radikaler Nationalismus setzte sich durch. Und was diesem Nationalismus seine Sprengkraft und Dynamik gab, war genau das, was Shaw am meisten entsetzte: „[The] hatred of England and all her ways“3, seine konsequent antithetische, anti-britische Konstruktion. Die radikalen Revolutionäre definierten das weiblich konnotierte Irland als spirituell, gläubig, ländlich, schwach und edel, das männlich konnotierte England als materialistisch, neoheidnisch, urban, aggressiv, stark und verschlagen. Das schloß alle vermittelnden Positionen aus, teilte die Welt klar in Gut und Böse. 1 2 3
George Bernhard Shaw an Mable FitzGerald, 12/13. Dezember 1914, in: FITZGERALD, Memoirs, S. 194–6, hier: S. 194. Ebd., S. 195. Mable FitzGerald an George Bernhard Shaw, 18. November 1914, in: FITZGERALD, Memoirs, S. 181–5, hier: S. 184.
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Schluß: Irischer Nationalismus – „a dead horse“?
Das antithetische Denken verbanden die radikalen Nationalisten mit einem teleologischen, angeblich Jahrhunderte alten Geschichtsgesetz, das in jeder Generation die asketische revolutionäre Elite zu einem Selbstopfer für die Nation verpflichte. Dieses politische Weltbild, „the Republic“, war nicht nur der Motor des Aufstandes von 1916 und der Revolution seit 1919, es war auch der Angelpunkt ihres Auseinanderbrechens. Denn die extreme Selbstsicherheit und Selbstgerechtigkeit, die „the Republic“ den Gläubigen vermittelte, entwickelte nach 1916 eine so starke revolutionäre Eigendynamik, daß sie sich spätestens ab der Vertragsspaltung von einer sozialen oder machtpolitischen Basis weitgehend abgekoppelt hatte. So verlief die Spaltung in der revolutionären Elite auch quer zu persönlichen Freund- und Feindschaften, quer zur heterogenen sozialen Programmatik Sinn Feins und quer zur sozialen Herkunft der Revolutionäre. Der irische Bürgerkrieg belegt einmal mehr das vielzitierte Janusgesicht des Nationalismus, und er zeigt, wie unzutreffend es ist, analytisch zwischen einem „guten“ emanzipatorischen und einem „bösen“ gewalttätigen Nationalismus zu unterscheiden: Der „häßliche“ Nationalismus des Bürgerkrieges beruhte auf genau derselben Tradition, wie der „sympathische“ Nationalismus des Unabhängigkeitskrieges.4 Auch der irische Nationalismus funktionierte spätestens ab Ende 1921 im Geertzschen Sinne „auf ungewöhnliche Weise“: Die „national unity“ kollabierte nicht, weil die Kultur des radikalen irischen Nationalismus in sich zusammenbrach, sondern weil sie zu sehr funktionierte. Sie kollabierte, weil der radikale Nationalismus unverändert weiterbestand, obwohl sich sein Kontext einschneidend verändert hatte.5 England, das als gemeinsamer Feind die heterogene nationale Bewegung zusammengehalten hatte, entzog sich seiner Rolle als Aggressor und bot einen Kompromiß an. Das antithetische Denken und die Verpflichtung auf die republikanisch definierte „historical truth“ ließ sich jedoch nur schwer mit der symbolischen Unterordnung unter „Crown and Empire“ vereinbaren. So spaltete der Vertrag die nationale Bewegung, zerstörte den Konsens darüber, was politisch richtig und falsch, gut und böse war. Die gemeinsame politische Kultur zerfiel in eine freistaatlich pragmatische und eine republikanisch dogmatische Version, die sich bald selbst gegenseitig voneinander abgrenzten; denn das auf den gemeinsamen Feind angewiesene integrative Konzept „national unity“ schloß – auch bei den meisten Vertragsbefürwor-
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So auch: LANGEWIESCHE, Nationalismus, S. 194–6. GEERTZ, Dichte Beschreibung, S. 40.
Schluß: Irischer Nationalismus – „a dead horse“?
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tern – eine positive Definition von Pluralismus aus.6 Hier erwies sich eine andere Prognose Shaws aus dem Jahr 1914 als wesentlich realistischer: We imagine that we are democratic because we are rebellious, but when we have no longer any foreign tyranny to rebel against, we may discover that we have yet to learn the ABC of democracy.7
Wie der oben zitierte anglo-irische Kommentator dachte wohl auch Shaw an ein Kinderlehrbuch mit farbigen Abbildungen. Der irische Nationalismus wandte also das aggressive Potential der antithetischen Ausgrenzung nach innen. Der Zerfall des irischen Nationalismus, nicht das Ende der britischen Herrschaft machte den Bürgerkrieg zu einer Epochenwende – trotz aller augenscheinlichen Kontinuitäten zur Zeit vor 1922: trotz weitgehend gleichbleibender Sozialstruktur, trotz fast identischer Wirtschaftspolitik, trotz der freistaatlichen Übernahme der britischen Administration, trotz des nur formal modifzierten britischen Justizsystems.8 Während die Vertragsbefürworter ihren politischen Glauben modifizierten und ihre sozialen und vor allem politischen Aufstiegsmöglichkeiten realisierten, hielten die Republikaner ungebrochen an antithetischem Weltbild, Askesegebot, Selbstopfer und Geschichtsgesetz fest. Dabei gab es eine Reihe sozialer und kultureller Auffälligkeiten: Gegen den Vertrag entschieden sich diejenigen, die „the Republic“ so weit verinnerlicht hatten, daß sie diesen politischen Glauben nicht mehr relativieren konnten. Das galt insbesondere für revolutionäre Frauen als Hüterinnen der reinen Lehre und für die leicht als antinational verdächtigbaren Halbiren und anglo-irischen Überläufer. Auch für die aktiven Guerilleros legitimierte „the Republic“ ihr Handeln, vor allem das Töten und Sterben. Für den Vertrag entschieden sich diejenigen, denen es gelang, ihr revolutionäres Denken anzupassen. Das waren häufig Aktivisten aus der Untergrundadministration oder der militärischen Führung, deren revolutionärer Alltag vom Lösen konkreter Probleme geprägt war, oder es waren Revolutionäre, die auf der Universität gelernt hatten, differenzierter zu denken.
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FOSTER, Modern Ireland, S. 595 f.; Ein ähnliches Fazit zieht: BOYCE, Nationalism, S. 385–7. George Bernhard Shaw an Mable FitzGerald, 12/13. Dezember 1914, in: FITZGERALD, Memoirs, S. 194–6, hier: S. 196; vgl. THE ROUND TABLE, XIV, no.53 (Dezember 1923), S. 91. Zu den Kontinuitäten: O’CALLAGHAN, Moran, S. 154 f.; GARVIN, Nationalist Revolutionaries, S. 165–8; FANNING, Department of Finance, S. 56–9; VALIULIS, After the Revolution, S. 135 f.
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Während das Sprechen über die Republik bis 1921 die Revolution angeschoben und national unity garantiert hatte, konstituierte die politische Rhetorik jetzt die konkurrierenden Gruppierungen und grenzte sie gegeneinander ab. Dabei mußten die Propagandisten beider Seiten ihre Legitimationsstrategie immer wieder an ihr jeweiliges politisches Handeln anpassen. Politische Kultur und Propagandastrategie bedingten dabei einander, waren aber nicht zwangsläufig identisch. Da die freistaatliche politische Kultur flexibler war, konnten die vertragsbefürwortenden Propagagandisten wesentlich kreativer an ihrer Geschichte manipulieren als die an der „historical truth“ orientierten Republikaner. Die Freistaatspropagandisten lernten schnell, sich notfalls zu verstellen und aus taktischen Gründen von den Grundlagen ihres politischen Denkens abzuweichen. Propaganda hatte aber nicht nur die „Funktion“, politisch opportunes Handeln zu rechtfertigen: Umgekehrt eröffneten und beschränkten die verschiedenen Legitimationsstrategien ganz unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten. Nur was die Aktivisten denken und sagen konnten, konnten sie auch in Politik umsetzen. Es war diese Interaktion von revolutionärem Legitimieren und Handeln, die die Spielregeln des Konflikts zwischen Republikanern und Freistaatlern bestimmte. Die Republikaner legitimierten sich weiter unflexibel über die bis dahin verbindliche Rhetorik von „the Republic“ und konnten so keine realpolitisch effiziente Handlungsstrategie erfinden. Sie gerieten so politisch und militärisch in eine permanente Handlungskrise. Die Freistaatler handelten militärisch und politisch erfolgsorientiert und pragmatisch und konnten so keine kohärente nationale Legitimationsstrategie erfinden. Sie gerieten in eine permanente Legitimationskrise. Die Freistaatler modifizierten „the Republic“ und schöpften lange flexibel alle Handlungsmöglichkeiten aus – zumindest, bevor sie „Staat“ zu ihrem neuen Dogma machten. Sie ergriffen die Macht im Staat, kooperierten militärisch und ökonomisch mit Großbritannien, täuschten die Republikaner mit dem Wahlpakt und wagten als erste den Tabubruch des Angriffs. Der Preis für diese Flexibilität war eine tiefe Legitimationskrise der Vertragsbefürworter: Sie konnten sich nicht mehr glaubhaft über „the Republic“, „1916“ und das republikanische Martyrium definieren. Zunächst fiel es den Freistaatlern schwer, eine neue Form der Legitimation zu erfinden; denn das denkbare Repertoire für eine effiziente Legitimationsstrategie blieb stark eingeschränkt. Legitimation hieß im Irland des Jahres 1922 vor allem nationale Legitimation. Wohlstand und Karrieremöglichkeiten waren als britischer Materialismus diskreditiert. Die aggressive und konstitutionelle „stepping-stone“-Politik eignete sich nicht für Propaganda: Sie war
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auf Heimlichkeit angewiesen und erzählte im Regelfall von Kompromissen und Rückziehern, nicht von durchschlagenden Erfolgen. Die republikanische Fassade von vertragsbefürwortender „IRA“ und Dail Eireann war rissig. Die Vertragsbefürworter behielten zwar diese revolutionären Institutionen lange bei. Sie ersetzten sie jedoch gleichzeitig durch die neuen Institutionen des Freistaats. Den „nationalen“ Errungenschaften des Vertrages, dem autonomen irischen Parlament und dem überall sichtbaren Abzug der britischen Truppen haftete das Stigma an, durch den „Verrat“ an der Republik erkauft worden zu sein. In fast identischem Wortlaut, aber im wirkungsvollerem Kontext von „the Republic“, besetzten die Republikaner anti-englische und anti-nordirische Rhetorik . Zumindest vor dem Krieg halfen die Werte „liberal rights“ und „majority rule“ den Vertragsbefürwortern aus der legitimatorischen Krise. Sie ließen sich nämlich nicht nur als unveräußerliche Naturrechte darstellen, sondern gewannen ihr propagandistisches Potential als nationale Werte, als Freiheit von britischer Unterdrückung und als siebenhundertfünfzigjähriger Kampf um „Volkssouveränität“. Während die elitär an „the Republic“ orientierten IRA-Aktivisten die öffentliche Meinung ignorierten, hatten die republikanische Politiker um de Valera und Childers ein ambivalenteres Verhältnis zu „majority rule“. So versuchten sie weitgehend vergeblich, das freistaatliche Monopol auf „majority rule“ und „liberal rights“ zu untergraben. Denn de Valera und die meisten anderen prominenten Aktivisten distanzierten sich nicht von den zahlreichen Anschlägen der IRA, um so die innere Zerrissenheit des republikanischen Spektrums wenigstens nach außen zu kaschieren. So erleichterten sie der vertragsbefürwortenden Propaganda noch die Arbeit: Die konnte jetzt nicht nur die IRA, sondern das gesamte vertragsablehnende Lager als undemokratisch und britisch diskreditieren – besonders den bisher populären „Präsidenten“ de Valera. Doch gemessen an „Nation“ und „Staat“ waren Partizipations- und Abwehrrechte auch für die vertragsbefürwortende Elite sekundäre, relativierbare Werte. Sich als Kämpfer für die Demokratie zu stilisieren, war für sie die realistischste Strategie, um die Republikaner zu besiegen und ihren nationalen Staat durchzusetzen. Im Bürgerkrieg setzte die Freistaatsführung die Werte „majority rule“ und „liberal rights“ so entschlossen durch, daß sie dabei immer wieder gegen den Kern dieser Werte verstieß: Sie griff die Republikaner ohne demokratische Legitimation an, sie verschob die Eröffnung des neu gewählten Parlaments ohne rechtliche Grundlage und sie schränkte Presse-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit drastisch ein. Erst als sich unter dem Schock der Niederlage auch bei den Republikanern die Po-
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litiker gegen die Militärs durchsetzten, etablierten diese „unenthusiastic democrats“9 fast nebenbei das ABC der Demokratie in Irland – flankiert von einer permanenten Ausnahmegesetzgebung . Die Republikaner hielten ungebrochen an antithetischem Weltbild, Askesegebot, Selbstopfer und Geschichtsgesetz fest. So verfügten sie über eine in sich stimmige und von der nationalen Tradition gestützte Legitimation. Doch gleichzeitig blockierte „the Republic“ jede Realpolitik, machte vor, während und nach dem Bürgerkrieg jeden Ausgleich mit dem Feind unmöglich. Ihre dogmatische republikanische Legitimationsstrategie eröffnete kaum Handlungsspielraum. Die Rhetorik der Republikaner war hochgradig redundant, unflexibel und kaum zu taktischen Zugeständnissen in der Lage. Sie orientierte sich an der republikanisch definierten historischen Wahrheit, kollidierte in vielen Punkten mit den materiellen Bedürfnissen ihres (potentiellen) Publikums. Auch mit Document No. 2 fanden die Republikaner nicht aus ihrer Handlungskrise heraus: Freistaatler und radikale Republikaner lehnten es gleichermaßen ab, dazu eignete sich das komplexe und haarspalterische Kompromißangebot de Valeras nicht für massenwirksame Propaganda. Die Republikaner waren nicht fähig, außerhalb der von ihnen propagierten Ideale zu handeln. Die IRA war vor dem Bürgerkrieg kulturell nicht in der Lage, den Tabubruch „Brudermord“ zu begehen, also ihre militärische Überlegenheit zu nutzen. Gleichzeitig zitierte sie jedoch immer wieder den Bürgerkrieg, war nicht bereit, auf unpopuläre Übergriffe zu verzichten. Der Zwang, sein Tun zu rechtfertigen, verstärkte sich noch einmal drastisch mit dem Ausbruch des Krieges: Da der Bürgerkrieg um Symbole, um die richtige Deutung der irischen Geschichte geführt wurde, war er für die Zeitgenossen besonders erklärungsbedürftig. Solange die Macht auf beiden Seiten noch nicht institutionell gesichert war, war die fiktionale Ebene, die Definitionsmacht über Symbole und Deutungen, genauso wichtig wie die faktische, die militärische Ebene. Die Propagandisten beider Seiten mußten sich selbst, ihren Anhängern und einem möglichst großen Teil der Öffentlichkeit verständlich machen, was da passierte: Warum war das, was alle Seiten vor dem Krieg als Horrorszenario beschrieben, warum war ein „bloodshed amongst brethren“ legitim und nötig? Um das Tabu Brudermord zu legitimieren, machten beide Bürgerkriegsparteien sich selbst zu „Iren“ und ihre Feinde zu „Briten“. Die Freistaatler definierten den Bürger-
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GARVIN, 1922, S. 205; HOPKINSON, Green, S. 272. Zum Auslösen von Lernprozessen durch Gewalttraumata allgemein: SCHUMANN, Gewalt, S. 379.
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krieg als „armed revolt“10 gegen die nationale Regierung, die Republikaner erklärten ihn zu einem anti-englischen Freiheitskrieg. Dafür, daß die Bevölkerung den Bürgerkrieg entsprechend deutete, sorgten nicht nur die Propagandisten, sondern auch die Militärs. Sie inszenierten den Ausbruch des Krieges und ihre Kriegführung so, daß ihre Version glaubhaft wurde. Krieg war teilweise die Fortsetzung der Propaganda mit non-verbalen Mitteln. Wie sehr die dogmatische Legitimationsstrategie und politische Kultur die konkreten Handlungsmöglichkeiten einschränken konnte, wird nirgends so deutlich wie bei der republikanischen Kriegführung. Die radikalen IRA-Aktivisten in Dublin waren so sehr im Denkrahmen von „the Republic“ gefangen, daß sie gegen jede „objektive“ militärische Vernunft verstießen. Und das war propagandistisch gar nicht so unvernünftig: Die Republikaner kalkulierten, daß nach der Logik des republikanischen Geschichtsgesetzes auch eine militärische Niederlage die Bevölkerung erwecken werde. So folgten die IRA-Aktivisten beim Ausbruch des Krieges fast eins zu eins den Vorgaben des „triumph of failure“ von 1916. Auch in Munster bestimmten bildliche Vorstellungen die Kriegführung. Die IRA-Aktivisten erklärten ihre dezentralen und defensiven Operationen zu einer „Front“ und reklamierten so für sich die Legitimität einer regulären Armee. So unterschiedlich die militärischen Konzepte der IRA nach August 1922 auch waren, sie orientierten sich immer an „the Republic“. Liam Lynchs Überzeugung, der Sieg der IRA sei gewiß, der Freistaat lasse sich zu einem Verhandlungsfrieden zu republikanischen Bedingungen zwingen, gründete allein darin, daß er den Gedanken an eine Niederlage der Republik tabuisierte. Sein Versuch, durch Angriffe auf britische Truppen und unionistische Herrenhäuser ein Eingreifen der britischen Regierung zu erzwingen, setzte auf die revolutionäre Dynamik eines Kampfes gegen den gemeinsamen Feind. Auch als Kampf bis zum letzten Mann orientierte sich der Krieg der IRA an „the Republic“. Dieses Konzept des Selbstopfers versicherte der nationalen Elite, daß sie das republikanische Geschichtsgesetz erfüllte und die Flamme der Freiheit an die nächste Generation weiterreichte. Erst nach Lynchs Tod, erst als die IRA militärisch fast vollkommen besiegt war, waren die selbst immer stärker demoralisierten und zweifelnden IRA-Aktivisten bereit aufzugeben. Doch auch dabei wichen sie nicht von „the Republic“ ab,
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YOUNG IRELAND, 8. Juli 1922, S. 2; FREEMAN’S JOURNAL, 28. Juli 1922, S. 5, official statement.
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ließen das militärische Desaster von de Valera zu einem spirituellen Sieg im Sinne von „1916“ erklären. Auch die Führung des Freistaatsmilitärs erzählte nicht nur durch Propaganda, sondern auch über ihre Kriegführung die Geschichte von „law and order“ und Staatlichkeit. Sie stellte der IRA ein nicht verhandelbares Ultimatum, steckte ihre eigenen Soldaten in grüne Uniformen und ließ sie mit überlegenen Waffen aufmarschieren. Sonst orientierte sich die Freistaatsarmee jedoch hauptsächlich an der militärischen Effizienz. Doch gerade dieses zweckrationale Handeln beschnitt immer wieder die legitimatorischen Möglichkeiten des Freistaats. Der Angriff auf die Four Courts, britische Waffenlieferungen, der Einsatz überlegener Waffen, die – wie Panzer und Artillerie – für britische Herrschaft standen, das Rekrutieren von Weltkriegsveteranen: Das alles garantierte zwar militärische Erfolge, führte aber zu einer Reihe symbolischer Niederlagen. Hier brachte das antithetische, am britischen Feind orientierte Weltbild die Freistaatsführung erneut in Schwierigkeiten: Militärische Überlegenheit und die Rhetorik von „law and order“ ließen sich nicht nur positiv deuten, sie waren gleichzeitig auch traditionelle Synonyme für britische Zwangsherrschaft. Dazu kam, daß die undisziplinierten Truppen „law and order“ häufig selbst untergruben. Die daraus resultierende Legitimationskrise des Freistaats hielt sich dabei so lange in Grenzen, wie die Freistaatstruppen militärisch einen Sieg nach dem anderen errangen. Im Gegenteil: ein siegreicher Freistaat konnte „law and order“ durchaus auch positiv besetzen. Doch je länger der Guerillakrieg der IRA weiterging, um so unglaubwürdiger wurde der freistaatliche Anspruch, normale Verhältnisse zu garantieren. Anders als die virtuelle „Republic“ war diese freistaatliche Propagandastrategie ja an meßbare Erfolge gebunden. Die Führung der Vertragsbefürworter setzte daher im September und Oktober 1922 auf eine zunächst propagandistische Offensive: Sie drohte der IRA mit Exekutionen, während sie gleichzeitig eine einwöchige Amnestie ausrief. Doch die Republikaner gaben diesem Druck genauso wenig nach wie der Exkommunikation durch die irischen Bischöfe. Trotz Exkommunikation dachten die meisten Republikaner nach wie vor politischen und religiösen Glauben, vor allem politisches und religiöses Martyrium nach derselben Logik. Um den Widerspruch zwischen Exkommunikation und Glaube zu umgehen, griffen die Republikaner zu einer Art doppelter Buchführung. Sie trennten eine unfehlbare religiöse Lehrautorität von einer fehlbaren politischen Lehrmeinung der Bischöfe. Gestützt von anonymen republikanischen Priestern und Mönchen, von prominenten Geistlichen wie Erzbischof Mannix von Melbourne, aber auch von Monsi-
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gnore Luzios gescheiterter Friedensmission gelang es ihnen, die Effizienz des Hirtenbriefes zu unterlaufen. Da die IRA auf die propagandistische Offensive nicht reagierte, verschärfte der Freistaat seine Zwangsmittel und begann eine militärisch hochgradig effiziente Exekutionspolitik. Doch durch die Hinrichtungspolitik verschärfte sich die freistaatliche Legitimationskrise dramatisch: Das hochsensible Thema ließ sich auch durch eine verschärfte Pressekontrolle nicht völlig totschweigen. Die Freistaatsführung versuchte, diese Krise dadurch abzufangen, daß sie „staatliche Souveränität“ zum Kern einer neuen freistaatlichen Identität machte. Doch dabei wurden sie immer wieder mit der symbolischen und faktischen Beschränkung der irischen Souveränität durch den Vertrag konfrontiert. Die Vertragsbefürworter entschärften dieses Problem durch symbolische Politik: Sie besetzten die nationale Flagge und die nationale Hymne, erfanden nationale Briefmarken, Postkästen und Uniformen. Dazu inszenierten sie an nationalen Feiertagen ihre staatliche Souveränität in Militärparaden und Sportfesten. Über diese symbolische Politik konnte der Freistaat dabei Dinge sagen, die er in Worten kaum mehr ausdrücken konnte. Der Beerdigungsritus machte Collins zu einem der „glorious dead“, Trikolore und „Soldier’s Song“ stellten eine direkte emotionale Kontinuität zur revolutionären Vergangenheit her – auch wenn die Republikaner dieselbe Flagge, dieselbe Hymne und auch dieselben Grabstätten für sich reklamierten. Darüber hinaus inszenierte die Freistaatsführung eine scheinbare souveräne Außenpolitik, förderte demonstrativ die gälische Sprache, verfolgte eine national deutbare Innenpolitik. Auch die reaktionäre katholische Kultur- und Familienpolitik beruhte auf einem – und appellierte an einen – breiten Konsens nationaler Vorstellungen. Auch wenn „Freistaat“ und „Nation“ propagandistisch nicht dieselbe Zugkraft entwickelten wie „Republic“ vor 1922: Für die freistaatliche Elite wurde „Staat“ bald immer mehr zum zentralen und nicht hinterfragbaren Wert, zu einer neuen „zentralen Fiktion“. Fast neun Jahre nach seiner Fehlprognose äußerte sich George Bernhard Shaw in einem Artikel im Irish Statesman erneut zur Zukunft des irischen Nationalismus. Shaw diagnostizierte als Ursache des Bürgerkrieges nicht das Versagen einer oder beider Parteien, sondern den Nationalismus als solchen: „Nationalism must now be added to the refuse pile of superstitions. We are now citizens of the world.“ Shaw propagierte ein englisch sprechendes, kosmopolitisches und kulturell blühendes Irland. Dem entsprechend verspottete er den irischen Isolationismus der Gaelic League, machte sich
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über die Abgeordneten des Dail lustig, die ihre Reden mit einer „bedeutungslosen Sprache“ begännen, um den Geräuschpegel im Plenum zu senken. Sicher dachte Shaw auch an seine alte Sekretärin Mable, der er 1914 ans äußerste westliche Ende Kerrys geschrieben hatte, als er sich alle Englandhasser auf die noch westlicher gelegenen Blasket Islands wünschte: die waren zwar national konnotiert aber äußerst karg.11 Anders als noch 1914 formulierte Shaw seine Thesen gegenüber dem größeren Publikum vorsichtiger als bei seiner ehemaligen Sekretärin, der er sich intellektuell so überlegen fühlte: als Forderungen, nicht als Prognose. Und er war sich sicher auch bewußt, wie unpopulär seine Generalabrechung in einem Land war, in dem die zwei ehemaligen Bürgerkriegsparteien darum konkurrierten, irischer zu sein als ihr Feind; in einem Land, in dem anscheinend alles mit nationaler oder antinationaler Bedeutung aufgeladen war: die Landschaft im Westen Irlands, Fußball, Hurling, Bajonette, Zigarren, Friedhöfe, Marmelade, Waschmittel12, Zahnpasta13, Briefmarken, Postkästen, das Rosenkranzbeten, die gälisierten Namen von Revolutionären und Gemüseläden. Auf Shaws Generalangriff auf ihre „Irishness“ reagierten alle politischen Lager ausnahmslos mit Kritik, meist mit wütendem Protest: Von intransigenten Republikanern wie Mary MacSwiney über anglo-irische Intellektuelle wie George Russle bis zu Regierungspolitikern wie Sean Milroy.14 Wie schon 1914 beschwor Shaw auch 1923 das exakte Gegenteil dessen, was tatsächlich geschah. Nationalismus blieb die bestimmende politische Denkart, das Verhältnis zum Feind Großbritannien das dominierende Thema im Irischen Freistaat. Die von den irischen Unionisten erhoffte Ausdifferenzierung des Parteienspektrums unter sozialen und ökonomischen Gesichtspunkten fand nicht statt.15 Der Bürgerkrieg hatte dem Nationalismus zwar seine Dynamik und seine „magische“ Offenheit genommen, ihn aber nicht vollständig diskreditiert – eher wie der Zauberlehrling gespalten und damit verdoppelt. Auch nach 11 12 13 14
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IRISH STATESMAN, 15. September 1923, S. 9 f. Vgl. wie sich ein Revisionist wie Roy Foster noch heute mit Shaw identifiziert: FOSTER, History and the Irish Question, S. 142 f. YOUNG IRELAND, 27. Mai 1922, S. 7; vgl. FITZPATRICK, Politics, S. 165. Siehe exemplarisch Anzeigen für irische Produkte, in: UNITED IRISHMAN, 15. Februar 1923, S. 4. IRISH STATESMAN, S. 5, Artikel von George Russle; IRISH STATESMAN, 22. Dezember 1923, S. 463 f., Artikel von Mary MacSwiney. MacSwiney wendet sich gegen den generellen Kosmopolitismus des IRISH STATESMAN. Vgl. auch: UNITED IRISHMAN, 29. September 1923, S. 4. IRISH TIMES, 1. September 1923, S. 6; THE ROUND TABLE, XIV, no.53 (Dezember 1923), S. 91.
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1923 und letztlich bis heute gab und gibt es zwei irische Nationalismen, eine pragmatische (freistaatliche) Variante und (mindestens) eine republikanische Variante. Vertragsspaltung und Bürgerkrieg waren für die Politiker der Freistaatsperiode ein Trauma, das ihr Denken und Handeln stärker beeinflußte als 1916, Unabhängigkeitskrieg und jedes Ereignis nach 1923. Gerade de Valera versuchte den Rest seines Lebens, seine ambivalente Haltung im Bürgerkrieg zu rechtfertigen, begann schon während des Konflikts, relevante Dokumente zu sammeln.16 Wie während des Massenhungerstreiks vom Oktober 1923 prägte auch später das im Bürgerkrieg Erlernte das tägliche Handeln und Sprechen. Es beeinflußte, wie Propagandisten und Politiker handelten und wie sie ihre Legitimationsstrategien erfanden, einsetzten, modifizierten. Das war kein irgendwie abgehobener Konflikt abstrakter Ideen, sondern ein permanenter Kampf darum, mit welcher Sprechweise man Macht ausüben konnte. Beide Seiten sprachen sich bis lange nach dem Krieg gegenseitig jedes Existenzrecht ab, konstruierten ihre Legitimationsstrategie so, daß sie die feindliche Position völlig ausschloß – und das, obwohl sie zu zentralen Themen wie Katholizismus, Frauen- oder Sozialpolitik ähnlich, oft identisch dachten.17 Ihre politischen Nachfolger griffen, auch wenn sich das politische Klima nach den fünfziger und erneut nach den siebziger Jahren deutlich entspannte, bis in die neunziger Jahre immer wieder auf den Bürgerkrieg als Argument zurück.18 Schon personell gab es bei den vertragsbefürwortenden und vertragsablehnenden Eliten eine auffällige Kontinuität zum Bürgerkrieg, die das Fortleben erlernter Muster garantierte. 1930 saßen im Executive Council Cumman na nGaedheals ausschließlich Veteranen des Bürgerkrieges. Das gleiche galt für de Valeras Kabinett von 1932.19 Die beiden überlebenden republikanischen Chefpropagandisten des Bürgerkrieges übernahmen 1931 de Valeras Sprachrohr, die republikanische Tageszeitung Irish Press, Brennan als Manager und Gallagher als Chefredakteur.20 Noch 1973 hatten drei von sechzehn Kabinettsmitgliedern der Fine Gael-Regierung dasselbe Amt 16
17 18 19 20
FLK, DeV, 278, de Valera an Miss E. Doyle, 16. April 1923; FLK, DeV, 268/1, de Valera an Brennan, 12. März 1923; FLK, DeV, 241, de Valera an Brennan, ca. April 1923; MURRAY, Voices, S. 194–6, 250–2. GRAHAM WALKER, Propaganda, S. 115–7; FOSTER, Modern Ireland, S. 532 f.; BOYCE, Nationalism, S. 385 f. FOSTER, Modern Ireland, S. 520 f.; FANNING, Independent Ireland, S. 39, 42; BOYCE, Nineteenth Century, S. 277 f. VAUGHAN, Chronology, S. 414. Vgl. GLANDONE, Advanced Nationalist Press, S. 245.
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inne, wie ihre Väter fünfzig Jahre zuvor.21 Im selben Jahr besiegte Childers Sohn Erskine Hamilton bei den irischen Präsidentschaftswahlen O’Higgins Neffen Tom.22 Der Bruch der revolutionären politischen Kultur bestimmte die politischen Spielregeln nicht nur zwischen Vertragsbefürwortern und -gegnern, sondern auch innerhalb der konkurrierenden Lager. Bei den Vertragsbefürwortern entfremdeten sich Anhänger der „stepping-stone“-Politik und ExRevolutionäre immer mehr vom Freistaat, weil sie wie Beaslai ihre Posten bald immer häufiger an funktionierende Militärs und Bürokraten verloren. Sie gingen während der Armeemeuterei 1924 in ihrem Protest bis an den Rand eines Putsches.23 Unter den Republikanern prägte die Unvereinbarkeit von de Valeras Realpolitik mit der von Mary MacSwiney vertretenen Reinheit der Lehre die Politik der zwanziger Jahre. Nachdem de Valera im Juli 1924 aus der Haft entlassen worden war, erhielten die Gemäßigten neuen Auftrieb, beschäftigten sich weiter mit der „Quadratur des Kreises“: Wie ließen sich republikanisches Dogma und Realpolitik vereinbaren? Der Zielkonflikt zwischen „the Republic“ und „a sort of Republic“ entwickelte sich jetzt immer mehr von einem persönlichen Gewissenskonflikt und einem Eiertanz um die richtige Terminologie zu einem offenen Flügelkampf. 1926, rechtzeitig zur nächsten Wahl, spaltete sich de Valera mit seinen Anhängern von Sinn Fein ab. Aus Sicht der republikanischen Realpolitiker befreiten sie sich damit aus der dogmatischen Sackgasse. De Valera gründete zusammen mit einer Minderheit der Republikaner Fianna Fail24 – mit dem erklärten Ziel, den Dail ohne Eid zu betreten und mit konstitutionellen Mitteln zurück an die Macht zu kommen. Seine neue Partei erhielt bei den Wahlen vierundvierzig Sitze, nur drei weniger als Cumman na nGaedheal und neunmal mehr als die intransigente Sinn Fein.25 Fianna Fail nahm nicht nur am Dail teil, sondern schwor auch notgedrungen den Treueid. 1932 gewann de Valeras Fianna Fail die Wahlen und begann, durch eine konsequente „stepping-stone“-Politik den Vertrag Schritt um Schritt außer Kraft zu setzen und Document No. 2 zu verwirklichen.
21 22 23 24
25
FOSTER, Modern Ireland, S. 575. WILKINSON, Zeal, S. 240. VALIULIS, Mulcahy, S. 204–20; ausführlicher: dies., Army Mutiny, passim. Fianna Fail: Soldaten des Schicksals. „Fianna“ war gleichzeitig der Name einer mythischen Kriegerhorde, „Inis Fáil“, „Insel der schicksalhaften Bestimmung“ ein Synonym für Irland: FOSTER, Modern Ireland, S. 525. VAUGHAN, Chronology, S. 410.
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Da sich der dogmatische Republikanismus allein der Reinheit der Lehre verpflichtet fühlte, spaltete er sich in den folgenden Jahren immer wieder in kooperierende und rivalisierende Splittergruppen, die „the Republic“ mal konservativ, mal sozialistisch, mal militärisch, mal politisch oder rein virtuell interpretierten: Der zweite und erste Dail, Sinn Fein, die IRA, Saor Eire, der Republican Congress, Cumman Poblachta na hEireann.26 Die zweite Spaltung der Republikaner hatte sich lange abgezeichnet, war lange nicht so traumatisch wie die im Dezember 1921. Bis in die frühe Regierungszeit de Valeras kooperierten Sinn Fein, IRA und Fianna Fail. Noch lange nach 1926 betrachtete de Valera Mary MacSwiney als seine Vertraute, deren harsche prinzipielle Kritik er tolerierte, ja schätzte. Erst nach der Regierungsübernahme de Valeras verschärfte sich das Verhältnis zwischen Dogmatikern und republikanischen Realpolitikern. Weil der radikale Republikanismus nach wie vor das Gewaltmonopol des Staates nicht akzeptierte, eskalierte das Verhältnis zwischen Fianna Fail-Regierung und „the Republic“- Radikalen. De Valera wandte die verhaßten Notstandsgesetze Cumman na nGhaedeals jetzt selbst gegen die Radikalen, verbot 1936 die IRA, ließ 1940 erstmals IRA-Aktivisten exekutieren und bei einem Hungerstreik verhungern. Aus Sicht der Radikalen hatte sich damit das Geschichtsgesetz vom „Verrat“ durch die nationale Führung erneut erfüllt, auch wenn die Erweckung der irischen Bevölkerung durch Blutopfer seit 1922 offensichtlich nicht mehr funktionierte.27
26
27
ENGLISH, Green on Red, S. 170–2, 177–9; ders., ‚Paying no heed to public clamor‘: Irish Republican Solipism in the 1930s, in: Irish Historical Studies, XXVIII, 112, (1993), S. 426–39, passim; siehe: FALLON, Soul of Fire, S. 126–80, für Mary MacSwineys zunehmend einsamere Suche nach der wahren republikanischen Lehre; vgl. WARD, Maud Gonne, S. 156 f., 167–75. TOWNSHEND, Political Violence, S. 378–80; FOSTER, Modern Ireland, S. 542–50; BOYCE, Nationalism, S. 344–7; FANNING, De Valera and the IRA, S. 166–8.
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I. Glossar
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H. ANHANG I. GLOSSAR Abbey Theatre Aisling
All Ireland Rate Payers Anglo-Iren Ancient Order of Hibernians antitreaty Antitreatyite An Claidheamh Soluis An Poblacht na hEireann An tOglach An tOglach na hEireann Ard Fheis Armistice Day army convention Articles of Agreement Ascendancy
Attorney General Black and Tans Barrister Brehon Laws Castle Caitlín ni Uallachain
Theater der Irish Literary Renaissance Lied- und Gedichtform, in der das weibliche Irland dem träumenden Revolutionär eine goldene nationale Zukunft prophezeit Interessensvertretung der Unternehmer Irlands Association Nachfahren britischer Siedler, meist Protestanten und Unionisten nationalistischer, oft militant katholischer Verein Adjektiv zu Antireatyite, „gegen den anglo-irischen Vertrag seiend“ Synonym für Republikaner, Gegner des anglo-irischen Vertrages „das Lichtschwert“, Zeitschrift der Gaelic League „die irische Republik“, antitreaty Blatt „der Freiwillige“ / „ the Volunteer“, IRA-Untergrundzeitung Irish Volunteer Force, später IRA und Freistaatsarmee Parteitag Tag des Waffenstillstands nach dem Ersten Weltkrieg, britischer Feiertag Kongress, auf dem sich die IRA vom Dubliner Hauptquartier lossagte, Ende März 1922 treaty, anglo-irischer Vertrag landbesitzender, protestantischer, anglo-irischer Adel; Terminus wird auch Synonym für alle irischen Protestanten benutzt „Generalstaatsanwalt“ paramilitärische britische Polizeieinheit im Unabhängigkeitskrieg Anwalt, mit der Lizenz vor Gericht plädieren zu dürfen Gesetze des gälischen Mittelalters d. h. Dublin Castle, Sitz der britischen Verwaltung Irlands „Cathleen ni Houlihan“, weibliche Personifizierung Irlands
550 Cat and Mouse Act
Cathleen ni Houlihan Cogadh na gCarad Corinthian Counties County Council Croke Park
Cumman na Ghaedeal Cumman na mBan Cumman na Poblachta
Cumman na Poblacht na hEireann N-Albain Cumman na Saoirse Custom House Dail (Eireann)
Dail Courts Democratic Program DeV Document No. 2 Dublin Castle Dublin Corporation Eason and Son Eighteen-pounder Eire
H. Anhang Gesetz, das die vorzeitige Entlassung und Reinhaftierung von hungerstreikenden Suffraggetten regelte, 1913 weibliche Personifizierung Irlands „Krieg unter Freunden“, irischer Terminus für den Bürgerkrieg Dubliner Theater die 32 Grafschaften, bzw. „Regierungsbezirke“ Irlands Teil des „Local Government“, auf County-Ebene gewählte Selbstverwaltungskörperschaft Dubliner Stadion der Gaelic Athletic Association, Schauplatz des „Bloody Sunday“-Massakers 1920 „Verband der Gälen“, ab 1905 Vorläufer Sinn Feins, ab 1923 protreaty Partei „Verband der Frauen“, republikanische Frauenorganisation Verband der Republikaner, Synonym für antitreaty Sinn Fein, März-Mai 1922, geplante republikanische Plattform in Sinn Fein, 1923 irisch-republikanischer Verein Schottlands „Verband für Freiheit“, freistaatliche Frauenorganisation Dubliner Zollverwaltungsgebäude, 1921 von der IRA zerstört irisches Parlament/ irische Regierung: bis Juni 1922 Parlament der revolutionären Republik; ab September 1922 „nationales“ Etikett des im treaty vorgesehenen (Provisional) Parliament of Southern Ireland, gleichzeitig ab Oktober 1922 offizielle Bezeichnung der republikanischen Gegenregierung republikanische Untergrundgerichte, 1919–1922 sozialpolitische Absichtserklärung Dail Eireanns, 1919 Spitzname von Eamon de Valera de Valeras Alternative zum treaty; „external association“ Sitz der britischen Verwaltung Irlands Dubliner Stadtrat Dubliner Zeitungsgroßhändler Artilleriegeschoß „Irland“
I. Glossar Erin
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als Muttergottheit oder junges Mädchen personifziertes Irland Executive Council, innerer Zirkel des Freistaatskabinetts nach Free State Dezember 1922 Executive Council, IRA Führungsgremium der vertragsablehnenden IRA ab April 1922 Farmer Party/ Union Interessensvertretung mittlerer und großer Bauern, anti-ITGWU Farmers Freedom Force militanter Arm der Farmer Party Fenier Republikanischer Geheimbund, Vorläufer der IRB, Aufstandsversuch 1867 Fianna Eireann „Soldaten Irlands“, republikanische Jugendorganisation Fianna Fail „Soldaten des Schicksals“, ab 1926, konstitutionelle republikanische Partei Fine an Lae mythische keltische Kriegerhorde um Fionn Mac Cumhaill Fine Gael „gälische Rasse“, Nachfolgepartei Cumman na Gaedheals Flying Columns mobile Guerillaeinheiten Four Courts Dubliner Justizverwaltungsbehörde, April – Juni 1922 Hauptquartier der IRA unter Rory O’Connor Free State Act britisches Gesetz zur Gründung des Irischen Freistaats, vom April 1922 Gaelic Athletic Association GAA, Verein für nationale Sportarten (Gaelic Football, Hurling) Gaelic League Verein für die Förderung der irischen Sprache Gaelic Football traditionell irische Sportart, ähnelt Rugby und Fußball Gaeltacht irischsprachiges Gebiet Gaiety populäres Dubliner Theater Garda Siochana unbewaffnete irische Polizeieinheit Gombeen man örtlicher Geldverleiher, abwertend Government of 1920, legte für Nord- und Südirland getrennte Ireland Act lokale Parlamente fest Governor General im Vertrag vorgesehener Repräsentant des britischen Königs in Irland Granuaile Personifizierung Irlands als Piratenkönigin Grattans Parliament 1782–1801, parlamentarische Vertretung irischer Protestanten, angeblicher Vorläufer eines Home RuleParlaments Grenzkommission im treaty festgelegte Kommission, die für den Fall einer Abspaltung Nordirlands die Grenze zum Freistaat neu bestimmen sollte
552 Habeas Corpus Act Harcourt Street 6 Home Rule Howth Gun running Hurling Inghinide na hEireann Irish Communist Party Irish Labour Party Irish Literary Renaissance Irish Republican Army Irish Parliamentary Party Irish Volunteer Force King’s Counsel Land Act Landlords Land War Local Government Malicious Injuries Act Mick Military Council, IRB Ministry for Publicity
Munster Women’s Franchise League National Volunteer Force neutrale IRA O’Connell Street O/C
H. Anhang Gesetz, das die unbeschränkte Inhaftierung ohne Prozeß durch eine frühe Haftprüfung unterbinden soll Sinn Fein Zentrale, vor 1922 und ab 1923 Forderung nach lokaler Autonomie für Irland Von Erskine Childers organisierter Waffenschmuggel für die Irish Volunteers, 1914 traditionell irische Sportart, ähnelt entfernt dem Hokkey „Töchter Irlands“, feministischer Verein der Jahrhundertwende sozialrevolutionäre Splitterpartei, vertragsablehnend theoretisch revolutionäre, de facto sozialreformerische Arbeiterpartei anglo-irische Literaturbewegung der Jahrhundertwende IRA, republikanische Untergrundarmee Abgeordnete, die Home Rule vertraten, Partei ohne lokale Ortsvereine seit 1913 nationale Bürgerwehr, Vorläufer der IRA höchster Rang für einen britischen „Barrister“ freistaatliches Landkaufprogramm für Kleinpächter meist aristokratische und protestantische Großgrundbesitzer soziale Unruhen einer irlandweiten Bauernbewegung in den 1880ern in zahlreiche Selbstverwaltungskörperschaften organisierte lokale und regionale Regierung/Verwaltung Gesetz, das die Entschädigung materieller Verluste aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges regelt, 1923 Spitzname von Michael Collins Militärausschuß der IRB, darin vereint die Träger des Osteraufstandes Propagandaministerium während des Unabhängigkeitskrieges, später von Vertragsbefürwortern kontrolliert; Ende 1922 mit Außenministerium fusioniert Verein der irischen Suffragetten in Munster ab 1914, Teil der Irish Volunteer Force, die England im Ersten Weltkrieg unterstützte lockere Organisation von Unabhängigkeitskriegs-Veteranen, die am Bürgerkrieg nicht teilnahmen vor 1922 Sackville Street, wichtigster Schauplatz von „1916“ Officer Commanding
I. Glossar on active service
553
aufwertend für die direkte Teilnahme am (Guerilla-)Krieg Oranier Orden militant protestantischer Verein von Unionisten in Ulster Orangeism Synonym für „Ulster Unionism“, meist abwertend Press Room Department Propagandabehörde der Provisorischen Regierung, Ende 1922 mit Außenministerium zusammengelegt protreaty Adjektiv zu Protreatyite, „für den anglo-irischen Vertrag seiend“ Protreatyite Synonym für Freistaatler, Anhänger des anglo-irischen Vertrages Provisional Parliament of im treaty vorgesehene verfassungsgebende VerSouthern Ireland sammlung für den Freistaat, „dritter Dail Eireann“ Provisorische Regierung im treaty vorgesehene Übergangsregierung, Januar – Dezember 1922 Public Safety Act Ausnahmegesetze vom September 1922, erneuert: August 1923 Repeal Forderung von Daniel O’Connells Repeal Association nach Aufhebung der Union zwischen England und Irland, 1840er Republican Supreme Court letzte Instanz der irischen Untergrundgerichte 1919–1922 Restoration of Order britische Sondergesetzgebung während des in Ireland Act Unabhängigkeitskrieges Rialtas Sealadach „Provisional Government“ na hEireann Royal Irish Constabulary RIC, bewaffnete britische Polizeieinheit in Irland Sackville Street siehe: O’Connell Street Saorstat Eireann 1919–1921 „irische Republik“, nach 1922 „irischer Freistaat“ Sechsundzwanzig Gebiet des (späteren) Freistaats und der heutigen Counties Republik Irland Sechs Counties tendenziell abwertendes Synonym für „Nordirland“ Seoinini Kriecher, Nächäffer britischer Sitten Shan van Vocht anglisierte Form von „Sean Bhean Bhocht“, „arme alte Frau“, Personifizierung Irlands Sinn Fein „Wir selbst“, „Unsere Sache“, 1905–1916 Plattform für radikalen Kultur- und Wirtschaftsnationalismus, 1916–1921 nationale und republikanische Sammlungsbewegung, 1923–1926 vertragsablehnende Plattform, nach 1926 Partei eines doktrinären Republikanismus Soviets von Arbeitern besetzte, als Kooperative weitergeführte Betriebe
554 stepping-stone stepping-stoner St. Patrick’s Day Suffolk Street 23 Supreme Council, IRB Tailteann Games
Temperance Bewegung Trade Union Congress Travellers Treaty Truceleer
Ulster
United Irish League United Irishmen Unionisten Ulster Volunteer Force war record Young Ireland
H. Anhang These, der treaty wäre nur ein Sprungbrett zur Republik Anhänger der steppingstone-These siebzehnter März, (zunächst inoffizieller) irischer Nationalfeiertag Propagandazentrale von Sinn Fein, später der Vertragsgegner Führungsebene der IRB Sportfest im Freistaat 1924–1932, beruft sich auf Spiele der gälischen Frühzeit um 1600 vor Christus Bewegung für Enthaltsamkeit (vom Alkohol) Verband der irischen Gewerkschaften nicht seßhafte irische Volksgruppe anglo-irischer Vertrag; eigentlich „Articles of Agreement“ auch „Trucer“, abwertend für Aktivisten, die erst nach dem Waffenstillstand (Truce) mit Großbritannien in die IRA eingetreten waren die neun nördlichen Grafschaften Irlands, auch aufwertendes Synonym für die sechs unionistisch kontrollierten Grafschaften Nordirlands von Home Rule kontrollierter nationaler Vereine nationalistische Bürgerwehr und Träger der Revolution von 1798 Anhänger der irischen Union mit England protestantische, unionistische Bürgerwehr Ulsters aufwertend für Verdienste eines Aktivisten, der direkt an der Revolution teilgenommen hatte nationalistische Bewegung der 1840er
555
II. Organisation von Propaganda und Pressekontrolle
II. ORGANISATION VON PROPAGANDA VERTRAGSBEFÜRWORTER
UND PRESSEKONTROLLE DER
Armee
Dail Eireann
1921 September Oktober November Dezember
seit 1919: IRA Publicity Department Piaras Beaslai
seit 1919: Dail Eireann Ministry for Publicity Desmond FitzGerald, Erskine Childers
1922 Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember 1923 Januar Februar März April
ab 8. 1. 1922: protreaty IRA Publicity Department Piaras Beaslai
ab 11. 1. 1922: Dail Eireann (protreaty) Ministry for Publicity
ab 29. 6. 1922: Military Censorship Office Piaras Beaslai
Desmond Fitzab 29. 6. 1922: Gerald National Army Publicity Department Hugh Smith unter Piaras Beaslai ab ca. 20. 10. 1922: Department for Military Statistics Hugh Smith unter Eamon Price
Provisional Government/Executive Council
ab 27. 1. 1922: Press Room Department Mr. Spillane unter Desmond FitzGerald ab 30. 8. 1922: Publicity Department des Außenministeriums Desmond FitzGerald ab ca. 1. 2. 1923: Publicity Department des Außenministeriums Sean Lester unter Desmond FitzGerald
bis ca. 20. 11. 1922
556
H. Anhang
III. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ABKÜRZUNGEN IM TEXT CID CPI DMP GHQ GPO ICA ILPUC IRA IRB ISDL ITGWU OBU RIC WPDL
Criminal Investigation Department Communist Party of Ireland Dublin Metropolitan Police General Headquarters General Post Office Irish Citizen Army Irish Labour Party and Trade Union Congress Irish Republican Army Irish Republican Brotherhood Irish Self-determination League Irish Transport and General Workers’ Union One Big Union Royal Irish Constabulary Women’s Prisoners’ Defence League ABKÜRZUNGEN IN DEN FUSSNOTEN
AA AOB BP CoCo CP CW/OPS DE DeV EBP EC DFA D/J DNB D/T FGP FLK GP HPP KP
Army Archive Art O’Brien Papers Beaslai Papers Constitution Committee Erskine Childers Papers Civil War/Operations Dail Eireann de Valera Papers Ernest Blythe Papers Executive Council Department of Foreign Affairs Department of Justice Dicitionary of National Biography Department of the Taoiseach Desmond FitzGerald Papers Franciscan Library Killeny Frank Gallagher Papers Horace Plunkett Papers Hugh Kennedy Papers
III. Abkürzungsverzeichnis
LP Memo MI/PR MNP MP MS MSW NAI NHI NLI NMI OBP OMP PG PG/IFS re RP TCD TMSW UCD WOB
557
Patrick Little Papers Memorandum Military, Press-Files Eoin MacNeill Papers Richard Mulcahy Papers Manuskriptsammlung Mary MacSwiney Papers National Archive of Ireland New History of Ireland National Library of Ireland National Museum of Ireland Lily O’Brien Papers Ernie O’Malley Papers Provisional Government Provisional Government and Irish Free State Political Matters regarding James Ryan Papers Trinity College Dublin Terence MacSwiney Papers University College Dublin William O’Brien Collection
558
H. Anhang
IV. BIBLIOGRAPHIE 1. QUELLENVERZEICHNIS a) Gedruckte Quellen Parlamentsdebatten DAIL EIREANN (Hrsg.), Official Report: Parliamentary Debates 1919–21, Private Sessions. Dublin o.J (1923). DAIL EIREANN (Hrsg.), Official Report: Parliamentary Debates 1922–23, (Volume I–V). Dublin o.J (1923). DAIL EIREANN (Hrsg.), Official Report: Debate on the Treaty between Great Britain and Ireland, signed in London on the 6th December 1921. Dublin o.J. HOUSE OF COMMONS (Hrsg.), Parliamentary Debates: Official Report, fifth seriesvolume 155. London 1922. Briefwechsel ENGLISH, RICHARD (Hrsg.), Prisoners: The Civil War Letters of Ernie O’Malley. Swords 1991. FITZGERALD, DESMOND (Hrsg.), Briefwechsel Mable FitzGerald – George Bernhard Shaw, in: DESMOND FITZGERALD, The Memoirs of Desmond FitzGerald, 1913–1916. London 1968, S. 181–198. JEFFARIES, ALEXANDER NORMAN und ANNA MACBRIDE WHITE (Hrsg.), Always Your Friend. The Gonne – Yeats Letters 1893–1938. London 1992. Photobände MORRISON, GEORGE, The Pictorial Record, in: COOGAN, TIM PAT und GEORGE MORRISON, The Irish Civil War. London 1998, S. 1–283. MCREDMOND, LOUIS (Hrsg.), Ireland the Revolutionary Years. Photographs from the Cashman Collection. Ireland 1910–1930. Dublin 1992.
b) Zeitungen, Zeitschriften, Propagandablätter1 An Claidheamh Soluis, 1913–1916 (Organ der Gaelic League) An Poblacht na hEireann, 1922 (halboffizielles Organ des politischen Republikanismus, antitreaty) An Poblacht-Scottish Edition, 1922 (Propagandablatt, antitreaty) An Poblacht-Southern Edition, 1922 (Propagandablatt, antitreaty) An Poblacht-War News, 1922–1923 (Propagandablatt, antitreaty) An tOglach, 1918–1924 (vor 1922 IRA-Organ, dann protreaty) Belfast Newsletter, 1922–1923 (Belfaster Tageszeitung, unionistisch) 1
Wo nicht anders vermerkt, handelt es sich um Bestände der National Library of Ireland. In Klammern habe ich die jeweilige Tendenz angedeutet.
IV. Bibliographie
559
Catholic Bulletin, 1914–1926 (monatlich, vor 1922 republikanisch, „national unity“, antitreaty, katholisch) Clare Champion, 1922–1923 (Provinzblatt, erst protreaty, dann neutral, dezidiert „national unity“) Connaughtman, 1922 (Provinzblatt, antitreaty) Cork Constitution, 1922 (Provinzblatt, unionistisch) Cork Examiner, 1922–1926 (Corker Tageszeitung, „national unity“, protreaty) Daily Bulletin, 1922–1923 (tägliche Pressemitteilung der republikanischen Gegenregierung) Daily Herald, 1922–1923 (Londoner Tageszeitung, liberal) Daily Telegraph, 1922 (Londoner Tageszeitung, konservativ) Donegal Vindicator, 1922–1923 (Provinzblatt, erst protreaty, „national unity“, dann antitreaty) Drogheda Independent, 1922–1923 (Provinzblatt, gemäßigt national, protreaty) Dublin Doings, 1923 (inoffizielle wöchentliche Pressemitteilung der Freistaatsregierung) Dublin News, 1922 (Propagandablatt, antitreaty) Dundalk Democrat, 1922–1923 (Provinzblatt, gemäßigt national, dezidiert protreaty) Eire, 1914, 1923 (1914 Propagandablatt, Sinn Fein, 1923 halboffizielles Propagandablatt des politischen Republikanismus, antitreaty) Evening Herald, 1922–1923 (Abendblatt der Irish-Independent-Gruppe) Evening Telegraph, 1922–1923 (Abendblatt der Freeman-Gruppe) Fenian, The, 1922 (Propagandablatt, antitreaty) Fainne an Lae, 1922–1923 (Organ der Gaelic League), in: TCD, Early Printed Books Freedom, 1922 (Propagandablatt, antitreaty) Freeman’s Journal, 1916–1924 (Dubliner Tageszeitung, Home-Rule, dann gemäßigt national, dezidiert protreaty) Free State, 1922 (offizielles Regierungsorgan, protreaty) Galway Observer, 1922–1923 (Provinzblatt, gemäßigt national, dezidiert protreaty) Heads up, 1922 (antitreaty, Flugblatt) Ireland over all, 1922 (Propagandablatt, dezidiert antitreaty) Iris an Arim, 1922 (Propagandablatt der protreaty Truppen) Irish Bulletin, 1919–1921 (offizielle Pressemitteilung Dail Eireanns, 1919–1921) Irish Ecclesiastical Record, 1922–1923 (offizielles Organ der katholischen Kirche Irlands) Irish Field, 1922–1923 (Sportblatt der Irish-Times-Gruppe) Irish Homestead, 1922–1923 (Organ der Agrarkooperativen, anglo-irisch, liberal) Irish Independent, 1916–1926 (größte Dubliner Tageszeitung, national, protreaty) Irish People-War Special, 1922 (Propagandablatt, protreaty) Irish Times, 1916–1926 (Dubliner Tageszeitung, unionistisch, protreaty) Irish Statesman, 1923–1924 (anglo-irisch, liberal, aber offen für Beiträge aller politischen Strömungen) Irish World, 1922–1923 (irisch-amerikanisches Wochenblatt, antitreaty)
560
H. Anhang
Kerry People, 1922–1923 (Provinzblatt, protreaty, dezidiert „national unity“) Leabhar ba hEireann, 1921 (Jahrbuch, feministisch, nationalistisch) Limerick Chronicle, 1919–1923 (Provinzblatt, unionistisch) Limerick Leader, 1919–1923 (Provinzblatt, protreaty, dezidiert „national unity“) Limerick Weekly Echo, 1922 (Provinzblatt, protreaty) Mayo News, 1922–1923 (Provinzblatt, erst protreaty, dann neutral, dezidiert „national unity“) Misneach, 1922 (Organ der Gaelic League) in: TCD, Early Printed Books Munster News, 1919–1923 (Provinzblatt, protreaty, dezidiert „national unity“) Nation, The, 1922 (Propagandablatt, antitreaty) Nationalist, 1922–1923 (Provinzblatt, erst dezidiert protreaty, dann protreaty, „national unity“) New Ireland, 1919–1923 (Propagandablatt, vor 1922 republikanisch, dann antitreaty, „national unity“) Plain People, 1922 (Propagandablatt, antitreaty, republikanisch-sozialistisch) Republican Leader-Wicklow, 1923 (Propagandablatt, antitreaty) Republican War Bulletin, 1922 (Propagandablatt, antitreaty) Roscommon Messenger, 1922–1923 (Provinzblatt, gemäßigt national, protreaty) Round Table, The, 1921–1925 (britisch, liberal) Shan van Vocht, 1900 (feministisch, nationalistisch) Separatist, 1922 (Propagandablatt, protreaty) Sinn Fein, 1923–1926 (Propagandablatt, antitreaty) Sligo Champion, 1922–1923 (Provinzblatt, dezidiert protreaty) Skibbereen Eagle, 1922 (Provinzblatt, unionistisch) Southern Bulletin, 1923 (Propagandablatt, protreaty) Sport, 1922–1923 (Sportblatt der Freeman-Gruppe) Straight Talk, 1922 (Propagandablatt, antitreaty) Sunday Independent, 1919–1926 (Sonntagsblatt der Irish-Independent-Gruppe) Tirconnaill War Bulletin, 1922 (regionales Propagandablatt, antitreaty), in: UCD, FGP, P80/736 Truth-War Issue, 1922 (Propagandablatt, protreaty) United Irishman, 1923 (Propagandablatt, protreaty) Voice of Labour, 1919–1924 (Organ der ITGWU, sozialistisch, „national unity“, protreaty) Worker’s Republic, 1921–1923 (antitreaty, kommunistisch) Young Ireland, 1917–1922 (im Unabhängigkeitskrieg republikanisch, dann protreaty) Watchword of Labour, 1919 (Propagandablatt im Unabhängigkeitskrieg, sozialistisch) Waterford News, 1922–1923 (Provinzblatt, erst protreaty, dann neutral, dezidiert „national unity“) Weekly Freeman and Nationalist Press, 1916–1926 (Wochenblatt der FreemanGruppe) Weekly Independent, 1916–1926 (Wochenblatt der Irish-Independent-Gruppe)
IV. Bibliographie
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Weekly Irish Times, 1916–1926 (Wochenblatt der Irish-Times-Gruppe) Western People, 1922–1923 (Provinzblatt, protreaty, dezidiert „national unity“) Wexford People, 1922–1923 (Provinzblatt, protreaty, dezidiert „national unity“) World Pictorial News, 1922 (britische Illustrierte)
c) Archivalien2 Army Archive Aktenbestände aus: Civil War/Operations (AA, CW/OPS) IRA-Files (AA, IRA) Military, Press-Files (AA, MI/PR) Eason’s Private Archive Akten und Unterlagen der Firma Eason & Son (Eason’s Archive) Franciscan Library Killeny Personal Papers von: Eamon de Valera (FLK, DeV) National Archive of Ireland Aktenbestände aus: Dail Eireann Correspondence (NAI, DE Correspondence) Dail Eireann Files (NAI, DE Files) Dail Eireann Minutes (NAI, DE Minutes) Department of Foreign Affairs (NAI, DFA) Department of Foreign Affairs, Provisional Government and Irish Free State Political Matters (NAI, DFA, PG/IFS) Department of Justice (NAI, D/J) Department of the Taoiseach, Constiution Committee (NAI, D/T, CoCo) Department of the Taoiseach, S-Files (NAI, D/T, S-) Executive Council Minutes (NAI, EC Minutes) Provisional Government Minutes, (NAI, PG Minutes), Sinn Fein Files (NAI, Sinn Fein, 1094/) Personal Papers von: Robert Barton (NAI, Robert Barton, 1093/) National Library of Ireland Personal Papers von: Piaras Beaslai (NLI, BP) Art O’Brien (NLI, AOB) Allgemeine Manuskriptsammlung (NLI, MS) 2
In den Fußnoten verwendete Abkürzungen in Klammern.
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H. Anhang
Flugblattsammlung: William O’Brien Collection (NLI, WOB, L.O., P117) National Museum of Ireland Permanente Ausstellung „1916“ Trinity College Dublin – Early Printed Books Flugblatt- und Pamphletsammlung: Samuels, Arthur Warren, A Collection of Printed Ephemera of the 1916 Rebellion, World War I., the War of Independence and the Civil War (TCD, Early Printed Books, Samuels Collection) Trinity College Dublin – Long Hall Proclamation of the Republic, Easter 1916 Trinity College Dublin – Manuscripts Department Personal Papers von: Erskine Childers (TCD, CP) Frank Gallagher (TCD, GP) University College Dublin, Archives Department Personal Papers von: Ernest Blythe (UCD, EBP, P24/) Desmond FitzGerald (UCD, FGP, P80/) Hugh Kennedy (UCD, KP, P4/) Patrick Little (UCD, LP, P28/) Eoin MacNeill (UCD, MNP, LA/) Mary MacSwiney (UCD, MSW, P48a/) Terence MacSwiney (UCD, TMSW, P48b/) Richard Mulcahy (UCD, MP, P7/) Lily O’Brien (UCD, OBP, P13/) Ernie O’Malley (UCD, OMP, P17a/) Horace Plunkett (UCD, HPP, P27) James Ryan (UCD, RP, P88)
IV. Bibliographie
563
2. ZEITGENÖSSISCHE WERKE UND FORSCHUNGSLITERATUR ADAMS, HAZARD, Yeats, Joyce and Criticism Today, in: AUDREY S. EYLER und ROBERT F. GARRAT (Hrsg.), The Uses of the Past. Essays on Irish Culture. Delaware 1988, S. 64–75. ADAMS, MICHAEL, Censorship, the Irish Experience. Alabama 1968. AKENSON, DONALD HARMAN, Small Differences: Irish Catholics and Irish Protestants, 1815–1922. Kingston/Montreal 1988. AKENSON, DONALD HARMAN und J. F. FALLIN, The Irish Civil War and the Drafting of the Irish Free State Constitution, in: Eire/Ireland, V, 1 (1970), S. 10–26, V, 3, (1970), S. 42–93, V, 4, (1970), S. 28–70. ALTER, PETER, Symbols of Irish Nationalism, in: Studia Hibernica, 14, (1974), S. 104–123. ANDERSON, BENEDICT, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Frankfurt 1988 (erstmals 1983). ANDERSON, WILLIAM K., James Connolly and the Irish Left. Blackrock 1994. ANDREWS, CHARLES STEWART, Dublin Made Me. An Autobiography. Cork 1979. ARNOLD-BAKER, CHARLES (Hrsg.), The Companion to British History. Turnbridge 1996. ASSMAN, JAN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: DERS. und TONIO HÖLSCHER, (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis. Frankfurt 1988, S. 9–19. AUGHEY, ARTHUR, Under Seige: Ulster Unionism and the Anglo-Irish Agreement. London 1989. AUGSTEIJN, JOOST, The Importance of Being Irish. Ideas and the Volunteers in Mayo and Tipperary, in: DAVID FITZPATRICK (Hrsg.), Revolution? Ireland 1917–23 (= Trinity History Workshop Publications, 3). Dublin 1990, S. 25–42. BAKER, KEITH MICHAEL (Hrsg.), Ideologische Ursprünge der Französischen Revolution, in: CHRISTOPH CONRAD und MARTINA KESSEL (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Stuttgart 1994, S. 251–282. BAKER, KEITH MICHAEL (Hrsg.), The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture. Bd. 1. The Political Culture of the Old Regime. Oxford 1987. BARRY, TOM, The Reality of the Anglo-Irish War 1920–21 in West Cork: Refutations, Corrections and Comments on Liam Deasy’s Towards Ireland Free. Tralee 1974. BARRY, TOM, Guerilla Days in Ireland. Dublin 1949. BAUER, FRANZ, Gehalt und Gestalt in der Monumentalsymbolik. Zur Ikonologie des Nationalstaats in Deutschland und Italien. München 1992. BEASLAI, PIARAS, Michael Collins and the Making of a New Ireland. 2 Bde. Dublin 1926. BECKETT, JAMES CAMLIN, The Anglo-Irish Tradition. London 1976. BECKETT, JAMES CAMLIN, The Making of Modern Ireland, 1603–1923. London 1966.
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V. ABSTRACT The Irish Civil War of 1922/23 drives social historians to despair. After the Anglo-Irish Treaty of 1921 the national movement, which until then had seemed monolithic, broke apart to such an extent that within a few months former comrades were fighting one another in an increasingly bitter war. Yet there do not seem to be any “objective” reasons for this. Political or social conflicts, though they undoubtedly existed, did not cause the Irish Civil War. At the heart of the conflict was the collapse of the political culture of Ireland’s revolutionary elite. After the Easter Rising of 1916 and during the War of Independence “republic” had developed into a mass concept of Irish nationalism that guaranteed national unity. There were two sides to this. For the majority of the highly politicised Catholic population and a section of the revolutionary elite “a republic” was a synonym for self-determination – an integrative slogan also designed to achieve material political goals. For the more radical nationalists “the Republic” was a political faith, the central fiction (Geertz), beginning and end of their political thinking. It was thought of as the teleological end of Irish history and the antithesis of Crown and Empire. While the struggle against the common enemy continued there was no contradiction between these two versions of republic, and no political wings developed: for most nationalists the two concepts ran parallel to one another. After the compromise with England the Republicans followed the lessons of the historical law of Irish history they and their forerunners had created before 1916 and prepared themselves for renewed self-sacrifice. The idea of swearing an oath of allegiance to the British king, the enemy incarnate, lay beyond their scope for political thought. What is rather extraordinary from the point of view of 1921 is what the more pragmatic revolutionaries achieved. They relativised the revolutionary demand for asceticism, redefined their version of nationalism and thereby fulfilled their potential for social and political advancement. They tried to seize state power. So the Irish Civil War became a struggle over how Irish history might legitimately be continued. It was a war over conflicting definitions of what was politically, indeed morally, good and evil. Along with an apparently sober, military realpolitik, the struggle for national legimation became the crucial sphere in which the war was fought: who was national, i.e. Irish, who was anti-national, i.e. British? The symbolic and cultural conduct of the war went far beyond distributing printed propaganda. The Republicans staged the outbreak of war as a
V. Abstract
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national freedom fight, more precisely as a re-enactment of 1916. They invented a “front” in Munster, and by means of hunger strikes, executions, and activists “shot trying to escape” placed themselves in the tradition of republican martyrology. The case of Erskine Childers demonstrates how a republican hero’s death was planned and presented in every detail. Although militarily and organisationally inferior, the Republicans thus managed to seize without interruption sections of the national tradition. This called the legitimacy of the Free State leadership into question, despite their increasingly professional propaganda and censorship methods. Pragmatically orientated towards military success they had to resort to methods that the national tradition clearly defined as “British”: tanks, artillery, bayonettes, prisons, executions. In order to defuse this crisis of legitimacy the pro-Treatyites invented a modified version of the Republican law of history. They nationalised the concept of “majority rule” adopted from the British, and made the sovereignty of the people the focus of a sevenhundred-year war of national liberation. They then declared the civil war to be a revolt against the national government. The Catholic bishops allied to the pro-Treaty cause also supported this version when in autumn 1922 they excommunicated the entire IRA, thus giving the Free State a much-needed spiritual quality, the blessing of the Catholic, i.e. national faith. The Free State leaders also used political symbols and symbolic policy to defend the national legitimacy of their state: they disputed the tricolore and the revolutionary hymn with the Republicans, turned British tanks, British pillarboxes and British uniforms green, produced national stamps, gaelicised their names and the political nomenclature, purged the justice system of British symbols and promoted Gaelic sport and culture. They staged a fictitious foreign policy in order to construct national sovereignty, and state funerals to establish their links with the tradition of national martyrs. But the Free State leadership’s crucial advantage in terms of legitimacy was its monopoly on national realpolitik: first the withdrawal of British troops, then the founding of a largely autonomous (part-)state and a cultural and domestic policy that could be declared national. In terms of realpolitik the Republicans could not compete with this. Only a few activists discussed social-revolutionary concepts. The hope that the population, inspired by Republican self-sacrifice, would return to its “true allegiance” was not fulfilled. De Valera’s numerous and largely futile attempts in the direction of realpolitik show how the Republican dogma restricted both ideas and actions until well after the civil war. This book looks inside the heads of the people involved. It examines how the “fictional” and “factual” levels of the civil war mutually influenced and
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H. Anhang
merged with one another. It shows how scope for thought and action was driven, determined and blocked by the other as the Free Staters sought national legitimation and the Republicans a political strategy. Thus the inner logic of the conflict emerges. I still cannot offer any objective causes – because, I fear, none exist.
VI. Register
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VI. REGISTER1
Ahern, Julia 462 Aiken, Frank 380, 434, 428, 496, 522 Albert, Father 313, 316, 368 Andrews, Charles Stewart 173, 264, 528, 529 Anthony, R.S. 243 Aquin, Thomas von 316 Ashe, Thomas 120, 457–459, 462 Ballyseedy 384–386, 513, 518 Barret, Richard 371, 414 Barry, Dinney 528 f. Barry, Eileen, 427 Barry, Kevin 120, 143, 307, 313, 337 f., 351, 390, 427 Barry, Tom 108, 205 f., 261, 294, 434 Barton, Robert 41 f., 63, 129, 156, 210, 342, 354, 470 Baudelaire, Charles 92 Beaslai, Piaras 33, 47–49, 50 f., 53 f., 58, 62, 67 f., 75, 78, 82, 89, 91 f., 116, 124 f., 135, 144 f., 149, 153, 159, 175, 180, 192, 195, 206 f., 210, 218–221, 223–230, 234 f., 237 f., 240–242, 244 f., 247–250, 252, 254–257, 262, 266, 278 f., 280–292, 300, 325, 327, 337, 365, 411, 454, 462, 468 f., 470, 471, 481, 485, 526, 546, 555, 96 Belfast 58, 60, 166, 182, 187 Blacam, Aodh de 307, 404, 470, 499 Blasket Islands 93, 544 Blythe, Ernest 63, 94, 153, 165, 202, 471 Boland, Harry 48, 56 f., 143, 259, 323, 333–334, 335–339, 342, 344, 368, 377, 456, 458, 461, 489, 518, 531 Breen, Dan 57 Brennan, Michael 328 f. Brennan, Robert 33, 144, 145, 147 f., 153, 206, 213, 296–300, 343 f., 353, 356, 369, 387, 394, 422, 427, 484, 496, 498, 500–502, 522, 545 Bretherton, W. H. 34, 150–151, 169, 199, 359, 374, 480, 484 f. Brixton 120 Brugha, Cathal 42, 52, 55 f., 72, 78, 130, 147, 149, 323, 329–330, 331–332, 336,
338 f., 342, 344, 354, 368, 375, 377, 416, 456, 458, 461, 470 f., 489, 495, 518, 529, 531 Burbage, Father 495 Byrne, Erzbischof 319, 371, 396, 437 Cahersiveen 384 f. Caird, Andrew 486 Cambridge 61, 147 Carr, Mary 515 Carson, Sir Edward 13, 28 Casement, Sir Roger 13, 28 Ceannt, Eamon 87 Charleville 269 Childers, Erskine 33, 52, 54, 63, 130, 144 f., 147–148, 150, 153, 156, 159, 168, 206, 210–211, 213 f., 233, 282, 297, 312, 323, 339–369, 374 f., 377 f., 385 f., 390, 392, 396, 419, 422, 452 f., 456, 462, 469 f., 492, 503, 518 f., 522, 525, 528, 539 f., 552 Childers, Erskine Hamilton 546 Childers, Mary ‚Molly‘ 210, 343 f., 352–355, 366, 392, 462, 522, 529 f. Christus 103, 312, 338 Churchill, Sir Winston 261 Clancy, George 335 Clare 39, 59, 181, 249, 302, 344, 502, 506, 513 Clarke, Kathleen 133, 354, 392, 427 Clarke, Thomas 39, 87, 351, 390 Clifden 216 Clonmel 181, 183, 215 Cohalan, Bischof 54, 56, 395 Collins, Michael 13, 34, 41 f., 43, 44 f., 48 f., 52, 54 f., 57, 76, 79, 133, 152, 160, 163, 169–171, 188, 190 f., 197 f., 201 f., 204, 212, 219 f., 223 f., 230, 232, 235 f., 246, 255, 259, 264, 275, 279, 283 f., 286–290, 292, 333–335, 337, 342, 362, 374, 405 f., 448, 452–464, 469, 487, 489, 503, 513, 516, 531, 543, 552 Collins, Sean 288 Colmcille 316 Comyn, Michael 34, 337, 343–344, 345–350, 369, 394, 444, 495 f., 525 Connaught 59, 76, 82, 130
1 Fettgedruckte Zahlen verweisen auf einen biographischen Abriß zur jeweiligen Person
594
H. Anhang
Connolly, James 67 f., 71, 87, 105, 115, 120, 314, 330, 351, 376 f., 386, 390, 400, 405, 421, 495, 503, 527, 529 Connolly, Joseph 495, 496 Connolly, Roddy 400, 402–404, 407, 409, 420, 427, 462, 523 Corcoran, Timothy 142 Cork 43, 58, 59, 130, 139–141, 202, 211, 213–218, 233, 243, 269, 335, 361, 391, 411, 433, 452, 458 f., 492, 502, 510, 512 f., 513, 517 Cosgrave, Liam 34, 42, 78, 222, 236, 241, 276, 303, 310, 319, 371, 396, 437, 465, 467, 486, 492, 533 Countess Bridge 384 Coyne, Bischof Dr. 309 Craig, James 170 Croke Park 143, 467 Cromwell, Oliver 13, 28, 186, 259 Cross Barry 119, 143, 205, 380 Cuchulain 97, 103, 467 Curragh 525, 528 Dalton, Emmet 249 f., 260 f. Daly, George 495 Davis, Thomas 113 Davitt, Michael 101 Deasy, Liam 370, 380–384, 387, 412, 417, 431, 484, 529 Derrig, Tom 380 Derry 58 Despard, Charlotte 326 f., 470 Devoy, John 54, 56, 466 Dingle 93, 94, 535 Dominic, Father 316 Donnelly, Eamon 502 Doyle, Seamus 190 Dromboe 378 Dublin, 37, 39, 41, 43 f., 47, 49, 58–61, 67 f., 78, 80, 82, 90, 92, 94, 105–107, 138, 144, 148, 152, 182 f., 187 f., 211–213, 221, 223, 226, 230, 239, 242, 263, 265 f., 267, 272, 289, 294, 296–300, 325–327, 329 f., 361, 416, 424, 427 f., 448, 463, 467, 483 f., 491 f., 501, 503, 509, 510 f., 513 f., 517, 541 Duffy, Gavan 41, 303, 363, 444–446 Duggan, Eamon 41 Dun Laghoire 228, 485 Dundalk 223 Eason, Charles 228, 229–230, 238 f. Elisabeth I 13, 28
Emmet, Robert 101, 105, 331, 351, 390, 455 Engels, Friedrich 405 Ennis 502, 504 f. Etchingham, Sean 147, 182, 190 Eton 324 Fahy, Frank 190, 495 f. Fermoy 461 Figgis, Darrel 200–202, 446 FitzGerald, Desmond 33, 91 f., 93 f., 96, 105, 107, 110, 118, 144 f., 148, 151–153, 161 f., 164 f., 169, 206, 210, 217, 219, 221–225, 230, 235, 241 f., 255, 258, 265, 283, 303, 320, 327, 346, 359 f., 362 f., 365 f., 373, 433 f., 448, 471, 473 f., 479 f., 481, 483 f., 489, 515, 555 FitzGerald, Garret 92 FitzGerald, Mable siehe: Mable McConnell FitzGerald, Martin (Besitzer des Freeman) 139, 241 FitzGerald, Martin (Hungerstreik-Märtyrer) 462 French, Lord 259, 326 f. Freud, Sigmund 357 Gaeltacht 90–94 Gallagher, Frank 33, 144–145, 147 f., 153, 156, 206, 211, 213, 297, 355, 366, 433, 462, 522, 524, 530, 545 Gallagher, Roland 433 Galtee 102 Georg V. 347, 349, 451, 453, 462 George, David Lloyd 42 Ginnell, Laurence 276 f. Glasgow 428 Glasnevin 458, 462, 466, 468, 489 Gleann na gCreabhar 102 Glendalough 147 Goethe, Johann Wolfgang von 366 Gonne, Maud 63, 86, 89, 96, 326, 354, 471 Gray, H. E. 229 Greenwood, Hamar 259 Gregory, Lady 86 Griffith, Arthur 34, 39, 41 f., 43, 45, 52, 54, 68 f., 73, 78 f., 84, 88, 103, 107 f., 122, 129, 143, 153, 157, 160 f., 163, 174, 194–197, 239, 257, 275, 405, 421, 426, 450, 453–456, 458 f., 461 f., 464, 487, 491, 503, 531 Hagan, John 318 Hales, Sean 45, 57, 370
VI. Register Hales, Tom 57, 190 Hayden-Talbot, Mr. 286 f. Hayes, Michael 470 Healy, John Edward 258, 492 Healy, Timothy 474, 486 Hegarty, Sean 190 Hobson, Bulmer 112 Hogan, Patrick 165 Hooper, Patrick J. 139, 241, 481 Howth 147, 552 Hyde, Douglas 85 f., 471 Ingram, John Kells 117 Johnson, Thomas 69 f., 303, 385, 400 Kay, A. B. 187 f. Kearney, Peadar 113, 448, 462 Kempis, Thomas A. 312 Kennedy, Hugh 34, 221 f., 223, 236, 292, 327, 343 f., 437, 444, 468 Kennedy, John F. 452 Kerry 48, 92 f., 370, 384–386, 511, 513, 544 Kieran, Kitty 334 Kildare 59 Kilmichael 119, 143, 205 Knocknagashel 384 Lacey, Dinney 181, 190, 216 Lalor, Finton 400 f., 421 Lankford, Siobhan 188, 530 Larkin, James 67, 72, 404, 523 Leinster 59, 77, 294, 510 f., 513, 517 Lenin 401, 405 Lester, Sean 240, 292, 401, 405, 448, 481–483, 492–494, 555 Limerick 39, 58 f., 183, 191, 196, 216, 267, 328 f., 335 Limerick Junction 182 Little, Patrick 149, 425 Liverpool 47 Logue, Kardinal 319, 396, 527 London 41, 43, 54, 90 f., 93–95, 211, 240, 402, 408, 427 Luzio, Monsignore 318–322, 474, 542 f. Lynch, Liam 34, 56, 102, 111, 133, 170, 190, 215, 264, 294 f., 297 f., 338, 346, 349, 370 f., 375–377, 380–382, 385, 409 f., 412–416, 423 f., 428, 432, 434 f., 438, 461 f., 484, 503, 541 Lynn, Kathleen 495
595
Macardle, Dorothy 385 MacBride, John 96, 354 MacBrien, Mr. 285 McConnell, Mabel (verh. Mable FitzGerald) 92, 94, 534, 545 McCormack, John 466 Mac Cumhaill, Fionn 142, 551 MacCurtain, Thomas 120, 143, 335, 391, 459 MacDermott, Sean 87, 456 MacDonagh, Joseph 87, 147, 422 McEntee, Harry 454 Mac Eoin, Sean 194 f. McGarrity, Joseph 56 MacGarry, Sean 414 McKee, Dick 459 McKelvey, Joe 371, 373, 414 MacManus, Terence 457 Macnamara, Familie 96 MacNeill, Brian 333 MacNeill, Eoin 57, 112, 153, 161, 177, 312, 332, 449, 471, 513 Macready, Sir Nevil 249 f., 259 f., 347, 454, 462 f. MacSwiney, Anne 393 f. MacSwiney, Mary 33, 64, 122, 125 f., 143, 147 f., 168, 182, 189, 213, 277, 281, 307, 312, 314, 324, 341, 355, 383, 387, 390–391, 392–399, 404, 418, 427, 430 f., 433, 436, 438, 488, 494, 496–499, 501, 503, 521 f., 525, 544, 546 f. MacSwiney, Muriel 392 MacSwiney, Terence 120, 124, 143, 176, 312, 316, 331, 355, 368, 391, 395–397, 457–459, 503, 518 f., 524–527, 530 Magennis, Peter 318 f. Magennis, William 479 Mannix, Erzbischof 317 f., 321 f., 433, 440, 453, 542 Maria, St. 133, 313, 316 Markievicz, Constanze de 52, 63, 72, 130, 147, 189, 392, 404, 406, 462, 496, 501 Marx, Karl 405, 408 Mayo 294 Mellows, Liam 56–57, 71 f., 74, 147, 189 f., 351, 371, 373, 377, 390, 400, 404, 407–410, 414, 420–422, 426, 456, 462, 503, 518, 523, 525 Memory, F. W. 484 f. Millevoye, Lucien 96 Milroy, Sean 153, 544 Mitchel, John 13, 28, 101, 324 Molière, Jean-Baptiste
596
H. Anhang
Moore, Thomas 448 Moran, Denis Patrick 85, 103 Moses 455 Mulcahy, Richard 15, 24, 34, 55 f., 164, 190, 197, 275, 276, 279 f., 283, 289 f., 310, 357, 360, 381, 385, 396 f., 457 f., 460, 463 Munster 41, 44, 72, 76, 82, 130, 170, 182, 209, 213 f., 231, 239, 267, 269–272, 298 f., 341 f., 390, 492, 511, 513, 541, 552 Murphy, Charles 419 Murphy, Con 495 Murphy, John R. 238 Murphy, William Martin 140, 425 Nordirland (Ulster) 37 f., 61, 76 f., 87 f., 97, 116, 140, 166–171, 182, 196, 199–200, 229, 241, 294, 374, 535, 551, 553 f. O’Callaghan, Kate 133, 147, 354, 392 O’Casey, Sean 479 O’Connell, Daniel 13, 28, 455, 553 O’Connell, J. J. ,Ginger‚ 44, 112, 234 O’Connor, C. A. 346–348 O’Connor, Frank 34, 110–113, 127, 213, 269 f., 324, 341 f., 345, 355, 366, 479, 524, 528–532 O’Connor, Rory 57, 158, 177, 190, 258, 263, 316, 338, 371, 373, 377, 414, 419, 426, 456, 462, 503, 518, 551 O’Donnell, Peadar 72, 403, 404 f., 409, 524 O’Donnoghue, Florence 190, 380, 415 O’Donovan Rossa, Jeremiah 103, 355, 457 O’Driscoll, Margaret 76 O’Duffy, Eoin 202, 218 O’Faolain, Sean 34, 100, 127, 155, 213, 315, 379, 383, 498, 522 O’Hegarty, Patrick 153, 388 f., 441, 443, 477 O’Higgins, Brian 447 O’Higgins, Kevin 24, 34, 57, 78, 128 f., 153, 276, 357, 364, 366, 372, 396 f., 429, 437, 488 O’Higgins, Tom 546 O’Kelly, J. J. 142, 147, 149, 331, 469, 471 O’Kelly, Sean T. 147, 190 O’Maille, Patrick 371 O’Malley, Ernie 15, 34, 57, 95, 108, 118, 176, 190, 263, 293 f., 295 f., 298–300, 309, 312, 331, 344, 358, 370, 375–377,
380, 384, 386 f., 469, 485, 488, 496, 503, 522, 524, 527, 529 f. O’Neill, Ignatius 249 O’Neill, Owen Roe 114, 176, 455 O’Rahilly, ‚The‘ 107 O’Shiel, Kevin 304, 344 O’Sullivan, Andrew 528 f. O’Sullivan, Gearoid 283 f., 286 f. Oranien, Wilhelm von (William III) 13, 28, 98 Oxford 61 Paris 467 Parnell, Charles Stewart 13, 28, 455, 533 Patrick, St. 97 Paulus, St. 308 Pearse, Margaret 96, 133, 354, 392 Pearse, Patrick 14, 34, 39, 64, 85–87, 94, 96, 100, 103–106, 112, 115, 126, 133, 174, 177, 252, 262, 264, 313 f., 324, 330, 338, 351, 355, 368 f., 390, 392, 405, 409, 451, 455, 457, 458, 503, 528 Pembroke 58, 92, 148 Petrus, St. 308 Pitt, William 13, 28 Pius XI 316, 318, 319 Plunkett, Count 103, 105, 281 Plunkett, Joseph Mary 87 Plunkett, Sir Horace 147, 413 f. Pound, Ezra 92, 365 Power, Albert 331, 457, 458, 467 Price, Eamon 285 f., 292, 385, 555 Rathgar 58 Rathmines 58, 148 Redmond, John 38, 89, 455 Rimbaud, Arthur 91 f. Rom 97, 318, 320, 473 Russle, George 34, 77f., 86, 92, 110, 142, 161, 312, 328, 329, 430, 445, 527, 532 f., 544 Ruttledge, Patrick 520 Sarsfield, Patrick 455 Shannon, Cathal 141, 282, 303 Shaw, George Bernhard 88, 92, 535, 537, 544 f. Sheehan, Canon 85 Shelley, Percy Bysshe 355 Skerries 334 Sligo 141, 194–196, 216, 309 Smith, Hugh 285, 292, 481, 485, 555 Spillane, Mr. 555
VI. Register Stack, Austin 42, 55 f., 147 Stockley, William 461 Stopford-Green, Alice 76 Strongbow, i. e. Richard FitzGilbert 13, 28, 259, 463 Sullivan, T. D. 113 Synge, John Millington 91 Thukydides 54 Thurles 192–194 Tipperary 59, 214, 294 Tolstoi, Leo N. 270 Tone, Theobald Wolfe 13, 28, 101, 124, 174, 262, 331, 351, 354, 368 f., 390, 392, 408, 455, 464–466, 518, 528 Tralee 93, 271 Traynor, Oscar 263, 330, 462 Tyrone 43
597
54–56, 64, 72, 77 f., 143, 146 f., 149 f., 156–159, 175–179, 182, 189, 191–194, 198, 200, 203, 207, 211, 222, 239, 313, 316 f., 324 f., 333 f., 338, 340 f., 343–346, 350, 356, 362, 367, 369 f., 381–383, 390, 392, 394, 399, 410, 413 f., 416–423, 425 f., 430–440, 461, 465 f., 469, 473, 484, 488, 493–499, 501–507, 513, 516, 518, 520–522, 525, 527, 533, 539, 542, 545–547, 550 Versailles 179
Ulster, siehe: Nordirland
Wall, Father 495 Walsh, James 467 Waterford 58 f., 215 f., 226, 267 Waterville 216 West Cork 384, 511 Wexford 144 Wicklow 147, 340 Wilson, Sir Henry 44, 203 f., 261
Valentia 216 Valera, Eamon de 33, 39, 40, 42–46, 51,
Yeats, William Butler 22, 63, 86, 89, 92, 96, 110, 365, 531–533, 535
598
H. Anhang