Terrorismus und das moderne Selbst: Religiöse Semantiken revolutionärer Gewalt im späten Zarenreich (1860–1917) [1 ed.] 9783666370595, 9783525370599


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Terrorismus und das moderne Selbst: Religiöse Semantiken revolutionärer Gewalt im späten Zarenreich (1860–1917) [1 ed.]
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Vitalij Fastovskij

Terrorismus und das moderne Selbst Religiöse Semantiken revolutionärer Gewalt im späten Zarenreich (1860–1917)

Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit Herausgegeben von Miloš Havelka, Friedrich Wilhelm Graf, Przemysław Matusik und Martin Schulze Wessel

Band 14

Vitalij Fastovskij

Terrorismus und das moderne Selbst Religiöse Semantiken revolutionärer Gewalt im späten Zarenreich (1860–1917)

Mit 6 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Der Druck dieses Buches wurde ermöglicht durch einen Druckkostenzuschuss aus Mitteln des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Internationalen Graduiertenkollegs »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG , Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: »Vergossenes Blut verpflichtet!!« Sozialrevolutionäres Plakat aus der Zeit der Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung (1917). Aus den Beständen des Staatlichen Zentralen Museums für Zeitgeschichte Russlands (GCMSIR GIK 13101/25 - 1). Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0955 ISBN 978-3-666-37059-5

Inhalt 1. Einführung: Die russische Revolutionsbewegung in der »westlichen« Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Ansatz und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.1 Die »Junge Generation« der 1860er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.2 Revolutionärer Terror in den 1860er Jahren . . . . . . . . . . . . . 70 3.3 Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4. Friedliche Propaganda und individueller Terror. Die Revolutionäre der 1870er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.1 Der »Gang ins Volk« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.2 Der Übergang zum Terror. Die späten 1870er Jahre . . . . . . . . . 114 4.3 Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5. Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung. Die Revolutionäre der 1880er Jahre . . . . . . . 147 5.1 Der »Wille des Volkes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.2 Das politische »Martyrium« in der Herrschaftszeit Alexanders III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 5.3 Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 6. Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre in den letzten zwei Dekaden vor der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . 201 6.1 Religion und Atheismus im Marxismus und neonarodničestvo . . 205 6.2 Die »zweite terroristische Welle« (1902–1911) . . . . . . . . . . . . 214 6.3 Das »Untergrundrussland« als Massenbewegung . . . . . . . . . . 242 7. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 8. Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

6 Inhalt Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Archivquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Publizierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Vorträge und Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

1. Einführung: Die russische Revolutionsbewegung in der »westlichen« Geschichtsschreibung Die »westliche« Forschung1 zur Geschichte der Russischen Revolution wird heute für gewöhnlich in drei Etappen eingeteilt: In der Anfangsphase der »westlichen« Russlandforschung (1950er bis 1960er Jahre)2 dominierte die vergleichend angelegte »Totalitarismustheorie«, die jedoch schon in den 1960er Jahren in die Kritik geriet. Die »zweite Etappe« (1970er bis 1980er) war charakterisiert durch die Dominanz sozialhistorischer Ansätze. In den 1990er zeichnete sich schließlich eine »dritte Etappe« ab. Die in den 1980er Jahren aufgekommene Kulturgeschichtsschreibung verlegte nun ihren Forschungsschwerpunkt auf die »Sprache«3 der Revolution. Die Totalitarismustheorie existierte in recht unterschiedlichen Ausprägungen, ihnen allen lag aber die Beobachtung zugrunde, dass die Sowjetunion, wie auch das nationalsozialistische Deutschland, ein monolithisches Ganzes gewesen seien. Einflussreich war Hannah Arendts innovative, vergleichend angelegte Studie aus dem Jahre 1951. Der totale Staat bringt Arendt zufolge eine Gesellschaft »atomisierter Individuen«4 hervor, indem er dem Menschen die Möglichkeit sich zu organisieren und frei zu artikulieren raube. Ideologie und Terror galten Arendt deshalb als wesentliche Elemente totalitärer Herrschaft. Nicht weniger einflussreich war der stark normierende und deskriptiv angelegte Ansatz von Brzezinski und Friedrich. Sie formulierten 1956 die Merkmale totalitärer 1 Die Rede wird hier ausschließlich von der englischsprachigen, vor allem US -amerikanischen, der deutschen sowie der jüngeren (postsowjetischen) russischsprachigen Forschung sein. 2 Die deutsche institutionalisierte Osteuropaforschung ist wesentlich älter als die amerikanischen »Russian studies«. Auf ihre Anfänge im frühen 20. Jahrhundert kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Für einen guten Überblick siehe Schlögel, Karl: Den Verhältnissen auf der Spur. Das Jahrhundert deutscher Osteuropaforschung. In: Osteuropa 2–3 (2013) 3–30. 3 Gemeint ist natürlich nicht die natürliche Sprache, sondern eine bestimmte Sprechund Schreibweise, denn eine »Sprache sensu stricto transportiert keinerlei Ideologie, sie liefert lediglich das Rohmaterial zur Konstruktion von Ideologien«. Da sich jedoch Begriffe wie »Sprache der Revolution« oder »Sprache des Bolschewismus« fest etabliert haben, soll hier weiterhin von Sprache im oben erläuterten Sinn gesprochen werden. Zit. n. Albrecht, Jörn: Europäischer Strukturalismus. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick. 2. Auflage. Tübingen, Basel 2000, 217. 4 Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism. New York u. a. 1976, 407.

8 Einführung Diktaturen in einer Art Katalog5 als Antithesen zu westlich-demokratischen Institutionen und den dahinter stehenden Werten.6 Darauf aufbauend wurden verschiedene Modelle formuliert, denen in der Analyse des historischen Forschungsgegenstandes jedoch unterschiedliches Gewicht beigemessen wurde. Einige Historiker, wie beispielsweise Richard Pipes, sprachen zwar schon 1954 von einem »unitären, zentralisierten, totalitären Staat«7, verliehen aber dem Begriff »Totalitarismus« kein analytisches Gewicht.8 Andere, wie Adam Ulam in einem Aufsatz aus dem Jahr 1955, bemühten sich darum, das Konzept für die sich in dieser Zeit rasch entwickelnde Sowjetforschung fruchtbar zu machen.9 Bei allen Unterschieden schrieben die Arbeiten der 1950er und der 1960er Jahre allesamt eine Geschichte »von oben«: Sie konzentrierten sich auf den Staat, auf bedeutende historische Akteure und ideengeschichtliche Konstrukte. Dabei betonten sie in der Regel die destruktiven Tendenzen der Revolution und suchten in der marxistischen Ideologie und dem politischen Legitimationsdefizit der Bolschewiken nach den Gründen für die revolutionäre Gewalt.10 Folgerichtig wurde in der Partei der Bolschewiken nach totalitären Tendenzen gesucht: Als eine voluntaristische Kaderpartei von disziplinierten Berufsrevolutionären, die keinerlei ideologische Abweichung geduldet habe, wurde Lenins Gruppe zur Keimzelle des Totalitarismus erklärt.11 Dies galt auch für andere historische Akteure der russischen »Oppositionsgeschichte«. So glaubte beispielsweise Yarmolinsky in Road to Revolution (1959) in den politischen Entwürfen des 5 Hildermeier, Manfred: Interpretationen des Stalinismus. In: Historische Zeitschrift 3 (1997) 655–674, hier 658–659. 6 Der totale Staat teilte und herrschte mit Hilfe »einer Ideologie, einer einzigen Partei, die charakteristischerweise von einem einzelnen geführt wird, einer terroristischen Polizei, einem Monopol der Kommunikationsmittel, einem Waffenmonopol und einer zentral gelenkten Wirtschaft«. Friedrich, Carl Joachim / Brzezinski, Zbigniew: Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur. In: Seidel, Bruno / Jenker, Siegfried (Hg.): Wege der Totalitarismus-Forschung. Darmstadt 1974, 600–617, hier 610. 7 So schon im 1954 erschienenem Buch The Formation of the Soviet Union. Pipes, ­R ichard: The Formation of the Soviet Union. Communism and Nationalism, 1917–1923. Cambridge, Mass. 1954, 285. 8 Dies änderte sich erst in den 1990er Jahren. Siehe Gleason, Abbott. Totalitarianism. The Inner History of the Cold War. New York 1995, 289, Fn. 28. 9 Ulam, Adam: Stalin and the Theory of Totalitarianism. In: Simmons, Ernest (Hg.): Continuity and Change in Russian and Soviet Thought. Cambridge, Mass. 1955, 157–171. 10 Auf Letzteres verweist Smith, Stephen: The Historiography of the Russian Revolution 100 Years On. In: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 4 (2015) 733–749, hier 734. Wie groß die Rolle von Ideologie und Terror eingeschätzt wurde, hing dabei vom jeweiligen Forscher ab. So deutete etwa Faindson in seinem für Jahrzehnte einfluss­ reichen Buch How Russia is Ruled (1953) den »Totalitarismus« als eine Art extremen Autoritarismus und räumte der Ideologieanalyse nur wenig Platz ein. Siehe Gleason: Totalita­ rianism 122. 11 Ulam: Stalin and the Theory of Totalitarianism 158–159.

Einführung  9

Dekabristen Pestel einen »zentralisierten, monolithischen, totalitären Staat«12 erkennen zu können, während Billington in einer Michajlovskij-Studie von 1958 eine klare Antithese zwischen einem freiheitlichen, sozialistischen Humanismus (Michajlovskij, Herzen) und dem »monolithischen Leviathan des Totalitarismus«13 formulierte. Aufs Engste mit der Totalitarismustheorie verbunden sind Konzepte, die man vereinheitlichend unter dem Begriff »politische Religion« subsumieren könnte.14 Sie gehen auf unterschiedliche intellektuelle Quellen zurück und existieren seit den 1930er Jahren in verschiedenen Ausprägungen. Ihnen allen lag die Beobachtung zugrunde, dass sowohl der Marxismus, als auch der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus so entschieden von einem neuen, heilsversprechenden Millennium sprachen, dass es reduktionistisch schien, diese Programmatik auf rhetorische Strategien zurückzuführen. Der Rückgriff auf das Religiöse war so stark ausgeprägt, dass er das Wesen der politischen Formation selbst zu betreffen schien. Im deutschsprachigen Raum waren es vor allem Schriftsteller, die im Kommunismus und im italienischen Faschismus, später auch im Nationalsozialismus religiöse bzw. quasireligiöse Züge erkannten.15 Enorm wirkungsmächtig wurden die Schriften Eric ­Voegelins und Raymond Arons, die in etwa gleichzeitig und unabhängig voneinander ihre Ansätze entwickelten. In seinem 1938 erschienen Buch Die politischen Religionen unternahm Eric Voegelin den Versuch, die »modernen politischen Bewegungen als neue Religionsschöpfungen«16 zu begreifen. Als solche würden sie eine quasi-religiöse Dimension in die ansonsten säkulare politische Ordnung einführen, was durch den langen Säkularisierungsprozess erst ermöglicht worden sei. Da das Religiöse und Geistige dem Menschen immanent sei, verursache die immer weiter fortschreitende Säkularisierung enorme Pro 12 Yarmolinsky, Avrahm: Road to Revolution. A Century of Russian Radicalism. Prince­ ton 1986, 27. 13 Billington, James: Mikhailovsky and Russian Populism. Oxford 1958, IX . Die Wieder­ gabe kyrillischer Schriftzeichen und der russischen Namen folgt den Regeln der wissenschaftlichen Transliteration. Ausnahmen wurden für Ortsbezeichnungen, Nachnamen deutschen Ursprungs wie Herzen oder Pestel sowie für Zarennamen gemacht. 14 Dies bedeutet natürlich nicht, dass alle Forscher, die mit dem Modell »säkulare Religion« gearbeitet haben, auch Vertreter der Totalitarismusthese waren oder umgekehrt. So gehörte beispielsweise Robert C. Tucker, der im Marxismus eine säkulare Version des Christentums sah, zugleich zu den frühen Kritikern der Totalitarismustheorie. Umgekehrt stand Hannah Arendt dem Modell der »säkularen Religion« kritisch bis ablehnend gegenüber. Beiden Erklärungsmodellen liegen aber zum Teil ähnliche Beobachtungen zugrunde, weshalb sie bis heute miteinander verquickt werden. 15 Seitschek nennt hier Carl Christian Bry, Franz Werfel, Hermann Broch oder Robert Musil. Siehe Seitschek, Hans Otto: Raymond Arons Konzept der ›politischen Religionen‹. Ein eigener Weg der Totalitarismuskritik. München 2009, 13. 16 Brief Voegelins vom 6. April 1938 an Gottfried Haberler. Zit. n. Opitz, Peter Joachim: Eric Voegelins Politische Religionen. Kontexte und Kontinuitäten. München 2005, 8.

10 Einführung bleme und begünstige die Bildung radikaler politischer Bewegungen.17 Aron hingegen glaubte, dass Religion mit dem voranschreitenden Prozess der Aufklärung verschwinden müsse.18 Der Stalinismus, der Nationalisozialismus und der italienische Faschismus hätten das soziale Potenzial des Religiösen genutzt, indem sie das Politische sakralisiert und einen Heilszustand in eine ferne, für den Lebenden kaum zu erreichende, Zukunft verlegt hätten.19 Weithin rezipiert wurde außerdem in den 1950er und 1960er Jahren Karl Löwiths 1949 erstmals publizierte Schrift Meaning in History, in der überzeugend die These vertreten wurde, dass die neuzeitlichen geschichtsphilosophischen Entwürfe von Voltaire bis Hegel und Marx abhängig von älteren theologischen Geschichtsdeutungen, namentlich der »theologischen Konzeption der Geschichte als eines Heilsgeschehens«20 seien. Jüdisch-christliche Zeitvorstellungen hätten es überhaupt erst erlaubt, in der Geschichte so etwas wie eine vom telos abhängende Bedeutung zu erkennen, etwas was beispielsweise bei den alten Griechen undenkbar gewesen wäre.21 Folglich war auch der historische Materialismus für Löwith eine »Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie«.22 Von Bedeutung war ferner das von Jacob Talmon in den 1950er Jahren geprägte Konzept des politischen Messianismus. Mit dem schwindenden Einfluss der Religionen in der Neuzeit konnte dem Historiker zufolge ein neuer, weltlicher Messianismus entstehen, der mittels einer sozialen Revolution die baldige Errichtung einer Gesellschaft »absolut freier und gleicher Menschen, die den-

17 Seitschek, Hans Otto: Die Deutung des Totalitarismus als Religion. In: Maier, Hans (Hg.): ›Totalitarismus‹ und ›politische Religionen‹, Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. 3. Paderborn u. a. 2003, 129–177, hier 142–143; Ders.: Raymond Arons Konzept der »politischen Religionen«, 36; Opitz: Eric Voegelins Politische Religionen 56. Im Nachkriegsdeutschland wurde diese Gedankenführung in ein simples Säkularisierungsschema umgemünzt, dem eine nicht zu übersehbare Entlastungsfunktion zukam. Die Erklärung Hitlers und S­ talins zum Produkt einer gottlosen Welt half die Verbrechen des Dritten Reiches auf zweifache Weise zu relativieren: Durch eine sehr breite, gesamteuropäische Kontextualisierung des Holocausts und die im gleichen Kontext angesiedelte Gleichsetzung der bolschewistischen und nationalsozialistischen Verbrechen. Lübbe, Hermann: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. 3. Auflage. Freiburg 2003, 112–113. 18 Seitschek: Raymond Arons Konzept der ›politischen Religionen‹ 7. 19 Ebd. 56. Im französischen Kontext hat der Vergleich zwischen Religion und Revolution eine ältere Tradition, die mit Tocqueville’s L’Ancien Régime et la Révolution (1956) beginnt. Für Tocqueville war die Revolution eine »unvollendete Religion« – ohne Gott, Ritual und Jenseitsglaube. Baehr, Peter: Hannah Arendt, Totalitarianism, and the Social Sciences. Palo Alto 2010, 98–99. 20 Löwith, Karl: Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History. Chicago 1949, 1. 21 Ebd. 1–19. 22 Ebd. 45.

Einführung  11

noch in einer spontanen und vollkommenen Einigkeit handeln«,23 in Aussicht stelle. In der ideengschichtlichen Herleitung der Ursprünge der russischen Variante einer totalitären, messianischen Demokratie spannte Talmon im dritten, kurz vor seinem Tod erschienen Band einen weiten Bogen von Herzen und ­Belinski über Bakunin und Nečaev bis hin zu Vladimir Lenin.24 Neben den westeuropäischen Konzepten übte auch eine vorrevolutionäre russische Quelle einen starken Einfluss auf die wissenschaftliche Diskussion aus: der im März 1909 erschienene Sammelband Vechi. »Wegzeichen«, so die geläufige deutsche Übersetzung, kann als Versuch der durch die Revolution von 1905 desillusionierten Intelligenz verstanden werden, mit den »Verführungen durch Marxismus, Nihilismus, Positivismus«25 abzurechnen. Die Selbstanklage der Intelligenzija fiel hart, oft überspitzt aus und machte aus diesem Grunde Furore. Binnen kurzer Zeit erreichten Vechi fünf Auflagen, sie wurden in Zeitschriften, Büchern in privaten Zirkeln und auf öffentlichen Versammlungen besprochen. Einer der Mitwirkenden, Nikolaj Berdjaev, sah in der holistischen Weltsicht der Intelligenzija Anzeichen einer »unterbewussten Religiösität«26, ihre Wissenschaftsgläubigkeit habe sich zu einer regelrechten Ersatzreligion entwickelt.27 Später sollte Berdjaev diesen Gedanken in The Origin of Russian Communism (1937) noch einmal publikumswirksam wiederholen, den Marxismus als eine säkulare »Religion« interpretieren und ihn mit dem in den 1920er Jahren aufgekommenen28 Begriff »Totalitarismus«, den er vergleichend auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts anwandte, zusammenführen.29 Noch 23 Talmon, Jacob: Die Geschichte der totalitären Demokratie. Bd. 1. Göttingen 2013, 49–50. 24 Ders.: Die Geschichte der totalitären Demokratie. Bd. 3. Göttingen 2013, 297–566. 25 Gleixner, Johannes: ›Menschheitsreligionen‹. T. G. Masaryk, A. V. Lunačarskij und die religiöse Herausforderung revolutionärer Staaten. Göttingen 2017, 136. Gleixner betont zurecht, dass Berdjaevs »Psychogramm der russischen revolutionären Intelligencija« nahezu ausschließlich auf Lunačarskij gemünzt ist. Allerdings war Lunačarskij, wie ich zeigen werde, bei weitem nicht der einzige, aber wohl der bekannteste Sozialist, der die »Heirat von Marxismus und Religion zum Ausdruck brachte«. Zit. n. ebd. 137. Dieser Aspekt der Vechi geht auf ältere innerrussische (und gesamteuropäische) Diskussionen um Zusammenhänge zwischen dem Sozialismus und dem Christentum zurück, die um die Jahrhundertwende in ganz Europa noch einmal wiederbelebt wurden. Zum böhmischen und sowjetischen Kontext siehe ebd. 45–208. Zum deutschen Kontext siehe Prüfer, Sebastian: Sozialismus statt Religion. Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863–1890. Göttingen 2002. 26 Berdjaev, Nikolaj: Filosofskaja istina i intelligentskaja pravda. In: Kazakova, N. (Hg.): Vechi. Intelligencija v Rossii. Sbornik statej 1909–1910. Moskau 1991, 24–42, hier 29. 27 Ebd. 32. 28 Der Politiker und Journalist Giovanni Amandola bezeichnete in einem Beitrag im Il Mondo vom 12. Mai 1923 die Verletzung der Wahlprozedur durch die Faschisten in Abgrenzung zu bestehenden Wahlsystemen als ein »totalitäres System«. Schon bald wurde aus dieser technischen Bezeichnung eine Umschreibung für den Faschismus. Gleason: Totalitarianism 14 ff. 29 Berdyaev, Nikolas: The Origin of Russian Communism. Ann Arbor 1960, v. a. 99, ­104–107, 153–154. »Totalitarismus« scheint Berdjaev als Umschreibung für eine holistische, integrale Weltauffassung und eine von Intoleranz gezeichnete Mentalität sowie eine von

12 Einführung expliziter, als es Berdjaev im Jahre 1909 getan hatte, wurden solche Gedanken von ­Sergej Bulgakov geäußert: Die Verfolgung durch den Staat habe eine geistige Atmosphäre geschaffen, in der die Intelligenzija Vorstellungen vom säkularen Martyrium und Asketismus entwickeln konnte. Die Losgerissenheit von den Massen habe dem sozialen Utopismus sowie Vorstellungen von Selbstaufopferung und der Buße vor dem Volk den Weg bereitet. Dabei habe die Verwurzelung in religiösen Herkunftskontexten eine entscheidende Rolle gespielt. So hätten Atheisten wie Dobroljubov und Černyševskij trotz des Bruchs mit der Religion ihre Seminaristen-Gesinnung bewahrt. Auch Bulgakov sah in der Wissenschaftsgläubigkeit der Intelligenzija die Züge einer naiven Religiosität, auch wenn sie in ihrer rein innerweltlichen Form nur wenig mit dem ursprünglichen christlichen Glauben zu tun gehabt habe.30 Semën Frank stellte hingegen fest, dass die fanatische Hingabe an eine fixe Idee und die Bereitschaft, dafür Blut zu vergießen, an sich noch nichts mit Religiosität zu tun habe, und bestand auf einer schärferen Begriffstrennung. Dennoch verbat er sich nicht, polemisch von der »Religion« der Intelligenzija zu sprechen, welche die »wahre Religion« ersetzt habe, mal von einer »sozialen Metaphysik« und mal von einem »Glauben«, der psychologisch gesehen dem »religiösen Glauben« analog sei.31 Solche und vergleichbare Überlegungen haben in der »westlichen« Politologie und Geschichtswissenschaft der 1950er und 1960er Jahre breiten Anklang gefunden. Schon Isaiah Berlin schrieb im Vorwort zur englischen Ausgabe des Grundlagenwerkes Roots of Revolution des italienischen Forschers Franco Venturi, dass das revolutionäre Projekt tief in der »religiösen Imagination der Menschheit« verankert sei und im Grunde nur ihre »säkulare Version«32 darstelle. einer solchen Mentalität getragene staatliche Ordnung zu verwenden. Da Berdjaev zufolge aber nur das »Reich Gottes« im metaphysischen Sinne »totalitär« sein könne, müsse man den Kommunismus, der das Reich Gottes auf Erden errichten möchte, als eine Deformation des genuinen russischen Messianismus verstehen. 30 Bulgakov, Sergej: Geroizm i podvižničestvo (iz razmyšlenij o religioznoj prirode russkoij intelligencii). In: Kazakova, N. (Hg.): Vechi. Intelligencija v Rossii. Sbornik statej 1­ 909–1910. Moskau 1991, 43–84, hier vor allem 47–49 und 50. 31 Frank, Semën: Ėtika nigilzma (k charakteristike nravstvennogo mirovozzrenija russkoj intelligencii). In: Kazakova, N. (Hg.): Vechi. Intelligencija v Rossii. Sbornik statej 1­ 909–1910. Moskau 1991, 153–184, hier vor allem 157–158, 166–167. 32 »This great Utopian dream, based on simple faith in regenerated human nature, was a vision which the Populists shared with Godwin and Bakunin, Marx and Lenin. Its heart is the pattern of sin and fall and resurrection of the road to the earthly paradise the gates of which will only open if men find the one true way and follow it. Its roots lie deep in the religious imagination of mankind […]«. Zit. n. Berlin, Isaiah: Introduction. In: Venturi, Franco: Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in the 19 th Century Russia. New York 1960, I –XXX , hier XIII –XIV. Venturi selbst verwies mehrmals auf den Wunsch russischer Radikaler nach Selbstaufopferung und die in ihren Zirkeln verbreiteten quasiasketischen Einstellungen (332, 342, 474, 526, 598, 794 Fn. 52), versuchte aber nicht, diese in das Korsett der »politischen Religion« zu zwingen.

Einführung  13

Geisteswissenschaftler stellten in Anknüpfung an Berdjaev Überlegungen zum russischen Messianismus an33 und stellten mit Raymond Aron Hypothesen über »manichäische« Dichotomien in der sowjetischen Propaganda auf.34 Dabei kam es nicht selten zu einer Verschränkung mit totalitarismustheoretischen Ansätzen. Für den Historiker John Keep etwa war die russische Revolutionsbewegung die Trägerin eines »säkularen Glaubens«, der aufgrund seiner vulgärmarxistischen Verheißungen eines »egalitären Millenniums«35 bestens dazu geeignet gewesen sei, die bäuerlichen Massen in einem rückständigen Agrarland an der Schwelle zur Industrialisierung für die eigene politische Agenda zu begeistern. Auch für Adam Ulam war der Kommunismus der mit Abstand am weitesten verbreitete »mächtige säkulare Glaube« und der Bolschewismus eine »totalitäre Bewegung«.36 Auf welche theoretischen Vorüberlegungen die Autoren jedoch jeweils zurückgriffen, wenn sie vom »säkularen Glauben« der Revolutionäre sprachen, war schon damals nicht immer nachvollziehbar. Oftmals blieben die Autoren recht vage, wenn es darum ging, den pseudo- oder quasi-religiösen Gehalt des Marxismus näher zu bestimmen. So auch im Falle der ersten fundamentalen Plechanov-Biographie im »westlichen« Raum. Ihr Autor, Samuel Baron, behauptete, dass Eduard Bernsteins Zweifel an der Wissenschaftlichkeit eines teleologisch ausgelegten Marxismus ­Plechanov beinahe zur Erkenntnis gebracht hätten, dass seine eigene politische Weltanschauung Ähnlichkeiten mit einem religiösen Glauben aufweise.37 Folgerichtig wurde Plechanov (wohl nicht ganz ohne Ironie) mal als »Prophet«38, mal als »Glaubensbeschützer (defender of the faith)«39 bezeichnet. Auch Yarmolinsky sprach, gestützt auf die Selbst 33 Siehe beispielsweise Towster, Julian: Vyshinsky’s Concept of Collectivity. In: Simmons, Ernest (Hg.): Continuity and Change in Russian and Soviet Thought. Cambridge, Mass. 1955, 237–254, hier v. a. 237–240. Andere Forscher wahrten kritische Distanz, insbesondere wenn es um Berdjaevs alzu »melodramatisch« artikulierte Thesen ging. Zit. n. Malia, ­Martin: What is the Intelligentsia? In: Daedalus 3 (1960) 441–458, hier 445. 34 Barghoorn, Frederick: Great Russian Messianism in Postwar Soviet Ideology. In: Simmons, Ernest (Hg.): Continuity and Change in Russian and Soviet Thought. Cambridge, Mass. 1955, 531–549, hier 537–538. 35 Keep, John: The Rise of Social Democracy in Russia. Oxford 1963, 298–299. 36 So Ulam in einem Vorwort zur Neuauflage seiner 1965 erschienen, stark auf Lenin ­f ixierten Geschichte des Bolschewismus. Ulam, Adam: The Bolsheviks. The Intellectual and Political History of the Triumph of Communism in Russia. Cambridge, Mass. 1998, XI –XII . 37 »He who claimed to have put Russian socialism on a scientific footing was compelled to face the possibility that the outlook upon which he so prided himself was more akin to a ­religious faith.« Baron, Samuel Haskell: Plekhanov. The Father of Russian Marxism. Stanford 1963, 175. In ähnlicher Weise argumentierte John Keep, dessen Studie über die russische Sozialdemokratie im gleichen Jahr erschien. Siehe Ders.: The Rise of Social Democracy 65–66, 298–299. 38 Ebd. 142. 39 Eines der Kapitel des Buches trägt die Bezeichnung defender of the faith: revisionism (ebd. 164–185), ein anderes defender of the faith: economism (ebd. 186–207), ein weiteres wiederum lautet revolutionary schism (ebd. 30–47).

14 Einführung zeugnisse der Radikalen, von einem revolutionären »Glauben«40, den er als ein Surrogat für den verlorenen religiösen Glauben deutete. Am konsequentesten in der Verwendung des Begriffs »säkularer Glaube« war James Billington. Er betonte den freiheitlichen Charakter des russischen narodničestvo,41 insistierte aber zugleich darauf, dass russische Theoretiker wie Pëtr Lavrov, Nikolaj Šelgunov und vor allem der frühe Nikolaj Michajlovskij etwas geschaffen hätten, was nur als eine »neue Religion« beschrieben werden könne. Diese zeige viele Gemeinsamkeiten mit dem in der frühen Sowjetunion institutionalisierten »säkularen Glauben«. Billington analysierte dieses Phäno­men nicht als ein russisches Spezifikum, sondern verwies auf den Einfluss von Auguste Comte.42 Sein 1980 erschienenes Fire in the Minds of Men stellt eine, durch einen sehr breiten komparativen Ansatz und die enorme Quellenbasis durchaus beeindruckende kulturgeschichtliche Studie einer »Entstehungsgeschichte der säkularen Religion (secular religion-in-the-making)«43 dar. Deren analytisches Hauptwerkzeug ist der »säkulare Glaube«, den Billington als eine säkularisierte Form des christlichen Glaubens, durchdrungen von okkultem und romantischem Gedankengut, charakterisierte, den die Radikalen bewusst oder unbewusst zu ersetzen gesucht hätten. Billington gelang es überzeugend darzustellen, dass die Verwendung religiöser Semantiken in Europa weit verbreitet gewesen war. Allerdings offenbarte sein Buch auch den größten Nachteil des ihr zugrundeliegenden analytischen Konzeptes: »Politische Religion« setzt eine normative Religionstheorie voraus. Ohne eine solche Theorie droht immer die Gefahr, sich im rein Deskriptiven zu verlieren.44 40 Yarmolinsky: Road to Revolution 184, 148, 172, 178, 187. 41 Der Begriff narodniki (Substantiv von »narod«  – das Volk) tauchte in der Mitte der 1870er Jahre auf und bezeichnete ursprünglich Radikale, die bestimmte ideologische Vorstellungen über die Natur der Bauern und ihre Rolle in der zukünftigen Revolution teilten. Von zentraler Bedeutung war die Überzeugung, dass die Revolution nicht nur im Interesse des »narod«, sondern durch den »narod« und im Einklang mit dessen Wünschen vollzogen werden müsse. Pipes, Richard: Narodnichestvo. A Semantic Inquiry. In: Slavic Review 3 (1964) 441–458, hier v. a. 444. Später bezeichnete der Begriff des narodničestvo (im Deutschen auch Populismus, seltener Volkstümelei) eine ganze, ideologisch nicht homogene Strömung innerhalb der Revolutionsbewegung. Als charakteristisch gelten Ideen der »Entfremdung« vom »Volk«, die zivilisatorische Aufgabe der Intelligenzija sowie die Rolle der entwickelten Persönlichkeit und der Dorfkommune im historischen Modernisierungsprozess. 42 Billington, James: The Intelligentsia and the Religion of Humanity. In: The American Historical Review 4 (1960) 807–821. 43 Ders.: Fire in the Minds of Men. Origins of the Revolutionary Faith. New York 1980, 5. 44 Auch die Verschränkung mit dem Totalitarismusbegriff gelang Bilington nur auf einer sehr abstrakten Ebene. So habe der »säkulare Glaube« in seiner radikalsten, der »messianischen Form«, den lokalen revolutionären Traditionen zum Durchbruch verholfen, nachdem der Weltkrieg die traditionellen Autoritäten delegitimiert habe. Die Revolutionen hätten schließlich den »modernen Totalitarismus« in Italien, Deutschland und Russland errichtet. Ebd. VII.

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Schon Hannah Arendt äußerte Zweifel am Nutzen des Konzepts, das ihrer Meinung nach Ideologie und Religion gleichsetze oder zumindest nicht genügend voneinander unterscheide. Anders als in totalitären Ideologien werde der Mensch in modernen religiösen Kontexten als ein vernünftiges Wesen imaginiert, das Fragen nach seiner Stellung im Kosmos stelle und nach Antworten auf diese Fragen suche. Die kommunistische Ideologie kannte zudem kein Substitut für Gott und war immun gegen metaphysische Zweifel. »Politische Religion« reduziere zudem sowohl Religion als auch Politik auf eine reine Funktionsanalyse, bei der der historische Gehalt des Phänomens verloren gehe.45 Ferner kritisierte Arendt die Vorstellung, dass man eine politische Religion nicht zuletzt am Beharren ihrer Mitglieder auf einer an Gültigkeitsanspruch nicht mehr zu übertreffenden Wahrheit und der daraus entspringenden besonderen politischen Radikalität erkennen könne. Auf den ersten Blick scheint ein solcher Ansatz die Analyseebene reiner Funktionsäquivalente zu verlassen und somit das Problem der falschen Analogieschlüsse zu umgehen. Würde man aber den Ansatz konsequent verfolgen, so müsste letzten Endes »jede Bewegung, die ihre Ideen als einzig wahre ausgibt und jedes Mittel gutheißt, zum Kandidaten für ›politische Religiösität‹« werden.46 Das Gesagte gilt auch für nicht wenige neuere Arbeiten, die sich seit Emilio Gentiles »Wiederentdeckung« des Begriffs »politische Religion«47 im Jahre 1990 und den daraus entsprungenen Diskussionen48 mit dem Problem des Religiösen im Kommunismus beschäftigt haben. So hat beispielsweise Anatoly Khazanov einen Merkmalskatalog für die kommunistische »säkulare Religion« aufgestellt, der über Analogieschlüsse hinaus keine neuen Erkenntnisse fördert. Der Text zeigt außerdem geradezu exemplarisch, wie gefährlich es ist, solche Begriffe wie »Hölle« oder »Paradies« als Analysekategorien einzuführen: Sie entfalten eine große suggestive Wirkung und verwischen dadurch die Grenze zwischen wissenschaftlicher Interpretation und Spekulation.49 Das gleiche Problem offenbart die 1996 erschienene Monographie 45 Baehr: Hannah Arendt, Totalitarianism, and the Social Sciences 98–104. 46 So Hildermeier, Manfred: Kommunismus und Stalinismus. ›Säkularisierte Religion‹ oder totalitäre Ideologie? In: Hildebrand, Klaus (Hg.): Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. München 2003, 91–111, hier 92. 47 Gentile, Emilio: Fascism as Political Religion. In: Journal of Contemporary History 2–3 (1990) 229–251. 48 Siehe exemplarisch Lübbe, Hermann (Hg.): Heilserwartung und Terror. Politische Religionen des 20. Jahrhunderts. Düsseldorf 1995 und Maier, Hans (Hg.): »Totalitarismus« und »politische Religionen«, Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. 3. München 2003. 49 So behauptet Khazanov (ohne auf eine Primärquelle zu verweisen), dass Lenin einmal versprochen hätte, dass Toiletten im »kommunistischen Paradies« aus Gold sein würden: »Lenin set an example when he promised that in ten years toilets in the communist paradise would be made of gold.« Khazanov, Anatoly: Marxism-Leninism as a Secular Religion. In: Griffin, Roger u. a. (Hg.): The Sacred in 20th Century Politic. Essays in Honour of Professor Stanley G. Payne. Basingstoke 2008, 119–141, hier 135. Dies ist jedoch schlichtweg falsch.

16 Einführung Red Apocalypse (1996). Ihrem Autor, dem Politikwissenschaftler Arthur Klinge­ hoffer, gelingt es nicht immer, den Unterschied zwischen der Quellen- und seiner eigenen Metasprache deutlich zu machen. Dadurch entsteht ein in hohem Maße suggestiver Text, der zudem große, spekulative Vergleiche von zweifelhaftem Erkenntniswert beinhaltet.50 Nicht nur »politische Religion«, auch die Totalitarismustheorie geriet ab 1960 unter zunehmende Kritik. Wohlwollende Kritiker schrieben, dass die Theorie an ihre Grenzen gestoßen sei und es an der Zeit sei, neue Erklärungsmodelle zu entwerfen. Andere bezweifelten grundsätzlich den Nutzen des komparatistischen Ansatzes, während wiederum andere die Statik der Theorie bemängelten, sodass schließlich selbst ihre Anhänger sich zu vorsichtigeren Formulierungen veranlasst sahen.51 In den späten 1960er bis frühen 1970er Jahren setzte schließlich eine generelle Revision ein. Der staatszentrierte Blick wich sozialgeschichtlichen Fragestellungen,52 während die Untersuchung funktionaler Parallelen keinen Erkenntnismehrwert mehr zu bieten schien. Eine »neue Kohorte«53 von Sozialhistorikern entdeckte in einer breiten Bevölkerungsschicht aktive Nutznießer des bolschewistischen Projekts. Sie argumentierten, dass die bolsche­ enin sprach in einem seiner Pravda-Artikel zur Verteidigung der »Neuen Ökonomischen L Politik« davon, dass eine revolutionäre Bewegung manchmal auch »reformistische« Politik betreiben müsse. Der Text war an Skeptiker in den eigenen Reihen gerichtet. Um die extreme bolschewistische Linke zu überzeugen, griff er bewusst zu einer rhetorischen Figur, der Hyperbel. Nach dem weltweiten Sieg des Kommunismus, so Lenin wörtlich, werde man in einigen Großstädten aus Gold – »öffentliche Latrinen (obščestvennye otchožie mesta)« errichten können. Dies wäre ein anschauliches Symbol von aufklärerischem Nutzen für das Übel des Kapitalismus. Bis dahin werde man aber den Handel zulassen müssen. Der Begriff »kommunistisches Paradies« entstellt jedoch diesen Sinnzusammenhang. Lenin, Vladimir: O značenii zolota teper’ i posle polnoj popedy socializma. In: Institut Marksizma-­Leninizma pri CK KPSS (Hg.): V. I. Lenin. Polnoe sobranie sočinenij. 5. Ausgabe. Bd. 44. Moskau 1970, 221–229. Auch hatte Lenin nie versprochen, dass in 10 Jahren eine paradiesische Welt errichtet sein würde. Wörtlich heißt es: »No kak ni ›spravedlivo‹, kak ni polezno, kak ni gumanno bylo by ukazannoe upotreblenie zolota, a my vse že skažem: porabotat’ eščë nado ­desjatok-drugoj let s takim že naprjaženiem i s takim že uspechom, kak my rabotali v 1917–1921 godach, tol’ko na gorazdo bolee širokom poprišče, čtoby do ėtogo dobrat’sja«. Ebd. 226. 50 So heißt es etwa auf S. 3: »Marx’s crusade [sic!] failed to galvanize [sic!] the proletarian masses of Western Europe, just as Jesus’s mission did not attract widespread support among the Jews of Roman Palestine. […] Marx lies beneath Highgate Cemetery in London, far ­removed from Red Square, while Jesus is presumably entombed in Jerusalem rather than at St. Peter’s in Rome.« Klinghoffer, Arthur: Red Apocalypse. The Religious Evolution of ­Soviet Communism. Lanham 1996, 3. Siehe außerdem Gregor, Anthony: Totalitarianism and Political Religion. An Intellectual History. Stanford 2012, hier v. a. 87–114. 51 Gleason: Totalitarianism 133 ff. 52 Für den deutschsprachigen Raum siehe Hildermeier, Manfred: Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands. Agrarsozialismus und Modernisierung im Zarenreich (1900–1914). Köln 1978; Kappeler, Andreas: Zur Charakterisierung russischer Terroristen (1878–1887). In: Jahrbücher zur Geschichte Osteuropas 4 (1979) 520–547. 53 Fitzpatrik, Sheila: New Perspectives on Stalinism. In: Russian Review 45 (1986) 357–374.

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wistischen Losungen nach dem Auseinanderjagen der Konstituante eine große Popularität in der Bevölkerung genossen hätten. Auch der Blick auf die kommunistische Partei änderte sich grundlegend. In älteren sowjetologischen Darstellungen wurde die Partei Lenins nur zu oft als ein »totalitarian embryo« dargestellt, aus dem schließlich ein vollausgewachsener Totalitarismus ausgereift sei, wie es in einem von 1953 bis 1963 aufgelegten Standardwerk hieß.54 Die »Revisionisten« hingegen förderten die bis heute gültige Erkenntnis, dass die Bolschewiken auch im Jahre 1917 weit davon entfernt waren, eine disziplinierte und zentralisierte Partei von Berufsrevolutionären zu sein.55 Anders als die zumeist konservativen Pioniere der »Soviet studies« nahmen die »Revisionisten« das emanzipatorische Versprechen der Revolution ernst.56 So wurde beispielsweise argumentiert, dass die bolschewistische Ideologie erst Anfang der 1920er Jahre von einem Befreiungsprojekt zu einem Modernisierungsprojekt »mutiert« sei.57 Damit mussten sie aber auch die Frage beantworten, wie das Projekt der »Befreiung« in einem terroristischen und illiberalen aufgehen konnte. Die Dominanz der Sozialgeschichtsschreibung, die seit den 1980er Jahren in ein Konkurrenzverhältnis zur Kulturgeschichtsschreibung trat, führte keinesfalls zu einer völligen Blindheit für die »religiöse Dimension« der Revolution. Auch in den 1970er und 1980er Jahren verwiesen Forscher immer wieder auf den Gebrauch religiöser Semantiken und auf die Artikulation von Selbstentsagungsvorstellungen in den Texten russischer Revolutionäre. Sie versuchten jedoch in der Regel nicht, diese Beobachtungen unter dem Begriff der »politischen Religion« oder einem ähnlichen Konzept zu subsumieren. Den Teilnehmern des »Ganges ins Volk« (Mitte der 1870er Jahre) etwa bescheinigte Derek Offord in seiner grundlegenden Studie zur Revolutionsbewegung der 1880er Jahre einen »Eifer, der ein fast schon religiöses Ausmaß vermuten ließ«58. Mit analytischen Begriffen, die einst in den 1950er und frühen 1960er Jahren popu 54 So Faindson in How Russia is Ruled (1953). Hier zitiert nach Gleason: Totalitarianism 123. 55 So zum Beispiel Marc Ferro mit Verweis auf Alexander Rabinovich und Robert ­Daniels in La Révolution de 1917 (1967). Ferro, Marc: October 1917. A Social History of the Russian Revolution. London 1980, 269. 56 Für die Abkehr von der Totalitarismustheorie spielten auch außerwissenschaftliche Entwicklungen eine Rolle. In den 1960er Jahren formierte sich im Westen eine neue Linke mit Sympathien für den vermeintlich freiheitlichen Kommunismus eines Fidel Castros und Che Guevaras. Zudem ließ der verheerende Vietnamkrieg die simple Dichotomie »freie Welt« vs. »totalitäres Regime« als eine zunehmend leere Formel erscheinen. Gleason: Totalitarianism 129–130. 57 Smith, Stephen: Red Petrograd. Revolution in the Factories, 1917–1918. Cambridge 1983, 253–265. Zuletzt: Ders.: The Russian Revolution. A Very Short Introduction. Oxford 2002, 126. 58 »All displayed  a similar zeal, which assumed almost religious proportions.« Offord, Derek: The Russian Revolutionary Movement in the 1880s. Cambridge 1986, 17.

18 Einführung lär waren, hielt sich jedoch Offord bewusst zurück. Astrid von Borke sprach von den »Propheten, Märtyrern und Helden«, welche die Regierung mit ihrer wenig weitsichtigen, repressiven Politik geschaffen habe, sowie vom genuinen Wunsch der Radikalen zu »Märtyrern«59 der Revolution zu werden. Phillip Pomper verwies auf die Anziehungskraft der Märtyrerrolle auf junge Radikale.60 Benno Ennker entdeckte im ZK-Aufruf zu Lenins Tod »Parallelen zur christlichen Transsubstantiationslehre«.61 Reginald Zelnik machte darauf aufmerksam, wie die »Kosmologie« der narodniki als säkulare Alternative für den religiösen Glauben der Arbeiterschaft fungieren konnte. Maßgeblich für den Erfolg der nächtlichen Arbeiterzirkel, auf denen versucht wurde, die Arbeiter zum Atheismus zu bewegen, seien dabei die Atmosphäre des Geheimnisvollen und der religiös anmutende Eifer der Radikalen gewesen.62 Abbott Gleason betonte in seiner Untersuchung des »russischen Radikalismus« der 1860er Jahre den »sozialen Messianismus«63 des narodničestvo – die Vorstellung, dass Russland eine besondere Mission in der Geschichte habe, nämlich die Überwindung der Klassengegensätze durch Umgehung oder das Überspringen der kapitalistischen Entwicklungsphase. Dieser »Messianismus« hatte Gleason zufolge sowohl historische als auch anthropologische Gründe. Zu den ersteren zählte er die Radikalisierung des slavophilen Erbes durch Aleksandr Herzen und Nikolaj ­Černyševskij, zu den letzteren den jugendlichen Eifer der narodniki, der maßgeblich ihren Wunsch, die Menschheit zu retten, mitkonstituiert habe.64 Amy Knight zeigte, dass die »Selbstaufopferung und das heroische Martyrium«65 für viele russ 59 Borcke, Astrid von: Gewalt und Terror im revolutionären Narodničestvo. Die Partei Narodnaja volja (1879–1883). Zur Entstehung und Typologie des politischen Terrors im Russland des 19. Jahrhunderts. Köln 1979, 3, 24, 29. 60 Pomper, Philip: Sergei Nechaev. New Brunswick 1979, 43. 61 Ennker, Benno: Die Anfänge des Leninskultes. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 4 (1987) 534–555, hier 548. In seiner Monographie aus dem Jahre 1997 kam Ennker zum Schluss, dass die Parteispitze im Falle des Leninkults bewusst auf religiöse Semantiken zurückgewichen sei, um die traditionellen Vorstellungen der bäuerlichen Bevölkerung zu exploitieren. Ders.: Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion. Köln 1997, hier v. a. 197. 62 Zelnik, Reginald: To the Unoccustomed Eye. Religion and Irreligion in the Experience of the St. Petersburg Workers in the 1870s. In: Russian History 1 (1989) 297–326. 63 Gleason, Abbott: Young Russia. The Genesis of Russian Radicalism in the 1860s. ­Chicago, London 1983, 75. 64 Mit Bezug auf die Arbeiten des bekannten Schweizer Psychologen Jean Piaget (und mit Blick auf die 1968er-Bewegung) stellte Gleason die Behauptung auf, dass der Heranwachsende aufgrund seiner spezifischen, unsicheren Stellung in der Welt, die Erwachsenen zu übertreffen und zu erstaunen trachte, indem er sich unter anderem für megalomanische Weltrettungsprojekte begeistere. Der Heranwachsende vereine in sich also einen extremen Egozentrismus mit einer ebenso extremen Hingabe an die Menschheit. Ebd. 119. 65 Knight, Amy: Female Terrorists in the Russian Socialist Revolutionary Party. In: The Russian Review 2 (1979) 139–159, hier 143.

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ländische Terroristinnen aus dem SR-Umfeld eine Hauptmotivationsquelle für die Arbeit in einer Terrorzelle gewesen war. Sie argumentierte, dass der Wille der Radikalen, sich für die Revolution aufzuopfern und zu »Märtyrerinnen« zu werden, sie davon abgehalten habe, ihre Tätigkeit in »Begriffen rationaler politischer Zielsetzungen« zu analysieren.66 Sie verwies außerdem auf die Teilnahme religiöser Christinnen in der sozialrevolutionären Terrorbewegung.67 Richard Stites schrieb über die frühen Versuche der narodniki, »revolutionäre Ideen in ein religiöses Idiom«68 zu kleiden, um dadurch für die Bauern verständlicher und ansprechender zu sein. Er behauptete außerdem, dass gerade Frauen in die Revolutionsbewegung von einer Art »quasi-religiösem Glauben«69 hingezogen worden seien. Die Moralvorstellungen, Initiationsrituale und das revolutionäre Vokabular seien zwar in der Zielsetzung säkular, aber »religiös im Geiste«70 gewesen. Stites ging außerdem auf Versuche russischer neonarodniki ein, den Ersten Mai zu einem quasi-religiösen Fest zu stilisieren, zudem auf die Politisierung des Judentums in den Texten jüdischer Anarchisten.71 Als ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der Revolutionsgeschichte kann außerdem die von Christopher Read unternommene Rekonstruktion von Debatten gelten, die die russische Intelligenzija nach 1900 rund um das Thema Religion und Revolution, den Christlichen Sozialismus, das sogenannte bogoiskatel’stvo (Gottessuchertum) und bogostroitel’stvo (Gotterbauertum) führte.72 Eine Art Synthese der von der Forschung aufgeworfenen Fragen lieferte ein Aufsatz von Jay Bergman aus dem Jahre 1990. Der Historiker stellte noch einmal die Frage, ob und in welchem Ausmaß Religion in der Genese und der Entwicklung sozialistischer Überzeugungen eine Rolle gespielt habe, ob »religiöse Impulse«73 die Revolutionäre zum politischen Handeln haben motivieren 66 »Their intense emotional faith in the cause and their will to heroic martyrdom prevented them from analyzing their terrorist activities in terms of rational political objectives.« Ebd. 157. 67 Ebd. 148. 68 Stites, Richard: Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution. New York, Oxford 1989, 101. 69 Ebd. 102. Siehe dazu außerdem Engel, Barbara: Mothers and Daughters. Women of the Intelligentsia in 19th Century Russia. Cambridge 1983, 127–155. In letzter Zeit hat Anna Siljak auf die Faszination verwiesen, die von der Idee des Martyriums auf Vera Zasulič ausgegangen sei. Dies.: The ›Girl Assassin‹, the Governor of St. Petersburg, and Russia’s Revolutionary World. New York 2008. 70 Stites: Revolutionary Dreams 102. 71 Ebd. 101–105. 72 Read, Christopher: Religion, Revolution, and the Russian Intelligentsia, 1900–1912. The Vekhi Debate and Its Intellectual Background. Totowa 1979. 73 »Were there Russian revolutionaries for whom religion and, in particular, Christianity played a major role in the genesis, development, and refinement of their political beliefs? Could religious impulses have motivated even the revolutionaries who explicitly denied the validity of religion and religious experience in their memoirs and reminiscences and who

20 Einführung können oder ob Religion den Revolutionären doch nur einfach ein griffiges Voka­bular zur Verfügung gestellt habe. Im Großen und Ganzen boten die Arbeiten jener Jahre jedoch keine neuen Antworten auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Religion und Politik in der russischen Revolutionsbewegung, auch wenn sie einige wichtige neue Einsichten zutage förderten. Dies änderte sich erst in den 1990er Jahren, was im Wesentlichen zwei Gründe hatte. Zum einen wurde eine vereinfachende Säkularisierungsthese, die Modernisierung mit dem unausweichlichen Rückgang des Religiösen in den Bereich des »Privaten« zusammenführte, endgültig als überwunden empfunden, was einem neuen Interesse an der Erforschung des Religiösen in der Moderne den Weg bereitete.74 Zum anderen wurden in den 1990er Jahren mit einiger Verspätung auch in der Revolutionsforschung diskurstheoretische Ansätze diskutiert. Während in anderen Forschungsfeldern der »linguistic turn« schon in den 1980er Jahren Fuß zu fassen begann, bemängelte Stephen Smith noch 1994 in einem seitdem vielzitierten Aufsatz das Fehlen von Arbeiten zur Geschichte der Russischen Revolution, die sich ernsthaft mit der »realitätskonstruierenden«75 Funktion von Sprache beschäftigten. Ob und wie einschneidend sich seit dieser »Selbstkritik des Revisionismus«76 etwas geändert habe, wird heute unterschiedlich bewertet. Während ­Kolonickij

­ eclared themselves to be atheistic, agnostic, or simply indifferent? Or did religion simply d provide  a vocabulary for the expression of revolutionary convictions that originated elsewhere, in the interplay of family and individual psychology, or in the political and economic circumstances of the time? Or would the answers to these questions depend upon which phase of the revolutionary movement, the populist or the Marxist, one was referring to?« Bergman, Jay: The Image of Jesus in the Russian Revolutionary Movement. In: International Review of Social History 02 (1990) 220–248, hier 221. 74 Casanova, José: Public Religions in the Modern World. Chicago 1994; Schulze Wessel, Martin: Religion – Gesellschaft – Nation. Anmerkungen zu Arbeitsfeldern und Perspektiven moderner Religionsgeschichte Osteuropas. In: Nordost-Archiv 7 (1998) 353–364; Herrlinger, Page: Working Souls. Russian Orthodoxy and Factory Labor in St. Petersburg, 1881–1917. Bloomington 2007, 26.  75 »In disciplines as various as philosophy, literary criticism, anthropology and history the past decade has witnessed a deepening recognition ways in which ›reality‹ is produced through language, a growing concern with production and communication of meaning in social life.« Smith, Stephen: Writing the History of the Russian Revolution after the Fall of Communism. In: Europe-Asia Studies 4 (1994) 563–578. Der linguistic turn ist ein heterogenes Phänomen. Zumindest in der Philosophie ist mit der »Wende zur Sprache« in erster Linie eine »Radikalisierung der Frage nach dem erkenntnistheoretischen Wert der Sprache« gemeint. Sprache wird insofern zur Bedingung von Erkenntnis, als erst durch die Klärung von Sinn und Bedeutung von Aussagen die Frage nach ihrer Wahrheit oder Falschheit beantwortet werden kann. Zit. n. Posselt, Gerald / Flatscher, Matthias: Sprachphilosophie. Eine Einführung. Wien 2016, 104. 76 Kolonitskii, Boris: Russian Historiography of the 1917 Revolution. New Challenges to Old Paradigms? In: History and Memory 2 (2009) 34–59, hier 47.

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keine großen Veränderungen feststellt,77 kommt Smith neun Jahre nach Erscheinen seines Artikels zu dem Schluss, dass die Veränderungen »signifikant« gewesen seien.78 Eine der ersten Arbeiten in dieser Richtung war sicherlich das von Orlando Figes und Boris Kolonickij verfasste Interpreting the ­Russian Revolution (1999). Das amerikanisch-russische Projekt markiert, wie in den damaligen zahlreichen Rezensionen hervorgehoben wurde, eine lang erwartete Wende, zeigt es doch, dass die Sprache der Revolution sich nicht nur nach dem Zerfall des Zarenreichs veränderte, sondern auch die politische Wirklichkeit durch Sprache verändert wurde.79 Die Monographie widmet sich auch den quasi-religiösen Aspekten der Sprache der Revolution. Dabei bringt die Studie von 1999 gegenüber älteren Ansätzen einen erheblichen Erkenntnisgewinn, zeigt sie doch deutlich, wie religiöse Vorstellungen auf der Mikroebene konkrete politische Prozesse mitgestaltet haben. So im Fall der aktivistischen Bauernschaft, die bereit war, das russische Ancien Régime als »sündig« zu verdammen und mit der neuen Regierung Heilserwartungen zu verbinden, solange diese nur ihre ökonomischen, im religiös-traditionellen Bewusstsein des Bauerntums verankerten, Landforderungen unterstützte.80 Auch im Falle des revolutionären Märtyrer- und Heldenkultes wurde auf die sehr konkreten politischen Implikationen verwiesen, die der Gebrauch einer quasi-religiösen Sprache hatte. Die Begräbniszeremonien, die von den Autoren als eine Hybridform von säkularen und religiösen Elementen beschrieben werden, hatten direkte Auswirkungen auf das politische Kräfteverhältnis, indem sie bestimmte Gruppen exkludierten oder inkludierten.81 Der Kult um die toten »Freiheitshelden« hatte einen explizit »quasi-religiösen Status« und führte dazu, dass sich die verschiedenen sozialistischen Parteien im Kampf um die politische Führung die ­»Heiligen« streitig machten und zwischen »wahren« und vermeintlichen »Heiligen« und ­»Märtyrern« zu unterscheiden suchten.82 Im gleichen Jahr erschien Marina Mogil’ners Mifologija ›podpol’nogo č­ eloveka‹ (Mythologie des ›Untergrundmenschen‹) eine Studie zum Selbstbild, den Verhaltenslogiken und Moralvorstellungen der Akteure der Revolutionsbewegung und ihren identitätskonstruierenden Mythen auf der Basis von linksradikaler, zum Teil obskurer, den meisten Lesern unzugänglicher Literatur. Mogil’ner zu 77 Ebd. Kolonickij nennt als Beispiele nur drei Bücher, die seiner Meinung nach die von Smith artikulierten Hoffnungen auf eine »linguistische Wende« erfüllt hätten, darunter zwei eigene Werke: Simvoly vlasti i bor’ba za vlast’ (2001) und das in Zusammenarbeit mit Figes erschienene Interpreting the Russian Revolution (1999). Als letztes Beispiel wird Steinbergs ­Proletarian Imagination (2002) genannt. Siehe ebd. 58, Fn. 39. 78 Smith: Historiography 736. 79 Figes, Orlando / Kolonitskii, Boris: Interpreting the Russian Revolution. The Language and Symbols of 1917. New Haven 1999. 80 Ebd. 145–146. 81 Ebd. 46–48. 82 Ebd. 74–75.

22 Einführung folge hatte die russische Literatur aufgrund der spezifischen politischen Bedingungen im Zarenreich von der radikalen Intelligenzija den »Status des Realen, Lebendigen«83 zugesprochen bekommen. Dies habe dazu geführt, dass sich die Radikalen darum bemüht hätten, den »literarischen Helden« im wirklichen Leben zu verkörpern: Im Falle des »klassischen« Terroristen der sogenannten ersten terroristischen Welle (1870er–1880er Jahre) ist der »mythische Held« ein junger Mensch. Dadurch wird seinem Leben eine größere Bedeutung zugesprochen als dem Leben des von ihm ermordeten um Jahre älteren Repräsentanten des Regimes. Der Terrorist »opfert« nicht nur sein Leben, sondern zugleich auch seine Möglichkeit zu lieben, eine Familie zu gründen und Kinder zu zeugen. Der Wert seines Lebens vergrößert sich deshalb, wenn es sich um eine Frau handelt. Durch sein »Opfer« wird der Terrorist, einem christlichen Märtyrer gleich, »geheiligt« und entzieht sich somit dem »irdischen« Gericht.84 Das von Mogil’ner postulierte reziproke Verhältnis von Literatur und Alltagswirklichkeit wird von einigen Rezensenten als Simplifizierung kritisiert.85 Dieser Kritik ist insofern zuzustimmen, als es durchaus große Differenzen zwischen dem mit literarischen Mitteln konstruierten Selbstbild der Revolutionäre und ihrem Alltagsleben gab. So lassen sich in den verstreuten Selbstzeugnissen Belege dafür finden, dass die strikten normativen Verhaltensregeln zu moralischer Überforderung, zu Selbstzweifeln und Identitätskrisen führen konnten. Dennoch gelingt es Mogil’ner, das normative Selbstbild des Revolutionärs präzise zu rekonstruieren. Die »revolutionäre Mythologie« hatte eine weite Ausstrahlungskraft in fast alle Teile der russländischen »Gesellschaft«. Susan Morrissey zeigt, wie sich radikale Studenten in der Artikulation und Ausgestaltung studentischer Proteste an den von den Revolutionären geschaffenen Praktiken und diskursiven Regeln orientierten. So wurde beispielsweise Selbstmord in den späten 1890er Jahren nur selten als das Ergebnis einer individuellen Leidenssituation gesehen, sondern – den von den narodovol’cy geprägten Mustern folgend – als ein politisches »Martyrium«.86 Unter der Studentenschaft versteht Morrissey dabei ein soziales Konstrukt, bei dem der Selbstidentifikation mit einem abstrakten Kollektiv eine weitaus größere Rolle zukam als gemeinsamen Erfahrungen.87 An der Jahrhundertschwelle wurde das Verhältnis von Religion und Revolution nicht zuletzt auf der Grundlage einzelner sozialer Gruppen ausgeleuch 83 Mogil’ner, Marina: Mifologija ›podpol’nogo cheloveka‹. Radikal’nyj mikrokosm v ­Rossii načala XX veka kak predmet semiotičeskogo analiza. Moskau 1999, 22. 84 Ebd. 53–54. 85 Boele, Otto: Review. Mifologiia ›Podpol’nogo cheloveka‹. Radikal’nyi mikrokosm v Rossii nachala XX veka kak predmet semioticheskogo analiza. In: The Slavic and East European Journal 3 (2000) 474–475, hier 475. 86 Morrissey, Susan: Heralds of Revolution. Russian Students and the Mythologies of ­Radicalism. Oxford u. a. 1998, 179–182. 87 Ebd. 4.

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tet. Auf die Wirkmächtigkeit der moralisch und emotional stark aufgeladenen Sprache der Revolution macht Mark Steinberg in einem Aufsatz von 2001 aufmerksam. Für »gewöhnliche« Russen hatten im Jahr 1917 vor allem drei Begriffe eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt: Das »Heilige«, das »Wahre« und das »Opfer«. Das Heilige und Wahre verwiesen auf die utopischen politischen und sozialen Erwartungen, die mit der Revolution verbunden wurden. Heilig konnten beispielsweise die Revolution und ihre Losungen sein. Die Revolution selber wurde als ein Kampf für »pravda« und »istina« imaginiert. Im Kontext der Revolution verwiesen beide Begriffe, trotz aller semantischen Unterschiede, auf eine moralische Wahrheit, beide trugen nach Steinberg einen »sakralen« Charakter. Für diese Wahrheit mussten blutige Opfer gebracht werden. Das Blut »reinigte« und »errette« die aus den Unterschichten kommenden Teilnehmer der Revolution. Andere wiederum erkannten in den Führern der diversen Sowjets christusähnliche Gestalten.88 In seiner 2002 erschienenen und seitdem oft zitierten Monographie Proletarian Imagination führt Steinberg diese Überlegungen auf der Grundlage literarischer Zeugnisse russischer »Arbeiterintelligenzler« weiter aus. In ihren literarischen Werken werde die Ambiguität der Moderne, die Verflechtung von »Verlust« und »Befreiung«, sichtbar. Religiöse Bilder, eine mythische Terminologie und sakrale Narrative hätten es ihnen erlaubt, das »Chaos der Existenz«89 zumindest metaphorisch zu ordnen. Steinberg schloss sich somit einem unter Historikern verschiedener Fachbereiche wachsenden Konsens an, die Dichotomien von Säkularem und Profanem, sowie Individuellem und Kollektivem zugunsten einer historisierenden Sicht zu modifizieren und die Komplexität und Diversität von Individualität in der Moderne zu betonen.90 Laurie Manchester stellt in ihrer 1995 als Dissertation und 2008 in Buchform erschienenen Studie zu den russischen Priestersöhnen die These auf, dass die popoviči auch dann dem priesterlichen Dienstethos ihrer Väter verpflichtet blieben, wenn sie die Seminarstätten ohne Priesterweihe verließen und säkularen Professionen nachgingen. Die These ist insofern nicht neu, als bereits 88 Steinberg, Mark: Introduction. The Language of Popular Revolution. In: Ders. (Hg.): Voices of Revolution, 1917. New Haven, London 2001, 1–35. 89 Steinberg, Mark: Proletarian Imagination. Self, Modernity, and the Sacred in Russia, 1910–1925. Ithaca 2002, 283. 90 So Föllmer über die traditionelle Gegenüberstellung von kollektivistischen und individualistischen Identitätsentwürfen: »In Russia before and during the Revolution, proletarian writers cultivated an idea of the self that revolved around notions of individual suffering. In the interwar decades, French Communists acted as champions of small property holders and suburban settlers, downplaying their ideological commitment to collectivization. During the same period, Catholic pedagogy in Spain, responding to parental demand, emphasized the personal development of children instead of their subordination to hierarchical authority.« Föllmer, Moritz: Individuality and Modernity in Berlin. Self and Society from Weimar to the Wall, Cambridge 2013, 13.

24 Einführung Bulgakov die Vermutung aufgestellt hatte, dass die in der Revolutionsbewegung tätigen Priestersöhne, allen voran Dobroljubov und Černyševskij, den Rigorismus ihrer religiösen Umgebung geerbt hätten. Diese Vermutung kann Manchester in einer materialreichen Studie bestätigen.91 Wichtig erscheint mir zudem die von ihr mit Verweis auf M. H. Abrams, Michel de Certeaus und Charles Taylors geäußerte Annahme, dass konträr einer weit verbreiteten Annahme die »Säkularisierung der christlichen Tradition«92 kein vielbeschworenes Spezifikum Russlands darstellt, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen. Die alte Frage nach dem Einfluss religiöser Ethiken auf die Dynamiken sozialer Schichten wird auch von Dave Pretty in einem Aufsatz aus dem Jahre 1995 gestellt. Pretty argumentierte, dass es gerade Arbeiter waren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben eine vergleichsweise hohe religiöse Aktivität demonstriert hätten, empfänglicher für eine »milleniaristische Doktrin« wie den Kommunismus gewesen seien. Sie tendierten folglich dazu, ihren Übergang zu politischer Aktivität als eine Konversionserzählung auszugestalten.93 Heather Coleman zeigt in einer 2005 erschienen Monographie, wie die Februarrevolution von russischen Baptisten, denen Robinson eine Affinität für Zivilrechte attestiert, als ein religiöses Ereignis interpretiert wurde, das die Hoffnung auf eine religiös-politische Erneuerung der Welt in sich trug. Sie diskutiert außerdem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Idee der religiösen Veränderung der Welt und dem revolutionären Transformationsprojekt. In beiden Fällen wurde eine Verbindung zwischen politischer Veränderung und dem Bewusstsein des Individuums postuliert. Doch während für orthodoxe Marxisten die Materie das Bewusstsein bestimmte, glaubten die Baptisten daran, dass soziale Veränderungen auf individuelle geistige Veränderungen folgen müssen.94 91 Manchester, Laurie: Holy Fathers, Secular Sons. Clergy, Intelligentsia, and the Modern Self in Revolutionary Russia. DeKalb 2008; Dies.: The Secularization of the Search for ­Salvation. The Self-Fashioning of Orthodox Clergymen’s Sons in Late Imperial Russia. In: Slavic Review 1 (1998) 50–76. 92 Mančester, Lori: Popoviči v miru. Duchovenstvo, intelligencija i stanovlenie sovremennogo samosoznanija v Rossii. Moskau 2015, 16–17. Diese These wird sich umso mehr erhärten lassen, wenn man die Arbeiten zur Säkularisierung religiöser Vorstellungen in der deutschen Sozialdemokratie anschaut. Siehe dazu Hölscher, Lucian: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich. Stuttgart 1989; Prüfer: Sozialismus statt Religion. Eine sehr materialreiche, wenngleich von der politisch-religiösen Agenda des Verfassers beeinflusste, komparative Übersicht zum Christlichen Sozialismus findet sich bei Cort, John: Christian Socialism. An Informal History. Maryknoll 1988. 93 Pretty, Dave: The Saints of the Revolution. Political Activists in 1890s Ivanovo-­ Voznesensk and the Path of Most Resistance. In: Slavic Review 2 (1995) 276–304. 94 Coleman, Heather: Russian Baptists and Spiritual Revolution, 1905–1929. Bloomington 2005, hier v. a. 124–136. Siehe auch Etkinds Untersuchung zu den Versuchen der Bolschewiken, allen voran Bonč-Bruevičs, die heterodoxen religiösen Gruppen als Unterstützer für

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Auch in der Ideengeschichte wurde der Einfluss der Religion auf sozialistische Theoriegebäude thematisiert. Victoria Frede argumentiert, dass der von Dobroljubov und Černyševskij verfochtene Atheismus keinesfalls eine Abkehr von religiösen Konzepten bedeutet habe. Vielmehr wurde eine atheistische Grundhaltung zur unumgänglichen Voraussetzung für die individuelle Parti­ zipation an einem sozialen und politischen Transformationsprozess, der dem christlichen Erlösungsdenken verhaftet blieb und mit Hilfe eines entsprechenden Vokabulars artikuliert wurde.95 Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte dazu, dass sich Forscher verstärkt mit der Geschichte des russischen Terrorismus zu beschäftigen begannen.96 In der »westlichen« Historiographie war es vor allem Anna Geifmans Studie zur sogenannten zweiten Terrorwelle im Zarenreich (1902–1911), die eine neue Diskussion entfachte. Geifman setzte sich zum Ziel, das revolutionäre heroische Selbstbild zu »demystifizieren und zu deromantisieren«.97 Sie stellt die

die Revolution zu gewinnen. Etkind, Alexandr: Chlyst. Sekty, literatura i revoljucija. ­Moskau 1998, 631–674. Eine gute deutschsprachige Übersicht über die gescheiterten Kooperationsversuche zwischen den Radikalen der Sechziger Jahre und den Altgläubigen findet sich bei Schmidt, Heiko: Glaubenstoleranz und Schisma im Russländischen Imperium. Die staatliche Politik gegenüber den Altgläubigen in Livland, 1850–1906. Göttingen 2015, 156–162. Zu den Erwartungen der Revolutionäre und der tatsächlichen Rolle heterodoxer religiöser Gruppen in der Revolution von 1905 siehe Schulze Wessel, Martin: Revolution und religiöser Dissens. Der römisch-katholische und russisch-orthodoxe Klerus als Träger religiösen Wandels in den böhmischen Ländern bzw. in Russland 1848–1922. München 2011, 71–73. Zu Herzen und den Altgläubigen siehe außerdem Zen’kovskij, Sergej: Russkoe staroobrjadčestvo. Bd. 2. Moskau 2009, 499–520. 95 Frede, Victoria: Doubt, Atheism, and the 19th Century Russian Intelligentsia. Madison 2011, hier v. a. 120–149. Siehe außerdem die bekannte Černyševskij-Studie von Irina Paperno, in der auf die Zusammenhänge zwischen Černyševskijs religiöser Sozialisation, seiner Lektüre der französichen sogenannten utopischen Sozialisten und seinem Konzept des »neuen Menschen« hingewiesen wird. Paperno, Irina: Chernyshevsky and the Age of Realism. A Study in the Semiotics of Behavior. Stanford 1988. Erhellend ist Marcia Morris’ Analyse des von ihr so genannten »asketischen Helden« in der russischen Literatur. Morris zeigt, wie diese traditonsreiche Figur in Černyševskijs Rachmetov-Figur zu neuem Leben erweckt wird. Morris, Marcia: Saints and Revolutionaries. The Ascetic Hero in Russian Literature. Albany 1993. 96 Gorodnickij, Roman: Boevaja organizacija partii socialistov-revoljucionerov v ­1901–1911 gg. Moskau 1998; Leonov, Michail: Partija socialistov-revoljucionerov v 1905–1907 gg. Moskau 1997; Morozov, Konstantin: Partija socialistov-revoljucionerov v 1907–1914 gg. Moskau 1998; Budnickij, Oleg (Hg.): Krov’ po sovesti. Terrorizm v Rossii. Dokumenty i biografii. ­Rostov am Don 1994; Fel’dman, David / Odesskij, Michail: Poėtika terrora i novaja administrativnaja real’nost’. Očerki istorii formirovanija. Moskau 1997; Budnickij, Oleg: Terrorizm v rossijskom osvoboditel’nom dviženii. Ideologija, ėtika, psichologija (vtoraja polovina XIX –  načalo XX v.). Moskau 2000. 97 Geifman, Anna: Thou Shalt Kill. Revolutionary Terrorism in Russia, 1894–1917. Prince­ ton 1995, 7.

26 Einführung These auf, dass um die Jahrhundertwende eine »neuer Typus« des ­Revolutionärs die historische Bühne betreten habe: ungebildet, ideologisch desinteressiert, von außerordentlicher krimineller Energie, oft psychisch labil und mit wenig Respekt für die vermeintlichen Tugenden der älteren Revolutionsbewegung. Darüber hinaus postuliert Geifman eine direkte Verbindung zwischen dem vorrevolutionären Terror und dem nachrevolutionären Terror der Bolschewiken. Sie verweist außerdem auf den Einfluss religiöser Traditionen auf die Revolution. Geifman zufolge erkläre sich der besondere Radikalismus der weiblichen Terroristen im frühen 20. Jahrhundert zumindest zum Teil durch den Einfluss weiblicher Martyriumsvorstellungen in der Orthodoxie.98 Den sehr hohen Prozentsatz an Juden in der Revolutionsbewegung hingegen erklärt sie mit Verweis auf Nikolaj Berdjaev. Dieser hatte argumentiert, dass die jüdischen Revolutionäre das traditionelle messianische Denken, das die Erlösung Israels nicht im Jenseits, sondern auf der Erde prophezeie, verweltlicht hätten. Hinzu kamen der russische und ukrainische Antisemitismus und die Pogrome, die jedoch als Erklärung allein nicht ausreichen würden.99 In die Kritik geraten sind vor allem Geifmans sehr radikalen Zuspitzungen und ihr stark psychologisierender Ansatz.100 Ihr wird vorgeworfen, »Vechi-Positionen« unkritisch zu reproduzieren, die Rolle des repressiven Staates nicht genügend zu berücksichtigen und die Mentalitätsunterschiede zwischen Berufsterroristen und den aus den Unterschichten kommenden Partizipanten des Massenterrors zu kaschieren. Kritisiert wird außerdem ein fehlendes Bewusstsein für das Politische und die performative Dimension von Wahn und Terror.101 Außerdem scheint mir die Gegenüberstellung der Narodnaja volja, die sich um moralische Reinheit bemüht habe, und des neuen (sprich: unmoralischen) Massenterrors nicht dem Forschungsstand zur Geschichte der Narodnaja volja zu entsprechen. Trotz aller bedenkenswerten Zuspitzungen verweist Geifman auf den in der Forschung weitestgehend vernachlässigten Aspekt der psychischen Devianz russischer Terroristen sowie auf die fließenden, für den Historiker oftmals schwer zu bestimmenden Übergänge zwischen krimineller und revolutionärer Tätigkeit. Die Anschläge vom 11. September 2001 führten zu einer Flut von wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Terrorismus. Auch wenn rein prozen­ 98 Ebd. 12. 99 Ebd. 32–33. 100 So wagte Geifman zum Beispiel mit Verweis auf Jerrold Post die äußerst zweifelhafte Ferndiagnose, dass sehr viele russische Terroristen unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung oder gar unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gelitten hätten. Ebd. 260 Fn. 20. 101 Siehe dazu Morrissey, Susan: The ›Apparel of Innocence‹. Toward a Moral Economy of Terrorism in Late Imperial Russia. In: The Journal of Modern History 3 (2012) 607–642, 615; Budnickij: Terrorizm 24–27; Ščerbakova, Ekaterina: ›Otščepency‹. Put’ k  terrorizmu (60–80-e gody XIX veka). Moskau 2008, 12.

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tual gesehen die Zahl der geschichtswissenschaftlichen Neuerscheinungen gering war, wurde das Interesse für die Geschichte des modernen Terrorismus gestärkt.102 Die neueren Untersuchungen zum Terrorismus im Zarenreich sind in erster Linie kulturgeschichtliche Arbeiten. Hilbrenner und Schenk zufolge war dies nicht nur Ursache einer längerfristigen historiographischen Entwicklung, sondern auch Resultat unbeantwortet gebliebener Fragen. Weder die älteren Arbeiten, die sich auf die Ideologiegenese konzentriert haben, noch die Sozialgeschichte hätten eine befriedigende Antwort darauf geben können, warum sich das narodničestvo in einen terroristischen und einen gemäßigteren Flügel geteilt habe.103 Einen vielversprechenden Ansatzpunkt, der helfen könnte, auf diese Frage zu antworten, gibt Claudia Verhoeven in ihrer Monographie Odd Man ­Karakozov (2009). Verhoeven zufolge war Karakozov vom Wunsch geleitet, als autonomes Subjekt am historischen Transformationsprojekt der Moderne partizipieren zu können. Wenn nun aber der Staat das Individuum daran hindere, an der »Erneuerung der Welt«, an ihrer »universellen Errettung«104 teilzunehmen, und die Autonomie des Individuums stark einschränke, so sei der Weg für terroristisches Handeln eröffnet. Verhoeven folgt hier, wie Morrissey bemerkt, dem alten Narrativ der »geblockten Entwicklung«. Die Arbeit leistet jedoch viel mehr, als alte Kausalzusammenhänge in eine »neue Terminologie«105 zu kleiden. Ältere Darstellungen, insbesondere solche, die dem sowjetischen Masternarrativ der »revolutionären Situation (revoljucionnaja situacija)«106 oder einer allgemein gehaltenen Modernisierungstheorie folgten, waren nicht in der Lage, die Motivation der in der Regel aus privilegierten Verhältnissen stammenden Revolutionäre befriedigend zu erklären. Verhoeven löste dieses Problem, indem sie Autonomiedenken und Fortschrittsdenken im Konzept des »Selbst« zusammenführte. Sollte ihre Annahme stimmen, müsste, wie diese Arbeit 102 Hilbrenner, Anke / Schenk, Benjamin: Introduction. Modern times? Terrorism in Late Tsarist Russia. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 1 (2010) 161–171, hier 161; Morrissey, Susan: Terrorism, Modernity, and the Question of Origins. In: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 1 (2011) 213–226, hier 213. Safronova zufolge habe die Erforschung des Terrorismus im Zarenreich vom Boom der Terrorismusstudien nicht in der gleichen Weise profitiert, wie andere Fachgebiete. Safronova, Julia: Russkoe obščestvo v zerkale revoljucionnogo terrora. 1879–1881 gody. Moskau 2014, 20. 103 Hilbrenner / Schenk: Introduction 164. 104 Verhoeven, Claudia: The Odd Man Karakozov. Imperial Russia, Modernity, and the Birth of Terrorism. Ithaca 2009, 7. 105 »Paradoxically, Verhoeven’s underlying causual framework is a familiar one cloaked in new terminology: blocked development.« Morrissey: Terrorism, Modernity 217. 106 Eine gute, wenngleich apologetische, Zusammenfassung des Konzepts findet sich bei Nikolaj Troickij. Ders.: Pervaja revoljucionnaja situacija. Ponjatie i priznaki revoljucionnoj situacii. In: Skepsis. Naučno-prosvetitel’skij žurnal, URL : http://scepsis.net/library/id_1466. html (13.02.17).

28 Einführung zeigen wird, auch die Frage nach der Freiheit des Individuums und dem Wert des menschlichen Lebens ihre Wurzeln in den Eigenheiten der revolutionären »Subjektivität« haben. Verhoevens Arbeit wird manchmal dem »biographical turn« zugerechnet, der heute in den Studien zur russländischen Revolutionsgeschichte deutlich an Gewicht gewonnen hat. Im Zuge der Erforschung der Biographien revolutionärer Frauen wurde dadurch nicht zuletzt auch die Frage nach dem Einfluss des Religiösen auf weibliche revolutionäre Identitätsentwürfe gestellt. So verweist beispielsweise Hoogenboom erneut auf die Bedeutung der Heiligenvita für die revolutionäre Autobiographie,107 während während Lynn Patyk die außerordentliche Rolle thematisiert, welche die in der Öffentlichkeit getragene Kleidung für die Konstruktion des Märtyrerinnenbildes hatte.108 Sally Boniece hingegen zeigt, welche Gründe der Aufstieg Marija Spiridonovas zur bekanntesten und mit Abstand am häufigsten verehrten »Märtyrerin« der Revolution hatte. Anders als andere bekannte Terroristinnen wies Spiridonova alle Eigenschaften auf, die sie für diese »mythologische« Rolle prädestinierten: Sie hatte einen russischen Nachnamen, wurde als junge, keusche und hübsche Frau betrachtet und kam zudem aus der Oberschicht. Außerdem haben es Spiridonova und ihre Tambover SR-Organisation verstanden, die schwere Misshandlung der Terroristin durch die Behörden in politisches Kapital umzumünzen. Anders als Geifman sieht Boniece in der psychologischen Devianz Spiridonovas keinen entscheidenden Faktor und betont die politisch-sozialen Rahmenbedingungen des autokratischen Russlands, in denen Spiridonovas persönliche Frustration und psychologische Beeinflussung durch ihren Geliebten in Terror umschlagen konnten. Schlussendlich hätten die revolutionären Untergrundzirkel den Agenten des Modernisierungsprojektes Autonomie und Gleichheit geboten.109 Ebenfalls in der Folge des »biographical turn« entstanden ist Stephan Rindlis­ bachers Studie Leben für die Sache (2014). Anhand einer Doppelbiographie Vera Figners und Vera Zasuličs erforscht der Autor die Lebenswelten der russländischen Revolutionäre. Obwohl Rindlisbacher mit dem Konzept der »politischen Religion« arbeitet, gelingt es ihm, auf Analogiebildung beruhende Kurzschlüsse zu vermeiden und auf die enorme mobilisierende Wirkung konkreter 107 Hoogenboom, Hilde: Vera Figner and Revolutionary Autobiographies. The Influence of Gender on Genre. In: Marsh, Rosalind (Hg.): Women in Russia and Ukraine. C ­ ambridge 1996, 78–93, hier 85. Siehe auch Holmgren, Beth: For the Good of the Cause. Russian ­Women’s Autobiography in the 20th Century. In: Clayman, Toby / Greene, Diana (Hg.): Women Writers in Russian Literature. Westport 1994, 127–148, hier 144, Fn. 5. 108 Patyk, Lynn: Dressed to Kill and Die. Russian Revolutionary Terrorism, Gender, and Dress. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 1 (2010) 192–207, hier v. a. 199. 109 Boniece, Sally: The Shesterka of 1905–06. The Terrorist Heroines of Revolutionary Russia. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 1 (2010) 172–191; Dies.: The Spiridonova Case, 1906. Terror, Myth, and Martyrdom. In: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 3 (2003) 571–606.

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biblischer und anderer religiöser Texte hinzuweisen. Er betont außerdem die Nachwirkung des asketischen Ideals auf das Elitendenken der Revolutionäre und das Gewaltpotenzial, das aus der Sakralisierung des »Volkes« erwuchs. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde die Weltanschauung der Revolutionäre zu etwas hermetisch Geschlossenem, sodass Selbstaufopferung zu einem Selbstzweck werden konnte.110 Das Konzept der »politischen Religion« scheint nach wie vor bedenkenswert zu sein, wenn es nicht auf den Diktaturenvergleich angewandt wird, sondern, wie in diesem Falle, der Erhellung konkreter Diskurse und Praktiken dient.111 Nicht unerwähnt bleiben sollen an dieser Stelle zwei Arbeiten zur sowjetischen Epoche, die wertvolle Einsichten in die Verwendung religiös konno­tierter Ausdrücke in linken politischen Kontexten enthalten. Glennys Young untersuchte in Power and the Sacred in Revolutionary Russia (1997), wie die bäuerliche Bevölkerung am bolschewistischen Modernisierungsprojekt perzipierte und wie dabei politische Sinnzusammenhänge konstruiert wurden. Sie zeigte darin an Fallbeispielen, wie antireligiöse Aktivitäten religiöse Symbole und Institutionen zu ersetzen versuchten und sich in der Bekämpfung des Christentums von »christlichen Werten und Modellen«112 inspirieren ließen. Igal Halfin untersuchte in einer im Jahre 2000 erschienenen Arbeit sowjetische Autobiographien der 1920er Jahre. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass das Christentum und der Marxismus strukturell ähnliche »eschatologische Narrative« aufweisen. Eine geschlossene Vorstellung von Zeit habe es erlaubt, Analogien zum Sündenfall, der Ankunft des Messias, und der Apokalypse zu schlagen. Die Errichtung der klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft und Vollendung des »neuen Menschen« bedeutete im Marxismus auch das Ende der dialektisch voranschreitenden Geschichte. Unter der marxistischen Eschatologie sei demnach eine lineare Zeitkonzeption zu verstehen, die eine Bewegung des Proletariats aus der »Dunkelheit« des Kapitalismus zum »Licht« des Kommunismus, der innerweltlichen »Erlösung« der Geknechteten und Ausgebeuteten, vorgesehen habe.113 110 Rindlisbacher, Stephan: Leben für die Sache. Vera Figner, Vera Zasulič und das radikale Milieu im späten Zarenreich. Wiesbaden 2014; Ders.: Radicalism as Political Religion? The Case of Vera Figner. In: Totalitarian Movements and Political Religions 11 (2010) 67–87. 111 So schon Schulze Wessel über den Wert des Konzeptes in der Nationalismusforschung. Siehe Schulze Wessel: Einleitung. In: Ders.: Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa. Stuttgart 2006, 7–14, hier 8. 112 Young, Glennys: Power and the Sacred in Revolutionary Russia. Religious Activists in the Village. University Park 1997, 261. 113 Halfin, Igal: From Darkness to Light. Class, Consciousness, and Salvation in Revolutionary Russia. Pittsburgh 2000. Strukturelle Analogien erkannte Halfin außerdem zwischen der kommunistischen Autobiographie und dem christlichen Bekenntnis: Wie das christliche Bekenntnis habe auch die Autobiographie einen »ideologisch unperfekten« bzw. naiven Ausgangspunkt gebraucht. Im entscheidenden Moment, an dem der Verfasser vorgab, das »Licht

30 Einführung Der historiographische Überblick zeigt, dass sich die Forschung dem Spannungsfeld zwischen Religion und Sozialismus auf unterschiedliche Weise angenähert hat. Die ältere Forschung hat nach dem Einfluss religiöser Vorstellungen  – insbesondere apokalyptischer Texte und der Evangelien  – auf die sozialistischen Ideologien und auf das marxistische Geschichtsverständnis gefragt. Die kulturgeschichtlich orientierte Forschung führte diesen Ansatz teilweise fort, entwickelte aber nur noch selten voraussetzungsreiche Erklärungsmodelle wie dasjenige der »politischen Religion«. Die Verschiebung des Fokus von der Makro- auf die Mikroebene führte dazu, dass die Rolle einiger religiöser Konzepte, allen voran des »Martyriums«, als Motivationsquelle für das Handeln der Revolutionäre besser herausgearbeitet werden konnte. Außerdem wurde eine besondere Anziehungskraft von Heiligenviten auf Frauen beobachtet und nach der Rezeption der revolutionären Ideen bei verschiedenen sozialen und religiösen Gruppen des russländischen Reichs gefragt. Untersucht wurden außerdem die vor- und nachrevolutionären Diskussionen unter Sozialisten rund um das Thema Religion. In den 1990er Jahren wurde schließlich die Sprache der Revolution selbst zum Analysegegenstand erhoben. Gefragt wurde nach der Funktion des »Sakralen«, »Heiligen« und »Wahren« für die Selbstinterpretation und für das Handeln von dem Sozialismus nahe stehenden und in der Revolutionsbewegung aktiven Menschen sowie nach dem Einfluss religiöser Ethiken auf die Sprache und Praktiken der Revolutionäre. Die neuere Forschung hat auf den Zusammenhang zwischen Martyriumsdiskurs und der Rechtfertigung revolutionärer Gewalt sowie auf den performativen und kommunikativen Aspekt des Terrors aufmerksam gemacht. Die heutige Forschungslandschaft ist durch eine Pluralität an Forschungsansätzen, Schwerpunkten und Erklärungsangeboten für den Gebrauch religiöser Semantiken in den Texten der Revolutionäre gekennzeichnet. Neben dem Konzept der »politischen Religion«, wurden auch ältere, auf Berdjaev und Bulgakov zurückgehende Erklärungsmuster weiterentwickelt. Obwohl sich bereits mehrere große Arbeiten mit der Entstehung der Sprache der Revolution und den Selbstentwürfen ihrer Akteure beschäftigt haben, weist unser Verständnis der religiösen Semantiken in den Texten der revolutionären Bewegung und der Russischen Revolution immer noch größere Lücken auf. Nicht genügend erforscht erscheinen insbesondere Fragen nach der konkreten Übersetzbarkeit religiöser Heilsvorstellungen in politische Praktiken sowie nach der Genealogie der sowjetischen politischen Sprache und Identitätsentwürfe. Nicht gänzlich geklärt ist außerdem die damit zusammenhängende

des Kommunismus« zu sehen, wurde von ihm die unbedingte Treue zur Parteilinie erwartet, denn nach der »Bekehrung« musste – den Genreregeln gemäß – auf die Permanenz sowie die Perfektionierung des »richtigen Bewusstseins« geachtet werden. Ders.: Red Autobiographies. Initiating the Bolshevik Self. Seattle 2011, 4. 

Einführung  31

Frage, wie signifikant der Bruch von 1917 war und wie stark Kontinuitätslinien zu gewichten sind. Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch, diesen Desideraten abzuhelfen.114

114 Da die Arbeiten an diesem Buch Anfang 2017 im Wesentlichen abgeschlossen waren, war es mir nicht mehr möglich, die folgenden Neuerscheinungen zu berücksichtigen; sie seien jedoch an dieser Stelle erwähnt, um den Leser auf die interessanten Entwicklungen auf diesem Feld aufmerksam zu machen: Ely, Christopher: Underground Petersburg. Radical Populism, Urban Space, and the Tactics of Subversion in Reform-Era Russia. DeKalb 2016; Henderson, Robert: Vladimir Burtsev and the Struggle for a Free Russia. A Revolutionary in the Time of Tsarism and Bolshevism. London u. a. 2017; Wurr, Tim-Lorenz: Terrorismus und Autokratie. Staatliche Reaktionen auf den Russischen Terrorismus, 1870–1890. Paderborn 2017; Slezkine, Yuri: The House of Government: A Saga of the Russian Revolution. Princeton 2017.

2. Ansatz und Fragestellung Der Forschungsansatz dieser Arbeit geht von drei grundlegenden Prämissen aus; sie basieren auf einer Reihe von Erkenntnissen, die von der »westlichen« Forschung seit dem Zweiten Weltkrieg erbracht wurden. Die erste Prämisse ist die von Karl Löwith aufgestellte These, dass europäische Geschichtsphilosophien, insbesondere der Marxismus, auf der Grundlage älterer theologischer Geschichtsdeutungen entstanden sind. Ohne zum Konzept der »politischen Religion« zu greifen, stellt die vorliegende Arbeit die These auf, dass die Art und Weise, wie russische Sozialisten Vorstellungen vom Guten artikuliert haben, nur vor dem Hintergrund einer langen jüdisch-christlichen Tradition verständlich wird. In diesem Sinne soll von religiös imprägnierten Zukunftsvorstellungen die Rede sein. Gleichzeitig soll jedoch zur Disposition gestellt werden, ob und inwiefern religiös impägnierte Vorstellungen in politische Praktiken übersetzt wurden. Die großen revolutionären Parteien haben, wie etwa neuere Arbeiten von Anna Geifman, Oleg Budnickij und David Fel’dman zeigen, im Zuge der Ersten Revolution individuelle terroristische Anschläge praktiziert, auch wenn sie, wie die Sozialdemokraten, individuellen Terror aus ideologischen Gründen ablehnten. Die zweite Prämisse stellt die These dar, dass lagerübergreifende revolutionäre Moralvorstellungen eine wichtigere Rolle bei der Produktion terroris­ tischer Gewalt spielten als ideologische Überlegungen. Die Erkenntnis, dass Metaphern nicht einfach nur rhetorische Stilmittel sind, sondern auf die Absichten, Wünsche sowie Selbst- und Fremdwahrnehmungen der betreffenden Akteure verweisen können, bildet die dritte Prämisse der vorliegenden Arbeit. Als Substitutionsfiguren geben Metaphern Aufschluss über die Auswahlkriterien des Sprechers, der sich in der Wahl des Substituens von der Frage nach Ähnlichkeiten leiten lässt. Metaphern helfen somit die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf bestimmte Aspekte zu lenken und andere Merkmale auszublenden. Insektenmetaphern helfen beispielweise das Menschliche im Feind zu leugnen, während Martyriumsmetaphern die Leiden des Täters und die moralische Verwerflichkeit des Feindes hervorheben sowie eine Unschuldsvermutung implizieren. In einigen Fällen können Metaphern deshalb als »implizite und explizite Identitätsaussagen«1 verstanden werden. Die vorliegende 1 So Elizaveta Liphardt mit Verweis auf den Sprachphilosophen Max Black sowie die gemeinsame Arbeit des Philosophen Mark Johnson und des Linguisten George ­Lakoff und

34  Ansatz und Fragestellung Arbeit verfolgt diesen sprachzentrierten Ansatz weiter und fragt nach der Bedeutung religiöser Semantiken und der damit verbundenen Vorstellungen für das revolutionäre Selbstverständnis und die Praktiken der Akteure der Revolutionsbewegung. Eine Geschichte, die sich auf diese Aspekte konzentriert, kann vernünftigerweise nur »von unten« geschrieben werden. Ich werde mich dabei jedoch weder auf Einzelschicksale konzentrieren noch eine Gruppenbiographie schreiben. Von der Annahme ausgehend, dass die russischen Revolutionäre abseits aller ideologisch-politischen Differenzen ähnlichen Moralvorstellungen anhingen, soll vielmehr die Entwicklung des »revolutionären Selbst«2 von den 1860er Jahren bis zur Revolution von 1917 rekonstruiert werden. Um eine so große Textmenge überhaupt sinnvoll analysieren und interpretieren zu können, musste ich mich im Wesentlichen auf das narodničestvo und den Marxismus beschränken. Da insbesondere die Frage nach den Kontinuitäten zwischen einem »revolutionären« und einem »sowjetischen Selbst« nach der Klärung des Letzteren verlangt, soll vor der weiteren Erläuterung des von mir gewählten Ansatzes das Konzept der sogenannten sowjetischen Subjektivität und ihrer Prämissen genauer angeschaut werden. In den Geschichtswissenschaften hat sich in den letzten Jahrzehnten eine vieldiskutierte Forschungstendenz etabliert, die sich intensiv mit der »Subjektivität« in der russländischen, vor allem aber in der sowjetischen Geschichte befasst hat. Exemplarisch sind hier die Arbeiten von ­Jochen Hellbeck und Igal Halfin. Die beiden Historiker lehnen sich an Foucaults »produktiv-strategischen« Machtbegriff und das damit verbundene »Marginalitätsmodell« an. Bei allem Rückgang repressiver Staatsmacht in der Moderne, so Foucaults kritisch-provokative Pointe, habe sich gleichzeitig die Entfaltung einer produktiven Mikromacht vollzogen. Durch disziplinierende Praktiken, etwa die minutiöse Einteilung des Tagesablaufs in Gefängnissen, Schulen und Fabriken wurde die moderne Individualisierung erst ermöglicht. Das Subjekt wird Foucault zufolge durch ein Netz von Praktiken und Diskursen hervorauf den Germanisten Armin Burkhardt. Siehe Liphardt, Elizaveta: Aporien der Gerechtigkeit. Politische Rede der extremen Linken in Deutschland und Russland zwischen 1914 und 1919. Tübingen 2005, 202–204. Das Zitat stammt von Armin Burkhardt. Ebd. 204. 2 »Selbst« im Sinne von »subjektives und personales Sein« ist nicht streng von »Subjekt« zu unterscheiden. Aus diesem Grunde werden beide Begriffe in der Literatur oft synonym verwendet. In der Regel wird mit »Subjekt« ein neuzeitliche Sicht in Verbindung gebracht: Der Mensch als erkennendes und wollendes Wesen wird erst in der Neuzeit zum Subjekt der Erkenntnis und zum Ausgangspunkt des philosophischen Denkens. Schöndorf, Harald: Selbst. In: Ders. / Brugger, Walter (Hg.): Philosophisches Wörterbuch. Freiburg im Breisgau 2010, 431–432, hier 432. Ders.: Subjekt. In: Ebd. 477. Manchmal wird jedoch zwischen Subjekt und Selbst unterschieden, um den Blick für vormoderne Subjektkonzepte zu schärfen. So etwa beim späten Foucault und teilweise bei Charles Taylor. Siehe dazu Alkemeyer, Thomas / Budde, Gunilla / Freist, Dagmar: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013, 9–32, hier 21–22.

Ansatz und Fragestellung  35

gebracht, dem es nicht entrinnen kann.3 In seinem Spätwerk verfolgte Foucault diesen Gedanken weiter und entwarf das Modell der »Pastoralmacht«. Das »moderne Subjekt« erschien nun als die säkularisierte Form eines früheren christlichen »Selbst«. Die Funktion, die früher der Pastor erfüllt hatte, übernahmen Foucault zufolge im modernen Staat eine ganze Reihe von Institutionen: »Anstelle einer pastoralen und einer politischen Macht, die mehr oder weniger miteinander im Bunde waren und mehr oder weniger miteinander rivalisierten, gab es nun [ab dem 18. Jh., d. Verf.] eine individualisierende ›Taktik‹, die das Kennzeichen einer Reihe von Mächten wie der Familie, der Medizin, der Psychiatrie, der Erziehung, der Arbeitgeber usw. war.«4

Im Anschluss an Foucault betonen Hellbeck und Halfin, dass auch im sowjetischen Fall die Disziplinarmacht durch eine Normalisierungspolitik (Parteizellen, Ausschüsse, Kongresse, Schulen, Fabriken etc.) Wissen über die unterworfenen Körper produziert habe. Nur so lasse sich verstehen, wie Individuen das sowjetische Programm übernehmen und am Prozess der Selbsttransformation und Selbstperfektion teilnehmen konnten. Problematisch hingegen sei der Zugang älterer Arbeiten zum Problem der repressiven Gewalt in der Sowjetunion, da diese dem physischen Terror und dem ideologischen Druck eine machtfreie Sphäre des »Privaten« entgegengestellt hätten.5 Das im öffentlichen Raum Gesprochene, etwa bei der Befragung und Prüfung eines Parteikandidaten durch Kontrollkommissionen, sollte nach Hellbeck und Halfin nicht voreilig als ein Ausdruck der Beteiligung des Sprechers an ungleichen Machtbeziehungen interpretiert werden, denn die authentische Stimme des Autors sei eine Illusion. Der Historiker könne sich nicht dem Filter der »offiziellen Sprache« entziehen, der diese Stimme überhaupt erst produziert habe. Folglich müsse nicht die »eigentliche« Stimme gesucht, sondern das »bolschewistische System von Bedeutungen«6 untersucht werden. 3 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1993. 4 Foucault, Michel: Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert / Rabinow, Paul (Hg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Mit einem Nachwort von und einem Interview mit Foucault. Frankfurt am Main 1987, 243–264, hier 250. Auch Vorstellungen vom Heil haben sich Foucault zufolge gewandelt. Dadurch konnten Vorstellungen von »Gesundheit, Wohlergehen (das heißt: ausreichende Mittel, Lebensstandard), Sicherheit, Schutz gegen Unfälle« entstehen. Ebd. 249. 5 Hellbeck, Jochen: Working, Struggling, Becoming. Stalin-Era Autobiographical Texts. In: Halfin, Igal (Hg.): Language and Revolution. Making Modern Political Identities. London, Portland 2002, 114–135; Hellbeck, Jochen / Halfin, Igal: Interview with the editors of Ab Imperio. In: Ab Imperio 3 (2002) 217–260, 252ff; Hellbeck, Jochen: Fashioning the Stalinist Soul. The Diary of Stepan Podlubnyi (1931–1939). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 3 (1996) 344–373. 6 Halfin, Igal / Hellbeck, Jochen: Rethinking the Stalinist Subject. Stephen Kotkin’s ›Magnetic Mountain‹ and the State of Soviet Historical Studies. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 3 (1996) 456–463, hier 458.

36  Ansatz und Fragestellung Innovativ sind diese Studien aus mehreren Gründen.7 Erstens gehen sie von einem reziproken Verhältnis von Sprache und »Selbst« aus und können somit zeigen, dass die Konstruktion von Identitäten von bestimmten kulturellen Mustern abhängig ist und diese wiederum selbst verändert. Zweitens haben Hellbeck und Halfin die strikte Unterscheidung zwischen »privatem« Selbstzeugnis und »öffentlicher« Propaganda relativiert und aufgezeigt, dass ideologische Indoktrinierung nicht nur von »oben« nach »unten« erfolgt ist, sondern in großem Masse intersubjektiv konstruiert wurde. Zudem betrachten sie das »sowjetische Projekt« als untrennbar mit dem »Projekt der Moderne« verbunden und vermögen nicht zuletzt, die Komplexität und Diversität von Individualität jenseits der strikten Dichotomie »Individuum« – »Kollektiv« überzeugend darzustellen. Darüber hinaus sind die Arbeiten beider Historiker nicht blind für die religiösen Wurzeln der Moderne und des bolschewistischen Projektes im Besonderen. Dennoch weisen ihre Arbeiten auch Defizite auf. So führt der ihren Arbeiten zugrunde liegende Machtbegriff dazu, dass den »Strategien der Macht« eine Dominanz über das bewusste Handeln zugesprochen wird. Das führt jedoch zu einer Reihe von schwerwiegenden theoretischen Problemen,8 die auf der praktischen Ebene der historischen Analyse dazu führen, dass die »Wechselseitigkeit des Verhältnisses von Sprache und Subjekt zugunsten des bolschewistischen Dis-

7 Vgl. Dahlke, Sandra: Individuum und Herrschaft im Stalinismus. Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943). München 2010, 25.  8 Habermas argumentiert, dass die Philosophie des Subjekts von der Annahme ausgeht, dass die Beziehung des Subjekts zur Welt auf zwei Weisen hergestellt werden könne. Kognitive Beziehungen werden durch die Wahrheit des Urteils, praktische Beziehungen durch den Erfolg des Handelns reguliert. Macht sei in dieser Beziehung dasjenige, »by which the subject has an effect on objects in successful action«. Habermas, Jürgen: The Philosophical Discourse of Modernity. Twelve Lectures. Cambridge, Mass. 1987, 274. Der Erfolg des Handelns basiere direkt auf der Wahrheit des Urteils und nicht umgekehrt. Indem Foucault diese Abhängigkeit umkehrt, wird Macht nicht mehr an die Kompetenzen des handelnden und urteilenden Subjekts gebunden. Macht wird subjektlos und aufklärerische Kritik (der Macht) – zu einer Illusion der Macht. Wenn nun eine Wissensformation eine andere ersetzt, so kann die neue Wissensformation auch keine »superiority according to standards of truth claims« in Anspruch nehmen. Ebd. 281. Oder in den Worten von Kelly: »if critique itself is a form of power, then either it cannot be used to criticize power or if it is used it undermines itself«. Kelly, Michael: Introduction. In: Ders. (Hg.): Critique and Power. Recasting the Foucault / ­Habermas Debate. Cambridge, Mass. 1994, 1–16, hier 5. Das Problem ist nun, dass Foucault sich selbst als einen »dissident who offers resistance to modern thought and humanistically disguised disciplinary power« präsentiere. Habermas: The Philosophical Discourse 282. In eine ähnliche Richtung ging die Kritik von Charles Taylor. Wenn Macht eine »Strategie« verfolgt und nur via Täuschung funktionieren kann, dann erfordert ein solcher Machtbegriff, »als seine eigene Bedingung nicht nur die korrelativen Begriffe der Wahrheit und der Befreiung, sondern sogar die Standardverknüpfung zwischen ihnen, die die Wahrheit zur Bedingung der Befreiung erklärt«. Taylor, Charles: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. 6. Auflage. Frankfurt am Main 1992, 224.

Ansatz und Fragestellung  37

kurses bis auf wenige Ausnahmen […] unterbeleuchtet«9 bleibt. Da insbesondere bei Halfin Wahrheit systemrelational gedacht wird, wird auch die moralische und »empirische Falschheit des liberalen Postulats von der Freiheit des Subjekts«10 angeklagt. Gefordert wird eine historizisierende Sicht, die es erlauben würde, die »stalinistische Subjektivität« als ein »positives Projekt« zu begreifen. Diese Forderung ist sinnlos, denn ihr liegt eine Betrachtungsweise zugrunde, die von »hermetisch abgeschlossenen, monolithischen Wahrheitssystemen«11 ausgeht. Indem Halfin die Genealogie des stalinistischen Selbst ignoriert,12 verkennt er, dass die »liberalen Standards«13 wie »Autonomie« und »Individualismus« Teil des gemeinsamen sozialistischen »Projektes« waren und es nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig ist, die Kontinuitätslinien zwischen dem »revolutionären Selbst« und dem »bolschewistischen Selbst« im Auge zu behalten. Dies erlaubt aber wiederum, die sowjetischen Ideale anhand der vorrevolutionären auch dann zu messen und zu beurteilen, wenn man einen wie auch immer definierten »liberalen Standpunkt«14 ablehnt. Eine Arbeit, die sich mit revolutionären Selbstentwürfen befasst, sollte die freiheitlichen und emanzipatorischen »Verheißungen« der Revolution ernst nehmen und sie in einem breiteren Kontext der Moderne verorten können. Sie sollte außerdem nach der Rolle religiöser Semantiken im Allgemeinen und säkularisierter Heils- und Martyriumsvorstellungen im Besonderen für das Selbstverständnis der Revolutionäre fragen. Dabei soll das Verhältnis von Selbstentwurf und kulturellem Code als ein nichtdeterministisches Abhängigkeitsverhältnis begriffen werden, damit bewusstes, individuelles Handeln ver-

9 Insbesondere im Falle Halfins erzeugt das mitunter den Eindruck, als seien Menschen »bloße Aussageautomaten«. Herzberg, Julia: Rezension zu Halfin, Igal. Intimate Enemies. Demonizing the Bolshevik Opposition, 1918–1928. In: H-Soz-u-Kult, URL : http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-1-186 (am 17.02.17). Zur Kritik an der Übertragbarkeit des foucaultschen Modells auf die Sowjetunion siehe Etkind, Alexander: Soviet Subjectivity? Torture for the Sake of Salvation? In: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005) 171–186. 10 Wörtlich heißt es: »Ėmpiričeskaja ošibočnost’ liberal’nogo položenija o svobodnom sub’’ekte zaključaetsja v  nevozmožnosti dat’ ubeditel’noe ob’’jasnenie povedenija ljudej, kotorye vyražajut sebja čerez totalitarnye režimy«. Halfin, Igal: Interview 229. Unter den Standards der »liberalen Subjektivität« versteht Halfin Individualismus und Autonomie. Ebd. 227. 11 Taylor: Negative Freiheit? 232. 12 Im Interview mit Marina Mogil’ner, der Autorin einer bekannten Studie zu den identitätskonstituierenden »Mythen« der Revolutionsbewegung, erklärt Halfin, dass er mit Ausnahme der in diesem Buch bereits zitierten Studie von Fel’dman und Odesskij keine »ernsthaften Arbeiten« zum revolutionären Diskurs vor 1917 kenne. Halfin: Interview 247–249. 13 Ebd. 221. Bedenkt man die europäische Sozialismusgeschichte ist die Aussage, dass »Autonomie« und »Individualismus« – »liberale Standards« seien historisch kaum haltbar. 14 Ebd. 227.

38  Ansatz und Fragestellung stehbar bleibt und nicht zugunsten verallgemeinernder »strategischer« Erklärungsansätze aufgegeben wird.15 Mit Verhoeven lässt sich dabei fragen, ob insbesondere der russische Terrorismus als »Indikator«16 für das Vorhandensein eines »modernen Selbst« betrachtet werden kann. Mit anderen Worten: Hat der russische Radikalismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts Menschen hervorgebracht, die sich als »historisch bewusste und politisch souveräne Subjekte« verstanden, die in »Einklang mit ihrer Natur«17 zu handeln getrachtet haben? Mir scheint, dass Verhoeven hier auf zwei unterschiedliche, wenngleich oft miteinander verwechselte Vorstellungen verweist, die unter den Begriffen »Autonomie« und »Authentizität« subsumiert werden können. In der ideengeschichtlichen Herleitung dieser Begriffe folge ich dem kanadischen Philosophen Charles Taylor. Dieser zählt zu denjenigen prominenten Geisteswissenschaftlern, die sich darum bemüht haben, Säkularisierung neu zu denken, anstatt das Konzept gänzlich zu verwerfen. In seinem Hauptwerk Quellen des Selbst werden »Hintergrunderzählungen« untersucht, ohne welche sich das Selbst nicht adäquat verstehen lasse, wobei Säkularisierung selbst als eine solche Hintergrunderzählung aufgefasst wird. In seiner Genealogie der modernen Identität konzentriert sich Taylor, anders als beispielsweise Foucault, in ideengeschichtlicher Manier auf wichtige Grundtexte der »westlichen« Kultur. Damit soll eine »Landkarte unserer moralischen Welt« entstehen, »die zwar voller Lücken, Tilgungen und verschwommener Stellen sein kann, aber von höchster Bedeutung« sein sollte.18 Autonomievorstellungen Wenn in dieser Arbeit von Autonomie die Rede ist, so soll das heute weit verbreitete Ideal gemeint sein, dem zufolge »das eigene Handeln von selbstgesetzten Zielen abhängig«19 sein sollte. Hinter ihnen steht die Vorstellung, dass zum Prozess der Erkenntnis die Loslösung aus überlieferten Sinnzusammenhängen und die autonome Bestimmung von Zielen und Zwecken unverzichtbar sind. 15 Ich folge hier Taylor: Negative Freiheit? 216. 16 Hilbrenner / Schenk: Introduction 164. 17 Verhoeven: Odd Man Karakozov 7. 18 Baran, Marcin: Grundzüge einer ethisch orientierten Anthropologie. Zur philosophischen Anthropologie von Charles Taylor. St. Ottilien 2009, 18. Taylors emphatisches Beharren auf der Verbindung zwischen dem Guten und dem Selbst mag problematisch sein, wenn es um die Erklärung »hybrider« oder »postmoderner« Identitäten geht, sie hilft jedoch ein Denken besser zu verstehen, bei dem religiös imprägnierte Konzepte und der graduelle Unterschied zwischen verschiedenen Lebensformen eine zentrale Rolle spielen. Sein Ansatz scheint mir bei der Analyse des revolutionären Denkens, das zahlreiche Anleihen aus dem Bereich des Religiösen nimmt, besonders vielversprechend zu sein. 19 Schütz, Marcus: Der Begriff des Guten bei Charles Taylor. München 2004, 104.

Ansatz und Fragestellung  39

Das autonome Subjekt muss also eine selbstreflexive Haltung einnehmen und seine Entscheidungen eigenständig treffen.20 Taylor zeigt, dass die Ursprünge des europäischen Innerlichkeitsdenkens in der Spätantike liegen.21 Sie gelangten jedoch erst in der Frühneuzeit zum Durchbruch. Aus der cartesianischen Perspektive muss der Mensch seinen Körper und die ihn umgebende, neutrale Welt erst objektivieren, um zu richtigen Erkenntnissen zu gelangen. Somit bedeutet auch die Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften nicht mehr die Durchsetzung der richtigen Anschauung, sondern die instrumentelle Unterordnung der (nützlichen) Leidenschaften unter die Zwecke der autonomen Vernunft. Rationalität ist nun eine innere Eigenschaft des Menschen und kann somit von Suggestion und anderen äußeren Einflüssen abgegrenzt werden.22 Humanismus, Reformation und frühneuzeitlicher Rationalismus, Aufklärung sowie später der Liberalismus bedingten die Entstehung eines neuen Raumes »für reflexive, rationale, eigeninteressierte, expressive Individuen«23. Im Zuge des 17. Jahrhunderts sei zudem die kosmische Ordnung als ständiger Bezugs-

20 Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt am Main 1995, 37. 21 Taylor bemerkt, dass der platonischen Selbstbeherrschung ein Vernunftsbegriff zugrunde liegt, der sich wesentlich von zeitgenössischen Vernunftsvorstellungen unterscheidet. Vernünftig ist der Mensch, wenn er durch die richtige Anschauung die kosmische Ordnung (die Ordnung der Ideen) erkennt und sie zu lieben versteht, ohne sich von der Begierde lenken zu lassen. Die Quelle der Moral liegt für Platon in der Ordnung der Ideen, somit befindet sich auch das Gute außerhalb, oder mit Blick auf die hierarchische Struktur dieser Ordnung, oberhalb des Menschen. Der Vernünftige richtet seinen Blick vom Materiellen und Vergänglichen auf das Immaterielle und Zeitlose. In dieser Hinsicht könne die Auseinandersetzung des Augustinus von Hippo mit dem platonischen Erbe als eine radikale reflexive Wende interpretiert werden, als ein Übergang von einem Konzept »der Selbstbeherrschung in ein reflexives Modell der Selbsterkundung«. Kühnlein, Michael: Religion als Quelle des Selbst. Zur Vernunft- und Freiheitskritik von Charles Taylor. Tübingen 2008, 113. Die platonische Idee des Guten ist bei Augustinus mit dem christlichen Gott gleichgesetzt, durch die Betrachtung der Schöpfung kann der Mensch die Gedanken Gottes erkennen. Augustinus richte den Blick des Menschen nach Innen (238): Erst die Erkenntnis der (durch die Gnade Gottes erleuchteten) Seele lässt den Menschen seinen Schöpfer erkennen und indem der Mensch einsieht, dass er die höheren Wahrheiten, etwa der Logik, Ästhetik oder Mathematik, nicht hinterfragen kann, erkennt er deren Existenz an und damit auch die Existenz Gottes (240 f.). Entscheidender für die endgültige Verinnerlichung der Moralquellen wird aber erst Descartes. Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. 8. Auflage. Frankfurt am Main 2012. 22 Gott als Schöpfer der Welt und des Menschen ist zwar bei Descartes immer noch ein Garant der Wahrhaftigkeit jeglichen Erkennens, aber nicht mehr unmittelbar am Prozess der Erkenntnis beteiligt. Damit wandelt sich auch das Selbstverständnis des Menschen: Rationalität ist nun die Voraussetzung der Würde des autonom denkenden, selbstverantwortlichen Subjekts. 23 So Reckwitz mit Bezug auf Taylor. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006, 9.

40  Ansatz und Fragestellung punkt des Menschen verloren gegangen. Die Welt wurde nicht mehr als ein Abbild kosmischer Ordnung imaginiert, sondern als eine objektive und neutrale Ordnung und zugleich als Bestätigung der neuen menschlichen Identität.24 Dabei sei es auch zur Verdrängung eines substantiellen Begriffs vom Guten gekommen und zu Versuchen, moralische Maßstäbe in Abhängigkeit von einer – gegenüber dem Guten als neutral positionierten – Vernunft zu stellen.25 Die Moderne habe den Bezug zu einem das Selbst konstituierenden Gut, welches noch außerhalb der Menschen angesiedelt sei, aufgegeben. Auf Max W ­ eber anspielend, beschreibt Taylor den modernen Menschen als jemanden, der nach eigener säkularer Auffassung mit »Mut und klarem Verstand«26 einer »entzauberten Welt«27 gegenübertreten müsse. Die neuen säkularen Ethiken wollen nunmehr ohne eine Berufung auf eine transzendente Wirklichkeit auskommen, sie heben auf die Freiheit des Menschen und das Wohl der Gesellschaft ab. Das Interessante an diesem Ansatz ist, dass er nicht einfach von einer heute überwundenen Dichotomie »Religion« vs. »Modernisierung« (worunter auch die Entstehung reflexiver und eigeninteressierter Individuen fallen würde) ausgeht, sondern die Modernisierung selbst als ein modernes Narrativ auffasst. Oleg Kharkhordin hat gezeigt, dass im Russländischen Reich des 19. Jahrhunderts bereits ein Persönlichkeitsbegriff auftaucht, der vieles vom hier skizzierten Autonomieideal aufgreift. Schon in den 1820er Jahren kommen Vorstellungen auf, die »Persönlichkeit (ličnost’)« als eine nicht mehr zu teilende Einheit der Gesellschaft und als ein »Subjekt der freien Handlung (subject of free a­ ction)«28 definierten. Im Laufe des Jahrzehnts kamen ein Würde- (­»dostoinstvo«) und ein Autonomiebegriff (»samobytnost’«) hinzu. Im russischen Radikalismus der 1860er Jahre wurden »Persönlichkeit (ličnost’)« und »pesönliche Würde (ličnoe dostoinstvo)« zu zentralen Begriffen. Das rhetorische Arsenal der Radikalen umfasste Neuschöpfungen wie die »entwickelte Persönlichkeit ­(razvitaja ličnost’)«,

24 Siehe Taylor, Charles: Hegel, Cambridge 1975, 539. 25 Konkret: »Der Utilitarismus neutralisiert das Gute, indem er es auf einen homogenen Glücksbegriff hin nivelliert, der dann strategisch-kalkulatorisch verfolgt werden kann; der Liberalismus neutralisiert es, indem er bestimmte individuelle Grundrechte ansetzt, die einen in sich geschlossenen Rahmen abgeben, der von allen weitergehenden Vorstellungen des Guten unabhängig ist; der Kantinismus schließlich entwickelt, vor allem in seiner diskursethischen Variante, am deutlichsten eine formal-prozedurale Vernunftsauffassung und stellt dieser Vernunft die verschiedenen Anschauungen des Guten als letztlich empirischfaktische Einstellung der Subjekte gegenüber«. Schaupp, Walter: Gerechtigkeit im Horizont des Guten. Fundamentalmoralische Klärungen im Ausgang von Charles Taylor. Freiburg im Breisgau 2003, 17. 26 Taylor: Quellen des Selbst 180. 27 Siehe dazu auch Taylor: Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter. Berlin 2012, 137–146. 28 Kharkhordin, Oleg: The Collective and the Individual in Russia. A Study of Practices. Berkeley 1999, 187.

Ansatz und Fragestellung  41

»denkende Persönlichkeit (dumajuščaja ličnost’)« und »heilige Persönlichkeit (svjataja ličnost’)«29. Die vorliegende Untersuchung soll zeigen, wie die hier skizzierten Vorstellungen revolutionäre Identitätsentwürfe prägten und in welchem Verhältnis Autonomiekonzepte religiös imprägnierten Vorstellungen standen. Dabei soll insbesondere auch der Zusammenhang zwischen dem Autonomiedenken der Revolutionäre und der staatlichen Bevormundungspolitik berücksichtigt werden. Authentizitätsvorstellungen Unter Authentizität30 soll hier im weitesten Sinne der historisch variable Anspruch auf Konsistenz zwischen dem zu erkennenden Selbst und der eigenen, nicht zuletzt auf dieser Selbsterkenntnis beruhenden Lebensführung verstanden werden. Auf das Selbstzeugnis übertragen bedeutet dies die Forderung nach einem bestimmten Grad an Übereinstimmung zwischen dem Selbst und der medialen (Selbst-)Darstellung. Der Anspruch sich selbst »treu« zu bleiben zeigte sich mit aller Deutlichkeit in der Romantik, auch wenn er teilweise auf älteren, von der Romantik kritisierten Formen des Individualismus basiert. Grundlegend dafür wurde das, was man mit Charles Taylor als »Expressivismus«31 bezeichnen könnte, einen radikalen Protest der Romantik gegen die »klassizistische Betonung von Rationalismus, Tradition und formale Har­monie«32. 29 Ebd. 189. Im Gegensatz dazu entwickelte sich bis zum Ende des 19. Jahrhundert im Alltagsdiskurs ein »ličnost’«-Begriff, der nicht mehr auf eine »Persönlichkeit«, sondern auf eine ordninäre »Person« verwies. Seitdem existierten beide Begriffe nebeneinander. Ebd. 30 »Authentizität« wird hier als ein Terminus technicus verwendet, der nicht deckungsgleich mit den Quellenbegriffen wie »estestvennost’«, »intimnost’«, »podlinnost’« oder »iskrennost’« ist, mit deren Hilfe Übereinstimmungen zwischen der Lebensführung einer Person und ihren Veranlagungen und innigsten Wünschen artikuliert werden konnten. Des Weiteren muss betont werden, dass die Authentizitätsvorstellungen des 19. Jahrhunderts nicht mit den heute kursierenden Vorstellungen von personaler Authentizität verwechselt werden sollten, insbesondere wenn man letztere, wie Susanne Knaller, als eine Antwort auf die Infragestellung des Selbst konzipiert, die aus dem Verlust »höherer Wahrheitsbegriffe« entstehen konnte. Knaller, Susanne: Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität. Heidelberg 2007, 147–148, 159–161. Zit. n. ebd. 148. Einen aktuellen Forschungsüberblick zur Authentizitätsforschung bietet Saupe, Achim: Historische Authentizität. Individuen und Gesellschaften auf der Suche nach dem Selbst – ein Forschungsbericht, in: H-Soz-Kult, 15.08.2017, URL : www.hsozkult.de/literaturereview/id/ forschungsberichte-2444 (am 07.10.17). 31 Taylor, Charles: Hegel. Cambridge 1975, 539–540. 32 Taylor: Quellen des Selbst 640. Die naturalistisch-utilitaristische Tendenz und der permanente Protest dagegen bilden, wie Zachuber bemerkt, eine dialektische Einheit, »und es ist eben diese stets schwankende Einheit, die die neuzeitliche Identität ausmacht«. Zachhuber, Johannes: Die Diskussion über Säkularisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Braun, Christina von / Gräb, Wilhelm / Zachhuber, Johannes (Hg.): Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These. Berlin 2007, 11–42, hier 36.

42  Ansatz und Fragestellung Hier gewinnt die Vorstellung an Bedeutung, dass das gute Leben in der Verwirklichung und im Ausdruck der eigenen »wahren inneren Natur« liege.33 Der Mensch erscheint als ein »Wesen mit innerer Stimme«34, dessen Moralquellen tief im Inneren verborgen seien. Die Frage des guten Lebens hängt in dieser Denktradition davon ab, ob es dem Menschen gelingt, seine »wahren, innersten, eben ›authentischen‹ Wünsche und Bedürfnisse«35 zu verwirklichen. Authentizität und Autonomie können so betrachtet trotz aller historischen Verwechslungen als komplementär zueinander verstanden werden. Während der Autonomiegedanke verlangt, dass der Mensch seine Ziele selber setze und sich in seinem Denken und Handeln nicht von »äußeren« Autoritäten bevormunden lasse, verweist der Begriff der Authentizität darauf, dass es »eine bestimmte Weise, Mensch zu sein« gebe, nämlich »meine Weise«36. Anders gesprochen: Wenn Autonomie nach Selbstbestimmung verlangt, so spricht Authentizität die Sprache der Selbstverwirklichung. Im »Expressivismus« gewinnt die Vorstellung an Bedeutung, dass der Mensch sowohl ein Verstandes- als auch ein Gefühlswesen sei und die Vernachlässigung seiner Innerlichkeit schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehe. Sowohl der Frühsozialismus als auch der Marxismus enthielten das Versprechen einer Wiederherstellung dieser verloren gegangenen Einheit. So bezeichnete Saint-­ Simon die Überbetonung des Partikularen gegenüber dem Allgemeinen als eine schwere Krankheit, welche die »maladie politique de notre époque«37 erst hervorgerufen habe. Die Akteure des »Neuen Christentums« würden deshalb ein »messianisches« Zeitalter einläuten, welches die Einheit aller Menschen durch die stetige Verbesserung der Lebensbedingungen der »ärmsten Klasse« bringen werde. Auch bei Karl Marx war dieser utopische Kern noch deutlich zu spüren. Marx ergänzte den Begriff der autonomen Vernunft um das Element der freien Selbsterschaffung. In diesem Sinne kann das Produkt der Arbeit als ein »expressivistisches« Gut gedeutet werden, welches in der Klassengesellschaft entfremdet werde. Taylor deutet Marx dahingehend, dass der Verlust oder die Entfremdung vom Produkt der eigenen Arbeit nicht nur als »Raub«, sondern auch als »Selbstberaubung« verstanden werden müsse. Die Wiedererlangung des (kreativen) Ausdrucks bedeute die Wiedererlangung des Glücks, der Ganzheit

33 Das romantische Modell »ist um die Elemente der ›Individualität‹, der inneren ›Tiefe‹, und inneren ›Natur‹, des schöpferischen ›Ausdrucks‹, das heißt der Expressivität des Ichs, und des damit verknüpften Ideals des Künstlers, schließlich der Konstruktion der Welt durch das subjektive Innen, der dort angesiedelten Erlebnisformen der ›Imagination‹ und des ›Gefühls‹ zentriert«. Reckwitz: Das hybride Subjekt 210. 34 Taylor: Das Unbehagen an der Moderne 35. 35 Schütz: Der Begriff des Guten 105. 36 Taylor: Das Unbehagen an der Moderne 38. 37 Saint-Simon, Henri: Le Nouveau Christianisme. Paris 1825, 83.

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und der Freiheit.38 Die Vorstellung, dass es so etwas wie Entfremdung gebe, sei demnach auf das Engste verbunden mit dem Protest gegen die »instrumentelle Vernunft«39 und mit der romantischen Vorstellung vom »kreativen Selbstausdruck des Volkes«40. Auch die russischen Radikalen waren von »expressivistischen« Vorstellungen beeinflusst. Jüngst hat Victoria Frede darauf aufmerksam gemacht, wie stark die russische Revolutionsbewegung in ihrer Anfangsphase von der romantischen Betonung der Rolle des Gefühls im Leben des Menschen geprägt gewesen ist. Das »authentische« Gefühl, so Frede, wurde im Radikalismus der 1860er Jahre zur Voraussetzung von »Wissen« um sich selbst und die Welt. Durch Selbstbeobachtung und spontanes Handeln soll der Mensch, so der äußerst einflussreiche radikale Publizist Dmitrij Pisarev, lernen, seine »wahre« Natur von den Deformationen, die die Gesellschaft dem Individuum zufüge, zu unterscheiden.41 Wenn Verhoeven von der »inneren Natur« spricht, so müssen ihre Überlegungen im Kontext dieses Denkens betrachtet werden. Auch in den späten 1860er und frühen 1870er Jahren blieb die Sehnsucht nach der Ganzheitlichkeit der menschlichen Erfahrung von elementarer Bedeutung. Für Lavrov etwa musste eine rational organisierte Gesellschaft auf der »Ernsthaftigkeit der Gefühle« beruhen, »das heißt auf der Grundlage eines aufrichtigen Verhältnisses zu den natürlichen Bedürfnissen und Neigungen, die in der Natur des Menschen liegen«42. Andere, wie Bakunin, sprachen von der »Tiefe des Volksinstinkts«43 oder auch der »Tiefe der Volksessenz«44, welche mittels der anarchistischen Revolution neue Organisationsformen hervorbringe. Das hinter solchen und vergleichbaren Ideen stehende »expressivistische« Men-

38 »Man makes over nature into an expression of himself, and in the process properly becomes man. Marx speaks of this self-creation of man through the fashioning of an adequate external expression as the ›objectification (Vergegenständlichung)‹ of man’s species life.« Taylor: Hegel 549. 39 Unter instrumentaler Vernunft versteht Taylor »die Art von Rationalität, auf die wir uns stützen, wenn wir die ökonomischste Anwendung der Mittel zu einem gegebenen Zeitpunkt berechnen«. Ders.: Das Unbehagen an der Moderne 11. 40 Rosa, Hartmut: Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor. Frankfurt am Main u. a. 1998, 425. 41 Frede, Victoria: Radicals and Feelings – The 1860s. In: Steinberg, Mark / Sobol, Valeria (Hg.): Interpreting Emotions in Russia and Eastern Europe. DeKalb 2011, 62–81. In der älteren westlichen Literatur und in der zaristischen Propaganda wurden die Revolutionäre sehr oft als kaltherzige »Rationalisten« charakterisiert. Frede ist sicherlich zuzustimmen, wenn sie diese Sicht als nicht haltbar kennzeichnet. Ebd. 63. 42 Lavrov, Pëtr: Istoričeskie pis’ma 1868–1869. In: Knižnik-Vetrov, Ivan (Hg.): P. L.­Lavrov. Filosofija i sociologija. Bd. 2. Moskau 1965, 6–295, hier 153. 43 Bakunin, Michail: Gosudarstvennost’ i Anarchija [= Izbrannye sočinenija. Tom pervyj]. Peterburg 1919, hier 74. 44 Ebd. 234.

44  Ansatz und Fragestellung schenbild war maßgeblich verantwortlich für die Entstehung der Vorstellung, dass ein gutes oder gelingendes Leben in Übereinstimmung mit den eigenen Veranlagungen und Wünschen geführt werden sollte. Zugleich begünstigte es die Durchsetzung der Einsicht, dass die mediale Selbstdarstellung – etwa in der Autobiographie oder im Abschiedsbrief – dem Selbst adäquat sein müsse, um eine größere Leserschaft für die Sache des Sozialismus zu begeistern. Der »Expressivismus« hat seine Ursprünge im Christentum, er liegt sowohl der bürgerlichen Politik zugrunde als auch dem Marxismus »mit seiner Apotheose des Menschen als Produzenten«45 und der Betonung der Rolle der Gesellschaft bei der Artikulation des Guten.46 Bedenkt man diese Annahme, so lässt sich fragen, ob die Artikulation von Ganzheitsvorstellungen im russischen Sozialismus deshalb so oft mit Hilfe religiös konnotierter Ausdrücke (etwa »Reich der gemeinsamen Arbeit« oder »Reich des Sozialismus«) erfolgte, weil hier ältere, verdrängte ethische Vorstellungen eine Rolle spielten. Anders ausgedrückt: In welchem Verhältnis standen Autonomie- und Authentizitätsvorstellungen und religiös imprägnierte Zukunftsvorstellungen zueinander? Bis zu welchem Grad wurden diese beiden modernen Konzepte durch die politische Praxis limitiert oder gar gänzlich konterkariert? Welche Bedeutung hatte dieses Verhältnis für das Gewaltpotenzial der Revolutionäre und die relativ lange Lebensdauer ihrer Moralvorstellungen? Schließlich soll geklärt werden, wie sich die hier skizzierten Vorstellungen nach 1917 gewandelt haben. Kann das Jahr 1917 zumindest in dieser Hinsicht als ein radikaler Bruch bezeichnet werden oder lassen sich signifikante Kontinuitäten beobachten? Individuum und Gemeinschaft Wenn Halfin davon spricht, dass man das »stalinistische Selbst« nicht anhand »liberaler Positionen« messen dürfe, spielt er auf ein Spannungsverhältnis von »privat« und »öffentlich« an, das den Sozialismus seit seiner Entstehung geprägt hat. Tatsächlich scheint insbesondere im europäischen Bürgertum des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts die Vorstellung wirkmächtig gewesen zu sein, dass das gelingende (und authentische) Leben sich im »Privaten« vollzieht. Privatheit wurde, um mit Bahrdt zu sprechen, zum bewussten »Ausbau und Kultivierung der engsten sozialen und dinglichen Umwelt« und war somit der »Öffentlichkeit«, mit der sie freilich in Wechselwirkung stand, entgegengesetzt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg suggerierte familiäre Privatheit die »Geborgenheit des einzelnen« und die »Erfülltheit des Lebens in der Familie«47. Dem 45 Taylor: Quellen des Selbst 34. 46 Siehe auch Zachhuber: Die Diskussion über Säkularisierung, 36–37. 47 Bahrdt, Hans Paul: Die moderne Grossstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau. Reinbeck bei Hamburg 1961, 99.

Ansatz und Fragestellung  45

»bürgerlichen« Konzept der Privatheit liegen ältere Vorstellungen zugrunde, die sich bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen lassen, die aber erst mit der Reformation Gestalt annahmen. Folgt man Taylors ideengeschichtlicher Herleitung, so hat die protestantische Reformation »mit ihrer Forderung nach persönlichem Engagement, ihrer Zurückweisung der Vorstellung von Christen erster und zweiter Klasse […], ihrer Ablehnung jeglicher Lokalisierung des Heiligen innerhalb des menschlichen Raumes, der menschlichen Zeit oder innerhalb eines zeremoniellen Rituals und ihrem Beharren auf der biblischen Vorstellung der Heiligung des Lebens«48

eine Tendenz verstärkt, die man als »gewöhnliches Leben«49 bezeichnen könnte. Während in älteren Ethiken, etwa im mittelalterlichem Katholizismus, ein auf die produktive und reproduktive Tätigkeit im Dienst von Ehe und Familie ausgerichtetes Leben stets von einer höheren Form, etwa der priesterlichen oder der monastischen, überschattet worden sei, habe der Protest gegen religiöse Eliten zu einer starken Aufwertung des Alltagslebens geführt, welches nun zum eigentlichen Ort des guten Lebens geworden sei. Durch die Verinnerlichung des Bedeutungshorizontes, vor dessen Hintergrund das gelungene Leben gedacht wurde, und die Nivellierung hierarchischer Lebensentwürfe entstand schließlich die Vorstellung, dass es so etwas wie einen Privatraum geben müsse.50 Da-

48 Taylor: Negative Freiheit? 193. Für Taylor hat die Verbindung von physikalischer Räumlichkeit und moralischer Selbstversorgung des Menschen eine reale, anthropologische Dimension. Oben und Unten, Rechts und Links sind gegebene Orientierungspunkte, von denen sich der Mensch nicht einfach distanzieren könne. Der Mensch existiert nach ­Taylor in einem »Raum voller Fragen« (Taylor: Quellen des Selbst 62) und fragt sich sowohl nach seinem tatsächlichen Standpunkt, als auch nach dem vergangenen und noch zu meisternden Weg (ebd. 93). Hans Joas schreibt diesbezüglich: »Damit ergibt sich aus der quasiräumlichen Struktur unseres Verhältnisses zu den Werten eine zeitliche Dimension unseres Selbstverständnisses. Wir vergewissern uns des Ortes unseres Strebens, indem wir unser Leben als eine Geschichte erzählen«. Joas, Hans: Die Entstehung der Werte. Frankfurt am Main 1997, 207. 49 Taylor: Quellen des Selbst 25. Trotz ihrer Gleichheit fördernden Stoßrichtung liegt auch dieser neuen Sichtweise die Unterscheidung zwischen einem Höheren und einem Niedrigen zu Grunde. Das Höhere liege nun in der »Art und Weise, dieses Leben zu führen«. ­Taylor: Quellen des Selbst 51. Diese Unterscheidung ist jedoch offensichtlich schwächer ausgeprägt als beispielsweise die Unterscheidung zwischen ein adeligen und einer gemeinen Lebensform. 50 Schließlich habe die bürgerliche Kultur, so Reckwitz, ausgehend »von einer Unterscheidung zwischen Alltäglichem / Mondänem und Außeralltäglichem« den »mondänen Aktivitäten einen herausragenden Wert für die Subjekthaftigkeit« zugeschrieben. Reckwitz: Das hybride Subjekt 54. Dadurch sollen keinesfalls andere Faktoren geleugnet werden, die zur Entstehung der Privatheit beigetragen haben: das Aufkommen von Besitz und Bildung, ­Separate Wohnräume, die Tendenz zur Verkleinerung der Familie usw.

46  Ansatz und Fragestellung durch ist es, wie Lohauß schreibt, zu einer »Verschiebung der Ich-Wir-­Balance in Richtung auf das Ich«51 gekommen. Dies hatte weitreichende historische Konsequenzen. Das Ideal der Autonomie verlangte danach, Tradition und Gewohnheit zum Gegenstand von Prüfung und Umgestaltung zu erheben und das Handeln des Einzelnen vor staatlicher Bevormundung zu schützen. Das Ideal der Authentizität verstärkte die Einebnung hierarchischer Lebensentwürfe, denn der Gedanke, dass es so etwas wie ein »wahres« oder »eigentliches« Ich gebe, implizierte, dass sich hinter der sozialen Prägung noch etwas essentiell anderes, jedem Menschen (und sogar jedem »Volk«) eigenes, verberge.52 Für die Träger des Autonomie- und Authentizitätsdenken stellte deshalb die Frage, wie die Ansprüche der Gemeinschaft mit den Ansprüchen einer authentischen und autonomen Individualität zu vereinen seien, eine fundamentale Herausforderung dar. Der »Typus einer modernen bürgerlichen, von größerer Intimität und Privat­ heit geprägten Kleinfamilie«53 war in Russland der Mitte des 19. Jahrhunderts nur in der europäisierten und vermögenden Oberschicht ausgeprägt.54 Er wurde von der Revolutionsbewegung seit ihrer Entstehung in den 1860er Jahren abgelehnt. In der Anfangszeit der Bewegung wurde die Bauernkommune sowie experimentelle Formen der Vergemeinschaftung favorisiert. Wie andere Vertreter der Intelligenzija auch beklagten die narodniki die »Entfremdung« der Oberschicht vom »Volk«, radikalisierten jedoch diese Kritik und verlangten mit Lavrov nach der »Verschmelzung gemeinschaftlicher und privater Interessen (slitija obščestvennych i častnych interesov)«55. Sie verstanden sich als Kämpfer für das »gewöhnliche Leben« des Volkes, verlangten jedoch nach der Zerstörung der patriarchalen Lebensweise, welche die »Verwandlung der Ehe  – in Kauf und Verkauf, die Unterwerfung der Kinder und die Eltern – in Sklaverei«56 verwandelt habe. Es wird also danach zu fragen sein, was die Revolutionäre unter »privaten« und »öffentlichen« Interessen verstanden, wie das »Ich-Wir«-Verhältnis in den Selbstzeugnissen dieser Akteure artikuliert wurde, und ob religiöse Semantiken dabei eine Rolle spielten. Darüber hinaus soll nach dem Zusammenhang zwischen Authentizitäts- und Autonomievorstellungen und der damit zusam-

51 Lohauß, Peter: Moderne Identität und Gesellschaft. Theorien und Konzepte. Opladen 1995, 151. 52 Taylor, Charles: The Politics of Recognition. In: Ders. / Gutmann, Amy (Hg.): Multiculturalism. Examining the Politics of Recognition. Princeton 1994, 25–73, hier 31–32. 53 Hildermeier, Manfred: Bürgertum und Stadt in Russland 1760–1870. Köln, Wien 1986, 567. 54 Ebd. 55 Lavrov: Istoričeskie pis’ma 98. 56 Ebd. 156.

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menhängenden Konzeption von Individualität und Gemeinschaft auf der einen Seite und der Anziehungskraft der Revolution sowie der Gewaltbereitschaft der Revolutionäre auf der anderen Seite gefragt werden. Starke Wertungen, moralischer Rahmen und das Selbst Wie bereits in der Einführung angesprochen, geht diese Arbeit davon aus, dass Identitäten nicht zuletzt sprachlich konstituiert werden und dass insbesondere Metaphern mehr als nur rhetorische Figuren sind. Dies bedarf jedoch einer weiteren Klärung. Die Struktur von Moralvorstellungen, die innerhalb einer Gemeinschaft Geltung besitzen, will ich mit Bezugnahme auf Taylor als »moralischen Rahmen« bezeichnen. Taylor argumentiert, dass zwar in der Vergangenheit unterschiedliche Rahmen an Anziehungskraft gewonnen und wieder verloren haben, aber ohne sie sei das Leben nie denkbar gewesen. Es sei »konstitutiv für menschliches Handeln, dass man sein Leben innerhalb eines derart durch starke qualitative Unterscheidungen geprägten Horizonts führt«57. Aufschluss über moralische Rahmen geben sogenannte starke Wertungen, anders gesagt: Bewertungen von jenen Handlungen und Haltungen, welche mit einem Lebensideal in Verbindung gebracht werden. Sie befassen sich somit mit der »Beschaffenheit unserer Motivation«, vermitteln zwischen der Wirklichkeit des Guten und dem Selbst und beziehen sich auf den »qualitativen Wert unterschiedlicher Wünsche«58. Erst in einem moralischen Rahmen seien starke Wertungen möglich, sie seien also nicht einfach Ausdruck willkürlicher Präferenzen, sondern nur in einem sozialen Kontext denkbar.59 Durch starke Wertungen bringen 57 Taylor: Quellen des Selbst 55. 58 Beide Zitate nach Taylor: Negative Freiheit? 11. Taylor baut auf Harry Frankfurts Unterscheidung zwischen Wünschen erster und zweiter Ordnung auf und erweitert sie um eine hierarchische und wertorientierte Perspektive. Nach Frankfurt unterscheidet sich der Mensch vom Tier unter anderem dadurch, dass er auf Wünsche bezogene Wünsche äußern kann. Er kann sich beispielsweise wünschen, einen Wunsch nicht mehr zu verspüren. Siehe Frankfurt, Harry: Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: Bieri, Peter (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes, Bodenheim 1993, 287–302. Vgl. auch Joas: Entstehung der Werte 202ff und Kreuzer, Thomas: Kontexte des Selbst. Eine theologische Rekonstruktion der hermeneutischen Anthropologie Charles Taylors. Gütersloh 1999, 74–79. Schwache Wertungen evaluieren und ordnen demnach Wünsche erster Ordnung unter dem Gesichtspunkt einer zeitlich begrenzten Bedürfniserfüllung. Starke Wertungen evaluieren hingegen den Wert von Wünschen erster Ordnung und betreffen »in diesem Sinn ihre Wünschbarkeit«. Reuter, Hans-Richard: Das Gute, das höchste Gut und die Güter. Fundamentalethische Überlegungen im Anschluss an Friedrich Schleiermacher und Charles Taylor. In: Ders. / Meiereis, Torsten (Hg.): Das Gute und die Güter: Studien zur Güterethik. Berlin 2007, 19–41, hier 32. Siehe auch Smith: Charles Taylor 92. 59 Rees-Schäfer wendet dagegen ein, dass es sehr wohl starke Wertungen im nichtmoralischen Bereich geben könne, man vergleiche etwa die Abneigung, mit der man in bestimmten Milieus einem Kulturbanausen begegnet. Man muss sich jedoch die Frage stellen, ob hit-

48  Ansatz und Fragestellung Akteure zum Ausdruck, »wer sie eigentlich sein und welche Art von Leben sie führen möchten«60. Indem man sich etwa als Katholik oder Anarchist zu erkennen gebe, sage man nicht nur etwas über die eigene intellektuelle Verortung aus, sondern artikuliere einen Rahmen, »in dem man bestimmen kann, welches der eigene Standort […] mit Bezug auf Fragen nach dem Guten, Ersprießlichen, Bewundernswerten oder Wertvollen«61 sei. Diese Verortung verleihe den Dingen ihre Bedeutung. Taylor setzt Moral und Gefühl in eine enge Beziehung zueinander. Die Vermittlung zwischen dem Selbst und dem Guten erfolge in einer »Sprache wertender Unterscheidungen, in der Wünsche als edel oder gemein, als integriert oder fragmentiert, als mutig oder feige, als umsichtig oder blind usw. beschrieben werden«62. Starke Wertungen sind also mit Gefühlen verbunden, die »der emotionale Ausdruck dessen« sind, »dass wir Maßstäbe anerkennen, die an unsere Wünsche anzulegen sind«63. Der Mensch fällt nicht nur moralische Urteile, er lasse sich auch »von Gefühlen der Empörung, der Scham oder der Schuld, der Ehrfurcht oder Bewunderung«64 ergreifen. In diesem Sinne seien Wertungen, die als »Einstellungen der Bewunderung und der Verachtung als Grundlage dienen«,65 ein guter Indikator dafür, dass es sich um starke Wertungen handelt. Damit lässt sich der Untersuchungsgegenstand näher präzisieren: Anhand der Untersuchung sprachlicher Ausdrücke mit religiösen Konnotationen, die eine wertende Auskunft über die Wünsche und Absichten des Sprechers geben, soll der moralische Rahmen der Revolutionsbewegung rekonstruiert werden, in dem sich das Selbst mittels sprachlichen Austausches mit Anderen sozial und kulturell konstituiert. Taylors Texte lassen in Bezug auf starke Wertungen jedoch mindestens zwei Lesarten zu. Die intellektualistische Lesart betont, dass eine stark wertende Person »sich kritisch zu sich selbst« verhalte, »eine distanzierende Perspektive« einnehme und »in ein reflexives Verhältnis«66 zu den eigenen primären Bedürfnissen eintrete. Dies würde jedoch, wie Owen Flanagan zurecht kritisiert, zige Urteile über Ästhetik tatsächlich moralisch wertfrei sind (Taylor verwendet den Begriff Moral im weitesten Sinne) oder ob sie nicht Auskunft über Aspekte der menschlichen Identität (z. B. Kultur vs. Barbarei) geben. Reese-Schäfer, Walter: ›Nach innen geht der geheimnisvolle Weg‹. Eine kritische Bemerkung zu Charles Taylors Ontologie der Moralität und des modernen Selbst. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4 (1996) 621–634, hier 625. Kreuzer bezweifelt, dass es sinnvoll ist, den Begriff derart »an ethisches und Werte zu binden«, wie es bei Taylor der Fall zu sein scheint. Kreuzer: Kontexte des Selbst 92. 60 Ebd. 80. 61 Taylor: Quellen des Selbst 55. 62 Taylor: Negative Freiheit? 15. 63 Joas: Entstehung der Werte 203. 64 Ebd. 65 Taylor: Quellen des Selbst 17, Fn. 2. 66 Schütz: Der Begriff des Guten 141.

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implizieren, dass stark wertende Personen den eigenen moralischen Rahmen unterwandern. Denn wenn, wie Taylor annimmt, alle Rahmen, die keine unumstößliche Fundierung (etwa in einer göttlichen Ordnung) aufweisen, potentiell fragil sind, dann müssen starke Wertungen die Ganzheit der eigenen Identität schwächen.67 Je selbstkritischer die stark wertende Person demnach wäre, desto mehr wäre auch der Rahmen einsturzgefährdet. Plausibler wäre es, starke Wertungen nicht mit ausgeprägter Reflexivität in Verbindung zu bringen, sondern lediglich mit der Fähigkeit, sich mit einem Ziel oder einem Gut zu identifizieren.68 In diesem (minimalistischen) Sinne soll der Begriff auch in dieser Arbeit verstanden werden. Ausschlaggebend soll weniger das auf Selbstreflexion beruhende Vermögen sein, Vorstellungen vom Guten sprachlich zu artikulieren, als vielmehr das Vermögen, sich mit einem Gegenstand, dem man hohe Bedeutung zumisst, zu identifizieren. Taylor verweist des Weiteren darauf, dass die Artikulation des Selbst, verstanden als ein »Ausdrücklichmachen von Bedeutungen in einer evaluativen Sprache«69, nur in einem kulturellen und sozialen Kontext möglich sei, wenn er schreibt: »Ein Selbst ist jemand nur dadurch, dass bestimmte Probleme für ihn von Belang sind. Was ich als Selbst bin – meine Identität –, ist wesentlich durch die Art und Weise definiert, in der mir die Dinge bedeutsam erscheinen, und das Problem meiner Identität wird einer Lösung nur durch eine Sprache der Interpretation zugeführt, die ich im Laufe der Zeit als gültige Artikulation dieser Fragestellungen akzeptiert habe.«70

Obwohl Identitäten einen Konstruktionscharakter haben, könnten sie nicht einfach gewechselt werden, da sie an einen komplexen sozialen und kulturellen Kontext gebunden seien. Vielmehr stelle die Identität an uns »die Forderung, ihr treu zu bleiben oder unser Handeln ihren Forderungen gegenüber zu rechtfertigen«71. Nach Taylor kann ein Selbst nur in Bezug zum Anderen artikuliert werden, es existiert nur in »Geweben des sprachlichen Austauschs«72. Der 67 Flanagan, Owen: Identity and Strong and Weak Evaluation. In: Ders. / Rorty, Amélie (Hg.): Identity, Character, and Morality Essays in Moral Psychology. Cambridge, Mass. 1993, 37–65, hier 55. Flanagan selbst bezweifelt die Fragilitätsthese. Seiner Meinung nach habe der moderne Mensch, auch dann, wenn er zu hoher Selbstreflexivität neige, ja gelernt, sich gut mit der Fragilität der eigenen Identität zu arrangieren: »There is no incoherence in the idea of persons, be they strong or weak evaluators, operating effectively and happily within frameworks that they simply do not see or experience as final or foundational.« Ebd. 63. 68 Flanagan: Identity 55. Beide könnten Flanagan zufolge auch nicht-ethischer Natur sein. Allerdings muss man bemerken, dass Taylor, wie weiter untern dargelegt, moralische Güter in einer Weise definiert, die es erlaubt, auch Gegenstände, die wir eigentlich nicht im Bereich von Moral und ethischer Reflexion verorten würden, als solche zu definieren. 69 Reuter: Das Gute 32. 70 Taylor: Quellen des Selbst 67. 71 Joas: Entstehung der Werte 205. 72 Taylor: Quellen des Selbst 71.

50  Ansatz und Fragestellung Gesprächspartner und die Gemeinschaft als Trägerin moralischer Normen und Vorstellungen spielen eine wesentliche Rolle im Prozess der Selbstbestimmung. In der Selbstdarstellung werde der Wert des Lebens anhand der Güter gemessen, die der eigenen geistigen Orientierung dienen. Dabei geht es Taylor, wie oftmals bemerkt wurde, nicht um eine umfassende Theorie des Guten,73 sondern um die Konsequenzen, die eine Orientierung auf das Gute für das Leben des Menschen habe. »Gut« wird dementsprechend sehr allgemein definiert. Taylor versteht darunter alles, »was als wertvoll, würdig oder bewundernswert gilt, einerlei, zu welcher Art oder Kategorie es gehört«74. Unabhängig davon, welcher Ethik sich die Menschen verpflichtet fühlen, bleibe das »Bedürfnis nach Verbindung oder Behinderung mit dem, was ihrer Ansicht nach gut, von maßgeblicher Bedeutung oder von grundlegendem Wert ist«75. Güter, die eine große motivierende Wirkung entfalten, nennt Taylor Hypergüter. Sie werden durch starke Wertungen markiert und hierarchisieren als »Vorzugskriterien und Priorisierungsmaßstäbe«76 gewöhnliche Lebensgüter. Sie sind das Produkt von historischen Kämpfen, die Errungenschaft »mehrerer hartumkämpfter Zwischenstadien«77 und bergen aus diesem Grund im kommunikativen Prozess stets ein gewisses Konfliktpotenzial. So würden etwa universelle Gerechtigkeitsvorstellungen, wie sie insbesondere bei den Sozialisten anzutreffen waren, auf älteren, verdrängten Ethiken beruhen. Ähnlich wie in religiösen Traditionen werde die Frage nach der Orientierung auf das Gute in manchen Rahmen auch radikal entweder mit einem Ja oder einem Nein beantwortet: Entweder befindet man sich im »progressiven« oder im »reaktionären« Lager, entweder arbeitet man an der »Befreiung« oder an der »Ausbeutung« der Menschheit. Als Hypergüter beruhen solche universellen Gerechtigkeitsvorstellungen und Prinzipien der gleichen Achtung auf dem Glauben, dass es in der Vergangenheit unzulänglichere und gar menschenverachtende Auffassungen von Gerechtigkeit gegeben habe. Somit würden auch die »weltlichen Abkömmlinge des Christentums«, indem sie sich gegen das Christentum als »reaktionäre Ideologie« positionieren, die »Geschichte als Kampf zwischen Gut und Böse, Fortschritt und Reaktion,

73 Tatsächlich lässt sich das moralische »gut« kaum definieren, wie das Argument der offenen Frage (George Edward Moore) verdeutlicht: »Im Blick auf jeden Definitionsvorschlag, der ›gut‹ durch eine ›natürliche Eigenschaft‹ wie ›lustvoll‹, ›macht Freude‹ usw. definiert, kann sinnvoll gefragt werden: ›ich sehe wohl, dass es lustvoll ist, aber ist es auch gut?‹« Fischer, Johannes (Hg.): Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik. Stuttgart 2008, hier 33–34. 74 Taylor: Quellen des Selbst 177. Siehe auch Buß, Gregor: Identität – Religion – Moderne. Charles Taylors Kritik des säkularen Zeitalters in Auseinandersetzung mit Stanley Hauerwas und Jeffrey Stout. Münster 2009, 14. 75 Taylor: Quellen des Selbst 85. 76 Reuter: Das Gute 34. 77 Taylor: Quellen des Selbst 127.

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Sozialismus und Ausbeutung«78 fortschreiben. Diese radikale Unterscheidung berge ein beträchtliches Konfliktpotenzial, denn sie stelle mit Nachdruck die Frage: »auf welcher Seite stehst du? Und diese Frage« lasse »nur zwei Antworten zu, einerlei, wie nahe man an den Sieg der guten Sache herangekommen oder wie weit man davon entfernt sein mag«79. In Rahmen, in denen Hypergüter Gültigkeit haben, spiele die Orientierung an ihnen eine fundamentale Rolle für die menschliche Identität. Die Feststellung, dass sich das eigene Leben auf ein solches Gut, zum Beispiel Gott oder Gerechtigkeit, zubewegt, vermittle demensprechend ein »Gefühl der Ganzheit und Erfüllung«80. Identitätskonstituierende Rahmen sind nach Taylor unausweichlich, weniger weil der Mensch durch kulturelle und soziale Faktoren zu ihrer Internalisierung ein für alle Mal gezwungen wäre, sondern weil nur mit ihrer Hilfe die Artikulation des Selbst möglich sei. Der Verlust der moralischen Orientierung könne deshalb unter Umständen in eine Identitätskrise führen. Sinn- und gemeinschaftsstiftend können nach Taylor die großen Bilder der gemeinsamen Geschichte sein. Viele dieser Bilder und Geschichten mit religiösem Hintergrund seien zwar heute nicht mehr präsent, dennoch vermögen sie den Menschen zu inspirieren: »Sie deuten auch weiterhin auf etwas, das für uns eine Moralquelle bleibt, etwas, das uns dadurch, dass wir es betrachten bzw. achten oder lieben, dazu befähigt, dem Guten näher zu kommen«81. Als Beispiel könnte man dabei die Erzählung vom Auszug der Juden aus Ägypten heranziehen, welche durch ein marxistisches Bild vom Fortschritt der Menschheit zum Sozialismus ersetzt werden konnte.82 Quellenbasis Seit ihrer Professionalisierung in der Zeit des Historismus strebte die Geschichtswissenschaft nach der Gewinnung einer auf Quellenkritik beruhenden, induktiv hergeleiteten historischen Erkenntnis. Dieses Streben ging einher mit einer berechtigten Skepsis gegenüber autobiographischen, die Wirklichkeit nur subjektiv wiedergebenden Texten. Erst nach der Aufwertung der »Selbstauto­ biografie« durch Wilhelm Dilthey und Georg Misch83 wurden jene Texte als 78 Ebd. 91. 79 Ebd. 80 Schütz: Der Begriff des Guten 185. 81 Taylor: Quellen des Selbst 183. 82 Ebd. 184. 83 Dilthey begründete die Stellung der Autobiographie in den Geisteswissenschaften nicht zuletzt mit der besonderen »Intimität des Verstehens«, die sich aus der Identität desjenigen, der die tieferen Gründe für die Entstehung des Lebenslaufes zu verstehen sucht, mit dem Hervorbringer des auf ein »höhstes Gut« hin ausgerichteten Lebenslaufes, ergeben würde. Zit. n. Dilthey, Wilhelm: Das Erleben und die Selbstbiographie (1906–1911 /27). In: Niggl, Günter (Hg.): Die Autobiographie. Zur Form und Geschichte einer literarischen Gattung.

52  Ansatz und Fragestellung eine Quellengattung diskutiert, die wie keine andere die Teilhabe des Besonderen am Allgemeinen, des Individuums an der Entwicklung der Menschheit erkennbar mache. Neben der Behandlung autobiografischer Quellen als »Steinbruch der Fakten«84 trat damit in der historischen Forschung die Autobiographie als »eine Deutung und Sinngebung gelebten Lebens und die direkteste Form von Gewissensforschung«85 in Erscheinung, die Auskunft über die Genese moderner Subjektivitäts- und Individualitätsformen geben sollte. Die Sozialund stärker noch die Kulturgeschichtsschreibung des späten 20. Jahrhunderts rückten dagegen vermehrt den »einfachen« Menschen und seine Wahrnehmung makrogeschichtlicher Veränderungen in den Fokus der Forschung. Das neu aufgekommene Interesse »an einzelnen Personen, ihrer typischen oder singulären Vorstellungswelt, ihrer Weltsicht insgesamt«86 führte dazu, dass die von Misch noch als formal unbestimmbar gehandhabte, seit dem Zweiten Weltkrieg jedoch verstärkt Typologisierungsversuchen unterworfene87 Gattung der Autobiographie erneut der Definitionsfrage ausgesetzt wurde. Als fruchtbar erwies sich der im 19. Jahrhundert aufgekommene Begriff des Selbstzeugnisses. Gegenüber dem Begriff der Autobiographie bietet er den Vorteil, dass auch solche Texte eingeschlossen werden können, die »die nur ein einziges Erlebnis festhalten oder gar nur punktuelle Bezüge zum Leben des / der Betreffenden aufweisen«88 oder aber gar keine Auskunft zur Biographie der Person geben, dafür aber intime Wünsche, Interessen oder moralische Vorstellungen thematisieren. Dadurch konnten neben der Autobiographie, dem Tagebuch

Darmstadt 1989, 21–32, hier 28. Diesem Gedankengang folgte sein Schüler Georg Misch, der in den europäischen Autobiographien als Werkzeugen der Selbsterkenntnis die graduelle Entfaltung des menschlichen Geistes zu finden suchte. Dieser Fokus führte dazu, dass bis zu den 1970er Jahren nur große (weiße) Männer, von denen insbesondere Goethe immer wieder als Paradebeispiel herangezogen wurde, als untersuchungswürdige Autobiographen galten. Ausgeschlossen blieben »Frauen, Angehörige der Unterschichten, Leibeigene und Sklaven«, also all jene, »denen man Individualität absprach«. Herzberg, Julia: Autobiographik als historische Quelle in ›Ost‹ und ›West‹. In: Dies. / Schmidt, Christoph (Hg.): Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Köln 2007, 15–62, hier 23. 84 Ebd. 20. 85 Weyers, Bianca: Autobiographische Narration und das Ende der DDR . Subjektive Authentizität bei Günter de Bruyen, Monika Maron, Wulf Kirsten und Heiner Müller. Göttingen, 22. 86 Schulze, Winfried: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung ›Ego-Dokumente‹. In: Ders. (Hg.): Ego-Dokumente. An­ näherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996, 11–30, hier 13. 87 Malo, Markus: Behauptete Subjektivität. Eine Skizze zur deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert. Tübingen 2009, 10. 88 Krusenstjern, Benigna von: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994) 462–471, hier 467.

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und den Memoiren auch Reiseberichte, Notizbücher, Briefe, Familienchroniken, Bittschriften, Testamente und Haushaltsbücher unter dem Begriff Selbstzeugnis subsumiert werden, vorausgesetzt, dass ein Selbstbezug gegeben war. Darüber hinaus wurde diskutiert, inwiefern unfreiwillige Selbstaussagen wie zum Beispiel Verhörsprotokolle und gar unter Anwendung von Folter erzwungene Geständnisse als Selbstzeugnisse gelten können. Winfried Schulze schlug vor, hierfür den im 20. Jahrhundert entstandenen Begriff des Ego-Dokumentes zu verwenden.89 Die Diskussionen um die möglichen Wege der Annäherung an das Individuum und seine Wahrnehmung der Welt offenbarten indes ein komplexes Verhältnis von Gattungs-, Intentionalitäts- und Authentizitätsfragen, auf das an dieser Stelle näher eingegangen werden soll. Zunächst einmal scheinen nur bestimmte Textgattungen das Potenzial zu haben, als Selbstzeugnis behandelt werden zu können. Das hat den Grund, dass Textgattungen und die ihnen eigenen literarischen Konventionen mit jeweils unterschiedlichen Intentionen des Autors assoziiert werden. Tagebücher und Autobiographien dienen für gewöhnlich der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung,90 während Essays, Feuilletonartikel, Flugblätter, Bekennerschreiben oder politische Reden in erster Linie einen (vom eigenen Standpunkt zu überzeugenden) Leser voraussetzen. Eine mögliche Selbstthematisierung fällt hier unter den Generalverdacht der (politischen) zweckmäßigen Verfremdung. Die Annahme, dass unterschiedliche Textgattungen aufgrund der mit ihnen assoziierten Autorenintentionen auch unterschiedliche Authentizitätsgrade bedingen, wurde jedoch in den Geschichtswissenschaften spätestens in den 1990er Jahren zumindest teilweise in Frage gestellt. Die in »poststrukturalistischen« Diskussionen zum Ausdruck gebrachte Skepsis an der Autonomie des Subjekts bedeutete auch eine Relativierung gattungsspezifischer Annahmen. Denn falls das Selbst jeweils neu »erfunden« wird, so müsse sich auch die Analyse weg von Fragen der Aufrichtigkeit, Unmittelbarkeit und Authentizität auf den Diskurs selbst verlagern. Im Falle sozialistischer Selbstzeugnisse ergibt sich ein weiterer Einwand gegen eine allzu starre Fixierung auf das »eigentliche« Selbst, nämlich der Umstand, dass die Revolutionsbewegung »private« Dokumente nicht zuletzt als propagandistische Werkzeuge verstanden hat. Aus diesem Grunde sind die Unterschiede zwischen »privatem« Selbstzeugnis und »öffentlicher« Publizistik in vielen Fällen verschwommen. Dennoch bleiben Selbstzeugnisse im engeren Sinne für die Geschichtswissenschaft zwangsläufig von primärer Bedeutung, da sich historische

89 Schulze: Ego-Dokumente 20 ff. 90 Dass jedoch auch diese Form der Selbstthematisierung sich oftmals vor einem (dem Autor nicht immer bewussten) Hintergrund einer möglichen, wenn auch nur posthumen, »Entdeckung« durch einen Anderen vollzieht, liegt auf der Hand.

54  Ansatz und Fragestellung Akteure hier bewusst auf eine distinktive Art und Weise Ausdruck verschaffen. Selbstzeugnisse stellen andere Ansprüche an die Glaubwürdigkeit als etwa politische Reden. Ein Abschiedsbrief etwa, der im Duktus eines politischen Pamphlets verfasst ist, birgt die Gefahr des Glaubwürdigkeitsverlustes. Es ist also auch immer die Wahl der adäquaten Form,91 die bei der Selbstdarstellung eine Rolle spielt. Letzteres wurde auch von den russischen Radikalen verstanden und zum Teil bewusst genutzt. Auf der Grundlage dieser Überlegungen lässt sich folgendes methodische Vorgehen bestimmen: Die Hauptquelle für diese Untersuchung bilden »klassische« Selbstzeugnisse wie Autobiographien, Memoiren und Briefe. Auf dieser Quellengrundlage wird die Selbstdeutung der Akteure zu konstruieren sein. Das bereits diskutierte Konzept der »starken Wertungen« erlaubt es jedoch – bei aller notwendigen Beachtung des Kontextes –, auch Prozessakten, Bücher, politische Artikel, Flugblätter und vergleichbare Texte zu berücksichtigen.92 Im Folgenden sollen die für die vorliegende Arbeit wichtigsten Quellensammlungen kurz skizziert werden. Die systematische Sammlung und Veröffentlichung von biographierelevanten Materialen erfolgte Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Revolutionäre selbst in einer Zeit, als die bedeutendsten Akteure der sogenannten ersten Phase der Revolutionsgeschichte bereits sichtlich gealtert oder tot waren. Zugleich erlebte die Revolutionsbewegung einen neuen Aufschwung, der mit einem gestiegenen Bedürfnis nach einer Vergegenwärtigung der eigenen Geschichte und des Rückgriffs auf heroische Vorbilder einherging. Von besonderer Bedeutung war hierbei die Zeitschrift Byloe (das Vergangene), die mit einigen Unterbrechungen und Ablegern von 1900 bis 1926 erschien. Die namentliche Anlehnung an Aleksandr Herzens Memoiren (Byloe i dumy) war Programm: Die Zeitschrift erlaubte ihren Beiträgern, das eigene Leben zu narrativieren und sich in die gemeinsame revolutionäre Geschichte einzuschreiben. Byloe stand den Sozialrevolutionären nahe und zeichnete sich dank den Bemühungen ihres Hauptherausgebers, Vladimir Burcev, eines Apologeten des revolutionären Terrorismus, durch eine entsprechende Publikationspolitik aus. Veröffentlicht wurden vor allen solche Dokumente, auf deren Basis sich Helden- und Märtyrererzählungen konstruieren ließen, während Dokumente, die den Terrorismus kompromittierten, nicht

91 Vgl. Knaller: Ein Wort aus der Fremde 158. 92 Dabei werde ich sowohl im Text als auch in den Fußnoten häufig lange Zitate bereitzustellen, um dem Leser die Möglichkeit einer Gegenlektüre zu geben. Zur Fundierung dieses Ansatzes siehe Müller, Tim: Der linguistic turn ins Jenseits der Sprache. Geschichtswissenschaft zwischen Theorie und Trauma. Eine Annäherung an Dominick LaCapra. In: Trabant, Jürgen (Hg.): Sprache der Geschichte [= Schriften des Historischen Kollegs]. München 2005, 107–132, hier v. a. 113–115.

Ansatz und Fragestellung  55

oder nur in gekürzter Form und kommentiert veröffentlicht wurden.93 Nach der Revolution etablierte sich mit Katorga i ssylka (Zwangsarbeit und Verbannung) (1922–1935) eine autoritative Plattform für autobiographisches Material.94 Diese wurde vom Obščestvo byvšych politkatoržan i ssyl’noposelencev (Verband der ehemaligen politischen Gefangenen) herausgegeben und erwies sich als eine der wichtigsten Quellen für die Geschichte der Revolutionsbewegung. In beiden Organen waren jedoch die Grenzen des Sagbaren relativ eng gesetzt, sodass etwa die »dunklen Seiten«95 der eigenen Vergangenheit oftmals mit Verlegenheit oder Schweigen umgangen wurden. Ferner fiel die Artikulation von Zweifeln am Sozialismus der Selbstzensur zum Opfer. Eine andere wichtige Quelle bilden die im frühen 20. Jahrhundert veröffentlichten Autobiographien der Teilnehmer der Revolutionsbewegung sowie die meistens im Ausland erschienenen Dokumentensammlungen. Darunter fallen etwa Bogučarskijs Literatura social’no-revoljucionnoj partii ›Narodnoj voli‹ (Literatur der sozialrevolutionären Partei ›Der Volkswille‹), Burcevs Za sto let (Aus Hundert Jahren), die Itogi revoljucionnogo dviženija v Rossii za sorok let (Bilanz der Revolutionsbewegung aus 40. Jahren) des Sozialdemokraten Kuklin, das in den frühen 1930ern Jahren publizierte Archiv ›Zemli i Voli‹ i ›Narodnoj Voli‹ (Archiv der ›Land und Freiheit‹ und des ›Volkswillens‹), aber auch die von der zarischen Regierung herausgegebenen Prozessakten, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Auch diese Sammlungen hatten ursprünglich eine politische Funktion. Von großer Bedeutung für diese Arbeit waren die Dokumente des Staatsarchivs der Russländischen Föderation (GA RF) in Moskau, hier vor allem die 93 Siehe zum Beispiel die nicht veröffentlichten »Bekenntnisse« des Polizeispitzels ­Michail Rips. The Hoover Institution Archives. The Boris I. Nicolaevsky Collection (weiter Nicolaevsky Collection) Box 150, Folder 14. Instruktiv sind in dieser Hinsicht ferner die Ausführungen Vladimir Burcevs, mit denen er die Zensurierung der »Beichte« des Ex-Provokateurs Sotnikov rechtfertigte, zeigen sie doch, dass unsere Wahrnehmung der Revolutionsbewegung auch durch selektive Veröffentlichungspraktiken ihrer Akteure mitgeprägt wurde: »My ne vidim nikakogo snischoždenija dlja čeloveka, unizivšego sebja […] snošeniem s ­kakoj ­sredoj, kak tajnaja policija. […] My sčitaem nesmyvaemym pozorom odnu mysl’ o takom plane [Eintritt in die Ochrana, d. Verf.] […]. Krome togo, my sočli svoim dolgom vybrosit’ počti vsë o ­ tnosjaščeesja k egi duševnym pereživanijam, ego ›skorb’‹ za tovariščej i pr. Pust’ daže čuvstva Sotnikova iskrenni, no pravo govorit’ publično o stradanijach i mukach russkich revoljucionerov on poterjal. On nikogo ne tronet, upominaja čego stoila i emu samomu žizn’ v ochrane. Esli on dejstvitel’no stradaet – on ėto zaslužil«. Iz vospominanij M. Sotnikova. In: Byloe 14 (1912) 92–137, hier 136–137. 94 Darüber hinaus sorgte eine Reihe anderer Zeitschriften, die in dieser Arbeit geringe oder keine Berücksichtigung gefunden haben, wie etwa das Krasnyj archiv (Rotes Archiv) (1922–1941) oder die Proletarskaja revoljucija (Proletarische Revolution) (1921–1941)) für die Aufrechterhaltung der Erinnerung an die revolutionäre Vergangenheit. 95 Siehe dazu Rindlisbacher, Stephan: Living for a Cause. Revolutionary Self-Perception in Late Tsarist Russia. In: AvtobiografiЯ, 2018 [im Druck].

56  Ansatz und Fragestellung Bestände der politischen Polizei und die Sammlung konfiszierter Flug­blätter und Broschüren, sowie vor allem individuelle Nachlässe, wie etwa der, für die Terrorismusgeschichte enorm bedeutende, Nachlass des Boris Savinkov. Von großer Bedeutung waren ferner die Bestände des Russländischen Staatsarchivs für sozialpolitische Geschichte (RGASPI) in Moskau, hier vor allem die Nachlässe der Kommunisten. Ergänzend wurde von mir die Nikolaevsky Collection der Hoover-Institution on War, Revolution and Peace in Stanford konsultiert. Ein geringerer Teil der nicht veröffentlichten Quellen wurde bisher von der Forschung nicht berücksichtigt und in dieser Arbeit nun zum ersten Mal verwendet. Ansatz und Fragestellung Der Ansatz und die Fragestellung der vorliegenden Studie lassen sich nun wie folgt zusammenfassen: Unter der Berücksichtigung des sich verändernden politischen und gesamtkulturellen Kontextes (1860 bis 1917) soll anhand revolutionärer Selbstzeugnisse im weitesten Sinne die Entwicklung des moralischen Rahmens der Revolution nachgezeichnet und geklärt werden, wie sich das revolutionäre Selbst in diesem Rahmen mittels einen sprachlichen Austausches mit Anderen sozial und kulturell konstituierte. Zu diesem Zweck sollen religiöse Semantiken als Bestandteile starker Wertungen untersucht werden, die als solche in expliziter oder impliziter Weise über die Wünsche und Absichten des Sprechers Auskunft geben. In denjenigen Fällen, in denen sich starke Wertungen auf das Gut des allgemeinen Glückes beziehen, soll geklärt werden, ob und inwiefern die dahinter stehenden religiösen Vorstellungen96 das politische Handeln und eventuell auch das Gewaltpotenzial der Revolutionsbewegung beeinflusst haben. Anders formuliert: Lässt sich ein Zusammenhang zwischen religiösen Semantiken, den evaluierten Gütern und Wünschen und den Vorstellungen vom Guten auf der einen Seite und revolutionärer Gewalt auf der anderen Seite nachweisen? In denjenigen Fällen, in denen religiös konnotierte Ausdrücke als Bestandteile starker Wertungen Auskunft über die Autonomie- und Authentizitätsvorstellungen der Revolutionäre geben, soll ebenfalls geprüft werden, ob von »fortwährenden Abhängigkeiten« die Rede sein kann. Dazu muss geklärt werden, in welchem Verhältnis Güter und Wünsche zueinander standen, wie das »Ich-Wir«-Verhältnis artikuliert und was unter »öffentlichen« und »privaten« Interessen verstanden wurde. Erst vor diesem Hintergrund soll nach der Bedeutung des Terrorismus für die Orientierung im moralischen Rahmen der Revolution gefragt und eine Antwort auf die Frage gegeben werden, ob der russische 96 Damit ist folgendes gemeint: Sowohl den Marxismus als auch das narodničestvo zeichnete die Vorstellung aus, dass am Ende eines teleologischen Geschichtsprozesses die »Befreiung der Menschheit« von aller »Knechtschaft«. Die Revolution wurde somit zur Voraussetzung des Glücks aller.

Ansatz und Fragestellung  57

Terrorismus97 als ein »Indikator«98 für die Entwicklung des »modernen Selbst« begriffen werden kann. Zur besseren Klärung dieser Fragen muss nach den Vermittlungsinstanzen für religiöses Wissen, religiös imprägnierter Konzepte sowie Tugenden und Gütern, die ursprünglich in religiösen Kontexten artikuliert worden waren, gefragt werden. Es ist nach der historischen Entwicklung des moralischen Rahmens, nach signifikanten Entwicklungsstationen oder Brüchen sowie nach deren Ursachen zu fragen. Spielten religiöse Semantiken bei der Artikulation bedeutender Güterkonflikte und indentitätsbezogener Probleme eine Rolle? Gab es in solchen Fällen Alternativen für die Verwendung religiöser Semantiken? Bei der Annäherung an diese Fragen werde ich chronologisch vorgehen, zum besseren Verständnis jedoch auch Quellen aus anderen »Epochen« der Revolutionsbewegung in die Untersuchung mit einbeziehen. Erst nach der Klärung all dieser Fragen, soll eruiert werden, ob direkte Kontinuitäten zwischen dem »revolutionären« und dem »sowjetischen« bzw. dem »stalinistischen Selbst«, wie zwischen dem vor- und nachrevolutionären Terror bestehen und wie in diesem Kontext die historische Zäsur des Jahres 1917 einzuordnen ist.

97 Trotz der rapiden Expansion der Terrorismusstudien, werden bis heute das »Fehlen einer weithin akzeptierten Definition des Gegenstandes, der Mangel an Theoriebildung und die Ereignisbezogenheit« der Forschung beklagt. Zit. n. Schulze Wessel, Martin: Terrorismusstudien. Bemerkungen zur Entwicklung eines Forschungsfelds. In: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009) 357–367, hier 357. Dies gilt insbesondere für die historische Forschung, die es vorzog, das Phänomen des Terrorismus innerhalb eines konkreten historischen Kontextes zu analysieren oder auf bestimmte Merkmale wie transnationale Bezüge, die Rolle von Ideologie und Massenmedien, urbane Zentriertheit und technischen Fortschritt hin zu untersuchen. (Siehe ­Morrissey: Terrorism, Modernity 214). Diese Arbeit fragt in erster Linie nach der kommunikativen Funktion terroristischer Attentate. Dabei werden ihr performativer Charakter sowie die Theatralisierung des Auftretens vor Gericht und auf dem Schafott im Fokus stehen sowie die Diskursivierung des Terrors in den Selbstzeugnissen (und anderen propagandistischen Texten ohne Selbstbezug). Da ich die Frage nach dem Verhältnis von vor- und nachrevolutionärem Terror bewusst offenlasse, verzichte ich in dieser Arbeit auf eine scharfe begriffliche Differenzierung zwischen sozialrevolutionärem Terrorismus »von unten« und staatlichem Terror »von oben«. 98 Hilbrenner / Schenk: Introduction 164.

3. Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre 3.1 Die »Junge Generation« der 1860er Jahre Soziale Zusammensetzung In revolutionären Zirkeln der 1860er Jahre dominierten zwei soziale Gruppen, der Adel (dvorjanstvo) und die sogenannten raznočincy, Menschen die rechtlich keinem Stand (Adel, Händler, »Kleinbürger«, Handwerker, Bauern, Geistliche) zugeordnet waren. Der radikale Publizist Nikolaj Michajlovskij schrieb in den 1870er Jahren, dass es unkorrekt wäre, den »reuigen Adeligen« und den zur Reue ermahnenden raznočinec unter dem Schlagwort šestidesjatniki (wörtlich: Generation der 60er Jahre) zu subsumieren. Die ersteren seien nämlich mit den Fragen »persönlicher Moral« beschäftigt gewesen, während die zweiten von der Idee des zivilisatorischen »Dienstes am Volk« getrieben gewesen seien.1 Das Motiv der »Schuld« taucht tatsächlich überdurchschnittlich oft in den Texten der adeligen Revolutionäre auf. Die Gegenübersetzung von »Dienstethos« und »persönlicher Moral« ist nicht haltbar, da schlussendlich alle Intelligenzler der 1860er Jahre von der Idee der »Zivilisierung« und ihrer eigenen Rolle als Agenten des Fortschritts überzeugt waren. Signifikante Änderungen in der Vorstellungswelt des Adels werden gewöhnlich mit den Europaerfahrungen, die russische Offiziere während des Krieges mit Napoleon gesammelt hatten, in Verbindung gebracht. Wenn nach 1812 der Armeedienst als ein hohes anzustrebendes Ideal dargestellt wurde, so traten nach dem Dekabristenaufstand von 1825 Adelige en masse aus dem militärischen Staatsdienst aus. An den Universitäten formierte sich unter dem Einfluss von Hegel und Schelling eine ganze Reihe sowohl von Schriftstellern als auch von zukünftigen Revolutionären. Aus adeligen Intellektuellen wurden Intellektuelle aus dem Adel, moralisch deklassiert und in der inneren Immigration gefangen.2 1 Michajlovskij, Nikolaj: Iz literaturnych i žurnal’nych zametok 1874 g. In: Redakcija žurnala ›Russkoe Bogatstvo‹ (Hg.): Sočinenija N. K. Michajlovskogo. Bd. 2. 4. Auflage. St. Petersburg 1906, 534–676, hier 647–649. Alle Zitate nach ebd. 649. Becker zufolge war Michajlovskij der erste, der das Wort raznočincy als eine soziologische und historische Analysekategorie verwendet hat. Becker, Christopher: Raznochintsy. The Development of the Word and of the Concept. In: American Slavic and East European Review 1 (1959) 63–74, hier v. a. 70 ff. 2 Malia, Martin: What is the Intelligentsia? In: Pipes, Richard: The Russian Intelligentsia, New York 1961, 1–18.

60  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre Eines der schwerwiegendsten Probleme in der Selbstimagination des oppositionell eingestellten Adels stellte die Leibeigenschaft dar. Nach der Niederlage im Krimkrieg (1853–1856) leitete der 1855 inthronisierte Imperator Alexander II . weitreichende Reformen ein. Eine der ersten und fundamentalsten Änderungen betraf die Leibeigenschaft, mit deren Aufhebung große Hoffnungen und Ängste verbunden waren. Für die »aufgeklärte«, gutsbesitzende Elite war die Leibeigenschaft schon länger zum moralischen Problem geworden, half sie doch das Selbstbild einer repressiven Minderheit zu konstruieren, die zudem kulturell und geistig von der unterdrückten Mehrheit »entfremdet« war.3 Feierte der »europäisierte« Adel den Zaren im Vorfeld der Reform noch überschwänglich (Aleksandr Herzen überhöhte Alexander II . 1857 gar als einen zweiten Christus: »Ty bobedil, Galileianin!«4), so führten die als halbherzig empfundenen Reformen in der Intelligenzija zu einer bitteren Enttäuschung.5 Das Motiv der »Schuld« vor dem »Volk« ist, wie eingangs gesagt, relativ oft in den Selbstzeugnissen adeliger Revolutionäre6 anzutreffen. Adelige, die im Zuge des Übergangs der Bewegung von oppositioneller Publizistik zu aktiver Untergrundarbeit ihren Familien den Rücken kehrten und im »Untergrund« aktiv wurden, beschrieben diesen Vorgang oftmals in Form einer Konversionserzählung. In diesen Erzählungen erkannte der »reuige Adelige« die moralische Verwerflichkeit des alten Lebens, begab sich auf den Pfad des Sozialismus und erfuhr im Zuge staatlicher Repressionen so etwas wie eine moralische »Läuterung«.7 3 Raeff, Marc: Origins of the Russian intelligentsia. The Eighteenth-Century Nobility. New York 1966, 120–146. 4 Hier zit. n. Bergman: The Image of Jesus 225. 5 1861 wurde die Leibeigenschaft aufgehoben. Ehemalige Leibeigene erhielten damit persönliche Besitzrechte, konnten Rechtsgeschäfte tätigen und vor Gericht ziehen, in den Dienst eintreten oder den Wohnort wechseln. Die Bauernschaft musste nach wie vor als einziger Stand Rekruten bereitstellen, konnte körperlich gezüchtigt werden und musste die Kopfsteuer zahlen, wobei nicht mehr der Gutsbesitzer, sondern die Landgemeinschaft in kollektiver Verantwortung verpflichtet wurde. Schwerwiegender war jedoch der Verbleib des Landes im Besitz der Gutsherren. Im Zuge des Streites um die gegen die Zahlung von Abgaben (»obrok«) oder gegen Leiharbeit (»barščina«) zur Bearbeitung freigegebene Erde verkleinerten sich die Parzellen im Schnitt um ca. 20 Prozent. Sie wurden von der Landgemeinschaft (»obščina«) aufgeteilt. Um aber das Land in den eigenen Besitz zu bringen, musste der Bauer 20 Prozent des Landpreises (dieser überstieg in der Regel den Marktpreis!) an den Gutsbesitzer auszahlen oder abarbeiten, die restlichen 80 Prozent zahlte der Staat, wobei auch hier der Bauern jährlich Zinszahlungen von 6 Prozent leisten musste. Zahlen nach O ­ rlov, A. u. a.: Istoričeskij slovar’. 2. Auflage. Moskau 2012, 254–257. 6 Die Rede ist hier in erster Linie vom wohlhabenden Adel. Zwar verfügten alle Adeligen über rechtliche Privilegien, doch konnten die wirtschaftliche Lage und gesellschaftliche Stellung einzelner Adeliger diametral unterschiedlich sein. 7 Siehe zum Beispiel Žebunëv, Sergej: Otravki iz vospominanij. In: Byloe 5 (1907) 253–268. In einigen Fällen wurde das Motiv der »Schuld« jedoch ausdrücklich verneint. So zum Beispiel von Vera Figner. Siehe Rindlisbacher: Leben für die Sache 74.

Die »Junge Generation« der 1860er Jahre    61

Wenn von adeligen Revolutionären Vorstellungen »kultureller Überlegenheit« mit Vorstellungen historischer »Schuld« gepaart waren, so scheint bei Männern und Frauen aus der schwer zu definierenden8 Gruppe der raznočincy ein Gefühl der »moralischen Überlegenheit« vorherrschend gewesen zu sein. Sie machten sich in der Regel keine Selbstvorwürfe bezüglich der »Verwerflichkeit« ihrer privilegierten sozialen Stellung. Dort, wo ein Herzen im schlimmsten Fall zu seinem Vater zurückkehren konnte, war ein raznočinec im Grunde gänzlich auf sich allein gestellt. Seine Existenz war somit von seiner Arbeit als Nachhilfelehrer, Übersetzer, Rezensent, Journalist o. ä. abhängig.9 Dies erlaubte den raznočincy einen »distinktiven radikalen Stil«10 zu entwickeln. Revolutionäre raznočincy waren in der Regel schlechter ausgebildet als Adelige, die auch in den 1860er die Mehrzahl der Studenten stellten, aber sowohl in ihren Forderungen als auch in der Wahl ihrer Mittel radikaler. Die Revolutionäre selbst brachten das »raznočinstvo« gewöhnlich mit »sozialer Lebendigkeit« und einer Art »genuinem Demokratismus« zusammen.11 Die neue Rolle, die der raznočinec ab den späten 1850er Jahren zu spielen begann, konnte deshalb mit dem »Aufwachen« des »schlafende[n] Russland[s]«12 von einem intellektuellen und gesellschaftlichen »Schlaf« in Zusammenhang gebracht werden. Ende der 1860er Jahre bekam die Gruppe der ranznočicy vermehrt Zulauf durch Priestersöhne (popoviči). Seit den Reformen Peters I. war der orthodoxe Klerus ein geschlossener Stand. Bis zu den »Großen Reformen« Alexanders II . wurden Söhne orthodoxer Priester in den geistlichen Stand hineingeboren, der sich dadurch zu einer Art »Kaste«13 verfestigte. Ab 1869 erhielten sie einen säkularen Status, was zu einem »Exodus«14 aus den Priesterseminaren führte. Priestersöhne, die von den Werten ihrer Väter beeinflusst waren und sich zudem gut in geistlicher Literatur auskannten, waren geneigt, sich als »volksnahe« An 8 Die Gruppe der raznočincy fällt selbstredend weder mit der Gruppe der nichtadeligen Revolutionäre zusammen noch waren alle raznočincy demokratisch eingestellt. Siehe dazu Wirtschafter, Elise Kimerling: Problematics of Status Definition in Imperial Russia. The Raznočincy. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 3 (1992) 319–339. 9 Malia: What is the Intelligentsia 11. 10 Alle drei Zitate nach Pomper, Philip: The Russian Revolutionary Intelligentsia. New York 1970, 66–67. 11 Vgl. Aptekman, Osip: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 1–12, hier 6. 12 »[…] spjaščaja Rossija skolychnulas’; obščestvennye sloi, otodvinutye rannee ot vsjakoj umstvennoj i obščestvennoj žizni, zaševelilis’ i stali vydeljat’ iz sebja talantlivych pisatelej, kritikov, ėkonomistov i učenych. Na obščestvennuju arenu vyšel raznočinec.« Golovina, Nadežda: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 71–85, hier 71. 13 Schulze Wessel: Revolution und religiöser Dissens 15. 14 Freeze, Gregory: The Parish Clergy in 19th Century Russia. Crisis, Reform, CounterReform. Princeton 1983, 384.

62  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre führer der Gesellschaft zu betrachten. Zudem strebten sie nach Selbstverkommnung, was ihr elitäres Gruppenbewusstsein stärkte. Auch die wenigen popoviči, die dezidiert atheistische Positionen vertraten, transformierten die christlichen Heilsvorstellungen ihrer Väter. In welcher säkularen Sphäre sie auch tätig wurden, sie widmeten sich ihrer neuen Tätigkeit mit all ihren Kräften, um so etwas wie einen »Himmel auf Erden«15 zu errichten. Obwohl einzelne Priestersöhne noch vor 1869 in der Revolutionsbewegung aktiv gewesen waren, begannen sie erst Anfang der 1870er Jahre, vermehrt wichtige Positionen in revolutionären Zirkeln einzunehmen.16 Der graduellen Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Arten, sein Leben zu führen, kam in ihrem Denken eine große Bedeutung zu. Erst jetzt begann das »höhere Leben« eines Vertreters der revolutionären Elite, das »gewöhnliche Leben« eines »Philisters (obyvatel’)« zu überschatten. Schon unter den Verdächtigten und Angeklagten im Nečaev-Fall (1869–1971) befand sich eine Reihe von Priestersöhnen, von denen Vasilij I­vanovskij und Vladimir Orlov die bekanntesten sind. Intellektuelle Einflüsse Trotz aller Unterschiede teilten sowohl »revoljucionnye dvorjaniny« als auch »revolucionnye raznočincy« einen gemeinsamen geistigen Horizont, der in seiner ganzen Bandbreite hier nicht dargestellt werden kann. Dieses Unterkapitel konzentriert sich stattdessen auf zwei Schlüsselfiguren, Černyševskij und Herzen, die einen signifikanten Beitrag zu den Authentizitäts- und Autonomiediskursen der 1860er Jahre und letzten Endes auch zur Sprache der Revolution mit ihren zahlreichen Bezügen zu religiösen Texten und Vorstellungen geleistet haben. Einen wichtigen Bezugspunkt für die Generation der 1860er Jahre und weit darüber hinaus bildete der 1812 geborene Adelige Alexandr Herzen. Wie Černyševskij und andere russische Frühsozialisten war der junge Herzen in großem Massen von »expressivistischen« Vorstellungen beeinflusst, wie Aileen Kelly in ihrer Herzen-Biographie mit Verweis auf Charles Taylors Konzeption schreibt. »Gefühlen, der Intuition und individuellen inneren Erfahrungen«17 wurde dabei ein hoher Stellenwert bei der »authentischen« Artikulation des menschlichen Potenzials zugeschrieben. Herzen suchte schon früh nach Möglichkeiten einer moralischen Erneuerung der europäischen Gesellschaften und fragte nach der historischen Rolle Russlands in diesem Prozess.

15 Mančester: Popoviči v miru 300. 16 In den 1870er Jahren erreichte der Anteil an Priestersöhnen einen Höhepunkt. Ungefähr jeder fünfte Revolutionär war zu dieser Zeit ein popovič. Manchester: Secularization 52. 17 Kelly, Aileen: The Discovery of Chance. The Life and Thought of Alexander Herzen. Cambridge, Mass. 2016, 11.

Die »Junge Generation« der 1860er Jahre    63

Wie später Černyševskij ging er dabei durch die Schule des sogenannten Christlichen Sozialismus.18 Er sprach sich explizit gegen die pseudokultischen Elemente der saint-simonischen »Kirche« aus. Was ihn jedoch am Saint-Simonismus faszinierte, war die Idee der »moralischen Selbstverwirklichung«19, die er schon aus seinen Schillerstudien kannte. Von französischen und englischen Vorbildern übernahm Herzen den religionskritischen Vergleich zwischen Sozialismus und Christentum. Dieser nahm einen prominenten Platz in seinem bedeutenden Text Von dem anderen Ufer (1850) ein.20 Wie andere Vertreter seiner Generation räumte auch Herzen der Idee des autonomen Individuums einen zentralen Platz in seinem Denken ein. Er verband mit dem Sozialismus das Versprechen einer neuen Ordnung, die sich auf Prinzipien der autonomen, von den Ansprüchen von Religion und Tradition »befreiten« Vernunft stützen und Möglichkeiten für die freie Selbstverwirklichung des Individuums eröffnen werde. Wirkmächtig wurde Herzens Idee der Bauernkommune als Keimzelle einer Gesellschaft der Zukunft und seine Sicht auf die Intelligenzija als einen Agenten des sozialen Wandels, der die Kommune dazu bringen müsse, sich für äußere Einflüsse zu öffnen und die geschlossene Welt der obščina zu revolutionieren.21 Dieser Aspekt des herzenschen Denkens wurde von dem narodničestvo von den 1860er bis in die 1880er Jahre breit rezipiert. Auf dieser Basis entwickelte sich die Vorstellung, dass Russland aufgrund seiner spezifischen Verfasstheit in der Lage sei, die kapitalistische Phase seiner Entwicklung zu überspringen und auf direktem Wege zum Sozialismus zu kommen. Obwohl Herzen die Versöhnung des Individuellen mit dem Kollektiven in Aussicht stellte, kritisierte er Ansichten, die eine Absorption des Individuums durch die Gemeinschaft propagierten.22 18 Malia, Martin: Alexander Herzen and the Birth of Russian Socialism. New York 1965, 119–225. 19 Kelly: The Discovery of Chance 116. 20 Wie die frühen Christen von den Heiden verfolgt wurden, so geschehe dies heute mit den Sozialisten, den »neuen Christen«. Wie die Frühchristen über Rom triumphiert haben, so werde auch Europa nach einer langen Nacht zum Sozialismus gelangen. Hierin lag Herzen im Hauptstrom des damaligen sozialistischen Denkens. Moses Hess, der die Schrift las, reagierte bei aller Kritik an Herzens Idee der Bauernkommune mit sichtlicher Begeisterung und meinte sogar in einem an Herzen adressierten Brief: »Als Apostel des neuen Evangeliums müssen wir uns verwandter fühlen mit den Aposteln als Philosophen aller Zeiten«. Hess, ­Moses: Briefwechsel [=  Quellen und Untersuchungen zur Geschichte der deutschen und österreichischen Arbeiterbewegung, Bd. 2]. Mouton 1959, 240. 21 Kelly: The Discovery of Chance 323–328. Kelly verweist darauf, dass Herzen in der Bauernkommune kein »recipe for the final resolution of social conflict« gesehen habe, sondern eher »a structure flexible enough to effect a balance between the demands of social cohesion and individual liberty in response to the needs of a given historical context«. Ebd. 250. 22 Als die Herzens und die Herweghs im Begriff waren, eine experimentelle Lebensgemeinschaft zu gründen, ermahnte Herzen seinen Freund sowohl mit Blick auf die Dreiecksbeziehung zwischen Herwegh, ihm und seiner Frau Natalia als auch mit Blick auf kollektivis-

64  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre Herzens Idee der Bauernkommune, seine an französischen Vorbildern geschulte Metaphorik sowie sein Eintreten für die Autonomie des Individuums und der »expressivistische« Nexus von Gefühl und Ratio hatten beträchtlichen Einfluss auf das Denken der zukünftigen Revolutionäre. Sein Skeptizismus, der nicht einmal vorm Sozialismus selbst Halt machte, sowie seine Ablehnung revolutionärer Gewalt brachten ihn jedoch in Konflikt mit vielen prominenten Vertretern des »Jungen Russlands«. Denn anders als der sozialistische Hauptstrom – von den Vertretern des sogenannten Utopischen Sozialismus bis hin zu Karl Marx  – zeichnete Herzen kein Bild einer utopischen, »heilsversprechenden« Zukunft.23 Er deutete sogar an, dass der Sozialismus – auch hier schloss er einen Vergleich zum Christentum – sich nach seiner Durchsetzung zu einer konservativen Strömung entwickeln könnte: »Dann wird aus der titanischen Masse der revolutionären Minderheit der Schrei der Verneinung ertönen und wieder wird der Todeskampf beginnen, in dem der Sozialismus den Platz des heutigen Konservatismus einnehmen und durch die kommende, uns unbekannte Revolution besiegt werden wird.«24

Herzen bewahrte eine skeptische Haltung gegenüber teleologischen Geschichtsprojektionen. Seine postum veröffentlichte Schrift »An einen alten Freund« wird heute als Warnung vor der Möglichkeit, dass der Sozialismus zu einer Art »politischen Messianismus«25 mutieren könnte, gedeutet. Dieser Aspekt von Herzens Werk wurde von Revolutionären oftmals gänzlich ignoriert oder heftig kritisiert. Es ist kein Zufall, dass Nikolaj Černyševskij von den šestidesjatniki weitaus breiter rezeptiert wurde. Černyševskij, ein Priestersohn, artikulierte die Hoffnung nach einer allumfassenden Transformation der Gesellschaft in einer von apokalyptischen Texten (Altes und Neues Testament) beeinflussten Sprache. Als Agenten der Transformation bestimmte er eine starke, zur Selbstaufgabe bereite Persönlichkeit.26 In der Forschungsliteratur wird Černyševskij als ein »Mann

tische Lebensformen der Zukunft, dass es »ohne eine vollständige Freiheit und ›Autonomie‹ des Individuums« kein »gemeinsames Leben« geben könne. Hier zitiert nach Acton, Edward: Alexander Herzen and the Role of the Intellectual Revolutionary. Cambridge 2009, 60. 23 Kelly: The Discovery of Chance 352. 24 »Togda snova vyrvetsja iz titaničeskoj grudi revoljucionnogo men’šinstva krik otri­ canija, i snova načnëtsja smertnaja bor’ba, v kotoroj socializm zajmët mesto nynešnego konservatizma i budet pobeždën buduščej, neizvestnoju nam revoljuciej…« Zit. n. Gercen, Aleksandr: S togo berega. In: AN SSSR . In-t mirovoj lit. im A. M. Gor’kogo (Hg.): A. I. Gercen. Sobranie sočinenij v tridcati tomach. Bd. 6. Moskau 1955, 5–142, hier 110. 25 Kelly: The Discovery of Chance 531. 26 Morris: Saints and Revolutionaries 141. Marcia Morris betont, dass das schon in der Kiewer Zeit entstandene literarische Modell des asketischen Helden im 19. Jahrhundert wieder aktualisiert worden sei.

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asketischer Neigungen«27 charakterisiert, manchmal gar als jemand, dessen Lebensführung durch eine »bis zur Selbstverleugnung gesteigerte Askese«28 geprägt gewesen sei. Die Schlüsselcharaktere seines enorm einflussreichen Romans »Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen«, waren bewusst nach dem Vorbild apostolischer Figuren gestaltet worden. Vor allem Rachmetov, ein unermüdlicher, nebulösen Geschäften nachgehender Charakter (ein Hinweis auf die revolutionäre Tätigkeit), kann als eine christologische Figur interpretiert werden. Sein Verschwinden am Schluss des Buches und die Erwartung seiner nahen Ankunft müssen als Anspielung auf die Parusie verstanden werden. Auf der anderen Seite folgt die Entwicklung der Figur hagiographischen Mustern: Rachmetov entledigt sich seines Besitzes und führt ein zunehmend »aske­tisches« Leben.29 Eine zweite Quelle für den Roman bildete neben religiöser Literatur der sogenannte Christliche Sozialismus. Schon Saint-Simon nannte den sozialen Gedanken als die einzige »partie divine«30 des Christentums. Was Č ­ ernyševskij, aber auch Herzen und seinen Freund Nikolaj Ogarëv am »Neuen Christentum« dauerhaft faszinierte, war die Idee einer moralischen Erneuerung der Menschheit, eine durch die Aufklärung von jeglicher »Mystik« gereinigte soziale Botschaft des Christentums.31 Russische Metaphern für die zukünftige sozialistische Ordnung wie »Reich der Gerechtigkeit« folgten französischen Vorbildern. In den Texten französischer Autoren fanden die russischen Rezipienten außerdem den zentralen Gedanken, dass der Sozialismus »besser« oder »heiliger« sei als das Christentum selbst. Der neue, »sozialistische« Christus konnte, wie Victor Considerant, der in Černyševskijs Roman ausdrücklich erwähnt wird, nicht gekreuzigt werden, denn er war nunmehr reiner Geist – das Verlangen nach einer gerechten, freien und glücklichen Gesellschaft.32 ­Černyševskijs Schlüsselroman »Was tun?« war genau von jenen französischen »Visionen der vollkommenen zukünftigen Welt«33 beeinflusst. In den Träumen der Vera ­Pavlovna, einer zentralen Stelle des Romans, machte der Schriftsteller einzelne christliche Vorstellungen zum Ausgangspunkt einer neuen sozialen und ethischen Ordnung. Dabei kam es zu einer Umkehrung theologischer Ge-

27 Paperno: Chernyshevsky 49. 28 Liphardt: Aporien der Gerechtigkeit 82. 29 Paperno: Chernyshevsky 207–208. 30 Saint-Simon: Le Nouveau Christianisme 3. Dem Vorwurf der unzulänglichen Reduktion begegnete Saint-Simon mit einem essentialistisch-theologischen Argument. Gott selbst habe alle Dinge aus einem einzigen Prinzip deduziert. Mehrere göttliche Prinzipien anzunehmen, sei folglich blasphemisch. 31 Malia: Alexander Herzen 119–225. 32 Cort: Christian Socialism 127. 33 Liphardt: Aporien der Gerechtigkeit 70.

66  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre dankengänge: Nicht Gott wurde zu einem Menschen, sondern der Mensch zu einem Gott.34 Die Rezeption des Französischen Sozialismus animierte Černyševskij zudem zur Reflexion über das Problem der Selbstverwirklichung. Die Ursprünge des Problems lassen sich je nach Lesart bis in die Zeit Rousseaus zurückverfolgen. In der Taylor’schen Lesart, legt Rousseau die »Problematik der Moral häufig so dar, als gehe es darum, einer Stimme der Natur im eigenen Inneren zu folgen«35. Wichtiger als moralische Anschauungen sei somit der »enge Kontakt zu sich selbst«36, der ein Gefühl tiefster Zufriedenheit vermitteln könne. Ähnlich fällt die Rousseau-Interpretation Jean Starobinskis aus. Rousseau zufolge könne das Individuum in »unbekümmerter Hingabe an unmittelbare Impulse«37 sprachlich zu sich kommen. Die Romantik mit ihren »Vorstellungen von Originalität, Natürlichkeit, Spontaneität und Individualität«38 entwickelte diesen Authentizitätsgedanken weiter. Originalität und Natürlichkeit konnten jedoch nur im Kunstwerk beziehungsweise im Akt des Schreibens realisiert werden, da ein an solchen Idealen orientiertes Leben in der »gewinnsüchtigen«, »banalen« und »eingebungsfeindlichen« Gesellschaft nicht möglich schien. Das wahre »Genie« wurde von der Gesellschaft dazu gezwungen, eine Maske zu tragen. Aber auch im literarischen Text scheint der Hauptstrom der Romantik zwischen »Dissoziationserfahrung und Sehnsucht nach Ganzheit«39 zu oszillieren, ohne einen Weg zurück ins »verlorene Paradies« zu bieten. 34 »The essence of these improvements [of Christianity, d. Verf.] lies in the reversal of the theological principle of relations between God and man: in the idea of the adoration not of God, who in his son became man, but of man, who as a son of God created in his image would become God.« Paperno: Chernyshevsky 196. 35 Taylor: Das Unbehagen an der Moderne 36. 36 Ebd. 37 Starobinski, Jean: Rousseau. Eine Welt von Widerständen. München, Wien 1988, 297. Durch die »authentische Rede« sei es »nicht länger erforderlich, dass das Ich auf die Suche nach seinem Ursprung geht; denn dieser Ursprung ist hier, im gegenwärtigen Augenblick, worin das Gefühl entspringt. Was immer geschieht, ereignet sich in einer Gegenwart, die von solcher Reinheit ist, dass selbst die Vergangenheit in ihr als gegenwärtige Empfindung erlebt wird. In Wirklichkeit kommt es daher nicht darauf an, sich zu denken oder sich zu beurteilen, sondern darauf, man selbst zu sein [Hervorhebung im Original, d. Verf.]«. Ebd. 38 »Literaturgeschichtlich bedeutsam wird das Phänomen Authentizität [im Sinne Starobinskis, d. Verf.] mit der Poetik des Sturm und Drang, auch wenn der Begriff in den Eigenbeschreibungen der Epoche keine Anwendung findet. Doch kann der Geniekult mit den Vorstellungen von Originalität, Natürlichkeit, Spontanität und Individualität als Poetik einer emphatischen Authentizität avant la lettre umschrieben werden.« Weixler, Antonius: Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt. In: Ders. (Hg.): Authentisches Erzählen: Produktion, Narration, Rezeption. Berlin 2012, 1–32, hier 5. 39 Bartl, Andrea: Einheit und Zerfall in kaleidoskopischer Komplexität. E. T. A. Hoffman und die Romantik. In: E. T. A. Hoffman Jahrbuch. Bd. 17. Berlin 2009, 37–47, hier 44.

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Ein anderer wichtiger ideengeschichtlicher Strang geht auf Schillers Konzept der Selbstererfüllung zurück.40 Bei Schiller war die Erfahrung des Ästhetischen eine Voraussetzung für die »Erfahrung einer harmonischen Totalität oder Ganzheit«41. Die Realisierung des »Spieltriebes« kann Schiller zufolge den fleischlichen und den geistigen Trieb bändigen und »alle Nötigung aufheben und den Menschen sowohl physisch als moralisch in Freiheit setzen«42. Der Realismus Černyševskijs richtete sich gegen die Auffassung, dass ästhetische Bildung als solche so etwas wie Authentizität ermögliche. Kunst bedeutete hier vor allem eine zweifache Annäherung an die »Realität«: Sie sollte sich an der Wirklichkeit orientieren und diese wahrheitsgemäß abbilden, auf der anderen Seite sollte die soziale Wirklichkeit mittels der Bereitstellung von nachahmungswürdigen Charakteren verändert werden.43 Die »neuen Menschen« wurden zu solchen Vorbildern, zu Agenten des sozialen Wandels, die neue Wege der Selbstverwirklichung aufzeigten. Die Generation der 1860er Jahre radikalisierte die Suche nach Möglichkeiten einer authentischen Lebensführung. Wenn die Romantik den Dualismus von »reiner Liebe« und »physischem Begehren« betonte, so strebten Černyševskij und andere Radikale im Anschluss an Rousseau, Schiller und die Saint-Simonisten44 nach einer Verschmelzung von Ratio, Gefühl und sozialem Aktivismus.45 Die von Dobroljubov und Černyševskij ersonnenen »neuen Menschen« scheinen sich gerade dadurch auszuzeichnen, dass sie in der Lage sind, »religiöse Vorurteile« auf quasi natürliche Weise als solche zu identifizieren und abzulehnen, ohne einen langen intellektuellen Entwicklungsprozess zu durchlaufen. Sie handeln spontan, vertrauen ihrem inneren Gefühl, fällen mit Leichtigkeit schwierige Entscheidungen und spüren instinktiv, was richtig und was falsch sei.46 Der natürliche »rationale Egoismus« dieser Menschen gerät dabei nicht in Konflikt mit den Interessen der Gesellschaft. Mehr noch, die »Theorie« diente in der Praxis sehr oft der »wissenschaftlichen« Begründung von Verhaltensnormen, die eigentlich aus religiösen Ethiken entlehnt worden waren. Der »raffinierte Egoismus«, erinnerte sich Michail Goc an die Pisarev- und Černyševskij-­Begeisterung seines kleinen radikalen Kreises in den frühen 1880er Jahren, bedeutete auf der einen Seite eine emotionale und intellektuelle Emanzipation von »sinnlosen religiösen Verboten und kategorischen Befehlen von 40 Paperno: Chernyshevsky 60 f. 41 Ehrenspeck, Yvonne: Schiller und die Realisierung von Freiheit und Sittlichkeit im Medium ästhetischer Bildung. In: Feger, Hans (Hg.): Friedrich Schiller. Die Realität des Idealisten. Heidelberg 2006, 305–341, hier 325. 42 Schiller, Friedrich: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Berlin 2016, 44. 43 Paperno: Chernyshevsky 8–9. 44 Ebd. 61. 45 Ebd. 69. 46 Frede: Doubt, Atheism 143–147.

68  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre oben«47. Auf der anderen Seite teilte sich die Welt fortan in zwei verfeindete Lager. Auf der einen Seite war das »Licht der wahren Wissenschaft (svet istinnoj nauki)«, auf der anderen Seite standen der »selbstverleugnende Nächstendienst und der selbstlose Kampf mit dem Despotismus (samootveržennoe služenie bližnim i beskorystnuju bor’bu s despotizmon)«48. In diesem Kampf des »Lichtes« mit der »Dunkelheit« kam der »Egoismustheorie« eine wichtige Rechtfertigungsfunktion von Verhaltensnormen zu, die sich ansonsten schwer rational begründen ließen: »Hier gab es keine Mitte«, schrieb Goc selbstkritisch, »sich zu opfern, auf das Schafott zu steigen, vergeben Sie mir bitte, wo sehen Sie denn hier Selbstverleugnung? Dies ist eine einfache Berechnung, denn mit dem Verrat an seinen eigenen Überzeugungen zu leben, ist ein schreckliches Übel, ein riesiger ­Malus, während das Sterben – ein Nichts ist«49.

Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Vereinbarkeit des Sich-Opferns mit dem Anspruch auf eine selbstzentrierte Lebensführung konnte zumindest in dem von Goc beschriebenen Fall durch das Argument des »Verrats« an den eigenen, nicht weiter hingerfragten Überzeugungen ersetzt werden. Der Einfluss Černyševskijs war enorm. Seine Bewunderer »schworen bei seinem Namen«, erinnerte sich Jahrzehnte später der narodovolec Michail Ašenbrenner mit einer gewissen Selbstironie, »wie ein rechtschaffener Muslim bei Mohammed, dem Propheten Allahs schwört«50. Nach dem Vorbild der im Roman thematisierten genossenschaftlichen Betriebe eröffneten Radikale eigene kollektiv geführte Unternehmen, denen jedoch kein Erfolg vergönnt war. Andere verzichteten auf persönlichen Besitz zu Gunsten der im Reich entstehenden »Kommunen«.51 Unter dem Einfluss Černyševskijs standen außerdem die sogenannten Nihilisten,52 zumeist junge Männer und Frauen, die sich für progressivistische Fragen wie geschlechtliche Gleichberechtigung, Darwinismus, Demokratie und rationale Lebensführung interessierten. Verbindend waren ein gemeinsames diffus-oppositionelles Lebensgefühl und ein spezifischer Kleidungsstil. Schlichte Kleider, schmutzige Fingernägel und lange Haare bei Männern sowie kurze Haare, schwarze Röcke bei Frauen zeugten demonstrativ von den oppositionellen Einstellungen des Individuums zu Staat und Tradition. Das ästhetische Ideal der Jugend vereinigte in sich eine »asketische« Grundhaltung mit den da 47 »Kak chorošo i prosto vsë raz’’jasnjalos’, kogda na mesto bessmyslennogo religioznogo zapreščenija i prikazanija svyše stanovilsja svobodnyj razum.« GA RF f. 6243, o. 1, d. 1, l. 97. 48 Ebd. 98. 49 Ebd. 50 Ašenbrenner, Michail: Vospominanija (šestidesjatye i vos’midesjatye gody). In: Byloe 4 (1907) 1–21, hier 5. 51 Rindlisbacher: Leben für die Sache 82, 111. 52 Zur Entstehung des Begriffs siehe Ebd. 51.

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mals kursierenden Ideen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Das demonstrativ »verwahrloste« Aussehen der Nihilisten war gewissermaßen der authen­tifizierende (im Sinne der Černyševskij-Interpretation der 1860er Jahre) Ausdruck des »Strebens nach vollkommener Befreiung der Persönlichkeit vom Joch der Familie, der Ignoranz, der Traditionen und religiöser Vorurteile«53. Sie forderten zudem eine radikal neue, von religiösen Vorstellungen getrennte sexuelle Moral. Die Wertschätzung des »gewöhnlichen Lebens« und das Bewusstsein für die eigene Würde forderten ein »selbstbestimmtes« Leben sowohl für Männer als auch für Frauen und die »freie« Wahl des Liebespartners. Eifersucht wurde zu einem Verstoß gegen den freien Willen des Anderen und somit zu einem »reaktionären« Gefühl erklärt. Im Unterschied zu vergleichbaren Tendenzen um die Jahrhundertwende ging es jedoch weitaus weniger um die Auslebung der eigenen Sexualität als um die Entfaltung der Gefühle im Sinne Charles Fouriers. Einige wenige Radikale praktizierten nach Černyševskijs Vorbild das »Leben zu Dritt«, eine Konstellation, bei der der »progressive« Ehemann für den neuen Auserwählten seiner Ehefrau Platz machte. Die moralische Emphase lag dabei auf der Wiedergutmachung der jahrtausendealten Dominanz des Mannes über die Frau. Verbreiteter war jedoch die fiktive Eheschließung mit dem Ziel, die Frau aus der Obhut ihrer Familie zu befreien und ihr ein eigenständiges Leben zu ermöglichen. Hinzu kamen Versuche – ebenfalls nach Černyševskijs Vorbild –, Prostituierten die Flucht von der Straße oder aus den Bordellen zu ermöglichen.54 53 »V konce 60-ch i načale 70-ch g. g. kostjum nigilista imel osoboe značenie. V dviženii togo vremeni pervenstvujuščee značenie imelo stremlenie k polnomu osvoboždeniju ličnosti ot iga sem’i, nevežestva, tradicij i religioznych predrassudkov« erinnerte sich die narodnica Kornilova-Moroz, Aleksandra: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 199–223, hier 204. Nach dem Karakozov-Attentat, von dem im anschließenden Kapitel die Rede sein wird, verhängte die Regierung eine ganze Reihe von harten, restriktiven Maßnahmen und die Polizei verfolgte gezielt Personen, die durch ihr Äußeres auf die Affirmation radikaler Einstellungen schließen ließen. Diese Maßnahmen erregten nicht nur den Unmut der Radikalen, sondern auch weiter Teile der »progressiv« eingestellten Studentenschaft. Nicht wenige unter ihnen empfanden die späten 1860er Jahre als eine Zeit der »schwarzen Reaktion«, wie sich Jahrzehnte später der narodnik Sažin ausdrücken sollte. Sažin, Michail: Avtobiografija. In: In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 387–393, hier 391. Die ohnehin schon angespannte Situation wurde verschärft als im Jahre 1868 Studenten begannen, (zunächst unpolitische) Forderungen zu stellen. 54 Ėkštut, Semën: Povsednevnaja žizn’ russkoj intelligencii. Moskau 2012, 122–191. Bereits in den 1870er Jahren entwickelte sich die bürgerliche Ehe zu einer ernsten Alternative für die traditionelle kirchliche. Mit den Jahren verloren die politisch-sexuellen Ideale der 1860er Jahre jedoch ihre Anziehungskraft. Dies nicht zuletzt aufgrund der realen Probleme, die sie nicht selten mit sich brachten. Ėkštut beschreibt als Beispiel einen tragikomischen Fall, in dem die Tochter der fiktiven Ehefrau eines narodnik viele Jahre später Unterhalt von ihrem vermeintlichen Vater einforderte (ebd. 149). Die kirchlich geprägte Sicht auf Ehe und Sexualität befand sich aber auch nach den 1860er Jahren in einem langsamen Transformationsprozess.

70  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre Der Einfluss Černyševskijs auf die Revolutionssprache der 1870er Jahre mit ihren zahlreichen religiösen Konnotationen wird auch in der neuesten Forschung betont. Tat’jana Saburova und Ben Eklof argumentieren, dass die Generation der narodniki, die in den 1860er Jahren zur Schule gegangen war, sich vom »offiziellen«, das heißt in den staatlichen schulischen Institutionen propagierten Christentum entfremdet fühlte. Anknüpfend an Paperno weisen sie darauf hin, dass es dem Einfluss Černyševskijs zu verdanken sei, dass die Generation der 1870er Jahre eine Neuinterpretation des Religiösen vollzogen habe.55 Wenn religiös konnotierte Ausdrücke Eingang in die Texte der Radikalen erst Ende der 1860er Jahre in massierter Form gefunden haben, so lag das aller Wahrscheinlichkeit nach am Einfluss von Černyševskijs 1863 erschienenem Roman, der wiederum das Interesse der Radikalen an den Ideen des sogenannten Christlichen Sozialismus weckte,56 sowie am wachsenden Einfluss von Priestersöhnen auf die Revolutionsbewegung nach 1869.

3.2 Revolutionärer Terror in den 1860er Jahren Terroristische Tendenzen »Russland tritt ein in die revolutionäre Phase seines Daseins«57 schrieb im Frühjahr 1862 der Student Pëtr Zaičnevskij in der Zelle einer Moskauer Polizeistation.58 Die Gegensätze zwischen »unten« und »oben« seien in der gegenwärtigen ökonomischen Ordnung nicht mehr erträglich. Sie könnten nur durch eine »blutige und unbarmherzige« Revolution beseitigt werden. Diese werde die Fundamente der alten Ordnung zerstören und ihre Unterstützer vernichten. Dabei werde ein »blutiger Fluss«59 fließen, doch die Revolution rechtfertige alles, die Ermordung eventuell Unschuldiger genauso wie die Ermordung aller lebenden Romanovs sowie die physische Vernichtung aller Feinde der revolutionären Partei, welche an die Macht gelangen und eine Diktatur errichten müsse. 55 Saburova, Tat’jana / Ėklof, Ben: Družba, sem’ja, revoljucija. Nikolaj Čarušin i pokolenie narodnikov 1870-ch godov. Moskau 2016, 72. Ähnlich argumentiert Victoria Frede. Siehe Dies.: Doubt, Atheism 148. 56 Siehe dazu beispielsweise Ašenbrenner, Michail: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 12–19, hier 13. 57 »Rossija vstupaet v revoljucionnyj period svoego suščestvovanija.« Zit. n. Kuklin, Georgij (Hg.): Itogi revoljucionnogo dviženija v Rossii za sorok let (1862–1902). Genf 1903, I, 3. 58 Šilov, M. / Karnauchova, A. (Hg.): Dejateli revoljucionnogo dviženija v Rossii. Bd. 1, Teil 2 [= Fotomechanicher Neudruck der Originalausgabe von 1928]. Leipzig 1974, 133. 59 Alle drei Zitate nach Itogi revoljucionnogo dviženija I, 3. Dabei versäumte der Text nicht, an das militärische Ethos der Selbstaufopferung zu appellieren: Die revolutionären Offiziere »werden sich auch an ihre ruhmreichen Handlungen des Jahres 1825 erinnern, werden sich an den unsterblichen Ruhm erinnern, den die Helden-Märtyrer erlangt haben«. Ebd. 6.

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Das Neue an diesem Pamphlet war nicht die Implikation von Gewalt nach jakobinischem Vorbild und auch weniger die Forderung einer nach blanquistischem Muster organisierten Ergreifung der Staatsmacht. Neu und für die Zeitgenossen erschütternd war die expressive Explizität, mit der das zukünftige Blutvergießen gezeichnet wurde. Außerdem stand die Proklamation in einer ganzen Reihe jüngst erschienener, radikaler Texten, was ihre suggestive Wirkung verstärkte. Schon im Vorjahr war nach Sankt Petersburg die Proklamation K molodomu pokolenju (An die junge Generation) geschmuggelt worden. Der Text drohte der Autokratie mit dem Untergang, beschwor den »Glauben« an die geschichtliche »Errettung« und einen besonderen Weg Russlands, den aktivistische Persönlichkeiten einschlagen würden. Diese »junge Generation« werde keine moralischen Skrupel haben und falls nötig bereit sein, »hunderttausende« Gutsbesitzer »abzuschlachten«60. Die Proklamationen, insbesondere Zajčnevskijs Junges Russland, machten Furore, Zeitungen berichteten über den Vorfall. Für viele konservativ eingestellte Zeitgenossen wie beispielsweise Nikolaj Danilevskij bestand zudem kein Zweifel, dass es einen Zusammenhang zwischen den finsteren Ankündigungen und den Petersburger Bränden des Jahres 1862 geben müsse. Aber auch auf freiheitlich eingestellte Russen wirkte die Blutrünstigkeit der Pamphlete abschreckend. Liberale, die um die erst im Entstehen begriffene Öffentlichkeit besorgt waren, fürchteten, mit solchen gewalttätigen Phantasien in Zusam­ menhang gebracht zu werden. Als »Gipfel einer monströsen Schweinerei«61 bezeichnete der damals noch liberal eingestellte Evgenij Feoktistov das Pamphlet An die junge Generation in einem seiner von der Dritten Abteilung abgefangenen Briefe. Nicht weniger entrüstet zeigten sich die alten Emigranten, die fürchteten, dass der neue Radikalismus die gesamte sozialistische Bewegung

60 »My verim v svoi sily; my verim, čto prizvany vnesti v istoriju novoe načalo, skazat’ svoë slovo, a ne povtorjat’ zady Evropy. Bez very net spasenija; a vera naša v naši sily velika. Esli dlja osuščestvlenija našich stremlenij – dlja razdela zemli meždu narodom – prišlos’ by vyrezat’ sto tysjač pomeščikov, my ne ispugalis’ by i ėtogo.« Zit. n. Rudnickaja, Evgenija (Hg.): Revoljucionnyj radikalizm v Rossii. Vek devjatnadcatyj. Moskau 1997, 100. Darüber hinaus wurde seit den 1850er Jahren eine ganze Reihe von Proklamationen herausgegeben, die sich an »Bauern« wandten. Sie alle weisen eine stark ausgeprägte »religiöse« Komponente auf, die jedoch eindeutig intentional bedingt ist. Entweder wurde nach einer für die »Massen« verständlichen Sprache gesucht oder versucht, die sogenannte Volksreligiosität für politische Zwecke zu instrumentalisieren. 61 »Ėti proklamacii [Velikoruss und K molodomu pokoleniju, d. Verf.] – verch neleposti! […] Drugaja, pod zaglaviem ›K molodomu pokoleniju‹  – est’ verch samogo čudoviščnogo bezobrazija. Dovol’no skazat’, čto v nej preser’ëzno delaetsja rasčët, čto dlja sčast’ja Rossii nužno teper’ vyrezat’ tol’ko 100 t[ysjač] čelovek […]. Slovom, ėto prodolženie francuzskogo bezumija 1793 goda […]«. Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (weiter GA RF) f. 109, o. 1a, d. 204, l. 1.

72  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre diskreditieren könnte. Herzen behauptete, dass »die Verfasser«62 der Proklamation Junges Russland jugendliche Fanatiker seien, von denen keine Gefahr ausgehe.63 Herzen muss hier sicherlich Recht gegeben werden. Die Intention des Textes, die eigene Schwäche durch jugendliche Tollkühnheit und Evokation der Schrecken der französischen Revolutionsgeschichte auszugleichen, ist offensichtlich.64 Auch konnte Anfang der 1860er Jahre von keiner mächtigen revolutionären Untergrundbewegung die Rede sein. Die »Probleme«, mit denen sich die Dritte Abteilung zu dieser Zeit herumschlagen musste, bestanden in aller Regel noch aus aufmüpfigen Studenten, Adeligen, die illegale Proklamationen zirkulieren ließen, und Schmugglern, die Literatur von Herzen und Ogarëv einschleusten.65 Doch die Proklamationen waren zugleich auch Ausdruck einer neuen Tendenz innerhalb der Revolutionsbewegung. Darauf deutet der neue, expressive Sprachgebrauch mit seiner Verschmelzung von explizit angedrohter Gewalt und sozialer Transformation hin, die in »An die junge Generation« zudem eindeutig apokalyptisch konnotiert war, sowie die jugendliche Zuversicht, mit der von den kommenden sozialistischen Umbrüchen gesprochen wurde. In der Proklamation Jur’ev den’! Jur’ev den’! (1853) hatte Herzen das womöglich unvermeidbare Blutvergießen bedauert und festgestellt, dass er den »blindwütigen Glauben, dass jegliche Befreiung, jeglicher Erfolg« zwangsläufig eine »Bluttaufe« durchlaufen müssten,66 nicht teile. Die Proklamationen der frühen 1860er Jahre hingegen beschworen ein Blutbad und ließen zudem die ironischen Untertöne vermissen, die in Herzens Metaphern noch mitschwangen. Tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass terroristische Methoden im Verlauf der 1860er Jahre in den lose vernetzten Untergrundzirkeln diskutiert wurden. So verfassten Unbekannte im Juli 1862, nur wenige Monate nach Verbreitung der Proklamation Junges Russland, einen Brief an den Zaren, in dem sie die Aufhebung der Zensur, die Eröffnung von Sonntagsschulen und die Entlassung von ungeliebten Ministern forderten. Im Falle einer Absage wurde gedroht, die gesamte Zarenfamilie zu ermorden.67 Im April 1863, drei Jahre vor dem ersten 62 Die Umstände der Entstehung des Textes waren Herzen nicht bekannt. Zaičnevskij hatte keine Co-Autoren, seine Genossen halfen ihm jedoch bei der Korrektur des Textes. Siehe Beljavskaja, I. / Vilenskaja, Ė. u. a.: Kommentarii. In: AN SSSR . In-t mirovoj lit. im A. M. Gor’kogo (Hg.): A. I. Gercen. Sobranie sočinenij v  tridcati tomach. Bd. 16. Moskau 1959, 341–450, 411. 63 Gercen, Aleksandr: Molodaja i staraja Rossija. In: Ebd., 199–205, v. a. 202–203. 64 Vgl. auch Budnickij: Terrorizm 30 ff. 65 GA RF f. 109, o. 1a, d. 197. 66 »Sovsem naprotiv, my uvereny, čto net nikakoj rokovoj neobchodimositi, čtob každyj šag vperëd dlja naroda byl otmečen grudami trupov. Kreščenie krov’ju – velikoe delo, no my ne razdeljaem svirepoj very, čto vsjakoe osvoboždenie, vsjakij uspech dolžen neprimenno projti čerez nego.« Zit. n. Revoljucionnyj radikalizm v Rossii 57. 67 GA RF f. 109, o. 1a, d. 211, l. 1.

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Anschlag auf Alexander II ., kam bei Mitarbeitern der Dritten Abteilung der Verdacht auf, dass im Umfeld eines Petersburger Lehrers Anschlagspläne auf den Imperator erörtert wurden.68 Darüber, dass individuell durchgeführte Anschläge erstmals als Kampfmittel in der Diskussion waren, geben auch die Gerüchte jener Zeit Auskunft. So erzählten sich Petersburger Studenten, dass eine Proskriptionsliste mit Namen von unliebsamen Reaktionären zirkuliere, die ein geheimnisvolles »Zentrales russisches Komitee« zum Tode verurteilt habe. Dieses Gerücht musste sich solcher Beliebtheit erfreut haben, dass spitzfindige Studenten von einem noch geheim­nisvolleren »Komitee der gemeinnützigen Tode« zu sprechen begannen, das seine Arbeit im Untergrund aufgenommen habe.69 Ende Mai 1863 gab es bereits einen ersten »Toten«. Man erzählte sich, dass auf dem Smolenskij-Friedhof eine Leiche entdeckt wurde, der ein Schreiben mit dem Text »Getötet auf Anweisung des Zentralkomitees (Ubit po rasporjaženiju central’nogo k­ omiteta)«70 beigelegt worden sei. Bemerkenswert ist, dass diese Erzählung, die das romantische Friedhofsmotiv aufgreift, bei allem offensichtlichen Unsinn (der Transport einer Leiche zum Friedhof wäre unpraktisch, gefährlich und schlussendlich sinnlos gewesen), ein Element terroristischer Praktiken vorwegnahm: das »Bekennerschreiben«, das eine kurze Erläuterung der politischen Motive beinhaltete. Dies konnte wie im Falle der narodovol’cy in der Untergrundpresse oder als Einzeltext gedruckt werden oder wie im Falle des Massenterrors des frühen 20. Jahrhunderts von den Revolutionären neben der Leiche deponiert werden. Die beschriebene Episode ist insofern mehr als nur der Ausdruck studentischen Froh- und Leichtsinns, als sie auf den Wunsch nach politischen und sozialen Veränderungen verweist und zeigt, dass revolutionäre Gewalt ein kommunikativer Prozess ist und schon in den fühen 1860er Jahren als eine konkrete Botschaft an die Repräsentanten des Staates und die an sozialen und politischen Fragen interessierten Teile der Gesellschaft (»obščestvennost’«)71, insbesondere die mit den Radikalen sympathisierenden Kreise, imaginiert worden war. Auch nach der Hinrichtung Karakozovs, von der im nächsten Abschnitt die Rede sein wird, wurden weiterhin Diskussionen über den Sinn eines »terroristischen Kampfes« geführt. Innerhalb eines geheimen Petersburger Zirkels, der die Bezeichnung Smorgonskaja akademija (1867–1869) trug und sich unter anderem aus ehema­ligen išutincy (Gruppe um Išutin) und späteren Anhängern Nečaevs 68 GA RF f. 109, o. 1a, d. 224, l. 4. 69 GA RF f. 109, 0. 1a, d. 229, l. 1–2. 70 GA RF f. 109, o. 1a, d. 230, l. 1. 71 Zum Konzept der »obščestvennost’« siehe Kassow, Samuel u. a.: Introduction. The Problem of the Middle in Late Imperial Russian Society. In: Clowes, Samuel u. a. (Hg.): Between Tsar and People. Educated Society and the Quest for Public Identity in Late Imperial Russia. Princeton 1991, 3–14. Zur notwendigen Erweiterung des Konzepts siehe Pate, Alice: Workers and Obshestvennost’. St. Petersburg, 1906–1914. In: Revolutionary Russia 2 (2002) 53–71.

74  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre zusammensetzte, wurden aller Wahrscheinlichkeit nach Terrorpläne diskutiert.72 Darüber hinaus haben Revolutionäre in ihren Erinnerungen selbst Hinweise darauf gegeben, dass die Anwendung terroristischer Kampfmethoden diskutiert wurde.73 Ob diese Pläne über das Stadium der reinen Diskussion hinausgingen, kann jedoch bezweifelt werden. Die in der sowjetischen Historiographie anzutreffende Behauptung, dass es bereits Ende des Jahres 1869 Versuche seitens radi­kaler Studenten – darunter ehemaliger Mitglieder des Zirkels – gab, einen Anschlag auf den Zug des Zaren in Elisovetgrad zu verüben, gehören allem Anschein nach ins Reich des Wunschdenkens.74 Der »Schuss des Dmitrij Karakozov« Seit den frühen 1860er Jahren wurde über den Sinn politischer Morde disku­tiert. Oft zitiert wird die Bemerkung Vasilij Kel’sievs, eines ehemaligen Mitarbeiter Herzens, dass die Proklamation Junges Russland von niemandem offen gelobt wurde, aber doch viele mit den Losungen des Textes sympathisiert hätten.75 Auch aus der Erinnerungsliteratur aktiver Teilnehmer der Revolutionsbewegung geht hervor, dass terroristische Ansichten an Boden zu gewinnen begannen. Der bekannte narodnik Sergej Kovalik erinnerte sich beispielsweise daran, 72 Dies ist ein in der sowjetischen und russländischen Historiographie herrschender Konsens. Allerdings beziehen sich alle Autoren auf Koz’min. Ders.: Revoljucionnoe podpol’e v ėpochu ›belogo terrora‹. Moskau 1929, 143. Vilenskaja, Ė: Revoljucionnoe podpol’e v Rossii (60-e gody XIX v.). Moskau 1965, 327; Troickij, Nikolaj: Bezumstvo chrabrych. Russkie revoljucionery i karatel’naja politika carizma 1866–1882 gg. Moskau 1878, 33. Zuletzt Ščerbakova: ›Otščepency‹ 88–89. 73 Siehe Budnickij: Terrorizm 38. 74 Ein Schreiben eines angeblichen Polizeiagenten machte die Polizei darauf aufmerksam, dass Radikale einen Anschlag auf die Person des Zaren planen würden. Obwohl den lokalen Behörden bewusst war, dass es sich nicht um einen Mitarbeiter der Dritten Abteilung handeln konnte, unternahmen sie alle nötigen Schritte, um den Vorfall aufzuklären. Das Einzige, was man den Verdächtigen beweisen konnte, war jedoch, wie die Behörden mit sichtlicher Enttäuschung konstatierten, die Absicht, illegale Literatur ins Reich zu schleusen. GA RF f. 109, o. 154 (3-ja ėksp. 1869 g.), d. 104č. 1, l. 1–198. Die tatsächlichen Pläne der Studenten lassen sich, wie Pomper schreibt, leider nur schwer rekonstruieren. Sicher ist nur, dass Nečaev Kontakt zu der Gruppe hatte. Pomper, Philip: Nechaev and Tsaricide. The Conspiracy within the Conspiracy. In: The Russian Review 2 (1974) 123–138, hier 124–126. In jüngster Zeit wurde die Hypothese aufgestellt, dass es nur Nečaev sein konnte, der die Gruppe mit Hilfe eines anonymen Briefes aufliegen ließ, um die so Verurteilten in die Radikalisierung zu treiben oder sich an ihnen zu rächen. So Kirillov, Viktor: Pokušenie, kotorogo ne bylo. ›Elizavetgradskoe delo‹ 1869 g. In: Post Past 2 (2015) 5–8. 75 »›Moloduju Rossiju‹ nikto ne chvalil, no dumavšich odinakovo s neju bylo množestvo. Ej v vinu stavili tol’ko to, čto ona razboltala o čëm molčat’ sledovalo.« Zit. n. Kel’siev, ­Vasilij: ›Ispoved’‹. In: Koz’min, Boris u. a. (Hg.): Literaturnoe nasledstvo. Bd. 41–42. Moskau 1941, 265–470, hier 350.

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wie er Anfang der 1860er Jahre einer »Art ›terroristischen‹ Zelle«76 beigetreten sei, die jedoch keine praktischen Schritte unternommen habe. Berühmtheit erlangte jedoch nur der radikale Kreis um den energischen Sozialisten Nikolaj Išutin. Dieser kam 1863 mit dem Wunsch zu studieren nach Moskau. Nach eigener Aussage zog er jedoch dem Studium die Vorbereitung der sozialen Revolution vor.77 Die išutincy hatten offenbar keine konkreten Vorstellungen davon, was unter »Sozialismus« beziehungsweise dem »Reich des Sozialismus«78, wie sich einer der Teilnehmer ausdrückte, zu verstehen sei. Einige Radikale bestanden deshalb darauf, dass nur Černyševskij, den Išutin in eine Reihe mit Jesus und dem Apostel Paulus stellte,79 höchstpersönlich den näheren Inhalt der sozialistischen Idee bestimmen könne, wozu man den Schriftsteller freilich erst einmal befreien musste. Äußerst vage blieben auch ihre Terrorpläne, auch wenn sie nicht weniger phantasievoll ausfielen als die Träumereien des »Jungen Russlands«. Es war wohl Anfang 1866, als im Kreis der išutincy die Idee aufkam, innerhalb der »Organisation« eine noch geheimere Struktur zu bilden.80 Diese erhielt den, zunächst vielleicht nur scherzhaft gemeinten,81 im »romantisch-­infernalischen Geiste«82 aufgefassten Namen Ad (Hölle). Die neue Kernzelle sollte sowohl die Tätigkeit der einzelnen Mitglieder kontrollieren, als auch Terroranschläge gegen Repräsentanten des Staates verüben, nach dem Sturz der Monarchie alle Gutsbesitzer ausrotten und die Macht im revolutionären Staat übernehmen.83 Ein Mitglied der »Hölle«, »mortus« genannt, sollte eine aktivistische, gewaltbereite und zum »Selbstopfer« fähige Persönlichkeit sein, wie sie in den radikalen Pamphleten der 1860er Jahre skizziert wurde. Die »Befreiung« sollte für ihn zur höhsten Aufgabe werden, welche die Konzentration aller Lebensressourcen abverlangte. Ein »mortus« sollte unter fremdem Namen leben und alle familiären und freundschaftlichen Bindungen kappen. Er durfte keine eigene Familie gründen und musste sein Leben einem einzigen Ziel, der sozialen Revolution, oder, wie es Išutin später bei einem Verhör ausdrücken sollte, der »unendlichen Liebe und Treue gegenüber der Heimat«84 unterordnen. Dass in diesem Projekt

76 Kovalik, Segej: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 163–188, hier 165. 77 Šikman, A.: Dejateli otečestvennoj istorii. Biografičeskij slovar’-spravočnik. Bd. 1. Moskau 1997, 336. 78 Ščerbakova: ›Otščepency‹ 64. 79 Venturi: Roots of Revolution 331. 80 Ščerbakova: ›Otščepency‹ 71. 81 Verhoeven: The Odd Man Karakozov 57. 82 Fel’dman, David / Odesskij, Michail: Poėtika vlasti. Moskau 2012, 126. 83 Siehe ebd. 84 Zit. n. Krov’ po sovesti 41.

76  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre viel Infantiles steckte und die jungen Sozialisten sich in ihrer Rolle als gefährliche Verschwörer gefielen, wird fast von allen Historikern, die sich mit dem Fall beschäftigt haben, unterstrichen. Es bedurfte einer eher ungewöhnlichen Persönlichkeit, um auf die vielen Worte auch tatsächlich Taten folgen zu lassen. Diese Persönlichkeit war Išutins Neffe, der junge Adelige Dmitrij Karakozov. Am 4. April 1866 näherte sich dieser in Bauernverkleidung dem Zaren, der sich auf einem Spaziergang im Sommergarten (St. Petersburg) befand. Karakozov feuerte zwar einen Schuss ab,85 aber er schoss aus zu großer Entfernung und verfehlte sein Ziel. Am 3. September 1866 wurde er nach einem Geheimprozess gehängt, sein Vetter Išutin zur sogenannten Ewigen Zwangsarbeit verurteilt. Vor seiner Verlegung nach Ostsibirien soll er, wie sich ein Mitgefangener erinnerte, in der Peter-und-PaulFestung einer Art nicht näher beschriebener »religiöser Manie«86 verfallen sein. Hinzu sollen Wahnideen gekommen sein, die einen direkten Bezug zu seinem revolutionären Vorleben aufwiesen. So soll er unumstößlich davon überzeugt gewesen sein, dass die Revolution bereits gesiegt habe und seine Freunde die Macht im Staat übernommen hätten. Nur ihn, den ehemaligen Anführer, hätten sie in Ostsibirien zurückgelassen.87 Der »Vierte April«, für den sich bald der Ausdruck »Karakozovs Schuss (­ vystrel Karakozova)« etablierte, markierte zweifellos eine neue Entwicklung in der russländischen Oppositionsbewegung des 19. Jahrhunderts. Folgt man ­Ščerbakova, so ist es gut möglich, dass Karakozov mit seinem Attentat Zweifel an der Unumstößlichkeit der Zarenmacht säen und dadurch erst die Möglichkeit für effektive Propagandaarbeit eröffnen wollte.88 Fel’dman und Odeeskij 85 Die Agenturberichte der Dritten Abteilung zeigen, dass ein Attentäter ein vergleichbar leichtes Spiel hatte. Als beispielsweise zu Beginn des Januaraufstandes 1863 die Meldung kam, dass polnische Attentäter einen Anschlag auf den Zaren planten, wurden die Sicherheitsmaßnahmen nur geringfügig verstärkt: Vor der Ankunft des Zaren sollte fortan ein Agent den Sommergarten inspizieren. Ähnliches galt für andere öffentliche Plätze und Theater, wobei von Seiten der Petersburger Beamten beklagt wurde, dass die für den Schutz des Imperators zuständigen Polizisten »in einem solchen Maße unbeholfen« seien, dass sie nicht richtig wüssten, weshalb man sie zum Dienst schicke. In den Theatern würden sie nach eigener Aussage nur den Veranstaltungen folgen. GA RF f. 109, o. 1a, d. 215, l. 8. Bezeichnend ist auch folgende Episode: Im Januar 1863 bezog ein Unbekannter vor dem Winterpalast Position, auf die Frage der Wächter nach seiner Identität antwortete dieser, dass der Großfürst Konstantin Nikolaevič ihn zum Schutze des Zaren geschickt habe. Da die Dritte Abteilung keine Ahnung hatte, um wen es sich da handelte, musste der Großfürst selbst um Auskunft gebeten werden: »Kazalos’ by ne bespoleznym uznat’ ot Ego Veličestva, spravedlivo li ėto«. Ebd. Nach 1866 lässt sich eine Professionalisierung des Sicherheitsapparats beobachten. 86 Ssylka i katorga v 60-ch godach. (Otryvok iz pis’ma Muravskogo). In: Byloe 4 (1903) 58–65, hier 62. 87 Ebd. 88 Ščerbakova: ›Otščepency‹ 73.

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haben argumentiert, dass die Absicht hinter dem Attentat darin bestanden habe, den Verlauf der Geschichte zu ändern. »Schuldig« war Alexander II . nicht deshalb, weil er gegen das Gesetz verstoßen habe, sondern weil er  – gemäß der »jakobinischen Logik«89 – allein durch seinen Status als Autokrat gar nicht unschuldig sein konnte. Schließlich hat Verhoeven argumentiert, dass der »Vierte April« als Antwort auf die linke Kritik am Konzept des Tyrannenmordes gelesen werden könne. Karakozovs Antwort auf die Frage, was der Nutzen eines Regizids sei, wenn an die Stelle des toten ein neuer König trete, war demnach der systematische Tyrannenmord.90 Darauf deutet Karakozovs im Vorfeld des Attentats verfasste Proklamation hin, in der er schrieb, dass selbst im Falle eines unglücklichen Ausgangs sich Menschen finden würden, die seinem »Pfad folgen« würden: »Wenn ich es nicht schaffe – sie werden es schaffen. Für sie wird mein Tod ein Beispiel sein, er wird sie inspirieren.«91 Auch wenn die Quellenlage, anhand derer Karakozovs Motive rekonstruiert werden können, tatsächlich dünn ist,92 wird das Attentat für gewöhnlich als ein Terrorakt eingestuft.93 Karakozov handelte sicherlich nicht als ein klassischer Tyrannenmörder, der sich die Wiederherstellung des gebrochenen Gesetzes zum Ziel setzt. Der Tod des Tyrannen war hier vielmehr der gedachte Ausgangspunkt für tiefgreifende soziale und politische Veränderungen. Darüber hinaus weist sein Attentat einige typologische Gemeinsamkeiten mit dem Terrorismus der 1870er und 1880er Jahre auf. Das Attentat richtete sich gegen einen »übermächtigen Gegner«94, den es zu schockieren und letzlich zu zerstören galt, und verbreitete eine Botschaft über die prinzipielle Verwundbarkeit des Feindes. Aber kann der »Vierte April« auch als ein »Marker« für die Herausbildung eines »modernen Selbst« im Zarenreich interpretiert werden? Mogil’ner hat mit einigem Recht argumentiert, dass Karakozov eher als eine »Übergangsfigur« der Revolutionsbewegung und nicht als ein »politisches Subjekt einer Massengesellschaft« angesehen werden müsse.95 Dafür spreche sowohl ­Karakozovs Beto 89 Fel’dman / Odesskij: Poėtika vlasti 126. 90 Verhoeven: The Odd Man Karakozov 148. Vom »systematischen Zarenmord« spricht auch Ščerbakova: ›Otščepency‹ 71. 91 »A ne udastsja, tak vsë že ja veruju, čto najdutsja ljudi, kotorye pojdut po moemu puti. Mne ne udalos’ – im udastsja. Dlja nich smert’ moja budet primerom i vdochnovit ich.« Zit. n. Krov’ po sovesti 32. 92 Pezofsky, Peter: Review. The Odd Man Karakozov. Imperial Russia, Modernity, and the Birth of Terrorism by Verhoeven. In: The Journal of Modern History 4 (2011) 968–970, hier 970. 93 Ščerbakova: ›Otščepency‹ 71; Verhoeven: The Odd Man Karakozov 148; Fel’dman /  Odesskij: Poėtika vlasti 126; Budnickij: Terrorizm 34ff; Dietze, Carola: Die Erfindung des Terrorismus in Europa, Russland und den USA 1858–1866. Hamburg 2016, 489–490. 94 Dietze: Die Erfindung des Terrorismus 529. 95 Mogil’ner, Marina: Review. The Odd Man Karakozov. Imperial Russia, Modernity, and the Birth of Terrorism by Claudia Verhoeven. In: Ab imperio 2 (2009) 367–380.

78  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre nung seiner zahlreichen psychischen Leiden als auch das Fehlen von größeren Unter­stützerkreisen, die politische Morde moralisch sanktioniert, mitfinanziert und sich an der Verklärung der Untergrundkämpfer beteiligt hätten. Dies ist in vielerlei Hinsicht richtig. Karakozov litt wahrscheinlich an psychischen Problemen, dachte öfters an Selbstmord und beteuerte nach seiner Verhaftung, dass er unter dem Druck einer Nervenkrankheit auf den Zaren geschossen habe. Ein Revolutionär musste jedoch nach dem vorherrschenden Bild nüchtern, ausdauernd und mental fit sein. Mehr noch: K ­ arakozov konnte im »offiziellen Russland« (Mogil’ner) auf nur wenig Unterstützung hoffen. Ohne Unterstützung war aber das terroristische Projekt zum Scheitern verurteilt. Der Anschlag löste eine Welle von Sympathiebekundungen für den Zaren aus, die sich in patriotischen Manifestationen und schriftlichen Treuebekenntnissen ausdrückten.96 Dies fand auch Eingang in die Erinnerungsliteratur: Die überwiegende Mehrheit der Revolutionäre, die den »Vierten April« als Kinder oder wenig politisierte Jugendliche erlebten, erinnerten sich später, »mit welcher Entrüstung« sie auf das Attentat reagiert und wie sie den »›Retter‹ ­Komisarov«97 gefeiert hätten, der laut der offiziösen Version der Ereignisse den Attentäter daran gehindert haben soll, den Zaren zu erschießen. »Von der Stimmung der uns Umgebenden angeheizt«, schrieb Nikolaj Buch, »huldigten wir dem Befreierzaren.«98 Erst später sei ihm klar geworden, dass sich in Russland zwei Seiten unversöhnlich gegenüberstünden, die »tötende Kraft der Regierung« und die »Kraft des jungen Russlands, die uns dazu auffordert, unser Leben dem Wohle und dem Glück des Vaterlandes, dem Wohle und dem Glück der gesamten Menschheit zu widmen«99. Die Ermordung des Zaren – wenn sie denn geglückt wäre – hätte deshalb mutmaßlich vollständige Fassungslosigkeit hervorgerufen und damals unbeantwortbare Fragen aufgeworfen. Andere, wie etwa Vladimir Debogorij-Mokrievič, der damals erst das Gymnasium beendet hatte, schrieben, dass sie sich nicht einmal sonderlich für das gescheiterte Attentat interessiert hätten.100 Herzen, aber auch einige Teilnehmer der radikalen Zirkel der 1860er Jahre, reagierten auf »den Schuss« mit harscher Kritik.101 96 Budnickij: Terrorizm 35. 97 Černavskij, Michail: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografi­ českogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 563–577, hier 563. 98 Buch, Nikolaj: In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 41–57, hier 44. 99 »[…] my ponjali, čto v Rossii suščestvujut dve borjuščiesja meždu soboju sily. Mertvja­ ščaja sila pravitel’stva, s kotoroj, v lice našich pedagogov, my uže neskol’ko navykli borot’sja, i sila molodoj Rossii, priglašajuščaja nas posvjatit’ svoju žizn’ blagu i sčast’ju našej rodiny, blagu i sčast’ju vsego čelovečestva.« Ebd. 45 100 Debogorij-Mokrievič, Vladimir: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 86–105, hier 88. 101 Budnickij: Terrorizm 35–36.

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Dennoch liegt die Vermutung nahe, dass gerade die Mehrheit der Vertreter der »jungen Generation« in Karakozov einen Gleichgesinnten erkannte, ob sie nun revolutionäre Gewalt befürworteten oder unter Vorbehalt stellten. Was die Vertreter dieser »Generation« auszuzeichnen scheint, war ihr unbedingter Wunsch, als handelnde Subjekte an der Gestaltung der Geschichte zu partizipieren.102 Das die Geschichte verändernde Handeln sollte dabei nicht nur auf der Grundlage rein rationaler Überlegungen erfolgen, sondern gleichsam spontan, den wahren Gefühlen der Radikalen folgend. Dieser Umstand scheint auch in der Proklamation einen Niederschlag gefunden zu haben. Die Entscheidung, den Zaren zu töten, folgt hier direkt auf die Erkenntnis der sozialen Ungerechtigkeit. So heißt es gegen Ende des Textes: »Traurig, schwer ums Herz wurde mir, dass… mein geliebtes Volk untergeht und so habe ich beschlossen, den Zaren-Bösewicht zu vernichten und selbst für das liebenswürdige Volk zu sterben. Wenn mein Vorhaben gelingen sollte, werde ich mit dem Gedanken sterben, dass mein Tod meinem lieben Freund, dem russischen mužik, Nutzen gebracht hat. Wenn es nicht gelingen sollte, so glaube ich dennoch, dass sich Menschen finden, die meinem Pfad folgen werden«103.

Die Überbrückung der Distanz zwischen der Erkenntnis der sozialen Misstände und spontanem Handeln war keinesfalls nur den stilistischen Besonderheiten des Textes, der sich an die vermeintlich »einfachen« Bauern wandte, geschuldet. Ihm lag auch ein spezifisches, an Dobroljubov und Černyševskij geschultes, Denken zugrunde, dass die »Natürlichkeit« und »Spontaneität« des politisch relevanten Handelns betonte. Genau diesen Aspekt des Attentats auf den Zaren schien Aleksandr Serno-Solov’evič,104 einer der wichtigsten Vertreter der 102 Verhoeven: Odd Man Karakozov 6. Vergleiche auch Pomper: Segei Nechaev 60. 103 »Grustno, tjažko mne stalo, čto… pogibaet moj ljubimij narod, i vot ja rešil uničtožit’ carja-zlodeja i samomu umeret’ za svoj ljubeznyj narod. Udastsja mne moj zamysel – ja umru s mysl’ju, čto smert’ju svoej prinës pol’zu dorogomu moemu drugu – russkomu mužiku. A ne udast’sja, tak vsë že ja veruju, čto najdutsja ljudi, kotorye pojdut po moemu puti.« Zit. n. Krov’ po sovesti 32. 104 Aleksandr Serno-Solov’evič wurde 1838 in St. Petersburg geboren. Während seiner Lyceumszeit kam der 17-Jährige in Kontakt mit einem geheimen Lesezirkel um Marija Trubni­ kova, der Tochter des Dekabristen Ivašev, einer wichtigen frühen Vertreterin des russischen Feminismus. Hier las Serno-Solov’evič unter anderem Michelet, Louis Blanc, ­Proudhon, Lassalle, aber auch Saint-Simon. Auf einer Deutschlandreise wurde er zum Sozialisten und engagierte sich Anfang der 1860er Jahre in radikalen Zirkeln der Hauptstadt. In der erzwungenen Emigration wurde Aleksandr zu einem der wichtigsten Sprecher der neuen Generation junger russischer Emigranten. Hier versuchte er zusammen mit Nikolaj Utin, Herzens Kolokol zu reformieren, und verfasste nach dem Scheitern dieser Pläne drei Pamphlete gegen die »alte Emigration«. Seine publizistischen Texte machten in einem für die russische Oppositionspresse der Zeit einmaligen Umfang von Beleidigungen, giftigen Anspielungen und sarkastischen Ausfällen Gebrauch. Koročkin, V.: Russkie korrespondenty Karla Marksa. Moskau 1965, 9; Miller, Martin: The Russian Revolutionary Emigres, 1825–1870. Baltimore, London 1986, 136–140.

80  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre »jungen« russischen Sozialisten, in seinem harschen, gegen Herzen gerichteten Pamphlet Naši domašnie dela (Unsere Hausangelegenheiten) zu betonen: Die »Propaganda Černyševskijs« hieß es, »hat eine ganze Phalanx von Menschen vorbereitet, die mit Wort und Tat – ja vor allem mit der Tat – die sozialistischen Theorien gepredigt haben.«105 Er bezichtigte Herzen, der die Dekabristen verehrte, aber Karakozovs Anschlag verurteilte, einer widersprüchlichen Sicht auf revolutionäre Gewalt und lobte die erzieherische Wirkung, die von Karkozovs Beispiel der »persönlichen Kraft und Energie (ličnoj mošči i ėnergii)«106 ausgehe. Auch Breško-Breškovskaja erkannte in Karakozov einen Gesinungsgenossen; er sei »unser, unser Leib, unser Blut, unser Bruder, unser Freund, unser Genosse«107 gewesen, schrieb sie später in ihren Erinnerungen. Ähnlich emphatisch reagierten andere Aktivisten der 1860er Jahre.108 Einige schlussfolgerten im Nachhinein, dass »der Schuss« eine »große Bresche« in ihrer »Psychologie«109 geschlagen habe. Dies war längerfristig betrachtet sicherlich die wohl wichtigste Auswirkung »des Schlusses«. Außerdem fallen hier noch weitere Faktoren auf, die für die Entwicklung des moralischen Rahmens der Revolution von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Karakozovs Proklamation kann, wie Carola Dietze gezeigt hat, als das erste terroristische »Bekennerschreiben« im Russländischen Reich interpretiert werden. Ein Bekennerschreiben solle dem Täter »Publizität« verschaffen und den politisch motivierten Akt von »gewöhnlicher« Kriminalität zu unterscheiden helfen. Hinzu komme die Koppelung von politischer Tat und »Martyrium«.110 Nach Karakozov sollte der Nexus von »sensationeller Tat, legitimierendem Bekenntnis, persönlicher Opferbereitschaft und politischem Erfolg«111 zu einem Charakteristikum des Terrorismus werden. Auch wenn die Proklamation nicht

105 »[…] propaganda Černyševskogo […] prigotovila celuju falangu ljudej, propovedovavšich slovom i delom – da glavnym obrazom delom – socialističeskie teorii.« GA RF f. 8305, o. 1, d. 70, l. 3. 106 Ebd. 5. 107 »Pust’ rugajut i ponosjat Karakozova; […] A on vsë-taki naš, naša plot’, naša krov’, naš brat, naš drug, naš tovarišč.« Hier zit. n. Budnicskij: Terrorizm 37. 108 Siehe ebd. 38. 109 Kuznecov, Aleksej: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 223–238, hier: 229 110 Dietze: Die Erfindung des Terrorismus 542–544. Schon Orsini, der einen großen Einfluss auf den Terrorismus im 19. Jahrhundert ausübte, hat so etwas wie »Bekennerbriefe« verfasst. Aus der Haft schrieb er Briefe an Napoleon: »Diese persönlichen und politischen Bekenntnisse«, so konstatiert Dietze, »waren in der Folge zur Grundlage für die psychologische Wirkung ihrer Taten sowie für ihre Elevation zum Märtyrer geworden«. Ebd. 542–543. ­Karakozovs Proklamation nahm keinen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Bewegung, da sie erst 1918 in den Archiven gefunden wurde. Verhoeven: The Odd Man Karakozov 189. 111 Dietze: Die Erfindung des Terrorismus 543.

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Abb. 1: Selbstmord als revolutionärer Akt. Abschrift des Abschiedsbriefs (1902) des polnischen Revolutionärs Ljudvig Janovič. Der Schriftzug auf dem Bändchen lautet: »Ruhm den Märtyrern 1884–1902«. Im Hintergrund ist die berüchtigte Schlüsselburgfestung zu sehen. Archiv Rossijskoj akademii nauk f. 543, o. 2, d. 599.

publik wurde – die Idee des »Bekennerschreibens« lag, wie das eingangs gebrachte Beispiel des »Friedhofsmordes« zeigt, in der Luft. Interessant ist in diesem Zusammenhang ferner die von Karakozov vorgenommene Priorisierung von Gütern und Wünschen. Karakozov machte aus seinen Krankheiten und dem damit verbundenen Wunsch, seinem eigenen Leben ein Ende zu bereiten, bemerkenswerterweise eine »Tugend«: Falls er schon aufgrund seiner physischen und psychischen Verfassung nicht in der Lage sei, dem »Volk« zu dienen, so könne doch sein eigener Tod zum ultimativen revolutionären Akt werden.112 Dem Leben für die Revolution wurde damit eine solch hohe Stellung innerhalb der Güterhierarchie zugemessen, dass Selbstmord nicht einfach zur letzten Selbstbestimmung eines autonomen Individuums erklärt werden durfte, sondern einer »höheren« Rechtfertigung bedurfte. In der Praxis

112 Verhoeven: The Odd Man Karakozov 43, 132–134, 147.

82  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre bedeutete dies, dass der Selbstmörder sein Unvermögen, auch weiterhin der »gemeinsamen Sache« zu dienen, beklagte und seinen Tod zum letzten persönlichen revolutionären Akt erklärte.113 Der »Katechismus des Revolutionärs« Im November 1869 wurde der Moskauer Student Ivan Ivanov, Mitglied eines Untergrundzirkels, von seinen eigenen Genossen ermordet. Dieser »schreckliche Akt«114, wie sich einer der direkt am Mord Beteiligten Jahrzehnte später ausdrücken sollte, hatte weitreichende Konsequenzen für die Revolutionsbewegung. Die Hintergründe des Mordes waren folgende: Der aus ärmlichen Verhältnissen kommende Radikale Sergej Nečaev profilierte sich Ende der 1860er Jahre als Sprachrohr des zahlenmäßig unterlegenen Flügels der Studenten (Nečaev selbst war Gasthörer), der auf die Politisierung der akademischen Forderungen hinarbeitete. Schon bald agitierte Nečaev offen für den »Volksaufstand«115. Diesem Unterfangen war jedoch kein Erfolg beschieden, sodass sich Nečaev ins Ausland begab, wo er mit Bakunin und Ogarëv in Kontakt trat, wobei er sich für den Vertreter einer mächtigen Revolutionsorganisation ausgab. Von Ogarëv mit Geldern aus dem »Bachmet’evskij fond« ausgestattet, einem Geldfonds, den der Gutsbesitzer Bachmet’ev Herzen überlassen hatte, kehrte Nečaev nach Russland zurück, wo er seine Obščestvo narodnoj raspravy (Gesellschaft der Volks­ abrechnung) gründete. Das im Sommer 1869 in Genf kollegial verfasste Statut der Organisation war nicht allen Mitgliedern des Zirkels bekannt, da Nečaev fürchtete, die Radikalität des Dokuments könne einige Mitglieder der Organisation abschrecken.116 Dennoch hatte die überwiegende Mehrheit, wie Ščerbakova betont, bereits im Vorfeld schriftlich für die »Willkürlichkeit der Mittel (bezrazborčivost’ v sredstvach)«, mit deren Hilfe die Revolution herbeigeführt werden sollte, sowie für die Er-

113 Vgl. Morrissey: Heralds of Revolution 179. Siehe z. B. den Abschiedsbrief des Selbstmörders Janovič in Ergina, L.: Vospominanija iz žizni v ssylke (Pamjati L. F.Janoviča). In: Byloe 6 (1907) 41–64, hier 63. Siehe auch den Abschiedsbrief des BO -Mitglieds und Selbstmörders Jan Berdo (GA RF f. 5831. o. 1, d. 340, l. 18) sowie die Abschiedsbriefe von Egor Sozonov. Savin, A. (Hg.): Ėto ja vinovat… Ėvoljucija i ispoved’ terrorista. Pis’ma Egora Sozonova s kommentarijami. Moskau 2001, 510. 114 Kuznecov: Avtobiografija 227. 115 Eine damals verbreitete Vermutung besagte, dass nach Verstreichen der im Zuge der Bauernbefreiung gesetzlich festgelegten Neunjahrsfrist, während derer ehemalige Leibeigene das ihnen zugewiesene Land bearbeiten und Abgaben an den Gutsbesitzer errichten mussten, Unruhen ausbrechen könnten. Nečaev hoffte, dass diese zu einer Revolution führen würden. Koz’min, Boris: S. G. Nečaev i ego protivniki v 1868–1869 g. g. In: Ders. (Hg.): Revoljucionnoe dviženie 1860-ch godov. Moskau 1932, 168–226. Pomper: Sergej Nečaev 46 ff. 116 Lur’e, Feliks: Nečaev. Sozidatel’ razrušenija. Moskau 2001, 194.

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mordung von Denunzianten« votiert.117 Das Dokument, das unter der Bezeichnung Katechizis revoljucionera (Katechismus des Revolutionärs)118 Geschichte schreiben sollte, war in drei Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt befasste sich ausführlich mit den Einstellungen, die ein Revolutionär sich selbst gegenüber einzunehmen hatte: Er sollte sich als »geweihten Menschen ­(čelovek obrečënnyj)« verstehen, »ohne Gefühle, ohne Bindungen, ohne Eigentum, ja ohne Namen«. Die Revolution sollte zu seinem einzigen persönlichen Interesse werden. Mit der »zivilisierten Welt und allen Gesetzen, Anstand, Gebräuchen und der Moral dieser Welt« sollte er einen radikalen Bruch vollziehen. Sich selbst und Anderen gegenüber sollte er unerbittliche Strenge zeigen und jederzeit zu sterben bereit sein. Gleichzeitig propagierte der Text eine Art Pseudo-Utilitarismus: »Sittlich«, hieß es in Paragraph 4, sei alles »was, dem Triumph der Revolution behilflich ist. Unsittlich und verbrecherisch – alles, was ihm hinderlich ist«119. Der dritte Abschnitt führte in das Thema des revolutionären Terrors ein und erklärte, warum der wahre Revolutionär keine verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen pflegen könne: »Er ist kein Revolutionär, wenn ihm irgendetwas Leid tut in dieser Welt, wenn er zurückschrecken kann vor der Zerstörung einer Beziehung, eines Verhältnisses oder aber eines Menschen, der zu dieser Welt gehört, in der alles und alle ihm gleich verhasst sein müssen. Umso schlechter für ihn, wenn er in ihr verwandtschaftliche, freundschaftliche oder Liebesbeziehungen hat; er ist kein Revolutionär, wenn jene seine Hand aufzuhalten vermögen.«120

Des Weiteren sollte eine Proskriptionsliste erstellt werden, geordnet gemäß der »relativen Schädlichkeit«121 der zum Tode bestimmten Personen. Auschlaggebend sollte dabei der Nutzen sein, den der Tod der Zielperson für die Sache der Revolution bringen könnte. Als erstes aber sollten, gemäß demselben Paragraphen, diejenigen sterben, von denen Gefahr für die revolutionäre Organisation ausgehe. Gemäß dieser Logik ging vom Studenten Ivanov, der Nečaev mehr und mehr zu kritisieren begann, nach Meinung des Anführers der »Volksabrechnung« 117 Hier zit. n. Ščerbakova: ›Otščepency‹ 121. 118 Die Bezeichnung »katechizis« tauchte im Text selber nicht auf. Die Geschichte der Entstehung des Titels ist bis heute nicht vollständig gelöst. Siehe Revoljucionnyj radikalizm v Rossii 248. 119 Alle Zitate in diesem Abschnitt nach ebd. 244. 120 »On ne revoljucioner, esli emu čego-nibud’ žal’ v ėtom mire. Esli on možet ostanovit’sja pered istrebleniem položenija, otnošenija ili kakogo libo čeloveka, prinadležaščego k ėtomu miru, v kotorom – vsë i vse dolžny byt’ emu ravno nenavistny. Tem chuže dlja nego, esli u nego est’ v nëm rodstvennye, družeskie ili ljubovnye otnošenija; on ne revoljucioner, esli oni mogut ostanovit’ ego ruku.« Zit. n. ebd. 246. 121 Zit. n. ebd.

84  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre eine reale Gefahr für die Organisation und damit für die gesamte Revolution aus. So wurde Ivanovs Tod besiegelt.122 In den nächsten Unterkapiteln soll geklärt werden, ob die starken Wertungen des Katechismus auf einen Rahmen verweisen, anhand dessen sich die Revolutionäre der 1860er Jahre orientierten, oder ob das Dokument nicht vielmehr eine Karikatur auf den russischen Radikalismus darstellt. Die »nečaevščina« Es dauerte nicht lange, bis das Verbrechen, ein »›klassischer‹ theoretischer Mord«123, wie Budnickij schlussfolgert, aufgeklärt und die Mörder vor Gericht gestellt wurden. Als schließlich im Zuge der Ermittlungen der verschlüsselte »Katechismus« dechiffriert und veröffentlicht wurde, erregte dies den Unmut sowohl konservativer als auch liberaler und sozialistischer Kreise.124 Die russländischen Emigranten, aber auch viele Radikalen im Inneren des Landes distanzierten sich mit aller Deutlichkeit von Nečaev und dem »Katechismus«. Eine beliebte Strategie bestand darin, den Anführer der »Volksabrechnung« zu marginalisieren. So schrieb der bekannte radikale Publizist Nikolaj Michajlovskij in seiner Rezension auf Dostoevskijs Roman Die Dämonen, einer »Abrechnung« mit der Revolutionsbewegung, dass die »nečaevščina«125 in jeglicher Hinsicht ein »Monstrum« sei. Dostoevskij hätte erkennen müssen, dass eine so marginale Erscheinung nicht dafür geeignet sei, »als Thema für einen Roman mit mehr oder minder großem Erfassung der Wirklichkeit«126 zu dienen. Eine negative 122 Am Nachmittag des 21. November 1869 holten Nečaev und seine Mitverschworer den 23 Jahre alten Studenten unter einem falschen Vorwand bei einem Kommilitonen ab. Nečaev griff das seit Langerem kursierende Gerücht auf, dass die išutincy vor ihrer Verhaftung eine geheime Druckpresse vergraben hatten; diese befande sich jetzt in einer Grotte im Park der Agrarakademie. Am späten Nachmittag stieg Ivanov zusammen mit drei weiteren Mitgliedern des Zirkels in die Grotte. Nečaev wartete bereits mit einem vierten Mann im Inneren. Ivanov, der sich noch zu wehren versuchte, wurde schwer geschlagen, gewurgt und schließlich erschossen. Sein Leichnam wurde im frostigen Wasser versenkt. Lur’e: Nečaev 165–166. 123 Budnickij: Terrorizm 43. 124 Nečaev hatte sich schon vor der Ermordung Ivanovs einige Feinde innerhalb der radikalen Zirkel gemacht. Zu seinen Gegnern sollen so bekannte Radikale wie Mark Natanson, Lazar’ Gol’denberg, Feliks Volchovskij und Lopatin gezählt haben. Koz’min: Nečaev i ego protivniki 176–216. 125 Mit diesem Begriff wurde das Phänomen der revolutionären Willkür, insbesondere der Unverhältnismäßigkeit in der Wahl der Mittel, bezeichnet. 126 »On [Dostoevskij, d. Verf.] ubedilsja by daže, čto Nečaevskoe delo est’ do takoj stepeni vo vsech otnošenijach monstr, čto ne možet služit’ temoj dlja romana s bolee ili menee širokim zachvatom.« Michajlovskij, Nikolaj: Iz literaturnych i žurnal’nych zametok 1873 goda. In: Redakcija žurnala ›Russkoe Bogatstvo‹ (Hg.): Sočinenija N. K. Michajlovskogo. Bd. 1. 4. Auflage. St. Petersburg 1906, 827–986, hier 867. Interessanterweise nahm sich der bereits zitierte ­Kuznecov eine Dialogpassage aus den Dämonen als Grundlage für die moralische Rechtfertigung seiner eigenen Beteiligung am Mord Ivanovs. In seiner Autobiographie wird Stavro-

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Beurteilung Nečaevs hielt sich im Großen und Ganzen auch in der sowjetischen Historiographie. Mit wenigen Ausnahmen127 erklärte die sowjetische Forschung die »nečaevščina« zu einer Pathologie innerhalb einer »ansonsten gesunden Bewegung«128. Schon der Gerichtsprozess von 1871 habe, so Nikolaj Troickij, ihre »Fremdartigeit gegenüber den ureigenen Quellen der revolutionären Ethik«129 aufgezeigt. Diese Sichtweise ist nicht gänzlich falsch, wenn man bedenkt, dass sich Nečaev recht »origineller« Methoden bediente, die nicht nur von den meisten Studenten der 1868er/1869er Jahre, sondern auch von vielen Revolutionären abgelehnt wurden. Er verbreitete Lügen und streute gezielt Gerüchte über sich und seine Organisation. Dies lag, wie Pomper schreibt,130 durchaus in der Tradition des russischen Prätendententums (»samozvanstvo«), hinterließ aber einen schlechten Eindruck auf die von Nečaev getäuschten Radikalen. Hinzu kam, dass Nečaev dazu tendierte, Menschen als lebendiges Material zu betrachten, die dazu bestimmt seien, das Feuer der Revolution zu speisen. So war er, wie sich später herausstellen sollte, für die Verhaftung des Studenten Natanson verantwortlich; er sandte ihm absichtlich einen kompromittierenden Brief aus dem Ausland, wohl in der Hoffnung, aus dem damals schon politisierten Studenten durch äußeren Zwang einen Revolutionär zu machen.131 Die Konsequenz, mit der Nečaev dem Prinzip, »das Ziel rechtfertigt das Mittel«, treu blieb, scheint ihn tatsächlich von einem Großteil der šestidesjatniki zu unterscheiden. Dennoch wäre es falsch, wie es sogar noch heute von einigen Historikern perpetuiert wird,132 Nečaev als eine Anomalie der Revolutionsgeschichte zu bezeichnen. Die Gründe dafür sind weniger in der Ideologie zu suchen, auch wenn

gins Vorschlag, vier Zirkelmitglieder zu nehmen, um sie mit »Blut« zu »binden« (»i totčas že vy ich vsech prolitoju krov’ ju, kak uzlom svjažete«) fast wörtlich zitiert: »ėtot akt nužen byl Nečaevu dlja togo, čtob krepče spajat’ nas krov’ju«. Selbstredend fungiert hier Kuznecov lediglich als ein blindes Instrument des tückischen Manipulators. Vgl. Dostoevskij, ­Fëdor: Besy. Roman v trëch častjach. Bd. 2–3. Moskau 2008, 148 und Kuznecov: Avtobiografija 230. Andere Beispiele einer »Belletrisierung« des Nečaev-Prozesses finden sich bei Mogil’ner:­ Mifologija 25 f. 127 Koz’min: Nečaev i ego protivniki 168–226. 128 So Pomper mit einem Seitenhieb auf die sow. Forschung. Ders.: Segei Nechaev 219. 129 Troickij: Bezumstvo chrabrych 106. 130 Pomper: Nechaev and Tsaricide 138. 131 Koz’min: Nečaev i ego protivniki 187 f. Etwas Ähnliches soll Vera Zasulič passiert sein. In ihren Memoiren behauptet sie, dass Nečaev ihr bei einer ihrer Begegnungen seine Liebe gestanden habe. Tatsächlich aber sei er nur darauf aus gewesen, sie zur engeren revolutionären Zusammenarbeit zu »verführen«. Zasulič, Vera: Vospominanija. Moskau 1931, 60–61. 132 ›Besy‹ F. M. Dostoevskogo. Opyt istoričeskoj kritiki. Vorlesung, gehalten von Konstantin Morozov im März 2013, URL: https://www.youtube.com/watch?v=1mizD5hamko (am 09.07.16). Morozov will Nečaev als direkten Vorläufer der Bolschewiken verstanden wissen, die er wiederum als eine Art Anomalie der Revolutionsgeschichte begreift.

86  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre sich Nečaev in seinem strategischen und theoretischen Denken durchaus fest verankert in der Tradition des europäischen linken Radikalismus gewesen ist.133 Er favorisierte eine Strategie, die vorsah, die Macht durch eine revolutionäre Untergrundorganisation zu ergreifen und durch organisierte Gewalt zu halten. Mit Hilfe von Gewalt sollte zudem die Abschaffung des »Schmarotzertums des Kapitalisten (tunejadstva kapitalista)«134 erfolgen. Wichtiger erscheint mir, dass Nečaev bei all seiner Skrupellosigkeit ähnliche Prioritäten setzte und sehr ähnliche Antworten auf Fragen nach dem Erstrebenswerten und Wertvollen gab, wie andere Vertreter der revolutionär eingestellten Intelligenzija der 1860er Jahre. Wie Dmitrij Karakozov oder Pëtr Zaičnevskij wollte Nečaev nicht nur ein passiver Beobachter sein, sondern die Geschichte aktiv mitgestalten und durch revolutionäre Taten beschleunigen. So wie es vor wenige Jahre zuvor Serno-Solov’evič getan hatte, beschuldigte auch Nečaev die Generation Herzens der Untätigkeit. Er war der Überzeugung, dass die ältere Generation nicht rechtzeitig gehandelt habe, obwohl die Zeit für einen Volksaufstand doch reif gewesen sei. Die neue Generation aber – und hier drückte Nečaev, wenn auch polemisch überspitzt, den Wunsch der radikalen Jugend aus, das »gewöhnliche Leben« ihrer Vorgänger aufzugeben und ein »höheres Leben« für die Revolution zu führen – verspüre »weder Zweifel, noch Enttäuschung«. Sie verfolge »kaltblütig« ein »einziges Lebensziel«: die »Zerstörung« der alten Ordnung.135 An erste Stelle trat also die radikale Trennung zwischen Selbst und Welt. Das Leben für die Revolution wurde als eine radikale Existenzform gedacht, die es vom Individuum verlangte, sich sowohl von den ehemaligen Freunden als auch von der eigenen Familie loszusagen. Es ist sicherlich schwierig, klare Grenzen zwischen den verschiedenen Erscheinungen der revolutionären Kultur zu ziehen. Denn zum einem haben sich die »Intelligenzler als fremde, soziale Außenseiter in einem Land mit strikten Standesgrenzen gefühlt, zum anderen als Außerwählte für große Taten«136. Die Revolutionäre verorteten das gute, selbstbestimmte Leben in der »öffentlichen« Sphäre, was unweigerlich zum Konflikt mit dem autokratischen Staat führte. Hinzu kam jedoch die Vorstel-

133 Pomper: Segei Nechaev 216. 134 So das Programm der revolutionären Aktionen aus dem Umfeld Nečaevs. Zit. n. Antonov, V. / Volkova, I. u. a. (Hg.): Chrestomatija po istorii SSSR . 1861–1917. Moskau 1990, 124. 135 »Sosredotačivaja vse naši sily na razrušenii, my ne imeem ni somnenij, ni razočarovanij; my postojanno, odinakovo chladnokrovno presleduem našu edinstvennuju, žiznennuju cel’.« Zit. n. Itogi revoljucionnogo dviženija I, 30.  136 »[…] s odnoj storony, intelligenty čuvstvovali sebja čužimi, social’nymi izgojami v  strane s  čëtko otlažennym soslovnym stroem; s  drugoj  – oščuščali sebja izbrannymi na velikie dela.« Levandovskij, Andrej: Železnyj vek. Moskau 2000, 96. Ähnlich argumentiert ­Ščerbakova: ›Otščepency‹ 14. 

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lung, dass nach der Überwindung der Autokratie und des Kapitalismus ein neues Zeitalter des allgemeinen Glücks einbrechen werde. Es ist keinesfalls Zufall, dass der »Katechismus« sich sprachlich an den Evangelien orientierte, indem es die Dichotomie »Reich Gottes« – »Reich des Kaisers« (vgl. z. B. Joh 18,36) zur binären Opposition »in der Welt der Revolution« – »in dieser Welt (v ėtom mire)« transformierte. Dadurch erhielt alles »Revolutionäre« pathetische Obertöne. Nečaev war auch in dieser Hinsicht ein Kind des »Expressivismus«, der wie andere Radikale dar 1860er Jahre seine »rationalistischen« Vorstellungen in einer Sprache zum Ausdruck brachte, die das Schöpferische im Menschen betonte. Nicht weniger wichtig war die mit der genannten Dichotomie zusammenhängende Favorisierung einer »asketischen« Haltung, die in den radikalen Kreisen der 1860er Jahre weit verbreitet gewesen war.137 Nečaev selbst betonte in seiner Publizistik den grundlegenden Einfluss Karakozovs auf die »heilige Sache«138 der »Volksabrechnung«. Aber auch andere Quellen machen deutlich, dass Nečaev, wie Pomper schreibt, vom »Heroismus und Märtyrium (­heroism and ­martyrdom)«139 Karakozovs fasziniert gewesen sein muss. Der »Katechismus« war in dieser Hinsicht nur der »groteske« Höhepunkt einer schon vor Nečaev eingesetzten Entwicklung. Die von den nečaevcy konstruierten Bezüge zu Märtyrer- und Heilgenvorstellungen waren auch für die Zeitgenossen offensichtlich. Der liberale Verteidiger Włodzimierz Spasowicz etwa sprach ironisch vom »genialen Gedanken« Nečaevs, sich eine Legende zurechtzulegen und »zu einem Märtyrer zu werden«140. Ähnlich äußerte sich Karl Max. Dieser hatte nämlich die Publikation des »Katechismus« als willkommene Gelegenheit wahrgenommen, um mit B ­ akunin abzurechnen, dem er sogleich unterstellte, der alleinige Autor des T ­ extes zu sein. Marx spottete, dass die »Dogmen« der »Anarchisten« um ­Bakunin und Nečaev »ganz und gar christlichen Ursprungs« seien, nur hätten die falschen Revolutionäre an die »Stelle der heiligen, katholischen, apostolischen und römischen Kirche ihr ›heiliges Werk‹ der erzanarchistischen und allzerstörenden Revo­

137 Frede: Radicals and Feelings 74; Verhoeven: The Odd Man Karakozov 114–115. 138 »Načinanie našego svjatogo dela položeno utrom 4 aprelja 1886 goda Dmitriem Vladimirovičem Karakozovym. Delo Karakozova nado rassmatrivat’ kak prolog. Postaraemsja, druz’ja, čtoby poskoree nastupila i sama drama.« Hier zit. n. Budnickij: Terrorizm 39 mit Verweis auf Burcev, Vladimir (Hg.): Za sto let (1800–1896). Sbornik po istorii političeskich i obščestvennych dviženij v Rossii. London 1897, 93. In der mir zugänglichen Reprint-Ausgabe von »Za sto let« fehlt der erste Satz (Načinanie…). 139 Pomper: Sergei Nechaev 45. 140 »On [Nečaev, d. Verf.] vozymel eščë v janvare 1869 g. mysl’ genial’nuju, on zadumal (živoj čelovek) sozdat’ samomu dlja sebja legendu, sdelat’sja mučenikom i proslyt’ takovym na vsju zemlju russkuju.« Spasovič, Vladimir: Za mnogo let: 1859–1871. St. Petersburg 1872, 422.

88  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre lution«141 gesetzt. »Solch ein Meisterwerk kritisiert man nicht«, spottete Marx weiter: »Man verdürbe sich den Spaß an seiner Fratzenhaftigkeit.«142 Was der Begründer des »Wissenschaftlichen Sozialismus« mit Spott übergoss, musste zumindest einige Staatsbeamte beunruhigt haben. Insbesondere die Gleichsetzung des Prozess von 1871 mit Prozessen gegen Christen im Römischen Reich konnte sich als eine potenzielle Gefahrenquelle für die Sicherheit des Russländischen Reiches erweisen. Dennoch schien die Heimtücke der Angeklagten so offensichtlich zu sein, dass der Justizminister dafür plädierte, die Gerichtsprotokolle im Regierungsorgan Pravitel’stvennyj Vestnik nicht zu zensieren. Es sollte lediglich sichergestellt werden, dass auch andere Zeitungen keine Fakten verschweigen, die »in der Lage sind, die öffentliche Meinung gegen die angeklagten Personen zu erregen«143. Auch die Wahl des Anklägers spiegelt diese Zuversicht der Regierung: Polovcov galt als Gegner jeglicher Justizwillkür. Nachdem der Prozess gegen die nečaevcy bereits vorbei war (Nečaev selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Schweiz), gab es bei einigen Beamten der Dritten Abteilung ein böses Erwachen. Mit Sorge schrieb einer von ihnen, dass einige nečaevcy als »Apostel einer neuen sozialen und politischen Lehre« aufträten, »als Aposteln, die bereit« seien, »für ihren Glauben den Märtyrerkranz zu empfangen«144. Dadurch bestehe die Gefahr, dass sich das Verhältnis zwischen Ankläger und Angeklagten umdrehen könnte. Mittels »Kraft und Rethorik der fanatischen Überzeugung, die nach dem Martyrium zu drängen scheint (siloju i krasnorečiem fanatičeskogo ubeždenija, kak by naprašivajuščegosja na mučeničestvo)«145, würden die Revolutionäre sich zu Anklägern der Gesellschaft und des Staates erheben. Jetzt bräuchten die Radikalen nur noch den Pravitel’stvennyj Vestnik zu lesen, der dank der von ihm ab­ gedruckten Selbstzeugnisse und Propagandaschriften zum »Leitfaden unserer 141 Alle Marxzitate nach Marx, Karl / Engels, Friedrich: Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation. Im Auftrage des Haager Kongresses verfasster Bericht über das Treiben Bakunins und der Allianz der sozialistischen Demokratie. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Marx-Engels-Werke. Bd. 18. Berlin (Ost) 1962, 327–471, hier 426. 142 Ebd. 427. 143 Zit. n. Koz’min (Hg.): Koz’min, Boris (Hg.): Nečaev i nečaevcy. Sbornik materialov. Moskau, Leningrad 1931, 158. 144 »[…] vystupajut apostolami novogo social’nogo i političeskogo učenija, vpervye zajavljaemogo gromoglasno, apostolami, gotovymi prinjat’ za svoju veru mučeničeskij venec.« Zit. n. Ebd. 167. Das Gesagte war in erster Linie auf den Priestersohn Vladimir Orlov gemünzt. Der ehemalige Seminarist lernte Nečaev 1868 in dessen Heimatdorf Ivanono-Voznesensk kennen und begann darauf bald selbst ehemalige und aktive Seminaristen für die revolutionäre Sache anzuwerben. Im Januar 1869 beteiligte er sich an den Studentenunruhen und wurde zeitweise zum Zweiten Mann in der »Volksabrechnung«. Im »Prozess von 1871« versuchte er sich von Nečaev zu distanzieren, nicht jedoch vom Sozialismus. Pomper: Sergei Nechaev 47f; Šilov / Karnauchova (Hg.): Dejateli. Bd. 1, Teil 2 294 f. 145 Nečaev i nečaevcy 168.

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Revolutionäre«146 werde. Ähnlich äußerte sich der Journalist und Mitarbeiter der Abteilung, Ilija Arsen’ev, in einer Mittteilung an den Chef der Gendarmerie. Einige der abgedruckten Materialien, so Arsen’ev, seien in der Lage, Sympathien für die Täter aufkommen zu lassen. Dafür machte er teils auch den Staatsanwalt verantwortlich, der in einer Replik die Opferbereitschaft eines der Angeklagten erwähnte und ihn somit zu einem »Helden und Märtyrer«147 erhoben habe. Die Entscheidung, im Nečaevprozess keine Zensur walten zu lassen, erwies sich (bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des autokratischen Prinzips) tatsächlich als kontraproduktiv. Die bekannte Revolutionärin Breško-Breškovskaja schrieb später, dass das Lesen der von der Regierung publizierten Prozessmaterialien, die Reden der Verteidiger, die Proklamationen und natürlich der »Katechismus«, eine entscheidende Rolle in ihrer revolutionären Biographie gespielt hätten. Sie habe nun gewusst, dass sie die »Mission« habe, dem Volk die »Wahrheit« zu bringen, und bei ihrer Erfüllung sowohl das Gefängnis als auch den Tod in Kauf nehmen müsse.148 Ein Übriges tat die sogenannte zivile Hinrichtung, ein Erniedrigungsritual, das formell an den Hinrichtungsverfahren orientiert war. Die Folge war, dass die zu dieser Strafe verurteilten Uspenskij, ­Kuznecov und Pryžov von der Jugend, die sich vor dem »Schafott« versammelt hatte, empathisch  – mit Händeschütteln, Verbeugungen und in die Luft geworfenen Hütten – gefeiert wurden.149 Der Prozess verstärkte den in radikalen Kreisen bereits vorhanden Gedanken, dass erlittenes Leid im Lichte politischer Zweckmäßigkeit einen »höheren Sinn« erhalte. Die Evokation des »Martyriums« konnte dabei sowohl eine motivierende als auch trostspendende Funktion erfüllen. So schrieb die im Nečaevprozess freigesprochene Julija Bobarykova an den zu 15 Jahren Zwangsarbeit und Ewiger Verbannung (»večnoe poselenie v Sibiri«) verurteilten Pëtr Uspenskij: »Mein Guter, Pëtr Gavrilovič. Ich bin Ihnen ein völlig fremder Mensch, kann Sie aber nicht in die lange Reise entlassen, ohne Ihnen zu sagen, dass es Menschen gibt, die mit Ihnen tief, tief sympathisieren, die Sie in Ehren halten und die nicht vergessen werden, dass noch einige Märtyrer im Kampf für die Freiheit und für das Volk hinzugekommen sind. Eure Namen werden uns teuer bleiben, solange wir leben, und wir werden andere lehren, sie zu lieben und zu achten. […] Eines kann ich Ihnen zum Trost sagen: Ihr Glaube und ihre Überzeugungen sind stärker als die Dritte Abteilung

146 Ebd. 147 Ebd. 187. 148 Maxwell, Margaret: Narodniki Women. Russian Women Who Sacrificed Themselves for the Dream of Freedom. New York 1990, 131. Die Ausdrücke »Wahrheit« und »Mission« stammen von Breškovskaja selbst. Leider nennt Maxwell keine genauen Quellenangaben. 149 »Kogda trëch mučenikov sveli s ėšafota i posadili v karety, tolpa molodëži brosilas’ požimat’ im ruki i zatem bežala za karetoj, vsë klanjalas’ i machaja šapkami, poka, nakonec, ne byli ottisnuty krupami žandarmskich lošadej ot karety.« Hier zit. n. Lur’e: Nečaev 214.

90  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre und die Festungen u. s. w. und vielleicht wird Sie noch die Nachricht erreichen, dass die Marterqualen, die Sie erlitten, nicht umsonst gewesen sind.«150

Letzten Endes gelang es der Regierung nur teilweise, die Revolutionsbewegung mit Hilfe eines Prozesses zu diskreditieren. Die »nečaevščina« führte zu einer kurzzeitigen Neuorientierung der Revolutionsbewegung.151 Ernsthafte Diskussionen über die Notwendigkeit der »Terrorisierung der Regierungsmacht«152 (Tkačëv) wurden erst Mitte der 1870er Jahre wieder fortgeführt. Bis zum nächsten großen politischen Anschlag sollte etwas weniger als eine Dekade vergehen. Nečaev selbst aber blieb eine ambivalente Figur, die sogar bei namhaften Revolutionären Bewunderung hervorzurufen wusste.153

3.3 Schlussbetrachtungen Das Eingreifen des Staates in das Leben seiner Untertanen, ob nun in »weicher« Form wie der Zensur verdächtig erscheinender Schriften oder in der »harten« Form der Verbannung, führte zu Widerstand aus den Reihen der Intelligenzija. Dieser Widerstand war weniger eine anthropologisch bedingte Reaktion, sondern vielmehr Resultat eines Konfliktes zwischen dem Ideal einer nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung strebenden Persönlichkeit und dem Anspruch des Staates auf politische und soziale Kontrolle. Dieser Konflikt führte unweigerlich zur Stärkung oppositioneller Einstellungen, jedoch keines 150 »Golubčik Pëtr Uspenskij. Ja vam soveršenno čužoj čelovek, no ne mogu vas otpustit’ v dal’nij put’ bez togo, čtoby ne skazat’ vam, čto est’ ljudi, gluboko, gluboko sočuvstvujuščie vam, kotorye uvažajut vas i ne zabudut, čto ešë neskol’ko mučenikov pribavolos’ v bor’be za svobodu i za narod. Vaši imena ostanutsja nam dorogi, pokuda my budem živy, i my naučim drugich ljubit’ i uvažat’ ich. […] Odno vam mogu predostavit’ v utešenie: vera i ubeždenija vaši sil’nee i III otdelenija, i kreposti, i t. d., i, možet byt’, ešë do vas dojdët sluch, čto vaši mučenija darom ne propali.« Zit n. Nečaev i nečaevcy 156–157. 151 Budnickij: Terrorizm 43–45; Baranov, Aleksandr: Obraz terrorista v russkoj kul’ture konca XIX – načala XX veka. In: Obščestvennye nauki i sovremennost’ 2 (1998) 181–191, hier 148; Ščerbakova: ›Otščepency‹ 120 ff. 152 Hier zit. n. Fel’dman / Odesskij: Poėtika vlasti 136. 153 Diese ambivalente Sicht hielt bis in die 1920er Jahre an. Vera Figner beispielsweise bewunderte in ihren Memoiren Nečaevs klaren Verstand und unbeugsamen Willen. Auch Vladimir Lenin soll Bonč-Bruevič zufolge in Nečaev einen »Titanen der Revolution (titan revoljucii)« gesehen haben. Andere Akteure der Revolution, wie zum Beispiel Aleksandr ­Kerenskij, sprachen im Gegenteil davon, dass Nečaev der Begründer einer »amoralischen Tendenz zu Hass und Vernichtung« gewesen sei. Bonč-Bruevič, Vladimir: Lenin o chudožestvennoj literature. In: Tridcat’ dnej 1 (1934) 15–19, hier 18; Kerenskij, Aleksandr: Predislovie. In: Breško-Breškovskaja, Ekaterina: Skrytye korni russkoj revoljucii. Moskau 2006, 5–11, hier 10. Zu Vera Figner siehe Ščëgolev, Pavel: S. G.Nečaev v Alekseevskom raveline. In: ­K rasnyj archiv 5 (1924) 172–212, hier 182. Siehe auch Mogil’ner, Marina: Na putjach k otkrytomu obščestvu. Krizis radika’nogo soznanija v Rossii (1907–1914). Moskau 1997, 8–9.

Schlussbetrachtungen    91

falls zwangsläufig zur Entstehung einer terroristischen Bewegung. Dass der Einsatz terroristischer Methoden dennoch diskutiert wurde, scheint im Wesentlichen zwei Gründe zu haben. Auf der einen Seite waren die Radikalen sowohl von der Tradition des Tyrannenmordes beeinflusst als auch von der Rezeption der Französischen Revolution, der Tätigkeit Babeufs und Filippo Buonarrotis, der C ­ arbonari und Felice Orsinis. Auf der anderen Seite überschlugen sich Anfang der 1860er Jahre die Ereignisse. 1861 kam die Bauernbefreiung, deren »räuberische Bedingungen«154, wie sich der narodnik Nikolaj Buch ausdrückte, von den sozialistisch orientierten Intelligenzlern als zutiefst ungerecht empfunden wurden. Nach der Bauernbefreiung folgten »Unruhen und Aufstände, Studentenunruhen der Petersburger Universität, die Verhaftung Č ­ ernyševskijs und die Schließung des Sovremennik und des Russkoe Slovo, die Petersburger Brände. All diese Ereignisse bewegten«155 die politisch interessierte Jugend. In dieser angespannten Atmosphäre wurden in geheimen Zirkeln nach radikalen Kommunikationsmöglichkeiten mit dem Staat, der »Gesellschaft« und dem »einfachen Volk« gesucht. Die Tatsache, dass der Attentatsversuch von 1866 trotz der anfänglichen Intention Karakozovs nicht zur Ausbildung einer terroristischen Bewegung geführt hatte, lag jedoch keinesfalls ausschließlich an den Erfahrungen der »nečaevščina«, wie dies in der Forschung oft angenommen wird. Dagegen spricht die durchaus ambivalente Bewertung ihres namengebenden Protogonisten. Vielmehr scheint es so zu sein, dass die Überschreitung der Schwelle zur gezielten Gewaltanwendung in friedlichen Zeiten nicht ohne weiteres möglich ist. Erst nachdem das Gefühl vorherrschte, dass die Versuche, das »Reich des Sozialismus« auf mehr oder minder friedlichen Wegen zu errichten, kläglich gescheitert seien, griff die Bewegung zur »Bombe und zum Dolch«. Die šestidesjatniki bezeichneten sich in ihren, heute als zentral erachteten Dokumenten, als eine »junge Generation«, die sich in vielerlei Hinsicht von den »alten« Demokraten, allen voran voran von Alexandr Herzen, unterschied. Was einen Großteil dieser »jungen« Radikalen tatsächlich auszeichnen scheint, ist ihr sozialer Aktivismus. Die Vorstellung, dass das Leben für die »Sache der Revolution«156 nur dann gelingen könne, wenn es mit voller Hingabe und 154 Buch: Avtobiografija 48. 155 Sažin: Avtobiografija 390. Der Sovremennik war ein von Puškin gegründetes Journal, welches seit den 1850er Jahren radikaldemokratisch ausgerichtet gewesen war. 1862 wurde es für acht Monate geschlossen. Nach dem Karakozov-Attentat erfolgte die endgültige Schließung. Russkoe slovo wurde ebenfalls 1862 nach der Veröffentlichung eines Artikels von ­Pisarev für ein halbes Jahr geschlossen. 156 Das Wort »delo« spielte im Diskurs des demokratischen Lagers seit den späten 1850er Jahren eine wichtige Rolle, es verdeutlichte das Streben der Demokraten, ihre Kräfte für eine progressive, gemeinnützige Sache einzusetzen. Mehr dazu bei Rindlisbacher: Leben für die Sache 48–51. Im Diskurs des linksradikalen Lagers wurde »delo«, bzw. »obščee delo« entweder als Synonym für die sozialistische Revolution benützt oder aber als eine auf die Verwirklichung der Revolution gerichtete Tätigkeit verstanden.

92  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre unter Inkaufnahme aller damit verbundenen Entbehrungen geführt werde, entwickelte sich in den 1860er Jahren. Was der frühe Herzen noch als Frage formulierte157 und auch in späten Jahren in Blanqui, der vielen als Inbegriff der revolutionären Zielgerichtetheit galt,158 bewunderte,159 versuchten junge Radikale aktiv umzusetzen: Den Bruch mit »dem Alten«, der Unterordnung des »privaten Lebens« unter das Primat der Revolution kam jetzt eine indentitätskonstituierende Bedeutung zu. Dies konnte beispielsweise enge Freundschaftsbeziehungen betreffen, wie im Falle von Alexandr Serno-Solov’evič, der seinem Jugendfreund nach dem Übertritt ins sozialistische Lager demonstrativ die Freundschaft aufkündigte, weil dieser sich geweigert hatte, Geld für die Befreiung Polens zu spenden.160 Starke Wertungen, mit deren Hilfe das fremde »Martyrium« für das »Volk« als etwas Ehrenwertes gedacht wurde (vom Sterben für die »Sache« war in den Texten der 1860er Jahre noch kaum die Rede), gaben Aufschluss über die Stellung des Individuums im moralischen Raum. Als Verehrer eines »Märtyrers« (vergleiche den Brief Bobarykovas an Uspenskij) gab man zu erkennen, auf welcher Seite des historischen Kampfes zwischen dem »Volk« und der Autokratie man sich befand. Mit dem Anwachsen der Sympathisanten- und Unterstützerkreise, kam dem Bild des »selbstaufopfernden« Revolutionär eine immer größere Bedeutung zu, bis es schließlich zu einem archetypischen Bestandteil revolutionärer Fremd- und Selbstwahrnehmung wurde. Pëtr Zaičnevskij hat 157 Astrid von Borcke schreibt diesbezüglich: »Already Herzen (1812–70), in the atmosphere of 1848, had asked the would-be revolutionry whether he was prepared to break totally with traditional civilization, way of life, religion and morality«. Borcke, Astrid von: Violence and Terror in Russian Revolutionary Populism. The Narodnaya Volya, 1879–83. In: Mommsen, Wolfgang / Hirschfeld, Gerhard (Hg.): Social Protest, Violence and Terror in 19th and 20th Century Europe. New York 1982, 48–62, hier 50. Vergleichbares ließe sich von Dobroljubov, Pisarev, Černyševskij, Lavrov und anderen sagen. Ebd. 158 Ivianski, Zeev: The Terrorist Revolution. Roots of Modern Terrorism. In: Rapoport, David (Hg.): Inside Terrorist Organizations. London 2001, 129–149, hier 130. 159 Gercen, Aleksandr: Porjadok toržestvuet. In: AN SSSR . In-t mirovoj lit. im A. M. Gor’kogo (Hg.): A. I. Gercen. Sobranie sočinenij v  tridcati tomach. Bd. 19. Moskau 1959, 166–199, hier 180 ff. 160 Noch am 20. April 1859 versicherte Aleksandr seinem Jugendfreund in einem Brief aus dem Ausland: »Du bist mit eisernen Nähten an mich geheftet; Dich von mir fortzureißen bedeutet die Hälfte meines Herzens, die Hälfte meines Selbst auszureißen«. Lemke, Michail: Materialy dlja biografii A. Serno-Solov’eviča. In: Byloe 4 (1907) 192–230, hier 219. In St. Petersburg begann jedoch für Aleksandr ein neues Leben. Zusammen mit seinem Bruder Nikolaj wurde er schnell zu einem der führenden politischen Aktivisten der Hauptstadt. Er arbeitete mit Šelgunov, dem Autor des bekannten Pamphlets An die junge Generation zusammen, engagierte sich in der studentischen Bewegung, die er durch sein Wirken zu politisieren versuchte, beteiligte sich an der Organisation eines Schmuggelsystems illegaler Literatur ins Zarenreich und wurde zu einem der Gründer der ersten Zemlja i volja. Seinem ehemals besten Freund kehrte er aus politischen Gründen den Rücken.

Schlussbetrachtungen    93

sicherlich versucht, diesem Bild zu entsprechen. Auch wenn er in den 1870er Jahren nicht zum Terroristen wurde, widmete er sein ganzes Leben dem »revolutionären Kampf« und ertrug die Konsequenzen in Form von Gefängnis und Exil (im Landesinneren). An den Orten seiner Verbannung gründete er immer wieder geheime revolutionäre Zirkel.161 Ein Mitglied dieser Zirkel war Marija Jasneva-Golubeva. Später sollte sie den Bolschewiken beitreten und nach der Revolution als Mitglied der Petrograder Tscheka162 in gewisser Weise an der Verwirklichung der blutigen Phantasien des Jungen Russlands mitwirken. In ihren Erinnerungen blieb Zaičnevskij bis zu seinem Tod eine der Revolution vollständig ergebene Persönlichkeit: »Für ihn existierte nichts außer der Revolution; selbst im Delirium auf dem Sterbebett stritt er noch mit Lavrov, versuchte jemandem zu beweisen, dass die Zeit nicht weit ist, da die Menschheit mit einem Fuß in das helle Reich des Sozialismus treten werde.«163

Die Lebensbeschreibung eines Sozialisten konnte dabei auch die Form einer Heiligenerzählung annehmen. Nicht zuletzt wird dieser Umstand an einer kurzen Lebensbeschreibung Robert Owens deutlich, die sich unter den persönlichen Briefen Aleksandr Serno-Solov’evičs befindet. Die Lebensskizze erinnert mehr an eine Heiligenvita als an eine politische Biographie. Aleksandrs Owen durchlebt hier einen Prozess der stetigen Vergeistlichung. Trotz aller Niederlagen, Versuchungen und Verfolgungen durch die Kirche bleibt er seinem sozialistischen »Glauben« treu und stirbt einen guten Tod für die Sache des Sozialismus.164 Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, dass einer 161 Šachmatov, B.: Pëtr Grigor’evič Zaičnevskij. In: Volodin, A. (Hg.): Utopičeskij socializm v Rossii. Moskau 1985, 326–328, hier 327–328. 162 Žukov, E. (Hg.): Sovetskaja istoričeskaja ėnciklopedija. Bd. 4. Moskau 1963, 506. 163 »Dlja nego ničego, krome revoljucii, ne suščestvovalo; daže v bredu na smertnom odre on vsë sporil s Lavrovym, komu-to vsë dokazyval, čto nedaleko to vremja, kogda čelovečestvo odnoj nogoj šagnët v svetloe carstvo socializma.« Zit n. Šikman, A.: Dejateli otečestvennoj istorii. Biografičeskij slovar’-spravočnik. Bd. 2. Moskau 1997, 311. 164 Der sozialistische Praktiker und Vordenker des Sozialstaates wird in diesem Brief zu einem sozialistischen »Zeugen« für den Sozialismus, der von den Mächtigen, insbesondere von der Geistlichkeit, seines »Glaubens« wegen verfolgt wird. Von seiner erfolgslosen USAReise in England angekommen sammelt Owen seine »Schüler«, die »Oweniten« um sich und wird zum Mittelpunkt (»Seele«) der Arbeiterkommune. Owen befreit sich von jeglichen materiellen Gütern, gibt sein ganzes Hab und Gut den Kindern und verbringt sein Leben mit dem Schreiben von sozialistischen Texten. Wie in den meisten Heiligenviten auch wird der Protagonist von Versuchungen heimgesucht: Die Geistlichkeit bedrängt Owen und eine noch härtere Herausforderung wartet auf den guten Sozialisten: Er verliert die »Gunst des Volkes« bei den Wahlen, doch die Versuchung kann Owen nicht vom rechten Glauben abbringen: »Der Misserfolg brach nicht, rüttelte nicht an seinem Glauben (Neudača ne slomala i ne pokolebala ego verovanij)«. Keine der zahlreichen Niederlagen und Versuchungen durch den Klerus kann Owen niederschlagen, er stirbt als guter Sozialist. Lemke: Materialy dlja biografii 219.

94  Revolutionäre Zirkel der 1860er Jahre der Vorwürfe an Herzen lautete, dass jener nicht bereit zur »Selbstaufopferung« gewesen sei. Insbesondere Serno-Solov’evič arbeitete dabei mit starken Kontrasten: Während die sozialistischen Opfer der monarchischen Willkür als »Märtyrer«165 überhöht wurden, wurden die Feinde (»all diese Schweinehunde, all diese Kadaver aus den Latrinen (vsja ėta svoloč, vsja ėta padal’ iz otchožich mest)«166 dehumanisiert. Dieser Strategie sollte in der terroristischen Bewegung eine wichtige Aufgabe zukommen. Das Ideal der Authentizität favorisierte spontanes, aktionistisches Handeln und eine möglichst enge Zusammenführung von »Wort und Tat«. Dieses Ideal versuchten die šestidesjatniki umzusetzen. Serno-Solov’evič etwa widmete sich auf Kosten der eigenen Gesundheit einer intensiven Propaganda- und Organisationstätigkeit, die über Wochen hinweg mit akutem Schlafmangel verbunden war, was schließlich zu seinem rapiden gesundheitlichen Verfall beigetragen haben mag.167 Zaičnevskij, Karakozov, Išutin, Uspenskij, Nečaev und Aleksandr SernoSolov’evič können hier stellvertretend für eine ganze Reihe von jungen, radikal eingestellten Menschen stehen, die in den 1860er Jahre auf die politische Bühne getreten waren. Sie wollten sich nicht länger mit dem Abfassen von sozialkritischen Texten begnügen, sondern aktiv am politischen Geschehen teilnehmen und den Gang der Geschichte mitgestalten. Sie teilten die sozialistischen Ideen ihrer Vorgänger und waren doch weitaus kompromissloser, in erster Linie sich selbst gegenüber: Der Bereitschaft, das eigene Leben und Trachten einem einzigen Ziel unterzuordnen und dabei auch Freundschaften und Verwandschaftsbeziehungen aufs Spiel zu setzen, kam in ihrem normativen Denken eine weitaus größere Bedeutung zu. Das »Private« sollte dem Primat der Revolution untergeordnet werden. Anders als Aleksandr Herzen diskutierten sie intensiv die Möglichkeit, terroristische Mittel einzusetzen. Herzen war in seiner persönlichen Entwicklung zu einer kritischen Sicht auf teleologische Geschichtskonzeptionen gekommen. Noch wenige Monate vor seinem Tod bedauerte er, dass der Sozialismus immer noch keine wissenschaftliche Fundierung erhalten 165 Koz’min, Boris: Aleksandr Serno-Solov’evič. Materialy dlja biografii. In: Vinogradov, Viktor (Hg.): Revoljucionnye demokraty. Novye materialy [= Literaturnoe nasledstvo. Bd. 67]. Moskau 1959, 698–740, hier 709. 166 Ebd. 709–710. Serno-Solov’evič hatte dabei Menschen wie den Herausgeber der Moskovskie vedomosti Michail Katkov, der zusammen mit Leont’ev dem Blatt eine konservative Ausrichtung verlieh, vor Augen. 167 Miller: The Russian Revolutionary Emigres 140. In der zweiten Hälfte der 1860er Jahren zeigten sich bei ihm Symptome einer schweren psychischen Krankheit, die offenbar mit einem Realitätsverlust einherging. Am 4. August 1869 nahm er sich während einer Remissionsphase in einer Nervenanstalt das Leben. Seinen Selbstmord begründete Serno-Solov’evič mit der Unmöglichkeit, auch weiterhin in vollem Umfang über seine geistigen Fähigkeiten zu verfügen.

Schlussbetrachtungen    95

habe, sondern eine »Religion«168 geblieben sei. Anders als der sogenannte Vater des russischen Sozialismus scheint ein Großteil der russischen Revolutionäre die Vorstellungen verinnerlicht zu haben, dass am Ende der kapitalistischen Geschichte die »Befreiung« der Menschheit und die harmonische Zusammenführung von Vernunft und Gefühl sowie die Versöhnung des Individuellen und Kollektiven stehe, worauf nicht zuletzt die gegen Ende des Jahrzehnts bereits weit verbreitetet gewesenen Ausdrücke wie »Reich des Sozialismus« oder »heilige Sache« der Revolution anspielten.

168 Hier zit. n. Kelly: The Discovery of Chance 525.

4. Friedliche Propaganda und individueller Terror. Die Revolutionäre der 1870er Jahre 4.1 Der »Gang ins Volk« Mitte der 1870er Jahre strömten junge Männer und Frauen unter der Losung »Ins Volk!« aufs Land, um, wie der narodnik Aleksej Teplov im Jahre 1890 über diesen Abschnitt seines Lebens schrieb, »unter den einfachen Menschen zu leben, ihr Leben zu leben, mit ihnen zu arbeiten und ihnen die Wahrheit zu verkünden«1. Der »Gang ins Volk« begann im Herbst 1873 und nahm im Sommer 1874 einen Massencharakter an. Er hatte weder ein einheitliches Programm noch war er zentral organisiert. Doch die ideologischen Differenzen verschwammen, wie schon die sowjetische Forschung festgestellt hat, im Zuge der Arbeit »im Volk«: Alle Aktivisten legten ihre revolutionären Hoffnungen auf die Bauernschaft und betrachteten – im Gegensatz zu den Liberalen – die Erringung politischer Freiheiten als nebensächlich oder gar gefährlich, da dadurch die besitzenden Klassen gestärkt werden könnten.2 Einige der Teilnehmer grenzten sich bewusst von Nečaev und von der »nečaevščina« ab. Im Zirkel der čajkovcy beispielsweise, der einen wesentlichen Beitrag zum »Gang ins Volk« geleistet hatte, wurde die vertikale Hierarchie des Nečaevzirkels abgelehnt und eine vertikale Struktur favorisiert. Frauen und Männer sollten dabei vollkommen gleichberechtigt sein.3 Ideologisch war die Bewegung nicht homogen. Ein Teil der Radikalen war stärker von Bakunin, einem frühen Ideologen des Anarchismus, beeinflusst. Dieser proklamierte in Übereinstimmung mit anderen dem narodničestvo nahe stehenden Denkern, dass der russische Bauer von Natur aus sozialistisch veranlagt sei und die Dorfkommune (obščina) dazu bestimmt sei, eine Keimzelle der neuen sozialistischen Gesellschaft zu bilden. Jetzt müsse die revolutionäre Energie der 1 »Tak razmyšljaja [unls.] svoeju objazannost’ju žit’ meždu prostymi ljud’mi, žit’ ich žizn’ju, rabotat’ s nimi i povedat’ im vsju pravdu. Vot ja i otpravilsja v narod, žil i rabotal s nim, no k nesčast’ju nedolgo – ja byl arestovan.« GA RF f. 1721, o. 1, d. 1, l. 1. Zu dieser Zeit befand sich Teplov in französischer Untersuchungshaft. Ihm wurde vorgeworfen, eine Bombenwerkstatt gegründet zu haben. Die zitierte Stelle stammt aus seinen Notizen, die er offensichtlich zu seiner Verteidigung verwenden wollte. Das Gericht verurteilte Teplov zu drei Jahren Haft. 2 Itenberg, Boris: Dviženie revoljucionnogo narodničestva. Narodničeskie kružki i ›choždenie v narod‹ v 70-ch godach XIX v. Moskau 1965, 415–417. 3 Rindlisbacher: Leben für die Sache 91.

98  Friedliche Propaganda und individueller Terror Bauernschaft nur noch kanalisiert werden, dann werde der »Volksaufstand« den Staat als solchen hinwegfegen und einer auf Assoziationen beruhenden, neuen Gesellschaft den Weg ebnen.4 Ein anderer Teil der Revolutionäre stand unter dem Einfluss von Lavrov und glaubte nicht so sehr an die Möglichkeit eines sofortigen Aufstandes. Vielmehr sollte das Land mittels kontinuierlicher Propaganda auf die Revolution vorbereitet werden. Als eine maßgebliche Motivationsquelle fungierte die Lavrov’sche Idee der »Bringschuld vor dem Volk«. In seinen extrem einflussreichen »Historischen Briefen« (1868/69) hatte der Adelige die Jugend dazu aufgefordert, mit dem eigenen Beispiel die Welt zu verändern. In Lavrovs Gedankenkonstrukt waren die sich jeweils abwechselnden gesellschaftlichen Formen Antworten auf die natürlichen und kulturellen Bedürfnisse des Menschen. Zum Subjekt des geschichtlichen Fortschritts, der sich in der kritischen Kulturarbeit zeige, erklärte Lavrov die autonom denkende »Persönlichkeit«,5 die sich der eigenen, in den Überzeugungen der Persönlichkeit begründeten Würde und der Würde des Anderen bewusst ist.6 Das Ziel des Fortschritts war die Schaffung gesellschaftlicher Formen, die sowohl den unveränderlichen, natürlichen Bedürfnissen wie Essen, Trinken, sexueller Befriedigung als auch den historisch bedingten adäquat sein würden. Diese Formen würden die harmonische »Vereinigung öffentlicher und privater Interessen«7 und damit die Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung eines jeden einzelnen ermöglichen. Bis dahin jedoch müsste ein entschiedener Kampf gegen das Böse in Form der bestehenden Ordnung geführt werden. »Damit sich die Persönlichkeit nicht einsam fühlt«, hieß es in einer Schlüsselpassage, »muss sie erkennen, dass eine andere Persönlichkeit existiert, die nicht nur versteht, wie schwer sie es hat und warum sie es so schwer hat, sondern auch gegen dieses Böse vorgeht«.8 4 Pelevin, Jurij: ›Choždenie v narod‹ 1874–1875 gg. [Teil 1]. In: Voprosy istorii 4 (2013) 64–97, hier 64. Zu den weiteren, etwas weniger wichtigen und hier deshalb vernachlässigbaren, ideologiegeschichtlichen Einflüssen auf den ›Gang ins Volk‹ siehe Itenberg: Dviženie revoljucionnogo narodničestva 92–128. 5 Im Abschnitt »Die Erhabenheit des Fortschritts in der Menschheit« schrieb Lavrov: »Die Entwicklung der Persönlichkeit in intellektueller Hinsicht ist nur dann fest, wenn die Persönlichkeit in sich selbst das Bedürfnis nach einer kritischen Sicht auf alles herausgearbeitet hat […].« Lavrov: Istoričeskie pis’ma 55. 6 Ebd. 56. 7 Ebd. 98. 8 »Čtoby ličnost’ počustovala sebja ne odinokoju, nado, čtoby ona uznala, čto est’ drugaja ličnost’, ne tol’ko ponimajuščaja, kak ej tjaželo i počemu tak tjaželo, no i dejstvujaščaja p ­ rotiv ėtogo zla.« Ebd. 121. Der geneigte Leser war natürlich an Černyševskij erinnert, der erst in der Gemeinschaft der einzelnen herausragenden Persönlichkeiten die Geburt des »neuen Menschen« ersonnen hatte: »Nedavono zarodilsja u nas ėtot tip. Prežde byli t­ ol’ko ­otdel’nye ličnosti, predveščavšie ego; oni byli isključenijami i, kak isključenija, čuvstvovali sebja odinokimi, bessil’nymi […]«. Černyševskij, Nikolaj: Čto delat’? Iz rasskazov o novych ljudjach (žurnal’naja redakcija). In: Lebedev-Poljanskij, Pavel (Hg.): N. G. Černyševskij. ­Polnoe sobranie sočinenij v pjatnadcati tomach. Bd. 11. Moskau 1939, 5–336, hier 144.

Der »Gang ins Volk«    99

Das Dilemma, welches sich Lavrov dabei stellte, bestand darin, dass kritische Kulturarbeit allein ganz offensichtlich unzureichend war, um einen Koloss wie die Autokratie zu stürzen. Es bedurfte nicht nur radikaler Methoden, sondern auch einer radikalen Geisteshaltung: Um den Kampf überhaupt gewinnen zu können, hieß es im achten Brief, bedürfe es »energischer, fanatischer Menschen, die alles riskieren und bereit sind, alles zu opfern«. Es brauche »Märtyrer, deren Legende ihre eigene wahre Würde, ihre eigentliche Leistung bei weitem übersteigen würde«9. Dabei sei es zulässig, keine Opfer zu zählen, ja selbst die Worte der »Märtyrer« dürften der effektiveren Propaganda willen frei erdichtet werden. Erst nach dem Ablauf der Zeit der »heroischen Persönlichkeiten und fanatischen Märtyrer«10 komme wieder eine ruhigere Phase der Kritik und der systematischen Arbeit. In der Praxis bedeutete dies so etwas wie eine »Mythisierung«11 der Revolution und der Revolutionsbewegung durch Rekurs auf Martyriumsvorstellungen, die aus religiösen Zusammenhängen dekontextualisiert und im neuen, sozialistischen Kontext aktualisiert wurden. Auch wenn die Phase der »Helden« und »Märtyrer« zeitlich begrenzt sein sollte: Zwischen der Forderung nach einem »kritischen Denken« auf der einen Seite und einem »Fanatismus« sowie einer die »eigentliche Leistung« der Persönlichkeit übersteigenden Legendenbildung auf der anderen lag ein grober und offensichtlicher Widerspruch. Dieser dürfte jedoch den an Černyševskij, Dobroljubov und Pisarev geschulten jungen Radikalen kaum aufgefallen sein. Michail Goc, ein später Adept Lavrovs, schrieb so über den überwältigenden Eindruck, den die »Briefe« auf ihn hinterlassen hatten: »Der allmähliche Fortschritt des Denkens, dessen jeder Schritt durch den Leidenspreis von Millionen erkauft wurde; sein schrecklicher Preis, der zornig mein Gewissen befragte und nach Begleichung verlangte, all dies entsprach so sehr dem Bedürfnis nach dem Guten und dem Opfer. Ich verstand, warum der Wunsch nach persönlichem Glück, sogar dem raffiniertesten [Glück], haarsträubend unmoralisch ist, solange wir nicht unsere Bringschuld begleichen.«12 9 »Nužny ėnergičnye, fanatičeskie ljudi, riskujuščie vsem i gotovye žertvovat’ vsem. Nužny mučenniki, legenda kotorych pererosla by daleko ich istinnoe dostoinstvo, ich dejstvitel’nuju zaslugu.« Lavrov: Istoričeskie pis’ma 121. Märtyrer werden Lavrov zufolge in unterschiedlichen Epochen immer wieder hervorgebracht. Sie erfüllen eine positive Funktion. 10 Ebd. 122. 11 Dieser Arbeit liegt kein normativer Mythosbegriff zugrunde. Mit »Mythisierung« sollen lediglich die propagandistische Überhöhung und die damit zusammenhängende Vereinfachung bestimmter Phänomene gemeint sein. Damit wurde ihre Attraktivität gesteigert und die »expressivistische« Einheit von Vernunft und Gefühl unterstrichen. 12 »Postepennyj progress mysli, každyj šag kotorogo pokupalsja cenoj stradanij millionov; užasnaja cennost’ ego, grozno stavšaja pered sovest’ju i potrebovšaja uplaty, – vsë ėto tak sootvetstvovalo potrebnosti dobra i žertvy. Ja ponjal, počemu mysl’ o ličnom sčast’e, daže samom utončënnom, vozmutitel’no beznravstvenna, poka my ne raskvitaemsja s našim ­nepomernym dolgom.« GA RF f. 6243, o. 1, d. 1, l. 152.

100  Friedliche Propaganda und individueller Terror Bedenkt man die Geschichte revolutionärer Selbstentwürfe und ihrer engen Verflochtenheit mit Martyriumsvorstellungen wird verständlich, warum ­Lavrovs Hoffnung in Erfüllung ging und die Radikalen sich der »Trunkenheit des Opfers«13, um ein weiteres von Goc verwendetes Bild zu gebrauchen, hingaben. »Alle, die eine lebendige Seele besaßen«, schrieb der ehemalige Teilnehmer am »Gang ins Volk« Aleksandr Lukaševič mit Verweis auf Stepnjak-Kravčinskij, »verließen das eigene Haus… die Familie, gaben sich hin der Bewegung mit dem entzückten Enthusiasmus, der dem glühenden Glauben, der keine Hindernisse kennt, keine Opfer zählt.«14 Die zitierte Stelle konnotierte natürlich die Entzweiung um Jesu willen (Mt 10, 37–38; Lk 14, 26–27) und war Teil des »Selbstmythisierungsprogramms«15 der Revolutionäre. Die unmittelbare Gleichzeitigkeit des aus den »Tiefen« entspringenden Fanatismus und bewusster, die »Wirklichkeit« verschleiernder Legendenbildung ließ die Grenzen zwischen Propaganda und Aufrichtigkeit verschwimmen. Im Kampf um das »Reich der gemeinsamen Arbeit«16 (Lavrov) sollte Propaganda aufrichtig sein und »Wirklichkeit« propagandistisch überhöht werden, eine Tradition, die – ins Groteske übersteigert – im bolschewistischen Russland (zum Beispiel in Form des Sozialistischen Realismus) verheerende Auswirkungen haben sollte. Askese und radikale Selbstbeschränkung Wenn in diesem Buch bislang noch recht unspezifisch von »asketischen« Haltungen gesprochen wurde, so soll jetzt der Begriff der »Askese« präzisiert werden. Zunächst einmal ist festzustellen, dass es den Asketismus nicht gibt, sondern 13 »Ja byl v kakom-to upoenii žertvy, no ėto ne bylo upoenie molodečestva, ovladevšee pri čtenii statej Pisareva, ne ljubovanie svoim blagorodstvom, čuvstvovalos’, čto rešaetsja sliškom važnyj vopros, čto ustanavlivajutsja osnovnye načala dlja vsej buduščej moral’noj žizni.« Ebd. An anderer Stelle bezeichnet Goc die Historischen Briefe gar als »Evangelium des Sozialismus«. Siehe ebd. 154. 14 »Vse, v kom byla živaja duša ostavljali ›rodnoj krov… sem’ju, otdavalis’ dviženiju s tem vostoržennym ėntuziazmom, s toj gorjačej veroj, kotoraja ne znaet prepjatstvij, ne merjaet žertv‹ […]«. Lukaševič, Aleksandr: V narod! (Iz vospominanij semidesjatnika). In: Byloe 3 (1907) 1–45, hier 20. Die Stelle ist ein gekürztes Zitat aus Kravčinskijs »Klassiker« – Das Untergrundrussland. Siehe Stepnjak, S. [= Kravčinskij, Sergej]: Podpol’naja Rossija. 2. Auflage. St. Petersburg 1906, 18. 15 Weder der »Gang ins Volk« noch die Propagandakampagnen jener Jahre folgten einem Masterplan. Von einem »Programm« kann deshalb gesprochen werden, weil über die Notwendigkeit der propagandistischen Überhöhung des individuellen »Selbstopfers« ein offensichtlicher Konsens herrschte. Diese Forderung wurde in den Texten solcher Autoren wie Lavrov und Koval’skij offen erhoben und vereinzelt auch in den Selbstzeugnissen der Revolutionäre thematisiert. 16 Lavrov, Pëtr: Social’naja revoljucija i zadači nravstvennosti (Otkrytoe pis’mo molodym). In: Knižnik-Vetrov, Ivan (Hg.): P. L.Lavrov. Filosofija i sociologija. Bd. 2. Moskau 1965, 385–504, hier 499.

Der »Gang ins Volk«    101

es sich vielmehr um ein facettenreiches Phänomen handelt.17 Der Asketismus der Kyniker, um nur ein Vergleichsbeispiel zu bringen, wurde als freie Entscheidung des freien Mannes verstanden und lag somit »im Horizont individueller, gelingensorientierter Lebensführung«, bei der die Grenzen zum Hedonismus fließend gewesen waren. Besitzlosigkeit folgte weniger Vorstellungen von einem »höheren Zweck« als der Vorstellung vom Wert eines von Angst und Gier freien Daseins und entsprach dem Wunsch, frei von »aufsässigen Sklaven und zänkischen Ehefrauen oder anspruchsvollen Hetären«18 zu sein. Erst mit dem Christentum, das heißt unter dem Einfluss des heilsgeschichtlichen Denkens, entsteht eine Form der Askese, die Besitzlosigkeit, sexuelle Enthaltsamkeit und Praktiken des Fastens innerhalb eines teleologischen Heilsnarrativs verortet. Diese Kultur entwickelte schließlich »Verfahren der Selbstbeobachtung, der rechnerischen Bilanzierung, der doppelten Buchführung von Sünde und Buße, von Heil und Wohl, Vertrauen in die vielfach vermittelte Kompetenz von Experten und deren exemplarische, gleichsam stellvertretende Lebensführung als religiöse Virtuosen […]«.19

Anders als die spezifischen asketischen Praktiken einzelner Mönchsorden gewinnen die hier aufgezählten Verfahren auch außerhalb des »höheren Lebens« geistlicher Eliten an Bedeutung und führen schließlich zu Formern »innerweltliche[r] Askese«20 wie Diäten und Fitnessprogrammen, mit derer Hilfe Individuen in modernen Massengesellschaften »ihr Selbst [zu] erhalten«21 versuchen. Askese ist keinesfalls ein Proprium christlicher Lebensführung. Das Spezifische an christlichen asketischen Praktiken ist jedoch, dass sie  – zumindest theologisch betrachtet  – nicht für sich stehen, sondern einem »höheren Zweck« zu unterliegen scheinen. Christliche Askese markiert, wie Kallistos Ware schreibt, »nicht einfach ein egoistisches Streben nach individueller Errettung, sondern einen an der gesamten menschlichen Familie erbrachten Dienst«22. Anders als bei heute verbreitete Diäten, Fasten- und Fitnesskuren, scheint ihr vielmehr die Entkoppelung von Handeln und Entlohnung eingeschrieben zu 17 Batten, Alicia: An Asceticism of Resistance in James. In: Leif, Vaage / Wimbush, Vincent (Hg.): Asceticism and the New Testament. New York 1999, 355–370, hier 355. 18 Beide Zitate nach Volz, Fritz Rüdiger: ›Freiwillige Armut‹ – Zum Zusammenhang von Askese und Besitzlosigkeit. In: Huster, Ernst-Ulrich u. a. (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. 2. überarb. u. erw. Auflage. Wiesbaden 2012, 199–213, hier 202. 19 Ebd. 210. 20 Ebd. 21 Ebd. 211. 22 »[A]skesis signifies not simply  a selfish quest for individual salvation but  a service rendered to the total human family […].« So Kallistos Ware, Professor für orthodoxe Studien an der Oxford University, über christliche Askese. Hier zitiert nach Batten: An Asceticism of Resistance in James 356.

102  Friedliche Propaganda und individueller Terror sein.23 Dieser zentrale Gedanke wurde in den christlich geprägten Kulturen auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht. Bei Basilius von Caesarea heißt es zum Beispiel, dass der »ewige Friede«24 dem Menschen nicht als Lohn für die eigenen Verdienste geschenkt wird, sondern alleine als Gnade Gottes. Auf ein mit dieser christlichen Einstellungen verbundenes Paradoxon stoßen wir bei Johannes Chrysostomos: »Dir ist es auferlegt, Gottgefälliges zu vollbringen und Du stehst herum mit der Hoffnung auf Entlohnung? […] Weißt du denn nicht, dass ein höherer Lohn auf dich wartet, wenn du das Richtige vollbringst, ohne auf Entlohnungen zu hoffen?«25 Im 1823 herausgegebenen und bis zum Ende des Zarenreichs aufgelegten, weit verbreiteten Lehrbuch Christlich-orthodoxe Grundlehre wurde im Katechismus-Abschnitt darauf hingewiesen, dass der fromme Christ sich nicht unnötig über sein materielles Wohl sorgen solle und sich die vierte Bitte des Vaterunsers lediglich auf das beziehe, »was nötig ist, um zu existieren (čto neobchodimo, daby suščestvovat’)«26. In der orthodoxen Literatur der Vorkriegszeit konnte diese Eigenart der christlichen Ethik auch mit Verweis auf Mt 6,25 artikuliert werden, wie etwa in einem Lehrbuch von 1914: »Sorgt euch nicht, lehrte Jesus Christus, was ihr essen und trinken und anziehen werdet. […] Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen (das heißt, versucht gerecht und gutherzig zu sein, dann wird euch Gott selbst das Nötigste zum Leben geben)«27. 23 Friedrich Graf zu diesem zentralen Punkt christlicher Ethiken: »Die Besonderheit von hochentwickelten religiösen – im Unterschied zu rein innerweltlichen, säkularen – Ethiken liegt jedoch darin, dass der ethische Verpflichtungsgehalt nicht erfolgsbezogen definiert wird: das Handeln und die Prämien des Handelns lassen sich entkoppeln. Religiöse Ethik ist dann erfolgsunabhängig. Der Fromme folgt dem Gebot Gottes nicht um des Erfolgs willen, sondern handelt allein mit der Intention, dem absolut bindenden Gotteswillen Genüge zu tun. Im radikalen Fall vertraut er Gott so sehr, dass er gar nicht fragt, ob sein ›jenseitiges‹ Schicksal verdient ist oder nicht«. Graf, Friedrich Wilhelm: Die Wiederkehr der Gotter. Religion in der modernen Kultur. München 2004, 112. 24 »[…] Večnyj pokoj predstoit tem, kotorye v zdešnej žizni zakonno podvizalis’,  – pokoj, no ne po zasluge del vozdavaemyj, no po blagodati velikodarovitogo Boga daruemyj upovavšim na Nego.« Tvorenija iže vo svjatych otca našego Vasilija Velikogo, archiepiskopa Kesarii Kappadokijskoj. Bd. 54. Sergiev Posad 1900, 343. 25 »Čto govoriš ty, malodušnyj i žalkij čelovek? Tebe nadležit sdelat’ nečto ugodnoe Bogu, a ty stoiš s zabotoju o nagrade? […] Razve ty ne znaeš’, čto nagrada tebe budet bol’še, kogda ty staneš’ delat’ dolžnoe, ne nadejas’ na nagradu?« Tvorenija svjatogo otca našego ­Ioanna Zlatousta, archiepiskopa Konstantinopol’skogo, v russkom perevode. Bd. 1. St. Petersburg 1898, 162. 26 Načatki christianskogo pravoslavnogo učenija. Kiew 1891, 111. 27 »Ne zabot’tes’, učil Iisus Christos o tom, čto vam est’ i pit’, i vo čto odet’sja. […] Iščite že prežde carstva Božija i pravdy Ego, i ėto vsë priložitsja vam (to est’ starajtes’ byt’ pravdivymi i milostivymi, togda Bog podast vam vse nužnoe dlja žizni). Zit. n. Sokolov, Dmitrij: Zakon Božij. Načal’noe nastavlenie v pravoslavnoj christianskoj vere [= Photooffset from the 102nd Edition 1914]. Montreal 1974.

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Nun waren die Teilnehmer am »Gang ins Volk« Teil dieser christlich gepräg­ ten Kultur. Der überwiegende Teil der semidesjatniki (Generation der 1870er Jahre) kam aus religiösen Familien und war mit der in den Sonntagsschulen vermittelten Disziplin »Gesetz Gottes« vertraut. Im Kampf um das »Reich des Guten und der Wahrheit«28 scheinen die Radikalen sich den zentralen Gedanken der Entkoppelung von Handeln und Entlohnung angeeignet und ihn transformiert zu haben. Selbstbeschränkung hing direkt mit dem teleologischen Denken der Revolution zusammen, unterlag in diesem Sinne einem »höheren Zweck« und war Ausdruck der Vorstellung, dass das Leben für die Revolution eine »höhere« Lebensform darstelle als das »gewöhnliche Leben« des »Philisters (obyvatel’)«. Der »wahre« Revolutionär sollte sich der »Idee des Dienstes am Volk« unterordnen können und »jederzeit« bereit sein, »sich aufzuopfern«29. Zugleich war die Art und Weise, wie Selbstbeschränkung praktiziert und artikuliert wurde, von der asketischen Tradition beeinflusst. Da sich der »Aske­ tismus« der russländischen revolutionären Intelligenzija trotz dieser genealogisch bedingten Gemeinsamkeiten in vielerlei Hinsicht von seinem christlichem »Prototypen« unterschied, will ich im Weiteren nicht von asketischen Praktiken, sondern von Praktiken radikaler Selbstbeherrschung sprechen. In revolutionären Zirkeln folgten solche Praktiken keinen festen Regeln, es bestand kein allgemeiner Zwang zu ihrer Durchführung, sie konnten kritisiert, abgelehnt und von den einzelnen wieder aufgegeben werden. Auch die Übergänge zwischen pragmatischer Selbstbeschränkung (etwa im Fall geringer finanzieller Möglichkeiten oder dann, wenn etwa durch Fasten die Loyalität heterodoxer religiöser Gruppen gewonnen werden sollte) und freiwilliger, durch keine »äußeren« Umstände erzwungener Selbstbeschränkung scheinen teilweise fließend gewesen zu sein. Die Artikulation radikaler Selbstbeschränkung unterlag  – anders als im Falle christlicher Askese – nicht den Anforderungen einer Demutsethik.30 28 »Vse studenty-socialisty položitel’no byli uvereny, čto skoro idei socializma budut provedeny v žizn’ i čto vot-vot nastupit carstvo dobra i istiny. Ja gluboko veril v ėto i ni ot kogo ne slychal vozraženija.« So Dmitrij Bucinskij über die Erwartungen der 1870er Jahre. Hier zit. n. Sedov, Michail: Geroičeskij period revoljucionnogo narodničestva. Moskau 1966, 87. 29 So Adrian Michajlov über den semidesjatnik und Terroristen Aleksandr Solov’ëv. Die Rede ist von der Phase im Leben Solov’ëvs, als jener bereits mit dem orthodoxen Glauben gebrochen hatte und sich darauf vorbereitete, als Propagandist »im Volk« zu wirken. »V ėto vremja [zwischen 1876 und 1877, d. Verf.] on byl vpolne složivšijsja čelovek: bezzavetno i bezrazdel’no predannyj idee služenija narodu, gotovyj v ljuboj moment prinesti sebja v žertvu, no skromnyj i neuverennyj v sebe i svoich silach.« Michajlov, Adrian: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 251–279, hier 260. 30 »Bescheidenheit« war keine verbindliche revolutionäre Tugend. Vgl. Fußnote 29. »Demut (smirenie)« wurde in der Regel als ein religiöses Relikt betrachtet und mit politischer Unterwürfigkeit gleichgesetzt.

104  Friedliche Propaganda und individueller Terror Letzteres hätte keinen Platz für das »Selbstmythisierungsprogramm« der Revolutionsbewegung gelassen. Praktiken radikaler Selbstbeschränkung In einigen wenigen Fällen fanden die Memoiristen eine distanzierte Haltung zu ihrem Lebenswandel in den 1870er Jahren. Mit viel Selbstironie schrieb der narodnik-Veteran Lukaševič über seinen »bis zur Komik (do komizma)« reichenden jugendlichen »Rigorismus«31. So soll er sich beispielsweise mit vollem Ernst an Diskussionen beteiligt haben, ob es für einen Intelligenzler, der sein altes Leben hinter sich gelassen und ein neues Leben »im Volk« begonnen habe, überhaupt erlaubt sei, Süßes oder andere wohlschmeckende Speisen zu essen. Im Raum soll die Frage gestanden haben, ob ein solches Vorgehen nicht als ein Akt der Schwäche verstanden werden müsse, als ein Akt der »unverzeihlichen Abtrünnigkeit« vom »Gelübde, dass ein jeder von uns in der Tiefe seiner Seele ohne jegliche äußere Feierlichkeit sich gegeben hatte  – das Gelübde, mit der Zivilisation zu brechen«32. Dem gealterten Lukaševič war die Diskrepanz zwischen dem spezifischen Autonomiedenken seiner Generation, das religiöse Begründungen politischen Handelns grundsätzliche ablehnte, und der Idee der »heiligen Pflicht«33, wie er sich an anderer Stelle äußerte, offensichtlich. So schrieb er ironisch über die »Versuchungen« jener Zeit: »Und einmal dachte sich der ›Teufel‹, als wir auf einem Steinhaufen am Wegesrand saßen, uns mit verführerischen Erscheinungen zu versuchen: Heringe… und er siegte!«34 Der Verzicht auf Heringe diente in diesem Fall weniger der Selbstdisziplinierung und muss eher als Ausdruck religiöser Imprägnierung der von den semidesjatniki praktizierten radikalen Selbstbeschränkung verstanden werden. Das authentische, das heißt hier – in Übereinstimmung mit dem eigenen, »tiefen« Wunsch nach »Selbstaufopferung« geführte, Leben, das sich somit an das vermeintlich »natürliche« Leben des »einfachen Volkes« anpassen sollte, folgte in Teilen Mustern, die den semidesjatniki aus Heiligenviten oder dem Unterricht in der Sonntagsschule bekannt sein musste. Lukaševič und seinen Genossen soll damals 31 Lukaševič: V narod! 15. 32 »Na minutu my ne šutja zadumalis’ bylo eščë nad voprosom, ne budet li ėto projavleniem slabosti, neprostitel’nym otstupleniem… Stavja ėtot vopros, my imeli v vidu obet, kotoryj každyj iz nas v glubine duši i bez vsjakoj pokaznoj toržestvennosti daval samomu sebe – obet porvat’ s civilizaciej.« Ebd. 33 So schrieb er über die Radikale Aleksandra Obodovskaja, dass diese »mit einem außergewöhnlichen, fast schon religiösen Enthusiasmus zu unserer Mission stand und mit uns allen, ›die da versammelt waren und sich darauf vorbereiteten, die heilige Pflicht zu erfüllen‹, heiß, innig sympathisierte«. Ebd. 13. 34 »I vot, ›lukavyj‹ vzdumal odnaždy, vo vremja privala na kuče kamnej u dorogi, iskušat’ nas soblaznitel’nym videniem selëdki… i on pebedil.« Ebd. 16.

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folgende unweigerlich komisch wirkende Überlegung aus dem Hering-Dilemma herausgeholfen haben: »›Wenn der Hering in ärmlichen Läden verkauft wird und das in großer Zahl auf allen Märkten‹, so ungefähr dachten wir, ›dann wird er, offensichtlich, nicht von der Aristokratie gekauft. Ergo, das Volk isst manchmal Heringe, – also können auch wir sie hin und wieder essen‹.«35

Ein weiteres Beispiel für nicht pragmatisch bedingte Praktiken radikaler Selbst­ beschränkung findet sich in den Erinnerungen des Deutschrussen Lev H ­ artman (Lev Gartman). Anfang 1876 kam der zemstvo-Lehrer in Kontakt mit zwei Radikalen, dem Priestersohn Aleksej Emel’janov, der später unter dem Pseudonym Bogoljubov bekannt werden sollte, und dem heute vergessenem N.  Moščenkov. Die drei gründeten in Taganrog einen sozialistischen Lesezirkel, der jedoch nicht lange Bestand hatte, da Hartman Taganrog verließ, um sich der Revolutions­bewegung anzuschließen. Im Oktober 1867 ging er »ins Volk« und schloss sich 1879 nach anfänglichen Zweifeln dem terroristischen Flügel der Revolutionsbewegung an.36 Während seiner Vorbereitungsphase in Taganrog las Hartman die üblichen Autoren, die bei damaligen Radikalen beliebt waren: Lavrov, P ­ isarev, Dobroljubov, Spielhagen, Černyševskijs »Was tun?«, Reden von L ­ assalle und sogar das »Kapital« von Karl Marx, auch wenn Letzteres, wie Hartman bemerkt, für viele schwer verständlich war. Zugleich verging kein Abend ohne agitierende Reden, die »zum Kampf mit dem Despotismus (k bor’be s despotizmom)«37 aufriefen, sowie Revolutions- und Kosakenlieder. Diese geistige Atmosphäre prägte auch das Handeln der jungen Radikalen. Obwohl die Gruppe über »ausreichend Geld« verfügt habe, da der Adelige Tiščenko über seinen Vater, einen Ratsbeamten, monatliche Zahlungen erhielt und auch Hartman selbst als Lehrer des zemstvo »gut verdient«38 habe, galten elementarste Dinge, wie die Reparatur beschädigter Kleidungsstücken als unbedeutend oder vernachlässigbar. So habe es eine Zeit gegeben, in der für die sechs Mitbewohner nur zwei Paar Stiefel zur Verfügung standen, sodass nur zwei Mitbewohner die 35 » ›Esli selëdki prodajutsja v ubogich lavčënkach i v bol’šych količestvach na vsech ­bazarach, tak priblizitel’no rassuždali my, – to, očevdino, ich pokupaet ne aristokratija. Ergo, narod inogda est ich, – a potomu možno est’ izredka i nam‹.« Ebd. 36 Šilov, M. / Karnauchova, A. (Hg.): Dejateli revoljucionnogo dviženija v  Rossii. Bd. 3, Teil 2 [= Fotomechanicher Neudruck der Originalausgabe von 1934]. Leipzig 1974, 734–735. 37 Iz vospominanij L’va Gartmana. In: Byloe 3 (1903) 180–187, hier 180. 38 Der Großteil der Geldressourcen musste wohl von Tiščenko kommen, denn in den 1870er Jahren verdiente ein zemstvo-Lehrer im besten Fall zwischen 120 und 200 Rubel im Jahr. Dies war wesentlich weniger als der Durchschnittslohn eines Gymnasiallehrers und vergleichbar mit dem Durchschnittsjahreslohn eines Industriearbeiters, wobei die Wochenarbeitszeit des zemstvo-Lehrers nie an die eines Durchschnittsarbeiters herankam. Vgl. ­Šipilov, Andrej / Filonenko, T.: Material’noe položenie učitelej v dorevoljucionnoj Rossii. In: Pedagogika 7 (2004) 65–75, hier 70.

106  Friedliche Propaganda und individueller Terror Mietwohnung gleichzeitig verlassen konnten. Auch jeglicher Komfort wurde vermieden, was eindeutig Züge einer radikalen Selbstbeschränkung im Geiste eines Rachmetovs annahm: Geschlafen wurde auf Zeitungen, gegessen wurden ausschließlich monotone und einfache Speisen.39 Auch der bekannte Radikale Nikolaj M ­ orozov soll mit dem Ziel der Selbstdisziplinierung der Rachmetov’schen radikalen Selbstbeschränkung nachgeeifert haben: So soll er im Winter 1874 sein Zimmer bewusst nicht geheizt haben, um seinen Willen durch das Erleiden extremer Kälte zu stärken. Gegenüber Vera Figner soll er außerdem geklagt haben, dass er eine Schwäche für Obst habe und sich davon schwer lösen könne.40 Auch das Liebesleben der jungen Radikalen musste sich dem Primat der Revolution fügen. Obwohl die politisch-sexuellen Ideale der 1860er ihre Anziehungskraft noch nicht ganz verloren hatten, wurden Praktiken radikaler Selbstbeschränkung auf die eigene Sexualität übertragen. »Was für ein ›Privatleben‹«, fragte Jahrzehnte später der 1861 geborene Ivan Majnov im Zusammenhang mit dem Liebesleben der semidesjatniki, »konnte ein zwanzigjähriger Jüngling, der vollkommen vom ideologischen Enthusiasmus ergriffen und verschlossen für alle Alltagssorgen gewesen war, haben?«41 Narrativ der Entbehrung und des Verzichts Die in den 1870er, insbesondere während des »Gangs ins Volk« erprobten Praktiken radikaler Selbstbeschränkung lassen sich anhand der in den 1870er Jahren entstandenen Quellen und der Erinnerungsliteratur des frühen 20. Jahrhundert gut rekonstruieren. Ein Teil der Memoiristen hatte über die Jahre hinweg eine Distanz zu ihrem Alter Ego aufgebaut und kommentierte deshalb die religiöse Imprägnierung der Bewegung mit einer gewissen Ironie. Ein anderer, politisch aktiver Teil folgte auch weiterhin dem bereits ausführlich besprochenen »Selbstmythisierungsprogramms«, das keine klare Trennung zwischen »inneren« Überzeugungen und deren propagandistischer Überzeichnung erlaubte. Diese Memoiristen verwendeten ähnliche rethorische Strategien wie in den 1870er Jahren, dramatisierten ihre eigenen Erlebnisse, überzeichneten sie hyperbolisch und verklärten sie mit Hilfe religiös konnotierter Ausdrücke. Beide Sichtweisen auf die 1870er Jahre erlauben es, den moralischen Rahmen mehr oder weniger adäquat zu rekonstruieren. Was jedoch die politischen Memoiren des 20. Jahrhunderts von den in den 1870er Jahren entstandenen Selbstzeug 39 Iz vospominanij L’va Gartmana 180. 40 Kan, Grigorij: Idejnye ›eretiki‹ ›Narodnoj voli‹. In: Morozov, Konstantin (Hg.): Individual’nyj političeskij terror v Rossii. XIX – načalo XX v. Moskau 1996, 24–32, hier 26. 41 »Kakaja ›ličnaja žizn‹ mogla byt’ u dvadcatiletnego junoši, vsecelo ochvačennogo idejnym ėntuziazmom i čuždogo vsjakich žitejskich zabot.« Saratovec [= Majnov, Ivan]: ­Saratovskij semidesjatnik. In: Minuvšie gody 3 (1908) 171–207, hier 186.

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nissen unterscheidet, ist die Tatsache, dass ihre Verfasser den größten Teil ihres Lebens hinter sich hatten und nun die Möglichkeit bekamen, mit Hilfe eines Narrativs der Entbehrung und des Verzichts dem eigenen (vergangenen) Leben nachträglich einen Sinn zu verleihen. Im ersten Teil dieses Unterkapitels werden die 1870er Jahre behandelt, im zweiten Teil wird die spezifische Situation der Memoiristen des 20. Jahrhunderts analysiert. Erst wenn erkannt wird, welch große Motivationskraft die verinnerlichten säkularen Heils- und Martyriumsvorstellungen sowie die Tugend der radikalen Selbstbeschränkung entfalteten, wird verständlich, warum so viele junge Menschen in die Dörfer gingen und dabei Praktiken radikaler Selbstbeschränkung erprobten. Die Vorbereitungsphase, in der junge Radikale Kommunen auf egalitärer Basis gründeten, sowie der anschließende »Gang ins Volk« gaben der revolutionären Jugend zum ersten Mal die Gelegenheit, ihre spezifischen, durch das Primat der Revolution limitierten, Vorstellungen von Autonomie und Authentizität zu verwirklichen und den Dienst an dem von ihnen verklärten »Volk« zu leisten. Das in nahezu allen Erinnerungen an diese Zeit erwähnte Gefühl der moralischen Erfüllung (selbst der kritische Lukaševič schrieb über das Glück, dass er im Zusammenhang mit der erfüllten »Pflicht« verspürt habe42) war also beides: revolutionäre Propaganda und eine reale Erfahrung, die junge Radikale in den 1870er Jahren machten. Die Möglichkeit, so etwas wie Erfüllung zu erfahren, war durch die gesamte Entwicklung des moralischen Rahmens der Revolution bedingt. Die Kommunen der frühen 1870er Jahre sowie der anschließende »Gang ins Volk« erlaubten es, »die Ideen des Sozialismus im eigenen Leben in die Praxis umzusetzen, ohne im Kreis der Genossen zwischen Meinem und Deinem zu differenzieren und unter Bedingungen lebend, die sogar schlimmer waren als bei den Fabrikarbeitern«43. Diese neuen Erfahrungen und nicht allein die (ohnehin ambivalente)  Bewertung Nečaevs erklärt, warum der terroristische Diskurs in der ersten Hälfte der 1870er Jahre keine Rolle mehr gespielt hatte und warum er nach dem Zusammenbruch des »Gangs ins Volk« mit solcher Begeisterung wieder aufgegriffen und in entsprechende Praktiken übersetzt wurde. So schrieb beispielsweise Michail Popov über einen seiner Mitstreiter, den späteren Terroristen Aleksandr Barannikov, der zur Zeit des »Gangs ins Volk« in einer Schmiede gearbeitet und gelebt hatte: Der ganze Körper dieser »heroischen Natur«44 soll von den dort wimmelnden Wanzen schrecklich entstellt gewesen sein, blutige Schorfe mussten seinen Leib kreuz und quer durchzogen haben. 42 Lukaševič: V narod! 14. 43 »Krome togo, oni [kommuny, d. Verf.] davali vozmožnost’ primenjat’ idei socializma na praktike v svoej ličnoj žizni, ne različaja v krugu tovariščej meždu moim i tvoim i živja v obstanovke ne lučšej, i daže chudšej, čem u zavodskich rabočich.« Kornilova-Moroz: Avtobiografija 210. 44 Popov, Michail: Iz moego revoljucionnogo prošlogo. In: Byloe 5 (1907) 269–305, 286.

108  Friedliche Propaganda und individueller Terror Dennoch sei der Adelige Barannikov überglücklich gewesen, »da er endlich zu einem richtigen Arbeiter geworden war«45. Indem Popov seinen Genossen als eine »heroische Natur« bezeichnete, dessen Tätigkeit also in einen Bezug zum Guten setzte, schrieb er sich auch selber in das kollektive heroische Narrativ der »Befreiungsbewegung« ein; sein 1907 erschienener Text war selbstverständlich eine Werbung für die Errungenschaften der Revolution. Er verwies aber zweifelsohne auf reale Erfahrungen von Glück und Erfüllung, welche die semidesjatniki durch den Übergang zu einem aus ihrer Sicht gelingendem Leben sammeln konnten. Im Falle von Adeligen standen zudem »Reue« und »Erfüllung« sehr oft nah beieinander: »Es gibt Momente im Leben eines jeden Menschen«, schrieb ein ehemaliger narodnik über seine lange Reise in die Verbannung, »die für immer in Erinnerung bleiben. Bis heute kann ich mich sehr gut an jene Gedanken erinnern, die beim Läuten des unaufhörlichen Glöckleins von mir Besitz ergriffen. Mein Gedanke vertiefte sich damals in meine Vergangenheit. Ich erinnerte mich an die glücklichen Kinderjahre. Der Sohn eines wohlhabenden Land­ besitzers genoss alle Segen des Lebens und stellte sich keinerlei Fragen. Und konnte ich mich damals als jemanden vorstellen, der in lederne Fesseln gebunden wird? Von den Kinderjahren flog mein Gedanke plötzlich zu jener Periode meines Lebens, als ich mich mit den Gedanken eines reuigen Adeligen quälte (mučilsja mysljami kajuščegosja dvorjanina). Und ich erhielt neue Kraft und neuen Mut. Fesseln, Einzelhaft – kann denn dieses äußerliche Unglück mit jener Marter verglichen werden, die von innerer Zwietracht mit sich selbst kommt? Und in jener Minute fühlte ich mich, als wäre ich glücklich«46.

Das Motiv der Erfüllung tauchte, wie die zitierte Autobiographie des Michail Goc bereits vermuten ließ, nicht nur in den Texten christlich-orthodox sozialisierter Revolutionäre auf. Auch jüdische Revolutionäre haben ihren Übergang in die Illegalität als eine befreiende Auflösung quälender Identitätskonflikte artikuliert. Berta Kaminskaja, Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns soll ihren Genossen zufolge Schuldgefühle aufgrund ihres »falschen« bourgeoisen Lebenswandels verspürt und den Bruch mit der Familie als Befreiung erlebt haben.47 Mit Ausnahme der Arbeit in der Auslandstypographie des Lavrov’schen 45 »Tem ne menee on čuvstvoval sebja imeninnikom, čto nakonec-to on sdelalsja zapravskim rabočim.« Ebd. Überhaupt hatte harte, physische Arbeit in der Güterchierarchie der Sozialisten einen hohen Stellenwert. Das Reden über Arbeit und Arbeiter konnte sich bis zur Exaltation steigern. So schrieb etwa ein bekannter Bolschewik voller Entzücken: »Welch kraftvolle Organismen, wie angenehm riechen sie doch nach gesundem Arbeiterschweiß«. Steklov, Jurij: Kak ja bežal iz Jakutii (stranička iz vospominanij). In: Minuvšie gody 3 (1908) 59–92, hier 81. 46 Žebunëv: Otravki iz vospominanij 259. 47 Der Bruch mit der Familie war selbstverständlich auch ein fester Bestandteil der revolutionären »Selbstmythologisierung«. Obgleich hier eine große Zahl an Gründen eine Rolle gespielt haben mussten, wurde jener in der Regel auf politikrelevante Aspekte zugespitzt. Der Übergang zum Sozialismus konnte dabei beispielsweise auch als ein Übergang aus einem

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»Vorwärts!« hatte Kaminskaja nie harte physische Arbeit gekannt. Zur Zeit des »Gangs ins Volk« (Ende 1874) meldete sie sich jedoch freiwillig für einen Einsatz in einer Moskauer Webereifabrik. Hier arbeitete sie als Weberin und betrieb nach Möglichkeit sozialistische Propaganda. Nach den Worten ihres Genossen Džabadari magerte Kaminskaja schnell ab, wirkte bleich und erschöpft. Gleichzeitig war sie aber »unglaublich zufrieden und gesprächig«48. Der Nexus von radikaler Selbstbeschränkung und Erfüllung war natürlich programmatischer Natur, dennoch scheint er auf eine reale Erfahrung hinzuweisen, den der Trugschluss der erfolgreichen Selbstverwirklichung vermittelt haben mag.49 Das gleiche Motiv begegnet uns in der autobiographischen Erzählung des Adeligen Pëtr Polivanov. Der Protagonist, ein junger Radikaler, entsagt, an die »unüberwindliche Kraft der Wahrheit« glaubend, der bourgeoisen Welt und geht »ins Volk«, um dort das »Wort der Wahrheit« zu verkünden: »[…] und an diesem gedenkwürdigen Tag, unter dem frischen Eindruck seiner ersten Propaganda-Erfahrung, erfuhr er das Bewusstsein der erfüllten Pflicht. Und Glück, wahnsinniges Glück, vor dem all das, was Menschen gewöhnlich mit diesem Wort bezeichnen, nichts ist, ergriff ihn. Ja, das größte Glück ist es, einer großen Idee zu dienen.«50

Das Besondere an diesem Abschnitt ist, dass hier »Propaganda« der Ausbreitung von »Wahrheit« dient, das heißt, dass zwischen einer wahren Aussage und ihrer gezielten rhetorischen Verfremdung kein Widerspruch gesehen wird. Um diesen auf den ersten Blick seltsam anmutenden Konnex von Propaganda und Wahrheit besser zu verstehen, muss man sich die Geschichte des Begriffs vergegenwärtigen. Das Wort »Propaganda« (lat. »propagare« – ausbreiten, fortpflanzen)

»sündigen« zu einem »gerechten« Leben für »die Sache« stilisiert werden. In diesem Sinne wurde der Eintritt in die aktive Politik zuweilen auch als »revolutionäre Taufe« bezeichnet, wie etwa in Nikolaj Blinovs Nekrolog für den Terroristen Aleksej Pokotilov. Siehe GA RF f. 5831, o. 1, d. 344, l. 2. Außerdem wurde der »Bruch« nicht immer konsequent vollzogen. Ein gutes Beispiel dafür ist Vera Figner, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Geld von ihrer Familie erhielt. Dieser Umstand geht, wie Stephan Rindlisbacher herausgefunden hat, aus ihrer Korrespondenz hervor. In ihren autobiographischen Schriften fehlt dazu jegliche Erwähnung. Siehe Rindlisbacher: Leben für die Sache 271. 48 Džabadari, Ivan: Process 50-ti (Vserossijskaja Social’no-Revoljucionnaja Organizacija, 1874–77 g. g.) (okončanie). In: Byloe 10 (1907) 168–197, hier 171. 49 Auch Kaminskaja wurde nach ihrem Selbstmord selbstredend zur Verkörperung der revolutionären Tugend des Sich-Opfern verklärt. Im Nekrolog von 1878 hieß es: »Doch in einem konnte niemand Kaminskaja und Subbotina übertreffen: nämlich einerseits in der tiefen und bedingungslosen Liebe und der Hingabe für ihre Sache (delo), von der ihr ganzes Wesen ausgefüllt war, und andererseits in ihrer grenzenlosen Selbstaufopferung (samootveržennost’), die jede ihrer Handlungen begleitete«. Hier zitiert nach Rindlisbacher: Leben für die Sache 129. 50 Saratovec: Saratovskij semidesjatnik 199.

110  Friedliche Propaganda und individueller Terror wurde, wie Schieder und Dipper schreiben,51 im 17. Jahrhundert ursprünglich als Bezeichnung für die katholische Missionstätigkeit verwendet. Um 1780 benutzten protestantische Aufklärer »Propaganda« zusammen mit Ausdrücken wie »Proselytenmacherei« als ein antikatholisches Schlagwort. Damit erhielt »Propaganda« seine heute noch aktualisierbaren Konnotationen. Zur Zeit der Französischen Revolution bekam der Ausdruck eine neue politische Bedeutung: Nun sahen sich einige Revolutionäre selbst »in der Rolle der ›missionaires‹ und ›apôtres‹ für ein neues politisches ›crédo‹«52. Die Anlehnung an christliche Muster war eine bewusste Entscheidung und führte dazu, dass Gegner der Revolution in »revolutionärer Propaganda« ein gegen den christlichen Glauben selbst gerichtetes Werk zu sehen begannen. Insbesondere in der Zeit nach der Julirevolution unternahmen Konservative den Versuch, »Propaganda« zu »dämonisieren« und sie als staatsverräterisches Werk einer zentral aus Frankreich gesteuerten Verschwörung zu brandmarken. Gegen diesen zentralistischen Aspekt wandte sich der Propagandabegriff der frühen deutschen Auslandsvereine, die »Propaganda« nunmehr »für den politischen Eigengebrauch zur Beschreibung revolutionärer Breitenwirkung«53 verwendeten. Gleichzeitig fand eine Diversi­ fizierung des Begriffs statt, sodass seine Verengung auf Politik im engeren Sinne aufgebrochen wurde. Im narodničestvo behielt der Begriff seine positive Prägung und erfuhr mit dem von Nečaev und Bakunin popularisierten Konzept der »Propaganda der Tat (faktičeskaja propaganda)« eine enge Anlehnung an das radikale Authentizitätsideal. Mit der Verinnerlichung religiös imprägnierter Zukunftsvorstellungen und der Entstehung der Sprache der Revolution mit ihren spezifischen religiös konnotierten Ausdrücken wurden auch die älteren semantischen Schichten des Konzepts wieder aktualisiert. So konnte Propaganda mit der Verkündung einer höheren, das einzelne Individuum übersteigenden »Wahrheit« in Zusammenhang gebracht werden oder, wie im Falle einer Proklamation (1879) des Russischen Arbeiterbundes, von »erlösender Propaganda«54 gesprochen werden.

51 Dieser Exkurs folgt Schieder, Wolfgang / Dipper, Christof: Propaganda. In: Koselleck, Reinhart u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozia­ len Sprache in Deutschland. Bd. 5. Stuttgart 1984, 69–112. 52 Ebd. 77. 53 Ebd. 88. 54 »Vspomnite, kto pervyj otkliknulsa na velikie slova Christa, kto pervyj byl nositelem ego učenija o ljubvi i bratstve, perevernuvšego ves’ staryj mir? – prostye poseljane… My tože zavëmsja k propovedi, my tože prizyvaemsja byt’ apostolami novogo, no v suščnosti tol’ko neponjatogo i pozabytogo apostolami Christa. Nas budut gnat’, kak gnali pervych christian, nas budut bit’ i izdevat’sja nad nami, no budem neustrašimy i ne postydimsja ich ­poruganij, tak kak odno ėto ozloblenie protiv nas pokažet nam ich bessilie v bor’be s nravstvennym veličiem idej, v bor’be s toj siloj, kakuju my predstavljaem soboj.« Zit. n. Severnyj rabočij sojuz. In: Byloe 5 (1904) 38–39.

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Dennoch war »Propaganda« im sozialistischen Diskurs nicht einfach mit »Wahrheit« gleichgesetzt, sondern war vielmehr ein Mittel der Wahrheitsvermittlung. Um eine »höhere Wahrheit« zu vermitteln, hyperbolisierten die Propagandisten soziale Missstände, dämonisierten die Staatsgewalt und verklärten ihre Genossen (und implizit sich selber) zu »Erduldern« und »Märtyrern« für die »gemeinsame Sache«. Auch das Leben »im Volk« war eine janusköpfige Erscheinung: Auf der einen Seite bekamen die Revolutionäre die Möglichkeit, ihre Vorstellungen von Authentizität auszuleben, auf der anderen Seite belogen sie durch ihre Erscheinung die Bauern selbst: die »Kleider, die sie trugen, die Art wie sie sprachen und die Aussagen, die sie über sich machte, waren Lügen«55. Dieses, kaum aufzulösendes Dilemma, wurde insbesondere dann deutlich, wenn die Revolutionäre, wie einst Nečaev, versuchten, gezielte Lügen zu streuen, wie im Falle der Tschyhyryn-Affäre, dem einzigen zeitweilig erfolgreichen Versuch, die Landbevölkerung zum Aufstand zu bewegen. Die Revolutionäre beuteten den verbreiteten Glauben aus, dass der Zar den Bauern das ganze Land versprochen habe und nur die Adeligen und die Bürokraten die Umsetzung des Versprechens blockieren würden. Dazu verfassten die narodniki ein »zarisches Manifest«, welches die Bauern aufforderte, »Geheimbünde« zu schließen. Die Organisatoren der Verschwörung sahen zwar ein, dass es sich um einen problematischen Vorgang handele, doch die Aussicht auf die Verwirklichung der Revolution erschien auch ihnen zu bedeutend zu sein, um noch in der Wahl der Mittel wählerisch zu bleiben: »Warum blieben wir beim Gedanken, unter den Bauern im Namen des Zaren zu wirken?« erinnerte sich Debogorij-Mokrievič, »vor allem deshalb, weil alle Bauernaufstände in der Ukraine, die in letzter Zeit sich erreignet hatten (in den Jahren der Befreiung [nach 1861, d. Verf.]), einen solchen Charakter getragen haben […]. Unser Gewissen hat sich durchaus mit dieser Lüge versöhnen können«56. 55 »The Populists of the ›going to the people‹ movement discovered the difficulties inherent in becoming a faux peasant, which they felt was necessary to becoming a true revolutionary. In changing their clothing, habits, food, and work, they tried to gain the trust of the peasants in order to foment revolution. But this malleable self-­representation posed  a moral dilemma for the Populists: they were lying to the very folk they revered.« Johnson, Eric: Going to the People. Problems of Revolutionary Identity in the Mid-1870s. Vortrag auf dem Workshop: Cultural Orders. An Interdisciplinary Workshop for the Study of Literary Discourse, Historical Identity, Art, Religious Culture, Linguistic Systems, and Collective Memory in Russia, the Soviet Union, and post-Soviet Eastern Europe in Berkeley am 22.04.2016. 56 »Počemu my ostanovilis’ na mysli dejstvovat’ sredi kret’jan imenem carja? Prežde vsego potomu, čto počti vse krest’janskie bunty na Ukraine, proischodivšie v  poslednee vremja (v gody osvoboždenija), nosili podobnyj charakter, i osobenno nagljadno skazalos’ ėto v Korsun’skom vosstanii, ochvativšem obširnuju mestnost’ v pjatidesjatych godach. Naša že sovest’ vpolne mirilas’ s ėtoj lož’ju.« Debogorij-Mokrievič: Avtobiografija 96.

112  Friedliche Propaganda und individueller Terror Entbehrung und Verzicht in der Rückbetrachtung Das Narrativ der Entbehrung und des Verzichts war charakteristisch für die Reflexion über die 1870er Jahre. Die semidesjatniki schrieben auch Jahrzehnte später von einem ergreifenden »Verlangen«, welches sie »mit aller Kraft ins Volk gezogen« habe, wofür sie bereit gewesen seien, auf ihre zivilen Karrieren zu verzichten.57 Dabei konnten Radikale, die mit persönlichem Beispiel vorangingen, eine große motivierende Wirkung entfalten. »Ihr selbstverleumderischer Drang ins Volk zu gehen«, erinnerte sich Dejč über die dolgušincy, Mitglieder eines bekannten Zirkels der frühen 1870er Jahre (1872–1873), »um der Sache seiner Befreiung alle ihre Kräfte und all ihr Wissen zu geben, sich von den kulturellen Gütern lossagend und dabei das Risiko eingehend, zu Zwangsarbeit verurteilt zu werden, bewegte mich dazu, den gleichen Weg einzuschlagen.«58

Mit der Charakterisierung der radikalen Selbstbeschränkung (Verzicht auf Karriere und kulturelle Güter) als einer besonders wertvollen und ehrbaren Praktik vergewisserte sich der stark wertende Revolutionär seiner eigenen Rolle als Agent des »Fortschritts«. Zur Zeit des »Gangs ins Volk« müssen vergleichbare starke Wertungen in erheblichen Masse zur »Selbstmythisierung« der Revolutionsbewegung beigetragen haben. In der Rückbetrachtung hingegen schützte das Fehlen einer kritischen Selbstreflexion bzw. die Nichtartikulation von Selbstzweifeln, vor allem vor der Gefahr, in eine Identitätskrise zu geraten und suggerierte, dass das eigene Leben nicht umsonst gelebt wurde, den nicht genutzten Lebenschancen (Bildung, Karriere, Beziehungen, Familie) nicht hinterhergetrauert werden sollte und Gefängnisaufenthalte, Zwangsarbeit, Verbannung oder Emigration nicht sinnlose Erfahrungen gewesen seien. Insbesondere Frauen hingen an den bescheidenen Bildungsmöglichkeiten, die sich ihnen zu öffnen begannen. In den 1860er Jahren fingen junge russländische Frauen an, Universitätsvorlesungen zu besuchen. Nachdem die Regierung Ende der 1860er Jahre ihre Zusage gegeben hatte, Frauen von öffentlichen Vorlesungen nicht auszuschließen, wurden im Jahre 1869 die ersten Vorbereitungskurse für Frauen eröffnet. In der Hoffnung, die Radikalisierung russländischer Frauen im Ausland zu verhindern (Frauen, die zum Studium nach Zürich fuhren, kehrten tatsächlich nicht selten als Revolutionärinnen nach

57 »Ja rešil okončatel’no rasprostit’sja s Akademiej, otkazat’sja ot diploma i ot polučenija mnoju zvanija vrača. Menja tjanulo vsemu silami v narod.« Aptekman: Avtobiografija 8. 58 »Ich samootveržennoe stremlenie idti ›v nardod‹, čtoby otdat’ delu ego osvoboždenija vse svoi sily i znanija, otkazavšis’ ot kul’turnych blag i riskuja popast’ na katorgu, sklonilo i menja pojti tem že putëm.« Dejč, Lev: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 105–119, hier 107.

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Abb. 2: Dornenkranz mit Ketten. Aus Kon, Feliks: Na Kare. In: Katorga i ssylka. Sbornik. 3 (1922) 3–44, hier 5.

Russland zurück), wurden im Jahre 1872 die ersten Höheren Frauenkurse zugelassen. Die Absolventinnen erhielten zwar nicht die gleichen Rechte wie Männer, durften aber ein ähnlich strukturiertes, von Universitätsprofessoren geleitetes Bildungsprogramm durchlaufen.59 Bedenkt man die langen Kämpfe, die um die Bildungsfrage geführt wurden, wird verständlich, welche weitreichenden Folgen der Eintritt in die Revolutionsbewegung für vermögende Frauen mit Bildungsambitionen hatte, gleichwohl, ob sie an der Universität Zürich oder im Landesinneren studierten. Zwar versprach ihnen die Revolutionsbewegung Anerkennung und eine größere geschlechtliche Gleichberechtigung,60 doch musste der Bruch mit dem »zivilen Leben« insbesondere die ambitionierten Frauen schwer treffen. Der Verzicht auf höhere Bildung konnte deshalb in Form einer (auf traditionellen religiösen Mustern beruhenden) Gegenüberstellung der Tugend der radikalen Selbstbeschränkung und des »Lasters« der Selbstsucht, des Ehrgeizes und des Stolzes artikuliert werden. Über ihre anfänglichen Zweifel an der Revolutionsarbeit schrieb die bekannte narodnica und spätere Terroristin Vera Figner: »Hier war sowohl Ehrgeiz im Spiel, da der Titel eines Doktors der Medizin und ­Chirurgie für Frauen noch eine Seltenheit war; hier spielte auch Stolz eine Rolle – ich

59 Stites: The Women’s Liberation Movement in Russia. Feminism, Nihilism, and Bolshe­ vism, 1860–1930. Princeton 1978, 77–82. 60 Rindlisbacher: Leben für die Sache 99.

114  Friedliche Propaganda und individueller Terror schämte mich, selbst aus einem hohen Motiv heraus zurückzuweichen und das angestrebte Ziel nicht zu erreichen.«61

4.2 Der Übergang zum Terror. Die späten 1870er Jahre Ein Teil der Radikalen bewertete die Arbeit »im Volk« im Großen und Ganzen als wirksamen Schritt hin zum Sozialismus. Obwohl sich auch ihre anfänglichen optimistischen Erwartungen nicht bestätigten62 und sie über die »Unproduktivität der Propaganda« klagten, erlebten sie ihren sozialen Aktivismus als eine erfüllende Tätigkeit und blieben »zufrieden mit den gemachten Erfahrungen«63. Für viele endete jedoch der »Gang ins Volk« mit einer doppelten Enttäuschung. Auf der einen Seite mussten sie feststellen, dass die bäuerliche Bevölkerung wenig empfänglich für revolutionäre Propaganda war. Dies konnte sowohl mit monarchistischen Einstellungen als auch mit religiösen Fragen zusammenhängen. Im ersten Falle wurde in der Regel entweder der Propagandist sofort überwältigt oder es wurden in Abwesenheit des Propagandisten die Behörden verständigt. Im zweiten Falle fanden Propagandisten und die orthodoxen und heterodoxen Bauern (»Sektanten«) oftmals keine gemeinsame Sprache.64 Nicht wenige Radikale kehrten deshalb in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre zutiefst enttäuscht von »ihrer Mission und von den Bauern«65 in die Städte zurück, wie sich Lev Dejč erinnerte. Andere gelangte an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Kräfte und kehrten deshalb, wie der narodnik und spätere

61 »Tut bylo i čestoljubie, tak kak zvanie doktora mediciny i chirurgii dlja ženščiny bylo eščë redkost’ju; govorilo i samoljubie – mne bylo stydno otstupit’, chotja by po vysokomu motivu, i ne dostignut’ raz postavlennoj celi.« Figner, Vera: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 458–481, hier 464. Nach ihrer Rückkehr nach Russland sollte Figner doch noch das Diplom eines Sanitäters bekommen, was jedoch weder ihren anfänglichen Ambitionen entsprach, noch es ihr erlaubte, einen medizinischen Beruf auszuüben, denn ihr weiteres Engagement in der Revolutionsbewegung lenkte ihr weiteres Leben in sehr enge Bahnen. Die zitierte Stelle zeigt noch einmal eindringlich, wie der moderne Anspruch, selbstgesetzte Ziele zum Maßstab des eigenen Handelns zu erheben (»dostignut’ raz postavlennoj celi«), durch die Orientierung an einem einzigen Hypergut limitiert, wenn nicht gar außer Kraft gesetzt wurde. 62 Pelevin: ›Choždenie v narod‹ [Teil 1] hier 87. 63 »Nesmotrja na bezrezul’tativnost’ propagandy i tjažest’ krest’janskogo truda, ja vernulsja v Kiev očen’ okrepšim fizičeski i, v konečnom sčëte, vse že dovol’nym proizvedënnym opytom«. Dejč: Avtobiografija 110. 64 Pelevin: ›Choždenie v narod‹ [Teil 1] 87. Zum Thema »Volksreligiösität« als Hindernis für sozialistische Propaganda siehe beispielsweise Popov: Iz moego revoljucionnogo prošlogo 269–305, hier vor allem 275. 65 »[…] drugie gluboko razočarovalis’ v svoej missii i krest’janach.« Dejč: Avtobiografija 110.

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Sozialrevolutionär Černavskij in seiner Autobiographie schrieb, »in einem Zustand tiefer Desorientiertheit, mit dem bitteren Bewusstsein, dass zu diesem Zeitpunkt« sie nicht in der Lage seien, »Propaganda im Volk«66 zu betreiben, in die Städte zurück. Auf der anderen Seite führte die Verteilung illegaler Literatur zu zahlreichen – nicht selten von den Bauern selber initiierten – Arresten und letztendlich zum Scheitern des gesamten Unterfangens. Die Selbstzeugnisse der Aktivisten hinterlassen den Eindruck, dass diese »Niederlage« sehr persönlich und schmerzvoll aufgefasst wurde.67 Aus ihrer Perspektive heraus betrachtet, wurden sie nur dafür verhaftet, dass sie die »Wahrheit«68 verbreitet hatten. Die Erfahrungen, die Radikale im Umgang mit den zarischen Gendarmen sammeln mussten, riefen nicht zuletzt deshalb bei vielen von ihnen einen »richtigen Hass«69 hervor und eröffneten neue Wege hin zur praktischen Militanz. Das Trepov-Attentat Als am 24. Januar 1878 ein Attentat auf den Petersburger Stadtkommandanten Fëdor Trepov verübt wurde,70 war die Situation eine gänzlich andere als im Jahre 1866. Zur Zeit des Karakozov-Attentats fehlten noch größere Sympathisanten 66 »V Peterburg ja vernulsja v sostojanii glubokoj rasterjannosti, s gor’kim soznaniem, čto v dannyj moment ja eščë ne gožus’ dlja propagandy v narode. Dolžen skazat’, čto moë razočarovanie ni v malejšej stepeni ne kosnulos’ ni novych idej, ni moej very v narod, ono otnosilos’ isključitel’no k moej krajnej nepodgotovlennosti.« Černavskij: Avtobiografija 566: 67 Itenberg: Dviženie revoljucionnogo narodničestva 391 ff. 68 So der bereits zitierte Teplov: »Arestovan za to, čo rabočim govoril pravdu […]«. GA RF f. 1721, o. 1, d. 1, l. 1. 69 Sofija Ivanova-Borejšo arbeitete Mitte der 1870er Jahre in einer geheimen Druckerei, die illegale Literatur herstellte. Nach der Aufdeckung der Druckerei wurde sie kurzzeitig verhaftet. Ihre Erfahrungen fasste sie folgendermaßen zusammen: »U menja srazu javilas’ k nim [žandarmam, d. Verf.] nastojaščaja nenavist’, kak k  vragam, kotorych nado osteregat’sja.« Dies.: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 142–151, hier 146. 70 Am 24. Januar des Jahres 1878 betrat eine Gruppe von Bittstellern das Empfangszimmer des Petersburger Stadtkommandanten Fëdor Trepov. Als Erste in der Reihe stand eine junge Frau, die dem Kommandanten einen Umschlag überreichte. Trepov las das Schreiben und gab es an seinen Gehilfen weiter. Bevor er sich jedoch das Gesuch des zweiten Bittstellers ansehen konnte, zog die junge Frau, in der aufgrund ihrer modischen Erscheinung niemand eine Radikale vermutet hätte, einen kleinen Webley Bull Dog Revolver aus ihrem Überwurf hervor und gab zwei Schüsse ab. Der erste Schuss endete in einer Fehlzündung, mit dem zweiten wurde der Stadtkommandant im Beckenbereich getroffen. Trepov fiel schreiend zu Boden, die Attentäterin, Vera Zasulič, wurde geschlagen und verhaftet. Bergman, Jay: Vera Zasulich and the Politics of Revolutionary Unity. Ann Arbor 1977, 77–84; Budnickij: Terrorizm 46; Rindlisbacher: Leben für die Sache 140–141; Siljak: The ›Girl Assassin‹ 3–7, 188, 212; Koni, Anatolij: Vospominanija o dele Very Zasulič. Moskau, Berlin 2015, 136. Zasulič und ihre Freundin Marija Kolenkina, die am gleichen Tag versuchte Želechovskij, den staatlichen Kläger im »Prozess der 193« zu ermorden, kleideten sich am Tag des misslungenen Doppelattentats bewusst in teure, modische Kleider, um nicht als Nihilistinnen aufzufallen.

116  Friedliche Propaganda und individueller Terror und Unterstützerkreise, die als Empfänger der terroristischen Botschaft und Reproduzenten des revolutionären Martyriumsdiskurses, eine terroristische Bewegung finanziell und moralisch hätten tragen können. In den 1860er Jahren setzte sich noch nicht die Vorstellung durch, dass alle Mittel des friedlichen Widerstandes ausgeschöpft seien. Ende der 1870er hingegen breitete sich in vielen Revolutionszirkeln eine tiefe Enttäuschung über den bisherigen Verlauf der Revolutionsarbeit aus. Die enttäuschten Radikalen waren zudem von extrem negativen Erfahrungen mit dem staatlichen Repressionsapparat geprägt, sodass die Schwelle zur gezielten Gewaltanwendung schließlich überschritten werden konnte. Hinzu kam, dass Vera Zasulič, die gescheiterte Attentäterin (Trepov überlebte das Attentat und starb erst 1889) ein nachvollziehbares Motiv hatte. Als Grund für den Anschlag nannte sie die Auspeitschung des ehemaligen Studenten Bogoljubov. Er war ein Priestersohn, der nach abgeschlossenem Seminar die Priesterlaufbahn zugunsten einer weltlichen Laufbahn als Veterinär aufgegeben hatte. Er hatte sich am »Gang ins Volk« beteiligt, wo er selbst unter Gesinnungsgenossen wegen seines »Fanatismus«71, mit dem er die asketisch-ästhetischen Vorstellungen des Nihilismus verteidigte, und seiner besonders eifrigen Nachahmung Rachmetovs aufgefallen war. Im Winter 1876 nahm Bogoljubov an der »ersten Arbeiterdemonstration«72 am Kazaner Platz teil, wo er verhaftet und anschließend wegen Waffenbesitzes und Widerstands gegen die Staatsgewalt zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde.73 Trepov hatte sich bereits durch seine äußerste Brutalität, die er bei der Niederschlagung des polnischen Aufstandes an den Tag gelegt hatte, einen schlechten Ruf in demokratischen Kreisen erworben. Die von ihm befohlene Auspeitschung Bogoljubovs im Juli 1877, deren genaue Umstände bis heute nicht ganz geklärt sind, machte ihn endgültig zur verhassten Figur. Die Auspeitschung Bogoljubovs führte nicht nur umgehend zu schweren Unruhen im Gefängnis, sondern auch dazu, dass gleich mehrere Radikale über die Ermordung Trepovs nachzudenken begannen. Der Grund dafür lag darin, dass körperliche »Züchtigung« als eine besonders schwerwiegende Verletzung der menschlichen Würde (»čelovečeskoe dosto­ instvo«) empfunden wurde. Diese konnte drastische Folgen nach sich ziehen. Als beispielsweise 1889 die Revolutionärin Nadežda Sigida auf Kara ausgepeitscht wurde, nahmen sich gleich mehrere Revolutionäre aus solidarischem Protest das 71 Iz vospominanij L’va Gartmana 182. 72 Siehe dazu McKinsey, Pamela Sears: The Kazan Square Demonstration and the Conflict Between Russian Workers and Intelligenty. In: Slavic Review 1 (1985) 83–103. 73 Šilov, A. / Karnouchova, M. (Hg.): Dejateli revoljucionnogo dviženija v  Rossii. Bd. 2, Teil 1 [= Fotomechanicher Neudruck der Originalausgabe von 1929]. Leipzig 1974, 395; Rindlisbacher: Leben für die Sache 135 ff.

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Leben.74 Allein schon die Ankündigung körperlicher »Züchtigung« rief starke Emotionen hervor. Als der Häftling Pëtr Kulikovskij im Jahr 1909 seiner Familie über das aufgekommene Gerücht schrieb, dass der neue Gefängnisleiter sich das Recht eingeholt habe, politische Gefangene zu »züchtigen«, veränderte sich seine Handschrift auf sichtliche Weise: Sie wurde nervöser, weitläufiger.75 Dabei ging es nicht so sehr um den physischen Schmerz: Die Peitsche war, wie Rebekka Habermas schreibt, »ein Strafinstrument, mittels dessen eine Beziehung der Ungleichheit erstellt oder auch zementiert«76 wurde. Verletzt wurde somit in erster Linie die menschliche Würde. Das Attentat von Vera Zasulič erschien vor diesem Hintergrund als heroischer Widerstandsakt einer vermeintlich »schwachen Frau« gegen ein tyrannisches und ungerechtes Regime. Das Attentat sollte weitreichende Folgen für die Revolutionsbewegung haben. Vor dem Anschlag auf Trepov praktizierten russische Revolutionäre zwar die Ermordung vermeintlicher oder wahrer »Spione« und »Agenten« der Dritten Abteilung,77 mit Trepov wurde aber zum ersten Mal wieder ein hoher Repräsentant des Staates Ziel eines Anschlags. Zasulič wurde als Freiheitsheldin gefeiert, nicht wenige stellten sie sich wie eine Person vor, die »exaltiert wie eine christliche Märtyrerin« sei, als eine »Verkörperung von Selbstentsagung und Liebe«78. Radikale aber motivierte ihre Tat zu neuen Anschlägen. Der 24. Januar 1878 markiert deshalb in der Forschung den Übergang des narodničestvo zu terroristischen Praktiken. Eskalation der Gewalt Der Fall Trepov endete unerwartet in der Freilassung von Zasulič durch ein Geschworenengericht. Die Attentäterin wurde aus dem Gerichtssaal entlassen und konnte einer erneuten Verhaftung durch Flucht ins Ausland entgehen. Für russische Radikale wurde der Prozess »zum Gericht über Trepov« und »den Staat, den Trepov personifizierte«79. Auch die Autokratie zog ihre Schlüsse 74 In einem von Sergej Bobochov verfassten Abschiedsbrief hieß es: »Proščajte brat’ja! Stradajte, borites’, – naše delot pobedit!«. S. N. Bobochov. In: Byloe 1 (1900) 42. 75 GA RF f. 1775, o. 1, d. 6, l. 12. 76 Habermas, Rebekka: Peitschen im Reichstag oder über den Zusammenhang von materieller und politischer Kultur. Koloniale Debatten um 1900. In: Historische Antropologie 3 (2015) 291–415, hier 396. 77 Man denke beispielsweise an die Ermordung des Polizei-Agenten Nikolaj Šaraškin am 19. Juni 1877. Prokof ’ev, V.: Stepan Chalturin. Moskau 1958, 89. 78 So Kravčinskij über die landesweite Zasulič-Euphorie: »Natury romantičeskie i sentimental’nye predstavljali eë sebe devuškoj poėtičeskoj i nežnoj, ėkzal’tirovannoj, kak christianskaja mučenica, olicetvoreniem samootverženija i ljubvi.« Stepnjak: Podpol’naja Rossija 82. 79 Borisova, Tat’jana: ›Neobchodimaja oborona obščestva‹. Jazyk suda nad Zasulič. In: Novoe literaturnoe obozrenie 5 (2015), URL : http://magazines.russ.ru/nlo/2015/5/11b.html (am 12.04.17).

118  Friedliche Propaganda und individueller Terror aus dem Prozessdebakel: Ab dem 9. August 1878 durften gegen Amtsträger gerichtete Verbrechen nicht mehr vor einem Geschworenengericht verhandelt werden. Noch vor dem Inkrafttreten des Gesetzes wurde eine Gruppe um Ivan Koval’skij, der bei seiner Verhaftung bewaffneten Widerstand80 gegen die Staatsgewalt leistete, von einem Militärtribunal gerichtet. Der Koval’skijFall evozierte eine ganze Reihe von neuen Angriffen auf Vollzugsbeamte.81 Die Überstellung von gewaltbereiten Revolutionären an Militärtribunale wurde zur Routine.82 Binnen kürzester Zeit nahmen terroristische Praktiken ihren festen Platz in der russischen Revolutionsbewegung ein. Sie fingen an, Teil des Selbstverständnisses vieler Radikaler zu werden und deren Wahrnehmung zu bestimmen. Dies bedeutete selbstverständlich nicht, dass Terroristen eine »seltsame, unglaubliche Liebe zu Gewalt und Blut[vergießen]«83 verspürt hätten, wie der Terrorist ­Kibal’čič ironisch bemerkte. Vielmehr erlaubten terroristische Praktiken dem Revolutionär, sich als aktiven Teilnehmer am Geschichtsprozess zu begreifen und das Gute im eigenen Leben zu verwirklichen, wovon nicht zuletzt die Stabilität des eigenen moralischen Rahmens abhing. Der Mord als solcher widersprach der Vorstellung, dass das menschliche Leben Schutz verdiene. Dieses Problem war kaum zu lösen und wurde nicht selten mit Rekurs auf religiöse Semantiken kaschiert. Für Ekaterina Breškovskaja, die »Großmutter der Revolution«, wie sie von ihren Freunden und Feinden genannt wurde, war klar, dass Terror »gesegnet« sei und einer »hellhörigen Seele« bedürfe. So eine »Seele« habe der von ihr verehrte narodnik Mitrofan Muravskij habt, der zusammen mit Breškovskaja im berühmten »Prozess der 193« verurteilt wurde. Muravskij, auch unter dem Ehrennamen »Vater Mitrofan« bekannt, soll lange Zeit skeptisch gegenüber terroristischen Methoden eingestellt gewesen sein, bis schließlich die Nachricht vom Trepov-Attentat die Gefängnisse erreichte: »Ich war zuversichtlich« schrieb Breškovskaja in ihren Erinnerungen aus dem Jahre 1906,

80 Bewaffneter Widerstand will hier als eine Form des Terrorismus verstanden werden. Dies hängt damit zusammen, dass bewaffneter Widerstand die gleiche Funktion erfüllt hat wie der sogenannte individuelle Terror. Der Feind sollte eingeschüchtert und »desorganisiert« werden, die Unterstützer über Recht und Unrecht aufgeklärt, mobilisiert und zum Durchhalten angeregt werden. Als performativer und kommunkativer Akt stärkte bewaffneter Widerstand das elitäre Gruppenbewusstsein der Revolutionäre und stabilisierte ihren moralischen Rahmen. 81 Tvardovskaja, Valentina: Socialističeskaja mysl’ Rossii na rubiže 1870–1880-ch godov. Moskau 1969, 18. 82 Troickij: Bezumstvo chrabrych 88–89. 83 »Kakaja ėto strannaja, neverojatnaja ljubov’ k  nasiliju i krovi! Moë ličnoe želanie i želanie drugich lic, kak mne izvestno, mirnoe rešenie voprosa [o pereustrojstve obščestva, d. Verf.].« Sud nad careubijcami. St. Petersburg 1881, 232. Mit der Replik antwortete Kibal’čič auf den Vorwurf, dass die Narodnaja volja Terror zu einem Selbstzweck erhoben hätte.

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»dass beim ersten Ausdruck [des Terrors, d. Verf.], dass heißt beim ersten Schlag, der gerecht gegen den Feind geführt würde, – die hellhörige Seele des Vaters Mitrofan die ganze Unabdingbarkeit dieses Schlages erkennen und ihn segnen würde.«84

»Vater Mitrofans« »Seele« war Breškovskaja zufolge tatsächlich bereit, die rechten Mittel zur Verwirklichung des Guten zu erkennen. Nach dem Anschlag auf Trepov soll er eine Notiz an sie verfasst haben, in der er im Tonfall der Ekstase alle Zweifel für nichtig erklärte und den Anschlag als »Fest der Wahrheit (toržestvo pravdy)«85 feierte. Vergleichbare Einstellungen fanden weite Verbreitung. Nach dem Prozess wurde eine Vielzahl an illegalen Texten verbreitet.86 Niemand geringerer als der Literaturkritiker Nikolaj Michajlovskij drohte in einer anonymen Proklamation den »Narren, die sich der Geschichte in den Weg stellen«,87 mit terroristischen Maßnahmen. In einem Flugblatt der Zemlja i volja (Land und Freiheit), der damals größten revolutionären Organisation, hieß es, dass künftige Generationen den Namen Zasulič »zur Zahl der wenigen leuchtenden Namen von Märtyrern für die Freiheit und für die Menschenrechte zählen«88 würden. Radikale äußerten sich exaltierend über ihre »Vera«, träumten davon ihren Platz einnehmen zu können, und versuchten, in den Besitz einer Fotografie ihrer neuen Heldin zu kommen.89 Der Kult um den heroischen Revolutionär, der bereit ist, sein Leben »auf den Altar des Volksdienstes (altar’ služenija narodu)«90 zu legen, solange er damit nur der »gemeinsamen Sache« dienen kann, wurde von sehr vielen, im Südrussland (heutige Ukraine) der späten 1870er Jahre aktiven Revolutionären gepflegt. Viele von ihnen blieben dabei zutiefst von der christlichen Denk- und Vorstellungswelt beeinflusst: In seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1906 stilisierte Illič-Svityč seinen Genossen Koval’skij, der 1878 zum Tode verurteilt wurde, zu einem »Märtyrer der Revolution«. So soll jener kurz vor der Erschießung gesagt haben: »Im Grunde genommen […] habe ich nichts dagegen zu sterben; vor dem Tod habe ich keine Angst und selbst das Leben tut mir nicht Leid, wichtig ist nur, dass mein Tod produktiv für die gemeinsame Sache wird. Das ist wichtig.«91 Es

84 »Ja byla uverena, čto pri pervom ego projavlenii, t. e. pri pervom udare, spravedlivo napravlennym na vraga, – čutkaja duša otca Mitrofana pojmët vsju neobchodimost’ ėtogo udara i blagoslovit ego.« Breškovskaja, Ekaterina: Iz moich vospominanij. St. Petersburg 1906, 37. 85 Ebd. 86 Siljak: Angel of Vengeance 262. 87 Letučij Listok (No. 1, aprel’ 1878 g.). In: Byloe 3 (1903) 152–154, hier 154. 88 Hier zit. n. Rindlisbacher: Leben für die Sache 114. 89 Ebd. 115. 90 Vitaševskij, Nikolaj: Pervoe vooružennoe soprotivlenie, – pervyj voennyj sud. In: Byloe 2 (1906) 219–243, hier 222. 91 Illič-Svityč, V.: Moë znakomstvo s I. M. Koval’skim. In: Byloe 8 (1906) 142–157, hier 154. Variationen dieses Gedankens soll er mehrmals am Abend und am Folgetag geäußert haben.

120  Friedliche Propaganda und individueller Terror ist deshalb nur folgerichtig, dass das Eintreten der Soldaten in die Zelle am Morgen der Hinrichtung bei Illič-Svityč sofort die Assoziation mit einer Gravüre, die die Getsemani-Szene zeigt, geweckt habe.92 Die Hinrichtung Koval’skijs führte zur entschiedenen Gegenreaktion von Seiten der Revolutionäre. Eine verhängnisvolle Gewaltspirale setzte sich in Gang: Am 2. August 1878 wurde Koval’skij erschossen. Am 3. August erhielten die Revolutionäre die Nachricht über die Vollstreckung des Urteils und beschlossen noch am selben Abend, den Chef der Gendarmerie und der Dritten Abteilung Nikolaj Mezencev »hinzurichten (kaznit’)«.93 Die Reaktion folgte dem in den 1860er entstanden Spontaneitätsgedanken. Eine »hellhörige Seele«, um BreškoBrešvskajas Ausdruck zu verwenden, erkannte instinktiv das Gute und die richtigen Wege, es zu verwirklichen. »Wort« und »Tat« bildeten eine »natürliche« Einheit. Gleich am Folgetag, dem 4. August, erdolchte der Revolutionär Kravčinskij den Chef der Gendarmerie Nikolaj Mezencev auf dem Michajlovskij-­Platz (heute Ploščad’ Iskusstv) in St. Petersburg. Nach seiner spektakulären Flucht wurde die Broschüre Smert’ za smert’ (Tod um Tod) (eine Anspielung auf Lev 24,19–20) herausgegeben, die Kravčinskij der »heiligen Erinnerung an den Märtyrer Ivan Martynovič Koval’skij (svjatoj pamjati Mučenika Ivana Martynoviča Koval’skogo)«94 widmete. Unter anderem hieß es darin, dass die Ermordung eines Menschen zwar für sich genommen schrecklich sei, aber die russische Regierung bei weitem schrecklichere Verbrechen verübt habe und noch immer verübe. Die Gesellschaft schweige und auch die liberale Presse kümmere sich nur um ihre Profite und nicht um die »heiligen Menschenrechte«95 und so hätten die Revolutionäre keinerlei Möglichkeiten sich zu schützen, als zu terroristischen Mittel zu greifen. Zwar sei seit dem Attentat auf Trepov nur ein halbes Jahr vergangen, aber die Regierung solle sich davor hüten, sich in Sicherheit zu wiegen, denn in Russland entstehe gerade eine große und schon bald mächtige terroristische Bewegung. Kravčinskij verwies eindrucksvoll auf die Verletzung der individuellen Autonomie und der damit zusammenhängenden Vorstellungen von menschlicher Würde durch den autokratischen Staat, blendete aber hier wie auch in allen seinen anderen Texten das Leiden der Ermordeten und ihrer Hinterbliebenen vollständig aus. Sobald er auf den Mord selbst zu sprechen kam, flüchtete er sich in Allgemeinplätze, berief sich auf die (tatsächlichen aber hy-

In der Nacht vor der Hinrichtung aber soll Ivan, der stets nur der »revolutionären Pflicht« gefolgt sei, zum ersten Mal von seiner Liebe zu einem Mädchen aus radikalen Kreisen geredet haben, was Illič-Svityč damals als Schwäche interpretierte. Ebd. 154–155. 92 Ebd. 156. 93 Michajlov: Avtobiografija 273. 94 Zit. n. Revoljucionnyj radikalizm v Rossii 397. 95 Ebd. 400.

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perbolisch geschilderten) Leiden der Revolutionäre und des »russischen Volkes« oder wich auf religiöse Semantiken zurück.96 Diese diskursiven Strategien waren essentiell für das Funktionieren der terroristischen Gemeinschaft, da der moralische Rahmen der Revolution von einer inhärenten Spannung zwischen dem Respekt für das Leben des Menschen und der neuen terroristischen Agenda gekennzeichnet war. Umso wichtiger war deshalb die Anerkennung seitens gesellschaftlicher Kräfte. Von Sympathisanten ließ sich Kravčinskij mit Freude als »demütigen Gesandten (poslannik smiren­ nyj)« und »Volksheiligen der Nemesis (Vsenarodnyj svjatoj Nemezidy)«97 feiern und nahm so direkten Anteil an der literarisch-propagandistischen Verklärung der eigenen Person und der Figur des Terroristen.98 Der Widerstand, der in oppositionellen Kreisen spätestens seit den 1860er Jahren gegen die Zumutungen der autokratischen Ordnung gewachsen war, steigerte sich nach den ernüchternden, bei einem großen Teil der Radikalen mit Wut und Enttäuschung verbundenen Erfahrungen des 1870er Jahre zu aktiven Gewalthandlungen. Terroristische Attentate wurden nicht zufällig als eine aktive Form der Selbstverteidigung99 interpretiert und legitimiert. Dies entsprach dem Selbstbild der Revolutionäre als progressive, für die Würde des Menschen eintretende Agenten einer neuen historischen Ordnung. Der Terrorist sollte nicht als Täter mit »gemeingefährlichen« Absichten, sondern als ein Gegenwehr leistendes Opfer verstanden werden. Das war eine Lehre, die aus der 96 Scotto schreibt: »There is a serious moral evasion in Stepnjak’s work that cannot go unmentioned. He does not, either in The Career of  a Nihilist or in Underground Russia, ­depict a successful assassination: his terrorists remain victims, and the terrible moment when one human being actually takes the life of another ›like himself‹ is passed over in silence. Indeed, in the account of Mezentsev’s death offered in Underground Russia, Stepniak himself is ­strangely absent […]«. Scotto, Peter: The Terrorist as Novelist. Sergei Stepniak-­K ravchinsky. In: Anemone, Antony (Hg.): Just Assassins. The Culture of Terrorism in Russia. Evanston 2010, 97–126, hier 121–122. 97 Ol’chin, Aleksandr: U groba (Posvjaščaetsja porazivšemu Mezenceva). In: Byloe 3 (1903) 147–151, hier 149. 98 Dieses kitschige Lobgedicht auf Kravčinskij trug der Anwalt Ol’chin seinem Helden und anderen Revolutionären in der Redaktion von Zemlja i volja vor. Die Radikalen fügten dem Text einige Veränderungen bei und veröffentlichten ihn in ihrem Zentralorgan. ­Mogil’ner schreibt in diesem Zusammenhang: »Revoljucionery ochotno prinjali učastie v mifologizacii svoich obrazov i svoego postupka: vmeste s advokatom-radikalom oni ›­ podgonjali‹ svoi žizni pod belletrističeskie standarty […]«. Mogil’ner: Mifologija 56. 99 »Selbstverteidigung« war dabei natürlich immer eine Sache der Auslegung. Die »ukra­ inischen« Terroristen der späten 1870er Jahre beispielsweise legten dieses »Recht« sehr großzügig aus. Feochari berichtete, wie nach der Verhaftung von Koval’skij eines Abends Sudejkin und seine Gendarme vor der Tür standen. Sie fahndeten offensichtlich nach ­Debogorij-Mokrievič. Auf Sudejkins Aufforderung sich auszuweisen, eröffneten die Radikalen ohne Vorwarnung das Feuer. Feochari, Stepan: Delo o vooružennom soprotivlenii v Kieve 11 fevralja 1879 g. In: Katorga i ssylka 4 (1929) 37–50, hier 39.

122  Friedliche Propaganda und individueller Terror teilweisen moralischen Deskreditierung der Bewegung durch die Nečaev-Affäre gezogen wurde. Dabei fiel dem Martyriumsdiskurs eine herausragende Bedeutung zu. Er kaschierte zum einen die moralischen Inkonsistenzen, zum anderen diente er als mächtige Motivationsquelle sowohl für Sympathisanten, die sich erst auf dem Weg zur Radikalisierung befanden, als auch für aktive Revolutionäre. In den Texten der Letzteren wurde das »Martyrium« somit zum Höhepunkt eines guten Lebens. Mittels physischer Vernichtung von inneren (»Verräter«, »Provokateure«) und äußeren (Repräsentanten des Staates) Feinden sollte die Autokratie demoralisiert und die Revolutionsbewegung geschützt werden. Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Staat entstand eine Aktions-Reaktionsspirale, bei der Todesstrafen und terroristischen Attentaten eine kommunikative Funktion zufiel. Dieser Eskalationsprozess endete, wie sich bald zeigen sollte, mit der Ermordung von Aleksandr II . und dem endgültigen Ende der von ihm eingeleiteten »Großen Reformen«. Terroristen und Propagandisten Der »gemäßigtere« Teil der Revolutionäre hütete sich aus rein praktisch-ideologischen Überlegungen heraus davor, den Terror zum universalen Werkzeug des Kampfes gegen die Autokratie zu erheben. Man beharrte darauf, dass terroristische Methoden nicht in Form gezielter Angriffe praktiziert werden, sondern »nur« der »Beseitigung« von »Spionen« und »Verrätern« dienen sollten. Die Arbeit »im Volk« könnten und dürften sie nicht ersetzen. Würden die Terroristen die Autokratie stürzen, so eine verbreitete Argumentationsweise, ohne zuvor progressive Ideen unter dem Volk verbreitet zu haben, so hätte die Bourgeoise in einer konstitutionellen Monarchie leichtes Spiel gegen die Sozialisten.100 Innerhalb von Zemlja i volja bildeten sich folgerichtig zwei Richtungen heraus. Als derevenščiki, abgeleitet vom Wort »derevnja« (Dorf), bezeichnete man die Anhänger einer reinen Propaganda- und Lehrtätigkeit in den Dörfern, die dem »städtischen« Kampf für politische Rechte skeptisch gegenüberstanden und Hoffnungen auf eine »echte«, von Bauern selbst durchgeführte Volksrevolution hegten. Als politiki (Politiker) bezeichnete man diejenigen zemlevol’cy (Mitglieder der Zemlja i volja), die die Erringung einer konstitutionellen Reform und anderer politischer Rechte für eine unabdingbare Voraussetzung einer sozialen Revolution hielten. Hinzu kam die Bewertung terroristischer Methoden. Zwar war Terror fester Bestandteil des Programms, doch sollte er nur zur »Selbstverteidigung« eingesetzt werden, zum Schutz vor Polizei und Provokateuren. Diese »defensive« Auslegung ging den politiki nicht weit genug.

100 Itogi revoljucionnogo dviženija II , 7–8.

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Die Auseinandersetzung zwischen denjenigen Revolutionären, die wie Krav­ činskij Selbstverteidigung in einem sehr weiten und unspezifischen Sinne verstanden wissen wollten, und denjenigen, die dem aktiven terroristischen Kampf weiterhin skeptisch gegenüberstanden, sollte sich zugunsten der »terroristischen Fraktion« entscheiden. Der 1868 verstorbene Dmitrij Pisarev hatte noch den revolutionären Gedanken als Ersatz für die Unmöglichkeit praktische Politik zu betreiben gedeutet: Der Möglichkeit beraubt, das »Leben zu ändern, rächen sich die Menschen dafür im Bereich des Gedankens, dort hält nichts die destruktive Kraft der Kritik aus«101, meinte der Publizist. In den 1870er Jahren machten die Radikalen unter den Eindruck von Lavrov und Bakunin den Versuch, dieses gesellschaftliche »Leben« durch den persönlichen, selbstaufopfernden Einsatz aktiv zu verändern. Gegen Ende der 1870er Jahre verlor jedoch auch diese Option für einen großen Teil der Radikalen ihre Anziehungskraft. Je größer die Unzufriedenheit mit den Resultaten der eigenen Arbeit wurde und der Hass auf die Regierung und die Willkür der Gendarmerie wuchs, desto größer wurde die Faszination, die von der »Magie des Terrorismus (mystique of terrorism)« (Beborah Hardy) ausging. Der Terrorist konnte seine (jugendliche) Ungeduld im Hier und Jetzt befriedigen. Er war in der Lage, der Regierung Schaden zuzufügen und sich an den Ergebnissen seines Handelns zu erfreuen, während ein derevenščik sich mit der Hoffnung begnügen musste, die Früchte seiner Arbeit erst in entfernter Zukunft ernten zu können. Beide führten ein gutes Leben für die »Sache der Revolution«, doch nur der Terrorist war in der Lage, mit »Vergeltung gegen die geschändete Menschenwürde«102 zu antworten. Der Terrorakt konnte somit gewissermaßen zu einer Revolution en miniature werden. So hieß es folgerichtig in der Broschüre Terrorstičeskaja bor’ba (Terroristischer Kampf) des jungen Nikolaj Morozov, die einen wichtigen Impuls für die Spaltung von Zemlja i volja geben sollte: »Der politische Mord ist die Verwirklichung der Revolution im Gegenwärtigen«103. Terrorismus eröffnete eine Chance sich zu beweisen. Er versprach moralische Genugtuung und, wie Hardy schreibt, ein großes Abenteuer sowie exaltierende Selbstaufopferung.104 Es ist nicht ver 101 Hier zitiert nach Borcke, Astrid von: Die Ursprünge des Bolschewismus. Die Jakobinische Tradition in Russland und die Theorie der revolutionären Diktatur. München 1977, 57. 102 »Pervyj grjanuvšyj vystrel – vystrel Very Zasulič – byl ne mest’ju, a vozmezdiem za porugannoe čelovečeskoe dostoinstvo.« Ivanov, Sergej: Iz vospominanij o 1881 gode. In: Byloe 4 (1906) 228–242, hier 236. 103 »Političeskoe ubijstvo – ėto osuščestvlenie revoljucii v nastojaščem.« Zit n. Budnickij (Hg.): Krov’ po sovesti  92. Selbstredend durfte auch hier der Verweis auf die »Märtyrer« der Revolution nicht fehlen: »My pereživaem ne sovsem obyknovennoe vremja. Posle rjada ­svetlych obrazov mučennikov i mučenic za svobodu, kotorych my videli na processach 76 i 78 gg., pered nami vstajut rjady takich že sverlych, no bolee groznych mstitelej za neë [Zasulič, Bobochov, d. Verf.]«. Zit. n. ebd. 104 Hardy, Beborah: Land and Freedom. The Origins of Russian Terrorism, 1876–1879. New York 1987, 162.

124  Friedliche Propaganda und individueller Terror wunderlich, dass intellektuelle Begründungen für die Notwendigkeit des terroristischen Kampfes fast immer hinter der emotionalen Perzeption zurücktraten.105 Terror versprach so vieles, wovon der Revolutionär seit den 1860er Jahren träumte. »Wenn es Barrikaden gebe«, schrieb der Terrorist D ­ mitrij Bucinskij, »ich wäre auf die Barrikaden gegangen, ungeachtet des Todes, wieso soll ich mich deshalb vor dem Erhängen fürchten! Das Schlimme ist, dass es keine Barrikaden gibt […]. Für die, die ernsthaft den Weg des Kampfes gegen den Zarismus eingeschlagen hatten, gab es keine Wahl mehr. Sich gegen die Strömung zu stellen bedeutete fast das Gleiche wie Aufgeben.«106

Einfluss religiöser Texte Neben dem Einfluss des religiös geprägten Umfeldes sowie sozial-philosophischer Schriften hat die eigenständige Bibellektüre zweifellos Einfluss auf das Denken der Revolutionäre genommen. Auf der Grundlage von Erinnerungsliteratur der narodniki kommt Grigorij Kan zu dem Schluss, dass das Evangelium die vielleicht wichtigste Quelle der Moralvorstellungen der russischen Radikalen der 1870er Jahre war. Die Lektüre erfolgte in aller Regel im Alter von 10 bis 13 Jahren.107 Den Evangelien entnahmen die späteren Radikalen zum einen das Motiv des militanten Christus, wie es beispielsweise aus Mt 10,34 oder Mt 21,12–13 und Joh 2,13–16 abgeleitet werden kann, zum anderen die hohe Stellung der Tugend der radikalen Selbstbeschränkung und des Sich-Opferns innerhalb einer bestimmten Güterordnung. Unter dem Einfluss von »progressiven« Autoren wurden, wie sich Kornilova-Moroz erinnerte, »religiöse Traditionen« zum Einsturz gebracht. Die »sittliche Höhe der Lehre Christi«, der »Reiz seiner Persönlichkeit als eines Märtyrers für die Idee der Liebe zur Menschheit«108, 105 Hardy schreibt: »Terrorism was too often a state of mind. It grew from feeding on its own danger, daring, and heroics. […] Too many of the others were dominated by their emotional reactions to the magnetism of violence: by their need to act, their drives to become heroes, a strange attraction to martyrdom, their feelings for each other, their fervor about something that was ›contagious‹ or ›in the air‹ or ›inevitable‹. Few of them, according to their memoirs, did much careful analyze at all, beyond the intricate planning of the next, ever more spectacular and gruesome, terrorist deed«. Ebd. 163. 106 »Bud’ barikady, – ja by pošël sražat’sja na nich, nesmotrja na smert’, tak počemu že bojat’sja povešenija! Vsja beda v tom, čto net barrikad, a bez nich odno iz dvuch: libo otojti ot vsego, libo borot’sja naličnymi silami i stichijno voznikšimi formami. Dlja tech, kto vser’ëz vstal na put’ bor’by s carizmom, vybora uže ne bylo. Stat’ protiv tečenija označalo počti to že, čto otojti ot vsego dela.« Zit. n. Sedov: Geroičeskij period 92. 107 Kan, Grigorij: ›Narodnaja Volja‹. Ideologija i lidery. Moskau 1997, 36. 108 »Strastnaja provoded’ Pisareva, sočinenija Sečenova [gemeint ist der Physiloge Ivan Sečenov, d. Verf.], Bjuchnera [gemeint ist offensichtlich Ludwig Büchner, d. Verf.] bystro razrušali religioznye tradicii, ne unižaja nravstvennoj vysoty učenija Christa, a obajatel’nost’ ego ličnositi kak mučenika za ideju ljubvi k čelovečestvu podgotovljala k stradaniju ›za velikoe delo ljubvi‹.« Kornilova-Moroz: Avtobiografija 207.

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blieben als Motivationsquelle für politisches Handeln erhalten. Es scheint, dass insbesondere in prekären Lebenssituationen (Verbannung nach Sibirien, lebenslängliche Gefängnisstrafe, Hinrichtung) das Christusbild der Radikalen als Quelle für die positive Selbstidentifikation genutzt wurde. Neben der Bibel hat die Lektüre von Heiligenviten zur Konstituierung des moralischen Rahmens der Revolution beigetragen. Heiligenviten wurden in der Regel im Kindesalter gelesen und vermittelten die Vorstellung, dass es sich lohne, für eine »höhere Wahrheit« zu leiden und für sie Entbehrungen hinzunehmen.109 Das Genre der Heiligenvita nahm direkten Einfluss auf die sogenannte oppositionelle Autobiographie, die sich während der Herrschaftszeit Nikolaus I. (1825–1855) zu entwickeln begann, und damit auf die Produktion von Selbstaufopferungs- und Konversionesnarrativen innerhalb der Revolutions­ bewegung.110 In einigen Fällen reflektierten die Veteranen der Revolutionsbewegung Jahrzehnte später über die Anziehungskraft von Heiligenviten auf ihr Leben. Nadežda Golovina schrieb beispielsweise, dass sie nach dem Tod ihres Vaters eine kurze Phase intensiver Religiosität durchlebt habe. Unter dem Einfluss von Heiligenerzählungen soll sie angefangen haben, vom »Martyrium« zu träumen: »Ohne den frühen Tod des Vaters wäre meine Entwicklung normaler ver­laufen; so aber kam ich nach seinem Tod in den Kontakt mit religiöser Literatur – den Heiligenerzählungen; mich überkam das Bedauern, dass es keine Christenverfolgungen mehr gibt und dass man nicht mehr für die ›Wahrheit‹ leiden kann. Ich wäre nie darauf gekommen, dass ich in zehn Jahren für eine ›Wahrheit‹ anderer Art leiden würde.«111

109 Hoogenboom: Vera Figner 85. 110 Stephan, Anke: Erinnertes Leben. Autobiographien, Memoiren und Oral-HistoryInterviews als historische Quellen, URL : https://www.vifaost.de/en/texte-materialien/digitalseries-and-collections/handbuch/handb-erinnert (am 12.04.17). Die »oppositionelle Autobiographie« entwickelte sich in der Herrschaftszeit Nikolaus I. (1825–1855) als ein Raum, in dem Kritik an der bestehenden Ordnung geübt werden konnte. Als wichtigste Inspirationsquellen für die späteren Revolutionäre dienten dabei die Memoiren der Dekabristen und Herzens Byloe i dumy (1852–55/1868). Herzen zufolge bestand der Nutzen von Memoiren darin, über die Gegenwart hinaus das Verborgene (etwa die Verbrechen der Polizei) ans Licht des Tages zu bringen und der ganzen Welt bekannt zu machen. Gercen, Aleksandr: Predislovie k anglijskomu izdaniju. In: AN SSSR . In-t mirovoj lit. im A. M. Gor’kogo (Hg.): A. I. ­Gercen. Sobranie sočinenij v  tridcati tomach. Bd. 8. Moskau 1956, 404–406, hier 406. Siehe auch Herzberg: Autobiographik, hier v. a. 30. Einige Forscher führen das Genre der oppositionellen Autobiographie auf die Autobiographie Avvakums zurück. Holmgren: For the Good of the Cause 144, Fn. 5. 111 »Esli b ne rannjaja smert’ otca, moë razvitie pošlo by bolee normal’no; a tut posle ego smerti v moi ruki popala religioznaja literatura – žitija svjatych; javilos’ sožalenie, čto uže prekratilis’ gonenija na christian, i čto nel’zja uže postradat’ za ›pravdu‹: i v  golovu ne ­prichodilo, čto čerez desjat’ let pridëtsja postradat’ za ›pravdu‹ inogo svojstva.« Golovina: Avtobiografija 72.

126  Friedliche Propaganda und individueller Terror Golovina zufolge soll sie sich schon bald vollständig von religiösen Einstellungen emanzipiert haben.112 Der Text legt jedoch die Vermutung nahe, dass sowohl die Art und Weise, wie das Sich-Opfern gedacht wurde, als auch der hohe Stellenwert dieser Tugend innerhalb des moralischen Rahmens nicht zuletzt auf den Einfluss der Heiligenerzählungen zurückzuführen ist. Das Selbstopfer hatte auch in diesem Fall einen höheren, das individuelle Leben übersteigernden Zweck. Es umfasste nichts Geringeres als die Gefangenschaft oder das Exil als ihre erste, Folter und Tod als ihre höchste Ausprägungsstufe. Auch Nikolaj Buch schrieb in seinen Erinnerungen, dass ihm die Mutter oft »von den Qualen der christlichen Märtyrer (o stradanijach christianskich mučenikov)« vorgelesen habe. Das Muster dieser Erzählungen muss das Denken des jungen Buch beeinflusst haben. So soll er nach seiner Begegnung mit verarmten Bauern in jenen »die gleichen Märtyrer (takich že mučenikov)«113 erkannt haben, die ihm bereits aus den Erzählungen der Mutter bekannt waren. Auch Vera Zasulič war vom Bild des christlichen selbstaufopfernden Märtyrers be­einflusst. Historiker haben verschiedene Faktoren herausgestellt, die bei der Radikalisierung von Vera Zasulič eine Rolle spielten. Als Heranwachsende war Zasulič unzufrieden mit der eingeschränkten Rolle gewesen, die sie künftig als verarmte adlige Frau spielen sollte. Die in radikalen Kreisen verbreiteten egalitaristischen Einstellungen mögen deshalb anziehend auf sie gewirkt haben. Zudem könnten die trotz der relativen Armut der Familie kulturell verankerten Schuldgefühle gegenüber dem Bauerntum eine Rolle gespielt haben sowie das Bedürfnis der jungen Zasulič, das als bedrückend erlebte soziale Umfeld ihrer Familie hinter sich zu lassen.114 Eine nicht minder wichtige Rolle spielten säkularisierte Heils- und Martyriumsvorstellungen. Als Heranwachsende begann sich Zasulič vom Christentum zu distanzieren, verlor schließlich den Glauben an Gott und an ein ewiges Leben, behielt aber, wie so viele Sozialisten jener Jahre, nicht nur ein »positives Christusbild«115, sondern auch ein durch den sozialistischen Diskurs transformiertes, Verständnis für das »Heilige« und das »Martyrium«. So wurden für sie, soweit man ihren späten Erinnerungen glauben kann, die »Bekenntnisse«116 des gehängten Dekabristen ­Ryleev (gemeint ist das Gedicht Ispoved’ Nalivajki) zu einem »Heiligtum«117, dem eine wichtige Rolle in ihrem politischen Werdegang zukommen sollte. Sie setzte den Tod Ryleevs mit dem Tod Christi gleich und sprach von der großen motivierenden Wirkung, die das »Martyrium« Ryleevs und Christi auf sie gehabt habe: 112 Ebd. 113 Buch: Avtobiografija 42. 114 Bergman: Vera Zasulich 2–15. 115 Rindlisbacher: Leben für die Sache 46. Bergman: Vera Zasulich 9.  116 Zasulič: Vospominanija 15. 117 Ebd.

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»Er [Ryleev, d. Verf.] war es auch, der zum »Lager der Verdammten« [Anspielung auf Nekrasov, d. Verf.] zog, eine große Liebe zu ihm entfachte. Und zweifelsohne war diese Liebe vergleichbar mit der, die ich zu Christus verspürte, als ich zum erst Mal das Evangelium las. Ich habe ihn nicht verraten: Er ist der Beste, er und sie sind ausreichend gut, um sich den Dornenkranz zu verdienen und ich werde sie finden und ich werde versuchen, für irgendetwas gut zu sein in ihrem Kampf.«118

Etwa sieben Jahre nach dem missglückten Attentat beteuerte Zasulič, dass es ihr bei ihrem Engagement in der revolutionären Bewegung nie um theoretische Fragen gegangen sei; Diskussionen über die sozialistische Gesellschaft der Zukunft habe sie nie ernst genommen. Vielmehr sei es das Abenteuer, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer oppositionellen Gemeinschaft, die Empörung über sozialen Missstände sowie die »Selbstaufopferung, die Gleichgültigkeit gegenüber materiellen Gütern«119 gewesen, die schließlich ausschlaggebend für ihren Beitritt zur Bewegung wurden. Das »Martyrium« – ob nun in Form von Verbannung, Zwangsarbeit oder Tod – war, wie Siljak schreibt, einkalkuliert: Weder Zasulič noch ihre Genossin Marija Kolenkina, die am gleichen Tag versucht hatte, Želechovskij, den staatlichen Kläger im »Prozess der 193« zu ermorden, aber nicht zu ihm vorgelassen wurde, hatten die Intention, vom Tatort zu fliehen.120 Priestersöhne in der Revolutionsbewegung der 1870er Jahre Priestersöhne leisteten einen nicht unerheblichen Betrag zum Martyriumsdiskurs der 1870er Jahre. Sie kannten sich nicht nur bestens mit geistlicher Literatur aus, sondern trugen auch das transformierte Ethos ihrer Väter in die Revolution. Ein gutes Beispiel dafür bildet der bereits erwähnte Ivan Koval’skij. Er war ein Priestersohn, der nach dem Seminar eine säkulare Profession vorzog, sein Studium jedoch aufgrund nicht bezahlter Studiengebühren abbrechen musste und von da an als Korrespondent tätig war. Während des »Ganges ins Volk« versuchte er sich in propagandistischer Tätigkeit innerhalb heterodoxer religiöser Gruppen und war zeitweise einer der Angeklagten im »Prozess der 193«. Ende 1876 zog er nach Odessa, wo er eine revolutionäre Untergrundorganisation bildete.121 118 »On-to i vlëk k  ėtomu ›stanu pogibajuščich‹, vyzyval k nemu gorjačuju ljubov’. I ­nesomnenno, čto ėta ljubov’ byla schodna s toj, kotoraja javljalas’ u menja k Christu, kogda ja v pervyj raz pročla evangelie. Ja ne izmenila emu: on samyj lučšij, on i oni dostatočno choroši, čtoby zaslužit’ ternovyj venec, i ja najdu ich i postarajus’ na čto-nibud’ prigodit’sja v ich bor’be.« Ebd. 15–16. Mit dem Sprung in das Präsens versuchte die gealterte Zasulič offenbar, einen Effekt der Unmittelbarkeit zu erzeugen. 119 Rindlisbacher: Leben für die Sache 100. Siehe auch Mogil’ner: Mifologija 43. 120 Siljak: Angel of Vengeance 212. 121 Šilov, M. / Karnauchova, A. (Hg.): Dejateli revoljucionnogo dviženija v  Rossii. Bd. 2, Teil 2 [= Fotomechanicher Neudruck der Originalausgabe von 1930]. Leipzig 1974, 603 ff.

128  Friedliche Propaganda und individueller Terror Von seinen Genossen wurde Koval’skij als »Fanatikersektant, in höchstem Maße streng sich selbst gegenüber«122 wahrgenommen. Obwohl er den christlichen Glauben aufgegeben hatte, bildeten aus dem Christentum entlehnte Konzepte einen wichtigen Bezugspunkt in seinem Denken. In einem handschriftlichen Text, der wohl der Publizistik zuzurechnen wäre, verglich er zum Beispiel den russischen Revolutionär mit einem christlichen Märtyrer und schrieb von der Notwendigkeit, neue, »sozialistische Märtyrer« hervorzubringen. In diesem paradoxen Text schätzte er die Revolution als »heiliger« als das Christentum ein, weil der Sozialismus sich anders als das Christentum nicht auf »Übernatürliches« stütze: »Gäbe es keine Märtyrer, wäre das Christentum nicht durch Blut erschaffen worden, so hätte es nicht tiefe Wurzeln in die Gesellschaft geschlagen. Aber unser Kampf ist höher, besser, heiliger. Wir kämpfen direkt, unmittelbar für die Wahrheit, wir handeln bewusst ohne jegliche Anlehnung an Übernatürliches. Umso herrlicher wird unser Kampf sein, umso fruchtreicher werden seine Resultate sein. Licht und Wärme triumphieren über Finsternis und Kälte.«123

Damit knüpfte Koval’skij direkt an das in den »Historischen Briefen« skizzierte Modell der »Mythisierung« der Revolutionsbewegung. »Martyrium« war bei Koval’skij nicht mit Jenseits-, dafür aber mit – in keiner Weise verifizierbaren – Zukunftsdeutungen verknüpft. »Martyrium« war deshalb keine literarische Figur, die einfach der Ausschmückung des Textes dienen sollte. Mit seinem Tod bestätigte der Revolutionär die Einheit von »Wort und Tat«, die Stärke seines »Glaubens« an die von ihm propagierten sozialistischen Zukunftsprognosen. Damit implizierte er aber auch, dass die sozialistische Zukunft, in der das Glück der Gemeinschaft garantiert sein würde, wichtiger sei als ein individuelles Leben. Der revolutionäre Abschiedsbrief Einer der Revolutionäre der 1870er Jahre, die, um Kravčinskij zu paraphrasieren, in ihren Selbstzeugnissen »ein Leben voller Leiden« als ein gutes Leben und den »Märtyrertod«124 als einen guten Tod bewerteten, war Valerian Osinskij. Der nur 122 »Ėto byl fanatik-sektant, v vysšej stepeni strogij k sebe i v obydennoj žizni sledovavšij obščim pravilam ličnoj morali.« Vitaševskij: Pervoe vooružennoe soprotivlenie 222. 123 »Ne bud’ mučenikov, ne bud’ načato christianstvo krov’ju, ne pustilo by ono glubokie korni v obščestvo. No naša bor’ba vyše, lučše, svjatee. My boremsja prjamo, neposredstvenno za istinu, my soznatel’no dejstvuem bez vsjakoj opory na sverch’’estestvennoe. Tem prekrasnee budet naša bor’ba, tem plodotvornee budut eë rezul’taty. Svet i teplota toržestvujut nad mrakom i cholodom.« Zit. n. Sedov: Geroičeskij period 96–97. 124 »Ego [revoljucionera, d. Verf.] ideal  – žizn’, polnaja stradanij, i smert’ mučenika.« Stepnjak: Podpol’naja Rossija 9. Kravčinskij versucht hier den »Nihilisten« der 1860er Jahre mit dem »Revolutionär« der 1870er Jahre zu kontrastieren.

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26 Jahre alt gewordene Osinskij hatte zum Zeitpunkt seiner Hinrichtung bereits ein turbulentes politisches Leben hinter sich: Der Sohn eines reichen adeligen Gutbesitzers kam als Student in den Kontakt mit Radikalen. 1876 begab er sich in die Illegalität. In der Hauptstadt wurde er zu einem der Mitbegründer von Zemlja i volja und deren dezorganizatorskaja gruppa (Desorganisationsgruppe). In der Ukraine gründete er eine kleine terroristische Gruppe, die in ihren Flugblättern die Selbstbezeichnung Ispolnitelnyj komitet s­ ocial’no-revoljucionnoj partii (Exekutivkomitee der Sozialrevolutionären Partei) verwendete. Die politischen Ziele der Gruppe waren nicht fest umrissen, der Name stand in keinem adäquaten Verhältnis zu ihrer Größe und Bedeutung125 und doch sollte sie zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die übrige Bewegung werden. Anfang 1878 führte die Gruppe ein missglücktes Attentat auf den Staatsanwaltgehilfen Kotljarevskij aus und ermordete wenige Monate später den Stabsrittmeister von Heyking (Gustav Gejking). Neben einer rein terroristischen Tätigkeit beteiligte sich Osinskij an Demonstrationen, schmiedete Ausbruchspläne für inhaftierte Sozialisten und schrieb propagandistische Texte.126 Im Januar 1879 wurde Osinskij verhaftet und zusammen mit seiner Geliebten Sofija Lešern fon Gercfel’dt zum Tode verurteilt. Vor Gericht bezeichnete er, ähnlich wie es zuvor Kravčinskij getan hatte, »den Mord an sich« als »widernatürlich«, rechtfertigte aber die »Beseitigung von Personen, die objektiv der Sache schädlich« seien, als eine Form von »Selbstverteidigung«127. Vor seiner Hinrichtung verfasste Osinskij einen Abschiedsbrief, in dem er »dem christlichen Brauch«128 folgend, Abschied von den Genossen nahm und sich als furchtlosen, den Tod verachtenden, Revolutionär präsentierte:

125 Zur Namenswahl siehe Bogučarskij, Vasilij: Iz istorii političeskoj bor’by v 70-ch i 80-ch gg. XIX veka. Moskau 1912, 12.  126 Šilov, M. / Karnauchova, A. (Hg.): Dejateli revoljucionnogo dviženija v  Rossii. Bd. 2, Teil 3 [= Fotomechanicher Neudruck der Originalausgabe von 1931]. Leipzig 1974, 1107–1109. 127 »Ubijstva sami po sebe, kak lišenie čeloveka žizni, – dejstvitel’no, javlenie protivoestestvennoe, k nim prichoditsja pribegat’ tol’ko dlja samozaščity, dlja ustranenija lic, položitel’no vrednych delu, dejatel’nosti kotorych inače nel’zja prekratit’.« Tvardovskaja: Socialističeskaja mysl’ Rossii 23. 128 Zit. n. GA RF f. 6225, o. 1, d. 56, l. 94. Diese Bemerkung habe ich in einer Kopie des Briefes im Nachlass von Debogorij-Mokrievič gefunden. Sie fehlt jedoch sowohl in der Erstveröffentlichung im Listok ›Zemli i voli‹ als auch in den späteren, auf die Erstveröffentlichung zurückgehenden Nachdrucken. Wahrscheinlich wurde die Bemerkung von den Redakteuren der Zemlja i volja getilgt, um keinen Schatten auf Osinskijs atheistische Grundhaltung zu werfen. Siehe Pis’mo Valeriana Osinskogo. In: Byloe 6 (1904) 46–47; Aptekman, Osip: Obščestvo ›Zemlja i Volja‹ 70-ch gg. Po ličnym vospominanijam. 2. Auflage. Petrograd 1924, 367–368. Der Nachdruck des entsprechenden sechsten Listok findet sich bei B ­ ogučarskij: ­Bazilevskij, B. [=  Bogučarskij, Vasilij] (Hg.): Revoljucionnaja žurnalistika semidesjatych ­godov. Paris 1905, 483–496.

130  Friedliche Propaganda und individueller Terror »Wir [Osinskij und Lešern fon Gercfel’dt, d. Verf.] bedauern keineswegs, dass wir sterben müssen, denn wir sterben für die Idee; wenn wir etwas bereuen, dann nur, dass wir fast nur für die Schmach des krepierenden Monarchismus sterben mussten und nicht für etwas Besseres und dass wir vor dem Tod nicht das bewerkstelligt haben, was wir bewerkstelligen wollten.«129

Den Genossen wünschte er deshalb »produktiver zu sterben (proizvoditel’nee nas)« und ihr »teures« Blut nicht umsonst fließen zu lassen. Gleichzeitig äußerte er seine Zuversicht, dass die »Sache des Terrors (delo terrora)« nun endgültig ihren rechtmäßigen Platz innerhalb der Revolutionsbewegung eingenommen habe und ermahnte, dass der Sozialismus unsterblich sei: »Unsere Sache kann nicht sterben – diese Zuversicht lässt uns mit einer solchen Verachtung auf die Frage des Todes blicken.«130 Mittels starker Wertungen, die den Wunsch der »Sache« zu dienen als besonders ehrenvoll und den Sozialismus als unsterblich evaluierten, wurde der eigene Standpunkt im weltgeschichtlichen Drama verortet. Der Verurteilte erhielt darin eine besondere Rolle, womit auch der eigene Tod in direkten Bezug zum Guten gesetzt und somit als ein im besonderen Maße wertvoller Tod bewertet wurde. Solche Schreiben zirkulierten zusammen mit Fotografien und Zeichnungen der »Märtyrer« in den Untergrundzirkeln und stärkten in erheblichem Maße das Elitenbewusstsein der revolutionären Gemeinschaft. Am 7. Mai 1879 wurde Osinskij zusammen mit zwei weiteren Revolutionären, Brandtner und Sviridenko, gehängt. Alle drei lehnten es offensichtlich wiederholt ab, die letzten Sakramente zu empfangen. Einem in Untergrundkreisen kursierenden Bericht zufolge soll Sviridenko sofort und Brandtner nach kurzen, aber intensiven Qualen gestorben sein. Bei Osinskij aber soll der Henker einen Fehler gemacht haben, sodass jener aufgrund eines ausgebliebenen Genickbruches noch eine ganze Zeit lang am Strick gezappelt haben soll. Unterdessen habe der Leiter der Kiewer Gendarmerie Oberst Vasilij Novickij versucht, die empörte Menge zu beschwichtigen. Die verlängerten Leiden des Gehängten soll er dabei mit Gottes Zorn begründet haben.131 Kravčinskij ergänzte diese Darstellung der Hinrichtung, ob nun in manipulativer Absicht oder auf der Grundlage anderer ihm vorliegender Berichte, um zwei weitere makabere Details: Man habe Osinskij die Augen nicht zugebunden, um ihn die Qualen seiner Freunde miterleben zu lassen. Die Passage mit dem ausgebliebenen Genickbruch und der Rede des Obersts ließ Kravčinskij aus und schrieb stattdessen davon, dass das Orchester 129 »My ničut’ ne žaleem o tom, čto prichoditsja umirat’ – ved’ my že umiraem za ideju, esli že i žaleem, to tol’ko o tom, čto prišlos’ umeret’ počti tol’ko dlja pozora okolevajuščego monarchizma, a ne radi čego-libo lučšego, i čto pered smert’ju ne sdelali togo, čego choteli.« Zit. n. GA RF f. 6225, o. 1, d. 56, l. 95. 130 »Naše delo ne možet nikogda pogibnut’ – ėta-to uverennost’ i zastavljaet nas s takim prezreniem otnositsja k voprosu o smerti.« Zit. n. ebd. 97. 131 Revoljucionnaja žurnalistika semidesjatych godov 479.

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während der Hinrichtung – wohl in verhöhnender Absicht – zu einem Volkstanz (»Kamarinskaja«) aufgespielt habe.132 Osinskijs Abschiedsbrief appellierte an das moralische Bewusstsein der Revolutionäre und entfaltete zusammen mit den Berichten über die entwürdigenden Umstände der Hinrichtung eine emotionale Wirkung.133 Morozovs Listok ›Zemli i voli‹ lobte, dass der Text von einer »tiefen, unendlichen Hingabe an die Idee der Freiheit« zeuge, feierte die besondere »Aufrichtigkeit und Einfachheit (iskrennost’ i prostota)« des Briefes und gab den feierlichen Schwur, »die heilige Sache der Volksbefreiung (svjatoe delo osvoboždenija naroda)«134, der Osinskij sich verpflichtet habe, fortzuführen. Sofija Lešern fon Gercfel’dt wurde noch vor Osinskijs Hinrichtung begnadigt, woraufhin sie weinend zusammengebrochen sein soll. Der Listok deutete dies als den Ausdruck eines unbedingten Willens, »auf Augenhöhe mit ihren Genossen zu sterben«135. Der Abschiedsbrief (und die um ihn herum gruppierten Texte) vereinigten also zentrale Elemente des revolutionären Denkens: Der Radikale hört auf, ein passives Objekt der Geschichte zu sein und wird zum handelnden revolutionären Subjekt. Der Terrorist stirbt auf dem Schafott für seine Überzeugungen und antizipiert seinen eigenen Tod »aufrichtig« und »einfach«. Die »Ich-Wir-Balance« wird zugunsten des »Wir« bei gleichzeitiger Entkoppelung von Handeln und Entlohnung verschoben. Der Revolutionär erkennt die »heilige Sache der Volksbefreiung« als letzten Grund seines eigenen Lebens und Handelns an. Für sich allein genommen mögen die skizzierten Vorstellungen im Hinblick auf politische Gewalt wenig produktiv gewesen sein und nur spezielle Varianten eines gesamteuropäischen Diskurses dargestellt haben. Erst die Zusammenführung dieser speziellen Spielarten im moralischen Rahmen des »revolutionären Selbst« führte unter den Bedingungen der autokratischen Ordnung zu einer hochexplosiven und unkontrollierbaren Reaktion. Der am 10. August 1879 gehängte Dmitrij Lizogub, Sohn eines wohlhabenden adeligen ukrainischen Gutsbesitzers, imaginierte seinen Tod auf eine ähnliche Weise, wie Osinskij es getan hatte. Auch Lizogub sprach davon, dass er sein Schicksal nicht bedauere, dass die Zahl der »Freiheitskämpfer« mit jedem Tage wachse, dass die »rechte Sache« siegen werde, er deshalb »ruhig« auf sein 132 Stepnjak: Podpol’naja Rossija 61. Troickij folgt vorbehaltslos der Darstellung ­K rav­ činskijs, ohne die Unterschiede in den Quellen zu thematisieren. Dabei übernimmt er sogar kommentarlos die Anmerkung Kravčinskijs, dass Osinskij beim Anblick der Leiden seiner Freunde nach fünf Minuten ergraut sei. Siehe Troickij: Bezumstvo chrabrych 197. Ein solcher Vorgang wäre jedoch rein physiologisch nicht möglich gewesen. 133 Siehe dazu auch Budnickij: Terrorizm 53. 134 Alle Zitate nach Revoljucionnaja žurnalistika semidesjatych godov 482. 135 Ebd. 478. Zum Teil genoss Osinskij auch außerhalb sozialistischer Kreise so etwas wie kultische Verehrung. Siehe Popov, Michail: Iz moego prošlogo. In: Minuvšie gody 2 (1908) 170–214, 175.

132  Friedliche Propaganda und individueller Terror Ende warte und es vorziehe, im Kerker zu sterben, als in der »Haut eines Räubers und Unterdrückers« zu leben.136 Diese starken Wertungen waren Ausdruck der Selbstdeutung des Revolutionärs als Agent des sozialen Wandels, der aus dem Lager der »Reaktion« in das Lager des »Fortschritts« gewechselt sei. Dies verlangte nach einer Einstellung gegenüber dem eigenen Selbst, die dem Tod auf dem Schafott eine besondere, selbstvergewissernde Bedeutung zumaß: Der Tod für die gemeinsame Sache oder die lebenslange Einkerkerung mussten, solange sich die stark wertende Person innerhalb des revolutionären Rahmens orientierte, als Ausdruck einer gelungenen Lebensführung interpretiert werden. Reue (»ich bereue nicht (ja ne sožaleju)«) oder Angst (»ich erwarte ruhig mein Ende (ja spokojno ždu svoego konca)«)137 durften also nicht aufkommen. Nicht anders war es im Fall des Revolutionärs Solomon Wittenberg. Der junge narodnik, Sohn eines armen jüdischen Arbeiters aus Nikolaev, war der Anführer einer kleinen revolutionären Gruppe, die ihrerseits mit dem OsinskijKreis vernetzt gewesen war. Er war der Initiator eines Attentatsplans auf Alexander II ., der vorsah, den Zug des Kaisers mit Hilfe von Dynamit in die Luft zu sprengen. Durch einen Zufall wurden die Attentäter verhaftet und Wittenberg zusammen mit seinem Mitverschwörer Logovenko sowie Lizogub und zwei weiteren Revolutionären im sogenannten Prozess der 28 zum Tode verurteilt.138 In seinem Abschiedsbrief an die Genossen, den er am 11. August 1879, dem Tag seiner Hinrichtung, verfasste, hieß es: »Meine Freunde! Ich möchte natürlich nicht sterben; zu sagen, dass ich gerne stürbe, wäre meinerseits eine Lüge, aber diese Tatsache soll keinen Schatten auf meinen Glauben und die Festigkeit meiner Überzeugungen werfen: Erinnert euch daran, dass das höchste Beispiel der Menschenliebe und der Selbstaufopferung ohne Zweifel der Heiland war. Aber auch er betete: ›Gehe dieser Kelch von mir!‹. Wie kann ich folglich nicht für das Gleiche beten? Dennoch sage ich mir wie er: ›Wenn es anders nicht möglich ist, wenn für den Triumph des Sozialismus mein Blut fließen soll, wenn der Übergang aus dem gegenwärtigen Regime in ein besseres nicht anders möglich ist als über unsere Leichen, so soll unser Blut fließen, so soll es als Erlösung zum Nutzen der 136 »Čto kasaetsja menja lično, to ja ne sožaleju o svoej učasti; ja znaju, za čto ja pogibaju, ja znaju, skol’ko eščë ostalos’ moich tovariščej, ja znaju, čto, nesmotrja na vse presledovanija, čislo ich uveličivaetsja s každym dnëm, nakonec, ja znaju, čto samaja pravota dela govorit za ego uspech – znaja ėto, ja spokojno ždu svoego konca i predpočitaju byt’ zaživo pogrebënnym, čem spokojno žit’ v kože grabitelja i ugnetatelja.« Zit. n. Kaplan, Michail / Ščëgolev, ­Pavel (Hg.): Archiv ›Zemli i Voli‹ i ›Narodnoj Voli‹. Moskau 1932, 107. 137 Beides zitiert nach ebd. 138 Šilov / Karnauchova (Hg.): Dejateli. Bd. 2, Teil 1 200 f.; Morejnis, Michail: Solomon Jakovlevič Vittenberg i process 28-mi. In: Katorga i ssylka 7 (1929) 47–67, hier 49–56. Obwohl die Anschlagspläne, wie die daran Beteiligten später nicht ohne Stolz einräumten, reall ge­wesen waren, hatte das Militärgericht offensichtlich nicht genügend Beweise, von denen einige sogar gefälscht worden waren, um die Existenz reeller Anschlagspläne zu beweisen. Trotzdem wurden fünf Todesurteile ausgesprochen. Troickij: Bezumstvo chrabrych 193.

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Menschheit fließen; aber dass unser Blut zum Dünger wird für jenen Boden, auf dem der Sozialismus triumphieren wird, schon bald triumphieren wird, darin liegt mein Glaube! Hier erinnere ich mich wieder an den Erlöser: ›Wahrlich ich sage euch: Es stehen etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis dass das Himmelsreich komme‹ […]«.139

Die recht ungenauen Zitate aus den kirchenslavischen Evangelien (siehe den russischen Quellentext) deuten darauf hin, dass Wittenberg die Texte aus dem Gedächtnis wiedergab, sie also vergleichsweise gut kennen musste. Nach dem »Gang ins Volk« waren »religiöse« Sozialisten keine ausgesprochene Seltenheit mehr.140 So begann beispielsweise Osip Aptekman unter dem Eindruck, den die »Volksreligiösität« auf ihn gemacht hatte, die Evangelien zu lesen. Er kaufte sich einen Katechismus und ein Gebetsbuch und besuchte Gottesdienste. Schließlich ließ sich Aptekman, ohne seinen jüdischen Eltern oder den atheistischen Freunden etwas von seinem Entschluss preis zu geben, im Frühling des Jahres 1875 taufen. Diese doppelte Erfahrung der religiösen Konversion und der Verbrüderung mit dem »Volk« soll ihm das Gefühl der »inneren Erneuerung« vermittelt haben.141 Dabei ist es nebensächlich, ob Wittenberg, ähnlich wie Osip Aptekman, eine »sozialistische Weltanschauung mit einer christlich-neutes­ tamentlichen (socialističeskoe mirosozercanie s  evangeličeski-christianskim)«142 vereinigte oder ob er ein Atheist im strengen Sinne des Wortes war.143 Seine 139 »Dorogie druz’ja! Mne, konečno, ne chočetsja umeret’, i skazat’, čto ja umiraju ochotno, bylo by s moej storony lož’ju, no ėto ne brosaet teni na moju veru i stojkost’ moich ubeždenij: spomnite, čto samym vysšym primerom čelovekoljubija i samopožertvovanija byl, bez somnenija, Spasitel’; odnako i on molilsja: ›i da minuet menja čaša sija‹. Sledovatel’no, kak mogu i ja ne molit’sja o tom že? Tem ne menee i ja, podobno emu, govorju sebe: ›esli inače nel’zja, esli dlja togo, čtob vostoržestvoval socializm, neobchodimo, čtoby prolilas’ krov’ moja, esli ­perechod iz nastojaščego stroja v lučšij ne vozmožen inače, kak tol’ko perešagnuvši čerez naši trupy, to pust’ naša krov’ prolivaetsja, pust’ ona padët iskupleniem na pol’zu čelovečestva; a čto naša krov’ poslužit udobreniem dlja toj počvy, na kotoroj vzojdët semja socializma, čto socializm vostoržestvuet i vostoržestvuet skoro, – ėto moja vera! Tut opjat’ vspominaju slova Spasitelja: ›Istino govorju vam, čto mnogie iz nachodjaščichsja zdes’ ne vkusjat smerti, kak nastanet carstvie nebesnoe’ […]‹.« Zit. n. [Bogučarskij, Vasilij (Hg.):] Literatura social’no-­ revoljucionnoj partii ›Narodnoj voli‹. [Paris] 1905, 11–12. 140 Read: Religion, Revolution 13. 141 »Nikto iz blizkich i tovariščej ne znal ėtogo, chotja užasno udivilis’, kogda raz zastali menja pogružennym v molitvennik i katechizis. Kreščenie moë sostojalos’. I dolžen skazat’: ja počustvoval sebja togda slovno obnovlënnym: ›Ja idu v narod, – dumal ja, – ne evreem uže, a christianinom, ja priobščilsja k narodu.« Aptekman: Avtobiografija 9. 142 Ebd. 143 Unmittelbar vor der Hinrichtung weigerte sich Wittenberg entschieden, mit einem Rabbiner zu sprechen, wie aus einem Bericht der Gendarmerie hervorgeht. Anders der zusammen mit Wittenberg hingerichtete Revolutionär Logovenko. Dieser beichtete und empfing die letzte Kommunion. Vor dem Ableben küsste er das Kreuz. Der Bericht wurde gedruckt in Morejnis: Solomon Jakovlevič Vittenberg 66–67.

134  Friedliche Propaganda und individueller Terror »expressivistische« Betonung von Ratio und Gefühl, von »Wissenschaft« und »Martyrium« war eine Variante des revolutionären Denkens der 1870er Jahre. Durch diese Selbstzeugnisse, die fortan in der revolutionären Bewegung einen besonderen Status einnehmen sollten, entwickelte sich ein Diskurs, der religiöse Semantiken aufs Engste mit politischen Inhalten verknüpfte. Die Figur Jesu Christi konnte dabei als inspirierendes Beispiel fungieren, als Hoffnung auf persönliche und politische Regeneration im Diesseits, als Identifikationsfigur mit den eigenen Leiden, als Sinnbild für die Erfüllung des eigenen Lebens mit einer höheren, politischen Bedeutung. Dies war nur möglich, weil die russländischen Radikalen  – unabhängig davon, aus welchem kulturellen Umfeld des Reiches sie kamen, solange sie nur den Rahmen der Revolution als den ihrigen annahmen – die Unterscheidung zwischen einem »höheren« und einem »niedrigeren Leben« internalisieren mussten. Dies bedeutete auch, dass von einem Revolutionär erwartet wurde, sich »der Sache« zu verschreiben und dafür auch persönliche Opfer zu bringen, die sogar das eigene Leben einschließen konnten, und im Gegenzug nichts verlangte. Der Tod auf dem Schafott wurde damit zum emblematischen Ausdruck der Entkoppelung von Tat und Entlohnung. Er wurde zu einem würdigen, einem guten Tod. Nur so konnten Zitate aus den Evangelien, die in Wittenbergs Abschiedsbrief alles andere als einfache literarische Ausschmückungen sind, überhaupt in dieser eigentlich atheistischen Bewegung so breite Verankerung finden. Radikale wie Wittenberg überhöhten ihren eigenen Tod mit Rekurs auf Martyriumsvorstellungen und die Selbstverortung innerhalb eines teleologischen, von jüdisch-christlichen Zeitvorstellungen stark geprägten, Geschichtsverständnisses: Sie verstanden sich als »Vorkämpfer des Fortschritts«, die den »Mächten der Reaktion« gegenüberstanden. Dies war ein Kampf, bei dem die »Reaktion« aus ihrer Sicht »objektiv« auf verlorenem Posten stand. Die Vorstellung, dass der Triumph des Sozialismus unvermeidbar sein werde, wurde also von den Akteuren nicht zufällig als »Glaube« bezeichnet. Der Rekurs auf religiöse Semantiken erlaubte es, Probleme zu kaschieren, die das eigene Selbst bedrohten, und umgekehrt: Die Orientierung auf das Gute  – die Befreiung aller Menschen, die »Stählung« des Charakters im revolutionären Kampf, die Anerkennung, die man seitens der geachteten Genossen und Teilen der Gesellschaft für den Dienst an der Revolution bekam,144 verlieh dem Leben Sinn. Daher auch die wiederholte Artikulation des Gefühls tiefer moralischer Erfüllung. Ein anderes von Wittenberg am Ende des Briefes verwendetes »großes Bild« war der Prozess gegen Galileo Galilei, der nach populärer Sichtweise mit Folter 144 Es ist sicherlich diskutabel, ob zwischen dem Widerspruch, keinerlei Lohn für das eigene Handeln zu verlangen, und der fundamentalen Abhängigkeit der terroristischen Bewegung von gesellschaftlicher Zustimmung und persönlicher Anerkennung ein Widerspruch besteht.

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einherging und an dessen Ende der berühmte, aber so nie geäußerte Satz »Und sie bewegt sich doch« stand. Dieser Interpretation folgend konnte Wittenberg den Astronomen als einen »Märtyrer« für die Wahrheit der Naturwissenschaften interpretieren, der der mächtigen Inquisition die Stirn geboten habe. Die Figur des Galilei erfüllte in Wittenbergs Text also eine ähnliche Funktion wie die Figur Jesu Christi. Bezogen auf das letzte Christuszitat (»Wahrlich, ich sage euch: Es stehen etliche hier…«) hieß es: »[…] darin bin ich überzeugt, wie ich darin überzeugt bin, dass sich die Erde dreht. Wenn ich auf das Schafott steige und die Schlinge meinen Hals zuzieht, wird mein letzter Gedanke der folgende sein: ›Und sie dreht sich doch, und niemand in der Welt kann diese Bewegung aufhalten‹.«145

Damit legten Wittenberg, dessen »moralische Reinheit und Höhe, Heiligkeit«146 ein Genosse noch 50 Jahre nach der Hinrichtung feierte, Lizogub und vor allem Osinskij den Anfang einer neuen Tradition in der Revolutionsbewegung.147 Fortan sollten auch andere zum Tode verurteilte Revolutionäre Abschiedsbriefe schreiben, in denen die verbliebenen Genossen zur Fortführung des »Kampfes« ermutigt wurden. Der Tod am Galgen wurde als ein guter, mit den revolutionären Moralvorstellungen in Einklang stehender Tod interpretiert. Gleichzeitig wurde von den sich in der Bewegung bereits fest verankerten Martyriumsvorstellungen Gebrauch gemacht. Propaganda musste also weit mehr sein als nur ein kalkulierter Beitrag zur aggregierten Gesamtheit zweckgerichteter und situationsabhängiger Reden, Pamphlete und Aufrufe. Sie musste im Idealfall dem Selbst entsprechen und damit ein Teil der persönlichen Agenda sein. Im Fall des Abschiedsbriefes hinterließ der Revolutionär ein eigenes Vermächtnis; er betrieb somit eine Form von Propaganda, die sein eigenes Leben transzendierte. Das Verfassen eines Abschiedsbriefes gehörte in dieser Zeit, wie aus den Erinnerungen des zum Tode verurteilten und später begnadigten Michail Frolenko hervorgeht, zum festen Bestandteil der revolutionären Tradition.148

145 »[…] ja v ėtom ubeždën, kak ubeždën v tom, čto zemlja dvižetsja. I kogda ja vzojdu na ėšafot i verëvka kosnëtsja moej šei, to poslednjaja moja mysl’ budet: ›I vsë-taki ona dvižetsja, i nikomu v mire ne ostanovit’ eë dviženija.« Zit. n. Literatura social’no-revoljucionnoj partii 12. 146 »My, druz’ja i tovarišči S. Ja., ljubili ego do obožanija, blagogoveli, preklonjalis’ pered nim, pered izumitel’noj cel’nost’ju ego, nravstvennoj čistotoj i vysotoj, svjatost’ju.« Morejnis: Solomon Jakovlevič Vittenberg 49. 147 Troickij: Bezumstvo chrabrych 236. 148 Frolenko, Michail: Milost’. (Iz vospominanij ob Alekseevskom raveline). In: Byloe 2 (1906) 5–20, hier 6. Zum Thema der Lebensbilanzierung siehe auch Kladbišče pisem. In: Byloe 4–5 (1918) 86–108, hier 87.

136  Friedliche Propaganda und individueller Terror Das Gnadengesuch Mit dem Aufkommen terroristischer Praktiken nahmen rigoristische Tendenzen zu. Das Verfassen eines Gnadengesuchs galt als nicht hinnehmbar. Erwartet wurde, dass ein Terrorist sein Todesurteil mutig, mit »erhobenem Haupt« und ohne zu klagen akzeptierte, ja sogar mit Freude auf das Schafott stieg. Die Praxis sah jedoch oftmals anders aus. Von 28 Revolutionären, die in den späten 1870er Jahren zum Tode verurteilt wurden, verfassten acht Personen Gnadengesuche. Dasselbe tat eine große Zahl der zu Zwangsarbeit und Verbannung Verurteilten. Relativ gesehen erhöhte sich also die Zahl der Gnadengesuche im Vergleich zu den Propagandistenprozessen Jahre 1874 bis 1878, auch wenn die Erwartungen an die revolutionäre Integrität stiegen.149 Vasilij Efremov, Sohn eines Diakons und ehemaliger Seminarist, war einer der wenigen, die offen über ihr »moralisches Versagen« sprachen. ­Efremov war Mitglied des bereits erwähnten Kreises um Bucinskij. Er organisierte nach seiner Verhaftung einen Aufstand im Gefängnis. Deswegen wurde er von einem Militärgericht in Charkiw zunächst zum Tode und später zur sogenannten Ewigen Zwangsarbeit verurteilt.150 Efremov sprach von einem »schrecklichen Eindruck (užasnoe vpečatlenie)«151, den die Urteilsverkündung auf ihn hinterlassen habe. Selbst jetzt, viele Jahre später, löse die Erinnerung daran noch starke Emotionen aus. Ein anderer, gesundheitlich bereits angeschlagener, Revolutionär soll gar in Ohnmacht gefallen sein, als er aus Zeitungen von der anstehenden Hinrichtung des Genossen erfahren habe.152 Von einem »richtigen Revolutionär« wurde jedoch erwartet, dass er »in Würde« sterbe und »wacker auf das Schafott« steige153. Angst als solche war zwar noch kein Grund, einen Genossen aus den eigenen Reihen auszuschließen, doch ein Gnadengesuch galt als verheerend für die revolutionäre Reputation. Es stellte einen krassen Bruch mit den ungeschriebenen Verhaltensregeln des »Untergrundrusslands« (Kravčinskij) dar. Das Verfassen eines Gnadengesuchs galt seit den späten 1870er Jahren als Ausdruck der eigenen revolutionären Unzulänglichkeit: Je größer der moralische Rigorismus des Radikalen war, umso mehr musste das Gnadengesuch als Verletzung der eigenen Integrität erlebt bzw. artikuliert werden. Efremov, der seiner Hinrichtung nur durch ein solches Gesuch entrinnen konnte, begann folgerichtig die Erzählung über »diesen schrecklichen Schritt«154 mit weit ausholender Vorgeschichte, um dem potentiell feindlich gesonnenen Leser die Motive für das eigene Schei 149 Troickij: Bezumstvo chrabrych 250. 150 Šilov / Karnauchova (Hg.): Dejateli. Bd. 2, Teil 1 404 f. 151 Efremov, Vasilij: Malen’koe delo. In: Byloe 5 (1907) 81–105, hier 81. 152 Ebd. 84. 153 »No mysl’ [o pomilovanii, d. Verf.] byla brošena, a ja čuvstvoval, čto ne mog by umeret’ s dostoinstvom i bodro pojti na ėšafot.« Ebd. 97. 154 Ebd. 98.

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tern plausibel zu machen.155 Für den Ausdruck seiner »Zerknirschtheit« fand er folgenden, von einer sprunghaften Syntax verstärkten Ausdruck: »Hier stand was von der Verleumdung der eigenen Überzeugungen und ›falle euch zu Füßen‹… Ich werde rot vor glühender Scham auch jetzt, 28 Jahre später… ich unterschrieb… […] diesen schrecklichen Schritt halte ich für den schändlichsten in meinem politischen Leben und [selbst jetzt] in meinen Sechzigern kann ich mich nicht von einem bedrückenden Gefühl befreien, wenn ich daran zurückdenke.«156

Das Problem der revolutionären Willkür in den 1870er Jahren Ein anderes, kaum zu lösendes moralisches Problem war die Selbstjustiz. Ohne die Möglichkeit, auf juristisch-prozedurale Verfahren zurückgreifen zu können, war der Wunsch der Revolutionäre, »Gericht« über die Repräsentanten des Staates zu halten, mit womöglich noch größerer Willkür verbunden als die Prozesse, die ihnen selber an den Militärgerichtshöfen gemacht wurden. Auch in diesem Zusammenhang griffen die Terroristen gern auf Martyriumsvorstellungen zurück, um ihr Denken und Handeln zu legitimieren und die eigene moralische Integrität zu wahren. Die Terroristen, hieß es in einer Proklamation des ­Osinskij-Kreises nach der Ermordung eines Mitarbeiters der Dritten Abteilung in Rostov am Don, seien Beschützer der »Wahrheit« gegen die »Lügen und die Gewalt« der Autokratie. Der Mord sei zwar »eine schreckliche, harte Maßnahme«, doch Schuld daran trage allein die Regierung, denn »überall in Russland gehen Tausende unserer Genossen als Opfer ihrer Überzeugungen zugrunde, als Märtyrer für das Volk«157. 155 Der Memoirenschreiber versicherte seinen Lesern, selbst in den schrecklichen Momenten nach der Urteilsverkündung nicht daran gedacht zu haben, ein Gnadengesuch zu verfassen. Die »Versuchung« sei vielmehr in Gestalt der Gendarmen gekommen, die ihm den Gedanken nahegelegt haben sollen. Efremov schreibt, er habe zwar den unmoralischen Vorschlag kategorisch abgelehnt, doch »der Gedanke war in den Raum geworfen […]« (ebd.). Aus purem Mitleid mit dem zum Tode Verurteilten hätten deshalb die übrigen Prozessteilnehmer ihre »eigene Menschenwürde (sobstvennoe dostoinstvo)« (ebd.) geopfert und eigene Gnadengesuche verfasst. Um einen Rest Würde zu bewahren, hätten sie ihre Schreiben jedoch in einer mehr oder weniger neutralen Sprache gehalten. Diese Option war jedoch für den zum Tode Verurteilten nicht verfügbar, ihm wurde stattdessen ein vorgefertigtes Schreiben zur Unterzeichnung gegeben, in dem er sich von seinen sozialistischen Überzeugungen habe lossagen müssen. 156 »Bylo zdes’ i otrečenie ot svoich ubeždenkij, i ›pripadaju k stopam‹… Kraska žgučego styda zalivaet moë lico i teper’, spustja 28 let posle ėtogo… Ja podpisal… […] ėtot užasnyj šag ja sčitaju samym postydnym v svoej političeskoj žizni i na šestom desjatke let ne mogu otdelat’sja ot gnetuščego čuvstva pri vospominanii o nëm.« Ebd. 157 »My zaščiščaem interesy millionov narodnoj massy, my zaščiščaem pravdu protiv lži i nasilija; ubijstvo  – dlja nas užasnaja, tjažëlaja mera. No pravitel’stvo, podavljajuščee ves’ russkuj narod, vysasyvajuščee iz nego vse sily, presleduet nas, zaščitnikov naroda, kak dikich

138  Friedliche Propaganda und individueller Terror Die Praxis sah jedoch oftmals anders aus, wie beispielsweise die Ermordung des bereits erwähnten Gustav von Heyking zeigt. Der Gendarm galt in Kiew als besonders »liberal«, wenn es um die Verfolgung von »Lavristen« und »Ukrainofilen« ging, mit denen er es zu tun hatte. Von Heyking warnte nicht nur die »Dissidenten« wiederholt vor anstehenden Durchsuchungen, sondern versteckte sogar beschlagnahmte illegale Schriften vor seinen Vorgesetzten und wähnte sich deshalb auch dann in Sicherheit, als die Revolutionsbewegung zum Terrorismus überging. Genau diese Arglosigkeit machte ihn, wenn man Lev ­Tichomirov glaubt, zur idealen Zielscheibe für die Kiewer Terroristen, die durch einen politischen Mord auf sich aufmerksam machen wollten, dabei aber nicht über die finanziellen Mittel und die personellen Ressourcen verfügten, um ein kompliziertes Attentat auszuführen. Zudem fürchteten die Terroristen, dass von Heyking, der mit der Aufklärung der Verschwörung von Tschyhyryn beauftragt gewesen war, früher oder später auf die Spur der Osinskij-Gruppe kommen könnte.158 Da die »Rächer des Volkes« auf keine formellen juristischen Verfahren zurückgreifen konnten und auch ihren Opfern verständlicher Weise keine Möglichkeit einräumten sich zu erklären, war das Abdriften in Gewalt und Willkür unvermeidbar – und zwar auch dann, wenn dieser politische Mord von einem Menschen ausgeführt wurde, der wie Lev Dejč die »nečavščena« zutiefst ablehnte.159 Der Anschlag hatte folgende Vorgeschichte: Im Herbst des Jahres 1874 verhafteten die Behörden Nikolaj Gorinovič, einen Teilnehmer des »Ganges ins Volk«. Nach einhelliger Meinung der Revolutionäre, die sich damals allerdings nur auf Gerüchte und Mutmaßungen stützten, soll Gorinovič dabei ein »frei­mütiges Geständnis (otkrovennye pokazanija)«160 abgegeben haben. Anstatt nach seiner Freilassung Anfang 1875 aus der Revolutionsbewegung auszusteigen, wie Debogorij-Mokrievič später zynisch bemerkte,161 suchte Gorinovič zverej. Nas chvatajut, dušat po tjur’mam, na katorge. Po vsem koncam Rossii pogibajut tysjači našich tovariščej žertvoju svoich ubeždenij, mučenikami za narod.« Zit n. Ubijstvo špiona v Rostove na Donu v 1878 g. In: Byloe 6 (1904) 45–46, hier 46. 158 Litvinov, Nikolaj / Litvinova, Anastasija: Antigosudarstvennyj terror v Rossijskoj imperii. Istoričeskij očerk. In: Novyj Mir 11 (2003), URL :http://magazines.russ.ru/novyi_mi/ 2003/11/litvin.html (am 12.04.17); Tichomirov, Lev: Vospominanija. Moskau 2003, 144 ff. 159 Sowjetische Apologeten des »wahren revolutionären Geistes (podlinnaja revoljucionnost’)« schrieben dazu: »V. I. Zasulič, O. V. Aptekman, I. S. Džabadari, N. A. Čarušin, P. L. Lavrov, S. M. Stepnjak-Kravčinskij, Svetozar Markovič, L. G. Dejč i mnogie drugie revoljucionery edinodušno opredeljali ›nečaevščinu‹ kak nagljadnyj primer ›otricatel’nogo‹ opyta, kak popytku demoralizirovat’ dviženie i ›otodvinut’ ego nazad‹, kak ›dutuju zateju, postroennuju na obmane tovariščej‹«. Volodin, A. u. a.: Černyševskij ili Nečaev? O podlinoj i mnimoj revoljucionnosti v osvoboditel’nom dviženii 50–60-ch godov XIX veka. Moskau 1976, 273. 160 Šilov / Karnauchova (Hg.): Dejateli. Bd. 2, Teil 1 298; Debogorij-Mokrievič, Vladimir: Vospominanija. St. Petersburg 1906, 112. 161 Debogorij-Mokrievič: Vospominanija 268 f.

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aber weiterhin die Nähe zu radikalen Kreisen. Dies weckte den Verdacht, dass er als bezahlter Polizeispitzel agiere. Ohne Beweise dafür zu haben, also allein auf der Grundlage eines Verdachts,162 beschlossen die Revolutionäre ihren ehemaligen Genossen umzubringen. In der Nacht zum 11. Juni 1876 lockten Lev Dejč, ­Viktor Malinka und Jakov Stefanovič Gorinovič an einen wenig frequentierten Ort in Odessa und schlugen ihn mit Fäusten und einem Schlagring bewusstlos. Um die Spuren zu verwischen, übergoss Dejč seinen ehemaligen Freund mit Schwefelsäure. Der Angriff auf Gorniovič bildete den Auftakt zu einer ganzen Reihe von vergleichbaren Gewaltakten. Bekannt sind insgesamt 16 Mordanschläge auf tatsächliche oder vermeintliche Spione der Sicherheitsbehörden im Zeitraum zwischen dem 5. September 1876 (Ermordung des Arbeiters Vasilij Tavleevs) und dem 27. Dezember 1881 (Ermordung des Revolutionärs Pëtr Uspenskijs).163 Doch Gorinovič überlebte den Anschlag. Wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation und wegen Verbreitung illegaler Literatur wurde der »Spion« zusammen mit anderen Radikalen im berühmten »Prozess der 193« verurteilt. Dabei benutzten die Behörden das entstellte Gesicht des ehemaligen narodnik (jetzt kooperierte er mit der Anklage), um die angeblich besondere Grausamkeit der Revolutionäre zu demonstrieren. Tatsächlich hinterließ der junge Mann einen verstörenden Eindruck sogar auf seine Peiniger.164 Auf einem Foto, dass den entstellten Gorinovič zeigt,165 ist ein Mensch mit von Säure zerfressenem Gesicht zu sehen: die Augenhöhlen und die Nase teilweise bis zu den Knochen eingeätzt; im Gesicht und auf den Händen  – mehrere flächendeckende, geschwürartige Narben; die rechte Hand verkrüppelt und ebenfalls stark verätzt; die von der Säure zerfressenden Lippen klaffen weit auseinander. Dem Bemühen, die »Angeklagten mit Schande zu belegen (pokryt’ pozorom obvinjaemych)«166 – so die Worte des Anklägers – und damit letztlich die gesamte Revolutionsbewegung zu diskreditieren, war jedoch ein weitaus geringerer Erfolg beschieden als dem analogen Versuch der Jahre 1871 und 1873, als den nečaevcy und schließlich Nečaev selbst der Prozess gemacht worden 162 Fest steht nur, dass Gorinovič nach seiner Verhaftung den Behörden die Namen dreier Buchhändler nannte, bei denen er illegale Literatur erworben hatte. Siehe Rindlisbacher: Leben für die Sache 102. 163 Kvasov, O.: Terrorističeskie tradicii v narodničeskom dviženii vtoroj poloviny XIX veka. In: Mokšin, Gennadij (Hg.): Narodniki v istorii Rossii. Voronež 2013, 128–141, hier 129. 164 Debogorij-Mokrievič: Vospominanija 269. 165 Ein Abdruck der Fotografie aus dem GA RF findet sich bei Geifman, Anna: Thou Shalt Kill 86. Der Fotograf wählte wohl bewusst eine Einstellung, die es ihm ermöglichte, einen Horroreffekt beim Betrachter zu erwecken. Mit ihren starken Hell-Dunkel-Kontrasten erinnert die Fotografie des entstellten, blinden Gorinovič an einen »Prototypen« der Vampirfilme des frühen 20. Jahrhunderts. 166 Hier zitiert nach Pelevin, Jurij: ›Choždenie v narod‹ 1874–1875 gg. [Teil 3]. In: Voprosy istorii 6 (2013) 38–50, hier 42.

140  Friedliche Propaganda und individueller Terror war. Dies hing zu einem damit zusammen, dass die Mehrheit der Angeklagten sich aus nicht gewalttätigen Propagandisten zusammensetzte. Auch die Hauptanklage konnte im Verlauf des »Prozesses der 193« nicht erhärtet werden, denn anders als vom Gericht angenommen, gab es keine zentrale Untergrundorganisation, die eine Verschwörung gegen die Regierung geplant hätte. Dies führte dazu, dass das Gericht 90 Angeklagte freisprach, 20 zur Verbannung und nur 13 zu Zwangsarbeit verurteilte. Hinzu kam, dass drei der Angeklagten noch vor der Urteilsverkündung in der Haft verstarben, was in regierungskritisch bis oppositionell gestimmten Kreisen zusätzliche Sympathien für die Radikalen weckte.167 Im radikalen Lager aber führte der Prozess zu Reaktionen, die sich bis zum »Hass auf die Regierung«168 steigerten. Einen großen Beitrag dazu leisteten sicherlich die Auftritte der Angeklagten, allen voran die Rede von Ippolit Myškin, die später sogar als eigenständige Broschüre zirkulierte.169 Nicht weniger wirkungsmächtig war der »offene Brief« von 24 sogenannten Protestanten, in dem sie sich als »Feinde des in Russland herrschenden Systems« bezeichneten und die Genossen dazu aufforderten, sich auf das »heilige Ziel, derentwegen wir verfolgt werden«170, hin zu bewegen. Alles in allem zeigte der Prozess, dass die mit Aplomb betriebene Entlarvung revolutionärer Willkür wenige Chancen auf Erfolg hatte, solange im Land eine administrative Willkür herrschte, die in gebildeten Schichten als ein »abartiger Zustand«171 empfunden wurde. Was jedoch das Verhältnis der Revolutionäre zu den Problemen der Selbstjustiz betrifft, so war dieses gespalten. Viele Jahre später bedauerte Dejč den »abstoßenden Akt«172 gegen Gorinovič. Das Attentat bezeichnete er als das »traurigste« Ereignis in seinem Leben, das eine immer präsente, »schmerzlichste Erinnerung«173 hinterlassen habe. Dennoch schob er wie Debogorij-Mokrievič einen Teil der Verantwortung für das Attentat auf das Opfer selbst. Schließlich

167 Itenberg: Dviženie revoljucionnogo narodničestva 390–400. 168 »Delo v tom, čto v ėtot god proischodil ›bol’šoj process 193-ch‹, i otčëty o nëm, vosproiz­ vedënnye tajnym stankom, rasprostranjali krajnee nedovol’stvo, dochodivšee do nenavisti k  pravitel’stvu, i vyzyvali vsë bol’šee postuplenie adeptov dviženija.« Pribylëv, Aleksandr: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Pri­ loženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 343–362, hier 356. 169 Zu Versuchen, die Verbreitung der illegalen Schrift einzudämmen, siehe GA RF f. 94, o. 1, d. 116 und GA RF f. 94, o. 1, d. 121. 170 Hier zitiert nach Pelevin: ›Choždenie v narod‹ 1874–1875 [Teil 3] 43. 171 So der »liberale« Professor Aleksandr Nikitenko in einem Tagebucheintrag aus dem Jahre 1875. Zit. n. Itenberg: Dviženie revoljucionnogo narodničestva 390. 172 Dejč, Lev: Za polveka. Bd. 2 [= Reprint der Berliner Ausgabe von 1932]. Cambridge 1975, 134. 173 »Ja podošël teper’ k samomu pečal’nomu v moej žizni sobytiju, ostavivšemu nikogda ne zabyvaemoe mnoju mučitel’nejšee vospominanie,  – k moemu učastiju v pokušenii na Gorinoviča.« Ebd. 120.

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wäre Gorinovič nichts passiert, »wenn er leise von der Bühne getreten wäre«174. Auf eine ausdrückliche Verurteilung des Mordens im Namen des Sozialismus verzichtete Dejč bewusst. Gorinovič wurde selbstredend weder zum Opfer einer besonderen Perfidität der Revolutionäre, wie man es im Falle Sergej Nečaevs durchaus vermuten könnte und wie es die Staatsanklage gern gesehen hätte, noch zum Opfer eines bedauernswürdigen Missgeschicks. Natürlich gab es auch innerhalb der Bewegung Radikale, die wiederholt den krankhaften Wunsch äußerten, »alle zu vernichten und zu töten, die nur einen europäischen Kittel trugen«175. Andere, wie Aron Gobet, ein Mitglied des Wittenberg-Kreises, forderten, alle Beamten, Gendarmen und Richter zu »schlagen, [zu] hängen, [zu] erschießen, mit Dynamit [zu] sprengen«176, da die Revolution nur so gemacht werden könne. Doch war Dejč keineswegs ein Mensch vom Schlage eines Gobet. Vielmehr war Gorinovičs Verstümmelung die Folge eines strukturellen, dem Terrorismus inhärenten, lösungsresistenten Problems. Vergleichbare Fälle konnten sich beliebig oft wiederholen und bedurften nicht einmal einer besonderen persönlichen Grausamkeit. Die Geschichte der Revolutionsbewegung kennt viele vergleichbare Fälle. Dass sich die sogenannte »nečaevščina« gegen ihre eigenen »Kinder« richten konnte, zeigt das Schicksal des Pëtr Uspenskij, eines der Mörder des Studenten Ivan Ivanov. Uspenskij Gefängnisgenossen, Ignatij Ivanov, Fëdor ­Jurkovskij und Andrej Balamez beschlossen, dass Uspenskij ein Verräter sei, woraufhin Uspenskij kurzerhand in der Badestube erhängt wurde. Ein Kameradschaftsgericht kam im Anschluss an den Mord zu dem Ergebnis, dass die Beschuldigungen völlig unbegründet gewesen waren,177 wobei selbstredend weder die Mörder Uspenskijs noch das Kameradschaftsgericht über irgendwelche befriedigenden Möglichkeiten der Beweissicherung, Aufklärung, Prozessverhandlung und sonstiger Verfahren verfügte, also all jener Prozeduren, deren Einhaltung die Revolutionäre vom Staat einforderten. Solange Terror als Mittel der Wahl galt, hatten die Aktivisten gar keine andere Möglichkeit, als sich über

174 »To že nesomnenno proizošlo by i s Gorinovičem, sojdi on ticho so sceny. No, po ego sobstvennoj vine (sic!), s nim vyšlo inače.« Ebd. 129. 175 Džabadari erinnerte sich: »Soveršenno junyj (kažetsja let 17–18), sposobnyj, do ­jurkosti živoj, Rabinovič razdražal vsech na schodkach svoimi neumestnymi i rezkimi prizyvami istrebljat’ i ubivat’ vsech, kto tol’ko nosit evropejskij sjurtuk. Menja lično on do takoj stepeni vozmuščal ėtim dikim prizyvom, čto ja perestal dalee zdarovat’sja s nim daže pri slučajnych vstrečach«. Džabadari, Ivan: Process 50-ti (Vserossijskaja Social’no-Revoljucionnaja Organizacija, 1874–77 g. g.). In: Byloe 8 (1907) 1–26, hier 26. 176 »Po-moemu, vsech ich nado bit’, vešat’, streljat’, vzryvat’ dinamitom  – tol’ko togda sdelaetsja revoljucija.« Zit. n. Volk, Stepan: Narodnaja volja, 1879–1882. Moskau, Leningrad 1966, 70. 177 Šilov / Karnauchova (Hg.): Dejateli. Bd. 1, Teil 2 418.

142  Friedliche Propaganda und individueller Terror die von ihnen eingeforderten aufklärerischen Prinzipien selber hinwegzusetzen: Die terroristische Zelle – gleichgültig, wie klein oder groß sie sein mochte – war »Judikative«, »Legislative« und »Exekutive« in einem. Dieses Dilemma sahen auch Apologeten des Linksterrorismus. Nikolaj Michajlovskij beklagte, dass die »strafende Gerechtigkeit« nur das »Böse durch das Böse«178 zu bezwingen in der Lage sei. Dies könnte aber eventuell dazu führen, dass der Terrorist jegliches Gefühl für das richtige Maß verliere und sich Terror und Gegenterror kumulativ steigerten. Sein (durchaus ernstgemeinter) Lösungsansatz bestand darin, so etwas wie Spielregeln für den Terrorismus aufzustellen und gleichzeitig im Terroristen »Edelmut, Barmherzigkeit und andere Merkmale der ›edelsinnigen Menschlichkeit‹«179 zu kultivieren. Die Idee, dass »edelmütige« Terroristen und die »richtige Organisation der Rache«180 – sozusagen eine Form von Gewalt-Management auf tugendethischer Basis – das Problem der Willkürlichkeit und unnötiger Grausamkeit lösen könnten, mag widersprüchlich gewesen sein, doch fand sie innerhalb der Revolutionsbewegung weite Verbreitung.181 Nur eine »Mythisierung« des Terroristen, seine (Selbst-) Zeichnung als eine den Repräsentanten des Staates moralisch überlegene Person sowie die Erklärung des Terroristen zu einem Gegenwehr leistenden Opfer und »Märtyrer« konnte die »schreckliche, harte Maßnahme« rechtfertigen.

178 »Karajuščaja spravedlivost’ ispravljaet zlo zlom, krome togo mest’, kak my videli, stremitsja perejti za itogi nanesënnogo vreda. Tak kak točnaja mera mesti ne možet byt’ ­opredelena ni čuvstvom, ni rassudkom, opirajuščimsja na meterial, dostavljaemyj ­čuvstvami že, to možno vsegda opasat’sja, čto predpisannoe prirodoju bol’še perejdët v čeresčur.« Michajlovskij, Nikolaj: Utopija Ranena i teorija avtonomnosti ličnosti Djuringa. In: Redakcija žurnala ›Russkoe Bogatstvo‹ (Hg.): Sočinenija N. K. Michajlovskogo. Bd. 3. 4. Auflage. St. Peters­burg 1897, 207–254, hier 241. 179 Ebd. 242. 180 Ebd. 181 Wittenberg, der von den Zeitgenossen als eine sensible, gebildete Persönlichkeit mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit charakterisiert wurde, soll sich nach seiner Verhaftung geweigert haben, einen aussichtsreichen Fluchtversuch zu unternehmen, um nicht die persönliche Freiheit eines Offiziers zu gefährden, den man in die Fluchtpläne involvieren wollte. In seinem bereits zitierten Abschiedsbrief bat er Fani Morejnis, die geschworen hatte, Rache an Wittenbergs Mördern zu nehmen, mit folgendem  – ungenauen  – Bibelzitat von ihrem Vorhaben abzusehen: »›prosti im, ne znajut bo čto tvorjat‹ […] um ich pomutilsja; oni vidjat, čto skoro nastanet novoe vremja, i ne znajut, kak otvratit’ ego. Eščë raz prošu tebja, ostav’ vsjakuju mysl’ o mesti«. Dennoch war Wittenberg bereit, Duzenden Menschen (darunter auch dem einfachen Zugpersonal) das Leben zu nehmen, als er die Vorbereitungen für die Sprengung des Kaiserzugs mit Hilfe einer Mine traf. Zit. n. Literatura social’no-revoljucionnoj partii 12. Zu den Fluchtplänen siehe Morejnis: Solomon Jakovlevič Vittenberg 58.

Schlussbetrachtungen    143

4.3 Schlussbetrachtungen Die politischen Aktivisten der 1870er Jahre erbten den Rigorismus ihrer Vorgänger aus den 1860er Jahren. Auch für sie gab es oftmals nur die radikale Trennung zwischen der moralisch guten Welt der sozialistischen Bewegung und des »einfachen Volkes« auf der einen Seite und der verabscheuungswürdigen Welt des Zarismus und der Bourgeoise auf der anderen. In den 1870er Jahren strömten junge Radikale aufs Land, um ihr egalitäres, antiautokratisches Gedankengut zu verbreiten. Die Jahre des »Ins-Volk-Gehens« waren eine formative Phase. Junge Menschen unternahmen erste konkrete Versuche, ihre Vorstellungen vom guten Leben zu verwirklichen. Sie verstanden sich als Agenten eines teleologischen Geschichtsprozesses, an dessen Ende die »Befreiung« der Menschheit von »Tyrannei« und »Ausbeutung« stand. Um diesem Ziel näher zu kommen, wurden konspirative und propagandistische Praktiken erprobt. Im Frühjahr 1874 nahm die Bewegung kurzzeitig einen Massencharakter an. Nicht wenige erprobten dabei Praktiken der radikalen Selbstbeschränkung und Selbstbeherrschung wie Fasten oder Schmerzenserduldung. Diese wurden von ihnen aus dem christlichen Denken entlehnt, wobei die Rezeption wiederum von familiären, schulischen und literarischen Vermittlungsinstanzen beeinflusst gewesen war. Das asketische Ideal hatte deshalb eine unmittelbare Auswirkung auf die Art und Weise, wie Selbstbeherrschung praktiziert und artikuliert wurde: Erst das Erleiden von Schmerzen und Hunger sowie der – eigentlich nicht nötige – Verzicht auf gute Kleidung und selbst minimalen Komfort wurden als eine authentische, dem Selbst adäquate Lebensweise für das Wohl des »Volkes« betrachtet. Das am eigenen Körper erfahrene Leid wurde oftmals als tiefe moralische Genugtuung gesehen. In der zweiten Hälfte der 1870er Jahre verbreitete sich eine tiefe Skepsis sowohl gegenüber der Empfänglichkeit der bäuerlichen Schichten für sozialistische Propaganda als auch gegenüber der Möglichkeit, unter den gegebenen politischen Bedingungen weiterhin erfolgreich »im Volk« arbeiten zu können. Folgerichtig kam es innerhalb der Zemlja i volja, der größten revolutionären Organisation der Zeit, zu einer Spaltung in derevenščiki und politiki. Letztere hielten die Erringung einer konstitutionellen Reform und anderer politischer Rechte für unabdingbar und tendierten dazu, Terror als legitimes und notwendiges Kampfmittel zu betrachten. Terror wurde in erster Linie als Form der Selbstverteidigung betrachtet. Dabei kam es jedoch zu einer zunehmenden Aufweichung des ohnehin nicht fest definierten Begriffes »Selbstverteidigung«. Terror wurde außerdem durch Praktiken des bewaffneten Widerstand ergänzt, bei dem Revolutionäre im Falle von Durchsuchungen oder Verhaftungen mit Waffengewalt antworteten. Nach dem Attentat von Zasulič auf Trepov am 24. Januar 1878 setzte sich eine Gewaltspirale in Gang. Revolutionäre ermordeten Repräsentanten des Staates. Militärtribunale verurteilten Terroristen in

144  Friedliche Propaganda und individueller Terror Schnellverfahren zum Tode. Die theoretische Begründung revolutionärer Gewalt und des Terrors im Besonderen trat dabei hinter die emotionale Perzeption zurück. Die radikalen Frauen und Männer der 1870er Jahre hatten in der Regel keine »klare Vorstellungen über den Gang der Revolution und die zukünftige sozialistische Ordnung«182. Für die einen zeichnete sich der Sozialismus »in einer fernen Zukunft wie ein heller Fleck im Nebel«183 ab. Andere wiederum sprachen davon, dass der Sturz der Autokratie unmittelbar bevorstehe und dass der Sozialismus »schon bald triumphieren« (Wittenberg) und das »Reich des Guten und der Wahrheit« (Bucinskij) bald heranbrechen werde.184 Terror war das große Versprechen einer Bewegung, die in eine Sackgasse geraten war. Dies erklärt, warum Gewalt selbst dann selten verurteilt wurde, wenn sie von revolutionären Gruppen aus ideologischen Gründen nicht praktiziert wurde. »Es wurde ersichtlich«, schrieb Aptekman, ein derevenščik, der den Terror selbst negativ bewertete, »dass die Propaganda des Sozialismus bei der gegebenen Entwicklung des Volkes keinen Erfolg haben kann. Man muss zum energischen Handeln übergehen.«185 Terror hingegen versprach die Verletzung der Würde des Individuums zu rächen, ein »Recht auf ein freies Leben«186 sicherzustellen und ihm die Möglichkeit zu geben, trotz aller Bevormundung durch den Staat und polizeilicher Willkür autonom handeln zu können. Zu dieser Zeit nahm Terror zunächst noch einen »spontanen« Charakter an. Für die »Praktiker« fing der revolutionäre Terror aber sukzessive an, einen wichtigen Teil der eigenen Identität zu bilden. Jeden toten Radikalen feierte die Bewegung 182 Der Narodnik Stepan Bogdanov, einer der wenigen Radikalen der Zeit mit bäuerlichen Hintergrund, schrieb folgendermaßen über seine Kontakte mit Radikalen in den frühen 1870er Jahren: »Čital, meždu pročim, politič[eskuju] ėkonomiju Dž. St. Millja s primečanijami Černyševskogo, Lassalja, romany Špil’gagena i dr. Čital revoljucionnye brošury i ›Vperëd‹ P. L. Lavrova. Pri vsëm ėtom moi učitelja ne dali mne jasnogo predstavlenija i chode revoljucii i buduščem, socialističeskom stroe«. Bogdanov, Stepan: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 25–28, hier 27. 183 »Socializm, chot’ i želatelen, risuetsja nam v dalëkom buduščem svetlym pjatnom v tumane.« Salova, Neonila: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 393–414, hier 398. 184 Myškin fasste diese weitverbreitete Überzeugung der semidesjatniki in seiner Rede auf dem »Prozess der 193« folgendermaßen zusammen: »ne nužno byt’ prorokom, čtoby pri teperešnem otčajanno bedstvennom položenii naroda predvidet’, kak neizbežen rezul’tat ėtogo položenija: vseobščee narodnoe vosstanie.« GA RF f. 1167, o. 1, d. 2435, l. 3. 185 »Stalo jasno, čto propaganda socializma pri teperešnem razvitii naroda ne možet imet’ uspecha. Nado perejti k dejstviju.« Aptekam: Avtobiografija 9. 186 »U mnogich narodnikov juga v to vremja [späte 1870er Jahre, d. Verf.] uže načala tuchnut’ vera v propagandu socializma sredi krest’jan, narastalo iskanie novych putej – ­otvoevat’ pravo na svobodnuju žizn’.« Ivanovskaja, Praskov’ja: Abtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 151–163, hier 157.

Schlussbetrachtungen    145

dabei als »Märtyrer«, was eine Vergewisserung der eigenen Stellung im historischen »Befreiungsprozess« darstellte, das Elitenbewusstsein der Gruppe stärkte und Aporien des Terrorismus kaschierte. Damit wurde der moralische Rahmen stabilisiert und die Selbstreproduktion des revolutionären Untergrunds ermöglicht. Zur Entstehung des Martyriumsdiskurses der 1870er Jahre trugen die eigenständige Lektüre religiöser Literatur (Evangelien, Heiligenvitae) sowie der Einfluss von Priestersöhnen, die bestens in geistlicher Literatur bewandert waren, bei. In der sogenannten Übergangszeit187 zwischen der Zemlja i volja (1876) und der Gründung der größten und schlagfertigsten revolutionären Organisation ihrer Zeit, der Narodnja Volja (1879), erfolgte eine Akzentverschiebung im moralischen Rahmen. Terroristische und damit zusammenhängende autobiographische Praktiken radikalisierten den Martyriumsdiskurs. Nun gab es, wie von Koval’skij prophezeit, Dutzende toter Genossen, deren Briefe und Fotografien gesammelt und aufbewahrt wurden und deren Leben zu Helden- und Märtyrernarrativen verdichtet wurden. In einem Fall haben narodniki  – analog zur Reliquienverehrung – den Genossen sogar Locken abgeschnitten und – ähnlich wie im Falle des »Heiligen Kreuzes« – Splitter vom Galgen abgeschabt und aufbewahrt. Auch Objektauthentizität (Echtheit des materiellen Zeugnisses) spielte dabei eine gewisse Rolle: So durften die Haarlocken einem Kassiber zufolge nicht miteinander verwechselt werden, um ihren Ursprung sicherzustellen. Der Autor maß den Locken eine persönliche Bedeutung zu, die über einen rein funktionallen Umgang mit dem Material hinausging.188 Die Überreste der Toten (ihre Briefe, Locken, Galgensplitter) suggerierten, dass die Hingerichteten tatsächlich in Übereinstimmung mit den eigenen Moralvorstellungen gelebt hatten. Der Abschiedsbrief zeichnete jeweils das Bild eines Menschen, der seine »privaten« Interessen den »öffentlichen« (was darunter zu verstehen war, war Auslegungssache der Radikalen selbst) untergeordnet 187 Im sowjetischen »narodnikovedenie« (Narodniki-Kunde) wurde der Terrorismus der späten 1870er Jahre als eine Übergangsphase vom Terrorkonzept der zweiten Zemlja i volja (Ermordung von Spitzeln und Gendarmen als Schutzmittel vor Verhaftungen) zum Terrorkonzept der Narodnaja volja (Politischer Mord als Druckmittel zur Erringung politischer Rechte) interpretiert. Siehe dazu Tvardovskaja: Socialističeskaja mysl’ Rossii 21–22. 188 GA RF f. 6225, o. 1, d. 72. Die Artefakte konnte ich nicht einsehen. Den Mitarbeitern des GA RF zufolge werden sie nur für Ausstellungen freigegeben. Wie aus einem Kassiber hervorgeht, wurden die Locken der Verurteilten vor ihrer Hinrichtung »zum Andenken (na pamjat’)« abgeschnitten. Der Autor des Kassibers maß jenen eine außergewöhnliche persönliche Bedeutung zu: »Auf den Blättern zu jedem der [Haar]büschel steht ein Buchstabe (der Anfangsnachname [sic] dessen, dem die Haare gehören). Ich bitte diese Haare in Un­ versehrtheit mit den Blättern (die Ihr verändern könnt, indem Ihr die Buchstabenaufschrift mit Tinte ausführt) ins Innere meines Kreuz einzulegen. Vergiss nicht, 674225619 [chiffrierter Name des Adressaten, d. Verf.], hüte dieses Kreuz; wann das auch sein möge, aber ich hoffe es wieder zu tragen«. GA RF f. 6225, o. 1, d. 56, l. 34.

146  Friedliche Propaganda und individueller Terror hatte. Das war zum einen das Ergebnis einer langen Entwicklungsgeschichte, spiegelte aber auch die Situation von Menschen wieder, die  – zum Tode verurteilt – eine letzte Lebensbilanz zogen. Dank des Totenkultes bekam die Neubewertung der »Ich-Wir-Balance« einen normativen Charakter. Die Radikalisierung der Bewegung spiegelte sich nicht zuletzt in der gestiegenen Intoleranz gegenüber Abweichlern aus den eigenen Reihen und Menschen, die sich von diesem moralischen Rahmen überfordert fühlten. Durch den Übergang zum Terror wurde das alte Problem der »nečaevščina« wieder aktuell. Auf der einen Seite bekämpfte die Bewegung die staatliche Willkür, auf der anderen Seite entschieden ihre Akteure willkürlich über Leben und Tod. Dies hing jedoch nicht mit einer vermeintlichen Boshaftigkeit der Revolutionäre zusammen, wie es die Autokratie und ihre Unterstützer gerne sahen und rechte Kreise im heutigen Russland189 verstanden wissen möchten. Irrtümer und Justizwillkür sind auch in Demokratien nicht auszuschließen. Sobald aber eine Untergrundbewegung sich das Recht nimmt, über Leben und Tod zu richten, wird Willkür zum strukturellen Problem. Alles in Allem lässt sich beobachten, dass das Glück der Gemeinschaft zu einem Hypergut wurde, von dessen erhoffter Realisation die Stabilität und Wertigkeit der individuellen Lebensentwürfe abhing. Die Verzahnung religiös imprägnierter Zukunftsvorstellungen mit den spezifischen Autonomie- und Authentizitätsvorstellungen der Revolutionäre produzierte aber ein erhebliches Konfliktpotenzial. Die Verschiebung der »Ich-Wir-Balance« zugunsten des »Wir«, der deklarierte Verzicht auf persönliches Glück,190 führte dazu, dass das gute oder gelingende Leben in der »öffentlichen« Sphäre verortet wurde, was erhebliche Herausforderungen sowohl für die Revolutionsbewegung als auch für das Russländische Reich und seine sich zaghaft herausbildende Gesellschaft mit sich brachte.

189 Siehe zum Beispiel Nevjarovič, Vladimir: Revoljucija i besooderžimost’, 24.01.04, URL : http://www.pravoslavie.ru/626.html (am 10.04.17). 190 Oder in den bereits zitierten Worten von Michail Goc: »Ich verstand [nach der Lavrov­ lektüre, d. Verf.] warum der Wunsch nach persönlichem Glück, sogar dem raffiniertesten [Glück], haarsträubend unmoralisch ist, solange wir nicht unsere Bringschuld begleichen«. GA RF f. 6243, o. 1, d. 1, l. 152.

5. Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung. Die Revolutionäre der 1880er Jahre 5.1 Der »Wille des Volkes« Die Entstehung der Narodnaja volja Den letzten Anstoß zur Spaltung der Zemlja i volja gab das gescheiterte Attentat auf Alexander II ., durchgeführt durch den zemlevolec Aleksandr Solov’ëv, der viel Zeit seines Lebens »im Volk« verbracht, sich aber am Ende desillusioniert von »reiner« Propagandatätigkeit abgewandt hatte. Der Attentatsplan Solovo’ëvs wurde von den politiki, unter denen sich auch Michajlov und ­Kvjatkovskij befanden, unterstützt. Die derevenščiki hingegen, allen voran ­Plechanov, Aptekman und Popov, fürchteten, dass die Reaktion der Regierung die Arbeit auf dem Dorf ernsthaft gefährden könnte. Es kam zum Streit. Obwohl die Organisation letzten Endes das Attentat nicht billigte, traute sich die Mehrheit der derevenščiki nicht, einen offenen Bruch zu riskieren und den Befürwortern untersagen, Solov’ëv bei seinem Vorhaben zu unterstützen.1 Am 2. April 1879 näherte sich der Terrorist dem Zaren, als sich dieser auf seinem allmorgendlichen Spaziergang befand, und feuerte mehrere Schüsse ab, die jedoch alle ihr Ziel verfehlten. Nur wenige Wochen nach dem Attentat, am 25. Mai, wurde der Attentäter gehängt. Um die nun drohende endgültige Aufsplitterung der Zemlja i Volja zu verhindern, einigte man sich darauf, noch im Juni ein Treffen in Woronesch abzuhalten. Nur wenige Tage vor dem geplanten Treffen hielten die politiki eine als Picknick getarnte Tagung in einem Wäldchen unweit von Lipezk ab. Hier zeigte der Helden- und Märtyrermythos noch einmal seine volle Wirkung: Michajlov begann mit der Verlesung von Osinskijs Abschiedsbrief und sprach ein »Todesurteil« über Alexander II . aus, dem die Anwesenden einstimmig zustimmten.2 Die Teilnehmer einte ein politischer Grundkonsens (Notwendigkeit des terroristischen Kampfes und der Erringung politischer Freiheiten), auch wenn er bei näherem Betrachten in unterschiedliche Vorstellungen davon, was unter politischen Freiheiten und revolutionä 1 Borcke: Gewalt und Terror im revolutionären Narodničestvo 13; Volk: Narodnaja volja 83; Tvardovskaja: Socialističeskaja mysl’ Rossii 45–47. 2 Borcke: Gewalt und Terror im revolutionären Narodničestvo 13; Volk: Narodnaja volja 83–94.

148  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  rem Terror genau zu verstehen sei, zerfiel.3 Nicht weniger wichtig für den Zusammenhalt der Gruppe waren deshalb die mithilfe heroischer und religiöser Semantiken verklärte Erinnerung an die Toten aus den eigenen Reihen sowie der in den Texten der Revolutionäre immer wieder artikulierte Hass auf den politischen Gegner. Im Juni fand das Treffen in Woronesch statt. Dabei bekräftigten die Teilnehmer noch einmal den Wunsch, die organisatorische Einheit nicht zu gefährden. Dies konnte jedoch nicht mehr viel an den grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten ändern. Im August gingen die ehemaligen zemlevol’cy schließlich verschiedene Wege und spalteten sich in die Nachfolgeorganisationen Černyj peredel (Schwarze Umverteilung) und Narodnaja volja (Wille des Volkes) auf.4 Die Bezeichnung Černyj peredel ging auf das kommunale Verteilungsprinzip zurück, bei dem das Land nach seiner Fruchtbarkeit bemessen in etwa gleichmäßig – die Methode variierte je nach Landesteil – unter allen Bauern verteilt wurde. Viele narodniki betrachteten dieses Prinzip als »protosozialistisch« und forderten seine Ausdehnung auf das ganze Land. Die neue Organisation lehnte die Ermordung von Repräsentanten des Staates als ineffektives Mittel ab5 und konzentrierte sich weiter auf die Arbeit »im Volk«, existierte jedoch nicht lange. 3 Morozov forderte beispielsweise den bedingungs- und kompromisslosen terroristischen Kampf; Kvjatkovskij sah im Terror ein zweitrangiges Mittel und den Zarenmord nicht als alternativlose Angelegenheit; Željabov und andere dachten in erster Linie an einen gewaltsamen Umsturz der Regierung und betrachteten den Zarenmord lediglich als eine Vergeltungsmaßnahme. Volk: Narodnaja volja 88 ff. Einige wichtige narodovol’cy (Željabov, Michajlov) glaubten an die Möglichkeit einer Einheitsfront mit liberalen Kräften. Borcke: Gewalt und Terror im revolutionären Narodničestvo 15. Die Mehrheit aber betrachtete Liberale als Verräter an der Sache der Volksbefreiung oder verspottete sie wie Serebrjakov als »halbe Persönlichkeiten ohne eine klare, eindeutige Weltanschauung (polavinčatye ljudi, ne imevšye jasnogo opredelënnogo mirovozrenija)«. So Ėsper Serebrjakov, Veteran der Militärorganisation der NV, über »liberale (liberal’stvujuščie)« Offiziere. Ders.: Revoljucionery vo flote (očerk vtoroj). In: Byloe 4 (1907) 96–139, 124. 4 Die von den politiki vertretene Position, die den politisch-terroristischen Kampf an die erste Stelle setzte und der Arbeit »im Volk« einen nachrangigen Stellenwert zubilligte, war in Woronesch aus ideologischen, aber nicht etwa moralischen Gründen kaum konsensfähig. Zwar bekräftigte die Tagung den Wunsch der Teilnehmer, die organisatorische Einheit nicht zu gefährden (es wurde beschlossen, von nun an die Arbeit auf dem Dorf durch den aktiven terroristischen Kampf zu ergänzen), aber schon im August gingen die ehemaligen zemlevol’cy getrennte Wege. 5 Černyj peredel lehnte zwar terroristische Methoden ab, praktizierte aber weiterhin politische Morde, wenn es um Fragen der »Selbstverteidigung« ging. So etwa im Fall der Ermordung von Aleksandr Žarkov. Der Arbeiter und Revolutionär Žarkov wurde mit einer Teilauflage des Zentralorgans Narodnaja volja verhaftet, aber schon bald darauf freigelassen, was den Verdacht weckte, dass er ein Überläufer sein könnte. Durch den narodovolec Kletočnikov, der als Doppelagent in der Dritten Abteilung tätig war, konnte in Erfahrung gebracht werden, dass Žarkov tatsächlich eingewilligt hatte, für den Staat zu arbeiten. Da Žarkov viele Mitglieder des Černyj peredel und Narodnaja volja persönlich kannte, wurde seine Ermordung beschlossen, wobei man mit der Ausführung des Attentats Mitglieder der ­Narodnaja volja

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Schon bald nach ihrer Gründung wurden führende Mitglieder in St. Petersburg und Moskau verhaftet und die geheime Zentraldruckerei im Frühjahr 1880 beschlagnahmt. Daraufhin entschlossen sich die führenden Vertreter Plechanov, Dejč, Stefanovič und Zasulič, nach Westeuropa zu emigrieren. Noch gravierender war der relativ geringe Rückhalt in den Zirkeln innerhalb Russlands. Die dominierende Strömung war eindeutig das narodovol’čestvo.6 Die Narodnaja volja lebte zunächst in großem Maße vom politischen Kapital, das ihr in Folge der Hinrichtungen von Osinskij, Lizogub, Wittenberg und anderer zugefallen war. An den durch Osinskijs Abschiedsbrief maßgeblich gestifteten Mythos des heroischen, sich »opfernden« Revolutionärs knüpften die narodovol’cy auch sprachlich an, indem sie ihrem Führungsgremium die Bezeichnung Ispolnitelnyj komitet (Exekutivkomitee) gaben. Hinzu kamen personelle Kontinuitäten. Dem ersten Exekutivkomitee der Narodnaja volja gehörten viele »Südländer (južane)« an, also Revolutionäre, die Ende der 1870er in der heutigen Ukraine, dem Geburtsort des russischen revolutionären Terrorismus,7 tätig gewesen waren. Von ihrer Vorgängerorganisation Zemlja i volja erbte die Narodnaja volja die zentralisierte Struktur: An oberster Stelle stand das Exekutivkomitee, dem alle örtlichen Gruppen sowie alle Unterorganisationen wie die sogenannte Militärorganisation und der Zentrale Arbeiterkreis unterstanden. Die Mitglieder des Exekutivkomitees hatten zwar gleiches Stimmrecht, mussten sich aber einer Mehrheitsentscheidung stets beugen.8 Die untergeordneten Mitglieder mussten dem Exekutivkomitee gegenüber gehorsam sein. Alle narodovol’cy sollten das »gesamte persönliche Leben«9 den Interessen der Revolution unterordnen. Diese Forderung wurde schon in Nečaevs »Katechismus« aufgestellt, konnte sich aber erst im Verlauf der 1870er Jahren zu einer dominanten Leitvorstellung entwickeln. Zahlenmäßig war die Größe der neuen

beauftragte. Auf Žarkovs Konto könnte die Aufdeckung der geheimen Druckerei des Černyj predel gehen. Siehe Aptekman, Osip: Obščestvo ›Zemlja i Volja‹ 70-ch g­ odov. Glava XIV. In: Gineev, V. u. a. (Hg.): ›Narodnaja Volja‹ i ›Černyj peredel‹. Vospominanija učastnikov revoljucionnogo dviženija v Peterburge v 1879–1882 gg. Leningrad 1989, 286–305, hier 303–305. 6 Offord: The Russian Revolutionary Movement 26 ff. 7 Ein Versuch, den Zusammenhang von Terrorismus und ukrainischer Spezifik zu erklären, findet sich bei Kappeler: Zur Charakterisierung russischer Terroristen 532–534. ­Kappeler geht davon aus, dass die vergleichsweise geringe Integrierung des Südwestens in das Reich, die Unterdrückung des neuen Selbstbewusstseins der ukrainischen und jüdischen Bevölkerung sowie der rasche ökonomische und demographische Wandel der Region einen idealen »Nährboden für Protestbewegungen« (ebd. 533) dargestellt hätten. 8 Kan: ›Narodnaja Volja‹ 67–69, 72. 9 So der schriftlich abgefasste Schwur, den die Offiziere um Serebrjakov bei ihrem Eintritt in die Organisation geleistet haben sollen: »[…] otnyne pervenstvujuščej cel’ju našej žizni budet rabota v pol’zu vyšeskazannogo perevorota v rjadach partii ›Narodnoj Voli‹ i čto vsju ličnuju našu žizn’ my podčinjaem ėtoj celi«. Serebrjakov: Revoljucionery vo flote 109.

150  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Organisation im Vergleich zur Gesamtbevölkerung von 90 Millionen verschwindend gering: Dem Exekutivkomitee gehörten nie mehr als 20 bis 22 Personen gleichzeitig an, wobei 44 Personen zum inneren Zirkel der Organisation gehörten und etwa 500 Personen in den Provinzen operierten. Hinzu kamen 3000 bis 4000 »Sympathisanten«.10 Diese Kräfte waren jedoch ausreichend, um zwischen 1879 und 1881 eine in der europäischen Revolutionsgeschichte nie dagewesene Tätigkeit zu entfalten. Das politische Wirken der »Partei«11 ließ sich nicht, wie oft angenommen, auf einen »reinen Terrorismus« reduzieren, obwohl die Versuche, Alexander II . zu ermorden, alle Kräfte des Exekutivkomitees bündelten. In St. Petersburg, Moskau, Odessa, Kiew und Charkiw wurden Arbeiterzirkel gegründet oder bestehende inkorporiert, zum Zwecke der Agitation die Rabočaja gazeta (Arbeiterzeitung) herausgegeben. Außerdem wurden konspirative Militärzirkel in St. Petersburg und im Kronstadter Marinestützpunkt ins Leben gerufen.12 Fortgesetzt wurde auch die Agitation auf dem Land, wenn auch in einem weitaus geringeren Maße als in den 1870er Jahren. Für die Agitation unter heterodoxen religiösen Gruppen wurde die sogenannte Christianskoe bratstvo (Christliche Bruderschaft) gegründet, deren Agitationstexte ähnlich wie schon die zitierte Propagandaschrift des Severnyj rabočij sojuz (Nördlicher Arbeiterbund) systematisch auf religiöse Tropen zurückgriffen. Die Revolutionäre bemühten sich in diesem Fall darum, eine Sprache zu finden, die nach ihrem Empfinden den »Sektanten« verständlich sein könnte und letztere über »geteilte« moralische Tugenden wie Gerechtigkeit und die besondere Stellung der Arbeit im sozialistischen Denken aufklären würde.13 In ihren programmatischen Texten gingen die narodovol’cy, wie Grigorij Kan feststellt, von der Prämisse aus, das dem »Volk« bestimmte egalitäre Vorstellungen wie das Recht des Einzelnen auf Land, kommunale Selbstverwaltung, Redeund Gewissensfreiheit seit jeher eigen gewesen seien. Die Regierung fungierte in diesem Modell als natürlicher Gegenspieler des »Volkes«, der im Zuge einer Revolution gestürzt werden müsse. Nach dem Umsturz sollte auf der Grundlage allgemeiner Wahlen eine Konstituierende Versammlung ins Leben gerufen 10 Borcke: Gewalt und Terror im revolutionären Narodničestvo 6. 11 In den Texten der narodovol’cy finden sich zwei Bedeutungen des Begriffs »Partei«. Im ersten Fall wurde »Partei« im Sinne von »liberal’naja partija« oder »social-­revoljucionnaja partija« verwendet. Damit wurde eine Gruppe von Menschen mit ähnlichen politisch-­ moralischen Überzeugungen bezeichnet. Eine »Organisation« hingegen umfasste Mitglieder, die sich durch bestimmte gemeinsame programmatische Leitlinien gebunden sahen. Siehe dazu Kan: ›Narodnaja Volja‹ 67. Manchmal konnte »Partei« aber auch bereits auf eine »politische Organisation« verweisen. Eine Partei im heutigen Sinne waren weder die ­Narodnaja volja noch die sozialistischen Organisationen vor der Revolution von 1905, auch wenn sie sich als Parteien bezeichneten. 12 Offord: The Russian Revolutionary Movement 28. 13 Troickij, Nikolaj: ›Narodnaja Volja‹ pered carskim sudom. 2. Auflage. Saratow 1983, 21 ff.

Der »Wille des Volkes«    151

werden.14 Als weitaus wichtiger als die ideologisch-politische Orientierung eines Mitglieds wurde dessen unbedingte Bejahung der radikalen Moralvorstellungen des »terroristischen Flügels« erachtet. Neue Mitglieder wurden nicht konkret zu ihren politischen Ansichten befragt, wie sich Morozov erinnerte: »Wir fragten nur: Bist Du bereit, sofort Dein Leben, Deine persönliche Freiheit und alles, was Du besitzt, für die Befreiung des Vaterlandes hinzugeben?«15 Nach der Ermordung des Zaren Alexander II . nahmen ideologische Differenzen sogar zu. Fast ein jeder verstand das Programm auf seine Weise, erinnerte sich später Michail Goc, sodass radikale programmatische Meinungsverschiedenheiten in Kreisen, die der Narodnaja volja nahestanden oder sich auf diese beriefen, Mitte der 1880er Jahre keine Seltenheit mehr waren.16 Die »Selbstmythisierung« der narodovol’cy Die Ermordung von Alexander II . am 1. März 1881 durch Mitglieder der Narodnaja volja bildete für zukünftige Generationen von Revolutionären einen zentralen Bezugspunkt. Für sie symbolisierte dieses Datum die Wirkungsmächtigkeit des revolutionären Willens, den Triumph der Sich-Opfernden über den autokratischen Staat. Die narodovol’cy selbst prägten diesen »Mythos« maß­ geblich mit. Obwohl dem terroristischen Kampf in den programmatischen Texten der Narodnaja volja keine primäre Rolle zukam und die Organisation, wie bereits geschrieben, durchaus in der Lage war, traditionelle Propagandanetzwerke zu unterhalten, bündelte die terroristische Tätigkeit auf Dauer ihre Ressourcen. Der Terror entfaltete zum ersten Mal eine umfassende Schockwirkung, als es »der Partei« gelang, den Speisesaal des Regenten im Winterpalast in die Luft zu sprengen.17 Der Anschlag versetzte die Regierung in höchste Alarmbereitschaft 14 Kan: ›Narodnaja Volja‹ 76. 15 Zit. n. Borcke: Die Ursprünge des Bolschewismus 406. 16 GA RF f. 6243, о. 1,  d 1а, l. 43. Ideologische Meinungsverschiedenheiten änderten jedoch wenig an der Entwicklung der Revolutionsbewegung nach dem Zerfall der Narodnja Volja. Ideologie legitimierte politisches Handeln, determinierte es jedoch nicht, wie Naimark herausgestellt hatte. Naimark, Norman: Terrorists and Social Democrats. The Russian Revolutionary Movement Under Alexander III . Cambridge 1983, 239. 17 Der erste Versuch der narodovol’cy, Alexander II . zu ermorden, fiel auf den Herbst des Jahres 1879, als die Rückkehr des Zaren von der Krim nach St. Petersburg bevorstand. Drei terroristische Gruppen legten selbstgebaute Minen bei Odessa, Aleksandrovsk und unweit von Moskau. Der Moskauer Gruppe gelang es, am 19. November die Mine zur Detonation zu bringen. Da jedoch kurzfristig beschlossen wurde, die Reihenfolge der Züge zu ändern und den Zug des Imperators vorzuschicken, wurde von der Detonation nur der Zug mit den höfischen Bediensteten erfasst. Da dieser nur langsam fuhr, wurde dabei niemand ernsthaft verletzt. Unmittelbar nach dem Attentat verhaftete die Gendarmerie in einer konspira­ tiven Wohnung ein ranghohes Mitglied der »Partei« und fand unter anderem Propagandaliteratur, falsche Pässe, Nitroglyzerin und detaillierte Skizzen des Winterpalastes, auf denen

152  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  und führte zu einer Reihe von Reformen, die von Graf Loris-Melikov in der kurzen Zeit der sogenannten Diktatur des Herzens18 exekutiert wurden. Auch den Tod ihrer eigenen Mitglieder nutzte die Organisation höchst effek­tiv zur Mehrung ihres politischen Kapitals. Dies zeigte sich schon bald, als in Folge des ersten Prozesses gegen Mitglieder der Narodnaja volja (sogenannter Prozess der 16) zwei narodovol’cy, Alexandr Kvjatkovskij und ­Andrej ­Presnjakov, zum Tode verurteilt und am 4. November 1880 hingerichtet wurden. Die »Partei« würdigte üblicherweise jeden neuen hingerichteten Revolutionär als »Märtyrer«19, so auch Kvjatkovskij und Presnjakov. In einem Flugblatt hieß es: »Am 4. November, um 8 Uhr und 10 Minuten morgens, empfingen zwei unserer teuren Genossen, Aleksandr Aleksandrovič Kvjatkovskij und Andrej Konrneevič Presnjakov den Märtyrerkranz.«20

Mit diesen einleitenden Worten feierte das Zentralorgan, das auf originelle Weise den Lakonismus eines Zeitungsnekrologs mit Elementen einer Heiligenvita und dem erzieherischen Duktus einer Sonntagspredigt verband, den Tod der beiden Terroristen für »die große Idee« und den »nahenden Triumph«21 des Sozialismus. Dadurch wurde das Sachliche mit dem Emotionalen verbunden und ein wirkungsvoller »expressivistischer« Effekt erzeugt. Die semantischen Zimmer­vermerkt waren, deren Existenz nicht einmal allen Bediensteten bekannt gewesen sein konnte. Daraufhin wurden die Sicherheitsmaßnahmen im Palast verstärkt, doch die wahre Bedeutung der Pläne erschloss sich den Beamten nicht. Siehe Volk: Narodnaja volja 101–103; Kan: ›Narodnaja Volja‹ 69–70. 18 Im Bezug auf die Strafverfolgung bedeutete dies Folgendes: Die Dritte Abteilung wurde aufgelöst, die Gendarmerie und politische Polizei dem Innenministerium unter­geordnet, in demokratischen Kreisen verhasste Minister abgesetzt, die Zensur gelockert. Zwar wurde in zwei Fällen die Todesstrafe schon alleine für die Verteilung illegaler Literatur angewandt, doch im Großen und Ganzen wurden, wie selbst sowjetische Historiker konstatierten, weniger unbegründete Durchsuchungen, Verhaftungen und Exilierungen durchgeführt als früher. Gegenüber Terroristen wurde jedoch Härte gezeigt. Volk: Narodnaja volja 105f; Borcke: Die Ursrpünge des Bolschewismus 390–392. Der Ausdruck »Diktatur des Herzens« wurde fälschlicherweise oft auf Katkov zurückgeführt und als ironisch missinterpretiert. »Diktatur des Herzens« war jedoch ursprünglich als Kompliment gemeint: »Esli ėto [die Rede ist von Loris-Melikovs Plänen, eine größere Teilnahme der Gesellschaft zu erwirken, d. Verf.]  – slova diktatora, to dolžno priznat’, čto diktatura ego  – diktatura serdca i mysli«. Zit. n. Itenberg, Boris / Tvardovskaja, Valentina: Graf M. T. Loris-Melikov i ego sovremenniki. Moskau 2004, 403. 19 Angesichts der Hinrichtung dreier Radikaler am 7. Dezember 1879 hieß es: »Tri ­novych imeni probavilos’ k  dlinnomu spisku našich mučennikov.« Literatura social’no-­ revoljucionnoj partii 151. 20 »4-go nojabrja, v 8 časov 10 minut utra, prinjali mučeničeskij venec dvoe našich ­dorogich tovariščej, Aleksandr Aleksandrovič Kvjatkovskij i Andrej Konrneevič Presnjakov.« Zit. n. ebd. 285. 21 »Oni umerli, kak umejut umirat’ russkie ljudi za velikuju ideju: umerli s soznaniem živučesti revoljucionnogo dela, predrekaja emu blizkoe toržestvo.« Zit. n. ebd.

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und stilistischen Anklänge an die Abschiedsbriefe der späten 1870er Jahre waren für jeden Leser erkennbar. Die Proklamation endete in der Manier Osinskijs, der die Genossen auffordert hatte, das »kostbare Blut« nicht umsonst zu vergießen, mit einem Aufruf an die russische Intelligenzija ihre Kräfte im Kampf mit der Regierung rational einzusetzen: »Aus deinen Reihen gingen diese Märtyrer hervor, um, das persönliche Glück verachtend, für die Volksfahne einzutreten. In ihnen wurdest du hingerichtet. Aber die Quelle der lebensschaffenden Kraft wird nicht versiegen […]. Brüder! Gebt euch nicht dem Gefühl der Verwegenheit und der Rache hin: Seid der Berechnung treu; bewahrt, sammelt eure Kräfte, die Stunde des Gerichts nahet!«22

Mit der hier zum Vorschein trettenden Hierarchisierung moralischer Güter wurde die Intelligenzija zu einer Art »Glaubensgemeinschaft« stilisiert. Die »Quelle«, aus der sie die »lebensspendende Kraft« schöpfen sollte, war natürlich eine Anspielung auf die dritte Person in der Dreifaltigkeit (Spiritum Sanctum Dominum et vivificantem), die in der altkirchenslavischen Variante des Credo mit »den Heiligen Geist, den Herrn, den Lebenschaffenden« übersetzt wird. Während die Intelligenzija dazu aufgerufen wurde, keine unüberlegten Schritte zu tun, erschien Narodnaja volja selbst als apokalyptischer Engel, der die Stunde des Jüngsten Gerichts verkündet. Dieser Text hätte wohl keine große Bedeutung erlangt, wenn es den Terroristen nur wenige Monate später nicht gelungen wäre, den Imperator zu ermorden. Am 1. März 188123 nahte sich gegen drei Uhr nachmittags der Konvoi des Zaren 22 »Iz tvoich rjadov vyšli ėti mučeniki, čtoby, prezrev ličnoe sčast’e, stat’ za narodnoe znamja. V  ich lice kaznili tebja. No ne issjaknet istočnik životvornoj sily […]. Brat’ja! ne poddavajtes’ čuvstvu udali i mščenija: bud’te verny rasčëtu; sberegajte, nakopljate sily, sudnyj čas nedaleko!« Zit. n. ebd. 286–287. 23 Der Anschlagsplan sah vor, den Zaren auf dem Weg ins Exerzierhaus Michajlovskij Manež zu ermorden. Dazu sollte eine Mine unterhalb des Bürgersteigs der Malaja Sadovaja ulica gelegt und im rechten Moment gezündet werden. Für den Fall, dass der Zar die Explosion überleben sollte, wurde beschlossen, weitere Bombenwerfer in der Nähe zu platzieren. Als Anschlagsdatum wurde der 1. März 1881 gewählt. Die Vorbereitungen wurden von ­Andrej Željabov geleitet, der jedoch am 17. Februar gefasst werden konnte. Die Verhaftung des faktischen Leiters des Exekutivkomitees konnte glücken, da es den Behörden gelang, den im »Prozess der 16« verurteilten Revolutionär Okladskij zur Zusammenarbeit zu überreden, der sich durch eine aktive Zusammenarbeit vor dem Strang rettete. Die Verhaftung Željabovs stand in einer Reihe von empfindlichen Schlägen, die der Staat der revolutionären Organisation versetzen konnte. Entscheidend war dabei die Verhaftung von Nikolaj Kletočnikov, der als Mitarbeiter der Dritten Abteilung und nach deren Auflösung als Mitarbeiter des Polizeidepartements Zugang zu vertraulichen Informationen hatte und die Revolutionäre mehrmals vor anstehenden Durchsuchungen und Verhaftungen hatte warnen können. Anstatt die Vorbereitungen abzubrechen beschlossen die Mitglieder des Exekutivkomitees, das ­Attentat um jeden Preis durchzuführen. Doch am 1. März nahm der Zar nicht die Route über die M ­ alaja Sadovaja, sondern über den Ekaterininskij kanal (heute Griboedovskij kanal), womit die Möglichkeit, die Mine zu zünden, wegfiel. Daraufhin änderte Perovskaja, die neue Leiterin­

154  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  einem Hinterhalt der narodovol’cy. Der neunzehnjährige Nikolaj Rysakov warf eine Bombe unter die Hufe der Pferde. Sie explodierte unterhalb der Kutsche des Imperators und riss zwei Menschen in den Tod. Die Kutsche wurde beschädigt, doch der Zar blieb unverletzt. Er stieg aus der Kutsche aus und sah sich die Unglückstelle an. Daraufhin stürmte ein zweiter Attentäter, der Pole Ignacy Hryniewiecki, auf Alexander  II . zu und warf ihm einen Sprengsatz vor die Füße. Sowohl der Attentäter als auch der Zar starben noch am selben Tag.24 Das Attentat ging als »Erster März« in die europäische Geschichte ein. Der Prozess gegen die sogenannten pervomartovcy (grob zu übersetzten als »Frauen und Männer des Ersten März«) dauerte nur wenige Tage (26. bis 29. März). Am dritten Tag nach der Urteilsverkündung (3. April 1881) wurden die Verurteilten gehängt.25 Nach der Urteilsvollstreckung wurden die Hingerichteten von ihren Mitstreitern und Sympathisanten in gewohnter Art zu »Märtyrern« für »die Sache« verklärt. So hieß es beispielsweise in einem Flugblatt, welches exakt demselben Muster folgte, wie schon das Flugblatt, das nach der Hinrichtung von Presnjakov und Kvjatkovskij verteilt wurde: »Am dritten April, zwischen 9 und 10 Uhr morgens, auf dem Semënovskij-Platz empfingen die Sozialisten den Märtyrerkranz: Der Bauer Andrej Željabov, die A ­ delige Sof’ja Perovskaja, der Priestersohn Nikolaj Kibal’čič, der Bauer Timofej Michajlov und der meščanin Nikolaj Rysakov.«26

Diese Liste wurde ergänzt durch eine namentliche Erwähnung einer großen Zahl bis dato hingerichteter Revolutionäre. Insgesamt wurden 27 Namen genannt. Auch im Listok Narodnoj Voli hieß es gegen Ende des Leitartikels Von der Redaktion, dass die positiven Veränderungen, die Russland in den letzten vier Jahren durchlebt habe, nur mit dem »Blut unserer Märtyrer«27 erkauft werden der Gruppe, eigenmächtig den Plan und platzierte die Bombenwerfer auf dem Kanalgelände, um den Zaren auf dessen Rückweg anzugreifen. 24 Insgesamt forderte der Anschlag 17 Verletzte und 4 Tote, darunter einen vierzehnjährigen Jungen. Kan: ›Narodnaja Volja‹ 70; Volk: Narodnaja volja 107–112; 25 Eine Ausnahme wurde nur für die schwangere Gesja Gel’fman gemacht. Im Gefängnis brachte sie ein Kind zur Welt, das ihr sofort abgenommen wurde. Es setzte eine Kampagne für die Umwandlung der Todesstrafe in eine Haftstrafe ein, für die prominente Persönlichkeiten wie Victor Hugo gewonnen werden konnten. Gel’fman wurde das Leben geschenkt, doch im Gefängnis gewährte man ihr weder während noch nach der Geburt medizinische Hilfe, so dass sie qualvoll an einer Bauchfellentzündung verstarb. 26 »3-go aprelja meždu 9 i 10 utra na Semënovskom placu v Peterburge prinjali mučeni­ českij venec socialisty: krest’janin Andrej Željabov, dvorjanka Sof’ja Perovskaja, syn svjaščennika Nikolaj Kibal’čič, krest’janin Timofej Michajlov i meščanin Nikolaj Rysakov.« Zit. n. Ot ispolnitel’nogo komiteta. In: Byloe 8 (1908) 9–10, hier 9. 27 Zit. n. Literatura social’no-revoljucionnoj partii ›Narodnaja Volja‹ 387. Die Ansicht, dass die Revolutionsbewegung den Zaren zu weitreichenderen Konzessionen veranlasst habe, war im Prinzip richtig. Allerdings sollte die Ermordung Alexander II . ein jähes Ende der Reformbemühungen und die Zerschlagung der Revolutionsbewegung bringen.

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konnten. Was sich also nach etwas mehr als zwei Jahren des aktiven Terrorismus, vom Anschlag auf Fëdor Trepov (24. Januar 1878) bis zur Hinrichtung des wichtigsten Anführers der Narodnaja volja, Andrej Željabov (4. April 1881), herausgebildet hatte, war so etwas wie ein »heroisches Pantheon«28. Die Evokation der Namen der Hingerichteten, das kollektive Vorlesen ihrer Abschiedsbriefe sowie die propagandistische Aufarbeitung ihres Todes in Zeitungsartikeln und in der Belletristik bildeten eine nicht zu unterschätzende Motivationsquelle für das Handeln der Revolutionäre. Den Martyriums- und Heldentexten kam bei der Werbung um Sympathien und Mittel, der Gewinnung neuer Anhänger und der (Selbst-)Disziplinierung eine weitaus größere Bedeutung zu als den theoretischen Texten. Hierin lag auch die langfristige Bedeutung der nach dem »Ersten März« fast inaktiven Narodnja volja. Ergänzt wurde die propagandistisch-­mediale Kampagne zur Durchsetzung des Konzepts der revolutionären »Märtyrer« und der »Glaubensgemeinschaft« der Intelligenzija durch den Vertrieb von Fotografien hingerichteter oder zu Zwangsarbeit verurteilter Revolutionäre.29 Ein weiterer wichtiger Text, der den »Mythos« der »Partei« begründete, war das sogenannte Testament des unmittelbaren Mörders des Zaren, Ignacy Hrynewiecki. Polnische Sozialisten sympathisierten eigentlich mit den derevenščiki, zumal zwischen den Führern der »Schwarzen Umverteilung« und den polnischen Sozialisten personelle Bekanntschaften bestanden. Dies begann sich jedoch nach den ersten Teilerfolgen der narodovol’cy zu ändern. Hrynewiecki studierte in St. Petersburg, kam dort in den Kontakt mit russischen Revolutionären und trat schließlich der Narodnja volja bei.30 Kurz vor dem Anschlag verfasste er eine Art Abschiedsbrief (von den Genossen auch »Testament« genannt). In diesem Text bedauerte er das große Blutvergießen, das der »letzte tödliche Kampf (poslednjaja smertel’naja schvatka)« mit der Autokratie fordern werde. Dennoch behauptete er, dass die Geschichte gezeigt habe, dass für die Freiheit »Menschenopfer«31 gebracht werden müssten. Sich selbst bezeichnete Hrynewiecki einmal als »Mörder« und gleich darauf als »Opfer«, das die Ankunft des 28 Der Begriff wurde vorgeschlagen von Baranov, Aleksandr: Terrorizm i graždanskoe mučeničestvo v evropejskoj političeskoj kul’ture novogo i novejšego vremeni. In: Obščestvennye nauki i sovremennost’ 1 (2004) 77–88, hier 78. Seitdem fand er Eingang in die russischsprachige Forschungsliteratur. Siehe z. B. Safronova: Russkoe obščestvo 226. 29 So wurden beispielsweise in der zweiten Ausgabe der Narodnaja volja die Leser darauf aufmerksam gemacht, dass sie über die geheimen Vertriebskanäle Fotografien bekannter Revolutionäre, die zu diesem Zeitpunkt entweder tot oder in Sibirien waren, erwerben konnten. Siehe Literatura social’no-revoljucionnoj partii 150. 30 Dziewanowski, Marian: The Beginnings of Socialism in Poland. In: The Slavonic and East European Review 29 (1951) 510–531, hier v. a. 527–528. Ignacy Hrynewiecki, gehörte zu jenen Polen, die wie Ludwik Waryński, der Begründer des Proletariat (1882), eher kosmopolitisch eingestellt waren und die nationale Frage hinter die soziale stellten. Ebd. 31 Zit. n. Otryvok iz zaveščanija Grinevickogo. In: Byloe 1 (1900) 5–6, hier 5.

156  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Sozialismus näher bringe. Dabei verband er den romantischen Topos des frühen Todes mit dem allgemeinen teleologischen Denken der meisten vor-bernsteinianischen Sozialismuskonzeptionen: »Das Schicksal hat mich für einen frühen Tod auserkoren, ich werde den Sieg nicht sehen, werde keinen Tag, keine Stunde in der hellen Zeit des Triumphes leben, aber ich finde, dass ich durch meinen Tod alles tun werde, was ich tun musste, und mehr kann mir niemand, niemand auf der Welt abverlangen.«32

Die Texte der narodovol’cy zeichneten ein geschlossenes Bild eines sich »opfernden«, uneigennützigen Menschen, der mit seinem Tod die Einheit von »Wort und Tat« bekräftigt. Dabei gelang es eine sich seit längerem abzeichnende Tendenz zu vollenden: Die konzeptuelle Amalgamierung des passiven »Martyriums« mit dem aktiven »Heldentum«. Der Terrorist war »Opfer« und »Mörder« zugleich. Er starb nicht »wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird« (Apg 8,32), sondern als ein selbstbewusstes, »kritisch denkendes« Individuum, das nicht aus niederen Beweggründen wie etwa persönlicher Rache, sondern aus hohen Motiven (»Befreiung der Menschheit«) heraus zur Waffe greift. Es ist nicht erstaunlich, dass die Anführer der Narodnaja volja »Rache« als ein »privates« und damit »niederes« Motiv bewertet haben. So soll beispielsweise Perovskaja beteuert haben, dass solche Motive eines Revolutionärs, der für die »Befreiung des Volkes« kämpft, nicht würdig seien. Folgerichtig soll sie einem Genossen zufolge auch das Attentat auf Trepov (1878) nicht als einen Racheakt, sondern als »Vergeltung für die entweihte menschliche Würde (vozmezdiem za porugannoe čelovečeskoe dostoinstvo)«33 gedeutet haben. Trotz solcher Beteuerungen ist es jedoch praktisch unmöglich, bei der Analyse der terroristischen Praxis eine scharfe Trennlinie zwischen »Rache (mest’)« und »Vergeltung (vozmezdie)« zu ziehen, zumal die Terroristen in diesem Zusammenhang auch auf Konzepte wie »Pflicht (dolg)« und »Ehre (čest’)« auswichen und auch die Grenzen zwischen »Privatem« und »Öffentlichem« fließend waren.34 Ähnliches gilt für die terroristische Praxis. Je mehr Revolutionäre auf dem Schafott endeten, umso kühner wurden die Attentatsversuche. So deutet alles darauf hin, dass erst nach der Hinrichtung Kvjatkovskijs und Presnjakovs, 32 »Sud’ba obrekla menja na rannjuju smert’, i ja ne uvižu pobedy, ne budu žit’ ni odnogo dnja, ni časa v svetloe vremja toržestva, no sčitaju, čto svoeju smert’ju sdelaju vsë, čto dolžen byl sdelat’, i bol’šego ot menja nikto, nikto na svete trebovat’ ne možet.« Zit. n. ebd. 6.  33 Ivanov: Iz vospominanij o 1881 gode 236. 34 Diese terminologische Konfusion wurde von sowjetischen Historikern, die dazu neigten, Elemente des revolutionären Diskurses als historische Analysekategorien zu verwenden, noch weiter vorangetrieben. Volk schrieb beispielsweise, dass nach der Hinrichtung Kvjatkovskijs und Presnjakovs »Rache« für die Mitglieder des Exekutivkomitees nicht nur zu einer »Pflicht«, sondern auch zu einer Sache der »Parteiehre« geworden sei: »Mest’ carju členy IK stali sčitat’ ne tol’ko dolgom, no i čest’ju partii«. Volk: Narodnaja volja 107.

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welcher in seinem letzten Brief die Genossen ausdrücklich darum bat, im Falle einer Hinrichtung, den Terror zu intensivieren,35 die »Jagd« auf den Zaren zu einer fast schon obsessiven Angelegenheit für den inneren Kreis der Organisation wurde. Aber auch in einigen anderen Zirkeln herrschte eine recht ähnliche Stimmung. So forderte das Flugblatt »Von den Arbeitermitgliedern der Partei Narodnaja volja« mit Verweis auf Mk 27,25 direkt dazu auf, Rache zu nehmen für die Hinrichtung der sozialistischen »Märtyrer«: »Genossen! Werden wir denn nicht unsere Beschützer und Kämpfer [Kvjatkovskij und Presnjakov, d. Verf.] rächen? Werden wir schweigen vor unseren Peinigern? Nein! Sonst wird das Blut dieser Märtyrer für das Arbeiterglück und die Arbeiterfreiheit auf unsere Köpfe kommen.«36

Der narodovolec Zavališin sprach also nicht zu Unrecht bei einem Verhör davon, dass er in seiner damaligen Begeisterung nicht bemerkt habe, »dass in diesem Kampf eine beträchtliche Portion an Rachegelüsten« (k ėtoj bor’be primešalas’ značitel’naja dolja mesti) begemischt gewesen sei, »dass sie nicht so rein war, wie es mir schien« (čto ona ne byla takoju čistoj, kak mne kazalos’)37. Auch bei der Evaluierung der Motive des terroristischen Kampfes scheinen die narodovol’cy zum »Opfer« ihrer eigenen Märtyrervorstellungen geworden zu sein. Das geschwächte Exekutivkomitee (nach dem Zarenmord blieben vom ersten EK bald nur noch drei Mitglieder auf freiem Fuß) war nur noch der Schatten seiner selbst und konnte unmittelbar nach dem Anschlag keine weiteren Projekte mehr realisieren. Es folgten lediglich einige Proklamationen, von denen der »Brief des Exekutivkomitees an Alexander III .« die wichtigste gewesen sein dürfte. Hier wurde der neue Zar aufgefordert, den »tiefen Sinn (glubokij smysl)«38, der in der Ermordung seines Vaters gelegen habe, zu verstehen und umgehend demokratische Reformen einzuleiten. Der sowjetische Historiker Volk lobte den »würdevollen, ruhigen Ton (polnyj dostoinstva spokojnyj ton)«39 des Textes. Das Gegenteil war der Fall. Der »Brief« war weniger an ­A lexander  III .

35 Figner, Vera: Pis’ma učastnikov processa 16-ti. In: Katorga i ssylka 3 (1930) 97–104, hier 101. 36 »Tovarišči! Neuželi my ne otomstim za svoich zastupnikov i borcov; neuželi my budem molčat’ pered svoimi mučiteljami! Net! Inače krov’ ėtich mučenikov za narodnoe sčast’e i volju padët na naši golovy.« Zit. n. Ot rabočich členov partii Narodnoj Voli. In: Byloe 3 (1903) 169–171, hier 171. 37 Zit. n. Kantor, Ruvim: K istorii Voennoj organizacii ›Narodnoj Voli‹. (Pokazanija F. I. Zavališina). In: Katorga i ssylka 5 (1925) 210–240, hier 218. 38 »Posle vsego, proisšedšego v tečenie poslednego desjatiletija, ona [›krovavaja tragedija‹, d. Verf.] javljalas’ soveršenno neizbežnoj, i v ėtom eë glubokij smysl, kotoryj objazan ponjat’ čelovek, postavlennyj sud’boju vo glave pravitel’stvennoj vlasti.« Zit. n. Literatura social’norevoljucionnoj partii 903. 39 Volk: Narodnaja volja 117.

158  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  gerichtet (die Ermordung Alexanders II . selbst war die überaus klare Botschaft an den neuen Regenten) als vielmehr an alle Radikalen sowie an die mit den narodovol’cy sympathisierenden Kreise der obščestvennost’. Dafür spricht sowohl die sehr große Zahl an gedruckten Exemplaren40 als auch der fast schon obligatorische Rückgriff auf revolutionäre Martyriumsvorstellungen. So mahnten die Verfasser unter anderem an, dass bereits Dutzende Revolutionäre »mit Mut und Gelassenheit der Märtyrer (s mužestvom i spokojstviem mučenikov)«41 gestorben seien, dass aber repressive Maßnahmen die Revolutionsbewegung ebenso wenig zerstören könnten, »wie der Kreuztod des Heilands« die »unzüchtige antike Welt« vor dem »reformierenden Christentum«42 habe retten können. Hinter dieser traditionsreichen Gleichsetzung der jungen sozialistischen Bewegung mit dem frühen Christentum verbarg sich ein politisches Kalkül, welches jedoch nicht mehr aufgehen konnte. Nach der nahezu vollständigen Zerschlagung der Narodnaja Volja in den ersten Herrschaftsjahren Alexanders III . zerfiel die Revolutionsbewegung in unbedeutende, mit einander oft nicht einmal in Kontakt stehende Zirkel.43 Doch das verklärte Bild einer mächtigen Untergrundorganisation von selbstlosen Widerstandskämpfern, die ihr Leben für die »gemeinsame Sache« geopfert und dabei den mächtigsten Mann des Landes zu Fall gebracht hatten, entfaltete

40 Die unmittelbar am Druck beteiligte Praskov’ja Ivanovskaja spricht von angeblich mehr als 10 000 Exemplaren. Dies.: Avtobiografija 160. 41 Hier zitiert nach Pis’mo Ispolnitel’nogo komiteta k Aleksandru III . In: Byloe 3 (1906) 33–37, hier 33–34. 42 »Ėto [revoljucionnoe dviženie, d. Verf.] process narodnogo organizma, i viselicy, vozdvigaemye dlja naibolee ėnergičnych vyrazitelej ėtogo processa, tak že bessil’ny spasti otživajuščij porjadok, kak krestnaja smert’ Spasitelja ne spasla razvrativšijsja antičnyj mir ot reformirujuščego christianstva.« Zit. n. ebd. 34. 43 Versuche, die Nardnaja volja »wiederauferstehen« zu lassen, blieben ohne Erfolg. Unter der Führung von Vera Figner, dem letzten freien und in Russland verbliebenen Mitglied des ursprünglichen Exekutivkomitees (Tichomirov und Ošanina waren emigriert), gelang es zwar 1882, den Militärstaatsanwalt Vasilij Strel’nikov zu ermorden, als dieser einen Nachmittagsspaziergang durch Odessa unternahm, doch an die alten Erfolge konnte nicht mehr angeknüpft werden. Für den desolaten Zustand der Organisation spricht die Tatsache, dass die verbliebenen Mitglieder nicht einmal die zehnte Ausgabe des Zentralorgans herauszubringen vermochten, da im Dezember 1882 der Verwalter der geheimen Druckerei, Degaev, verhaftet wurde. Degaev aber konnte zur Zusammenarbeit gewonnen werden, die zur Verhaftung von Vera Figner und weiteren Mitglieder führte. Nach der »Beichte« Degaevs und der Ermordung seines »Kurators«, des talentierten Gendarms Georgij Sudejkin, scheiterten die weiteren Versuche, die Narodnja volja wieder aufzubauen. Weder die 1883 in der Hauptstadt gegründete Junge Partei des Volkswillens, die zunächst im Konflikt mit den emigrierten alten narodovol’cy stand, noch die Versuche der Emigranten, allen voran Lopatins, der Organisation zu alter Größe zu verhelfen, führten zu nennenswerten Erfolgen. Borcke: Die Ursprünge des Bolschewismus 400; Offord: The Russian Revolutionary 56–63; Rindlisbacher: Leben für die Sache 190–192.

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eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Angefangen bei Zeitschriftennamen (­ Narodovolec, Volja naroda, Chleb i volja, Soldatskaja volja, Volja Rossii) bis hin zu symbolischen Daten44 versuchten politische Gruppen unterschiedlichster politischer Richtungen, an den vom narodničestvo, insbesondere dem narodovol’čestvo kreierten »Mythos« anzuknüpfen. Besonders viel für die Popularisierung der narodovol’cy leistete in dieser Hinsicht der Publizist Vladimir Burcev, der in seiner Zeitschrift Byloe, deren erste Ausgabe 1900 erschien, nicht nur Schlüsseldokumente der Revolutionsbewegung druckte, sondern auch ein breites Korrespondenznetz zu Veteranen der Bewegung knüpfte. Dank der Narrativierung des eigenen Lebens und des der gefallenen Kameraden sowie der Einbettung dieser Narrative in eine gemeinsame große Geschichte konnte ein Raum entstehen, in dem »Privates« und »Öffentliches«, Selbstzeugnisse, Propagandaschriften und Prozessprotokolle einander ergänzten und eine zusammenhängende Heldengeschichte konstruierten. Insbesondere zur Zeit der Ersten Revolution bestand in gesellschaftlichen Kreisen eine große Nachfrage nach Helden- und Märtyrernarrativen, wovon die für vorrevolutionäre Verhältnisse enorme Auflage von 30 000 Exemplaren zeugt, welche die Zeitschrift nach ihrem legalen Erscheinen (1906) erzielen konnte.45 Der »sozialistische Glaube« In dem sprichwörtlich kurzen Gerichtsprozess gegen Željabov, Perovskaja, Rysa­ kov, Kibal’čič, Michajlov und Gel’fman folgten die Angeklagten in ihren Verteidigungsreden unter anderem dem Muster der sich vor Gericht zu ihrem Glauben bekennenden Christen.46 Durch das Erstaunen über die Standhaftigkeit des Revolutionärs und das Mitleid, das sein Tod erzeugen mochte, sollte der Beobachter zum Nachdenken über das Anliegen der Revolutionäre gebracht werden. Auf diese Weise sollte der Sozialismus »tiefe Wurzeln in die Gesellschaft« (Ivan Koval’skij) schlagen. Wenn im Falle der narodovol’ki (weibliche Mitglieder

44 Am ersten März 1887 plante die Gruppe Terrorističeskaja frakcija Narodnoj voli, die aus revolutionären Studenten bestand, unter ihnen Lenins Bruder Aleksandr Ul’janov, ­A lexander  III . zu ermorden. Zu diesem Zeitpunkt waren die organisatorischen Strukturen der Narodnaja volja bereits zerschlagen. Volk: Narodnaja volja 150–151. Die Selbstbezeichnung der Gruppe war wohl mehr ein Versuch, an den alten »Mythos« anzuknüpfen, als Ausdruck politischer Kontinuitäten. 45 Zahlenangaben Lur’e, Feliks: Chraniteli prošlogo. Žurnal ›Byloe‹, St. Petersburg 1990, 12. 46 Wenn man das öffentliche Martyrium im frühen Christentum verstehen möchte als »das Bekenntnis zum christlichen Glauben vor den staatlichen Behörden und vor Gericht in Anwesenheit der Zuschauer, die sich üblicherweise dabei einfinden« so machten die Revolutionäre genau jene verbreitete Interpretation nutzbar. Zit. n. Stritzky, Maria-Barbara: Einleitung. In: Fürst, Alfons / Markschies, Christoph (Hg.): Origenes. Aufforderung zum Martyrium [= Origenes. Werke mit deutscher Übersetzung 22]. Berlin u. a. 2010, 1–29, hier 15.

160  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  der Narodnaja volja) noch Hoffnungen auf die »Ewige Zwangsarbeit« bestehen konnten,47 so hatten die Männer geringe Chancen, mit einer Haftstrafe davonzukommen. Im Prozess gerierten sie sich durchaus bewusst als die »Märtyrer, deren Legende ihre eigene wahre Würde, ihre eigentliche Leistung bei weitem übersteigen würde«, von denen Lavrov geträumt hatte. In dieser Hinsicht trat insbesondere Andrej Željabov48 hervor. Auf die rein formelle Frage nach der Religionszugehörigkeit antworteten die Angeklagten mit »orthodox«, womit lediglich gemeint war, dass sie orthodox getauft worden waren. Nur Željabov begann unerwartet ausführlich über sein Verhältnis zur Orthodoxie zu sprechen. Wie viele narodniki vor ihm auch, verurteilte er die orthodoxe Kirche, sprach aber von einer Sympathie für Jesus Christus. Dabei betonte er, dass er mit »wahren Christen« fundamentale, auf die Lehre Jesu zurückgehende, moralische Überzeugungen wie die Einheit von Wort und Tat und die Entkoppelung von Handeln und Entlohnung sowie das Gut der sozialen Gerechtigkeit teile: »Getauft wurde ich nach orthodoxem Ritus, aber die Orthodoxie lehne ich ab, obwohl ich das Wesen der Lehre Jesu Christi anerkenne. Dieses Wesen der Lehre nimmt innerhalb meiner sittlichen Motivationen einen Ehrenplatz ein. Ich glaube an die Wahrheit und Gerechtigkeit dieser Lehre und gelobe feierlich, dass der Glaube ohne Taten tot ist, und dass jeder wahre Christ für Wahrheit, für die Rechte der Unterdrückten und Schwachen kämpfen muss, auch wenn es sein muss, dass er dafür zu Schaden kommt: Dies ist mein Glaube.«49 47 Die fast landesweite Empörung über die Hinrichtung einer Frau (Perovskaja) sollte dazu führen, dass bis 1906 keine Revolutionärinnen mehr hingerichtet wurden. 48 Als Sohn eines Bauern kannte Andrej Željabov die Verhältnisse auf dem Dorf wie kein anderer innerhalb der von den ranznočincy dominierten Revolutionsbewegung. Nach der Vergewaltigung der eigenen Tante durch den Gutsbesitzer hegte er schon als kleines Kind den Wunsch, den Vergewaltiger zu töten. Diesen Wunsch gab er aber nach eigenen Angaben mit zwölf Jahren auf. Das Attentat von Karakozov auf Alexander II . begrüßte er enthusiastisch. Schon damals habe er nach eigener Aussage nicht zwischen einem »guten Zaren« und einem »schlechten Gutsbesitzer« unterschieden. 1869 gehörte er zum radikalen Flügel der Studentenschaft. Für die Teilnahme an Studentenunruhen wurde er aus Odessa verwiesen, worauf hin er in revolutionären und ukrainisch-nationalistischen Kreisen Kiews zu verkehren begann und schließlich als Propagandist »ins Volk« ging. Als »Politiker« nahm er am Lipizker Treffen teil und wurde Mitglied des Exekutivkomitte und zu einer der wichtigsten Figuren innerhalb der Narodnaja volja. Žukov, E. (Hg.): Sovetskaja istoričeskaja ėnciklopedija. Bd. 5. Moskau 1964, 537–538. 49 »Kreščën v pravoslavii, no pravoslavie otricaju, chotja suščnost’ učenija Iisusa Christa priznaju. Ėta suščnost’ učenija sredi moich nravstvennych pobuždenij zanimaet počëtnoe mesto. Ja verju v istinu i spravedlivost’ ėtogo veroučenija, i toržestvenno priznaju, čto vera bez del mertva est’, i čto vjakij istinnyj christianin dolžen borot’sja za pravdu, za prava ugnetënnych i slabych, i esli nužno, to za nich i postradat’: takova moja vera.« Zit. n. Delo o soveršennom 1-go marta 1881 goda zlodejanii, žertvoju koego pal v Boze počivšij Gosudar’ Imperator Aleksandr Nikolaevič. Kiew 1881, 4–5.

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Željabovs »Glaube« beruhte also auf der Überzeugung, dass der moralischer Rahmen eines Sozialisten verwandt sei mit dem moralischen Rahmen des Anhängers eines wie auch immer verstandenen »wahren Christentums« und dass dieser »Glaube« wenn nötig mit dem eigenen Leben verteidigt werden müsse. Dies war also durchaus vergleichbar mit dem, was Wittenberg unter »Glaube« verstanden wissen wollte: Die Gewissheit, dass es sich lohne, für die unvermeidbare Ankunft des »Reiches des Sozialismus« zu sterben. Diese Art von »Glaube« oder »Überzeugung«, wie es in den Quellen beinahe synonym heißt, motivierte die Revolutionäre zum Durchhalten.50 Sie hinterließ, wie ein Kommentator, der ehemalige narodovolec Serebrjakov, schrieb, einen tiefen Eindruck auf Sympathisanten der Terroristen.51 Es ist also naheliegend anzunehmen, dass ­Željabov schon bei der Rekrutierung neuer Mitglieder massiven Gebrauch von religiös konnotierten Ausdrücken machte. Die starke Wertung sozialer Gerechtigkeit, die sich in der glücklichen sozialistischen Ordnung verwirklichen sollte, verwies auf einen Rahmen, dessen Güterhierarchie im Wesentlichen von einem einzigen Hypergut strukturiert wurde. Hier waren die wesentlichen Orien­tierungspunkte klar vorgegeben und das eigene politische Handeln an fixe Erwartungen geknüpft. Allerdings waren angesichts des nahenden Todes bei weitem nicht alle narodovol’cy bereit, diesem rigoristischen Regime gegenüber bis zum Schluss standhaft zu bleiben. Nikolaj Rysakov brach mit der Revolutionsbewegung, legte ein vollständiges Geständnis ab, wodurch er zahlreiche seiner Genossen hinter ­Gitter brachte, verfasste ein (vom Zaren abgelehntes) Gnadengesuch und legte eine letzte Beichte ab.52 Željabov hingegen scheint bis zum bitteren Ende der Logik, die dem revolutionären Denken zugrunde lag, gefolgt zu sein und seine moralischen Grundüberzeugungen mit einer symbolischen Geste unterstrichen zu haben. Wie alle pervomartovcy mit Ausnahme von Rysakov lehnte er es strikt 50 Explizit bei Breškovskaja, Ekaterina: Vospominanija propagandistki. In: Byloe 4 (1903) 31–58, hier 57–58. 51 »[…] na nas [die versammelten Offiziere, d. Verf.] proizvela osobenno sil’noe vpečatlenie ličnost’ govorjaščego [die Rede ist von Željabov, d. Verf.], ego vera i ubeždënnost’, a ­glavnym obrazom jasnoe, točnoe ponimanie i posledovatel’noe logičeskoe izloženie plana i sposoba bor’by s gospodstvovavšim v Rossii režimom […]«. Serebrjakov: Revoljucionery vo flote 105. 52 Troickij: Bezumstvo chrabrych 235. Man denke außerdem an Ivan Okladskij, der nach seiner Verhaftung begann, für die Polizei zu arbeiten, oder Grigorij Gol’denberg und S­ ergej Degaev, die beide nach ihrer Verhaftung zur Zusammenarbeit überredet werden konnten. Gol’denberg ertrug seine missliche Lage nicht und beginn im Juli 1880 Selbstmord. Degaev half seinen »Kurator« Sudejkin und dessen Neffen zu ermorden, woraufhin er in die USA emigrierte und eine neues Leben als Mathematiklehrer begann. Zu den hochemotionalen Reaktion auf den Verrat Degaevs siehe: Pribylëva-Korba, Anna: Sergej Petrovič Degaev (Iz ­vospominanij). In: Byloe 4 (1906) 1–17; Degaevščina (Materialy i dokumenty). In: Byloe 4 (1906) 18–38.

162  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  ab, die letzte Beichte abzulegen. Unmittelbar vor der Hinrichtung küsste er aber das ihm vom Priester gereichte Kreuz. Die anderen Verurteilten taten es ihm gleich. Der sowjetische Historiker Troickij glaubte, dass diese Geste eine didaktische Funktion erfüllt habe: Die pervomartovcy hätten dem versammelten Volk auf diesem Wege beweisen wollen, dass sie keine »Antichristen (›antichristy‹)«53 seien. Schlüssiger erscheint es jedoch, die Geste im Zusammenhang mit dem revolutionären Glaubensdiskurs zu sehen. Auf dem Schafott erschien der Revolutionär als ein »wahrer«, das heißt sozialistischer Jünger Christi, wenn nicht gleich als jemand, der Jesu ebenbürtig sei, wie der radikale Publizist Pëtr Alisov die Geste der pervomartovcy verstanden wissen wollte.54 Die Botschaft war einfach und eindringlich: Der Revolutionär lebt im Einklang mit seinen Überzeugungen und opfert sich (wie Christus) für das Wohl der Menschheit. Die Texte, Reden und Gesten der narodovol’cy fügen sich in ein an heilsgeschichtlichen Mustern orientiertes, kollektives Narrativ ein: Auf das »Glaubensbekentniss« Željabovs, den »Kreuzkuss« und den Tod auf dem Schafott folgten revolutionäre »Gebote«. Im Frühjahr 1882 verfasste Aleksandr M ­ ichajlov,55 der wichtigste »Organisator« der Narodnaja volja, im Gefängnis ein »Testament«, in dem er  – den repetitiven Duktus liturgischer Texte nachahmend  – »Gebote« an seine »Brüder« weitergab. Diese reichten vom im Geiste Osinskijs formulierten »Gebot«, sich selbst »vor jeglichem unfruchtbaren Verderben«56 zu schützen, bis hin zum »Gebot«, die »Resolution des Exekutivkomitee zum Urteil über A[leksandr II]«57 herauszugeben. Der von Michajlov verwendete Ausdruck »zaveščaju vam« war natürlich selbst biblischen Ursprungs und findet sich zum Beispiel bei Lk 22,29. Seiner Genossin Pribylëva-Korba zufolge, soll er »ein besonderes Polster in seiner Weltanschauung« gehabt haben,

53 Troickij: Bezumstvo chrabrych 235. 54 Zum entsprechenden Pamphlet Alisovs siehe Safronova: Russkoe obščestvo 191. 55 Schon als unpolitischer Gymnasiast soll er, wie aus seinen autobiographischen Aufzeichnungen hervorgeht, sich geschworen haben, »für das Volk zu leben und zu sterben (žit’ i umeret’ dlja naroda)«. Zit. n. Aleksandr Dmitrievič Michajlov. (Materialy dlja biografii). In: Byloe 2 (1906) 158–172, hier 160. Zur Zeit des Gangs ins Volk begab sich Michajlov zu den Altgläubigen. Um unter ihnen sozialistisches Gedankengut zu verbreiten zu können, musste er nach eigener Aussage selbst »buchstäblich zum Altgläubigen (bukval’no staroverom)« werden. Ebd. 166. Die Altorthodoxie soll auf ihn einen tiefen Eindruck hinterlassen haben. So soll er bestimmte Elemente des Habitus der »raskol’niki« übernommen und mit Zitaten aus Schriften der Altgläubigen, den »cvetniki«, um sich geworfen haben, wie den Erinnerungen seiner Kampfgenossin Pribylëva-Korba zu entnehmen ist. 56 »Zaveščaju vam, brat’ja, ne raschodovat’ sil dlja nas, no bereč’ ich ot vsjakoj b ­ esplodnoj gibeli i upotrebljat’ ich tol’ko v  prjamom stremlenii k  celi.« Zit. n. Zaveščanie Aleksandra Dmitrieviča Michajlova. In: Byloe 2 (1906) 175. 57 »Zaveščaju vam, brat’ja, izdat’ postanovlenija Ispolnitel’nogo Komiteta ot prigovora A[leksandru II] i do ob’’javlenija o našej smerti vključitel’no […].« Zit. n. ebd.

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»das der Religion sehr ähnlich war. ›Gott – das ist Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit, und ich kann in diesem Sinne mit ruhigem Gewissen über Gott reden, an den ich glaube‹. Er versicherte uns, dass alle Begründer großer Religionen, selbst Jesus, in genau diesem Sinne Gott begriffen hätten«58.

Wie Koval’skij, Wittenberg, Željabov oder Ippolit Myškin scheint Michajlov das Christentum in saint-simonistischer Manier auf das »Wesentliche« und »Positive« reduziert zu haben, das heißt auf eine Reihe von Gütern, Tugenden, denen er eine herausragende Rolle im moralischen Denken des Revolutionärs zumaß. Dieser Reduktionismus erlaubte es ihm, in Jesus Christus einen Protosozialisten zu sehen. Dennoch scheint Michajlov mit seinem seltsam anmutenden Gottesbegriff weiter gegangen zu sein als die genannten Revolutionäre und sich eher in eine Richtung bewegt zu haben, die erst im 20. Jahrhundert mit dem ­»bogoiskatel’stvo« und »bogostroitel’stvo« in ihrer »Faszination mit der religiösen Sprache«, »›Gott‹ […] den Popen wegnehmen«59 wollte. Auf Anfrage seiner Genossen, konnte Michajlov nicht genau erklären, was er unter »Gott« verstehe, doch er »hatte da eine Idee (eine vage für Außenstehende, weil er wenig darüber sprach, oder, vielleicht, weil sie für ihn selber vage blieb): Die Ideale der sozialen Revolution müssen den Menschen eine gewisse neue Religion schaffen, die das Wesen des Menschen genauso vereinnahmen, wie es die alten getan hatten«60.

Ähnliches wurde über den bereits erwähnten »Vater Mitrofan« (Muravskij) geschrieben: »Er verspürte das Bedürfnis nach Glauben und kreierte eine ganze Religion mit einem Gott an der Spitze«61 hieß es in der Autobiographie des S­ ergej Kovalik. Dort, wo vom authentischen Leben, das im Einklang mit den eigenen, tief verwurzelten Überzeugungen (dem sozialistischen »Glauben«) und Wünschen 58 »V silu sektanstva on gluboko veril; religioznym v formal’nom smysle slova on ne byl i togda, no, odnako, imel kakuju-to osobuju podkladku v mirosozercanii, kotoraja očen’ približalas’ k religii. ›Bog – ėto pravda, ljubov‹, spravedlivost’, i ja v ėtom smysle s čistoj sovest’ju govorju o Boge, v kotorogo verju‹. On uverjal, čto vse osnovateli velikich religij, Christos daže, imenno v ėtom smysle ponimali Boga.« Zit. n. Aleksandr Dmitrievič Michajlov. (Materialy dlja biografii) 166, Fn. 1. 59 So Gleixner über Lunačarskij. Gleixner: ›Menschheitsreligionen‹ 127. 60 »No vsë-taki, sprašivali ego, čto takoe spravedlivost’, ljubov’ i t. d. Est’ li ėto nečto ličnoe, nekotoroe suščestvo ili otvlečënnyj princip? Ne pomnim, čtoby A. D. daval na ėto vpolne rešitel’nyj otvet. U nego byla kakaj-to ideja (smutnaja dlja postoronnich, potomu čto on malo govoril ob ėtom, a, možet byt’, smutnaja i dlja nego samogo) – čto idealy social’noj ­revoljucii dolžny sozdat’ ljudjam nekotoruju novuju religiju, kotoraja by tak že poglaščala vsë suščestvo čeloveka, kak ėto delali starye.« Zit. n. Aleksandr Dmitrievič Michajlov. (Materialy dlja biografii) 166, Fn. 1. 61 Kovalik: Avtobiografija 180.

164  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  geführt wurde, die Rede war, tauchte auch das Motiv der moralischen Erfüllung auf. Michajlov selbst schrieb aus dem Gefängnis an seine Verwandten von einer »enormen moralischen Befriedigung«, die ihm das »Bekenntnis der eigenen Überzeugungen, des eigenen besten Glaubens«62, vor dem Hintergrund des eigenen drohenden Todes und des Blicks in die Augen der eigenen Richter bereitet hätten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Art und Weise, wie der Begriff »Glaube« von den Sozialisten verwendet wurde, sich lose am christlichen Glaubensbegriff orientierte und eng mit sozialistischen Martyriumsvorstellungen verknüpft war. Seine Verwendung muss vor dem Hintergrund des »Gangs ins Volk« gesehen werden, als die revolutionäre Bewegung in Kontakt mit den bäuerlichen Lebenswelten kam und sich fasziniert von den auf dem Land angetroffenen Formen der »Volksreligiösität« zeigte. In einer Zeit, als die »Mythisierung« der Revolution und der Revolutionsbewegung durch Rekurs auf Martyriumsvorstellungen deutlich vorangeschritten war, bedeutete die Bekundung des sozialistischen »Glaubens« die Verschmelzung von Propaganda und der Vermittlung innerster Überzeugungen. Das hier vermittelte Bild war folgendes: Der Revolutionär feiert nicht nur in seinen Agitationstexten die »Märtyrer für das Volk«, sondern stirbt auch als solcher auf dem Schafott – mit einem »Glaubensbekenntnis« auf den Lippen. In diesen Texten waren die Grenzen zwischen dem »Öffentlichen« und »Privaten«, zwischen propagandistischen Floskeln und subjektiven, mit dem eigenen Tod verbürgten Überzeugungen endgültig verwischt. Wo revolutionäre Authentizität aufhört (der Revolutionär lebt nicht nur in Übereinstimmung mit seinen innigsten, gesellschaftlich relevanten Wünschen und Überzeugungen, sondern stirbt auch für diese) und propagandistische Indoktrinierung beginnt, war vielleicht nicht einmal den Beteiligten selbst immer klar. Die für die 1860er Jahre relevante Frage, ob das eigene Handeln auch den eigenen Veranlagungen und den intimen – nicht zwangsläufig gesellschaftlich bedeutenden – Wünschen entspricht oder doch nicht etwa durch soziale Beeinflussung verfälscht sei, geriet endgültig in Vergessenheit. Leben und Text. Die Briefe an die Verwandten Die narodovol’cy verfassten vor ihrer Hinrichtung eine Reihe von privaten Briefen, in denen Propaganda und Intimität eine bemerkenswerte Symbiose eingingen. Der erste narodovolec, der sich in die Tradition des revolutionären Abschiedsbriefes »einschrieb«, war der am 24. November 1879 verhaftete Aleksandr Kvjatnkovskij. Vor seiner Hinrichtung verfasste er Abschiedsbriefe an 62 »Prijatno daže pod strachom desjati smertej govorit’ svobodno, ispovedovat’ svoi ubeždenija, svoju lučšuju veru. Prijatno spokojno vzgljanut’ v glaza ljudjam, v rukach kotorych tvoja učast’. Tut est’ velikoe nravstvennoe udovletvorenie.« Kladbišče pisem 99.

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seine Mutter, seine Schwester und an seine Ehefrau, die er alle auf offiziellem Weg versenden ließ. In diesen Briefen verzichtete er, wohl auch mit Rücksicht auf die Zensur, auf gängige sozialistische Tropen und sprach weder vom nahenden »Triumph des Sozialismus« noch von einem »Martyrium« für eine »heilige Sache«. Dennoch waren seine Briefe in einer evaluativen Sprache gehalten, die Rückschlüsse auf die moralischen Überzeugungen des Absenders, allen voran auf die Idee des zivilisatorischen Dienstes am Volk, zu ziehen erlaubt. So brachte er im Brief an die Mutter auf implizite Weise seine Zweifel am Terrorismus zum Ausdruck, imaginierte aber gleichzeitig seine wahrscheinliche Exekution als einen Genugtuung verschaffenden Tod: »Ich konnte mich irren, ich konnte mich auf einem falschen Weg befunden haben, alles ist möglich«, schrieb Kvjatkovskij, »aber Ihr kennt mich, und wenn ich es sage, so werdet Ihr mir glauben, dass das einzige Motiv meiner Tätigkeit in meiner innigsten Liebe zum Volk, im starken Verlangen ihm nützlich zu sein bestand. […] Glaubt nicht, dass ich Angst habe vor dem Entschluss über mein Schicksal, dass ich mit Furcht jenes erwarte, das mit mir in einigen Tagen geschehen soll, dass ich mir Sorgen mache, dass ich mich quäle. Nein, alles was mich auch erwarten möge, und selbst den Tod werde ich gelassen hinnehmen, kaltblütig (nicht weil ich genug vom Leben hätte, nein, ich möchte leben, ach, und wie ich leben möchte): Darin bestärkt mich allein das Bewusstsein, dass ich ehrlich gehandelt habe, dass ich entsprechend meinen Überzeugungen gehandelt habe«63.

Ein zweites wichtiges Motiv, das in fast sämtlichen an die Verwandten adressierten Abschiedsbriefen auftaucht, ist die Artikulation eines Wertekonflikts zwischen dem Respekt für das »gewöhnliche Leben« und der selbstauferlegten Notwendigkeit, ein »höheres Leben« im »Dienste der Revolution« zu führen. Bei all seiner Beteuerung, ein gutes Leben geführt zu haben, unter Verweis auf die »Kaltblütigkeit«, mit der er seinen wahrscheinlichen Tod angeblich erwarte, und das Bewusstsein, im Recht zu sein, schrieb Kvjatkovskij: »Mich betrübt nur, 63 »Ja mog ošibat’sja, ja mog stojat’ na ložnoj doroge – vsë možet byt’, no Vy menja znaete i, esli ja skažu, Vy mne poverite, – čto edinstvennym motivom moej dejatel’nosti byla strastnaja moja ljubov’ k narodu, sil’noe želanie byt’ emu poleznym. […] Ne dumajte, čto ja strašus’ rešenija svoej sud’by, čto ja s trepetom ožidaju togo, čto dolžno so mnoj slučit’sja čerez neskol’ko dnej, čto ja bespokojus’, čto ja mučus’. Net, čto by to menja ni ožidalo i daže samuju smert’ ja primu spokojno, chladnokrovno (ne potomu čto žizn’ mne nadoela, net, žit’ eščë chočetsja, daže, ach, kak chočetsja) – v tom menja podderživaet odno tol’ko soznanie, čto ja dejstvoval čestno, čto ja postupal po svoim ubeždenijam.« Zit. n. Baum, Ja.: Predsmertnye pis’ma Aleksandra Kvjatkovskogo. In: Katorga i ssylka 2 (1927) 205–211, hier 208. Man kann annehmen, dass die gläubige Mutter mit hoher Wahrscheinlichkeit dem revolutionären Terrorismus ablehnend gegenüber eingestellt war, auch wenn sie vielleicht gewisse Sympathien für die Revolutionsbewegung empfunden haben mag, wie der jüngere Bruder nach der Oktoberrevolution berichtete. Der Kommentar des Bruders findet sich ebd. Der Brief an die Schwester war kurz gefasst und beinhaltete vor allem Informationen zur Prozessvorbereitung. Aber auch an die Schwester schrieb Kvjatkovskij: »Ich bin gefasst (ja spokoen)«. Ebd. 210.

166  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Mama, dass ich der ungewollte Grund für Eure Leiden bin. Aber Ihr werdet mir dafür vergeben, ich weiß, dass Ihr vergeben werdet.«64 Noch expliziter wurde dieser Konflikt im Brief an Kvjatkovskijs Frau Ekaterina artikuliert. Kvjatkovskij ließ seine »Katja« mit dem minderjährigen Sohn in Tomsk zurück, um sich vollständig der Revolution widmen zu können. Er rechtfertigte sich, indem er auf die Lebensumstände verwies, die sich so ergeben hätten, dass er seine (als natürlich empfundenen) Bedürfnisse, ein »gewöhnliches Leben« im Dienste der Familie zu führen, zugunsten des Lebens für die Revolution zurückstellen musste: »Ja, mein Freund, ich fühle, dass ich schuldig vor dir geworden bin. Das einzige, was meine Schuld vor dir abmildern könnte, sind die Umstände, in denen sich mein Leben gefügt hat. Ich kann nicht behaupten, dass ich keinen Hang zum familiären Leben empfunden hätte, nein, im Gegenteil sogar. Aber so ist nun einmal das Schicksal, du musstest dort leben [in Tomsk, d. Verf.] und ich hier.«65

Deshalb sei aber auch sein Gewissen »nicht ganz ruhig (ne sovsem spokojna)«. Für seine Frau hatte der Sozialist Kvjatkovskij folgenden Trost parat: Er appellierte an die traditionelle Frauenrolle, die ihr helfen müsse, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Die Erziehung des gemeinsamen Sohnes werde sie dabei unterstützen, sich mit dem eigenen schweren Schicksal zu »versöhnen«66. Dem Sohn legte er zwar nicht nahe, in die Fußstapfen des Vaters zu treten (einen solchen Brief hätte die Gefängniszensur nicht durchgelassen), aber doch das zu achten und zu lieben, was auch der Vater geachtet und geliebt habe. Diese impliziten Wertungen verwiesen im Grunde auf die gleiche Lebensform, die von den Terroristen der 1870er und 1880er Jahre als besonders als erstrebenswert betrachtet wurde. Den gleichen Wunsch, nur vorsichtiger formuliert, äußerte Kvjatkovskij in einem zweiten Brief an die Ehefrau, nachdem ihm offensichtlich klar geworden war, dass der erste Brief von der Gefängniszensur zurückgehalten wurde.67 Wahrscheinlich rechnete Kvjatkovskij damit, dass Ekaterina Kopien der an sie gerichteten Briefe an die Genossen weitergeben würde. Er verfasste seine priva­ 64 »Menja tol’ko ogorčaet, mama, čto ja služu nevol’noj pričinoj Vašich stradanij. No Vy prostite menja za ėto, – ja znaju, čto Vy prostite.« Zit. n. ebd. 209. 65 »Da, moj drug, ja čuvstvuju, čto ja vinovat vo mnogom mnogo [sic] pered toboj. Edinstvenno, čto možet smjagčit’ moju vinu pered toboj, ėto te obstojatel’stva v kotorych složilas’ moja žizn’. Ne mogu skazat’, čto u menja ne bylo sklonnosti k semejnoj žizni, – net naprotiv daže. No takaja už sud’ba, čto tebe prišlos’ žit’ tam, a mne zdes’.« Zit. n. ebd. 66 »No čto tebja, po-moemu, dolžno mirit’ s nej – ėto vozmožnost’ zanimat’sja vospitaniem Saši. Zdes’ že ty ėtogo ne mogla by vypolnit’ chorošo.« Zit. n. ebd. Der Sohn, ­A lexandr Aleksandrovič Kvjatkovskij, wurde Mitglied der bolschewistischen Partei und kurzzeitig Mitglied des ZK . 1921 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und 1925 verhaftet. Nach 1928 verlieren sich seine Spuren. Genis, Vladimir: Nevernye slugi režima. Pervye sovetskie ­nevozvraščency (1920–1933). Bd. 1. Moskau 2009, 237–267. 67 Baum: Predsmertnye pis’ma Aleksandra Kvjatkovskogo 210.

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ten Briefe in der Hoffnung, dass ihnen die gleiche Rolle zufalle wie den Briefen der Angeklagten zuvor. Vielleicht bemühte er sich aus diesem Grund darum, in einer möglichst neutralen Sprache, die es erlauben würde, die Briefe an der Gefängniszensur vorbeigehen zu lassen, immer wieder über seine revolutionären Überzeugungen zu sprechen. Diese Strategie scheinen die Behörden jedoch durchschaut zu haben. Jedenfalls hielten sie daraufhin alle Briefe Kvjatkovskijs zurück. Niemand geringerer als Vjačelav Pleve, der damals den Posten eines Staatsanwalts innehatte, schickte die Briefe an den Direktor des Polizeidepartements, Baron Velio. Dieser legte fest: »Übermittlung nicht möglich (­ Peredat’ nel’zja).«68 Was im Falle Kvjatkovskijs scheiterte, gelang jedoch im Falle der anderen angeklagten Revolutionäre. Während des gesamten »Prozesses des 16«  – des ersten Prozesses, bei dem Mitglieder der Narodnaja volja angeklagt waren  – bemühte sich das Exekutivkomitee darum, das Verhalten der Mitglieder mit der taktischen Linie der Partei in Einklang zu bringen, wofür Kassiber ins und aus dem Gefängnis geschmuggelt wurden.69 Mit Hilfe von Anwälten und Verwandten konnten ganze Briefe aus dem Gefängnis geschmuggelt werden. Diese landeten in der konspirativen Wohnung von Anna Korba und Martyn Langhans ­(Langans). Nun wurde über die Möglichkeit nachgedacht, die herausgeschmuggelten Briefe als Propagandamaterial zu verwenden. Vera Figner zufolge sahen die narodovol’cy jedoch schließlich von einer Veröffentlichung im Zentralorgan ab, da die Briefe als zu persönlich eingestuft wurden. Figner schrieb jedoch alle Texte in ein Heft ab und bewahrte dieses in ihrem Privatarchiv auf. Erst 1930 wurden sie in Katorga i ssylka publiziert.70 Anders verhielt es sich mit dem Brief der Sofija Perovskaja71 an ihre Mutter. Der Text war nach Meinung eines Mitarbeiters des Polizeidepartements 68 Zit. n. ebd. 207. 69 Troickij: ›Narodnaja Volja‹ 179. 70 Figner: Pis’ma učastnikov processa 16-ti 97 ff. 71 Perovskaja stammte aus einer wohlhabenden adeligen Familie, ihr Vater war seinerzeit Gouverneur von St. Petersburg gewesen und bekleidete zur Zeit des Attentats auf den Zaren ein hohes Amt im Innenministerium. 1869 besuchte Perovskaja die sogenannten Vysšye ženskie kursy (Höhere Frauenkurse), wo sie in den Kontakt mit Radikalen kam. Dies führte zum Konflikt mit dem Vater, woraufhin die 16-jährige Perovskaja ihre Familie verließ und schon bald zu einem aktiven Mitglied der revolutionären Bewegung wurde. Es folgten mehrere Verhaftungen und ein Leben im Untergrund. Als Mitglied des Exekutivkomitees war sie an der Vorbereitung mehrerer Anschläge auf den Zaren beteiligt und dirigierte schließlich nach der Verhaftung ihres Genossen und Geliebten Željabov das letzte, geglückte Attentat. Žukov, E. (Hg.): Sovetskaja istoričeskaja ėnciklopedija. Bd. 11. Moskau 1968, 50. Kropotkin, der sie persönlich kannte, bezeichnete sie als einen »Rigoristen«, der seine Missbilligung zu äußern wusste, wenn Genossen gegen geltende Moralvorstellungen verstießen und fest davon überzeugt gewesen sei, dass die Revolution in einer oder zwei Generationen siegen werde. ­Kropotkin, Pëtr: Zapiski revoljucionera. Moskau 1988, 299–300.

168  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  der Ausdruck einer »vollkommenen Heuchelei (splošnym licemeriem)«72. Nach Meinung der Revolutionäre hingegen war der Brief ein wahrhaftiges Zeugnis des revolutionären Selbst: »Die ganze Perovskaja«, schrieb Jahre später Sergej Kravčinskij, »mit ihrer reinen Seele spiegelt sich in ihm.«73 Auch im ­Byloe wurde betont, dass Perovskaja sich sowohl im Leben als auch im Tod treu blieb: »Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass Sonja ihren Tod genauso entgegennahm, wie sie ihr schweres Leben entgegengenommen hatte: ruhig und mit Würde.«74 Tatsächlich aber vereinte der Text propagandistische mit sehr intimen Elementen auf eine so elegante Weise, dass es heute für einen Historiker unmöglich ist, eine klare Abgrenzung vorzunehmen. Der Nexus von Intimität und Propaganda wurde zusätzlich durch die subtile Betonung genderspezifischer Aspekte verstärkt: Diverse Verniedlichungsformen (»mamulja«, ­»vorotničok i rukavički«) halfen im Nachhinein das Bild einer furchtlosen, aber nichtdestotrotz liebenden Frau zu zeichnen, die durch ihren brutalen Tod um das Recht betrogen wurde, eine Familie zu gründen und Kinder zu zeugen. Dieses ungeahnte propagandistische Potenzial wurde von den überlebenden Genossen sofort erkannt. Schon 1882 veröffentlichte Lev Tichomirov den Text, der wohl mit Hilfe des Anwalts Kedrin aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde, in einer eigenständigen Broschüre.75 Später wurde der Brief im Byloe und in etlichen anderen revolutionären Büchern publiziert. In diesem Brief, der das einzige überlieferte Selbstzeugnis der Revolutionärin darstellt, verzichtete Perovskaja auf die in Briefen an die Genossen übliche Darlegung des revolutionären Credos und sprach von ihrer Liebe zu ihrer »so wenig gewürdigten« Mutter. Ähnlich wie Kvjatkovskij in seinen Briefen an die Mutter, artikulierte auch Perovskaja das Unbehagen, das ihr der Konflikt zwischen dem Respekt für das »gewöhnliche Leben« und der Bejahung des »höheren Lebens« für die Revolution bereitet habe. Sie äußerte hierbei die im revolutionären Denken zentrale Überzeugung, dass das Bewusstsein, ein gutes Leben für die »gemeinsame Sache« gelebt zu haben, es erfordere, auch dem Tod »gefasst« ins Auge zu blicken. Das gute Leben und der gute Tod bildeten somit eine Einheit. Sie suggerierten Sinnhaftigkeit, Natürlichkeit und setzten ein Konzept von Glück voraus, das keinen momentanen Zustand darstellte, sondern auf das ganze des Lebens bezogen war: 72 [Golicyn, Nikolaj:] Chronika socialisitičeskogo dviženija 1878–1888. Moskau 1906, 169. 73 »Vsja Perovskaja so svoej čistoj dušoj otražaetsja v nëm [pis’me, d. Verf.].« Kravčinskij: Podpol’naja Rossija 119. Ein halbes Jahrhundert später kam auch der mit den narodovol’cy sympathisierende Troickij zu einem ähnlichen Schluss: Der Brief sei der Ausdruck der Standhaftigkeit und der »kindlichen Zärtlichkeit« der Autorin gewesen. Troickij: ›Narodnaja Volja‹ 162. Die subjektiv empfundene Adäquatheit der medialen Selbstdarstellung steigerte also die Überzeugungskraft der revolutionären Botschaft. 74 K biografijam A. I. Željabova i S. L. Perovskoj. In: Byloe 8 (1906) 108–129, hier 128. 75 Chronika socialisitičeskogo dviženija 169; Troickij: ›Narodnaja Volja‹ 162.

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Abb. 3: Die in Kooperation mit dem Anarchistischen Roten Kreuz hergestellte Dokumentensammlung enthielt anonymisierte Briefe aus den Gefängnissen des Zarenreichs, in denen die Häftlinge das »drakonische Regime der russischen Strafanstalten und Gefängnisse« anklagten. Die Veröffentlichung richtete sich an potentielle Sympathisanten aus dem Ausland oder in den Worten der Verfasser – an »die zivilisierte Welt Europas und Amerikas«. Zit. n. [Figner, Vera / Schapiro, Alexandre / Siergueïev, Pierre (Hg.):] Le martyre des détenus politiques aux bagnes russes (receuil de documents authentiques récents). Grand 1913, 79. Es wurde explizit um aktive materielle und moralische Hilfe gebeten. Ebd. 83.

»Meine teure, so wenig gewürdigte Mutti […]. Über mein Schicksal weine ich keineswegs, vollkommen ruhig erwarte ich es, da ich schon lange gewusst und gewartet habe, dass es früher oder später so kommen wird. Und gewiss, meine teure Mutti, so dunkel ist es gar nicht. Ich habe so gelebt, wie es mir meine Überzeugungen nahegelegt hatten, ihnen entgegenzuhandeln konnte ich nicht, deshalb erwarte ich mit ruhigem Gewissen alles, was auf mich zukommt. […] Ich hoffe, meine Teure, dass du

170  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  dich beruhigen wirst und wenigstens teilweise all das Leid verzeihen wirst, das ich dir zufüge und nicht zu sehr auf mich schimpfen wirst: Dein Vorwurf ist das einzige, was mich bedrückt.«76

Alles in allem lässt sich feststellen, dass die Briefe, die von den narodovol’cy an ihre Verwandten adressiert wurden, sich in die Tradition des revolutionären Abschiedsbriefes fügten, sich aber von den an die Genossen andressierten Briefen unterschieden. Hier verzichtete der Absender – ob mit Hinblick auf die Zensur, oder aber, wie im Falle Perovskajas, mit Hinblick auf die Befindlichkeiten der Verwandten  – bewusst auf gängige revolutionäre Klischees. Dennoch folgten auch diese Briefe – oft auf subtile Weise – dem »Selbstmythisierungsprogramm« der Revolutionsbewegung. Dieser Umstand zeigt, dass den Revolutionären eine Unterscheidung zwischen »Privat« und »Öffentlich« durchaus bewusst war, auch wenn die Grenzen fließend blieben. Außerdem lässt sich beobachten, dass verurteilte Revolutionäre, die nicht davon ausgingen, dass ihre Briefe zu propagandistischen Zwecken verwendet würden, seltener dazu tendierten, mittels starker Wertungen Auskunft über ihre Stellung im moralischen Rahmen der Revolution zu geben. Oftmals äußerten sie nur ihre Liebesbekundungen und einfache private Wünsche.77

Der revolutionäre Martyriumsdiskurs als Sicherheitsproblem Die Regierung bemühte sich, die Revolution nicht nur mittels polizeilicher Gewalt einzudämmen, sondern sie auch moralisch zu diskreditieren. Dazu wurde versucht, auf der einen Seite die Selbststilisierung der Terroristen als »Märtyrer« zu konterkarieren, auf der anderen Seite aber eine eigene Märtyrererzählung zu gestalten und das Bild des »Befreierzaren (car’-osvoboditel’)« durch das Bild des »Märtyrerzaren (car’-mučenik)« zu ergänzen. Beide Strategien fanden Anklang in weiten gesellschaftlichen Kreisen. Aus den anonymen und signierten Schreiben, die Regierungsbeamte nach dem Ersten März erhielten, geht hervor, dass eine Vielzahl an Russländern in den Terroristen »Feinde«, »Fanatiker« und »Missetäter« sahen.78 76 Zit. n. K biografijam A. I. Željabova i S. L. Perovskoj 128–129. 77 So etwa im Falle vieler Briefe der im »Prozess der 20« verurteilten narodovol’cy. Ein Kommunikationsverbot sollte offiziell erst nach der Bestätigung des Urteils durch den Imperator in Kraft gesetzt werden. Den Gefangenen wurde deshalb nach der Urteilsverkündung zunächst einmal erlaubt, Briefe zu schreiben. Diese wurden allerdings allesamt auf Wunsch der Gefängnisleitung oder aber auf Initiative eines übereifrigen Beamten zurückgehalten und landeten dann im Archiv des Polizeidepartements, wo sie nach der Revolution geborgen wurden. Siehe Pis’ma narodovol’cev iz Trubeckogo bastiona. In: Katorga i ssylka 3 (1925) 158–179. 78 Safronova: Russkoe obščestvo 227–236.

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Michail Goc erinnerte sich beispielsweise an die Empörung, die der »ungerechte Tod« Alexander II . damals hervorrief und dass er selbst noch lange um den toten Herrscher getrauert habe. Um dem neuen Imperator die Treue zu schwören, sei er »mit heißer Loyalität« in die Synagoge gegangen.79 Ähnlich beschrieb einer der führenden Menschewiken, Aleksandr Potresov, seine Reaktion auf den Tod des Zaren. In seiner Jugend soll er, wie aus seiner Autobiographie hervorgeht, noch »wahrhaftig religiös (po-nastojaščemu religioznym)«80 gewesen sein. Die Ermordung des Zaren hat Potresov wohl nicht zuletzt deshalb zutiefst empört.81 Obwohl Alexander II . nie kanonisiert wurde, fügte sich seine Verehrung nahtlos in das Muster christlich-orthodoxer Heiligenverehrung. In den ersten Stunden nach dem Attentat strömten Petersburger zum Ort des Unglücks am Ekaterinenkanal und tauchten Tücher in die Blutlache, »um sie als Reliquien aufzubewahren«82. Selbst eher liberal eingestellte Russen beklagten an diesen Tagen das »Sühneopfer«83 des Zaren. Schon am Folgetag wurde beschlossen, eine Kirche auf dem Unglücksort zu errichten. Die Entscheidung für einen Sakralbau (und nicht etwa ein profanes Monument) war bewusst gewählt und entsprach dem Wunsch des neuen Regenten, eine Symbolpolitik zu betreiben, die das »Russische« mit dem »Orthodoxen« vereinigte.84 In der Zeit zwischen 1883 und 1907 wurde hier die »Kirche der Auferstehung Christi« errichtet, die den Beinamen »Blutkirche (Spas na Krovi)« erhielt. Da die Verehrung des Zaren als Märtyrer eng mit messianischen Vorstellungen vom besonderen Schicksal Russlands verbunden war, konnte auch der Zar als wichtigstes der vom Land gebrachten Opfer gedacht werden. Unmittelbar nach dem »Ersten März« verbreitete sich das Bild vom »Märtyrer-Zaren (car’-mučenik)« und wurde so populär, dass selbst die letzten beiden Kaiser lange vor ihrem Ableben von den Gläubigen als potentielle

79 »[…] lojal’nost’ moja sil’no razogrelas’ samim faktom užasnoj mučeničeskoj i, kak ja byl ubeždën, nespravedlivoj smerti, iskrenejšim obrazom oplakival ubitogo, s blagogoveniem nosil po nëm traur i s  gorjačej predannost’ju napravilsja v  sinagogu prisjagnut’ novomu carju.« GA RF f. 6243, o. 1, d. 1, l. 81. 80 Eine intensive Phase gelebter Religiosität folgte auf den frühen und plötzlichen Tod des Vaters, der bei Potresov Fragen nach dem Sinn des Lebens geweckt hatte. Mit der Zeit ließ seine Religiosität jedoch nach. Nicolaevsky Collection Box 58, Folder 2, p. 17. 81 Nur die Hinrichtung Perovskajas und Kibal’čičs soll »dumpfen Unmut (gluchoe nedovol’stvo)« hervorgerufen haben, denn nach Potresovs Vorstellungen durften Frauen und Wissenschaftler nicht hingerichtet werden. Ebd. 23. 82 Klotchov, Katleen: Orte des ›Russischen‹ in St Petersburg. Die Kirche der Auferstehung Christi. In: Karl Schlögel u. a. (Hg.): Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte. New York, Frankfurt 2007, 95–107, hier 98. 83 So beispielsweise der bekannte Arzt Nikolaj Pirogov in seinem privaten Tagebuch. Pirogov, Nikolaj: Voprosy žizni. Dnevnik starogo vrača. Ivanovo 2008, 207. 84 Klotchov: Orte des ›Russischen‹ in St Petersburg 102.

172  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Sühneopfer für das Imperium und als Zeugen der Wahrheit Christi gesehen wurden.85 In dem Bemühen mit Hilfe des Rekurses auf christliche Martyriumsvorstellungen politisches Kapital zu schlagen, ähnelten sich die Strategien der Revolutionäre und der Staatsbeamten auf frappierende Weise. So proklamierte beispielsweise der Ankläger Murav’ëv, der eine »traurige, aber heilige Arbeit« zu vollbringen meinte, dass Alexander den »Tod eines Märtyrers«86 gestorben sei. Den Eindruck, den das »Glaubensbekenntnis« Željabovs hinterließ, versuchte er hingegen zu konterkarieren, indem er die Rede des Revolutionärs als »Effekthascherei (b’juščuju ėfekt frazu)« bezeichnete. Auf die von Željabov angesprochene Einheit von »Wort und Tat« konterte er mit einer Tirade, die ebenfalls darauf abzielte, bei den Zuhörern einen emotionalisierenden Effekt zu erzeugen: »Was sind das für Taten, ohne die der Glaube tot ist? Jene, die am 1. März am Ekaterinenkanal verrichtet wurden; jene, die mit Blut, Mord, versuchtem Gesetzesbruch begangen werden?« Die Terroristen würden, so Murav’ëv, Sittlichkeit, Geschichte und die Gesellschaft verachten: »Dafür hat aber die sozialrevolutionäre Partei von sich eine sehr hohe Meinung und wird nicht müde, sich selber, die eigenen Heldentaten, die eigene Bedeutung zu überhöhen! Helden, Märtyrer, Aufklärer des Volkes, Verkünder der Freiheit – das sind nur die bescheidensten Epitheta mit denen sie sich so gerne auszeichnen.«87

85 So Tarabukina, A.: Mirovozrenie ›cerkovnych ljudej‹ v massovoj duchovnoj literature rubeža XIX–XX vekov. In: Lur’e, M. (Hg.): Tradicija v  fol’klore i literature. St. Petersburg 2000, 191–230, hier 201. Auch die Regierung Nikolaus’ II . verfolgte eine ähnliche Strategie wie die Regierung Alexanders III . So wurde beispielsweise nach der Ermordung des Großfürsten Sergej Romanov eine Reihe von Broschüren in Auftrag gegeben, die so bezeichnende Titel trugen wie Dem geschätzten Gedenken des eines Märtyrertodes gestorbenen Großfürsten Sergej Aleksandrovič oder Der Märtyrertod Seiner Kaiserlichen Hoheit des Großfürsten Sergej Aleksandrovič. Letztere feierte den »Märtyrertod« Sergejs und stellten den Großfürsten in die Nachfolge seines Vaters, des »Märtyrer-Zaren« Alexander II : »Kak za iskupitel’noj žertvoj Carja-Mučenika posledovalo vozroždenie Rosii pod sen’ju Carja-Mirotvorca, tak i teper’, veruem my, nastanet takoe že vozroždenie naše posle neskazannogo užasa 4 fevralja. […] Bože pravednyj! Upokoj dušu strastoterpca Moskovskogo Velikogo Knjazja Sergija, i pošli nam nesokrušimuju krepost’ ducha, daby ispolnit’ tot dolg, kotoryj nam postavlen ego mučeničeskoju končinoj.« Vysočaijšyj manifest. Mučeničeskaja končina Ego Imperatorskogo Vysočestva Velikogo knjazja Sergija Aleksandroviča. Moskau 1905, 8. 86 Sud nad careubijcami 240. 87 »Teper’ ja sprošu Željabova: kakie ėto dela, bez kotorych vera mertva? Te-li, kotorye soveršeny 1 marta na Ekaterininskom kanale; te-li, kotorye soveršajutsja krov’ju, ubijstvom, posjagatel’stvom na prestulenie? Otnosjas’ otricatel’no k sovremennomu gosudarstvennomu stroju i ego religii, terroristy stol’ že bespoščadny po otnošeniju k  nravstvennosti, istorii i obščestvu. Zato o sebe samoj social’no-revoljucionnaja partija mnenija samogo vysokogo, i ne ustaët prevoznosit’ sebja, svoi podvigi, svoë značenie! Geroi, mučeniki, svetoči naroda, provozvestniki svobody – ėto naibolee skromnye ėpitety iz tech, kotorymi oni ljubjat nadeljat’ sebja.« Ebd. 191–192.

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Nachdem die Regierung ihre Strategie gewechselt hatte und die Veröffentlichung von Prozessberichten untersagte, führten Staatsbeamte ihren Kampf gegen die Revolution hinter verschlossenen Türen fort. Während die Revolutionäre weiterhin auf ihren »Glauben« verwiesen und ihre Genossen als »Märtyrer« überhöhten, versuchten Staatsbeamte, die Revolutionäre als »Heuchler« zu entlarven, indem sie die Basis revolutionärer Martyriumsvorstellungen attackierten und zu zeigen versuchten, dass sich Revolutionäre für ihr Handeln entlohnen ließen. Im »Prozess der 20« von 1882 erläuterte Nikolaj Kletočnikov, der einst im Auftrag der Revolutionäre die Dritte Abteilung infiltriert hatte, ausführlich, warum er sich gegen seine Dienststelle gewandt habe. Als provinzieller Bürokrat habe er unter Menschen leben müssen, die ein »gänzlich leeres, inhaltsloses Leben (samuju pustuju, nesoderžatel’nuju žizn’)«88 geführt hätten. In St. Petersburg sei ihm dann aber klar geworden, dass eine »widerwärtige Institution« existiere, welche die Gesellschaft verderbe, die »besten Seiten der menschlichen Natur« an der Entfaltung hindere und ihre »platten, dunklen Seiten«89 belebe. Deshalb habe er sich dazu entschlossen, die Tätigkeit der Dritten Abteilung von innen heraus zum Erliegen zu bringen. Der Vorsitzende Drejer erkannte jedoch die Schwachstelle einer solchen Argumentation und holte zum Gegenschlag aus: »Wem haben Sie gedient? Dieser abscheulichen Institution? […] Und Sie haben es für möglich befunden, Geld von dieser, wie Sie sie bezeichnen, abscheulichen Institution anzunehmen?«90 Kletočnikov blieb nichts anderes übrig, als auf die strategische Bedeutung seiner Handlung zu verweisen. Seine Antwort fiel abrupt aus, anstelle weiterer Erläuterungen versuchte er, die Beamten der Dritten Abteilung als sittenlose Menschen zu deskreditieren: »Sie können sich gar nicht vorstellen, was das für Leute sind!« verteidigte sich der Angeklagte: »Sie sind bereit, für Geld den eigenen Vater zu verkaufen, sich beliebige Märchen über einen Menschen auszudenken, nur um eine Denunziation zu schreiben und eine Belohnung zu bekommen. Mich hat die ungeheure Zahl an falschen Denunziationen einfach erschlagen.«91

88 Zit. n. Zametki o processe 20-ti. In: Byloe 1 (1906) 284–301, hier 289. 89 »[…] suščestvuet otvratitel’noe učreždenie, kotoroe zaglušaet vse lučšie storony čelo­ večeskoj natury i vyzyvaet k žizni vse eë pošlye, tëmnye čerty.« Zit. n. ebd. 290. 90 »Komu že vy služili? Ėtomu otvratitel’nomu učreždeniju? […] I vy nachodite voz­ možnym brat’ den’gi iz ėtogo otvratitel’nogo učreždenija, kak vy ego nazyvaete?« Zit. n. ebd. 91 »Esli by ja ne bral, to ėto pokazalos’ by strannym, i ja navlëk by na sebja podozrenie. – Itak, ja očutilsja v III Otdelenii, sredi špionov. Vy ne možete sebe predstavit’, čto ėto za ljudi! Oni gotovy za den’gi otca prodat’, vydumat’ na čeloveka kakuju ugodno nebylicu, liš’ by napisat’ donos i polučit’ nagradu. Menja prosto porazilo gromadnoe čislo ložnych donosov. […] Ja voznenavidel ėto otvratitel’noe učreždenie i stal podryvat’ ego dejatel’nost’: predupreždal, kogo tol’ko mog, ob obyskach, a potom, kogda poznakomilsja s revoljucionerami, to peredaval im samye podrobnye svedenija.« Zit. n. ebd.

174  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Der Vorsitzende war jedoch keineswegs bereit, sich so schnell geschlagen zu zeigen, denn ihm war bekannt, dass Kletočnikov während des Verhörs gestanden hatte, Geld von den Revolutionären erhalten zu haben. Es folgte ein intensiver Schlagabtausch: »Vorsitzender: Wie viel haben Sie dafür bekommen? Kletočnikov: Gar nichts. Vorsitzender: Während der Ermittlung haben Sie angegeben, dass sie von den Revolutionären Geld bekommen hätten. Kletočnikov: Während der Ermittlungen befand ich mich in ganz und gar exzeptionellen Verhältnissen, nicht in solchen [Verhältnissen], in denen sich Angeklagte normalerweise befinden, auch wenn es sich um politische Verbrechen handelt.«92

Das zitierte Prozessprotokoll zeigt, dass sowohl der Vorsitzende als auch der Angeklagte über die Möglichkeit verfügten, die Argumente des Anderen nach­ zuvollziehen und sogar moralische Ansprüche an den Anderen zu stellen. Dies war möglich, weil die moralische Orientierung Kletočnikovs nur vor dem Hintergrund einer langen christlichen Tradition verständlich wird. Aus einer utilitaristischen Perspektive heraus erscheint die Annahme des Geldes kein moralisches Problem darzustellen. Die empörte, hochemotionale Reaktion Kletočnikovs, die Abruptheit seiner Antwort, sein Versuch, die Mitarbeiter der Dritten Abteilung als die »eigentlichen Verräter und Übeltäter« darzustellen, zeugt davon, welch hohen Stellenwert die Entkoppelung von Handeln und Entlohnung im Denken der Revolutionäre einnahm.93 In dieser indirekt geführten Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über den »Ersten März« (durch das Fehlen einer politischen Öffentlichkeit konnte natürlich von keinem »Dialog« die Rede sein) zwischen dem Staat und 92 »Predsedatel’. Skol’ko Vam platili za ėto?  – Kletočnikov. Niskol’ko. Predsedatel’. Na doznanii vy pokazali, čto brali ot revoljucionerov den’gi. – Kletočnikov. Na doznanii ja nachodilsja sovsem v isključitel’nych uslovijach, ne takich, v kakich obyknovenno nachodjatsja obvinjaemye, chotja i v političeskich prestuplenijach.« Zit. n. ebd. 93 Als die Prozessmitschrift Jahrzehnte später auf illegalem Wege in die Hände der Revolutionäre fiel und im Byloe veröffentlicht wurde, insistierten die ehemaligen Genossen noch einmal darauf, dass der inzwischen längst verstorbene Kletočnikov nie Geld für seine Tätigkeit erhalten hatte. Nach der Revolution von 1917 schrieb Korba, dass Kletočnikov seinen »Kurator« Michajlov noch vor Beginn seiner Arbeit in der Dritten Abteilung gefragt habe, ob er bei einer Verhaftung behaupten dürfe, für seine Informantentätigkeit Geld empfangen zu haben. Kletočnikov, der Angst davor gehabt habe, während einer Verhaftung misshandelt zu werden, habe angeblich daran geglaubt, dass die Gendarmen ihn nicht schlagen würden, wenn er sich nicht als Revolutionär, sondern als ein korrupter Beamter ausgegeben hätte. Obwohl ein solches Verhalten nicht innerhalb des moralischen Rahmens der Revolution lag, habe Michajlov für Kletočnikov eine Ausnahme gemacht. Pribylëva-Korba, Anna: Neskol’ko slov o N. V. Kletočnikove. In: Gineev, V. u. a. (Hg.): ›Narodnaja Volja‹ i ›Černyj peredel‹. Vospo­minanija učastnikov revoljucionnogo dviženija v Peterburge v 1879–1882 gg. Leningrad 1989, 246–257, hier 249.

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den Revolutionären kamen auch antisemitische Argumente zum Einsatz. Wenn Antisemiten aus den Reihen der Narodnaja volja versucht hatten, die nach der Ermordung Alexanders II . ausgebrochenen Judenpogrome als Ausdruck des gegen seine Unterdrücker gerichteten Zorns des »Volkes« zu interpretieren,94 so behaupteten konservative Antisemiten, dass Juden für die Ermordung des »Märtyrerzaren« verantwortlich gewesen seien. So behauptete beispielsweise der bekannte Historiker Dmitrij Ilovajskij, dass »dunkle Mächte« sich gegen Russland verschworen hätten. In einem von ihm herausgegebenen Schulbuch, das tausendfach aufgelegt wurde, hieß es, dass vor allem Polen und Juden hinter den politischen Attentaten der letzten Jahre stecken würden.95 Mit hoher Wahrscheinlichkeit erkannte die Regierung von Alexander III . schon sehr früh, dass die »Selbstmythisierung« der Revolutionsbewegung ein ernstzunehmendes Sicherheitsproblem darstellte. Ab dem August 1881 wurde die Veröffentlichung weiterer offizieller Prozessberichte verboten, was darauf hin­deutet, dass die vor Gericht angewandten Delegitimierungsstrategien als ineffektiv erachtet wurden. Möglich ist auch, dass die Gefahr, die von der Veröffentlichung der Mitschriften ausging, größer eingeschätzt wurde als die eventuellen Vorteile. Schließlich nutzten die Revolutionäre den Gerichtssaal als Tribüne, prangerten in einer expressiven Sprache die Missstände im Zarenreich an, erläuterten ihr sozial-politisches Programm, bekundeten öffentlich ihren »Glauben« und schwärmten vom »Martyrium« für die Revolution. Die offiziellen, von der Regierung in Auftrag gegebenen Prozessprotokolle hatten deshalb nicht selten eine radikalisierende Wirkung auf die Sympathisanten der Terroristen. So hinterließ der »Prozess der 16« einen tiefen Eindruck auf das nahe Umfeld der narodovol’cy, was wiederum zur Rekrutierung neuer Kämpfer für die »gemeinsame Sache« beitrug. Der Offizier Fëdor Zavališin, Mitglied der »Militärorganisation«, gab beispielsweise bei seinem Verhör zu Protokoll, dass die »Predigt Željabovs (željabovskaja propoved’)«96 sowie später die Lektüre der offiziellen, sowie auf illegalem Wege publizierten, Berichte über den »Prozess der 16« den entscheidenden Impuls für seinen Eintritt in die revolutionäre Organisation gegeben hätten. »Ich betrachtete sie [die Revolutionäre, d. Verf.] als wahre Helden und stellte sie sogar in eine Reihe mit den ersten Christen«97 gab Zavališin freimütig zu Protokoll. Eine nicht minder wichtige propagandistische Funktion kam dem Verlauf der Hinrichtung zu. Über die pervomartovcy kann mit einiger Sicherheit gesagt 94 Offord: The Russian Revolutionary Movement 44–46. 95 Budnickii, Oleg: The Jews and Revolution. Russian Perspectives, 1881–1918. In: East European Jewish Affairs 3 (2008) 321–334, hier 321. 96 Die Rede ist von einem geheimen Zusammentreffen des Genannten mit Sympathisanten aus Offizierskreisen im Herbst 1880. Das Verhörptotokoll wurde 1925 in Katorga i ssylka abgedruckt. Kantor: K istorii Voennoj organizacii 217–218. 97 »Ja sčital ich nastojaščimi gerojami i stavil ich daže narjadu s pervymi christianami.« Ebd. 218.

176  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  werden, dass sie auf die Wirkung geachtet hatten, die ihr »Verhalten während der Hinrichtung auf die Generationen zukünftiger Kämpfer«98 entfalten könnte. Dem offiziellen Hinrichtungsbericht zufolge schienen zwar alle fünf Verurteilten nervös zu sein, doch mit Ausnahme von Rysakov, der partout nicht auf die Hinrichtungsbank steigen wollte und sich noch eine Zeit lang gegen die Henker zu wehren versuchte, soll niemand die Nerven verloren haben. Gleich nach der symbolischen Geste des Kreuzkusses soll Željabov sogar noch dem Priester etwas zugeflüstert und gelächelt haben. Was im offiziellen Bericht jedoch nicht erwähnt, aber durch zahlreiche Augenzeugenberichte belegt wurde, ist, dass Timofej Michajlov ganze drei Mal von der Richterbank heruntergestoßen werden musste, da sein Gewicht zwei Seile zum Reißen brachte. Die versammelte Menge reagierte mit Zorn und Empörung. Michajlov aber soll nach dem ersten gescheiterten Versuch selbsttätig wieder auf die Hinrichtungsbank gestiegen sein.99 Den Effekt, den die verpatzte Exekution und der bemerkenswerte performative Akt Michajlovs erzeugten, versuchte die Regierung zu neutralisieren, indem sie sich dazu entschloss, keine demonstrativen Hinrichtungen mehr durchzuführen. Nach dem 3. April 1881 fanden die Hinrichtungen nur noch unter Ausschluss der »Öffentlichkeit« statt.100 Terrorismus als individuelle Herausforderung und Überforderung Die Attentate selbst sowie das Auftreten der Attentäter während der Gerichtsprozesse müssen darüber hinaus als »expressive Akte« verstanden werden, »in denen die Täter ihre Identität inszenieren, mit denen sie Aufmerksamkeit auf ihre Existenz, ihre (Ohn)Macht ziehen möchten«101. Die Terroristen achteten penibel auf ihr »Auftreten« und auf die Art und Weise, wie Anschläge durchgeführt wurden. Der Bombenwurf beispielsweise hatte nicht nur einen ideologischen (Dynamit als Symbol des Fortschritts) und einen praktischen Charakter 98 »I na kazn’ on [A. D. Michajlov, d. Verf.] smotrel […] s točki zrenija bor’by za osvo­ boždenie rodiny, s točki zrenija vpečatlenija, kotoroe kazn’ i ego povedenie vo vremja kazni proizvedët na pokolenija grjaduščich borcov.« Kladbišče pisem 87–88. 99 Šerich, Dmitrij: Gorod u ėšafota. Za čto i kak kaznili v  Peterburge. Moskau 2013. Welche psychologischen Faktoren für das Verhalten der pervomartovcy eine Rolle gespielt haben, ist dabei nicht rekonstruierbar. Sicher kann nur gesagt werden, dass die Terroristen im Angesicht des Todes keinesfalls stets »ruhig« und »gefasst« waren. So hatte der genannte ­Timofej Michajlov am »Ersten März« die Nerven verloren: Er trug seine Bombe zurück ins Hauptquartier. Yarmolinsky: Road to Revolution 278. 100 Troickij, Nikolaj: Carizm pod sudom progressivnoj obščestvennosti 1866–1895 gg. Moskau 1979, 138. 101 Graaf, Beatrice: Terrorismus als performativer Akt. Die Bundesrepublik, Italien und die Niederlade im Vergleich. In: Hurter, Johannes (Hg.): Terrorismusbekampfung in Westeuropa. Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren. Berlin 2015, 93–116, hier 94.

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(Schusswaffengebrauch war bei Anschlägen, die gegen das Staatsoberhaupt gerichtet waren, schlicht ineffektiv), sondern entsprach auch den tradierten Vorstellungen des Selbst-Opfers. Die Wahrscheinlichkeit, nach einem Bombenwurf aus nächster Distanz zu überleben und dann noch vom Anschlagsort fliehen zu können war nicht sehr hoch. Flucht- und Rückzugswege wurden bei Bombenanschlägen oft nicht eingeplant. Hinzu kam, dass die Aussicht für männliche Revolutionäre, die in der einen oder anderen Art direkt am Attentat beteiligt gewesen waren, mit einer Haftstrafe davonzukommen, ebenfalls recht gering war. Durch die Einkalkulierung des eigenen Todes wurde der Körper des Terroristen selbst zum wirkungsmächtigsten Propagandainstrument. Eine solche ungewöhnliche Haltung gegenüber dem eigenen Leben musste eingeübt und durch Selbst- und Gruppenindoktrinierung gefestigt werden. Darüber, wie ein solcher Prozess, der zur Akzeptanz des eigenen Todes führen sollte, ausgesehen haben könnte, gibt ein seinerzeit von der Gefängnisleitung zurückgehaltener Brief Michajlovs an seine Verwandten Auskunft. Der ­narodovolec schrieb hier, dass jeder Terrorist durch eine schwere, transformative Phase hindurchgehen müsse, um zu einem Zustand zu gelangen, in dem das eigene Leben und Überleben keine entscheidende Rolle mehr spiele. Sobald sich aber ein Terrorist von seinem »Ich« getrennt und auch den Tod einiger Genossen miterlebt habe, »versöhne« er sich auf unerklärliche Weise mit dem Tod, ja er wünsche ihn manchmal sogar herbei.102 Auf diese Besonderheit des »Lebensstils des Terroristen (obraza žizni terrorista)« verwies auch Lev T ­ ichomirov, wobei er diese Spezifika nach seiner »Metamorphose« vom Revolutionär zum Monarchisten, allerdings negativ bewertete. Das Leben eines Terroristen sei demnach das Leben eines »gejagten Wolfs«: »Das Bewusstsein, das alles dominiert, ist das Bewusstsein dessen, dass er nicht nur jetzt oder morgen, sondern jede Sekunde bereit sein muss, zu sterben.«103 Wie Michajlov kam Tichomirov zu dem 102 »Vam uže, moi milye, izvestno, čto mysl’ o vozmožnosti blizkoj smerti mne daleko ne nova. Eščë na vole dlja menja, kak dlja bol’šinstva iz nas, bylo vremja složnych duševnych processov, bolee ili menee prodolžitel’nych, posle kotorych obyknovenno okončatel’no skladyvaetsja čelovek v takom ili inom smysle. Put’, po kotoromu šël ja poslednie dva, tri goda moej obščestvennoj dejatel’nosti, trebuet, čtoby predvaritel’no byla okončena ėta psichičeskaja rabota. V svjazi s nej neobchodimo rešaeš’ i vopros o svoej žizni, rešaeš’, konečno, v tom smysle, čto otkazyvaeš’sja ot svoego ›ja‹ i v nastojaščem i v buduščem. Vmeste s tem priučaeš’ sebja k mysli o smerti. Každyj slučaj smerti blizkich ljudej, krome različnych drugich vlijanij, imeet eščë tainstvennoe svojstvo manit’ v mir dorogich tenej. Krome soznatel’nych, idejnych vlečenij, v duše zaroždajutsja vlečenija psicho-simpatičeskie, – glubokie i sil’nye. Oni pomogajut udivitel’no primirit’sja s mysl’ju o smerti.« Zit. n. Kladbišče pisem 98. 103 »Vlijanie samogo obraza žizni terrorista-zagovorščika črezvyčajno otupljajuščee. Ėto žizn’ travlennogo volka. Gospodstvujuščee nad vsem soznanie – ėto soznanie togo, čto ne tol’ko nynče ili zavtra, no každuju sekundu on dolžen byt’ gotov pogibnut’. Edinstvennaja vozmožnost’ žit’ pri takom soznanii – ėto ne dumat’ o množestve veščej, o kotorych, ­odnako nužno dumat’, esli chočeš’ oststat’sja čelovekom razvitym.« Tichomirov, Lev: Počemu ja ­perestal byt’ revoljucionerom. Moskau 1895, 46.

178  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Schluss, dass der ständige Gedanke der Unvermeidlichkeit eines nahen Todes früher oder später zur Abstumpfung und Akzeptanz führe. Doch anders als Michajlov, der in der Todesverachtung eine Tugend erblickte, mahnte der späte Tichomirov, dass diese Art von Abstumpfung dazu führe, dass der Mensch weder in der Lage sei, ernsthafte zwischenmenschliche Bindungen einzugehen, noch sich der Wissenschaft zu widmen.104 Wenngleich sowohl A ­ leksandr ­Michajlov als auch Andrej Željabov und Andere diese selbstauferlegte Rolle bis zum letzten Atemzug scheinbar perfekt beherrschten, lassen der »Zusammenbruch« von Menschen wie Rysakov, Degaev und vieler anderer mehr oder das Verhalten Timofej Michajlovs am 1. März 1881 erahnen, mit welch enormen Anstrengungen die Befolgung der rigiden revolutionären Verhaltensregeln verbunden war. Terrorismus als moralisches Dilemma Das »terroristische Dilemma« im narodovol’čestvo weist im Wesentlichen drei Aspekte auf. Der eine Aspekt betraf das alte Problem der »nečaevščina«, der zweite den grundsätzlichen Konflikt zwischen dem Respekt vor dem Wert menschlichen Lebens und der Annahme, dass das größte moralische Gut der Menschheit nur mittels terroristischer Mittel erreichbar sei. Der dritte Aspekt betraf die Frage nach der Rolle des Terrors im neuen sozialistischen Staat. Das »traditionelle« Problem wurde dadurch erschwert, dass alle Attentatsversuche auf den Zaren mittels Sprengstoff durchgeführt wurden. Der Grund dafür war, dass Schusswaffengebrauch in diesem Falle eine recht geringe Erfolgswahrscheinlichkeit in Aussicht stellte. Zudem galt Sprengstoff als Ausdruck des Fortschritts. Die Terroristen waren stolz, auf der Höhe ihrer Zeit zu stehen und die effektivste aller verfügbaren Kampfwaffen einzusetzen. Das führte jedoch zu einer ganzen Reihe von nicht intendierten Todesopfern.105 Gegen den Vorwurf der Willkür brachte der wichtigste Theoretiker des narodovol’čestvo, Lev Tichomirov, im Artikel Wer hat die Moral auf seiner Seite? den Einwand vor, dass die »Partei« jeden Toten bedauere, aber dass schlussendlich die Regierung selbst die Schuld an den nicht intendierten Todesopfern 104 Ebd. 105 Außerdem waren die Kriterien dafür, wer getötet werden durfte und wer nicht, nicht festgelegt. Kein Konsens scheint beispielsweise in der Frage geherrscht zu haben, ob der »dvornik«, in der Regel ein »Mann aus dem Volk«, der bei Hausdurchsuchungen oftmals anwesend sein musste, verletzt oder gar erschossen werden durfte. In der Praxis konnte der als extrem lästig empfundene »Kerberos-Hausmeisters (dvornik-cerber)«, wie Aschenbrenner (Ders.: Vospominanija (okončanie). In: Byloe 6 (1907) 78–96) den »dvornik« einmal scherzhaft nannte, zur falschen Zeit am falschen Ort immer mit dem Tod rechnen. Solche Fälle sind gut dokumentiert. Für die Zeit der NV siehe Delo 16-ti. St. Petersburg 1907, 49. Für die Zeit nach der Jahrhundertwende siehe Pozner, S.: Patronnaja masterskaja i vooružënnoe soprotivlenie 1905–1908. In: Ders. (Hg.): Pervaja boevaja organizacija bol’ševikov 1905–1907. Moskau 1934, 133–142, hier 138, Fn. 2.

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trage. Den Amoralismus der Autokratie kontrastierte er deshalb mit den »Beispielen von Großherzigkeit, Selbstaufopferung und höchster Sittlichkeit«106, die die Partei bereits gezeigt hätte. Diese Problematik zeigte sich schon beim Anschlag auf den Winterpalast am 5. Februar 1880. Als Chalturin die Sprengladung detonieren ließ, starben insgesamt elf Personen, Soldaten und Offiziere. Duzende wurden verletzt.107 Die Narodnaja volja bedauerte zwar in einem Schreiben die unnötigen Todesopfer, warnte aber, dass, solange die Armee nicht erkenne, dass ihre »heilige Pflicht (svjaščennyj dolg)«108 darin bestehe, sich hinter dem Volke zu versammeln, solche Opfer auch in Zukunft unvermeidbar sein würden. Die terroristische »Moralökonomie« sah also auch hier vor, den Preis des menschlichen Lebens mit Verweis auf die Sittlichkeit der Terroristen und den kaum zu überbietenden moralischen Wert der »Volksbefreiung« zu überbieten. Deshalb kam dem Verweis auf die »moralische Reinheit« der narodovol’cy und deren erhabenen »Glauben an die Sache der Partei«109 eine so große Bedeutung zu. Religiös konnotierte Ausdrücke trugen dazu bei, eine emotionale Wirkung zu erzeugen, die helfen sollte, das an religiösen Beispielen geschulte Moralempfinden der Rezipienten direkt anzusprechen. Auf eine etwas andere Weise argumentierte Gerasim R ­ omanenko. Er rechtfertigte den Tod von Unbeteiligten, indem er darauf verwies, dass der Terror in seiner letzten Konsequenz einen blutigen Massenaufstand verhindere und so zur Minderung des allgemeinen Leids beitrage.110 Andere, wie der Terrorist Presnjakov, forderten für alle in Zukunft hingerichteten Revolutionäre Rache zu üben, warnte aber davor, »unschuldiges Blut« zu vergießen, denn es sei »zu unheimlich zu hören – 11 getötet und 56 verletzt«111. 106 »Povtorjaem: naprasno vy dumaete, čto my stanem otkreščivat’sja ot neskol’kich pečal’nych slučaev, soveršënnych revoljucioneravmi. My žaleem o nich, ėto pravda, my želali by, čtoby na nas ne padalo daže samoj malejšej teni, no my ne možem ne priznavat’ polnoj logičnosti ich proischoždenija. […] Ėto kakie-nibud’ dva-tri-pjat’ slučaev, kotorye nikakim obrazom ne mogut diskreditirovat’ i marat’ partiju, javivšuju tak mnogo primerov veliko­dušija, samopožertvovanija i vysočajšej nravstvennosti.« Literatura social’no-revoljucionnoj partii 96. 107 Am 5. Februar 1880 gelang den Terroristen ein erster Teilerfolg: Stepan Chalturin, ein ehemaliger derevenščik und Anführer des bereits erwähnten Nordbundes, konnte als Tischler im Winterpalast anheuern und brachte über Monate hinweg kleinere Mengen Dynamit mit zur Arbeit, die er in einem Raum unterhalb des Speisesaals unterbrachte. Alexander II ., der für seine Pünktlichkeit bekannt war, befand sich zum Zeitpunkt der Detonation nicht im Speisesaal, da er einen ausländischen Fürsten empfing, dessen Ankunft sich verzögert hatte. Volk: Narodnaja volja 101–103; Kan: ›Narodnaja Volja‹ 69–70. 108 Zit. n. Sedov: Geroičeskij period 226. 109 Serebrjakov: Revoljucionery vo flote 113. 110 Ivianski: The Terrorist Revolution 140. 111 »V zaključenii ja vyskažu svoë želanie, čtoby tovarišči v slučae kazni kogo-nibud’ iz nas ili neskol’kich – otvetili kak sleduet vragam, tol’ko bez prolitija postoronnej nevinnoj krovi, sliškom žutko slyšat’ – ubito 11 i raneno 56, da čtoby i material [dinamit, d. Verf.] darom ne potratili.« Zit. n. Figner: Pis’ma učastnikov processa 16-ti 101.

180  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  In der Praxis bedeutete dies jedoch, dass die Briefe der auf ihr Ende wartenden Terroristen, die für den Tod von Unbeteiligten verantwortlich waren, oftmals sichtlich von den tradierten Mustern des revolutionären Abschiedsbriefes abwichen. So etwa der Brief des oben erwähnten Andrej Presnjakov, von seinen Genossen auch pathetisch »Geißel der Spione«112 genannt: Er bat die Genossen, seine arme Mutter nach Möglichkeiten finanziell zu unterstützen und für die Einstellung seines jüngeren Bruders zu sorgen. Auf seine Hinrichtung Bezug nehmend, räumte er ein, dass der Tod ihm nicht leicht fallen werde. Als Grund dafür wurde der Tod eines Portiers genannt, den Presnjakov versehentlich erschossen hatte.113 Der Portier Stepanov erlag seiner Verletzung und so klagte Presnjakov über den deprimierenden Zustand, in den ihn die »Ermordung des Idioten, der seinen Wanst anstelle des Spions hingehalten hat«114, versetzt habe. Dies hinderte Presnjakov offensichtlich daran, seinen baldigen Galgentod mit moralischer Erfüllung in Zusammenhang zu bringen und wie andere Revolutionäre von »Gefasstheit« und »Leichtigkeit« zu schreiben, mit der er auf das Schafott steigen werde. Stattdessen schwor Presnjakov lediglich, nicht von den strengen Verhaltensregeln seiner Mitstreiter abzuweichen. Seinen Brief schloss er mit einem Appell an die Genossen, die propagandistische Tätigkeit zu inten­ sivieren, den er zudem mit Rekurs auf Gen 1,28 überhöhte: »Keine Ahnung, wie ich aufs Schafott steigen werde: Hab kein besonderes Verlangen danach zu leben, aber sterben will ich andererseits auch nicht. Werde kein Gnadengesuch verfassen. […] Umarme alle zum letzten Mal. Lebet, freuet euch und füllt die Erde mit euren Anhängern und macht sie [die Erde, d. Verf.] euch untertan.«115 112 Presnjakov war ein radikalisierter Arbeiter, der sich lange genug in revolutionären Kreisen aufgehalten hatte, um den moralischen Rahmen der Revolution als den seinigen anzunehmen und die Denkmuster der narodovol’cy zu verinnerlichen. Presnjakov war für die Ermordung des Polizei-Agenten Nikolaj Šaraškin (1977) und des černoperedelec Aleksandr Žarkov (1880) verantwortlich, von dem bekannt wurde, dass dieser für die Dritte Abteilung arbeitete. 113 Am 24. Juli 1880 lauerte die örtliche Polizei dem seit fast zwei Jahren gesuchten Presnjakov auf und nahm dessen Verfolgung auf. Der mit dem Leben in der Illegalität vertraute Presnjakov soll daraufhin seine Schritte beschleunigt und einen Revolver gezogen haben, als der in Zivil gekleidete Beamte sich ihm näherte. Die Schüsse trafen jedoch nicht den Stadtpolizisten, von dem der Terrorist offensichtlich annahm, dass er ein einfacher Spitzel sei, sondern einen Portier und einen Hausmeister, die den Beamten bestimmungsgemäß begleiten mussten. Delo 16-ti 49–51. 114 »Moral’noe moë sostojanie vo vremja predvaritel’nogo aresta bylo skvernoe, vsledstvie ubijstva duraka, podstavivšego svoë brjucho vmesto špionskogo.« Zit. n. Figner: Pis’ma učastnikov processa 16-ti 101. 115 »Ne znaju, kak ja pojdu na viselicu: želanija osobogo žit’ net, da i umirat’, s drugoj storony, ne chočetsja. Pomilovanija prosit’ ne budu. Nu, zatem proščajus’ so vsemi tovariščami obeich polov. Obnimaju vsech v poslednij raz. Živite, naslaždajtes’, napolnjajte zemlju posledovateljami i obladajte eju.« Ebd. In einem Postskriptum bat Presnjakov die Genossen, den Arbeiter Jakov Smirnov, den er für einen Spion hielt, umzubringen.

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Auch der zweite Aspekt des terroristischen Dilemmas, der Konflikt zwischen »Leben« und »Sozialismus« beschäftigte die narodovol’cy und ihre Verbündeten. Bei Güterabwägungungen, bei denen menschliches Leben involviert ist, scheint das fundamentale Problem darin zu liegen, »dass das Gut des menschlichen Lebens in einem Güterkonflikt nicht einfach gegen andere, wenn auch wichtige Güte abgewogen und ihnen nachgeordnet werden kann«. Der Grund dafür ist, dass dieses fundamentale Gut erst die Voraussetzung dafür ist, »dass Menschen überhaupt Güter anstreben und verwirklichen können«. Die Auslöschung eines Menschenlebens kann also nur gerechtfertigt werden, wenn sich keine anderen Möglichkeiten mehr ergeben, weitere Menschenleben zu schützen.116 Pëtr ­Lavrov hat versucht, dieses Problem zu lösen. Er wollte zeigen, dass die Abwägung des höchsten Guts gegen das Gut des menschlichen Lebens möglich sei, weil nur die Verwirklichung des ersteren eine Voraussetzung für den Erhalt des letzteren sei. Lavrov war ursprünglich ein entschiedener Gegner terroristischer Methoden, doch schon 1881, nach dem erfolgreichen Attentat auf den Zaren, bezeichnete er den Terror nur noch als ein »gefährliches Mittel«, über dessen Legitimität er sich nicht äußern wolle. 1882 feierte er bereits in seinem Vorwort zu Kravčinskijs Untergrundrussland den Zarenmord als wichtigen Schritt im Kampf mit der Regierung. Er näherte sich nach und nach an die verbliebenen narodovol’cy an und betreute ab 1883 zusammen mit Lev ­Tichomirov den Vestnik Narodnij voli (Anzeiger des Volkswillens).117 Im Text Social’naja revoljucija i zadači nravstvennosti (Die soziale Revolution und die Aufgaben der Sittlichkeit) von 1884 formulierte er lange vor den Revisionismusdebatten einige der schwierigsten Fragen des europäischen Sozialismus. Unentschlossene Sympathisanten, so Lavrov, würden heute fragen: »Ist der Triumph des Sozialismus tatsächlich das Ziel, für das man sich hingebungsvoll in den zeitgenössischen Kampf stürzen kann, ohne auf die Verluste zu zählen? Kann man tatsächlich sicher sein, dass das Leben und die Kräfte nicht umsonst in diesem Kampf aufgebraucht werden, dass im Falle unseres Sieges, es sich tatsächlich um den Sieg des Fortschritts handeln wird […], dass im Falle unserer Niederlage, die Opfer, die wir gebracht haben und das Beispiel des Todes der Kämpfer für den Fortschritt Generationen neuer Kämpfer inspirieren werden, bis der Sieg endlich unser sein wird?«118

Die Gegenseite aber frage, ob der Sozialismus nicht etwas Ephemeres sei oder gar ein 116 »Zugespitzt ließe sich formulieren, dass in einem solchen Fall gerade die Tötung des Angreifers den Wert ›menschliches Leben‹ im Ganzen schützt, dem ja auch das Tötungs­ verbot selbst dienen will und den es schützen möchte.« Ernst, Stephan: Verhältnismäßige und unverhältnismäßige Mittel. Eine bedenkenswerte Unterscheidung in der lehramtlichen Bewertung der Sterbehilfe. In: Münchener Theologische Zeitschrift 1 (2007) 43–57, hier 48. 117 Budnickij: Terrorizm 62–63. 118 Lavrov: Social’naja revoljucija i zadači nravstvennosti 385–386.

182  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  »gewaltiges Experiment, das kein Beispiel in der Vergangenheit hat, das vielleicht auch keine Zukunft hat, das aber bereits unendliche Leiden bringt und noch b ­ ringen wird, einen schrecklichen Umbruch von allem, was jeder entwickelten Persönlichkeit teuer ist«119.

Den nonkonformistischen Charakter der sozialistischen »Lehre«, die den Klassenkampf als ihr »Wesen« anerkenne, keine Kompromisse mit dem Klassenfeind dulde und die Möglichkeit eines Bürgerkrieges nicht ausschließe, zählte Lavrov zu den »quälenden Fragen« der Moderne: »Sticht hier denn nicht ein moralischer Widerspruch ins Auge? Wenn die Lehre des Sozialismus wahr ist, die Theorie des Reiches der Gerechtigkeit, der allmensch­lichen Bruderschaft, der allmenschlichen Solidarität, kann dann die Forderung nach einer sozialen Revolution, einer blutigen und unbarmherzigen, die eine Feindschaft in die moderne zivilisierte Welt bringen wird und bereits gebracht hat, richtig sein?«120

Die gleiche Frage, aber um die Kritik der derevenščiki an den politiki erweitert, formulierte Lavrov auch in Bezug auf den sozialistischen Terror, dessen Aufkommen er auf die besonderen politischen Missstände im Russländischen Reich zurückführte. Müsste man also nicht die Narodnaja volja moralisch verurteilen, fragte Lavrov. Sei zudem die Anerkennung der Menschenwürde und des Rechts auf Meinungsfreiheit nicht inkompatibel mit der strikt hierarchischen Organisationsform der »Partei«? Wo enden also die Grenzen des noch Erlaubten und wo beginnt das Verbrechen? Lavrov gebührt das Verdienst, diese schwierigen Fragen gestellt und prägnant formuliert zu haben. Seine Antwort fiel jedoch recht trivial aus. Er rechtfertigte das seiner Meinung nach unumgängliche Blutvergießen mit einem simplen utilitaristischen Kalkül: Man müsse nur alle zukünftigen, noch nicht geborenen Generationen, die im »Reich der Gerechtigkeit« leben, in die Rechnung einbeziehen und von der gebildeten Leidensbilanz die »Menge an Leiden, die die Revolution einer Generation, die sie durchlebt, zufügt«121, abziehen, um Bürgerkrieg und Terror zu legitimieren.122 Die Verwirklichung des höchsten 119 Ebd. 386. 120 Ebd. 387. 121 Ebd. 448. 122 Dabei ging Lavrov davon aus, dass die Erkenntnis der eigenen Menschenwürde die Bedingung für jegliche Sittlichkeit darstelle. Bei einem entsprechend entwickelten Individuum überwiege das höhere und befriedigende Bedürfnis, sich sittlich weiterzuentwickeln, die niederen Bedürfnisse. Auf der Höhe dieser sittlichen Entwicklung entdecke das Individuum sein sittliches Ideal. Sittliche Ideale seien aber nicht gleichwertig, denn das beste Ideal könne nur das sozialistische sein, wie die »rationale, wissenschaftliche Ethik« (ebd. 395), als dessen Vertreter sich Lavrov sah, gezeigt habe. Nun sei es zwar objektiv geboten, die Menschenwürde des Anderen aktiv anzuerkennen (»podderživat’ dostoinstvo drugich ljudej«) (ebd. 401), doch bei Menschen, die die Würde des Anderen nicht achten und der sittlichen Entwicklung der Menschen mit repressiven Mitteln begegnen, müsse eine Ausnahme gemacht werden. Zudem

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Gutes wurde somit zur Voraussetzung für den Schutz des menschlichen Lebens und der Terror zu einem verhältnismäßigen Mittel, das den Schutz des Lebens in letzter Konsequenz garantierte. Das Problem bestand jedoch darin, dass die Rechnung nur im Falle einer prädestinierten Zukunft aufgehen konnte. Lavrov brauchte einen verifizierbaren Beweis, dass die reale Verwirklichung des Sozialismus kein »gewaltiges Experiment«, das Millionen von Menschen »unendliche Leiden« bringen, sein, sondern das Glück der Gemeinschaft garantieren werde. Lavrov formulierte also selbst schlagende Argumente gegen seine These. Er war jedoch – anders als seinerzeit Herzen – zu sehr von den »Verheißungen« des Sozialismus überzeugt, um seine eigene Position kritisch zu überdenken. Für Lavrov blieb der politische Mord ein rein theoretisches Problem. Die Praktiker des Terrors aber mussten das moralische ­Dilemma, das der Terrorismus produzierte, mit ihrem Gewissen vereinbaren. Der Verweis auf eine Leidens- oder Glücksbilanzierung und das Kaschieren des Problems mit Hilfe des Rekurses auf religiöse Semantiken waren nur zwei mögliche Wege. Eine andere Möglichkeit bestand darin, keine weiteren Anschläge auf Repräsentanten des Staates auszuführen und zu nicht-terroristischen Praktiken zurückzukehren. So wiederholte beispielsweise der Priestersohn Kibal’čič im Prozess gegen die pervomartovcy noch einmal die von fast allen Terroristen vertretene Meinung, dass die dem sozialistischen Rechtsempfinden zugrunde liegenden moralischen Güter, die Ermordung eines Menschen als »schrecklich« erscheinen lassen.123 Er äußerte die Meinung, dass die Revolutionsbewegung in Zukunft einen friedlichen Weg einschlagen müsse. Die ihm noch verbliebene kurze Lebenszeit widmete Kibal’čič der Ausarbeitung des Projekts einer Flugmaschine mit Raketenantrieb, von dem er vergeblich hoffte, dass jemand es nach seinem Tod realisieren werde.124 Schließlich waren es jedoch nicht die moralischen Skrupel der Revolutionäre, sondern das harte, von größter Willkür g­ ekennzeichnete Durchgreifen des Staates, das die Revolutionsgefahr für mehr als eine Dekade eindämmte. Was die Rolle des Terrors im angestrebten sozialistischen Staat anbelangt, so scheinen diesbezüglich auf den ersten Blick keine großen Meinungsverschiedenheiten unter den narodovol’cy geherrscht zu haben. Der revolutionäre Terror sollte nur so lange aufrechterhalten werden, bis eine konstitutionelle Reform legale Wege der sozialistischen Agitation eröffnen könnte. Als Nachmache die Natur des Klassenkampfes eine nicht gewalttätige, auf soziale Reformen ausgerichtete Politik unmöglich (ebd. 445). 123 »Teper’, pol’zujas’ pravom slova, mne predostavlennym, ja skažu o svoëm nravstven­ nom otnošenii, o tom logičeskom puti, po kotoromu ja prošël k izvestnym vyvodam. Ja v čisle drugich socialistov priznaju pravo každogo na žizn’, svobodu, blagosostojanie i razvitie vsech nravstvennyсh i umstvennych sil čelovečeskoj prirody. S ėtoj točki zrenija lišenie žizni čeloveka, i ne s ėtoj tol’ko, no i voobšče s čelovečeskoj točki zrenija – javljaetsja vešč’ju užasnoj.« Sud nad careubijcami 231. 124 Sud nad careubijcami 232. Volk: Narodnaja volja 119.

184  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  weis dafür wurde insbesondere von sowjetischen Historikern gerne auf einen Text aus der sechsten Ausgabe des Zentralorgans verwiesen. Die Mitglieder des EK bekundeten hier ihr Beileid bezüglich des Todes von US -Präsident James ­Garfield (September 1881) und verurteilten den politischen Mord als illegitimes Kampfmittel in einer Demokratie. »In einem Land, in dem persönliche Freiheitsrechte einen aufrechten Ideenkampf ermöglichen«, hieß es auf der Titelseite, sei der politische Mord »nur eine Erscheinungsform desselben Geistes des Despotismus, dessen Zerstörung in Russland wir uns zur Aufgabe gemacht haben.«125 Die grundsätzliche Absicht, den terroristischen Kampf einzustellen, sobald der Staat bestimmte Grundrechte garantiere, wurde auch von Željabov im Gerichtsprozess der pervomartovcy bekundet.126 Auch Pribylëva-Korba ermahnte ihre »Freunde und Brüder« in ihrem »Brief aus der Peter-und-Paulsfestung«, am »Tage des Sieges der Revolution, die der Triumph des Fortschritts« sein werde, »diesen heiligen Namen nicht durch Akte von Gewalt und Grausamkeit am besiegten Feind« zu beschmutzen. Damit wurde zwar kein Ende der revolutionären Gewalt gefordert, aber angemahnt, dass die siegreiche Revolutionsbewegung sich davor hüten solle, eine Terrorherrschaft nach jakobinischem Beispiel zu errichten, denn dies widerspreche dem »sittlichen Fortschritt«, den die Revolution der gesamten Menschheit bringen solle. Der Akzentuierung dieses Gedankens diente die Selbststilisierung der Revolutionärin zum »Sühneopfer«127. Allerdings haben westliche Historiker hervorgehoben, dass ungeachtet solcher Absichtserklärungen sich nach dem »Ersten März« »jakobinische« Tendenzen durchzusetzen begannen. Vorherrschend wurde demnach die Vorstellung, dass das »Volk« durch eine vorrübergehende Diktatur der Revolutionäre zum Sozialismus erzogen werden müsse. Hinzu kam eine illiberale Demokratieauf 125 »V strane, gde svoboda ličnosti daët vozmožnost’ čestnoj idejnoj bor’by, gde svobodnaja narodnaja volja opredeljaet ne tol’ko zakon, no i ličnost’ pravitelej  – v  takoj strane političeskoe ubijstvo, kak sredstvo bor’by,  – est’ projavlenie togo že ducha despotizma, uničtoženie kotorogo v Rossii my stavim svoeju zadačeju. Despotizm ličnosti i despotizm partii odinakovo predosuditel’ny, i nasilie imeet opravdanie tol’ko togda, kogda ono napravljaetsja protiv nasilija.« Zit. n. Literatura social’no-revoljucionnoj partii ›Narodnaja Volja‹ 401. 126 Tatsächlich scheint es so zu sein, dass die Mitglieder der Narodnja Volja, von einigen Ausnahmen abgesehen (Morozov, Gol’denberg, Romanenko), von der Möglichkeit oder Notwendigkeit ausgingen, den terroristischen Kampf früher oder später aufgeben zu können. Siehe Borcke: Die Ursprünge des Bolschewismus 408 ff. 127 »Druz’ja i brat’ja! Iz glubiny našej temnicy, govorja s  vami, verojatno, poslednij raz v žizni, my šlëm vam naš zavet: V den’ pobedy revoljucii, kotoraja est’ toržestvo progressa, pust’ ona ne zapjatnaet ėtogo svjatogo imeni aktami nasilija i žestokosti nad pobeždënnym vragom. O, esli by my mogli služit’ žertvami iskuplenija ne tol’ko dlja sozdanija svobody v  Rossii, no i dlja uveličenija gumannosti vo vsëm ostal’nom mire! Čelovečestvo dolžno ­otkazat’sja ot odinočnogo zaključenija dlja osuždënnych, ot nasilija i istjazanij zaključënnych, v kakom by to ni bylo vide, kak ono otkazalos’ ot kolesa, dyby, kostra i proč.« Zit. n. Literatura social’no-revoljucionnoj partii ›Narodnaja Volja‹ 936.

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fassung, die dem Willen der Majorität grundsätzlich ein Primat über die Interessen der Minoritäten zubilligte.128

5.2 Das politische »Martyrium« in der Herrschaftszeit Alexanders III. Die Zerschlagung der Revolutionsbewegung gelang unter anderem auch des­ wegen, weil Militärtribunale auf lokaler Ebene nicht lange zögerten, Todesstrafen auszusprechen. Konstantin Neustroev, ein Lehrer aus Irkutsk und Mitglied eines lokalen Zirkels der Narodnaja volja, wurde beispielsweise nur deshalb hingerichtet, weil er dem Generalgouverneur eine Ohrfeige gegeben hatte, und der bekannte Revolutionär Ippolit Myškin nur dafür erschossen, dass er dem Aufseher einen Teller hinterherwarf. Während ersterer nach eigenen Angaben aus Reflex handelte, kalkulierte Myškin seinen Tod bewusst ein. Beide Revolutionäre wurden, zusammen mit anderen »Märtyrern« der 1880er Jahre,129 von ihren Genossen ins »heroische Pantheon« aufgenommen, sie mehrten das politische Kapital der vorerst geschwächten Revolutionsbewegung und spielten somit eine wichtige Rolle im Erstarken des gewaltbereiten Flügels der Revolutionsbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. So führte etwa die Zeitschrift Byloe eine eigene Rubrik mit dem bezeichnenden Namen »Aus dem Schlüsselburger Martyrolo­ gium«. Hier wurden Dokumente, die das Leben von Schlüsselburg-Gefangenen betrafen, sowie Erinnerungen von Zeitzeugen veröffentlicht.130 1905 wurde auf 128 Offord: The Russian Revolutionary Movement 46–49. Auch Borcke kommt zum Schluss, dass die meisten narodovol’cy eine illiberale Form der Demokratie favorisiert hätten, bei der »Individuen und Minoritäten prinzipiell keinerlei Rechte haben als jene, die ihnen ›das Volk‹ – also bestenfalls die (allein handlungsfähige) Majorität – zeitweilig konzediert«. Borcke: Die Ursprünge des Bolschewismus 410–411. Hätte die Revolutionsbewegung rein hypothetisch schon im 19. Jahrhundert gesiegt, wären die narodovol’cy mit dem Problem der Machterhaltung konfrontiert gewesen. Es ist nur allzu wahrscheinlich, dass im Kampf gegen innere und äußere Feinde (Intervention) sich die illiberalen Tendenzen rasch durchgesetzt hätten. Falls die Revolutionäre also tatsächlich die Regierung gestürzt hätten, wäre womöglich, wie von Borcke es formuliert hat, »eine Art Klassendiktatur von ›Bauern und Proletariat‹ oder genauer: eine Diktatur im Namen dieser Klassen« errichtet worden. Ebd. 416. 129 Dazu zählte Egor Minakov, der handgreiflich wurde, weil er im Gefängnisarzt einen Giftmischer vermutete. Für den Verstoß gegen die Gefängnisregeln wurde Minakov am 21. Oktober 1884 erschossen. Der narodnik Nikolaj Ščedrin und die narodovol’cy Nikolaj ­Pochitonov und Vasilij Konaševič, einer der Mörder Sudejkins, hielten die harschen Bedingungen der Festung Schlüsselburg nicht aus und verstarben in geistiger Umnachtung. Zu nennen wäre außerdem Michail Gračevskij, der 1887 den selben Gefängnisarzt ins Gesicht schlug, den Jahre zuvor Minakov geschlagen hatte. Da er entgegen seinen Erwartungen am Leben gelassen wurde, übergoss sich Gračevskij mit Kerosin aus seiner Zellenlampe und zündete sich an. 130 Siehe z. B. Iz Šlissel’burgskogo martirologa. In: Byloe 13 (1910) 50–62.

186  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Initiative Vera Figners das »Schlüsselburger Komitee« ins Leben gerufen, dass von narodniki-Veteranen dominiert war, aber auch politische Aktivisten aus dem nichtsozialistischen Spektrum umfasste. In den ersten Jahren seines Bestehens wurden so bezeichnende Bücher herausgebracht wie der Krovavyj sinodik (Blutiger Synodikon) (1906) aus der Feder des V ­ asilij ­Bogučarskij131 und Šlissel’burgskie mučenniki (Die Schlüsselburger Märtyrer) (1906) des ehemaligen narodovolec und langjährigen Häftlings Pëtr ­Jakubovič.132 Auch Sympathisanten im Ausland sollten für die »Sache« gewonnen werden. Eine wichtige Rolle spielte dabei das 1910 gegründete »Hilfskomitee für politische Zwangsarbeiter« – ebenfalls ein Projekt Vera Figners. Dieses setzte ebenfalls auf altbewährte Mittel. So versprach etwa die Propagandaschrift Le Martyre des détenus politiques aux bagnes russes (1913) dem Leser eine (entsprechend kommentierte) »recueil de documents authentiques récents«.133 Liest man jedoch die Selbstzeugnisse der Menschen genauer, die der staatlichen Willkür zum Opfer fielen, erscheint das Bild des furchtlosen »Märtyrers« in einem etwas anderen Licht. So auch im Falle von Konstantin ­Neustroev, einem gebürtiger Jakuten, der 1881 einem Geheimzirkel der Narodnaja volja beigetreten war, aber schon 1882 wegen Verdachts auf Beihilfe zur Flucht verhaftet wurde. Im Gefängnis erteilte er dem Generalgouverneur von Sibirien Dmitrij Anučin eine Ohrfeige, wofür ihn ein Militärtribunal zum Tode verurteilte.134 In seiner Verzweiflung beging Neustorev eine in revolutionären Kreisen jener Zeit selten tolerierte Verfehlung: Er verfasste ein Begnadigungsgesuch, das jedoch abgelehnt wurde. Der Abschiedsbrief thematisierte diesen Konflikt zwischen dem nach einem Selbst-Opfer verlangenden zukünftigen Glück der Gemeinschaft und der Unmöglichkeit für dieses erhabene Ziel so zu sterben, wie es der moralische Rahmen erfordert hätte: »Möchte nicht schlafen. Aber bald, bald kommt das Ende. Und das Schlimmste – bin mir nicht sicher. Sterbe unverdient – das ist es, was mich kränkt. […] Brüder, vergebt meine Schwächen, nicht jedem ist es gegeben. Ich war ein einfacher Arbeiter [der Revolution, d. Verf.], aber ich habe das Heiligtum der Fahne nicht verraten. Und ich glaube ihr, ich weiß – siegreich wird es hochgehoben werden.«135 131 Das Buch enthielt unter anderem die Abschiedsbriefe des Solomon Wittenberg. Diese würden – so der mit der Bewegung sympathisierende Bogučarskij – die besondere Persönlichkeit des Revolutionärs auf eine authentische Weise zeichnen, die keiner weiteren Kommentare bedürfe. Ders.: Krovavyj sinodik. Smertnaja kazn’ po političeskim delam v Rossii. St. Petersburg 1906, 19–20. 132 Serebrennikova, V.: Šlissel’burskij komitet i učastie v nëm I. E. Repina. In: Levykin, G. (Hg.): Materialy i issledovanija po istorii Rossii perioda kapitalizma. Moskau 1988, 107–116, hier 109. 133 Nicolaevsky Collection Box 94, Folder 4. Ohne Seitenangaben. 134 Šumjackij, Boris (Hg.): Sibirskaja sovetskaja Ėnciklopedija. Bd. 3. Moskau 1932, 751. 135 »Spat’ ne chočetsja. A skoro, skoro konec. I chuže vsego – ne uveren. Nezasluženno umiraju – vot čto obidno. […] Brat’ja, prostite moi slabosti – ne vsjakomu dano. Ja byl prostoj

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Neustroev blieb mit dem Eingeständnis der eigenen Schwäche durchaus innerhalb der Grenzen des revolutionären Glaubensdiskurses, so wie dieser von den Revolutionären der späten 1870er und frühen 1880er Jahre geprägt worden war. Wie der überwiegende Großteil der Revolutionäre lehnte er zudem die Beichte und die letzte Kommunion ab, bat jedoch die Gefängnisleitung um ein Kreuz, ein »Symbol des Leidens«136: »Es [das Kreuz, d. Verf.] wird mir euch ersetzen und alles, alles was mir lieb ist. O! Gott gebe, dass der Brief euch erreiche. Wisst ihr, kann gar nicht daran glauben, so schrecklich erscheint mir alles. Meine Qualen, werden sie euch erreichen?«137

Ungewöhnlich hingegen war sein offen artikulierter Zweifel: Das »beneidenswerte Schicksal«138 des Todes für den Sozialismus begriff Neustoroev als einen genauso schwachen Trost wie den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele.139 Diese starke Wertung zeugt davon, dass Neustoev sich mit dem Hypergut des Glücks der Gemeinschaft, das durch den Übergang zum Sozialismus ermöglicht werden sollte, identifizierte. Sie zeigt aber zugleich, dass die rigiden Moralvorstellungen der Revolution Neustroev (und viele andere mit ihm) überforderten. Für diese Abweichung bat der Adressat seine Genossen um Vergebung und drückte die Hoffnung aus, das der Tod ihn von allem »Unreinen«140 befreien möge. Der Brief endete, wie viele andere Abschiedsbriefe, mit der emotionalen Äußerung des Wunsches nach der Befreiung Russlands von der Autokratie und einem neuen, freien, sozialistischen Leben: »Ich will und will nicht schlafen. Es ist schade, den verbleibenden Augenblick für das Unbewusste zu verbrauchen. Vergebe mir Vaterland, blühe, glänze. Nimm meinen Wunsch vom reinen Herzen.«141

Konstantin Neustoev wurde am 9. November 1883 in Jakutien erschossen. Die Willkür der Behörden führte zu einem Skandal, sodass selbst der Chef der örtlichen Gendarmerieverwaltung sich veranlasst sah, der Zentrale zu melden, dass die Stimmung in der Region gekippt sei. Anučin musste von seinem Posten zurücktreten.142 rabotnik, no ne izmenil svjatyne znameni. I verju emu, znaju pobedonosno vodruzitsja ono.« Zit. n. Neustroev, K. G. Materialy dlja biografii. In: Byloe 6 (1907) 294–296, hier 295. 136 »Ot pričastija otkazalsja, prosil krest – krest prinesli. Simvol stradanija.« Zit. n. ebd. 137 »On zamenit Vas i vsë, vsë dorogoe. O daj Bože, pust’ dojdët do vas pis’mo. Znaete li, daže ne veritsja, tak vsë kažetsja strašnym. Muki moi dojdut li oni do Vas.« Zit. n. Ebd. 138 »Obnadëživajut: ›zavidnyj žrebij‹«. Zit n. Ebd. 139 »Govorjat: ėto tol’ko političeskaja smert’. A grob uže gotov – svjaščennik skazal.« Zit n. Ebd. 140 »Kak deševa naša žizn’. Rad odnomu: pulja smoet vsë nečistoe vo mne.« Zit n. ebd. 296. 141 »I chočetsja i ne chočetsja spat’. Žal’ na bessoznatel’noe tratit’ ostajuščijsja mig. Prosti rodina, cveti, krasujsja. Prijmi ėto poželanie ot čistogo serdca.« Zit n. ebd. 142 Troickij: Carizm pod sudom 138.

188  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Sechs Jahre nach der Hinrichtung Neustroevs wurden im Sommer 1889 in einem jakutischen Gefängnis drei weitere Revolutionäre gehängt.143 Die Hinrichtung fügte dem »heroischen Pantheon« drei weitere Namen hinzu: ­Nikolaj Zotov, Al’bert Gausman und Kogan-Bernštejn. Alle drei hinterließen Texte, die sich in die Tradition des revolutionären Abschiedsbriefes fügen. So gab der Atheist Nikolaj Zotov – ähnlich wie das seinerzeit Aleksandr Michajlov in seinem »Testament« getan hatte – den »geliebten Brüdern« das »Gebot«, seinen Tod und den Tod der Genossen propagandistisch zu instrumentalisieren und das größtmögliche politische Kapital daraus zu schlagen.144 Auch hier war das »Private« aufs Engste mit dem Politischen verwoben und religiöse Semantiken verliehen diesem Nexus eine besondere Valenz. Ähnlich wie es schon seine Vorgänger getan hatten, ließ auch Zotov die Genossen wissen, dass er sein Leben nicht umsonst gelebt und in der Erfüllung seiner politischen Pflicht einen guten Tod zu finden hoffe. Die revolutionären Martyriumsvorstellungen wiesen funktionelle Analogien zu den christlichen auf. Zotov konzipierte seinen

143 Der Hinrichtung ging ein längerer Konflikt zwischen den Verbannten und der lokalen Administration voraus. Im März 1889 wurde das relativ milde Regime des Gouverneurs von Jakutien, Konstantin Svetlickij, durch ein strikteres ersetzt. Der neue Vize-Gouverneur Pavel Ostaškin verschärfte die Regeln für die Verlegung der Sträflinge von Jakutien in weiter entfernt gelegene Gebiete Sibiriens. Die Verschärfung wurde von den politischen Häftlingen, von denen die meisten Juden waren (was mit der Verbannungspolitik jener Zeit zu tun hatte)  als eine ihre Gesundheit und Leben aufs Spiel setzende Zumutung empfunden. Die von ihnen diskutierten Formen des Widerstandes reichten von einer Massenflucht, einem bewaffneten und einem passiven Widerstand bis hin zur Ermordung Ostaškins. Die Mehrheit der politischen Verbannten einigte sich schließlich darauf, auf die weitere Verlegung nach Ostsibirien mit Waffengewalt zu antworten. Zu einer Ausführung des Plans sollte es jedoch nicht kommen, – am Morgen des 22. Märzes wurden die im Haus des Jakutiers Monastyrëv versammelten politischen Verbannten von einem Soldatenaufgebot aufgefordert, das Gebäude umgehend zu verlassen und sich auf die Polizeistation zu begeben. Der Konflikt eskalierte und den Soldaten wurde befohlen, die Verbannten mit Gewalt abzuführen. Sie sollen dabei ihre Bajonette und Gewehrkolben eingesetzt haben. In Reaktion darauf soll der Revolutionär Nikolaj Zotov auf die Couch gesprungen sein und einen Schuss auf einen Oberleutnant abgegeben haben. Es folgte ein regelrechtes Gemetzel, dem sieben Menschen zum Opfer fielen, sechs Verbannte und ein Polizist. Das daraufhin einberufene Militärtribunal verurteilte drei Revolutionäre zum Tode. Bramson, M.: Jakutskaja tragedija (1889–1924). In: Braginskij, M / Tereškovič, K. (Hg.): Jakutskaja tragedija. Sbornik vospominanij i materialov. Moskau 1925, 7–28. Nach dem Prozess wurde ein ukaz (12. April 1890) herausgegeben, der es erlaubte die administrative Verbannung mit fünf Jahren Haft, von denen die ersten zwei Jahre in Einzelhaft zu verbringen waren, zu ersetzen. Margolis, A.: Tjur’ma i ssylka v imperatorskoj Rossii. Issledovanija i archivnye nachodki. Moskau 1995, 114. 144 »Vot vam moj zavet, dorogie brat’ja, na pervoe vremja. Upotrebite vse svoi sily i pod vpečatleniem svežim finala ėtich užasov, ėtoj bojni, ėtoj rezni – ėkspluatirujte vsemi sposobami i vsemi obščimi usilijami ėtu dramu, ėtot kolossal’nyj primer žestokosti, samoupravstva, besčelovečnosti russkogo despotizma i ego sistemy.« Zit. n. Pis’ma osuždënnych Jakutjan. In: Byloe 9 (1906) 149–157, hier 154.

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gewaltsamen Tod als eine Art Zeugnisablegung für die sozialistische Idee. Er behauptete, sein Schicksal mit Freude zu akzeptieren: »Ich sterbe sehr, sehr leicht«, hieß es in einem anderen Brief, »mit dem Bewusstsein im Recht zu sein, mit dem Bewusstsein meiner Kraft in der Brust«145. Es ist gewiss kein Zufall, dass Zotov auch von seinen Genossen mittels Rückgriff auf religiöse Semantiken zu einer Art »Heiliger« verklärt wurde: Nach einem kurzen Moment, in dem sein Gesicht »schrecklich gemartert« ausgesehen habe, schrieb eine anwesende Genossin, »erkannte ich ihn nicht wieder. Es war, als sei er bereits von dieser Welt gegangen und war irgendwo dort, wo alles genau so rein und hell ist wie er selbst; und sein Gesichtsausdruck war genauso so hell und heilig. Ich glaube, Worte können diesen Gesichtsausdruck gar nicht wiedergeben in diesen Momenten; man musste es gesehen haben, um diesen reinen, hellen Ausdruck zu verstehen…«.146

Die beiden Texte zeigen beispielhaft, dass die ihnen zugrunde liegenden religiös imprägnierten Konzepte nur deshalb wirkungsmächtig und in politische Handlungen übersetzt werden konnten, weil sie mit sehr spezifischen Autonomie- und Authentizitätsvorstellungen verzahnt waren. Der Revolutionär bekundete nicht nur seine Überzeugung, dass der Sozialismus letztlich das Ziel geschichtlicher Entwicklung sei, er lebte auch in Einklang mit dieser Überzeugung (wofür sein »Märtyrertod« bürgen sollte), und zögerte nicht, als eine autonom denkende und handelnde Persönlichkeit sich mit der Waffe in der Hand gegen autokratische Willkür und Bevormundung zu erheben. Propaganda wurde gleichzeitig zu etwas Wahrem, denn sie entsprach den »inneren«, von den Genossen in Ehren gehaltenen, Wünschen des Individuums. Somit war keine Unterscheidung zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung mehr möglich. Nicht anders als Zotov äußerte sich Al’bert Gausman in seinem Abschiedsbrief an die Genossen. Auch sein Brief war im revolutionären Glaubensdiskurs verankert: »Solltet ihr irgendwann einmal die freudigen Tage erleben«, hieß es zum Schluss des sehr kurzen Textes, »wird mein Gedanke mit euch sein, wenn man das so sagen kann. Ich sterbe im Glauben an den Triumph der Wahrheit. Lebet Wohl, Brüder.«147

145 »Ja umiraju očen’ i očen’ legko, so soznaniem pravoty, s čuvstvom sily v grudi.« Zit. n. ebd. 146 »I s ėtogo momenta ja ego ne uznala. On kak budto ušël iz ėtogo mira i byl gde-to tam, gde vsë takoe že čistoe, svetloe, kak on sam; i vyraženie u nego bylo takoe že svetloe i svjatoe. Mne kažetsja, čto nevozmožno peredat’ slovami vyraženie ėtogo lica v te momenty; nado bylo videt’, čtoby ponjat’ ėto čistoe, svetloe vyraženie.« Zit. n. ebd. 156–157. 147 »Esli koda-nibud’ doživëte do radostnych dnej, moja mysl’, esli tak možno vyrazit’sja, budet s Vami. Ja umiraju s veroj v toržestvo istiny. Proščajte, brat’ja.« Zit. n. ebd. 149.

190  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Auch für Lev Kogan-Berntštejn, der im April 1881 als Mitglied des Petersburger Studentenzirkels verhaftet und nach Sibirien verbannt wurde, stellte die Befreiung des Menschen einen moralischen Orientierungspunkt dar, an dem das eigene, persönliche Leben gemessen wurde. Die Erwartung des guten Todes, des eigenen Eintritts in das »heroische Pantheon« der Revolution, wurde dabei von Kogan-Berntštejn als eine, das eigene Ich übersteigende, erfüllende Erfahrung imaginiert: »Was soll ich euch über mich erzählen? Für mich ist ein solcher Tod der glücklichste, der wünschenswerteste. […] Ich werde mit einem reinen Gewissen sterben und dem Bewusstsein, dass ich meiner Pflicht und meinen Überzeugungen bis zum Schluss treu geblieben bin, kann es denn einen besseren, einen glücklicheren Tod geben? Ich werde dort sterben, wo mit Ehre und Ruhm meine besten Freunde und Lehrer gestorben sind, deren Erinnerung ich über alles geschätzt habe, und das ist für mich die beste moralische Befriedigung, die ich mir wünschen könnte.«148

Die verbliebenen Genossen lehrte Kogan-Berntštejn, seinen frühen Tod nicht zu beklagen, sondern als einen sinnvollen und erhabenen verstehen zu lernen und den Kampf auch unter den widrigen Bedingungen von Exil und Zwangsarbeit fortzuführen. Dabei zog er das Evangelium als Motivationsquelle heran und arbeitete mit der Dichotomie »Himmelsreich des Sozialismus« / »Hölle des Kapitalismus«: »Zu keiner Zeit wird ein Tropfen Kraft in der Welt umsonst vergeudet, das heißt, dass auch das menschliche Leben nicht umsonst verloren geht. Man soll niemals darüber klagen. Sollen die Toten ihre Toten begraben, – ihr habt eine lebendige Bindung vor euch, eine sittliche, heiße und erhabene Bindung mit eurem gequälten Vaterland. Sagt es nicht und glaubt nicht daran, dass euer Leben verloren sei, dass es gänzlich in sinnlosen Quellen und Leiden vergehen wird in Zwangsarbeit und Verbannung. Für sein Vaterland zu leiden, ein lebendiger Vorwurf allen Ausgeburten der Finsternis zu sein ist eine große Sache!«149 148 »Čto že skazat’ Vam o sebe? Dlja menja takaja smert’ javljaetsja samoj sčastlivoj, samoj želatel’noj. […] Ja umru s čistoj sovest’ju i soznaniem, čto do konca ostalsja veren svoemu dolgu i svoim ubeždenijam, a možet li byt’ lučšaja, bolee sčastlivaja smert’? Ja umru tam, gde umirali s čest’ju i slavoj moi lučšie druz’ja i učiteli, pamjat’ o kotorych ja počital bol’še vsego na svete, i ėto est’ dlja menja lučšee nravstvennoe udovletvorenie, kakogo ja tol’ko mog želat’ sebe! – Ne sokrušajtes’ že obo mne, a skažite: on prav, on sčastlivo umer, on ne mog želat’ sebe lučšej učasti.« Zit. n. ebd. 151. 149 »Nikogda ni odna kaplja sily ne propadaet v mire  – ne propadaet, stalo byt’, i žizn’ čelovečeskaja zadarom! Nikogda ne nado gorevat’ o nej. Ostav’te mertvych mertvecam  – u Vas vperedi živaja svjaz’, nravstvennaja, gorjačaja i samaja vozvyšennaja svjaz’, s Vašej isstradavšejsja rodinoj. Ne govorite i ne dumajte, čto Vaša žizn’ propala, čto ona vsja projdët v naprasnych stradanijach i mučenijach, na katorge i v ssylke. – Stradat’ mukami svoej rodiny, byt’ živym ukorom vsem isčadijam mraka i zla – ėto velikoe delo!« Zit. n. Pis’ma osuždënnych Jakutjan 150.

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Die Interpretation des Leidens fürs Vaterland (ein auch unter narodniki-nahen Juden150 weit verbreiteter Topos) als »große Sache«, noch dazu verstärkt durch den Ausdruck »Ausgeburten der Finsternis« verwies auf die Entkoppelung von politischem Handeln und individueller Entlohnung. Revolutionäre Handlungen sollten um des Guten willen begangen werden, der »Dienst am Volk« sollte unabhängig vom persönlichen, momentanen Erfolg geleistet werden: »Sollte das euer letzter Dienst sein« heißt es weiter, »sorgt euch nicht. Ihr habt euren Anteil auf den Altar des Kampfes für die Narodnaja volja bereits gegeben!«151 Mehrdeutiger sind hingegen die Briefe an die Verwandten. Hier nahmen die Verurteilten in der Regel Abstand von großen Pathosformeln, obgleich diesen Texten dieselben Moralvorstellungen und dieselben geschichtsteleologischen Prämissen zugrunde lagen. Auch im Brief an seinen Vater bezeichnete ­Nikolaj Zotov den Tod als »leicht«, doch war diese »Leichtigkeit« überschattet durch die Artikulation von Schuldgefühlen, die auf einen Güterkonflikt zwischen der Achtung vor dem »gewöhnlichen Leben« und dem selbstgewählten »höheren Leben« für die Revolution hindeuten. So bat Zotov seinen Vater um Vergebung für das »viele Leid«, dass er ihm, der bereits toten Mutter und der ganzen Familie durch seinen Eintritt in der Revolutionsbewegung zugefügt habe. Es würde im »schwer fallen zu sterben«, wenn er sich der Vergebung nicht sicher wäre.152 150 Das Verhältnis zum Christentum und zur christlichen Symbolik unterschied sich, wie am Beispiel der »Tragödie von Jakutien« deutlich wird, bei den jüdischen und den russischen Revolutionären nur geringfügig. Sie alle standen in der seit den politiki der späten 1870er Jahre und den narodovol’cy der frühen 1880er Jahre geformten Tradition, sie vertraten keinen militanten Atheismus, behandelten Priester in der Regel mit Respekt, identifizierten sich oft mit den Leiden Christi, lehnten aber die Beichte und die Sakramente kategorisch ab. Die sehr hohe Zahl von Juden in Monastyrëvs Haus war Folge eines ukaz vom 22. Mai 1886, der festlegte, dass auf administrativem Weg verbannte jüdische Revolutionäre ausschließlich nach Jakutien verlegt werden sollen. Der formale Grund dafür war die (erlogene) Behauptung des Direktors des Polizeidepartements, dass an der Spitze der Revolutionsbewegung in Russland Juden stehen würden. Siehe dazu Margolis: Tjur’ma i ssylka 114. Eine erhellende Schilderung des Verhältnisses der narodniki zur Orthodoxie findet sich bei Vitaševskij, Nikolaj: V Mcenskoj ›gostinice‹. In: Byloe 4 (1907) 173–190, hier 175. 151 »Pust’ ėto budet vašej poslednej služboj, – ne beda. Vy prinesli svoju leptu na altar’ bor’by za Narodnuju Volju!« Zit. n. Pis’ma osuždënnych Jakutjan 150. Vergleiche die entsprechende Passage im Brief Kogan-Bernštejns an den Sohn: »Čistoserdečno govorju tebe, čto nesmotrja na mnogie ispytanija, perenesënnye mnoju, ja vsegda sebja čuvstvoval sčastlivym, tak kak sčast’ja iskal ne v mišure bogatstva i tščeslavija«. Zit. n. ebd. 152. 152 Solche Fälle waren natürlich keine Seltenheit. Der Vater von Nikolaj Morozov beispielsweise war so erschüttert von den Taten seines Sohns, dass er dem Rest der Familie streng verbot, Kontakt mit dem inhaftierten Sohn aufzunehmen. Selbst sein Name durfte zuhause nicht fallen. Erst nach sechs Jahren stellte sich der Kontakt wieder her. Aus dem ­Gefängnis schrieb Nikolaj: »Odno, čto často mučilo menja do sich por,  – ėto byli otnošenija s  vami, i teper’, kogda vy menja prostili, mne pokazalos’, čto poslednee oblako uneslos’ s  moego gorizonta, i v moej duše stalo tak že jasno i ticho, kak v glubine spokojnogo morja, kogda nad nim rasstilaetsja svetloe, bezoblačnoe nebo«. Zit. n. Pis’ma narodovol’cev iz Trubeckogo bastiona 172–173.

192  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Schließlich versuchte er seine Hinterbliebenen zu trösten und ihnen mit seiner »letzten Liebesbekundung« seine »Kraft« zu senden.153 Der gleiche Konflikt lässt sich auch in anderen Abschiedsbriefen an Verwandte beobachten. Während in den Briefen an die Genossen ein Gleicher an Gleiche schrieb, verkomplizierte sich in der familiären Sphäre die zentrale Aussage des Abschiedsbriefes, dass der Tod für die Revolution leicht und gut sei. So auch im Brief von Kogan-Bernštejn an seinen Sohn (Matfej war damals noch ein dreijähriges Kleinkind, er sollte den Brief später von seiner Mutter erhalten). Kogan-Bernštejn schrieb an seinen »armen Mitjuša«, dass er seine »letzte Pflicht« vor dem Volk, der Revolution und den Genossen bereits getan habe und seine »letzten Gedanken« nun seinem »lieben, hellblauen Bub« gebührten. Damit wurde also das »Leben für die Sache« als höher priorisiert, als das »Leben für die Familie«. Doch zugleich schrieb Kogan-Bernštejn von einer schweren »Schuld«, die er dadurch auf sich geladen habe: »Ich bin vor dir schuldig geworden, mein Lieber, ich habe dir das Leben gegeben, und habe dich dann als kleines Wickelkind verlassen, dich auf den Armen deiner armen gequälten Mutter zurückgelassen. Wie viel Leid, wie viele Qualen stehen ihr noch bevor, bis sie dich groß sieht, bis du sie verstehen und für all ihre Verluste entlohnen kannst, für all ihr Leid, das sie in ihrem schweren Leben erdulden musste!«154

Ähnlich wie Zotov wünschte sich Bernštejn Vergebung und Verständnis. Die Mutter müsse nun dem Sohn das »ganze Leben« des Vaters erzählen, damit jener ihn verstehen und die Erinnerung an ihn zu lieben beginnen könne, dann werde der Sohn sich für die »in jedem Fall ehrlichen Taten« des Vaters bedanken. Dabei evozierte er eine höhere Macht, die ihm diese Hoffnung geben könnte: »Oh mein Gott! Gib mir dieses Heil! Gib mir diese Hoffnung!«155 Gegen Ende des Briefes wünschte Bernštejn dem Sohn den Segen Gottes und den »lebendigen Glauben 153 »Prosti menja, papa, prostite menja vse za to, čto ja vam stol’ko mučenij pričinjal i ­teper’ v poslednij raz pričinjaju. Ja znaju, čto vy mne ėto ne tol’ko proščaete, no i ne vinite menja. Esli by ja ne byl tvërdo uveren v ėtom, mne bylo by očen’ tjaželo umeret’. Choču s ėtim pis’mom, s poslednim vyraženiem ljubvi poslat’ vam silu, čtoby vy mogli vynesti ėto užasnoe gore. […] Proščajtes’ ot menja s mogilkoj mamy. Ja pered neju tože mnogo vinovat. Dorogaja moja mama, ja znaju, čto ona mne vsë prostila!« Zit. n. Pis’ma osuždënnych ­Jakutjan 153. 154 »Dorogoj moj, rodnoj, goluben’kij syniška, moj milyj, nesčastnyj Mitjuša! Ja uže ispolnil svoj poslednij dolg i poslednie moi mysli, poslednie moi slova, da prinadležat tebe! Ja vinovat pered toboj, rodnoj moj; ja dal tebe žizn’, a sam pokinul tebja v rannich mladenčeskich letach, ostaviv tebja na rukach u bednoj isstradavšejsja materi. Skol’ko gorja, skol’ko muk predstoit ej eščë vperedi, poka ona eščë uvidit tebja bol’šim i poka ty sumeeš’ ponjat’ eë i voznagradit’ eë za vse poteri eë, za vse stradanija, kotorye ona perenesla v svoej tjažëloj žizni!« Zit. n. ebd. 151–152. 155 »Ona rasskažet tebe vsju moju žizn’ i byt’ možet ty pojmëš’ menja, byt’ možet poljubiš’ pamjat’ moju i vozblagodariš’ menja za moi vo vsjakom slučae čestnye dela. O Gospodi! Daj mne ėto blago! Daj mne ėtu poslednjuju nadeždu!« Zit. n. ebd. 152.

Das politische »Martyrium« in der Herrschaftszeit Alexanders III.    193

an das Reich der Wahrheit, der Freiheit, des Guten«156. Der eigene sozialistische »Glaube« habe es ihm erlaubt, alle Entbehrungen des Revolutionslebens hinzunehmen, nur das Bewusstsein, seinen Liebsten große Leiden zugefügt zu haben, habe sich schwer abmildern lassen: »Unser Glaube prophezeite uns das Wohl des Landes, das Wohl unseres armen Volkes, aber wir selbst sahen nur das Leid, das wir um uns selbst und unter unseren liebsten Menschen säten. Ich musste mehr als fünf Jahre in verschiedenen Gefängnissen und Übergangslagern sitzen, ich habe die Verbannung und das Soldatentum ertragen und nun werde ich morgen auf dem Schafott sterben – aber ich kann, ohne etwas zu verheimlichen, von reinem Herzen dir sagen: Das Schlimmste war das Bewusstsein des Leids, dass den liebsten Menschen angetan wurde.«157

Einzig im Brief Gausmans an seine sechsjährige Tochter finden sich keine Spuren eines vergleichbaren Konfliktes. Er bemühte sich vielmehr darum, seine politisch-moralischen Überzeugungen in eine der Tochter verständliche Sprache zu übersetzen. Dabei betonte er insbesondere seinen Respekt vor der Freiheit des Individuums. Solange die Tochter mit ihrem Gewissen im Reinen sei, solle sie ihre (politischen) Überzeugungen frei wählen dürfen. Dabei stellte er jedoch unmissverständlich klar, dass Menschen, die nach materiellem Wohlstand streben, gegen die menschliche Natur handeln. Die Lebensführung der Tochter solle ihrem Selbst adäquat sein. Doch die dazu notwendige Suche nach dem »eigentlichen Selbst« war nur innerhalb sehr enger, durch höhere Wahrheits- und Gerechtigskeitsvorstellungen bestimmter Grenzen möglich.158 156 »Da blagoslovit tebja Bog, da ne pokinet tebja vsju žizn’ tvoju vera živaja v  carstvo pravdy, svobody, dobra.« Zit. n. Ebd. 157 »Naša vera predskazyvala nam blago strany, blago našego bednogo naroda, no sami my videli odno tol’ko gore, kotoroe sejali vokrug sebja sredi samych blizkich ljudej. Mne prišlos’ bolee 5 let sidet’ po raznym tjur’mam i ėtapam; ja vynes ssylku i soldatčinu i vot zavtra ja umru na plache, – no, ne skryvaja ničego, čistoserdečno govorju tebe, čto samoe chudšee ėto bylo soznanie pričinënnogo blizkim ljudjam gorja.« Zit. n. Ebd. Der Sohn hielt das Andenken an seinen Vater zeitlebens in hoher Ehre, er wurde in Heidelberg in Philo­sophie promoviert, wurde Mitglied der Sozialrevolutionären Partei (PSR) und 1918 Mitglied der Konstituante. Nach der Oktoberrevolution beteiligte er sich am antibolschewistischen Kampf der Rechten SR , wohnte als Delegat des Komutsch der Ufimer Staatskonferenz (Gosudarstvennoe soveščanie) bei, verließ aber Ufa, da er die Gefahr von Rechts als größer einschätzte als die Gefahr von Links. Im Oktober 1918 wurde er unweit von Sysran gefangen genommen, von einem bolschewistischen Feldtribunal zum Tode verurteilt und erschossen. Malyševa, Svetlana: Dve kazni. Sud’ba M. L. Kogan-Bernštejna. In: Otečestvennaja istorija 3 (1994) 170–179. 158 »Bud’ čestna. Kakovy by ni byli vposledstvii tvoi ubeždenija, sleduj im nepreklono, esli tol’ko ėto iskrennie ubeždenija. Na glazach smerti govorju tebe: lučše žit’ v niščete s čistoj sovest’ju, čem v bogatstve i material’nom dovol’stve, soznavaja, čto kriviš’ dušoj. Ljubi ljudej. Nenavist’ i zloba mogut imet’ za soboj fizičeskuju, material’nuju silu, no u ljubvi sila vnutrennjaja, osvoboždajuščaja.« Zit. n. Pis’ma osuždënnych Jakutjan 149.

194  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Die »Tragödie von Jakutien« hinterließ einen tiefen Eindruck in Russland und im Ausland. Verbannte aus Balagansk etwa verfassten ein Protestschreiben, in dem sie die Toten als »Martyriumsopfer«159 bezeichneten. Auch hier war »Martyrium« kein einfaches Stilmittel. Ihm lag das Konzept zugrunde, dass der Sozialist mit seinem eigenen Blut Zeugnis über die Güter der Revolution abzulegen habe: Die Unterzeichner drückten ihr Bedauern aus, keine Möglichkeit gehabt zu haben, das Schicksal ihrer Genossen zu teilen, um ihre »tiefe Verachtung für Willkür und Gewalt« mit ihrem eigenen »Blut zu bezeugen«160. George Kennan, der zu dieser Zeit bereits als der führende Russlandexperte der Vereinigten Staaten galt und gut mit den russischen revolutionären Emigranten vernetzt war,161 veröffentlichte in der New York Times vom 8. Februar 1890 den Artikel Men Shot Down Like Dogs. The True Story of the Yakutsk Massacre, in dem er die blutige Schießerei aus der Sicht der Revolutionäre darstellte. Vergleichbare Darstellungen in anderen Zeitungen folgten und lösten Empörung in den Vereinigten Staaten und Westeuropa aus. In den 1890er Jahren wurde das Thema auch in der sozialdemokratischen Presse aufgegriffen.162 Schließlich wurden die Texte im Byloe (September 1906) veröffentlicht, was sicherlich als ein Versuch gesehen werden muss, den anhaltenden revolutionären Terror durch die »Heiligung« der Opfer von Jakutien eine zusätzliche moralische Legitimation zu liefern. Die Herausgeber konstruierten damit indirekt eine Kontinuitätslinie zwischen der Situation von 1889 und der Krisensituation von 1906. Damit wurde auch suggeriert, dass Zotovs »Gebot«, die propagandis-

159 »Takoj besčelovečnoj bojni, takich mučeničeskich žertv eščë ne znaet russkoe ob­ ščestvo«. Zit. n. Za sto let 235. 160 »[…] pojti ruka ob ruku s  našimi jakutskimi tovariščami i pogibnut’ s  nimi ot pul’ i štykov […], čtoby ne na bumage tol’ko, no i našej krov’ju zasvidetel’stvovat’ pered licom vsego russkogo obščestva o našej glubokoj nenavisti k proizvolu i nasiliju.« Zit. n. ebd. 161 George Kennan stieg nach einer Sibirienreise (1865–1867) zum führenden Russlandexperten in den Vereinigten Staaten auf. Als solcher verteidigte er bis in die Mitte der 1880er Jahre hinein das zarische Exil- und Strafsystem mit einer solchen Inbrunst, dass die russische Regierung ihm erlaubte, eine Reise durch die sibirischen Haftanstalten zu unternehmen. Von dieser zweiten Sibirienreise kehrte Kennan als ein vehementer Gegner der autokratischen Regierung zurück. Er veröffentlichte eine große Artikelserie über die Bedingungen, unter denen Kriminelle und Staatsverbrecher leben und überleben mussten. In den 1880er Jahren schloss er Bekanntschaft mit russischen Emigranten und unterhielt zu ihnen lange Zeit enge Arbeitsbeziehungen. Kravčinskij, dem Mörder des Gendarmeriechefs Mezencev, soll er im Oktober 1888 versichert haben, dass schon bald Millionen von Amerikanern mit dem russischen revolutionären Lager sympathisieren würden. 1891 folgte das bekannte Buch Siberia and the Exile System. Wrobel, David: Considering Frontiers and Empires. George Kennan’s Siberia and the U. S. West. In: Western Historical Quarterly 46 (2015) 285–309, hier v. a. 291–305; Grosul, V.: Meždunarodnye svjazi rossijskoj političeskoj ėmigracii vo 2-j polovine XIX veka. Moskau 2001, hier 323–324. 162 Žukov, E. (Hg.): Sovetskaja istoričekaja ėnciklopedija. Bd. 16. Moskau 1976, 877.

Schlussbetrachtungen    195

tische Instrumentalisierung des Todes, von den Genossen eingehalten wurde und nun nach Jahren der politischen Bedeutungslosigkeit der Revolutionsbewegung erste Früchte brachte.

5.3 Schlussbetrachtungen Gegen Ende der 1870er Jahre kam ein Großteil der vom »Gang ins Volk« enttäuschten Revolutionäre zu dem Schluss, dass sie unter den gegebenen Umständen dem höchsten Gut nie nahe kommen könnten. Auf der Grundlage des spätestens seit den frühen 1870er in seinen wesentlichen Zügen gefestigten Helden- und Martyriumsdiskurses konnte jetzt so etwas wie ein »heroisches Pantheon« entstehen, eine Reihe von verehrungswürdigen Namen mit entsprechenden heroischen Opfernarrativen. Terroristen konnten beispielsweise als besondere Persönlichkeiten gefeiert werden, die vom Wunsch beseelt seien, ein »großes Opfer (velikuju žertvu)«163 zu vollbringen. Der Zarenmord konnte dadurch jenseits aller theoretischen und programmatischen Überlegungen zu einem (ambivalent bewerteten) Mittel werden, das die Verwirklichung des Guten vorantreiben sollte.164 Je mehr Revolutionäre im Zug des »terroristischen Feldzugs« gegen den Staat hingerichtet wurden, umso effektiver wurde die bewusste »Selbstmythisierung« der Revolutionsbewegung und umso höher das daraus geschlagene politische Kapital. Selbst narodniki, die nicht im Terrorismus involviert waren, bezeichneten die späten 1870er Jahre als eine »Epoche des Terrorismus (ėpocha terrorisma)« oder sprachen von der Notwendigkeit Rache zu nehmen. So schrieb beispielsweise die narodnica Natalija Armfel’d in einem Brief vom August 1879, dass in einer Zeit, in der »die Köpfe deiner Brüder« fliegen, man »nicht mehr mit dem Wort« handeln könne. Fast wortgleich mit Koval’skij und Lavrov, die von der Notwendigkeit gesprochen hatten, so etwas wie »sozialistische Märtyrer«165 hervorzubringen, schrieb sie an ihre Genossin Batjuškova: »Ja wenn es denn keine Beispiele geben wird, wie Menschen für die bekannte Sache sterben, wenn es keine Märtyrer gäbe, so gäbe es auch keine Anhänger. [sic] Ich 163 Zametki o processe 20-ti 292. 164 So ein sozialistischer Kommentator über Solov’ëv. Dieser sei eine »außerordentlich tiefe Natur, die eine große Sache sucht, eine Sache, die dem Schicksal des Volkes sofort zum Glück verhelfen würde. Er sah die Möglichkeit eines solchen Schrittes nach vorne im Zarenmord«. Zit. n. ebd. 165 Bei Koval’skij hieß es: »Gäbe es keine Märtyrer, wäre das Christentum nicht durch Blut erschaffen worden, hätte es nicht so tiefe Wurzeln in die Gesellschaft geschlagen«. Sedov: Geroičeskij period 96–97. Bei Lavrov: »Es braucht Märtyrer, deren Legende ihre eigene wahre Würde, ihre eigentliche Leistung bei weitem übersteigen würde«. Lavrov: Istoričeskie pis’ma 121.

196  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  glaube, dass jetzt die Zeit der Märtyrer gekommen ist, die Zeit größter Verfolgung und deshalb denke ich, dass meine Brüder bald gerächt werden.«166

Dabei wurden die Hoffnungen auf die nahende Revolution direkt mit dem Terror in Zusammenhang gebracht. Während in den frühen 1870er Jahren noch auf sozialistische Propaganda gesetzt wurde, so trat an ihre Stelle jetzt der Terror: »Ich lebe am Vorabend der Revolution« hieß es weiter im Text, »ich fühle sie. Varja, ich denke die ganze Zeit, dass in Deiner Person solche Kräfte verloren gehen. In der Epoche, in der wir leben, könntest Du die glühendste Terroristin sein.«167 Als es schließlich im Sommer 1879 zur Gründung der Narodnaja volja kam, konnte die neue Organisation bereits auf ein solides politisches Kapital in Form von Helden- und Märtyrernarrativen zurückgreifen. Eine besondere Rolle bei der Mobilisierung von Anhängern spielten dabei die von den »wahren«, »aufrichtigen« und »tiefen« Wünschen der Autoren zeugenden Selbstzeugnisse der Terroristen.168 Der Tod des Terroristen bürgte für die Authentizität seines Lebenswandels, die sich nicht zuletzt in der Einheit von »Wort und Tat« äußerte. Die Konsistenz von Lebensführung und Selbst blieb dabei maßgeblich von höheren Wahrheits- und Gerechtigkeitsbegriffen abhängig.

166 »Da esli ne budet primerov, kak ljudi gibnut za izvestnoe delo, esli by ne bylo mučenikov, to ne bylo by i posledovatelej. Ja dumaju, čto teper’ vremja mučenikov, vremja veličajšego gonenija i vot počemu dumaju, čto skoro brat’ja moi budut otmščeny.« Zit. n. Cvilenev, Nikolaj: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 514–540, hier 535. Den Brief zitierte Batjuškovas Eheman, der narodnik Nikolaj Cvilenev, lange nach dem Tod der beiden Frauen in seiner Autobiographie. 167 »Ja živu nakanune revoljucii, čuvstvuju eë, Varja, ja vsë dumaju, kakie v tebe sily propadajut. V tu ėpochu, v kotoruju my živëm, ty byla by samoj gorjačej terroristkoj.« Ebd. 168 Auch hier verloren sich die Revolutionäre nur zu oft in Widersprüchen. So schrieb beispielsweise der Priestersohn Ippolit Myškin vor seiner Hinrichtung an die Mutter, dass er bereits gebeichtet und die Kommunion erhalten habe. In einem Brief an den Bruder schrieb Myškin hingegen, dass jener nicht in Verwirrung geraten solle. Er habe nur deshalb gebeichtet, um die religiöse Mutter zu beruhigen. Da man jedoch kurz vor dem eigenen Tod nicht lügen dürfe, habe er diese »leere Komödie (pustaja komedija)« tatsächlich gespielt. Die Briefe wurden (wahrscheinlich in gekürzter Form) abgedruckt in Ostrover, Leon: Ippolit Myškin. Moskau 1959, 224–226. Wenn Myškin tatsächlich gebeichtet und die Kommunion mit der Absicht empfangen hat, die Mutter zu beruhigen, so belog er damit letzten Endes sowohl die Mutter, indem er ihr vorspielte, »als Christ (kak christianin)« gestorben zu sein, als auch den Priester. Wenn er aber nicht gebeichtet hat, so belog er die Mutter und den Bruder. Beides aber widersprach der von ihm gemachten deontischen Aussage. Sein Leidensgenosse, der Priestersohn Popov, hat später die moralisch »richtige« Version verbreitet, der zufolge Myškin nicht gebeichtet habe. Popov, Michail: K biografii Ippolita Nikitiča Myškina (Iz vospominanij). In: Byloe 2 (1906) 251–268, hier 265–266. Zu Myškins Tod siehe auch K delu I. N. Myškina. In: Byloe 6 (1906) 58.

Schlussbetrachtungen    197

Die von der Narodnaja volja ausgeführten terroristischen Akte erfüllten zweifellos eine kommunikative Funktion: Mit ihrer Hilfe sollte eine unmissverständliche Botschaft an die Regierung gesandt werden, die Ziele der Bewegung ernst zu nehmen und konstitutionelle Reformen einzuleiten. Im entgegengesetzten Fall sollten weitere Attentate folgen. Anders als nach der Explosion im Winterpalast, als die Regierung den potentiell oppositionell eingestellten Kreisen gegenüber kommunizierte, dass sie bereit sei, sowohl hart durchzugreifen als auch weitere Reformen in Aussicht zu stellen, reagierte die Regierung Alexanders III . mit einer bis dahin nicht gekannten Härte.169 Der Versuch, die Revolutionsbewegung »öffentlich« zu diskreditieren, das heißt durch die Gerichts­ verhandlungen interessierte Kreise der Bevölkerung zu erreichen, wurde schon im August 1881 eingestellt. An sympathisierende Kreise sandten die Terroristen eine zweifache Botschaft: Zum einen vermittelten terroristische Anschläge eine »Botschaft über Recht und Unrecht«170, zum anderen wurde gezeigt, dass das autonome Individuum nicht ohnmächtig vor der Autokratie und ihrem Polizeiapparat sein muss. Dort wo keine stenographischen Aufzeichnungen oder verlässliche Augenzeugenberichte existierten, die den performativen terroristischen Akt bezeugen konnten, behalfen sich die Revolutionäre auch mit schwer zu verifizierbaren Informationen. Diese trugen viel zur Legendenbildung rund um die Narodnaja volja bei. So etwa im Fall der Hinrichtung des Mörders des Militärstaatsanwalts Strel’nikov, Nikolaj Želvakov, der am 22. März 1882 in Odessa unter Ausschluss der »Öffentlichkeit« hingerichtet wurde. Einer Version zufolge soll Želvakov in seinem Schlusswort der Regierung gedroht haben: »Man wird mich hängen, aber es werden sich andere finden, alle könnt ihr nicht hängen. Vor dem euch erwartenden Ende wird euch nichts retten«171. Einer anderen Version zufolge, die auf den Genfer Sammelband Na rodine (In der Heimat) (1883) zurückgeht, soll Želvakov diese Worte nicht im Gerichtsprozess, sondern erst auf dem Schafott gesagt haben.172 In der zweiten Version wird eine besonders effektvolle Szene gezeichnet, die noch dazu den Vorteil hat, dass sie an die Tradition der »letzten Worte«, die von verurteilten französischen Revolutionären vor der Guillotinierung vermeintlich oder tatsächlich geäußert wurden, anknüpft. Morejnis 169 Dabei war es den Revolutionären durchaus gelungen, in Regierungskreisen Angst zu verbreiten. Die Furcht vor weiteren Anschlägen war sogar so groß, dass Pobedonoscev Alexander III . in einem Brief dazu riet, vor dem Schlafengehen, die Tür zu schließen und einen Blick unter die Schlafzimmermöbel zu werfen. Aus Angst vor einem Attentat verbrachte der neue Regent viel Zeit in Gatčina außerhalb von St. Petersburg. Seine Krönung wurde zudem bis 1883 ausgesetzt. Offord: The Russian Revolutionary Movement 36. 170 Graaf: Terrorismus als performativer Akt 93. 171 »Menja povesjat, no najdutsja drugie, vsech vam ne perevešat’. Ot ožidajuščego vas konca ničto ne spasët vas.« Hier zitiert nach Prokof ’ev: Stepan Chalturin 275. 172 Diese Aussage bringt unhinterfragt Troickij: Bezumstvo chrabrych 209.

198  Zwischen »ehrlichen Taten« und propagandistischer Instrumentalisierung  Muratova, die in ihren Erinnerungen behauptete, dass Chalturin und Želvakov direkt unter ihrem Zellenfenster hingerichtet worden seien und dass sie alle Geräusche, die an ihr Fenster drangen, mit innerem Schrecken mit­verfolgt habe, erinnerte sich hingegen an nichts Vergleichbares.173 Auch über die Hinrichtung Osinskijs und seiner Genossen wurden von den Revolutionären, wie bereits ausführlich besprochen, unterschiedliche, zum Teil mit phantastischen Details ausgeschmückte, Erzählungen in Umlauf gebracht. Das Ziel war es, den Staat zu diskreditieren, auch wenn dafür die Faktizität geopfert werden musste. Auch die Beteuerungen der »Parteispitze«,174 dass die narodovol’cy Verantwortung für alle ihre Taten – auch die bedauernswerten – übernehmen, waren falsch, da Verantwortung mit revolutionärer »Selbstmythisierung« schwer zu vereinbaren war. Zu nennen wäre etwa Presnjakov, der bestritten hatte, bewusst bewaffneten Widerstand geleistet und dadurch einen Portier ermordet zu haben, um nicht die Gunst sympathisierender Kreise zu verlieren.175 Nach dem »Ersten März« herrschte eine Zeit lang euphorische Aufbruchsstimmung: Menschen, die mit der Bewegung sympathisierten, begannen den Kontakt mit radikalen Kreisen zu suchen und traten in die Revolutionsbewegung ein.176 Selbst eher nüchterne Zeitgenossen wie Nikolaj Michajlovskij sprachen davon, dass die Revolution zum Greifen nahe sei.177 Zugleich führte der Tod des Monarchen zu einem »Aufwachen« des obrigkeitstreuen Russlands, welches sich in zahlreichen Treuebekundungen äußerte. Eine »Volkserhebung« blieb aus. Der Staat aber hinterließ, wie die nardovol’ka Ivanovskaja schrieb, »eine tiefe Verwüstung«178 in den Reihen der Revolutionäre und zwang die in Freiheit Verbliebenen zur Emigration. Die alten Moralvorstellungen der Bewegung behielten jedoch auch in dieser Zeit des sogenannten bezvremen’e (Zeitlosigkeit) ihre Gültigkeit. Von den Veteranen der Bewegung wurden diese Jahre als »harte Zeiten« verstanden: Nun herrschte die »schwerste, sich auf unendliche Galgen stützende, Reaktion von oben« sowie der »Čechovismus [abgeleitet von Anton Čechov, d. Verf.] in den Reihen der Intelligenzija«179. 173 Morejnis-Muratova, Fani: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 290–305, hier 303. 174 Literatura social’no-revoljucionnoj partii 96. 175 »Otricaju namerennoe soprotivlenie, p[otomu] č[to] mne kažetsja, moje soprotivlenie dolžno bylo proizvesti na obščestvo durnoe vpečatlenie v sily ubijstva.« Zit. n. Figner: Pis’ma učastnikov processa 16-ti 101. 176 Dobruskina, Genrieta: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 119–126, hier 122. 177 Offord: The Russian Revolutionary Movement 36. 178 »Vyzvannye 1-m marta kolossal’nye, ranee nevidannye aresty proizveli v rjadach partijnych rabotnikov i v samom centre partii glubokoe opustošenie. Kto ostavalsja ucelevšim – uezžal von iz stolicy.« Ivanovskaja: Avtobiografija 160. 179 »Dva goda jarkoj dejatel’nosti ›narodovol’cev‹ i dlja Rossii nastupilo tjažëloe vremja: tjaželejšaja, opirajuščajasja na beskonečnye viselicy, reakcija sverchu, čechovščina sredi intelligencii […]«. Golovina: Avtobiografija 81.

Schlussbetrachtungen    199

Mitte der 1880er Jahre kam eine neue Strömung innerhalb des russischen Sozialismus auf. Der dem narodničestvo nahestehende Publizist Juzov (eigentlich Iosif Kablic) übte vehemente Kritik an den »sozialen Experimenten«180 des narodovol’čestvo und am Versuch, den Fortschritt voluntaristisch zu beschleunigen. Jakov Abramov, ebenfalls ein Publizist aus dem Spektrum des narodničestvo, forderte seine Leser dazu auf, das Imperium friedlich und von innen heraus zu verändern. Auch die Anhänger dieser »Theorie der kleinen Taten« sahen den sich aufopfernden Intelligenzler als einen Motor des Fortschrittes. Er sollte jedoch nicht Sprengsätze werfen, sondern in die zemstvo-Behörden gehen und seinen Beitrag zum allgemeinen Wohl als Arzt oder Lehrer leisten. Diese politisierte Variante des »Gangs ins Volk« konnte jedoch, wie Zverev schreibt, ihren Anhängern weder »Hochachtung noch Kapital noch den Nimbus des Mär­ tyrertums«181 bescheren. Als in den 1890er Jahren radikale Tendenzen wieder die Oberhand gewannen, wurde die »Theorie der kleinen Taten« abwertend als »Abramovschiwismus (abramovščina)« bezeichnet. Das Wort »vos’midesjatnik« (Repräsentant der Generation der 80er Jahre) wurde sogar zu einem regelrechten Schimpfwort selbst in nichtrevolutionären Kreisen, mit dem Menschen (der zweiten Hälfte der 1880er Jahre) bezeichnet wurden, die nicht zum Protest gegen die ungerechte Ordnung fähig seien.182 In dieser Situation kam den Texten jener Revolutionäre, die auch nach der Zerschlagung der Narodnaja volja in ihren Selbstzeugnissen identitätsbezogene Wertungen äußerten, welche sie als kompromisslose Sozialisten erscheinen ließen, eine beträchtliche Bedeutung zu.

180 Zverev, V.: Ėvoljucija narodničestva. ›Teorija malych del‹. In: Otečestvennaja istorija 4 (1997) 86–94, hier 86. 181 Ebd. 88. 182 So hieß es in Sologubs Gedicht Vos’midesjatniki: »I vyšli skromnye, smirennye ljudiški /  Konečno, už oni ne budut buntovat’/ Im tol’ko by čitat’ pečatnye kovrižki / Da vkusnyj pirožok kazënnyj smakovat’.« Hier zitiert n. Sologub, Fëdor: Stichotvorenija raznych let. Moskau 2015, 48.

6. Sozialdemokraten und Sozialrevolutionärein den letzten zwei Dekaden vor der Revolution Unter der Herrschaft Alexanders III . bildeten sich in der Revolutionsbewegung viele kleinere Zirkel (»kružki«) und zugleich änderte sich deren soziale Zusammensetzung: Der Anteil adeliger Revolutionäre nahm weiter ab, während sich der Anteil an Arbeitern und Kindern von »Kleinbürgern (meščani)« erhöhte.1 Hinzu kam eine signifikante Erhöhung des Anteils jüdischer Revolutionäre. Nach Schätzungen westlicher Historiker müssen im Jahr 1903 um die 40 Prozent aller Revolutionäre Juden gewesen seien.2 Auch die intellektuellen Trends begannen sich zu wandeln. Immer mehr Radikale wandten sich dem Marxismus zu. 1869 erschien in Genf das Manifest der Kommunistischen Partei in russischer Übersetzung, während Das Kapital im Jahr 1872 auf legalem Weg erscheinen konnte. Die Zensur war von dem anspruchsvollen Werk überfordert und erteilte eine Publikationserlaubnis. Die russische Ausgabe wurde damit zur ersten Übersetzung des Marx’schen Hauptwerkes in eine europäische Sprache. Zahlreiche narodniki erwähnten in ihren Memoiren, Marx bereits in den 1870er Jahren gelesen zu haben. Eine marxistische Strömung begann jedoch erst in den 1880er Jahren Anhänger zu gewinnen, um in den 1890er Jahren kurzzeitig zur dominanten revolutionären Strömung zu werden. 1883 wurde in Genf von ehemaligen černoperedel’cy unter dem Namen Osvoboždenie truda (Befreiung der Arbeit) die erste russländische marxistische Gruppe gegründet. Im Frühling 1898 erfolgten die ersten Schritte hin zur Institutionalisierung einer »russischen Sozialdemokratischen Partei«,3 die nach anfänglichen Schwierigkeiten während des zweiten Parteikongresses (Sommer 1903) abgeschlossen wurde. Auf dem 1 Naimark: Terrorists and Social Democrats 241–242. 2 Geifman: Thou shalt kill 32. Auf dem fünften Kongress der RSDRP (1907) waren beispielsweise ein Drittel aller Delegierten Juden. Schapiro, Leonard: The Role of the Jews in the Russian Revolutionary Movement. In: The Slavonic and East European Review 15 (1961) 148–167, hier 160. Ungewöhnlich hoch war auch der Anteil jüdischer Terroristen. So stellten beispielsweise in den Jahren 1907–1908 Juden die Hälfte aller Mitglieder der Kampforganisation der SR . Gorodnickij: Boevaja organizacija 182. 3 Im März hielten neun Delegierte sozialdemokratischer Organisationen in Minsk ein Treffen ab, das sie als »Ersten Parteikongress« der Rossijskaja Social-Demokratičeskaja Rabočaja Partija (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands) bezeichneten. Am Ende ihrer Bemühungen stand ein Manifest, das sich nahe an Plechanovs politischen Ansichten orientierte. Um die Positionen Plechanovs innerhalb der ideologisch nicht homogenen Sozialdemokratie weiter zu stützen und vor allem den »Ökonomismus«, eine Richtung, die den ge-

202  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre zweiten Parteikongress wurden zwei Richtungen innerhalb des orthodoxen Lagers sichtbar. Eine um Julius Martov gruppierte Strömung tendierte dazu, sich an organisatorischen Normen und taktischen Beschlüssen der Zweiten Internationale zu orientieren und allen den Eintritt in die Partei zu erlauben, die das Programm und die Führung der Partei anerkannten. Die Richtung um Vladimir Lenin verband hingegen die Vorstellung von der geschichtlichen Bestimmung des Proletariats zur Aufhebung der Klassengegensätze mit der Idee einer starken, zentralistisch und nach konspirativen Leitlinien aufgebauten Kaderpartei. Ohne Beteiligung an einer der Parteiorganisationen sollte deshalb auch die Mitgliedschaft ausgeschlossen bleiben.4 Der Konflikt war von Anfang an nicht nur rein politisch-ideologischer Natur, schließlich hing die Antwort auf Fragen nach der Zusammensetzung der Partei nicht zuletzt von der jeweiligen Welt- und Selbstsicht der politischen Akteure zusammen. Die Favorisierung einer auf die Intelligenzija ausgerichteten Organisation hing beispielsweise im Falle Lenins mit einem tiefen Misstrauen gegenüber der Fähigkeit der Massen zusammen, in revolutionären Fragen das richtige Urteil zu fällen. Aus ­Lenins Sicht bedurften sie der Führung von oben.5 Auch der Beitritt J­ oseph Stalins zum Lager Lenins entsprach sowohl seinem Temperament als auch seinem Selbstbild als politischer Erzieher des Proletariats.6 Parallel zum Siegeszug des Marxismus vollzog sich die allmähliche Konsolidierung des narodničestvo im Russländischen Reich. Beide Richtungen entwickelten sich in einem Konkurrenz- und Abgrenzungsverhältnis zueinander, das Annäherungen und personelle Fluktuation nicht ausschloss, zumal sich viele neonarodniki7 einem undogmatischen Marxismus verpflichtet fühlten. werkschaftlichen Kampf wichtiger als den politischen einschätzte, zu bekämpfen, wurde von Plechanov, Zasulič, Axelrod, Martov, Potresov und Lenin die Zeitschrift Iskra (der Funke) ins Leben gerufen, siehe: Service, Robert: Lenin. A Biography. Cambridge, Mass. 2000, 130–131. 4 Infolge des ebenso persönlichen wie politischen Streites wandte sich Plechanov von Lenin, dem er bonapartistische Ambitionen vorwarf, ab und die Menschewiken übernahmen die noch vor kurzem gemeinsam redigierte Iskra. Im Sommer 1904 war Lenin mit seinen Anhängern im ZK bereits in der Minderheit, unter seinen Anhängern wurde die Tendenz zur Aussöhnung mit dem menschewistischen Lager bemerkbar. Tjutjukin, Stanislav / Lel’čuk, Vitalij: Bol’ševiki. In: Zeveleva, A. u. a. (Hg.): Političeskie partii Rossii. Istorija i sovremennost’. Moskau 2000, 243–259, hier 243–244; Tjutjukin, Stanislav: Men’ševiki. In: Zeveleva, A. u. a. (Hg.): Političeskie partii Rossii. Istorija i sovremennost’. Moskau 2000, 227–242, hier 227–234. 5 Figes, Orlando: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924. Berlin 1998, 164. 6 Kotkin, Stephen: Stalin. Bd. 1. New York 2014, 80. Zur Zeit der Spaltung befand sich Stalin in Gefangenschaft, 1904 schloss er in Tiflis Bekanntschaft mit dem Bolschewiken Lev Kamenev. 1905 trat er offen auf Seiten Lenins auf, womit er innerhalb der georgischen Sozialdemokratie in der Minderheit blieb. Ebd. 7 Der Begriff neonarodniki wurde von der sowjetischen Forschung eingeführt, um eine striktere Unterscheidung zwischen den narodniki der 1860er bis 1880er Jahre, denen ein staatlich organisiertes Gedenken zugedacht war, und ihren Nachfolgern, allen voran den (rechten)

Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre  203

Gestritten wurde über die Terrorfrage, die richtige Analyse des Kapitalismus im Russländischen Reich und in Westeuropa, die Rolle der Bauernschaft und der Intelligenzija im Revolutionsprozess sowie die Rolle der revolutionären Partei nach dem Umsturz der Autokratie. Damit verbunden war die Frage, auf welchem Wege das Agrarland Russland zum Sozialismus gelangen könne.8 Diese zum Teil erbittert geführten Kontroversen zwischen »streng« marxistisch und populistisch orientierten Revolutionären waren im Falle der Spaltung der RSDRP nicht rein theoretischer Natur. Im Falle der ersten Generation russischer Marxisten etwa beruhte die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Bauerntum hin zum Proletariat nicht nur auf einer nüchterneren Einschätzung des »revolutionären Potenzials« der Bauern. Ehemalige narodniki wie Dejč, ­Zasulič und Plechanov suchten unter anderem nach einer »universellen und wissenschaftlichen Bedeutung«9 für das politische Desaster des »Ins-Volk-Gehens« und das Scheitern des Černyj peredel. Im Marxismus fanden sie nicht zuletzt eine Antwort auf ihre persönlichen Sinnkrisen. Hinzu kam ein »Europäismus« vieler Marxisten, die eine Betonung der »russischen Eigenart« prinzipiell ablehnten. Anders als die neonarodniki sahen Marxisten wie Lev Trockij in der obščina eine »Stütze der asiatischen Despotie (ustoj aziatskoj despotii)«10. Nicht wenige von ihnen sahen sich auf der Seite des rationalen »Europas«, dem als Kontrastbild ein irrationales, halbbäuerliches »Asien« gegenüberstand. Aus i­hrer Sicht brachte das neonarodničestvo Unvernunft sowie Desorganisation und Verwirrung in die »Sache der Entwicklung des Klassenbewusstseins«11. Auch für die Anhänger der populistischen Strömung war die Frage nach dem revolutionären Bewusstsein des Arbeiters im Vergleich zum Bauern zugleich Sozialrevolutionären, vornehmen zu können. Heute wird der Begriff des neonarodničestvo in der Regel verwendet, um die ideologischen, organisatorischen und mentalitätsgeschichtlichen Unterschiede zwischen der Revolutionsbewegung des 19. und dem Popu­lismus des 20. Jahrhundert hervorzuheben. Die Nachfolger der »alten« narodniki selbst sprachen manchmal vom »reinen narodničestvo« des 19. Jahrhunderts, um sich von den, aus ihrer Sicht naiven Vorstellungen über den (revolutionären) Charakter des »Volkes« abzugrenzen. So etwa Černov, Viktor: Pered burej. Vospominanija. New York 1953, 123. 8 Siehe dazu Hildermeier: Die Sozialrevolutionäre Partei 58–83. 9 »The late-nineteenth-century shift of radical ideological loyalties from  a ›stagnant‹ peasant majority to  a ›dynamic‹ proletarian minority was thus not simply the product of a more realistic appraisal of the Russian situation. Equally important as contributing factors were a willingness to attribute universal and scientific significance to their political frustrations, an uncritical view of Western culture, and a very careful selection of evidence from the zemstvo statistics.« Zit. n. Kingston-Mann, Esther: Marxism and Russian Rural Development. Problems of Evidence, Experience, and Culture. In: The American Historical Review 4 (1981) 731–752, hier 738–739. 10 Trockij, Lev: Pis’ma obo vsëm (15 nojabrja 1903 g. N. 53). In: Za dva goda. Sbornik statej iz ›Iskry‹. Bd. 1. St. Petersburg 1906, 17–23, hier 18. 11 Dan, Fëdor: Ob’’edinenie buržuaznoj demokratii. In: Za dva goda. Sbornik statej iz ­›Iskry‹. Bd. 1. St. Petersburg 1906, 524–535, hier 529.

204  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre eine sehr persönliche Frage nach der eigenen Stellung im Revolutionsgeschehen und der Gültigkeit der eigenen Güterordnung. Für viele von ihnen bedeutete die marxistische Konzeption der proletarischen Revolution eine Reduktion der Rolle des Intelligenzlers im Kampf für die »Befreiung«. Ein Revolutionär zu sein bedeutete, insbesondere für die Veteranen der Bewegung, im Einklang mit dem von den šestidesjatniki und semidesjatniki erschaffenem moralischen Rahmen zu leben. Sie schrieben von der Treue gegenüber den »alten Traditionen der russischen Revolution«, die es über die »persönlichen und familiären Interessen«12 zu stellen galt. Für viele war deshalb die Tugend des Sich-Opferns etwas, was es einzuüben galt, um das Ideal einer gerechten Gesellschaft verwirklichen zu können. Das Bild des sich aufopfernden Revolutionärs bildete für sie eine der wichtigsten Motivationsquellen im Kampf gegen die Autokratie. Durch die Verneinung des »revolutionären Potenzials« des Bauerntums schien jedoch der Marxismus diesem Kampf seine universalistische Bedeutung zu nehmen. Könne man, wie ein namentlich nicht bekannter Exilant polemisch fragte, sein »Leben für das Wohl eines Jackettanmeisters«13 hergeben und zugleich den »grauen Ackerbauer« vergessen? Das der terroristischen Heroik der 1870er und 1880er Jahre verpflichtete narodničestvo stellte die Frage nach Leben und Tod auf eine radikale Weise und konnte sich deshalb mit dem, was der zitierte Exilant als »enge Ideen der Sozialdemokraten«14 bezeichnete, nicht arrangieren. Für viele Sozialrevolutionäre war deshalb die soziale Frage nicht nur eine ökonomische, sondern eine »zutiefst« persönliche. Da der »deutsche materialistische Sozialismus« oder auch »mechanische Sozialismus«, wie M ­ ichail Goc schrieb, die sittliche Dimension des menschlichen Lebens vernachlässige, sei er dem russischen Populismus unterlegen. Für Goc stand fest: »Das Großunternehmen wächst, Fabriken werden konzentriert und so weiter und so fort, aber das alles ist nur der tote Boden, auf den der belebende Regen des idealistischen Werkes solcher selbstentsagender Kämpfer wie Lassalle, Bebel, L ­ iebknecht fallen«15 müsse. 12 »Stariki […] ostavalis’ vsegda [unleserlich, wahrscheinlich – »verny«] starym zavetam, bylym tradicijam russkoj revoljucii, živja imi i stavja ich vyše vsech ličnych i semejnych interesov […]«. RGASPI f. 328, o.1, d. 9, l. 1. 13 »Neuželi možno otdat’ žizn’ za blagopolučie pidžačnogo mastera […], i v to že vremja zabyvat’ serogo zemledel’ca […]?« Ebd. 3. 14 »Trudno predstavit’, čtob russkaja molodëž’ mogla bezzavetno otdat’sja bor’be za uzkie idei social-demokratov.« Ebd. 2. 15 »Krupnoe prooizvodstvo rastët, fabriki koncentrirujutsja i pr. i pr., no vsë ėto liš’ mërtvaja počva, na kotoruju dolžen upast’ živitel’nyj dožd’ idealističeskoj dejatel’nosti takich samootveržennych borcov, kak Lassal’, Bebel’, Libknecht. Mechaničeskij socializm est’ dejstvitel’no produkt odnoj golovnoj raboty, no dlja menja socializm  – gorazdo bolee širokaja sistema ponjatij.« GA RF f. 6243, o. 1, d. 1, l. 154. Selbstredend kann auf der Grundlage der hier skizzierten Positionen nur ein grobes »Idealbild« gezeichnet werden, das der ganzen Bandbreite der identitätsspezifischen Motive, die bei der Favorisierung der einen oder anderen politischen Richtung eine Rolle gespielt haben mögen, nicht gerecht werden kann.

Religion und Atheismus im Marxismus und neonarodničestvo    205

In der Mitte der 1890er Jahre fingen neopopulistische revolutionäre Gruppen an, die alte Bezeichnung »Sozialrevolutionäre (socialisty-revoljucionery)« anzunehmen, um ihre politische Verwandtschaft mit den Radikalen der späten 1870er Jahre zu unterstreichen. Am Ende dieses Konsolidierungsprozesses erfolgte etappenweise die Fusion zur »Partei der Sozialrevolutionäre«.

6.1 Religion und Atheismus im Marxismus und neonarodničestvo Religiöse Toleranz Die sozialrevolutionäre Strömung war ideologisch noch weniger homogen als die sozialdemokratische. Die verschiedenen Gruppen, die für die Entstehung der PSR verantwortlich waren, vertraten unterschiedliche politische und weltanschauliche Positionen, deren ganzes Spektrum die Sozialrevolutionäre selbst nicht richtig klassifizieren konnten.16 Als Mitglied musste man lediglich das Parteiprogramm und die sozialrevolutionäre Taktik anerkennen. Auch Menschen, die sich als gläubig bezeichneten, waren in der Partei vertreten.17 Anders als in der Sozialdemokratie fanden sich gläubige Menschen sogar in führenden Positionen. Zur Orthodoxie bekannte sich beispielsweise Vadim Rudnev, der kurz vor der Revolution von 1905 zur Partei hinzugestoßen war und sich nach 1917 als Organisator eines bewaffneten Widerstandes gegen die Bolschewiken einen Namen machte. Er besuchte Gottesdienste, beichtete (Bulgakov soll sein Beichtvater gewesen sein) und empfing die Kommunion. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte seine Religiosität etwas mit seinen moralisch-politischen Überzeugungen zu tun: In der Orthodoxie soll er Višnjak zufolge »nicht nur den Ausdruck einer absoluten Wahrheit, sondern auch eine lebendige Bindung«18 zum russischen »Volk« erblickt haben. Ähnliches berichtete Višnjak über Avksent’ev, einen der führenden Köpfe der PSR und Innenminister unter Kerenskij, dem zumindest in der Emigration »Religiösität nicht fremd« gewesen sein soll und für den der orthodoxe Gottesdienst eine große persönliche Bedeutung gehabt habe.19 16 So Morozov: Partija socialistov-revoljucionerov 16–17. 17 Ebd. 18 »V pravoslavii Rudnev videl ne odno tol’ko vyraženie absoljutnoj istiny, no i živuju svjaz’ s russkim narodom, s verovanijami i bytom mass, otorvannost’ ot kotorych Rudnev oščutil eščë v revoljuciju pjatogo goda i prodolžal ostro oščuščat’ v gody ėmigracii«. Višnjak, Mark: ›Sovremennye zapiski‹. Vospominanija redaktora. New York 1957, 59. 19 »Aksent’ev ne byl čužd religioznosti, gluboko perežival službu i pesnopenija, no, kak i ja, stojal za polnoe ›otdelenie‹ religii i, tem bolee, Cerkvi ot politiki, – v osobennosti v žurnale.« Ebd. 308.

206  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Was die rechtlichen Aspekte der religiösen Frage betraf, so herrschte im sozialistischen Lager ein mehr oder weniger stabiler Konsens: Religion sollte eine Privatangelegenheit sein, Kirche und Staat getrennt und die Schulbildung säkularisiert werden. Was jedoch die weltanschaulichen Freiheiten betraf, so unterschieden sich die Sozialrevolutionäre sicherlich bis zu einem gewissen Grad von den Sozialdemokraten.20 Insbesondere bei den Bolschewiken wurde der religiösen Frage eine weitaus größere Bedeutung beigemessen. In seinem bekannten, Mitte Dezember 1905 erschienenen Artikel Sozialismus und Religion unterstützte Lenin mit Blick auf die religiösen Minderheiten des Zarenreichs die Aufhebung der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit. Religionsfreiheit sollte auf der Staatsebene gelten, jedoch ausdrücklich nicht auf der Parteiebene: Zwar sollten Gläubige keinesfalls aus der Sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen, aber Religion in der Parteimitte sollte nicht toleriert, sondern mit propagandistischen Mitteln bekämpft werden.21 Damit widersprach Lenin der politischen Praxis der meisten europäischen Parteien.22 Einige Jahre später äußerte sich Lenin etwas vorsichtiger: Die Partei dürfe in ihrer Mitte religiöse Menschen tolerieren, aber nur solange diese ihre Überzeugungen für sich behielten. Die Partei müsse auch gottesgläubige Arbeiter um sich scharen, dabei aber niemals vergessen, diese im Geiste des Parteiprogramms zu erziehen, um sie von ihren religiösen Überzeugungen zu »befreien«.23 In dieser Hinsicht scheint sich der Anspruch der menschewistischen Führer 20 Leonov: Partija socialistov-revoljucionerov 39. 21 Lenin, Vladimir: Socializm i religija. In: Institut Marksizma-Leninizma pri CK KPSS (Hg.): V. I. Lenin. Polnoe sobranie sočinenij. 5. Ausgabe. Bd. 12. Mokau 1968, 142–147. Gleichzeitig beharrte Lenin darauf, dass der ideologische Kampf gegen die Religion (Überbau) auf keinen Fall den revolutionären Kampf (Basis) ersetzen sollte. Die Errichtung des »Paradieses auf Erden (raja na zemle)« sei für die RSDRP wichtiger als eine einheitliche Sicht der Proletarier auf die Frage nach dem »Paradies im Himmel (o rae na nebe)«. 22 Read, Christopher: Lenin. A Revolutionary Life. London, New York 2005, 82–83. Boer hingegen kommt zum Schluss, dass Lenin eher die Grenzen dessen verschoben habe, was in anderen sozialistischen Parteien als »Privatangelegenheit« verstanden wurde. Boer, Roland: Lenin, Religion, and Theology. New York 2013, 17–29. Für die deutsche Sozialdemokratie siehe Schmidt, Jürgen: The Secularization of the Workforce in Germany in the 19th Century. In: Fasora, Lukáš u. a. (Hg.): Secularization and the Working Class. The Czech Lands and Central Europe in the 19th Century. Eugene 2011, 39–59, hier v. a. 44. Ausführlich bei: Sozialismus statt Religion 192–256. 23 Lenin, Vladimir: Ob otnošenii rabočej partii k religii. In: Institut Marksizma-Leninizma pri CK KPSS (Hg.): V. I. Lenin. Polnoe sobranie sočinenij. 5. Ausgabe. Bd. 17. Mokau 1968, ­415–426, hier vor allem 421–422. Lenin, der nach eigenen Angaben seinen christlichen Glauben mit 16  Jahren aufgegeben hatte (RGASPI f. 17, o. 8, d. 546, l. 118), kannte sich vergleichsweise gut in religiösen Fragen aus. Seine Kremlbibliothek wies insgesamt 99 Bücher zum Thema Religion auf, angefangen bei der Bibel und einigen Werken religiöser, zum Großteil christlicher, Autoren bis hin zu »Klassikern« wie Feuerbachs Das Wesen des Christentums und Kautskys

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auf weltanschauliche »Reinheit« durchaus vom Lenin’schen Anspruch unterschieden zu haben: Sie widmeten der antireligiösen Propaganda, wie ein sowjetischer Forscher triumphierend feststellte, nicht die »nötige Aufmerksamkeit« und ließen ihnen größere weltanschauliche Freiheiten.24 Hinzu kam, dass sich in der Führungsriege der Menschewiken durchaus Menschen befanden, die trotz ihrer atheistischen Überzeugungen sensibel für religiöse Befindlichkeiten waren.25 Selbstredend sollte der Anspruch auf ideologische und weltanschauliche »Reinheit« nicht mit der historischen Lebenswirklichkeit verwechselt werden. Dennoch weist einiges darauf hin, dass politische Aktivisten, die als gläubige Menschen in die Organisation der Bolschewiken eintraten, ihre religiösen Überzeugungen nach kürzester Zeit wieder aufgaben. Diese Schlussfolgerung legt die »Allrussische Erfassung der Mitglieder der Allrussischen Kommunistischen Partei« von 1922 nahe. Von 412 alten Bolschewiken gab ein nicht unerheblicher Teil von 105 Personen (ca. 25,5 Prozent) an, kurz vor oder nach dem Eintritt in die Partei gläubig gewesen zu sein. Von den nur 23 Personen, die ihren Glauben auch nach dem Eintritt bewahrt hatten, gaben ihn jedoch mehr als die Hälfte (13 Personen) im Laufe eines Jahres auf, der Rest nach zwei (drei Personen) beziehungsweise drei Jahren (drei Personen) Jahren. Nur vier Kommunisten bewahrten ihren Glauben sechs Jahre und länger.26

Der Ursprung des Christentums. Smirnov, Michail: Religija i Biblija v trudach V. I. Lenina. Novyj vzgljad na staruju temu. In: Gosudarstvo, religija, cerkov’ v Rossii i za rubežom 2 (2011) 106–125. 24 »Men’ševiki ne obraščali dolžnogo vnimanija na bor’bu s religioznoj ideologiej i nedoocenivali rabotu po ateističeskomu vospitaniju členov partii. […] Bojas’ otpugnut’ vsjakogo, želajuščego ob’’javit’ sebja členom partii, men’ševiki ›ne posjagali‹ na ich ›svobodu‹ v otnošenii mirovozrenčeskich voprosov.« Nikišov, S.: Leninskaja kritika filosofskich osnov religii. Moskau 1868, 65. 25 So berichtete beispielsweise Potresov in seiner Autobiographie über folgende Episode in seinem Leben: In Paris traf er den gealterten Kommunarden Gustave Lefrançais. Dieser soll ihm »stolz« ein antireligiöses Bild gezeigt haben, auf dem ein Engel mit einem Schweinskopf zu sehen war. Während Lefrançais überglücklich gewesen sei, habe Potresov selbst wenig Gefallen an dem verletzenden Bild gefunden: »Emu ono [»orudie antireligioznoj propagandy«, d. Verf.] vidimo, dostavljalo neskazannoe udovol’stvie!.. Vo mne že, davno uže k ėtomu vremeni rasstavšemusja s svoej detskoj religioznost’ju, ėtot nočnoj ėpizod ostavil tem ne menee kakoj-to smutnyj i neprijatnyj osadok«. Als Grund dafür nannte er die aus seiner Sicht seltsame Nachwirkung alter religiöser Befindlichkeiten. Nicolaevsky Collection Box 58, Folder 2, p. 39–40. 26 RGASPI f. 17, o. 8, d. 546–548. Die allermeisten Marxisten waren religiös sozialisiert worden. Nur 20 Personen (4,8 Prozent) gaben an, ihren Glauben bereits in der Kindheit verloren zu haben. Das anzunehmende Bedürfnis der Befragten, als alte Atheisten in Erscheinung zu treten, dürfte diese Zahlen freilich etwas verfälscht haben.

208  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Revolutionäre Atheisten und religiöse Verwandte Die zukünftigen Revolutionäre wuchsen, wie schon die Zeitgenossen bemerkten, in einer Kultur auf, die »von kirchlichen Anschauungen und Bräuchen«27 durchdrungen war. In der Forschungsliteratur ist viel über den Einfluss einer solchen Sozialisation auf das Denken der Revolutionäre geschrieben worden. So wurde beispielsweise argumentiert, dass Revolutionäre, die »oftmals das Produkt einer Sonntagsschule und einer religiösen Familie« gewesen waren, schon aufgrund ihrer Sozialisation empfänglich für die »Idee der unvermeidlichen Errettung durch Geschichte«28 gewesen seien. Ähnlich wurde in Bezug auf die Herausbildung bestimmter revolutionärer Moralvorstellungen argumentiert.29 Das eigene Verhältnis zur Religiosität der Familienmitglieder wurde von den Revolutionären durchaus reflektiert. Dem Beobachter sticht dabei eine Vielfalt an Einstellungen und Schlussfolgerungen ins Auge. So kamen beispielsweise einige Revolutionäre zu dem Schluss, dass ihr christlich geprägtes Umfeld sie gewissermaßen auf die zukünftige sozialistische Tätigkeit vorbereitet habe. In seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1907 betonte etwa der georgische narodnik Džabadari, dass die »christlichen Traditionen der Familie« ihn dazu angeregt hätten, ein Interesse für den »Menschen als solchen, die menschliche Seele«30 zu entwickeln. Es sei zudem seine eigene Mutter gewesen, eine »zutiefst religiöse Frau«31, die dem zukünftigen Revolutionär ein »Gefühl des Mitleids mit den Armen« vermittelt habe. Die tätige Armenhilfe habe sie damals mit einem populärtheologischen Argument begründet: Gott werde sich von ihrem Jungen abwenden, falls dieser den Armen keine Almosen gebe. Dieses Gefühl des Mitleids sei auch der »erste Schritt«32 hin zu einem sozialistischen Lebensweg gewesen. Jüdische Revolutionäre waren in dieser Hinsicht keine Ausnahme, wie die 1926 verfasste Autobiographie von Fani Morejnis zeigt. Anders als Džabodari zog Morejnis keine direkten Kontinuitätslinien zwischen religiöser Erziehung 27 »Christianskie čerty, vosprinjatye pomimo vedoma i voli, čerez posredstvo okružaju­ ščej sredy, ot sem’i, ot njani, iz vsej duchovnoj atmosfery, proniknutoj cerkovnymi vozzrenijami i obyčajami, prosvečivajut v duchovnom oblike lučšich i krupnejšich dejatelej russkoj revoljucii.« Bulgakov: Geroizm i podvižničestvo 49. 28 »Armed with the potent mechanism of Hegel’s dialectic, tempered by Feuerbach’s materialism, for example, the nineteenth-century Russian revolutionary, frequently the product of a chruch-school and a religious family, becomes enamored of the new, and yet essentially familiar idea of inevitable salvation through history.« Morris: Saints and Revolutionaries 129. 29 Saburova / Ėklof: Družba, sem’ja, revoljucija 70–73. 30 Džabadari, Ivan: Process 50-ti 5. 31 Ebd. 9. 32 Ebd. 10. Die Begründungslogik der Mutter gibt Džabadari wie folgt wieder: »Esli ty ne budeš’, govorila ona, chodit’ k bednym, Bog uznaet, čto ty nedobryj mal’čik i, kogda ty ­zaboleeš’ i menja ne budet s toboj, nikto tebe ne pomožet«. Zit. n. ebd.

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und revolutionären Werdegang. Im Gegenteil, ihr persönlicher Entwicklungsweg ist als eine Emanzipationserzählung von jüdischer Tradition und Religiosität zu lesen. Dennoch wird gerade die familiäre Erzählung über die beispielhafte »religiöse Standhaftigkeit« des Großvaters zum prägenden »Siegel (pečat’)«33 der gesamten Erziehung erklärt: Der Großvater soll sich geweigert haben, vor Zar Nikolaus I. höchstpersönlich seine traditionelle Kopfbedeckung abzunehmen. Wenn man bedenkt, dass »Standhaftigkeit« eine der wichtigsten isotopiekonstitutiven Aktanten des gesamten Textes ist, so kann von impliziten Kontinuitätslinien zwischen der religiösen Erziehung und dem Leben im Untergrund gesprochen werden. Militante Atheisten hingegen tendierten dazu, die Verankerung der eigenen Familie im orthodoxen Glauben negativ zu bewerten. Interessanterweise artikulierten sie diesen Gedanken jedoch nicht selten mit Hilfe von Sprachmustern, die dem Bereich des Religiösen entlehnt waren. So etwa im Fall des zukünftigen bolschewistischen Politikers Vladimir Adoratskij. Dieser wuchs in einer religiösen Familie auf: Der Großvater kam aus dem geistlichen Stand, die Brüder des Vaters waren Priester. In seiner Gymnasialzeit wandte sich Adoratskij vom christlichen Glauben ab und entwickelte materialistisch-atheistischen Überzeugungen.34 Dies führte dazu, dass Adoratskij die Beziehung zu seiner religiösen Mutter, mit der er sehr lange zusammenleben sollte, als äußerst bedrückend empfand, wovon zahlreiche Tagebucheinträge zeugen. Nach der Verinnerlichung des marxistischen Geschichtsverständnisses wurde diese Konfliktsituation jedoch um eine weitere Dimension erweitert. So wie die eigenen Verwandten den Abfall Vladimirs vom Glauben als ein familiäres Unglück empfunden haben mussten, so nahm umgekehrt auch Adoratskij die Religiosität seiner Mutter als »Tragödie« wahr. Er verortete seine Mutter auf der Seite der revolutionsfeindlichen Kräfte und gab den »Pfaffen« die Schuld an ihrer »misslichen« Lage: »Hier kommt die Figur des Pfaffen. Die Tragödie ist unauflösbar, da das Bewusstsein der Mutter hoffnungslos vergiftet, unumgänglich pervertiert ist von der Religion, den Pfaffen […]«35.

33 »Nam často privodili v  primer religioznuju stojkost’ deda, rasskazyvaja, kak v  to vremja, kogda evrei nosili osobyj nacional’nyj kostjum i nikogda ne obnažali golovy, on, prisutstvuja v  kačestve stroitelja korablej vmeste s  Nikolaem I pri toržestvennom spuske korablja, ne snjal pered gosudarem svoej konusoobraznoj barchatnoj šapki – ermolki. […] Ja rasprostranjajus’ tak mnogo o svoëm dede, tak kak pamjat’ o nëm naložila pečat’ na vsë naše vospitanie […]«. Morejnis-Muratova, Fani: Avtobiografija. In: Ėncyklopedičeskij slovar’ Russkogo biografičeskogo instituta Granat. Priloženie. Bd. 40. 7. Auflage. Moskau 1927, 290–304, hier 291. 34 Korsakov, S.: Kratkij očerk naučnoj, naučno-organizacionnoj i obščestvenno-političeskoj dejatel’nosti. In: Ders. (Hg.): Vladimir Viktorovič Adoratskij. 1878–1945. Moskau 2014, 6–40, hier 6. 35 RGASPI f. 559, o.1, d. 55, l. 15.

210  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Diesem Tagebucheintrag lag das Konzept einer dialektisch voranschreitenden Geschichte mit ihrem Gegensatz von »Fortschritt« und »Reaktion« zugrunde. Diese Vorstellung blieb keinesfalls ein reines Abstraktum, sondern wurde von der stark wertenden Person in ein persönliches, identitätsbezogenes Narrativ übersetzt. Im Falle Adoratskijs war es zudem mit revolutionären Martyriumsvorstellungen verschränkt. Sich selbst bezeichnete er als einen »Erdulder«, der für den »›Glauben‹ oder besser gesagt für den Nichtglauben«36 verfolgt werde. »Glaube« war hier – anders als bei den narodniki – ironisch gemeint. Ein Atheist hatte und konnte aus Adoratskijs Sicht keinen Glauben haben. Die Negation, die dem Ironischen zugrunde liegt, bezog sich jedoch keinesfalls auf die gesamte Aussage: Der Atheist wurde von Christen für seine Überzeugungen moralisch gequält; Christen und Atheisten waren Akteure in einem großen geschichtlichen Drama. Nur diente Religion hier der »Sache der Finsternis«, während von Atheismus und Sozialismus die »Erneuerung gesellschaftlicher Verhältnisse«37 ausgingen. Adoratskij übernahm die ihm geläufigen religiösen Sprach- und Denkmuster, kehrte jedoch ihre Bedeutung um. Das religiös geprägte Umfeld konnte also als eine Vermittlungsinstanz für Vorstellungen dienen, welche die Argumentationsmuster der Radikalen auch nach ihrer Abkehr vom christlichen Glauben beeinflussten. Um einiges komplexer wurde das Verhältnis der Revolutionäre zur Religiosität ihrer Verwandten, wenn ein Interesse an der Aufrechterhaltung familiärer Beziehungen bestand, der Widerspruch zwischen Religiosität und Atheismus aber als schwere Belastung des Verhältnisses empfunden wurde. Diese Konstellation zeigt sich etwa im Briefwechsel zwischen Feliks Dzierżyński und seiner Schwester Aldona Bułhak. Der 1877 geborene Feliks hatte ein herzliches Verhältnis zu seinen Verwandten, nach dem frühen Tod des Vaters (1883) und dem Tod der Mutter (1896) blieb jedoch Aldona für lange Zeit seine wichtigste Bezugsperson aus dem familiären Kreis. Sie besuchte ihren Bruder im Gefängnis (Dzierżyński verbrachte insgesamt elf Jahre seines Lebens in Haft), sorgte sich nach Kräften um ihn, lehnte aber seine weltanschaulichen Vorstellungen ab. Um diese Spannung zu überwinden und das Verhältnis zu seiner Schwester zu festigen, schrieb Dzierżyński, dass auch er gläubig sei, aber im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, die nicht Gott, sondern Mammon huldigen, an einen »lebendigen Christus«38 glaube. Mit explizitem Verweis auf das Johannesevangelium schrieb 36 »Terplju gonenie ›za veru‹ ili vernee za neverie«. Ebd. 14. 37 »Vsjakaja religija možet služit’ tol’ko odnomu delu mraka, delu rabstva, delu soprotivlenija obnovleniju obščestvennych otnošenij.« Ebd. 16. 38 »Więc nie gniewaj się na mnie za wiarę moją, w niej na nienawiść ku ludziom nie ma miejsca bom ja znienawidził bogactwa żem pokochał ludzi, bo widzę i czuję wszystkiemi strunami duszy swej, że nie Chrystus dziś jest Bogiem dla ludzi lecz mamona, złoty cielec, który przekształcił dusze ludzkie w bydlęce, który pozostawił imię i szatę tylko Chrystusa – lecz Chrystusa żywego, Chrystusa – miłośći wypędził z serc ludzkich.« RGASPI f. 76, o. 4, d. 33, l. 34.

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er, dass Gott Liebe sei und sich sein »lebendiger« Gott nicht in den Heiligenstatuen, sondern im Herzen wohne.39 Obwohl der Hinweis auf die Heiligenstatuen Aldona sicherlich stutzig gemacht haben musste, ging für sie eine lange gehegte Hoffnung in Erfüllung: Der »verirrte« Bruder schien zum katholischen Glauben zurückgefunden zu haben. Diese Interpretation ging Dzierżyński jedoch entschieden zu weit. Seine Absicht bestand offenbar darin, in einer der Schwester verständlichen Sprache auf die Gemeinsamkeiten ihrer ansonsten unterschiedlichen Weltanschauungen zu verweisen und somit ihr familiäres Verhältnis zu stabilisieren. Dabei konnte und wollte er jedoch nicht seine eigene Integrität aufs Spiel setzen. Vehement protestierte er dagegen, als »verlorenes Schaf« bezeichnet zu werden, das zurück zum Katholizismus gefunden habe: Er sei kein Katholik, sondern nur ein »Christ«, der an die »Lehre Christi« glaube. In der Hoffnung, die Schwester für diese Sichtweise gewinnen zu können, verwies er auf eine direkte Abhängigkeit zwischen sozialistischen Gerechtigkeitsvorstellungen und der Tugend der Selbstaufopferung im Evangelium.40 Dabei verwendete er die paulinische Entgegensetzung von totem Buchstaben und lebendigem Geist (2 Kor 3,6), um den Katholizismus in die Sphäre des »Toten« und eine sozialistisch zu interpretierende soziale Botschaft des Christentums in den Bereich des »Lebendigen« zu rücken.41 Nachdem diese Strategie nicht aufging und Aldona weiterhin ihren Bruder zum Katholizismus zu bekehren versuchte, änderte Dzierżyński seine Taktik der subtilen Andeutungen und wurde deutlicher: Seine Interpretation der Evangelien sei die einzig richtige, der Gott, den in seiner Kindheit die katholischen Priester gepredigt hätten, sei jedoch gar nicht Christus gewesen, sondern

39 »[…] I poznałem Go, lecz nie martwego, a żywego, nie w obrazach i kamieniach a w sercu swym, bo Bóg to miłość, jak apostoł Jan mówi, nie w słowach, nie na składaniu rąk itp. polegać musi ta wiara, a na uczynkach.« Ebd. 40 »Sądzicie, że stałem się znowu katolikiem. Nie! Nim ja nie jestem! Ja jestem tylko chrześcijaninem, ja wierzę tylko w naukę Chrystusa, w Jego Ewangelię, w miłość Jego niezmierzoną ku ludziom nieszczęśliwym. Ja wierzę, że On pozostawił dla zbawienia nas wszystkich swą naukę, zapieczętowaną tak haniebną śmiercią, że On mieszka tylko w sercach naszych, w sercach tych, co przykazania Jego wypełniają, a nie w gmachach, obrazach, żelazie, drzewie, że On jest żywym dla dobrych, a martwym dla złych, że Jego chwalić można tylko w czynach, prawdzie i duchu, że Jego wyznawcą być można dziś tylko będąc prześladowanym za miłość ku swym bliźnim i oddając za nich i za siebie zarazem swą duszę i ciało; ja wierzę, że Bóg Chrystus – to Miłość. Innego Boga oprócz Niego nie mam.« Ebd. 50. Innerhalb der polnischen Sozialdemokratie war Dzierżyński mit der alten Gegenüberstellung des »wahren« und »verdorbenen« Christentums bei weitem kein Einzelfall. Siehe zum Beispiel Luxemburg, Rosa: Des Erlösers Geburt. In: Laschitza, Annelies / Müller, Eckhard (Hg.): Rosa Luxemburg. Gesammelte Werke. Bd. 6. Berlin 2014, 845–850. 41 »Ja nie chcę myśleć, aby słowo Chrystus, słowo składające się z 8 liter: C, h, r, y, s, t, u, s, było droższym dla was niż sam żywy i umęczony Chrystus, nauka Jego, przykazania, miłość!« RGASPI f. 76, o. 4, d. 33, l. 51.

212  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre nur dessen »Kleid (suknia)«42. Da beide von ihren Positionen nicht abrücken wollten, einigten sie sich auf Dzierżyńskis Vorschlag, Religion nicht weiter zu thematisieren. Von einer vergleichbaren Spannung war das Verhältnis des Terroristen Egor Sozonov, des Mörders von Innenminister Pleve, zu seinen religiösen Eltern geprägt. Spätestens nach seiner Verurteilung zur »ewigen Zwangsarbeit« (30. November 1904) lag Sozonov fiel daran, seine Eltern43 zu beruhigen und den Kontakt zu ihnen nicht abreißen zu lassen. Im ersten Brief Sozonovs an die Eltern spielte das Verhältnis von Religion, Atheismus und Sozialismus noch keine explizite Rolle. Dies änderte sich jedoch bereits im zweiten Brief, nachdem die Eltern bittere Vorwürfe gegen ihren Sohn erhoben hatten. Egor antwortete darauf, dass er zwar die »größte Sünde, zu der ein Mensch fähig ist«44, begangen habe, doch habe er nur deshalb so gehandelt, weil sein »Gewissen«, seine »Religion«, sein »Evangelium«, sein »Gott« es von ihm verlangt hätten.45 Heute seien es die Sozialisten, welche die »Sache Christi (delo Christa)« fortführen und »brüderliche Liebe (bratskuju ljubov’)« predigen. Es könne zwar wahr sein, dass Christus selbst nicht getötet, sondern seinen Feinden verziehen habe, aber 42 Ebd. 57. 43 In jungen Jahren war Sozonovs christlicher Glaube, wie die Briefe aus seiner vorsozialistischen Gymnasialzeit und die Briefe aus der Haft nahelegen, stark ausgeprägt. Egor war ein Kirchengänger und feierte nicht nur die traditionellen orthodoxen Feste, sondern auch die im Religiösen verankerten, monarchischen Feiertage, wie etwa den Tag der Thronbesteigung Nikolaus’ II . Er las seiner leseunkundigen, religiösen Mutter regelmäßig aus der Heiligen Schrift vor. Später träumte Sozonov davon, eine Art kirchlicher Reformator zu werden. Auch sein Vater, ein altgläubiger Händler, wird in der Forschungsliteratur als ein zutiefst religiöser Mensch mit monarchistischen Überzeugungen charakterisiert. Nach seiner Gymnasialzeit nahm Sozonov gegen den ausdrücklichen Willen des Vaters ein Medizinstudium auf. Siehe Ėto ja vinovat… 26–29. Mit den Universitätsjahren war auch Sozonovs Abkehr vom traditionellen Christentum verbunden. Zur gleichen Zeit wurde er in der Studentenbewegung aktiv. Er kam für kurze Zeit in Haft, wurde aus der Universität ausgeschlossen, zu seinen Eltern nach Ufa verbannt und wieder verhaftet, diesmal wegen der Aufbewahrung illegaler Literatur. Nach seiner Freilassung wurde er endgültig zum Sozialisten. Seine »Feste der Wahrheit« (ebd. 33) lag nunmehr in der Revolution. Nach einer erneuten Verhaftung, der Verbannung nach Jakutien und einer erfolgreichen Flucht nach Westeuropa im August 1903 und der illegalen Einreise nach Zentralrussland wurde der junge Revolutionär Mitglied der neugegründeten Kampforganisation der Partei der Sozialrevolutionäre. Gorodnickij, Roman: Egor Sozonov. Mirovozzrenie i psichologija ėsera-terrorista. In: Otečestvennaja istorija 5 (1995) 168–174, hier 168–169. 44 »Ja soveršil veličajšij grech, vozmožnyj dlja čeloveka, dva ubijstva, zapjatnal sebja krov’ju; ›čestnye ljudi‹ prigovorom suda naveki pokryli pozorom, osudili kak ubijcu i vraga obščestva… i ves’ ėtot pozor svalilsja na vašu nepovinnuju golovu.« Pis’ma Egora Sozonova k rodnym (1895–1910). Moskau 1925, 84. 45 »Ved’ potomu-to ja soveršil delo, čto ja čuvstvoval, čto moja sovest’, moja religija, moë evangelie, moj bog – trebovali ėtogo ot menja. Mog li ja oslušat’sja?.. Da, rodnye moi, moi revoljucionnye i socialističeskie verovanija slilis’ voedino s moeju religieju…« Ebd.

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das Gebot »Du sollst nicht töten« gelte nicht uneingeschränkt. Genauso wie der Soldat fürs Vaterland tötet und stirbt, kämpfen die Revolutionäre für die Sache das Volkes, lassen ihr Leben für ihre Freunde (Anspielung auf Joh 15,13) und sterben am Galgen wie Christus am Kreuz.46 Schließlich bat Sozonov seine Eltern, für die toten Terroristen Balmašev und Kaljaev sowie für die »Volkssache«47 zu beten. Anders als Aldona Bułhak protestierten die Eltern offenbar nicht gegen eine solche Interpretation, denn von nun an nahmen die Bemühungen Sozonovs, auf Gemeinsamkeiten zwischen dem Christentum und dem Sozialismus und auf seine eigene revolutionäre »Religiosität« hinzuweisen, einen beinahe systematischen Charakter an. Mal präsentierte er sich als »Märtyrer«, um den man nicht trauern solle, mal tröstete oder ermutigte er die Eltern mit Verweis auf Bibelpassagen, mal präsentierte er sich als gottesgläubigen und praktizierenden Christen, mal griff er auf religiöse Argumente im Streit mit dem Vater zurück.48 So hielt der Briefkontakt über Jahre hinweg. Ende 1910 geschah jedoch eine für die Eltern unerwartete Katastrophe: Egor Sozonov beschloss sich das Leben zu nehmen.49 Ein großer Teil seines an die Mutter gerichteten Abschiedsbriefes war der Begründung des Selbstmordes gewidmet. Dabei versuchte Egor die gängigen Argumente zu widerlegen, die gegen den Suizid oft hervorgebracht wurden. Er behauptete, dass sein Tod kein Versuch sei, vor den Leiden des Lebens zu flüchten und er aus Rücksicht auf seine Genossen und nicht etwa aus Egoismus und Selbstüberheblichkeit handeln müsse. Am Schluss des Briefes zitierte 46 Ebd. 84–85. 47 »Vsegda pomnite o nich, molites’ o nich i o narodnom dele, a obo mne ne gorjujte.« Ebd. 86. 48 Ebd. 87, 91, 97, 109, 121, 125, 132, 135, 221, 298. 304. 49 Nachdem in Zarentujsk die körperliche »Züchtigung« von Gefangenen eingeführt worden war, stieg die Zahl der Selbstmorde an. Sozonov deklarierte seinen Selbstmord als einen Protest gegen das Gefängnisregime. Dadurch sollten Aufmerksamkeit auf die Situation in Zarentujsk gezogen und weitere Selbstmorde verhindert werden. Hinter dem »heroischen« Selbstmord verbargen sich aber sehr oft komplexe persönliche Leidensgeschichten. Gorodnickij, der sich intensiv mit der Figur des Terroristen beschäftigt hat, gibt mehrere solcher Gründe für den Selbstmord an: Sozonov begann die politischen Entscheidungen des ZK immer mehr in Frage zu stellen, hinzu kam der Tod des von ihm zutiefst verehrten Geršuni und die für die Partei desaströsen Folgen der Azef-Affäre. Nach der Lektüre von Savinkovs Kon’ blednyj begann er sich noch intensiver mit dem moralischen Dilemma des Terrorismus zu beschäftigen und sich immer weiter von der politischen Linie der Partei zu distanzieren. Auch an dem Verflachen des revolutionären Terrors, seinem immer depressiver werdenden Gemütszustand, den massiven Selbstzweifeln, der immer wieder artikulierten Angst vor dem Leben nach der katorga (Sozonovs Fall unterlag der Amnestie von 1905) sowie der Distanzierung von seiner Verlobten, der Sozialrevolutionärin Marija Prokof’eva, soll er stark gelitten haben. Gorodnickij: Egor Sozonov 170–173. Ausführlich zum Problem der »Sakralisierung« des politischen Selbstmordes bei Morrissey, Susan: Suicide and the Body Politic in Imperial Russia. Cambridge u. a. 2006, 273–311. Zu Egor Sozonov siehe ebd. 289.

214  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Sozonov einen Gesang, der in der orthodoxen Praxis des Totengedenkens oft Verwendung findet, etwa im Totenkanon: »Mit dem Glauben an eure grenzenlose Liebe und daran, dass ihr mich niemals verlassen werdet, gehe ich in jene Welt über, wo kein Leid und kein Seufzen ist.«50 Die nachfolgenden Worte, die die Hoffnung auf das ewige, unendliche Leben zum Ausdruck bringen, ließ er weg. Sozonov ließ seine Eltern wahrscheinlich bewusst im Unklaren darüber, ob ihr Sohn ihren Glauben an einen transzendenten, christlichen Gott geteilt habe oder sein »Gott« ein rein diesweltlicher gewesen war. Die hier untersuchten Beispiele zeigen, dass die Religiosität der eigenen Familienmitglieder und in diesem Kontext das Verhältnis von Sozialismus und Christentum zum Gegenstand der Reflexion werden konnten. Die Bewertung konnte dabei sowohl negativ wie auch partiell positiv ausfallen: Im letzteren Fall wurde auf das »revolutionäre Potenzial« eines aus sozialistischen Positionen heraus interpretierten Christentums verwiesen. Dieser Verweis konnte Teil einer kommunikativen Strategie sein, die die Aufrechterhaltung und Verbesserung familiärer Beziehungen zum Ziel hatte. Unabhängig von den jeweiligen Intentionen der politischen Akteure kann jedoch von langfristigen Abhängigkeiten gesprochen werden, insofern man bedenkt, dass das Denken der Revolutionäre sich teilweise an religiösen Mustern orientierte.51

6.2 Die »zweite terroristische Welle« (1902–1911) Die Rückkehr des Terrors Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Russländische Reich von einer zweiten »Terrorwelle« erfasst, die Tausende Todesopfer forderte. Einen entscheidenden Beitrag zu dieser Situation leistete die »Kampforganisation der Partei der Sozialrevolutionäre (BO PSR)«. Der Grund dafür lag weniger in der Zahl der von ihren Mitgliedern ausgeführten Terrorakte oder der offen terroristischen Ausrichtung der PSR : Nur 5 Prozent aller Terrorakte im frühen 20. Jahrhundert gingen auf das Konto der Kampforganisation, wobei die Zahl der Sozialrevolutionäre, die direkt oder indirekt am zentralen oder dezentralen Terror beteiligt gewesen war, zwischen 1,5 und 2 Prozent gelegen haben dürfte.52 Durch die Ermordung ranghoher Beamter, allen voran Vjačeslav Pleves und Sergej Romanovs, konnte die PSR in der radikalen Vorstellungswelt aber dennoch den 50 »S veroju v vašu bezgraničnuju ljubov’ i v to, čto vy nikogda ne pokinite menja, perejdu v tot mir, gde net ni pečali, ni vozdychanija.« Ėto ja vinovat 510 [Hervorhebung d. Verf.]. 51 So auch im Falle von Egor Sozonov, für den das Konzept der »Sünde« offensichtlich eine zentrale Bedeutung hatte. An Boris Savinkov schrieb er etwa, dass er ständig im »Bewusstsein der Sünde (Soznanie grecha)« lebe. Zit. n. Gorodnickij: Egor Sozonov 170. 52 Leonov: Partija socialistov-revoljucionerov 400–401; Gorodnickij: Boevaja organizacija 13.

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Platz einnehmen, der seit der Auflösung der Narodnaja volja vakant gewesen war. In der dramatischen Situation der Jahre 1905–1907, als breite Kreise der Bevölkerung mit den Revolutionären sympathisierten und sie unterstützten53 und auch die westeuropäische Presse durchaus Sympathien für die Terroristen zeigte,54 wirkte die fast schon »mythische« Aura des sogenannten individuellen (gegen einzelne Individuen gerichteten) Terrors als einer der Katalysatoren der entfesselten Gewalt. Schon gegen Ende der Herrschaft Alexanders III . führte die ökonomische und epidemische Krise von 1891/92 zu einem erneuten Erstarken oppositioneller Tendenzen. Unter der Herrschaft Nikolaus’ II . nahmen diese weiter zu. Grund dafür waren die signifikanten Veränderungen im Russländischen Reich: Der durch die Industrialisierung voranschreitende soziale Wandel machte die ständische Ordnung überflüssiger denn je, da ein immer größerer Prozentsatz der Bevölkerung keine Möglichkeit hatte, seine Interessen zu artikulieren und durchzusetzen.55 Hinzu kam die weite Ausstrahlung der Kultur des russischen »Silbernen Zeitalters« (1890er-1920er Jahre)  mit ihrer Betonung individueller Autonomie und künstlerischer und sexueller Freiheiten.56 Die Inkompatibilität dieser moralischen Ideale mit der bestehenden Ordnung verstärkte die ästhetisch-apokalyptischen Zukunftserwartungen der Intelligenzija und brachte der Revolutionsbewegung Sympathisanten aus künstlerischen Kreisen.57 Als ein Indikator für das weit verbreitete Gefühl, dass die Autokratie einen Anachronismus darstelle, kann sicherlich die Reaktion weiter Teile der »obščestvennost’« auf das harte Vorgehen der Regierung gegen die im Jahr 1900 erneut aufgeflammten Studentenunruhen bezeichnet werden. Im Januar 1901 wurden 183 Studenten zum Militärdienst abkommandiert.58 Daraufhin erschoss der 53 Siehe dazu zum Beispiel Mogil’ner: Mifologija 149–153. 54 Lutz Häfner stellt diesbezüglich fest, dass die westeuropäische Presse zwar den Mord als solchen übereinstimmend ablehnte und die Terroristen als Verbrecher bezeichnete, ihnen jedoch »ethische Prinzipien und ehrenwerte Motive« attestierte, »weil sie aus Rache und Verzweiflung als ›Vorkämpfer menschenwürdiger Zustände‹« gehandelt hätten. Häfner, Lutz: Russland als Geburtsland des modernen ›Terrorismus‹? Oder: ›Das classische Land des politischen Attentats‹. In: Requate, Jörg / Weinhauer, Klaus: Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main, New York 2012, 96. 55 Hildermeier, Manfred: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. München 2013, 963 ff. 56 Letztere konnten durchaus eine Provokation für eine, auf ein zentrales Hypergut hin ausgerichtete, politische Bewegung darstellen. Die Kultur des Silbernen Zeitalters übte nichtdestotrotz eine große Faszination auf junge Sozialisten aus. Siehe Stites: Liberation Movement 177. 57 Siehe dazu Rosenthal, Bernice Glatzer: Eschatology and the Appeal of Revolution. Merezhkovsky, Bely, Blok. In: California Slavic Studies 11 (1980) 105–139. 58 Am 8. Februar 1899, dem Tag der St. Petersburger Universität, störten Studenten die Rede ihres ungeliebten Rektors und verließen in mehreren Gruppen das Gebäude. Als auf der

216  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre ehemalige Student Pëtr Karpovič den Bildungsminister Bogolepov. Karpovič gehörte keiner revolutionären Organisation an, seine Motive entsprangen keiner konkreten Ideologie, sondern einer Diskrepanz zwischen den eigenen Wünschen und Erwartungen und der Erfahrung staatlicher Willkür.59 Trotz der Ermordung Bogolepovs war die Empörung gegen die Zwangsrekrutierung in weiten Teilen der Gesellschaft so groß, dass diese Maßnahme schon im Sommer zurückgenommen wurde. In den radikalen Kreisen wurde das Attentat enthusiastisch begrüßt. Selbst viele Marxisten sahen darin ein positives Zeichen. Niemand geringerer als Vera Zasulič feierte den »Schuss von Karpovič, der sich aufopferte, um seine Genossen zu rächen«60. Mit der Ermordung Bogolepovs schien sich die Situation von 1878/79 zu wiederholen. Tatsächlich förderte die Ermordung des Ministers die Entstehung und Institutionalisierung einer zentralen terroristischen Kampforganisation, da Fusionierungstendenzen innerhalb der neopopulistischen Sammlung (neonarodničestvo) bereits weit fortgeschritten waren.61 Ziel des ersten terroristischen Anschlags war es, die Fähigkeiten der neuen Organisation bei der Erfüllung komplexer Aufgaben unter Beweis zu stellen. Der Anschlag gelang: Am 2. April 1902 erschoss der zwanzigjährige ehemalige Student Stepan Balmašev den Innenminister Sipjagin.62 Balmašev wurde bereits

Rumjancevskaja ploščad’ zwei berittene Polizisten den Versuch unternahmen, eine größere Studentenmenge auseinanderzujagen, aber selbst eingeschlossen wurden, stürmten weitere, mit Peitschen bewaffnete Polizisten die Menschenmenge. Studenten und Passanten wurden leicht verletzt. Dieser Zwischenfall bildete den Auftakt zu massiven Studentenunruhen zunächst im Zentrum und dann in den Provinzen, die mit Forderungen nach der Achtung elementarer Rechte der Studenten begannen und – trotz eines eher ambivalenten Verhältnisses der Studentenbewegung zu den revolutionären Organisationen – mit der Radikalisierung von großen Teilen der Studentenschaft endeten. Kassow, Samuel: Students, Professors, and the State in Tsarist Russia. Berkeley 1989, 88–119. 59 Morrissey: Heralds of Revolution 36–37. 60 Rindlisbacher: Leben für die Sache 234. 61 Budnickij: Terrorizm 130–133. 62 Im Jahr 1902 brach im Süden des Landes eine Streikwelle aus, die mit der Plünderung von Kornspeichern der Gutsbesitzer einherging. Mitten in dieser angespannten Situation rief die Spitze der PSR eine Iniciativnaja gruppa (Initiativgruppe) ins Leben, die unter der Führung von Geršuni und mit Unterstützung der einflussreichen Veteranin der Bewegung, Breško-Breškovskaja, und des Parteifunktionärs Pavel Kraft einen ersten größeren Terrorakt vorbereiten sollte. Die Kampforganisation war finanziell und technisch-logistisch autonom, ihre Tätigkeit wurde aber von ZK-Mitgliedern, allen voran Geršuni geleitet. Am 2. April 1902 betrat ein als Adjutant gekleideter junger Mann das Gebäude des Ministerkomitees im Mariinskij-Schloss und wartete auf das Eintreffen des Innenministers Sipjagin. Als dieser schließlich den Raum betrat, näherte Balmašev sich ihm unter dem Vorwand, wichtige Dokumente vom Großfürsten Sergej Aleksandrovič übergeben zu müssen. Doch anstelle des Pakets zog er einen Revolver mit vergifteten Patronen hervor und erschoss den Minister. Gorodnickij: Boevaja organizacija 28–30, 55–60.

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Abb. 4: Das »revolutionäre Martyrium« in der Imagination des Silbernen Zeitalters. Aus Burcev, Vladimir (Hg.): Kalendar’ russkoj revoljucii. Petrograd 1917, 283. Der Kalender war eine Kooperation zwischen professionellen Revolutionären, bekannten Schriftstellern sowie Künstlern aus dem Umfeld des Mir iskusstva.

als Kind von seinem Vater, dem Revolutionär Valerian Balmašev, im sozialistischen Geist erzogen. Dank Bekanntschaften aus dem sozialrevolutionären Umfeld kam er in Kontakt mit ranghohen Repräsentanten der PSR .63 Als Balmašev in die »Hände Geršunis« geriet, wie es in einer linkssozialrevolutionären Propagandaschrift aus dem Jahre 1918 hieß, soll er »nach einigen Monaten der entsprechenden Bearbeitung durch den Letzten für jedweden möglichen poli-

63 Ebd. 40–41.

218  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre tischen Mord vorbereitet«64 gewesen sein. Auch die gegnerische Seite charakterisierte Geršuni auf ähnliche Weise. Spiridoivič, der 1902 die Ochranka-Filiale von Simferopol leitete, schrieb beispielsweise über Geršunis »verblüffender Begabung, der unerfahrenen, leicht zu begeisternden Jugend Herr zu werden«65. Allerdings scheint es weniger Geršunis »hypnotischer Blick«66 gewesen sein, der es ihm erlaubte, mit solchem Erfolg junge Terroristen anzuwerben, als vielmehr sein Vermögen, aus den Wertvorstellungen junger Radikaler, ihrer Begeisterung für revolutionäre Helden- und Märtyrernarrative und dem daraus erwachsenden Wunsch nach Selbstaufopferung rücksichtslos politisches Kapital zu schlagen. Seinem ehemaligen engen Mitstreiter und späteren Gegner Mel’nikov zufolge wirkte der Leiter der Kampforganisation auf junge Radikale ein, »indem er mit ihrem Selbstaufopferungsgefühl spielte, ihrer permanenten Bereitschaft, das Leben für die Idee zu geben. Dieses Gefühl versuchte er zu nähren und zu stärken […]. Dabei war er auch nicht abgeneigt, andere Gefühle wie Selbstsucht und Ruhmessucht zu berühren, wenn sie ihm als zielführend erschienen.«67

Geršuni selbst war wohl eher ein Pragmatiker als ein Fanatiker des Terrorismus. Er zögerte nicht, seine Zöglinge in den Tod zu schicken, unternahm aber alle möglichen Schritte, um sein persönliches Wohlergehen zu sichern;68 dies beinhaltete sogar das Verfassen eines Gnadengesuchs, ein Schritt, den ihm viele seiner Genossen nicht verzeihen konnten.69 Balmašev hingegen passte sehr gut ins tradierte Bild des sich selbst aufopfernden und kompromisslosen Revolutionärs. Trotz zahlreicher Bitten seitens hoher Beamter, ein Gnadengesuch zu unterschreiben, blieb er bis zum Ende stur. Wie schon der Großteil der narodovol’cy verweigerte er die Beichte. Den Gefängnispriester bezeichnete er jedoch demonstrativ als Heuchler, mit welchen er keinen 64 »Popav v ruki Geršuni, on uže čerez neskol’ko mesjacev sootvetstvujuščej obrabotki posledim byl podgotovlen na kakoe ugodno političeskoe ubijstvo.« Boevye predprijatija socialistov-revoljucionerov v  osveščenii ochranki. Moskau 1918, 7. Diese Beschreibung war durchaus positiv gemeint. 65 »Ubeždënnyj terrorist, umnyj, chitryj, s železnoj volej, on obladal udivitel’noj sposobnost’ju ovladevat’ toju neopytnoju, legko uvlekajuščejsja molodëž’ju, kotoraja, popadaja v revoljucionnyj krugovorot, stalkivalas’ s nim.« Spiridovič, Aleksandr: Revoljucionnoe dviženie v Rossii. Bd. 2. Partija Socialistov-revoljucionerov i eë predšestvenniki. Petrograd 1916, 123. 66 »Ego gipnotizirujuščij vzgljad i osobo ubeditel’naja reč’ pokorjali emu sobesednikov i delali iz nich ego gorjačich poklonnikov.« Ebd. 67 »[…] vlijal na boevikov, igraja na ich žertvinnom čuvstve, vsegdašnej gotovnosti otdat’ žizn’ za ideju. Ėto čuvstvo on staralsja podogrevat’ i usilivat’ ne magnitizmom, izlučaemym iz glaz, a putëm razgovorov. Pričëm ne proč’ byl zatragivat’ i drugie čuvstva, vrode samoljubija, žaždy šuma i slavy, esli oni kazalis’ emu veduščimi k celi.« Hier zit. n. Gorodnickij: ­Boevaja organizacija, 78. 68 Ebd. 73–84. 69 Geifman: Thou shalt kill 52.

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Umgang pflege.70 Am 3. Mai 1902 wurde der Terrorist in der Schlüsselburgfestung gehängt. Die sozialrevolutionäre Untergrundpresse feierte Balmašev als Helden, der zwar gestorben sei, aber »ewig in den Herzen der Revolutionäre« leben werde: »Viele Menschen leben in Russland«, hieß es in einem Flugblatt des Saratover Komitees der PSR , »die bereit sind, ihre Köpfe für die Freiheit und das Glück des Volkes herzugeben.«71 Nicht minder drastisch äußerten sich die Verfasser einer Proklamation, die die Behörden im Dorf Zlotorëvka (Penzenskaja gubernija) beschlagnahmten. Diese feierte den Tod des »Volksfeindes« Sipjagins und prophezeite, wie es einst Stepnjak-Kravčinskij in seiner Broschüre »Tod um Tod« getan hatte, das Erstarken der terroristischen Bewegung. Neue »Volksrächer«, so hieß es, werden für die Gedemütigten und Entrechteten eintreten: »Das Beispiel Balmaševs beseelte Viele. Blut werden wir mit Blut rächen.«72 Einer der zentralen Gründe für die Spannungen zwischen dem Staat und der »obščestvennost’« lag also in der Inkompatibilität zwischen dem bereits weit verbreiteten Wunsch, das eigene Leben selbstbestimmt zu führen, und den als Zumutung empfundenen Eingriffen des Staates in das Leben des Individuums. Obwohl diese Spannung in Einzelfällen durchaus zu gewaltsamen Reaktionen führen konnte, wie das Beispiel Karpovičs zeigt, mussten erst alte Muster erfolgreich reaktiviert werden, um den seit 1881 nie abgebrochenen terroristischen Diskurs erneut in Praktiken übersetzen zu können. Religiös imprägnierte Zukunftsvorstellungen, die Tugend des Sich-Opferns und die damit verbundenen Helden- und Martyriumsnarrative sowie das Vorhandensein einer breiten Rezipientenschicht ermöglichten es, das terroristische Projekt wieder in Angriff zu nehmen. Terror und Sozialdemokratie In der Forschung hat lange die Meinung vorgeherrscht, dass die Sozialdemokratie der Terrorfrage allein schon aus ideologischen Gründen ablehnend gegenübergestanden habe. Diese Sichtweise wurde spätestens mit den Arbeiten Anna Geifmans einer Revision unterzogen. Heute steht fest, dass schon Plechanov ein ambivalentes Verhältnis zum revolutionären Terror hatte. Er überwarf sich 70 Gorodnickij: Boevaja organizacija 42. 71 »Mnogo est’ v Rossii ljudej, gotovych položit’ golovy za svobodu i sčast’e naroda. My znaem, čto / Pridët pora,  – sveršitsja sud narodnyj / i kazn’ pozornaja postignet palačej; / Togda voskresneš’ ty! Pojmët narod svobodnyj / Za čto potušen svet tvoich mladych očej.« GA RF f. 1741, o. 3, d. 1581, l. 1. »Pridët pora« war natürlich eine (eher plumpe) Anspielung auf Puškins K Čaadaevu (»Ljubvi, nadeždy, tichoj slavy…«). 72 »Sipjagin ubit i pust’ smert’ ėtogo vraga naroda napomnit vsem, deržaščim v svoich rukach sud’by Rossii, čto dlja eë bezpravnych i malodušnych synov est’ predel uniženij i gnëta, za kotorym daže samyj robkij vernopoddannyj prevraščaetsja v samootveržennogo borca i mstitelja. […] Primer Balmašëva vooduševil mnogich. Za krov’ my budem mstit’ krov’ju.« GA RF f. 124, o. 11, d. 624, l. 4–5.

220  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre zwar mit den Terroristen auf dem Treffen in Woronesch (»Voronežskij S’’ezd«), zeigte sich aber durchaus beeindruckt, als es den narodovol’cy gelang, den Zaren zu töten. Im Herbst 1883 gab sich die »Befreiung der Arbeit« ein Programm, in dem die »Notwendigkeit des terroristischen Kampfes gegen die absolute Regierung«73 eingestanden wurde. Die Terroristen sollten die Autokratie schwächen, wie Plechanov in einem Artikel schrieb, damit die Arbeiter die Revolution vollbringen könnten. In der zweiten Redaktion des Programms von 1887 war schließlich die Rede davon, dass auch die Arbeiter zu terroristischen Mitteln greifen könnten.74 Virulent wurde die Terrorfrage jedoch mit der Gründung der PSR , die sich binnen kürzester Zeit zu einer mächtigen Konkurrentin entwickelte. Die Sozialdemokraten brachten deshalb viel Energie auf, um das terroristisches Programm der Konkurrenzpartei zu kritisieren.75 Die großen Erfolge des sozialrevolutionären Zentralterrors76 brachten die Sozialdemokratie in ein schwierige Lage, weil sie auf der einen Seite die Ermordung der »Volksfeinde« nicht verurteilen konnte, auf der anderen Seite aber nicht der PSR in die Hände spielen wollte. Nach der Ermordung Sipjagnins behauptete deshalb die Iskra, dass Balmašev kein Sozialrevolutionär gewesen sei, sondern nur ein radikaler Student, der gegen das herrschende Unrecht protestiert habe.77 Nach der Ermordung Pleves, die ein breites Echo in allen Schichten der Bevölkerung hervorrief,78 stimmten schließlich auch die Sozialdemokraten in den jubelnden Chor ein. Diejenigen, die dennoch von der »Amoralität des Mordes« sprachen, bezeichnete Julius Martov in einem Iskra-Artikel als Philister. Als Grund für den Terrorakt nannte er die von Pleve angeordneten »Massenmorde«. Als positives Moment hob er das »Gefühl der moralischen Genugtuung«79 hervor, das der Tod des Ministers dem Proletariat verschafft und somit dessen Selbstbewusstsein gestärkt habe. 73 »Presleduja ėtu cel’ [Aufklärung der Arbeiterklasse, d. Verf.] vsemi zavisjaščimi ot neë sredstvami, gruppa ›Osvoboždenija truda‹ v to že vremja priznaët neobchodimost’ terrorističeskoj bor’by protiv absoljutnogo pravitel’stva i raschoditsja s partiej ›Nar[odnoj] Voli‹ liš’ po voprosam o tak nazyvaemom zachvate vlasti revoljucionnoj partiej i o zadačach neposredstvennoj dejatel’nosti socialistov v srede rabočego klassa.« Programma social-demokratičeskoj gruppy ›Osvoboždenie truda‹. In: Akademija nauk SSSR Institut filosofii (Hg.): G. V. Plechanov. Izbrannye filosofskie proizvedenija. Bd. 1. Moskau 1956, 371–376, hier 375. 74 Budnickij: Terrorizm 265–268. 75 Geifman: Thou Shalt Kill 87–88. 76 Die terroristische Kampagne der Sozialrevolutionäre wurde von den Lokalorganisationen getragen. Im Gegensatz ging der Zentralterror direkt von der Parteispitze aus. Zum schwierigen Verhältnis von BO und ZK siehe Gorodnickij: Boevaja organizacija 110–116. 77 Gorodnickij: Boevaja organizacija 43. 78 Surh, Gerald: 1905 in St. Petersurg. Labor, Society, and Revolution. Stanford 1989, 100; Hildermeier, Manfred: Die Russische Revolution, 1905–1921. Frankfurt am Main 1989, 51. 79 Martov, Julij: Terror i massovoe dviženie. In: Za dva goda. Sbornik statej iz ›Iskry‹. Bd. 1. St. Petersburg 1906, 124–130, hier 124–125.

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Anders als der Menschewik Martov lehnte Lenin den individuellen Terror weitaus entschiedener ab. Diese Einstellung war jedoch den politischen Gegebenheiten geschuldet. Lenin fürchtete das Erstarken der politischen Konkurrenz und versuchte der PSR , die dank der Ermordung Pleves ein ungemein hohes Ansehen genoss, so viel Boden unter den Füßen wegzuziehen wie nur möglich. Den Terror bezeichnete er als eine Waffe der Intelligenzija und nicht der »Volksmassen«. Aus diesem Grunde sei sie im Kampf gegen die Autokratie nutzlos.80 Vielmehr müssen die Marxisten dem Proletariat den »rechten Weg« weisen, seine »Aktivität«, sein »Bewusstsein« und seinen »Organisationsgrad« fördern, ihn für den »entscheidenden Kampf«81 mit den Kapitalisten vorbereiten. Als aktives Kampfmittel schlug Lenin in erster Linie Massendemonstrationen vor. Ähnlich hatte er sich bereits 1902 in seiner Kampfschrift »Warum die Sozialdemokratie den Sozialrevolutionären einen entscheidenden und unerbittlichen Kampf ansagen muss« geäußert.82 Hier bezeichnete er den revolutionären Terror als einen historisch irrelevanten »Zweikampf (edinoborstvom)« zwischen der Intelligenzija und der Regierung. Diese These wurde ihrerseits zum zentralen ideologischen Ausgangspunkt vieler sowjetischer Arbeiten zur Geschichte der Sozialrevolutionären Partei.83 Allerdings war Lenins Einstellung zum Terror weitaus flexibler, als in der sowjetischen Historiographie behauptet wurde. Im Mai 1901 etwa vertrat er die Auffassung, dass der Terror nicht einmal dem Marxismus selbst, sondern nur den politischen Gegebenheiten widerspreche: »Prinzipiell haben wir uns nie vom Terror verabschiedet und können uns nicht von ihm verabschieden,«84 schrieb er im Artikel Womit beginnen. Dabei verglich er – genau wie die neonarodniki – die Revolutionsbewegung mit einer regulären Armee. Im jetzigen Zustand des

80 Lenin, Vladimir: Samoderžavie i proletariat. In: Institut Marksizma-Leninizma pri CK KPSS (Hg.): V. I. Lenin. Polnoe sobranie sočinenij. 5. Ausgabe. Bd. 9. Mokau 1967, 126–136, hier 129–130. 81 »Razumeetsja, reč’ idët zdes’ ne o tom, čtoby ostavit’ povsednevnuju i budničnuju rabotu social-demokratov. Oni ne otkažutsja ot neë nikogda, oni imenno v nej vidjat nasto­ jaščuju podgotovku k  rešitel’nomu boju, ibo oni rassčityvajut vsecelo i isključitel’no na aktivnost’, soznatel’nost’, organizovannost’ proletariata, na ego vlijanie v masse trudjaščichsja i ėkspluatiruemych. Reč’ idët ob ukazanii pravil’nogo puti, ob obraščenii vnimanija na neobchodimost’ idti vperëd, o vrednosti taktičeskich šatanij.« Ebd. 135. 82 Lenin, Vladimir: Počemu social-demokratij dolžna ob’’javit’ rešitel’nuju i bespoščadnuju bor’bu socialistam-revoljucioneram. In: Institut Marksizma-Leninizma pri CK KPSS (Hg.): V. I. Lenin. Polnoe sobranie sočinenij. 5. Ausgabe. Bd. 6. Mokau 1967, 372–376. 83 Gorodnickij: Boevaja organizacija 8. 84 »Principial’no my nikogda ne otkazyvalis’ i ne možem otkazat’sja ot terrora. Ėto – odno iz voennych dejstvij, kotoroe možet byt’ vpolne prigodno i daže neobchodimo v  izvestnyj moment sraženija, pri izvestnom sostojanii vojsk i pri izvestnych uslovijach.« Lenin, Vladimir: S čego načat’. In: Institut Marksizma-Leninizma pri CK KPSS (Hg.): V. I. Lenin. Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 5. Mokau 1967, 1–13, hier 7.

222  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Krieges gegen die Regierung, so Lenin weiter, verbrauche der individuelle Terror nur die Kräfte der revolutionären Armee, seine Zeit sei noch nicht gekommen. Mit den Terroristen solidarisierten sich bei allen ideologischen Einschränkungen auch westeuropäische Sozialdemokraten. Im »Vorwärts«, in der »Arbeiter-Zeitung« und dem »Avanti« fand die Kampforganisation der PSR Worte der Anerkennung.85 Es ist also nicht verwunderlich, dass sowohl die Menschewiken als auch die Bolschewiken am 1905 entfesseltem Massenterror partizipierten, wobei ihre Terroristen zum Teil eine noch größere Grausamkeit an den Tag legten als die Sozialrevolutionäre. Bolschewistische Terroristen ermordeten Gefängniswärter, Polizisten, vermeintliche oder wahre Spione sowie Unbeteiligte, die das Pech hatten, sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufzuhalten.86 Beim sozialdemokratischen Terrorismus sticht jedoch eine Besonderheit ins Auge. Er war im größeren Maße dezentral und entbehrte dadurch einer operativen Infrastruktur, mit deren Hilfe die politischen Morde hätten kapitalisiert werden können. Hinzu kam die ambivalente Bewertung des individuellen Terrors. Beides führte schließlich dazu, dass um den sozialdemokratischen Terrorismus kein Märtyrerkult entstehen konnte, der auch nur im Ansatz mit dem sozialrevolutionären vergleichbar gewesen wäre. Einzelne Versuche, das »Selbstmythisierungsprogramm« des narodničestvo für die »Sache« der Sozialdemokratie arbeiten zu lassen, wurden zwar schon früh unternommen, fanden jedoch keine systematische Umsetzung. So schrieb beispielsweise der Sozialdemokrat Ivan Babuškin in seiner Broschüre »Was ist ein Staatsverbrecher, ein Revolutionäre und Sozialist« (1899), dass die alten narodniki und narodovol’cy »Helden und Märtyrer für das Volksglück (geroi i mučeniki za narodnoe sčast’e)«87 seien. Menschen wie Perovskaja und Željabov hätten sich von ihren reichen Familien losgesagt, um dem »Volk« zu dienen. Babuškin forderte die Arbeiter dazu auf, ihrem Andenken die Treue zu halten, ohne jedoch ihre politischen Fehler zu begehen.88 Einen vergleichbaren Versuch, an den »Mythos« der narodnaja volja anzuknüpfen, unternahm Jurij Steklov in seiner 1901 erschienenen Broschüre Pamjati Narodnoj voli (Dem Andenken der Narodnaja volja). Hier forderte er die Arbeiter dazu auf, sich an ihre »Vorgänger« zu erinnern, die ihr Leben für das »Arbeitervolk« gelassen hätten. Am Jahrestag des Ersten März »müssen wir, die russischen Sozialdemokraten, uns erinnern an diese Heiligen, unsere Heiligen [hervorgehoben im Original, d. Verf.]«89. Die Sozialdemokraten würden die historische Verantwortung 85 Budnickij: Terrorizm 151–152. 86 Geifman: Thou Shalt Kill 84–122. 87 Ivan Babuškin. Rabočij-bol’ševik. St. Petersburg 2010, 145. 88 Ebd. 145–146. 89 »V ėtot pamjatnyj den’ russkie rabočie dolžny pomjanut’ dobrym slovom svoich predšestvennikov, ljudej, kotorye dušu svoju položili za rabočij narod; v  ėtu pamjatnuju godovščinu my, russkie social-demokraty, dolžny vspomnit’ ob ėtich svjatych, NAŠICH

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für die Terrorakte der narodovol’cy voll übernehmen und sich als stolze Erben ihrer »Sache« begreifen. Nach der Konsolidierung der neopopulistischen Sammlung (1901–1902) wurde die Verklärung des Terrorismus mit Hilfe des Rückgriffs auf religiöse Semantiken eine Prärogative der neonarodniki. Zur Zeit des revolutionären Massen­ terrors riefen sozialdemokratische Proklamationen zwar dazu auf, die Feinde der Revolution erbarmungslos zu töten und die Opfer der Autokratie zu rächen,90 und sprachen auch in offiziellen Dokumenten immer wieder mal von den in den Gefängnissen verharrenden »Märtyrern«91. Doch erst in der sogenannten Organisation der Massen, welche die Sozialdemokraten als ihre eigentliche Kern­disziplin betrachteten, spielten religiöse Semantiken eine größere Rolle. Im Gegensatz zu den Sozialrevolutionären, die einen Martyriumsdiskurs pflegten, der in hohem Maße innerhalb der revolutionären Subkultur selbst wirksam wurde, bemühten sich die Sozialdemokraten in erster Linie darum, das religiöse Gefühl der Bauern und Arbeiter anzusprechen. Dabei griffen die revolutionären Intelligenzler auch auf solche religiöse Konzepte zurück, die im moralischen Denken keinen Platz hatten. So verfasste etwa die finnische sozialdemokratische Militärorganisation nach der Niederschlagung der Sveaborg-Meuterei92 im Juli 1906 eine Reihe von Proklamationen, deren Ziel es war, die Leser von der Notwendigkeit zu überzeugen, die RSDRP zu unterstützen. Die Soldaten, die für die Erschießung ihrer »Brüder« verantwortlich gemacht wurden, sollten demnach »Buße« tun, solange noch Zeit dazu sei: »Und du Soldat? Du, der seine ehrlichen Hände mit dem Blut deiner Brüder besudelt hast, du, dem die Feinde des Volkes ihren Dank für deine ›verwegene Großtat‹ bringen werden, warum jubelst du nicht? Nagen etwa die Leichen der Brüder an deinem mit SVJATYCH .« Steklov, Jurij: Borcy za socializm. Očerki iz istorii obščestvennych i revolju-

cionnych dviženij v  Rossii. Bd. 2. Moskau, Leningrad 1924, 74. »dušu svoju položili« war natürlich eine Anspielung auf Joh 15,13. 90 So zum Beispiel eine Proklamation aus dem Jahre 1905: »Graždane! Včera vy videli zverstva samoderžavnogo pravitel’stva!.. Videli sotni ubitych borcov za rabočee delo… Oni – ubijcy, smert’ im! K oružiju, tovarišči!« Zit. n. Pozner, S.: Dejatel’nost’ pervoj Boevoj organizacii bol’ševikov v 1905–1907 gg. In: Ders. (Hg.): Pervaja boevaja organizacija bol’ševikov 1905–1907. Moskau 1934, 11–34, hier 12. Sozialdemokratische Terroristen bemühten sich in der Regel wenig um um eine »theoretische Fundierung« des Terrors. Rache war das am weitesten verbreitete und oftmals das einzige artikulierte Motiv. Siehe Geifman: Thou Shalt Kill 100, 103, 109. 91 So beispielsweise in der gemeinsamen Proklamation der trudoviki und der sozialdemokratischen Fraktion der Duma. Proklamacija trudovikov i social-demokratičeskoj frakcii Gosudarstvennoj Dumy po povodu rospuska Dumy. In: Pokrovskij, Michail (Hg.): 1905. Materialy i dokumenty. Moskau, Leningrad 1927, 82–83, hier 82. 92 Der Aufstand war ohne jegliche Einmischung revolutionärer Organisationen ausgebrochen, er passte jedoch gut in das taktische Programm der RSDRP und PSR . Bushnell, John: Mutiny Amid Repression. Russian Soldiers in the Revolution of 1905–1906. Bloomington 1985, 92, 219.

224  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre ihrem Blut befleckten Gewissen? […] So tue nun Buße! Noch ist Zeit! Die Schlacht hat erst begonnen! […] Das heilige Blut der im Kampfe für das Volksglück gefallenen war nicht vergebens. Das gequälte russische Volk breitet seine hünenhafte Statur [sic] für den entscheidenden Kampf mit seinem ewigen Feind aus.«93

Damit wurde ein apokalyptisches Szenario entworfen, in dem das Volk und die RSDRP einen »endzeitlichen« Kampf mit einem »ewigen« Widersacher führten. Der der Regierung loyal gebliebene Soldat sollte sich als Sünder verstehen, dem jedoch noch Zeit zur Umkehr (vgl. Gal 6,8–10) gegeben wurde. Die Soldaten und Matrosen müssten jetzt »so klug wie Schlangen (mudry, kaka zmii)« (Mt 10,16) sein, sich vor »Wölfen in Schafsspelzen (volkov v oveč’ej škure)« (Mt 7,15) hüten und sich in der Sozialdemokratie »organisieren«94. In Texten, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren, lassen sich kaum vergleichbare Beispiele finden. Zwar haben auch die Sozialdemokraten in ihren privaten Briefen und parteiinternen Schreiben gelegentlich Begriffe verwendet, mit deren Hilfe die Sozialdemokratie rein sprachlich in den Kontext einer Offenbarungsreligion gerückt wurde. So konnte beispielsweise der Reformismus zu einer Art »Versuchung« werden, mit deren Hilfe die Arbeiter von der Politik zugunsten reiner Ökonomie abgelenkt wurden.95 Oder man bezeichnete politische Verfehlungen als eine »Todsünde gegen die Sozialdemokratie, gegen das Schicksal des Proletariats und gegen das Land als Ganzes«96. Solche Muster lassen sich jedoch auf kein »Programm« zurückführen. Alles in allem scheint die »Selbstmythisierung« der Sozialdemokraten nicht in einem solchen Umfang von religiösen Semantiken abhängig gewesen zu sein wie die der Sozialrevolutionäre.

93 »Nu a ty, soldat? Ty, obagrivšij svoi čestnye ruki krov’ju brat’ev svoich, ty, kotoromu vragi naroda prinesut svoju blagodarnost’ za ›molodeckij podvig‹ tvoj,  – počemu ty ne ­likueš’? Ili trupy brat’ev tvoich gryzut tvoju zapjatnënnuju ich krov’ju sovest? […] Pokajsja že! Eščë est’ vremja! Bitva tol’ko načalas’! […] Svjataja krov’ pavšich v  bor’be za sčast’e naroda bessledno ne propala. Izmučennyj russkij narod raspravljaet svoj bogatyrskij stan dlja rešitel’noj schvatki so svoim vekovečnym vargom.« Proklamacija Finljandskoj voennoj organizacii RSDRP v svjazi s podavleniem sveaborgskogo vosstanija i kaznjami učastnikov. In: Pokrovskij, Michail (Hg.): 1905. Materialy i dokumenty. Moskau, Leningrad 1927, 96–97, hier 96. 94 Alle Zitate nach ebd. 97. 95 RGASPI f. 33, o.1, d. 20, l. 1–2. 96 So Potresov in einem privaten Brief an Fëdor Dan vom 24. Januar 1930. Die Rede war von den Sympathien, die Dan öffentlich für Stalins Sowjetunion zu äußern begann. Nicolaevsky Collection Box 57, Folder 4. Ohne Seitenangaben.

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»Selbstmythisierung« im neonarodničestvo Die Organisationsstrukturen der Sozialrevolutionären Partei waren um einiges effektiver, die logistischen, personellen und technische Ressourcen größer als im Falle der Narodnaja volja. Die alte, schon von den Revolutionären der 1860er Jahre gehegte Hoffnung schien nun Wirklichkeit zu werden: Die Autokratie wurde zum ersten Mal in ihrer Geschichte systematisch und über Jahre hinweg mit einer terroristischen Bedrohung konfrontiert. Am 29. Juli 1902, etwa vier Monate nach der Ermordung Sipjagins, versuchte der Arbeiter Foma Kačura den Gouverneur von Charkiw Fürst Obolenskij zu erschießen. Kačura wurde zum Tode verurteilt, wandte sich von der Revolutionsbewegung ab und wurde auf das persönliche Eingreifen seines Opfers hin begnadigt.97 Außerdem wurde im Vorfeld eine große Menge Propagandamaterial gedruckt, das nach Kačuras Abwendung von der Revolutionsbewegung unbrauchbar geworden war.98 Am 6. Mai 1903 ermordete die Kampforganisation den Ufimer Gouverneur Nikolaj Bogdanovič. Dieser wurde für die blutige Niederschlagung der Zlatouster Arbeiterdemonstration (März 1903) verantwortlich gemacht, die hunderte Verletzte und 69 Tote forderte. Das Attentat wurde von dem Ufimer Arbeiter Dulebov ausgeführt. Dadurch wurde die Botschaft kommuniziert, dass die Arbeiter nicht allein seien, sondern – organisiert unter der Ägide der PSR – es vermochten, ein an ihnen begangenes Unrecht zu vergelten. Der Umstand, dass der Attentäter aus Ufa kam, sowie die relativ kurze Zeitdauer zwischen der Erschießung der Demonstranten und dem Terrorakt sollten ein Signal über die Stärke der Partei senden und zugleich Angst verbreiten und das politische Kapital der PSR maximieren. Neben der Leiche legte der Terrorist ein Bekennerschreiben der lokalen SR-Organisation ab. Darin beteuerte der junge Terrorist, dass er nicht lebensmüde geworden sei, vielmehr sei er vom Wunsch beseelt gewesen, seinen »Brüdern« nützlich zu sein.99 Er glaube an die Arbeiterbewegung (»verju v rabočee dviženie«100) und wisse, dass der Feind bestraft werden müsse. Die Ermordung des für das Massaker von Zlotoust verantwortlichen Generalgouverneurs Bogdanovičs wurde dabei als ein Protestakt gegen die Missachtung der Menschenwürde der Demonstranten gedeutet, zugleich aber auch als persönliche, Genugtuung verschaffende Rache (»sčitaju sčast’em, čto na moju dolju vypalo otomstit’ ėtomu izvergu«101). Zum Ende hin steigerte sich der Ton ins Ekstatische. Dulebov beteuerte noch einmal seinen Wunsch, für das Wohl seiner »Brüder« zu kämpfen und beschwor noch einmal seinen »Glauben« an 97 Leonov, Michail: ›Delo Obolenskogo‹ (Boevaja organizacija i terroristy). In: Izvestija vysšych učebnych zavedenij. Povolžskij region 1 (2008) 28–36, hier 28. 98 Gorodnickij: Boevaja organizacija 50 ff. 99 GA RF f. 5831, o. 1, d. 338, l. 3. 100 Ebd. 1. 101 Ebd. 2–3.

226  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre den Terror und an die »gemeinsame Sache«. Der Text endete mit einem Zitat aus der Warschwjanka: »Kämpft denn, Genossen, kämpft für das Wohl des Volkes, für eine bessere Welt, für die heilige Freiheit, ohne die Waffen niederzulegen, solange bis die russische Autokratie im Staub liegt.«102 Der Text knüpfte also an die alten Muster an, die der revolutionären »Selbstmythisierung« zugrunde lagen: Der Terrorist handelte im Einklang mit seinen innigsten Wünschen und Überzeugungen, wofür die Einheit von Wort (Bekennerschreiben) und Tat (Bestrafung des Feindes) bürgen sollte. Er verlangte nichts im Gegenzug für sein Selbstopfer und artikulierte Genugtuung, die ihm das Leben und Sterben für das Gute bereiten würden. Anders als noch im Falle vieler narodovol’cy wurde Rache nun nicht mehr als ein niederes Motiv begriffen. Die Genossen feierten die toten Terroristen als »Helden«, »Märtyrer« oder gleich als »heilige Persönlichkeiten«103, was die Spirale des Terrors weiter drehen ließ und dem terroristischen Projekt neue Gelder und Sympathien sicherte. Nach der Ermordung des Gouverneurs von Ufa wurde Geršuni, den die Gendarmerie seit geraumer Zeit suchte, von einem Provokateur verraten und am 13. Mai 1903 verhaftet. Die Leitung der Kampforganisation ging an den langjährigen Provokateur Azef über. Unter seiner Führung fanden die Neopopulisten zur alten Taktik des Bombenterrors zurück. Neu hingegen war das Ausmaß der minutiösen Vorbereitung. Getarnt als Kutscher, Laufburschen oder Zigarrenverkäufer spähten die Terroristen den genauen Tagesablauf ihres Opfers aus und sammelten die für den geplanten Anschlag relevanten Informationen. Zudem wurde die Kampforganisation von der Rest-PSR so weit wie möglich abgekoppelt, sie erhielt eigene »Passbüros« zum Fälschen von Dokumenten und eigene konspirative Wohnungen.104 Am 15. Juli 1904 gelang der Kampforganisation ein noch spektakulärerer Anschlag. Nach mehreren missglückten Versuchen sprengte der junge Terrorist Egor Sozonov  – von dessen Verhältnis zu seinen Eltern bereits die Rede war  – die Kutsche des in weiten gesellschaftlichen Kreisen verhassten Innenministers Vjačeslav Pleve in die Luft. Selbst Liberale feierten die Ermordung des

102 »[…] i vot ja ot vsej duši choču prinesti svoim brat’jam pol’zu, idu i verju [v] ėto delo takže, kak i v  naše obščee delo, verju, čto my pobedim, verju čto chiščnyj koršun, to est’ carskoe samoderžavie, kotoroe rvët na časti russkij narod, ne dolgo ego [sic] budet pit’ našu krov’. Borites’ že tovarišči, borites’ za blago naroda, za lučšij mir, za svjatuju svobodu, borites’ že tovarišči, ne pokladyvaja [sic] oružija do tech por, poka ne razletitsja v  prach russkoe Samoderžavie.« Ebd. 3–4. Ähnlich artikulierte sich zwei Jahre später Boris Markov in einem Abschiedsbrief kurz vor dem Attentat auf Dmitrij Trepov: »Ja unošu s soboju tvërduju veru v vas, dorogie druz’ja, vo vsech, voobšče, tovariščej po rabote i rabočie massy, a sledovatel’no i v uspech našego velikogo dela.« Zit. n. Delo o pokušenii 16-ti lic na žizn’ generala Trepova v 1905 godu. In: Byloe 10 (1907) 271–307. 103 GA RF f. 1775, 0.1, d. 2, l. 1. 104 Gorodnickij: Boevaja organizacija 93–94.

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erz­konservativen Ministers,105 der für Judenpogrome und den russisch-japanischen Krieg verantwortlich gemacht wurde. Der propagandistische Erfolg war überwältigend und brachte der Partei beträchtliche Gelder.106 Der Tod blieb Sozonov entgegen allen Erwartungen erspart, sodass er – verurteilt zur ewigen Zwangsarbeit  – genügend Zeit bekam, über sein Leben und das Leben seiner Genossen zu reflektieren. Die Rolle des neuen revolutionären Helden fiel Ivan Kaljaev zu.107 Am 4. Februar 1905 – die revolutionären Unruhen, die später als Revolution von 1905 in die Geschichte eingehen sollten, hatten bereits begonnen – warf der als Arbeiter verkleidete Terrorist auf dem Gelände des Kremls eine Bombe in die Kutsche des Großfürsten Sergej Romanov. Der Onkel des Zaren starb an Ort und Stelle,108 sein Kutscher Andrej Rudinkin wenig später im Krankenhaus. Ivan Kaljaev erlitt nur leichte Verletzungen, behauptete jedoch im Nachhinein, dass er geplant habe, von der Explosion mit in den Tod gerissen zu werden.109

105 Surh: 1905 in St. Petersurg 100; Hildermeier: Die Russische Revolution 51; Rindlis­ bacher: Leben für die Sache 234. 106 Geifman: Thou Shalt Kill 56. 107 Als Sohn eines ehemaligen russischen Leibeigenen und einer Polin wuchs Kaljaev bei Warschau in ärmlichen Verhältnissen auf, seine sechs Brüder waren Arbeiter, er selbst aber konnte aufgrund seiner Begabung aufsteigen. In seiner Studienzeit in Petersburg gehörte Kaljaev zur politisch aktiven Studentenschaft. Für die Teilnahme an Studentenunruhen wurde er für drei Monate verhaftet, aus der Universität ausgeschlossen und nach Ekaterinoslav verbannt. Dort näherte er sich an die lokalen Sozialdemokraten an und wurde wieder für zwei Monate für die Teilnahme an einer Demonstration verhaftet. Die Verbannung und den Ausschluss sollte Kaljaev später als weichenstellend für sein Leben betrachten. Nach dem Ende der Verbannung nahm er sein Studium in Lemberg auf und reiste später nach Deutschland, wo er mit illegaler Literatur verhaftet und nach Kongresspolen überstellt wurde. Nach erneuter Haft lernte Kaljaev 1903 in Jaroslavl’ Breško-Breškovskaja kennen, die neue Kader für die Sozialrevolutionäre Partei anwarb. Kaljaev fuhr nach Genf und trat nach langen Diskussionen mit Boris Savinkov, den er schon aus dem Warschauer russischsprachigen Gymnasium kannte, und anderen ranghohen Sozialrevolutionären der Kampforganisation bei. Eines der Motive, die für Kaljaevs revolutionären Werdegang eine entscheidene Rolle gespielt haben, soll der Wunsch gewesen sein, dem »russischen Volk« selbstaufopferungsvoll zu dienen.­ Aljaeva, L.: Kaljaev. In: Žuravlëv, Valerij (Hg.): Revoljucionnaja mysl’ v Rossii XIX – načala XX veka. Moskau 2013, 190–193, 192. 108 Im Russkoe slovo hieß es anschließend: »Als sich der Rauch der Explosion legte, offenbarte sich dem herangeeilten Publikum, in dem viele Offiziere und Soldaten waren, ein schreckliches Bild: Splitter der Kutsche, eine Blutlache, in der die Überreste des Großfürsten lagen. Man konnte nur die Überreste der Montur auf der Brust erkennen, einen Arm, nach oben gerenkt und ein Bein. Der Kopf und alles andere waren in tausend Stücke zerrissen und lagen auf dem Schnee verstreut. Zu dieser Zeit lief auf dem Trottoir ein Mensch, verkleidet als Arbeiter, mit blutüberströmten Gesicht und Händen«. Ubijstvo Ego Imperatorskogo Vysočestva Velikogo Knjazja Sergeja Aleksandroviča. In: Russkoe Slovo 34 (1905) vom 05(18).02.1905, 1. 109 Poslednie pis’ma I. Kaljaeva. In: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.): Ivan Platonovič Kaljaev. 1905, 41–46, hier 43.

228  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Nach seiner Verhaftung verfasste der zweifache Mörder ein Kassiber, das von seinem Anwalt Michail Mandelstam aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt werden konnte. Der Text beinhaltete eine ganze Reihe von klischeehaften Tropen, die den Autor des Textes als einen würdigen Revolutionär ausweisen sollten. Kaljaev schrieb zunächst, dass er glücklich sei, seine Pflicht erfüllt zu haben und kam dann auf seine Überzeugungen zu sprechen: »Ihr kennt meine Überzeugungen und die Kraft meiner Gefühle, und so soll niemand über meinen Tod trauern. Ich übergab mich vollständig dem Kampf für die Freiheit des Arbeitervolkes […], so soll auch mein Tod meine Sache mit der Reinheit der Idee krönen. Für seine Überzeugungen zu sterben bedeutet, zum Kampf zu trommeln, und welche Opfer die Liquidation der Autokratie auch kosten möge, ich bin fest davon überzeugt, dass unsere Generation mit ihr für immer abrechnen wird… Das wird der große Triumph des Sozialismus sein, wenn sich vor dem russischen Volk die Breite des neuen Lebens öffnen wird, wie auch vor allen, die diese große Last der zarischen Gewalt auf sich spüren.«110

Wie im Falle des revolutionären Abschiedsbriefes der 1870er und 1880er Jahre, bewertete Kaljaev den Tod auf dem Schafott als einen im besonderen Maße wertvollen und bewundernswerten. Nicht zufällig schwärmte er von seiner Partei als der »Trägerin der Gebote der ›Narodnaja Volja‹«111. Auch hier wurde der eigene Tod zum Höhepunkt eines guten Lebens für »die Sache« erklärt. Wie die politiki und die narodovol’cy bekundete er seine Gewissheit, dass der »Triumph des Sozialismus« nahe sei. Auch sein Verständnis der sozialistischen Zukunft scheint von säkularisierten Heilsvorstellungen geprägt gewesen zu sein: Nach dem nahenden Ende der gegenwärtigen geschichtlichen Phase, sollte mit dem »neuen Leben« ein nicht näher beschriebener Zustand des Volksglücks folgen. In diesem Brief verbanden sich »Privates« und »Öffentliches« unauflösbar. Auf der einen Seite richtete der Text sich an Freunde und Kampfgenossen, an die »Lieben, Teuren, Unvergesslichen«112, denen der Attentäter seine tiefe Liebe und 110 »Vy znaete, ja sdelal vsë, čto mog, dlja togo, čtoby 4-go fevralja dostignut’ pobedy. I ja  – v  predelach moego ličnogo samočuvstvija  – sčastliv soznaniem, čto vypolnil dolg, ležavšij na vsej istekajuščej krov’ju Rossii. Vy znaete moi ubeždenija i silu moich čuvstv, i pust’ nikto ne skorbit o moej smerti. Ja otdal vsego sebja delu bor’by za svobodu rabočego naroda, s moej storony ne možet byt’ i namëka na kakuju-libo ustupku samoderžaviju, i esli v  rezul’tate vsech stremlenij moej žizni ja okazalsja dostojnym vysoty obščečelovečeskogo protesta protiv nasilija, to pust’ i smert’ moja venčaet moë delo čistotoj idei. Umeret’ za svoi ubeždenija – značit zvat’ na bor’bu, i kakich by žertv ni stoila likvidacija samoderžavija, ja tverdo uveren, čto naše pokolenie pokončit s nim navsegda… Ėto budet velikim toržestvom socializma, kogda pered russkim narodom otkroetsja prostor novoj žizni, kak i pered vsemi, kto ispytyvaet tot že vekovoj gnët carskogo nasilija.« Zit. n. Poslednie pis’ma I. Kaljaeva 41–42. 111 »[…] primite ego [trud revolucionera, d. Verf.], kak dan’ moej iskrennej privjazannosti k partii, kak nositel’nice zavetov ›Narodnoj Voli‹ vo vsej ich širote.« Zit. n. ebd. 42. 112 »Vsem serdcem moim ja s vami, moi milye, dorogie, nezabvennye.« Zit. n. ebd.

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Verehrung ausdrückte. Auf der anderen Seite war sein eigener wahrscheinlicher Tod ein Politikum, das es zu instrumentalisieren galt. Als ein politisches Subjekt erklärte Kaljaev damit seinen eigenen Körper zu einem Objekt geschichtlichen Fortschritts, mit dessen Hilfe sich politische Ziele vorantreiben ließen, die zugleich den Charakter von privaten Zielen und Wünschen hatten. Den endzeitlichen »Triumph des Sozialismus« zu erleben, darauf konnte der Terrorist freilich nicht mehr hoffen und so unterstrich er in der für ihn typischen blumigen Sprache den intrinsischen Wert eines kurzen, aber Ganzheitlichkeit und Erfüllung versprechenden Lebens: »Mein Leben bildet sich mir nur als ein Märchen ein, so als hätte all das, was mit mir passiert ist, von frühesten Jahren an in meiner Vorahnung gelebt und sei in den geheimen Schlupfwinkeln meines Herzen gereift, um sich plötzlich zu ergießen in Flammen des Hasses und der Rache für alle.«113

In einem zweiten Brief an die Genossen wurde der Topos der revolutionären Todesbejahung noch deutlicher artikuliert. Die Revolution habe ihm ein Glück gegeben, das höher sei als das Leben, deshalb sei auch der Tod nichts anderes als eine schwache Form des Dankes an die Revolution. Den eigenen drohenden Tod stilisierte er zu einem »Protest gegen die Welt des Blutes und der Tränen« und äußerte sein Bedauern darüber, dass ihm nur ein einziges Leben gegeben sei, das er im revolutionären Kampf opfern könne.114 Damit lieferte Kaljaev eine ideale Vorlage für seine postume Verherrlichung. Darüber hinaus bürgte sein Ableben für die Authentizität seines Handelns und Denkens: Der revolutionäre Held lebte für die Revolution, die seinen Veranlagungen, Neigungen und innigsten Wünschen entsprach (»vsë to, čto slučilos’ so mnoju, žilo s rannich let v moëm predčuvstvii i zrelo v tajnikach serdca«), und deshalb eine Form der expressiven Selbstverwirklichung (»izlit’sja plamenem nenavisti i mesti za vsech«) bedeutete: er starb für sie »glorreich« auf dem Schafott. Beide Briefe wurde umgehend veröffentlicht und Kaljaev selbst avancierte zu einem festen Bestandteil sozialrevolutionärer Propaganda. So etwa in einem Nekrolog, der von Sozonov auf seinen ehemaligen Kameraden verfasst worden war. Hier erschien der Terrorist als ein »romantischer« Held, der wie Nečaevs »geweihter Mensch« allen Freuden des Lebens abschwört, um sich vollständig der Revolution zu widmen. Während die Welt um sie herum erblüht, begibt sich der tragische Held in den Tod hinein. Diese Tragik wurde mittels einer 113 »Vsja žizn’ mne liš’ čuditsja skazkoj, kak budto vsë to, čto slučilos’ so mnoju, žilo s rannich let v moëm predčuvstvii i zrelo v tajnikach serdca dlja togo, čtoby vdrug izlit’sja plamenem nenavisti i mesti za vsech.« Zit. n. ebd. 114 »Revoljucija dala mne sčast’e, kotoroe vyše žizni, i vy ponimaete, čto moja smert’ – ėto tol’ko očen’ slabaja moja blagodarnost’ ej. Ja sčitaju svoju smert’ poslednim protestom pritiv mira krovi i slëz i mogu tol’ko sožalet’ o tom, čto u menja est’ tol’ko odna žizn’, kotoruju ja brosaju, kak vyzov samoderžaviju.« Zit. n. ebd. 44.

230  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre effektvollen Hypotaxe und der Opposition der Klasseme »Leben« und »Tod« verdeutlicht: »An einem hellen, strahlenden Morgen im März, als die Straßen von St. Petersburg mit fröhlichen, feierlich gekleideten Menschen gefüllt waren, die sich anschickten, etwas Sonne abzubekommen, um ihre ersten Frühlingswonnen zu genießen, gingen wir sterben.«115

Hinzu kam eine ganze Reihe von Texten, die den Anspruch der Sozialrevolutionäre auf das Erbe des narodničestvo und narodovol’čestvo unterstrichen. Dazu zählte etwa der Abschiedsbrief des für die Todesstrafe rechtlich zu jungen Terroristen Chaim Gerškovič,116 der sich nahtlos in die Tradition des revolutionären Abschiedsbriefes fügte, oder der Gefängnisbrief der Terroristin Marija ­Spiridonova und der um ihre Figur herum organisierte heroische Märtyrerkult.117 In ihrem moralischen Rahmen spielte die Würde des autonom denkenden und handelnden Individuums eine entscheidende Rolle. Ihre systematische Verletzung durch die autokratische und kapitalistische Ordnung sollte gerecht und das ungerechte System durch ein neues, sozialistisches ersetzt werden. Als Sozialisten nahmen sie jedoch an, dass die Gemeinschaft die negativen Seiten des Individualismus einschränken müsse. Die »neuen Menschen«, die der Sozialismus hervorbringen werde, würden in solch gemeinschaftliche Relationen zueinander treten, dass die Ausbeutung eines Menschen durch einen anderen nicht mehr möglich sein würde. Sie selbst versuchten, diese Zukunft in ihrem »öffentlichen« Auftreten zu antizipieren. Aus diesem Grund sowie aus einer Reihe von anderen Gründen118 wurde der Tugend des Sich-Opferns eine große Bedeutung beigemessen. Im Idealfall sollte der Revolutionär die Hinrichtung als einen wertvollen und sogar wünschenswerten Tod erleben. Als solcher erlaubte er, das eigene Leben als ein zum Schluss auf das Gute ausgerichtetes und dem Selbst ensprechendes, zu begreifen. Oder in den Worten von Chaim Gerškovič: »[…] Und Menschen werden Brüder sein. Und das Leben wird heiter, fröhlich, glücklich sein, es wird ein Fest für den Menschen sein, ein kurzes Fest, auf dem er für einen Augenblick weilen wird, um für immer zu verschwinden. Für dieses Leben lohnt es sich nicht nur ein Leben hinzugeben, sondern Tausende Leben. Und wenn ich für 115 »Jarkim, sijajuščim martovskim utrom, kogda ulicy Peterburga byli zapolneny vesëlym, paradnym narodom, pospešivšim vyjti na solnce, čtoby nasladit’sja ego pervymi predvesennimi laskami, my šli umirat’.« GA RF f. 5831, o. 1, d. 543, l. 2.  116 An seine Mutter schrieb Gerškovič, dass sein »Glaube« an die Revolution unerschütterlich sei und die Mutter sich nicht vorstellen könne, welches Glück der Tod für die Revolution bringen könne. Chaim Gerškovič. In: Byloe 6 (1906) 214–232. 117 Boniece: The Spiridonova Case 571–606. 118 Hier sind familiäre (religiöse Verwandte), gesamtkulturelle (Heiligenvitae, Sonntags­ schulen, Literatur) sowie subkulturelle (revolutionäre Helden- und Martyriumsnarrative) Einflüsse zu nennen.

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dieses helle Zukunftsideal mein Leben hingeben werden muss, so werde ich nicht unglücklich sein, im Gegenteil ich werde sehr glücklich sein.«119

Mit ihrem Selbstopfer beanspruchten die Terroristen die Entkoppelung von Handeln und Entlohnung, in der Praxis wäre jedoch »Selbstaufopferung« ohne die »Selbstmythisierung« der Revolutionäre und den um sie herum betriebenen Helden- und Märtyrerkult nicht möglich gewesen. Radikale Selbstbeschränkung und die Tugend des Sich-Opferns blieben entgegen dem Anspruch auf »expressivistische« Ganzheitlichkeit oftmals auf den Bereich des Politischen beschränkt. Es ist also keinesfalls ein Zufall, dass die »Träger der reinen gesellschaftlichen Ideale, die für jene ihr Leben opfern« sich im Alltag oftmals durch ein »antisoziales«120 Verhalten auszeichneten. Gleichzeitig führte die propagandistische Selbst-Instrumentalisierung dazu, dass die Grenzen zwischen Propaganda und Aufrichtigkeit bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht wurden. Der Terrorist als christologische Figur Die Ermordung Pleves und des für seinen diktatorischen politischen Stil verhassten Großfürsten Sergej wurden größtenteils emphatisch aufgenommen.121 Hinzu kam, dass nach dem 9. Januar 1905 weite Teile der Bevölkerung ohnehin in Aufruhr waren. In dieser angespannten Situation galt es für die revolutionären Organisationen, den größtmöglichen politischen Profit aus den Attentaten zu schlagen. So stilisierte beispielsweise das Moskauer Komitee der PSR den Großfürsten zu einer Art Hure Babylon, indem es die Sexualität des Großfürsten122 mit Verbrechen von schier unermäßlicher Abartigkeit in Zusammenhang brachte: Einem »dreckigen Wüstling« und »Ersticker von Freiheit und Licht« stand ein tadelloser Kaljaev gegenüber, der zusammen mit den Massen das »Reich des Lichtes und der Freiheit«123 brachte. Dies passte sehr gut in den 119 Chaim Gerškovič 226. 120 »Kak často udivljajutsja, čto nositeli čistych obščestvennych idealov, žertvujuščie za nich svoeju žizn’ju, projavljajut tak mnogo antisocial’nych idej i čuvstvovanij, vyskazyvajut takuju nespobnost’ k postojannomu projavleniju al’truističeskich načal v meločach obydenoj žizni. Ivan Karamazov otmečaet ėtu čertu v ›novych ljudjach‹, kak soedinenie gromadnoj ljubvi k  čelovečestvu voobšče s  polnym neumeniem ljubit’ konkretnogo, individual’nogo čeloveka.« GA RF f. 6243, o. 1, d. 1, l. 36–37. 121 Morrissey: The ›Apparel of Innocence‹ 618. 122 Siehe dazu Healey, Dan: Homosexual Desire in Revolutionary Russia. The Regulation of Sexual and Gender Dissent. Chicago 2001, 93. 123 »[…] [he] fell, the murderer of thousands of Petersburg workers, the hero of Khodynka, the strangler of Russia, the extinguisher of freedom and light. A filthy debaucher in his personal life, a vile executioner, he thought he could commit outrages against the great people without punishment, and he is no more. […] Let the armed people in a concerted onslaught completely destroy the brutish den of the Romanovs and on its ruins build the kingdom of light and freedom.« Zit. n. Morrissey: The ›Apparel of Innocence‹ 625–626.

232  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre kollektiven Versuch, aus Kaljaev eine christologische Figur im endzeitlichen Kampf für die »Befreiung der Menschheit« zu machen. In seinem Auftreten orientierte sich Kaljaev an den Mustern, welche die pervomartovcy, allen voran Andrej Željabov und Timofej Michajlov, mit ihren performativen Akten vorgeprägt hatten. Ein nicht unwesentlicher Aspekt dieser Nachahmung war die bewusste und teilweise mit viel Aufwand betriebene Selbststilisierung zu einer christologischen Figur. Dies fing schon beim Gerichtsprozess an. Hier bezeichnete Kaljaev sich als einen »Rächer des Volkes«, der sich in einer kriegerischen Auseinandersetzung mit einem Aggressor befinde. Folglich sei er kein Häftling, sondern ein Gefangener, für den das Gericht nicht zuständig sei. Kaljaev beließ es jedoch nicht bei dieser Erklärung und rückte das Bild des Rächers in einen neuen, religiösen Kontext, indem er bei seinen Zuhörern (und späteren Lesern) das Bild der Verurteilung Jesu in Erinnerung rief. In Kaljaevs Verteidigungsrede erschien der Terrorist selbst als eine über dem Gesetz des Kaisers stehende Christusfigur und der Richter als ein neuer Pilatus. Die Repräsentanten des Staates sollten als Heuchler enttarnt und die »Sittlichkeit« des Terrors bejaht werden. Das Russländische Imperium, so Kaljaev, begehe täglich Verbrechen gegen seine Untertanen und habe deshalb kein Recht, den Terroristen anzuklagen, für den nicht die christliche, sondern eine neue, revolutionäre Sittlichkeit gelte: »Denn ihr richtet nicht nur über meine Tat, ihr wagt es, ihren sittlichen Wert in Frage zu stellen. […] Ihr wagt es, nicht nur zu richten sondern auch zu verurteilen. Was gibt euch dieses Recht? Nicht wahr, fromme Würdenträger, ihr habt niemanden ermordet und stützt euch nicht nur auf Bajonette und auf das Gesetz, sondern auch auf Argumente der Sittlichkeit […], ihr seid bereit einzugestehen, dass zwei Arten von Sittlichkeit existieren. Eine für einfache Sterbliche, die da heißt: ›Du sollst nicht töten‹, ›Du sollst nicht stehlen‹, und eine andere, politische Sittlichkeit für die Herrscher, die ihnen alles erlaubt und ihr seid euch sicher, dass euch alles erlaubt ist und über euch kein Gericht sei… Aber schaut euch um: Überall sind Blut und Seufzer.«124 124 »Ved’ vy ne tol’ko sudite moj postupok, vy posjagaete na ego nravstvennuju cennost’ […] Vy derzaete ne tol’ko sudit’, no i osuždat’. Čto že vam daët ėto pravo? Ne pravda li, blagočestivye sanovniki, vy nikogo ne ubili i opiraetes’ ne tol’ko na štyki i zakon, no i na argumenty nravstvennosti […], vy gotovy priznat’, čto suščestvuet dve nravstvennosti. Odna dlja obyknovennych smertnych, kotoraja glasit: ›ne ubij‹, ›ne ukradi‹, a drugaja nravstvennost’ političeskaja dlja pravitelej, kotoraja im vsë razrešaet. I vy dejstvitel’no uvereny, čto vam vsë dozvoleno i čto net suda nad vami… No ogljanites’: vsjudu krov’ i stony.« Zit. n. Reč’ Kaljaeva. In: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.): Ivan Platonovič Kaljaev. 1905, 29–33, hier 30. Die Argumente des Regierungslagers und des Oppositionslagers ähnelten sich jedoch auf frappierende Weise. Beide Seiten beschuldigten einander der Heuchelei, der Unaufrichtigkeit und eines verwerflichen Strebens nach Macht, beide Seiten reklamierten für sich, im Recht zu sein und beschuldigten die Gegenseite, – einen Bürgerkrieg entfesselt zu haben. Vgl. Revoljucionnye ›smertnye kazni‹. In: Moskovskie Vedomosti 314 (1905) vom 28(11).11(12).1905, 2. Beide Seiten waren außerstande, eine Lösung für das Blutvergießen zu finden. Während

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Auch Kaljaevs Gedichte rückten den Terroristen in einen religiösen Kontext: Der tragische Held dieser Gedichte opfert hier freiwillig sein eigenes Leben für die Menschheit; die »Wahrheit« des Sozialismus wird zu einer »heilige[n] Losung«125; die Autokratie und der Kapitalismus zu einem »Reich des Gewalt (carstvo nasil’ ja)«126. In dieser Welt stöhnen »Märtyrer«127 und der tragische Held wird vom »unversehrten Gebot der Väter«128 (gemeint sind die Ideen der Narodnaja volja)  begleitet. Am deutlichsten gestaltete Kaljaev die Überhöhung des Terroristen zu einer christologischen Figur in seinem Abschiedsbrief an die Mutter. Mit Anspielung auf Lk 23,28 hieß es am Schluss des Briefes: »Weinet nicht über mich – seid glücklich, gleich so als wäre ich unzertrennlich bei Euch, denn ich werde tatsächlich immer mit euch unzertrennlich sein.«129 Somit konnte Kaljaevs eigene Mutter als eine der biblischen klagenden Frauen erscheinen, er selbst aber – als ein nach Golgota geführter Christus. Die Parteigenossen entwickelten den Kaljaev’schen Gedanken konsequent weiter. Genauso wie Kaljaev selbst waren auch dessen Bewunderer von ­Nietzsches Idee des Übermenschen beeinflusst, der aus seinem Tod heraus die Zukunft schafft;130 in ihren Augen exemplifizierte Kaljaev nun das Paradox des Sieges in der Niederlage. Sie überhöhten ihren gefallenen Genossen zu einer Art zweiter Christus, der durch seinen Tod Unsterblichkeit erlangt habe (»stjažal on besmertie smert’ ju«131). Auch wenn »besmert’e« auf eine rein innerweltliche Unsterblichkeit verwies, war der Ausdruck selbst (»besmertie smert’ ju«) eine bewusste Anspielung auf den Kreuzestod und die Auferstehung, über die es in der Osterliturgie heißt: »Er hat den Tod durch den Tod besiegt (smert’ ju smert’ poprav)«. In diesem Kontext wurde auch die religiöse Bedeutung des Verbs »stjažat’« (im Sinne von »stjažat’ bessmertie«) aktualisiert. Das Motiv der Bezwingung des die »Progressiven« und die »Reaktionäre« die eigenen Opfer und »Märtyrer« beklagten und ihre Anhänger mobilisierten, versank das Reich in einem blutigen Sumpf aus individuellem Terror, Massenaufständen, krimineller Gewalt und Massenhinrichtungen. 125 »Pravda  – naš lozung svjatoj.« Stichotvorenija I. P. Kaljaeva. In: Partija socialistovrevoljucionerov (Hg.): Ivan Platonovič Kaljaev. 1905 33–41, hier 37. 126 Ebd. 38. 127 »Cholopstva dan’ vozdali tronu / Razvratnogo tirana / Ne vnemlja mučenikov stonu /  Voskliknuli ›osanna‹[…]«. Ebd. 128 »Moj sputkik byl – zavet otcov netlennyj.« Ebd. 41. 129 »Ne plač’te obo mne – bud’te sčastlivy, vsë ravno kak esli by ja byl s Vami nerazlučen, potomu čto dejstvitel’no ja budu vsegda s  Vami nerazlučen.« Zit. n. Poslednie pis’ma I. Kaljaeva 46. 130 Zum Thema Nietzsche und SR-Terror siehe Petuchov, V.: Serebrjanyj vek russkoj kul’tury i terrorizm. Ul’janovsk 2006, 11–38. Petuchov hat sicherlich Recht, wenn er Kaljaevs »Todesbejahung« mit seiner (wahrscheinlichen) Nietzschelektüre in Verbindung bringt. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Bewertung des gewaltsamen Todes als eines »guten« oder gar »glücklichen« Todes älter ist als die russische Nietzsche-Rezeption. 131 Smert’ Kaljaeva. In: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.): Ivan Platonovič Kaljaev. 1905, 48.

234  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Todes durch den Tod tauchte später auch in anderen Texten auf, die dem Andenken von Terroristen gewidmet waren. So hieß es zum Beispiel in einem dem Andenken Nikolaj Egorovs gewidmeten Text, dass dieser, unmittelbar vor dem Anschlag auf den Staatsanwalt Pavlov, seinen Genossen bei der Hand gefasst und mit einem »entzückten, von einer triumphierenden Freude ergriffenen Gesicht« gesagt haben soll: »›Lass uns sterben!‹ In mir stieg ein unbestimmbares Gefühl, das Gefühl eines lange gehegten Gedankens auf, und während ich in seine himmelshellen Augen schaute und seine Hand drückte antwortete ich: ›Und siegen!‹ ›Ja, siegen!‹«132

Trotz der eindeutig propagandistischen Stoßrichtung der hier untersuchten Erinnerungstexte und Selbstzeugnisse, wäre es eine grobe Vereinfachung, das Auftreten Kaljaevs vor Gericht und seine letzten Texte auf reine Zweckmäßigkeit zu reduzieren. Vielmehr scheint Kaljaev wie Aleksandr Michajlov oder Mitrofan Muravskij kein Atheist im strengen Sinne des Wortes gewesen zu sein. Unmittelbar vor seiner Hinrichtung lehnte er es ab zu beichten, den Priester soll er mit dem Verweis darauf, dass er eine »eigene, innere Religion«133 besitze, weggeschickt haben. Auch Savinkov, der womöglich selbst an einen »göttlichen Funken« im Menschen geglaubt hatte und den biblischen Schöpfungsmythos als der Evolutionstheorie ebenbürtig empfunden haben könnte,134 war der Ansicht, dass die »Gebote der Narodnaja Volja« für Kaljaev »zu einer Religion« geworden waren, der er »mit all seinem Glauben und seiner Leidenschaft«135 gedient habe. Im Gespräch mit Vera Figner vermutete er, dass Kaljaev an ein »höheres Wesen«136 geglaubt habe. Ähnlich äußerte sich der Staatsanwalt Fëdorov, einer der Letzten, die mit Kaljaev unmittelbar vor dessen Tod zu tun hatten. »Ich bin 132 »Ja počuvstvoval, kak Nikolaj schvatil menja za ruku i, nakloniv ko mne svoë vostoržennoe, ochvačennoe toržestvujuščej radost’ju lico, skazal: /- Umrëm!/ Vo mne pronjalos’ kakoe-to neiz’’jasnimoe čuvstvo – čuvstvo davno leleemoj mysli i, gljadja na ėti jasnye, kak nebo, glaza, sžimaja ego ruku, ja otvetil:  – I pobedim!/  – Da, pobedim!« Pamjati Nikolaja Egorova. In: Byloe 8 (1908) 78–81, hier 79. 133 »Prišedšego k nemu duchovnika on poprosil ujti, zjaviv, čto u nego svoja religija, vnutrennjaja, čto sovest’ ego spokojna, čto on ubeždnën, čto ne sdelal ničego durnogo.« Zit. n. Poslednie minuty Kaljaeva. In: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.): Ivan Platonovič Kaljaev. 1905, 46–47, hier 46. 134 Siehe dazu Rindlisbacher: Leben für die Sache 256. 135 »Zavety Narodnoj Voli stali dlja nego religiej i religii ėtoj on služil s tech por so vsej veroj i so vsej strast’ju, na kokuju tol’ko byla sposobna ego cel’naja i otkrytaja, gluboko demokratičeskaja i rezko revoljucionnaja natura.« Byvšyj socialdemokrat [= Boris Savinkov]: Ivan Platonovič Kaljaev. In: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.): Ivan Platonovič Kaljaev. 1905, 1–7, hier 4. 136 Rindlisbacher: Leben für die Sache 256.

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durchaus zum Sterben bereit«, soll der Terrorist demnach kurz vor der Hinrichtung gesagt haben, »ich brauche weder eure Sakramente, noch eure Gebete. Ich glaube an die Existenz des Heiligen Geistes, Er ist immer mit mir, ich werde von Ihm begleitet sterben.«137 Tatsächlich scheint die Einschätzung Aljaevas zu stimmen, derzufolge sich Kaljaev mit Jesus Christus identifiziert hat.138 Man sollte dabei jedoch nicht vergessen, dass seine religiös anmutenden Ideen äußerst vage gewesen waren und keinen systematischen Charakter hatten, weshalb man schwerlich von einer wie auch immer definierten »Religion« sprechen kann. Vielmehr gefiel sich der Terrorist und Gelegenheitsdichter in der traditionsreichen Christusrolle, nahm diese aber auch durchaus sehr ernst. Zugleich genoss er die Anerkennung, die er von Seiten der Genossen und breiter gesellschaftlicher Schichten erhielt. Er verfolgte offenbar akribisch die Berichterstattung zu seinem Fall und reagierte auf Zeitungsartikel, die seine »revolutionäre Ehre« zu verletzten schienen, zutiefst gekränkt. So wurde er einige Zeit nach seiner Verhaftung von der Witwe des Großfürsten, Elizaveta Fëdorovna, besucht. Diese schenkte ihm eine Ikone, die Kaljaev auch annahm. Außerdem versprach sie, für ihn zu beten. Die Details des Zusammentreffens sickerten jedoch in die Presse durch, woraufhin einige Zeitungen berichteten, dass der Terrorist Reue gezeigt habe. Kaljaev reagierte empört und verfasste ein langes, schwülstiges Gedicht, in dem er über seinen »Triumph« über die Großfürstin fantasierte. In Wahrheit habe diese instinktiv Kaljaevs Überlegenheit gespürt und sich bei ihm dafür bedanken wollen, dass er ihr Leben geschont habe. Der Text endete mit der Skizze einer apokalyptischen Schlacht zwischen der Arbeit und dem Kapital, an dessen Ende die Opfer der Autokratie aus ihren Massengräbern auferstehen und der verleumdete Kaljaev für »seine Verdienste« vor der Revolution »Ehre«139 erfährt.

137 Fëdorov, A.: Kazn’ terrorista Ivana Kaljaeva. In: Russkaja akademičeskaja gruppa v  SŠA . Zapiski. Bd. 19. New York 1986, 203–208, hier 208. Anstelle der Beichte habe Kaljaev dem Priester angeboten, ein aufrichtiges Gespräch zu führen. Offenbar orientierte sich Kaljaev sehr eng an den Verhaltensmustern der Revolutionäre der 1870er und 1880er Jahre. 138 Aljaeva: Kaljaev 192. 139 »Svobodnyj naslednik moj grech [gemeint ist der vermeintlich »milde« Umgang Kaljaevs mit der Großfürstin, d. Verf.] mne prostit / I čest’ mne vozdast po zaslugam…« Zit. n. I. Kaljaev i velikaja knjaginja. In: Partija socialistov-revoljucionerov (Hg.): Ivan Platonovič Kaljaev. 1905, 7–16, 16. Außerdem verfasste Kaljaev einen offenen Brief an die Großfürstin, in dem es unter anderem hieß: »Wären Sie in der Kutsche gewesen, wären Sie auch umgekommen. Aber die Beraubung Ihres Lebens war kein Bestandteil des Aktionsplans der Kampforganisation, Euer Tod wäre eine unnötige Eventualität, gegen die sich die Organisation bewusst gestemmt hatte. […] Der Umstand, dass Sie am Leben geblieben sind, ist auch mein Sieg, über den ich mich nach der Ermordung des Großfürstens doppelt gefreut habe«. Zit. n. ebd. 10. Mehr zu diesem Fall bei Morrissey: The ›Apparel of Innocence‹ 622–624.

236  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Das »terroristische Dilemma« im neonarodničestvo Terroristische Anschläge wurden, wie schon ihrerseits von den zemlevol’cy, in erster Linie als ein Defensivmittel interpretiert: Die Sozialrevolutionäre behaupteten, die Revolution vor den Repressalien der Regierung und deren Spitzeln zu schützen. Daraus sollte die agitative Bedeutung des Terrors erwachsen, an letzter Stelle stand seine desorganisierende Wirkung. Viktor Černov, der an diesem Konzept maßgeblich mitwirkte, bemühte sich außerdem um eine moralische Legitimation. Dabei formulierte er, wie einst Lavrov, das terroristische Dilemma in aller Deutlichkeit, ohne freilich eine befriedigende Lösung liefern zu können. In seiner Broschüre mit dem bezeichnenden Titel Po delam vašim vozdastsja vam (Nach euren Werken wird es euch vergolten werden) hieß es, dass die Minderheit, die über das richtige, sozialistische Bewusstsein verfüge (»soznatel’noe men’šinstvo«140), es nicht nur als ihr Recht, sondern als ihre Pflicht ansehen müsse, auf die Gewalt der Regierung mit terroristischer Gewalt zu antworten. Im programmatischen Artikel Das terroristische Element in unserem Programm urteilte Černov auf ähnliche Weise. Der individuelle Terror als Schutz-, Agitations- und Desorganisationsmittel sollte helfen, eine »blutige Revolution (krovavuju revoljuciju)« nach französischem Vorbild vorzubeugen. Der Mord als solcher wurde zwar als eine »schreckliche und abstoßende Sache (delo užasnoe i ottalkivajuščee)« interpretiert, aber ein Revolutionär hatte nach Meinung des Chefideologen der PSR die Leiden der Unterdrückten gegen die »Ruhe, Sicherheit, ja das Leben (pokoj, bezopasnost’, samuju žizn’)« der Unterdrücker abzuwägen. »Für unseren moralischen Komfort« argumentierte Černov, »wäre es besser, wenn sich dieses schicksalshafte Dilemma nicht stellen würde; wir wären befreit von vielen schweren ›Gedanken, Sehnsucht und schicksalsschwerer Grübelei‹ [ungenaues Zitat aus Apollon Majkov, d. Verf.], vom quälenden inneren Kampf, von der Notwendigkeit den schwersten aller Siege zu erringen: den Sieg über sich selbst.«141

Die revolutionäre Moral setzte er einer »Moral nicht von dieser Welt‹« entgegen, womit in erster Linie christliche und tolstojanische142 Moralvorstellungen gemeint sein dürften. »Unsere Moral«, schrieb Černov, »ist eine irdische, sie ist die Lehre davon, was wir in unserem jetzigen Leben zur Erringung einer besseren 140 Zit. n. Krov’ po sovesti 187. 141 »Dlja našego nravstvennogo spokojstvija bylo by legče, čtoby ėtoj rokovoj dilemmy ne bylo; my byli by izbavlenny ot mnogich tjaželych ›razmyšlenij, toski i dumy rokovoj‹, ot mučitel’noj vnutrennej bor’by, ot neobchodimosti oderživat’ samuju tjažëluju iz vsech pobed – pobedu nad samimi soboj.« Zit. n. ebd. 194–195. 142 Nach Meinung einiger Radikaler war Tolstojs Pazifismus (»neprotivlenie zlu nasiliem«) direkt gegen die Revolutionäre gerichtet. Siehe dazu GA RF f. 6243, о. 1, d. 1а, l. 13.

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Zukunft für die gesamte Menschheit tun können […].«143 Was dem Theoretiker des Terrorismus vorschwebte, war also ein Versuch, mittels des »Paradoxon[s] der ultimativen Gewalt die endzeitliche Überwindung aller Gewalt zu realisieren«144. Damit wiederholte er im Grunde den alten, von den narodovol’cy geäußerten Gedanken, dass – vorausgesetzt, dass Gewalt unvermeidbar sei – der kalkulierte Terror weitaus weniger Opfer fordern würde als eine unkontrollierbare Revolution.145 Černov ging also im Wesentlichen nicht darüber hinaus, was schon von den Terror-Apologeten in den 1870er und 1880er Jahre propagiert worden war, ja, er bediente sich sogar sehr ähnlicher sprachlicher Formeln, wenngleich er seine Apologie um nietzscheanische Untertöne erweiterte. Die Ablegung des »alten Menschen (vetchogo čeloveka)«, wie einer der führende Köpfe der PSR Andrej Argunov einmal bemerkte, war ein transformativer Prozess, der im Menschen »anfangs ein fast religiöses Gefühl« hervorgerufen habe, ein Gefühl des »Respekts vor den Vorgängern, der herrlichen Rolle des ›Untergrunds‹ und einen glühenden Glauben an die Notwendigkeit diesem Weg zu folgen«146. Der Verweis auf Paulus war nicht zufälliger Natur, vielmehr verdeutlichte er die Tatsache, dass die Abkehr vom alten (bürgerlichen) Leben und der Übergang zu einem guten, sozialistischen Leben als eine Art säkularer Bekehrung oder »revolutionäre Taufe«147, imaginiert werden konnte. Ein Terrorist hingegen musste einen weitaus schwierigeren Transformationsprozess durchlaufen, an dessen Ende die Trennung vom eigenen »Ich« und die »Versöhnung« mit dem Tod stehen sollte, um noch einmal Michajlov zu zitieren.148 Michajlovs Brief wurde erst nach der Revolution von 1917 bekannt, die sozialrevolutionären Terroristen sprachen jedoch eine ganz ähnliche Sprache. Dies hing mit der asketischen Tradition der »Abtötung des Fleisches (umervščlenie ploti)« zusammen, die den Terroristen als Vorlage diente, wenn es darum ging, die Akzeptanz des

143 »Naša nravstvennost’ ne vitaet gde-to na nedosigaemoj zaobločnoj vysote nad grešnoj zemlëj. Net, naša nravstvennost’ – zemnaja, ona est’ učenie o tom, kak v našej nynešnej žizni idti k zavoevaniju lučšego buduščego dlja vsego čelovečestva […]«. Zit. n. Krov’ po sovesti 195. 144 Häfner: Russland 80–81. 145 Patyk, Lynn: Gefallene Mädchen. Die Terroristin und / a ls Prostituierte im ausgehenden zaristischen Russland. In: Hikel, Christine / Schraut, Sylvia (Hg.): Terrorismus und Geschlecht. Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2012, 233–256, hier 236; Budnickij: Terrorizm 154. 146 »V takom obščnenii [Argunov spricht über seine Zeit in der Verbannung. Hier kam er in den Kontakt mit alten Revolutionären und wurde selber zum überzeugten narodnik, d. Verf.] my pereroždalis’, zdes’ okončatel’no sbrasyvali s sebja vetchogo čeloveka, zdes’ roslo i kreplo čuvstvo, – na pervych porach počti religioznoe, – uvaženija k predšestvennikam, k velikoj roli ›podpol’ja‹ i gorjačaja vera v neobchodimost’ idti po ėtomu puti.« Argunov, Andrej: Iz prošlogo partii socialistov-revoljucionerov. In: Byloe 10 (1907) 99–114, hier 96. 147 GA RF f. 5831, d. 344, l. 2. 148 Zit. n. Kladbišče pisem 98.

238  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre eigenen nahenden Todes zum Ausdruck zu bringen. So hieß er beispielsweise über den Terroristen Nikolaj Egorov: »Er hat sich vom Teuersten, was er im Leben besaß, verabschiedet – vom Leben, hat alle Rechnungen mit ihm beglichen. Er hatte nur noch eine letzte Pflicht – ›seine‹ Sache ehrlich zu erfüllen. Für das restliche Leben war er bereits tot, er lebt [sic] nur noch für seine Sache. Ich spreche von ›seiner‹ Sache, denn er war wie verwachsen mit der Sache, die er erfüllen musste.«149

Die dem Leser angebotene Deutung der letzten Tage im Leben des Terroristen war denkbar einfach: Wie der orthodoxe Fromme, der ins Kloster gehe und noch vor seinem Ableben für das Leben in der Welt sterbe, so sterbe auch der Terrorist noch lange vor seiner Hinrichtung für das Leben »in der Welt«. Die Gleichsetzung des Lebens im Untergrund mit einer gesellschaftlich geachteten asketischen Lebensweise bedeutete eine moralische Aufwertung des Terroristen. Indem der Terrorist zu einer besonderen Gruppe von Menschen gezählt wurde, »die tief, tief glauben an die Heiligkeit der Sache (gluboko, gluboko verujuščie v  svjatost’ dela)«150, wurde zugleich das elitäre Gruppenbewusstsein gestärkt. Dem Tod auf dem Schafott kam somit nicht nur eine große Bedeutung zu, er wurde darüber hinaus zum validen Einsatz in der »Moralökonomie« des Terrors (Morrissey). Die Figur des »geweihten«151 Menschen, der nicht nur den Freuden des Lebens, sondern dem Leben selbst entsagt, bot somit eine Scheinlösung für das dem individuellen Terror inhärente moralische Dilemma an. Eine große Bedeutung im Denken des neonarodničestvo spielte der Tod auf dem Schafott. Damit wurde nicht nur die »obščestvennost’« über das an den Revolutionären begangene Unrecht »aufgeklärt«, sondern auch der Terrorismus moralisch gerechtfertigt. Im Gegensatz zu den Revolutionären der 1870er bis 1880er Jahre thematisierte die letzte Generation russischer Terroristen diesen Sachverhalt explizit. Der Terrorist vollzog einen symbolischen (auf keiner gegenseitigen Vereinbarung beruhenden) Tausch: Das Leiden des Opfers wurde gegen das Leiden des Mörders aufgewogen. So konnte das Gerechtigkeitsempfinden befriedigt und durch die Aktualisierung der Tugend des Sich-Opferns 149 »On prostilsja s samym dorogim dlja nego v mire – s žizn’ju, podvël vse itogi s nej. U nego ostalsja poslednij dolg – čestno vypolnit’ ›svoë‹ delo. Dlja ostal’noj žizni on uže umer, on živët tol’ko dlja svoego dela. Ja govorju ›svoego‹, tak kak on kak by srossja s delom, kotoroe on dolžen vypolnit’.« Pamjati Nikolaja Egorova 80. 150 Ebd. 81. 151 So Beispielsweise Kaljaev in einem Brief an seine Mutter: Er müsse, soweit er das beurteilen könne, niemanden um Vergebung bitten. Im Tonfall des nečaevschen »Kathechismus« betonte Kaljaev, dass er ein Privatleben nicht gekannt habe. Wenn er denn gelitten habe, so doch nur unter den Leiden des »Volkes«. Von Kindesbeinen auf habe er sich als einen »geweihten« Menschen empfunden, nun habe er seine Pflicht erfüllt und sterbe glücklich. »Ja vsegda čuvstvoval, čto ja obrečën s malych let, i mne ničego ne žal’ iz moej ličnoj žizni.« Zit. n. Poslednie pis’ma I. Kaljaeva 45.

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das Selbstwertgefühl des Terroristen gestärkt werden. Diese Grundkonstellation findet sich in den Erinnerungen des Terroristen Pëtr Karpovič an seinen Genossen Egor Sozonov. Zunächst ließ Karpovič den Protagonisten seines Textes das zentrale moralische Dilemma formulieren: »Einen Menschen zu töten, wie schändlich er für das Vaterland auch sei, – nein. Sein eigenes Leben hätte er mit Freuden hingegeben, aber zu töten – nein, nein! So quälte er sich, und je länger [er sich quälte], desto häufiger kam ihm der Terrorgedanke.«152

Durch das qualvolle Nachdenken über die Terrorfrage gelangt der Protagonist schließlich zur Erkenntnis, dass das Selbstopfer den Terroristen von Schuld befreie. Er erkennt, dass die Terroristen ihrem Lande »bis zum letzten Tropfen Blut (do poslednej kapli krovi)« gedient hätten. Dieses Selbstopfer habe sie »gereinigt« und »hoch, hoch emporgehoben«153. Wie Egor Sozonov in seinen Briefen und publizistischen Texten operierte auch Karpovič mit Verweisen auf christliche sakrale Texte. So spielte er mit der Doppeldeutigkeit des altkirchenslavischen »duša« (Seele, Leben). Bei Joh 12,25 heißt es: »Wer sein Leben liebhat (ljubjaščij svoju dušu), der wird es verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst (­ nenavidjaščij dušu svoju), der wird es erhalten zum ewigen Leben«. Karpovič fand für diese Passage eine neue, unerwartete Interpretation: Wer sein »Leben« für das Gute hingebe, müsse auch bereit sein, seine »Seele«, das heißt seine moralische Integrität, aufzugeben: Die »Sünde« wurde somit zu einer unumgänglichen Voraussetzung für das »Heil«: »Eines Morgens ging er lange in seiner Zelle hin und her und da kam ihm der Gedanke: Gut, mein Leben bin ich bereit, für das Vaterland aufzugeben, warum sollte ich dann nicht auch meine Seele aufgeben. Auch wenn ich ein Mörder sein werde, auch wenn ich meine Seele verderben werde: Vaterland, nimm alles was ich habe, die Seele und den Leib.«154

Das Homonym »duša« suggeriert, dass »Leben aufgeben« und »Seele aufgeben« nicht nur stilistisch gleichwertig sind, sondern auch, dass der Verzicht auf moralische Integrität eine Tugend darstelle, die gleichwertig mit der Tugend des Sich-Opferns sei. Diese Suggestion wird verstärkt durch eine syntaktische Parallelisierung, das Stilmittel der rhetorischen Frage, eine (ins Deutsche kaum zu übertragende) Emphase sowie die Konnotation eines biblischen Textes. Die Verwendung religiöser Semantiken kaschierte in diesem Sinne den Konflikt 152 »Ubit’ čeloveka, kak by vreden on ni byl dlja rodiny – net. Svoju žizn’ on by otdal s radost’ju, no ubit’ – net, net! Tak mučilsja on i čem dal’še, tem čašče prichodila mysl’ o terrore.« Nicolaevsky Collection Box 629, folder 8, p. 6. 153 Ebd. 154 »Kak-to utrom on dolgo šagal po svoej kamere i emu prišla mysl’ – chorošo, žizn’ svoju ja gotov otdat’ dlja rodiny, tak počemu že ne otdat’ ej i duši svoej. Pust’ budu ja ubijca, pust’ dušu svoju razrušu – beri že rodina u menja vsë – i dušu i telo.« Ebd. 8–9.

240  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre zwischen dem Gut des menschlichen Lebens und dem höchsten Gut, für dessen Verwirklichung die Gefährdung des ersteren als notwendig erachtet wurde. Es ist schwer zu sagen, inwieweit Karpovič selbst an dieses Schema geglaubt hat. Seine Argumentationsweise könnte er jedoch von Marija Benevskaja übernommen haben, die aus religiösen Überzeugungen heraus der Kampforganisation der Sozialrevolutionäre beigetreten war. Savinkov zufolge soll Benevskaja als gläubige Christin viel Zeit auf die Bibellektüre verwendet haben und mit ihren Genossen lange Diskussionen um die moralische Ambivalenz des Terrors geführt haben.155 Ähnlich, wenngleich abschätzig, wurde Benevskaja von der Revolutionärin Anastasija Bicenko charakterisiert: Als eine Terroristin »mit Kreuz und Bombe (s krestom i bomboj)«, die Terror mit der Idee des Seelenheils zu vereinigen gewusst habe. Ins Frauengefängnis Mal’cevo soll sie ein Kreuz, eine Bibel und eine Mischung aus christlichen und sozialrevolutionären Vorstellungen mitgebracht haben. Die Notwendigkeit des revolutionären Terrors soll sie mit einer überraschenden Interpretation von Joh 15,13 begründet haben. Ein Revolutionär müsse sein höchstes Gut, die eigene Seele, opfern, um sich in wahrer Liebe zu üben, denn nur wer tötet und Schuld auf sich nimmt, könne in Zeiten der Unterdrückung den wahren christlichen Idealen entsprechen.156 Die hier diskutierten Argumentationsweisen von Benevskaja und ­Karpovič scheinen fast identisch zu sein, beide sind innerhalb der Tradition des narod­ ničestvo zu verorten. Benevskajas demonstrative Zusammenführung von Terrorismus und Gottesglaube hingegen scheint keine weit verbreitete Einstellung gewesen zu sein, wenngleich sie keinesfalls als ein obskures Phänomen zu bezeichnen wäre, wenn man die relativ hohe Zahl an gläubigen Sozialrevolutionären bedenkt. Damit jedoch der Terrorist dieser Logik folgend überhaupt sein moralisches Wohlbefinden und sein Leben selbst gegen das Leben eines anderen »eintauschen« konnte, durfte er weder als psychisch krank, noch als akut suizidgefährdet betrachtet werden. In einem solchen Falle hätte nämlich das »Selbstopfer« seinen Wert verloren, zumal um die Jahrhundertwende insbesondere in psychiatrischen Kreisen lebhafte Diskussionen um den Nexus von Terrorismus 155 »Verujuščaja christianka, nerastavavšajasja s  evangeliem, ona kakim-to nevedomym i složnym putëm prišla k utverždeniju nasilija i k neobchodimosti ličnogo učastija v terrore. Eë vzgljady byli jarko okrašeny religioznym soznaniem, i eë ličnaja žizn’, otnošenie k  tovariščam po organizacii nosilo tot že charakter nezloblivosti i dejatel’noj ljubvi. V  uzkom smysle terrorističeskoj praktiki ona sdelala malo, no v našu žizn’ ona vnesla struju svetloj radosti, a dlja mnogich – i mučitel’nych moral’nych voprosov.« Savinkov, Boris: Vospominanija terrorista. Charkiw 1926, 196. 156 Die Begründung soll »ungefähr so (primerno tak)« geklungen haben: »[…] nado otdavat’ samoe dorogoe za drugi svoja – dušu svoju. Ja i otdaju samoe dorogoe: faktom ubijstva čeloveka postupajus’ svoim nravstvennym čustvom.« Bicenko, Anastasija: V Mal’cevskoj ženskoj katoržnoj tjur’me 1907–1910 gg. (K charakteristike nastroenij). In: Budnickij, Oleg (Hg.): Ženščiny-terroristki v Rossii. Rostov-na-Donu 1996, 543–549, hier 547.

Die »zweite terroristische Welle« (1902–1911)    241

und psychischer Divianz geführt wurden. Folgerichtig hieß es über die Kamporganisation der PSR : »So soll niemand über unsere O[rganisation] sagen wagen, dass Menschen in sie eintreten, d[ie] sowieso keinen Platz im Leben hätten… Nein, nur der hat das Recht auf sein und auf ein fremdes Leben, der den Wert des Lebens kennt und weiß, was er hergeben wird, wenn er einen anderen dem Tode weiht. Das Opfer muss ein reines, unbeflecktes, echtes Opfer sein und nicht etwa ein Geschenk, d[essen] der Besitzer überdrüssig geworden und das er nicht mehr braucht. Deshalb soll jeder von uns, bevor er an die Tür der B. O. [Kampforganisation, d. Verf.] klopft, streng prüfen, ob er würdig, gesund, stark, rein sei… Ins Heiligtum muss man barfuß hinein schreiten.«157

Die ständige Betonung der eigenen »Reinheit« und der »Schuldlosigkeit« wurde zur Zeit der sogenannten zweiten Welle des revolutionären Terrors zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum festen Bestandteil des revolutionären Martyriumsdiskurses. Die Terroristen reklamierten für sich im Namen höherer Güter zu handeln. Sie verteidigten Gewalt im Namen der endzeitlichen Aufhebung von Gewalt und beraubten Menschen ihres Lebens mit dem Anspruch, die Würde der Erniedrigten und Verfolgten wiederherzustellen. Damit konnte revolutionäre Gewalt, um mit Susan Morrissey zu sprechen, so etwas wie eine »Aura der Schuldlosigkeit«158 erlangen. Mit Hilfe dieser Strategie wurde jedoch nicht nur versucht, die obščestvennost’ von der terroristischen Agenda zu überzeugen, sie konnte auch der Selbstbeschwichtigung und Ausräumung von (Selbst-)Zweifeln dienen. Dies war möglich, weil sie als fester Bestandteil des terroristischen Diskurses dem ästhetischen und moralischen Empfinden der Revolutionäre entsprach. So schrieb beispiels 157 »Da ne posmeet nikto skazat’ pro našu O[rganizaciju], čto v neë idut ljudi, k[otorym] vsë ravno net mesta v žizni… Net, tol’ko tot imeet pravo na svoju i čužuju žizn’, kto znaet cennost’ žizni i znaet, čto on otdast, kogda obrekaet na smert’ drugogo. Žertva dolžna byt’ čistoj, neporočnoj, dejstvitel’noj žertvoj, a ne darom k[otoryj] samomu obladatelju opostylel i ne nužen. Poėtomu, prežde čem stučat’sja v dver’ B. O., pust’ každyj iz nas strogo ispytaet sebja, dostoit li on, zdorov li on, čist li… V svjatilišče nado vstupat’ razutymi nogami.« GA RF f. 5831, o. 1, d. 543, l. 8. Diese Worte legte Sozonov seinem Genossen Kaljaev in den Mund. Letzterer war für sein exzentrisches Auftreten bekannt, welches Sozonov einmal als Ausdruck psychischer Devianz gedeutet haben soll. Daraufhin habe sich der empörte Kaljaev eine ärztliche Bescheinigung über seine geistige Gesundheit ausstellen lassen. Mit dieser in der Hand soll er seinen Kampfgenossen darüber belehrt haben, dass nur solche Menschen in die Kampforganisation eintreten dürfen, die psychisch stabil und moralisch integer seien. 158 »Indeed, the supposed moral purity of the terrorists, which was symbolically enacted in their willingness to die, lent their murders and martyrdoms a sacral force. Even violence itself could thereby acquire an aura of innocence, becoming the means to cleanse and purify the world for the dawn of a new age.« Morrissey: The ›Apparel of Innocence‹ 611. Auch Morrissey kommt zu dem Schluss, dass die Betonung der eigenen »Reinheit« vor allem zu Beginn des 20. Jahunderts eine Rolle gespielt hatte, als die »Degeneration des Terrors« das moralische Ansehen der Terroristen zu bedrohen begann.

242  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre weise der Terrorist Jan Berdo zur Zeit einer schweren persönlichen Krise  – Berdo wurde 1910 ohne Nennung von Gründen aus der Kampforganisation ausgeschlossen  – lange Briefe an Savinkov, in denen er ausführlich über die Gründe für seines politischen Engagements reflektierte. Über seinen Wunsch, ein Terrorist zu werden, schrieb er, dass er anfangs moralische Bedenken gehabt habe. Doch habe er schließlich beschlossen, das »Kreuz (krest)«159 des Terrorismus auf sich zu nehmen. Die Tatsache, dass er die Kraft habe, seine »Seele« zu verunstalten und einen anderen Menschen zu töten, nannte er dabei sein »Allerheiligstes (Svjataja Svjatych)«. Er sei »rein (čist)«160 vor sich und den Menschen und werde folglich auch den minderjährigen Waisen, denen er den Vater wegnehmen werde, das Gleiche sagen können. Begriffe wie »Kreuz« und »Allerheiligstes« erfüllten hier eine ähnliche Funktion wie im Falle des oben zitierten Textes: Sie ersetzten die logische Argumentation durch Aktualisierung religiöser Semantiken und der mit ihnen verbundenen Vorstellungen von Sittlichkeit und Spiritualität.161

6.3 Das »Untergrundrussland« als Massenbewegung Die Niederschlagung eines größtenteils friedlichen Demonstrationszugs am 9. Januar 1905 verstärkte den sich insbesondere in der Schlussphase des russisch-japanischen Krieges angesammelten Unmut und löste eine »schreckliche Krise«162 aus. In den nachfolgenden Tagen formierte sich eine bis dahin im Russ 159 GA RF f. 5831, o. 1, d. 338, l. 12. 160 »Pust’ menja nazyvajut ubijcej, izvergom roda čelovečeskogo! Pust’… oni ne ponimajut. Ėto moja Svjataja Svjatych, čto ja imeju silu byt’ ubijcej… oni ėto ne pojmut. Ėto moja Svjataja Svjatych, čto ja imeju vlast’ nad soboju i koverkaju dušu, kak ėto tol’ko nužno budet vo imja dela… Im ėtogo ne ponjat’! No ja ponimaju: ja čist! – kriknu vsjakomu, kto skažet, ubijca! Čto otvetit moja sovest’ maljutkam-sirotam, u kotorych ja otnimu otca? Ja čist pered vami – ėto moja Svjataja Svjatych«. Ebd. 161 Darüber hinaus könnte der am Rande des Selbstmords stehende Berdo um Sympathien bei Savinkov geworben haben, der für sein Faible für die »Sakralisierung« des Terrors bekannt war. Durch die Verwendung religiös konnotierter Ausdrücke in privaten, nicht für die Veröffentlichung vorgesehenen Briefen gab sich der Revolutionär, dessen Loyalität in Zweifel gezogen wurde, als ein vollwertiges Mitglied der terroristischen Gemeinschaft zu erkennen. Der intellektuell eher schlicht strukturierte Berdo könnte diese Taktik auch unbewusst verfolgt haben. 162 Nachdem sich die bis dahin größtenteils friedliche Menschenmenge in einen gewalttätigen Mob verwandelt hatte, der bis spät in die Abendstunden durch die Petersburger Straßen zog, wurde den Beobachtern schnell klar, dass der 9. Januar keine isolierte Tragödie darstellen würde. Noch am selben Abend telegraphierte ein englischer Sonderkorrespondent nach England: »Today, with Dr. Dillon [Daily Telegraph-Korrespondent, d. Verf.], I saw the Cossacks fire on a peaceful procession. I saw, too, a student with his brains blown out carried along the Nefski Prospekt, followed by shouting workmen. […] The action of the authorities has provoked a terrible crisis. The revolt has begun.« The Workers and Their Tsar. In:

Das »Untergrundrussland« als Massenbewegung    243

ländischen Reich noch nicht da gewesene Demonstrationsbewegung sowohl in St. Petersburg als auch in anderen großen Städten: Rund eine halbe Million Arbeiter ging auf die Straßen.163 Hinzu kamen schwere Unruhen auf dem Land. Erst in dieser Situation begannen die revolutionären Organisationen, die vor 1905 – jede für sich genommen – eine nicht wesentlich höhere Mitgliederstärke aufwiesen als zu ihrer Zeit die Narodnaja volja,164 zu Massenorganisationen anzuwachsen. Im Jahr 1907 verfügte die PSR , deren rasantes Wachstum im Herbst 1906 begonnen hatte, bereits über 60 000 bis 65 000 Mitglieder. Die Menschewiken zählten zur gleichen Zeit etwa 45 000 Mitglieder. Die Bolschewiken waren den Menschewiken zahlenmäßig etwas überlegen und umfassten im Frühjahr 1907 60 000 Mitglieder.165 Der große Zustrom von neuen Parteigängern, die so gut wie keine Zeit in radikalen Kreisen verbracht hatten, kein Interesse an der »heroischen« Geschichte der Revolutionsbewegung zeigten166 und den moralischen Rahmen der Bewegung nicht als den ihrigen annahmen, sollte zu einer Reihe von Konflikten zwischen »alten« und »neuen« Revolutionären führen. Das »Ausufern« des Terrors In dieser Situation veränderte sich der revolutionäre Terror im Russländischen Reich auf signifikante Weise und strafte, wie Lynn Patyk bemerkt, den »homöopathischen Charakter des Terrors Lügen«167. Die Vorstellung, dass Terror die »Volksmassen« »mit möglichst geringen Opfern und in möglichst kurzer Zeit«168 aufklären könne, wie ein Apologet des Linksterrorismus noch in den 1880er Jahren behauptet hatte, erwies sich als zusehends trügerisch. Die Zahl der Terrorakte stieg sprunghaft an und erreichte ein bis dahin nie da gewesenes Ausmaß. Nach den Berechnungen von Anna Geifman, die sich sowohl auf Angaben des Kriminalisten Nikolaj Tagancev als auch auf Ochranka-Statistiken stützte, kam es allein in der Zeit von der Verkündung des Oktobermanifestes (17. Oktober 1905) und bis zum Ende des Jahres 1907 zu mehr als neuntausend Vorfällen (4 500 verletzte oder ermordete Staatsdiener und 4 710 verletzte oder ermordete The Manchester Guardian (1905) vom 23.01.1905, 7. Zum Blutsonntag siehe Sablinsky, Walter: The Road to Bloody Sunday. Father Gapon and the St. Petersburg Massacre of 1905. Princeton 1976. 163 Allein nach offiziellen Angaben waren es 414 000. Über 70 Prozent aller Unternehmen beteiligten sich an dem Streik. Hildermeier: Geschichte Russlands 999. 164 Morozov: Partija socialistov-revoljucionerov 27. 165 Ebd. 28; Tjutjukin: Men’ševiki 229–230.; Tjutjukin / Lel’čuk: Bol’ševiki 251. Die Mitgliederzahlen für die RSDRP beruhen auf der Auszählung der Stimmen zu ihrem fünften Kongress. Ebd. 251. 166 Siehe die enstsprechenden Klagen der gescheiterten Terroristin Fruma Frumkina. Pis’ma F. Frumkinoj. In: Byloe 8 (1908) 11–21. 167 Patyk: Gefallene Mädchen 236. 168 Hier zit. n. Hildermeier: Die Sozialrevolutionäre Partei 59.

244  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Privatpersonen). Vom Januar 1908 bis Mitte Mai 1910 zählte sie 7 634 Vorfälle (1 754 verletzte oder ermordete Staatsdiener und 5 880 verletzte oder ermordete Privatpersonen).169 Allein zwischen dem 1. Januar und dem 20. August des Jahres 1906 wurden einer behördlichen Statistik zufolge 1 782 Terrorakte verübt, davon 134, bei denen Bomben zum Einsatz kamen und 1 363 Personen verletzt oder getötet wurden.170 Die massive Zunahme der terroristischen Gewalt hing unter anderem mit dem Anwachsen lokaler terroristischer Organisationen und der Ausweitung des Personenkreises zusammen, der als potentielles Ziel in Frage kam: An die Stelle von Ministern traten einfache Polizeibeamte, Guts- und Fabrikbesitzer sowie deren Verwalter. Für einige Gruppen, insbesondere die Anarchisten, wurden bei der Auswahl der Zielpersonen soziale Kriterien für die Ermittlung der jeweiligen »Schuld« vor dem »Volk« relevant. Sprunghaft stieg auch die Zahl zufälliger Opfer von Terroranschlägen an, die zwar schon von den populistischen Terroristen willentlich in Kauf genommen worden waren, deren zahlenmäßige Reduzierung aber, wie bereits gezeigt worden ist, weithin erwünscht war.171 Auch in der Peripherie des Reiches schaukelten sich terroristische und staatliche Gewalt hoch und führten zu einem großen Blutvergießen.172 Hinzu kamen kriminelle Gewalt, die in vielen Fällen kaum mehr von der revolutionären unterschieden werden konnte, und sogenannte unmotivierte Bombenanschläge, deren Ziel nicht mehr Repräsentanten des Staates, Fabrikanten oder Gutsbesitzer waren, sondern die »Bourgeoisie« als Klasse. Die sogenannten bezmotivniki, eine Strömung innerhalb des russländischen Anarchismus, verübten Anschläge, denen zufällige Zivilisten zum Opfer fallen sollten, wie im November 1905 auf das Hotel Bristol in Warschau oder im Dezember des gleichen Jahres auf das Café Liebman in Odessa. Im Laufe des ersten Revolutionsjahres erfolgte eine »Normalisierung« der Gewalt, sodass im Gegensatz zum Anfang des Jahres selbst »unmotivierte« Anschläge in Zeitungen nicht mehr dramatisiert wurden.173 169 Geifman: Thou Shalt Kill 21. 170 Morrisse: The ›Apparel of Innocence‹ 614. 171 Vgl. ebd. 610. 172 Hilbrenner, Anke: Hirš Lekerts Rache. Gewalteskalation an der Peripherie des Zarenreichs um 1900. In: Osteuropa 4 (2016) 7–18. 173 Siehe dazu Dies.: Der Bombenanschlag auf das Café Liebman in Odessa am 17. Dezember 1905. Terrorismus als Gewaltgeschichte. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 1 (2010) 210–231. Wie schwer sich die Befürworter des Terrors damit taten, ihr Idealbild des selbstaufopfernden Terroristen mit den jüngsten Gewaltexzessen unter einen Hut zu bringen, zeigt ein anarchistisches Schreiben aus der Zeit der Ersten Revolution. Im Oktober 1906 trafen sich russländische Anarchisten in London, darunter auch Pëtr Kropotkin, um aktuelle Probleme der jungen anarchistischen Bewegung zu besprechen. Schon damals stellten sich den Teilnehmern die »verfluchten Fragen« auf eine neue Weise. Die Expropriationen erreichten ein solches Niveau, dass die Teilnehmer sich gezwungen sahen, davor zu warnen, dass »Raub (grabëž)« auch dann amoralisch sei, wenn er aus revolutionären Motiven heraus

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Zur Veralltäglichung der Gewalt trug nicht nur der Massenterrorismus bei, sondern auch die Staatsmacht, die auf die Bedrohung mit zuvor nicht gekannter Härte reagierte. Soldaten und Polizisten schossen wiederholt in Menschenmengen, Tausende wurden verhaftet und zum Teil im Eilverfahren eingesperrt, verbannt oder hingerichtet. Besonders blutig fiel beispielsweise die Niederschlagung des Moskauer Aufstands vom Dezember 1905 aus, als 1 059 Moskauer, darunter 86 Kinder, getötet wurden.174 Hinzu kamen – besonders in den Provinzen – Judenpogrome und rechte Gewalt auf den Straßen, die wiederum Tausende von Menschenleben forderten. Nicht minder brutal wurden Bauernunruhen niedergeschlagen, die sich im Juni 1905 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verhundertfacht hatten. Vor allem Saisonarbeiter, zemstvo-Angestellte, Dorflehrer und andere Menschen, denen der Großteil der Bauern mehr geneigt war zuzuhören als den als Fremde erachteten Berufsrevolutionären, brachten die »Stimmung« der Städte auf das Land. Im November stieg die Zahl der Bauernaufstände gar auf 796, was einen Anstieg von 194 Prozent bedeutete. Tausende Gutshöfe wurden verwüstet oder niedergebrannt, wobei es jedoch mit Ausnahme des Baltikums und Guriens selten zu Mord und Totschlag kam.175 Die Regierung antwortete mit der Entsendung von Strafexpeditionen und den für ihre Willkür berüchtigten Feldgerichten, denen Tausende Menschen zum Opfer fielen. Mit dem rapiden Wachstum der Revolutionsbewegung ging auch ein inflationärer Gebrauch von Ausdrücken einher, die auf das Konzept des politischen »Martyriums« verwiesen. Es war nicht mehr nur der sich »opfernde« Intelligenzbegangen werde, denn die eigentliche Expropriation bedeute nicht etwa die Überführung von Reichtümern aus dem Besitz der Bourgeoisie in den Privatbesitz der Expropriateure, sondern ins Kollektiveigentum des Volkes. Die »alles überwindende« Kraft der Revolution bestehe demnach in ihrer »moralischen Erhabenheit (nravstvennom veličii)«. Zaključenija s’’ezda. In: Kropotkin, Pëtr (Hg.): Russkaja revoljucija i anarchizm, London 1907, 3–14, hier 7. Dennoch wollte und konnte man angesichts der neuen Militärgerichte, der marodierenden Schwarzhundertschaften und der Judenpogrome im Reich nicht eine generelle Ächtung von Expropriationen durchgesetzt sehen. Die gleiche ambivalente Haltung kam auch hinsichtlich des Terrors zum Ausdruck. Die Teilnehmer bejahten zwar terroristische Methoden, warnten jedoch davor, Personen zu ermorden, deren – aus revolutionärer Sicht – kriminelle Machenschaften nicht auf den ersten Blick ersichtlich wären, um in den Augen der Massen den Unterschied zwischen gerechtem Terror und »unverständlichem Mord (neponjatnoe ubijstvo)« nicht in Frage zu stellen. Ebd. 9. 174 Morrisse: The ›Apparel of Innocence‹ 616. Hildermeier nennt die etwas niedrigere Zahl von 700 toten Revolutionären und Zivilisten. Hinzu kamen noch 2 000 Verletzte und 1 000 von Soldaten verletzte Anwohner. Ders.: Geschichte Russlands 1019. 175 Die Angriffe galten in der Regel nicht der Person des Gutsbesitzers, vielmehr sollte dieser zur Flucht oder zum Verkauf seines Landbesitzes gezwungen werden. Dem bäuerlichen Rechtsverständnis entsprechend wurden häufig solche Grundbesitzer verschont, die sich an der Bearbeitung ihres Bodens selbst beteiligten: Wer den Boden bearbeitete, durfte ihn auch besitzen. Hildermeier: Die Russische Revolution 81–90. Erst 1917 kam es zu blutigen Racheakten für die Rolle der Gutsbesitzer bei der Niederschlagung der Bauernaufstände.

246  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre ler, der seine privilegierte gesellschaftliche Stellung aufgab, um für das »Volksglück« staatliche Verfolgung, Tod und Verbannung auf sich zu nehmen. Jeder, vom Arbeiter bis zum Soldaten, konnte jetzt als »armer, entrechteter Märtyrer (mučenik, bednyj, bezpravnyj)«176 bezeichnet werden. Dadurch verloren sprachliche Ausdrücke wie die »Märtyrer unserer Tage (mučeniki našich dnej)«177 ihren ästhetisch-politischen Wert und drohten zu altbackenen politischen Floskeln zu verkommen. In den 1870er und 1880er Jahren war »Martyrium« weitaus seltener im Zusammenhang mit den Leiden des »Volkes« verwendet worden; durch die vergleichsweise geringe Mitgliederzahl der Revolutionsbewegung konnte das »Martyrium« lange Zeit als ein distinktives politisches Konzept bewahrt werden.178 Die jungen, nur noch selten in radikalen Zirkeln politisch sozialisierten Terroristen, die den Gewaltalltag bestimmten, bezeichneten sich nur noch selten als »Dulder« oder »Märtyrer«. Nicht wenige, wie der aus der Arbeiterschicht stammende SD -Terrorist Pëtr Podoksënov, zeigten keinerlei Interesse für Literatur und sonstige geistige Beschäftigung. Manch einer empfand sogar Freude am Morden.179 Auch die Erinnerung der »boeviki« (Kämpfer, Schläger) an ihre Tätigkeit fiel recht unsentimental aus. Der Bolschewik Pavlov schrieb Jahrzehnte später über die Ermordung eines Gerichtsdienergehilfen: »Bamburov fiel auf den Wanst, fing an, sich wie eine Hummel auf der Nadel zu drehen, und quiekte wie ein halbgeschlachtetes Schwein.«180 Zeitgleich mit der Erosion des Konzeptes des »heroischen Selbstopfers« verfiel auch das Gut des menschlichen Lebens. So erschoss beispielsweise der bekannte bolschewistische »boevik« Konstantin Mjačin bei einer »Expropriation« einen Postangestellten nur dafür, »weil jener die Schlüssel zu seinem Büro und zur Kasse nicht schnell genug finden konnte«181. Dies soll eine Massenpanik ausgelöst haben, woraufhin die »boeviki« ein Dauerfeuer eröffneten (»škval’nyj 176 So etwa in einer SD -Propagandaschrift K soldatu aus dem Jahre 1905. GA RF f. 1741, o. 1, d. 29938, l. 1. 177 GA RF f. 102, o. 212 (7-e deloproizvodstvo 1915 g.), d. 3256, l. 1–3. 178 Nach meiner Einschätzung gewann das politische »Martyrium« nach der Revolution von 1905 seine ursprüngliche motivierende Wirkung nicht mehr zurück, auch wenn das Konzept natürlich weiterhin Verwendung fand. 179 Podoksënov soll zudem äußerst gefräßig gewesen sein, die meiste Zeit über Mundharmonika gespielt, jedoch sehr selten auch das Theater besucht haben. Nach der Ermordung des Polizeimitarbeiters Zeleneckij wurde Podoksënov eine kurze Zeit lang vom Gerichtsdienergehilfen (pomoščnik pristava)  Bamburov verfolgt. Diese Episode soll den Terroristen wütend gemacht haben. Podoksënov sei über die Ermordung des Gerichtsdienergehilfen sogar erfreut gewesen (»daže obradovalsja«). Burdenkov, E. (Hg.): Bol’ševik, podpol’ščik, boevik. ­Vospominanija I. P. Pavlova. Moskau 2015, 62. 180 »Bamburov upal na brjucho, zavertelsja, kak šmel’ na igolke, i zavizžal, budto nedorezannaja svin’ja.« Zit. n. ebd. 181 »[…] liš’ tol’ko potomu, čto tot ne sumel bystro najti ključi ot svoego kabinety i kassy.« Zit. n. ebd. 72.

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ogon’«182), dem weitere sechs Menschen zum Opfer fielen. Die Gewalt prägte in jenen Jahren den Alltag so massiv, dass sich die Terroristen immer weniger um so etwas wie Verantwortung bemühten. Vor allem die PSR hatte zur Zeit der sogenannten heroischen Phase ihrer Kampforganisation noch viel Aufwand betrieben, um ihre Terroristen zu verantwortungsvollen Menschen zu stilisieren. Dies hing damit zusammen, dass die Sozialrevolutionäre den Terror durchaus als individuellen »Zweikampf« betrachteten, um ein Lenin’sches Schlagwort aufzugreifen. Die Ermordung einer hohen Zahl von Unbeteiligten entsprach weder ihrem Selbstverständnis noch war sie der »Kapitalisierung« des »Selbstopfers« förderlich.183 Die »neuen« Terroristen, die in geringerem Maße vom etablierten revolutionären Helden- und Märtyrermythos zehrten und folglich keine Gefahr liefen, diesem durch willkürliches Handeln unnötig Schaden zuzufügen, waren nicht an derlei Überlegungen gebunden. Dies zeigte sich am Beispiel einer sozialdemokratischen Terrorgruppe, die im Sommer 1905 beschlossen hatte, für die gewaltsame Auflösung einer Demonstration im Juli 1905, bei der der Arbeiter Antipov ums Leben kam und mehrere Personen verletzt wurden, den für dieses Verbrechen verantwortlich gemachten Oberstleutnant Il’ja Ivanov zu ermorden. Nach einer einwöchigen Vorbereitungszeit, während der die Gewohnheiten des Opfers studiert wurden, näherte sich die Terrorgruppe Ivanov auf einem öffentlichen Platz, konnte aber aufgrund einer großen Menschenansammlung das Feuer nicht eröffnen. Nach einiger Zeit stieg der Gandarm in eine Trambahn. 182 Pavlov, der bei dieser »Expropriation« nicht anwesend war, beschuldigte in seinen Memoiren den Anführer Mjačin lediglich der »schlechten Führung der Operation«. Ebd. 183 Ein gutes Beispiel für solche Versuche stellt die Ermordung des Großfürsten dar. So sollte einer Erzählung zufolge Kaljaev am 2. Februar 1905 den Großfürsten auf dem Auferstehungsplatz (Voskresenskaja ploščad’, heute Ploščad’ revoljucii) angreifen. Dies hätte ihm die Möglichkeit verschafft, sicher und schnell vom Tatort zu flüchten und somit sein eigenes Leben zu schützen. Obwohl er gewusst habe, dass sich eine solche Gelegenheit nicht nochmals biete, habe er seinen Einsatz abgebrochen, da er in der Kutsche eine Frau und die Kinder des Großfürsten gesehen habe. I. Kaljaev i velikaja knjaginja 9; Byvšyj socialdemokrat: Ivan Platonovič Kaljaev 4. Jene Entscheidung vom 2. Februar faszinierte nicht nur die Zeitgenossen, sie sollte später einen Ausgangspunkt für Camus’ Reflexionen über das Gerechtfertigtsein von Gewalt in Die Gerechten bilden. Allerdings müssen Savinkovs und Kaljaevs Ausführungen als Lüge oder als Selbsttäuschung bezeichnet werden. Ein ethisch verantwortungsvolles Handeln bei terroristischen Anschlägen, bei denen Bomben zum Einsatz kamen, war, wenn überhaupt, nur bedingt möglich. Dies war auch Savinkov, dem Popularisierer der Geschichte um Kaljaev und die Adoptivkinder des Großfürsten, mehr als bewusst. In seinen E ­ rinnerungen aus dem Jahre 1908 unterstrich er die Tatsache, dass Mitglieder der Kampforganisation tagtäglich das Leben ihrer Mitbürger aufs Spiel gesetzt hätten. Sie transportierten empfindliche, selbstgemachte Bomben auf offener Straße, mitten unter morgendlichen Passanten und – wie Savinkov damals betonte, wohl auch um einen dramatischen Effekt zu erzeugen – Kindern. Savinkov, Boris: Revoljucionnye siluėty. I. Maksimilian Švejcer. II . Dora Brilliant. In: Byloe 8 (1908) 3–7, hier 7.

248  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Der Sozialdemokrat »Erochin wolle eine Bombe direkt in den Straßenbahn­ wagon werfen, wurde aber«, wie es später in den Memoiren eines mit den Details vertrauten Genossen hieß, »von einem anderen Genossen zurückgehalten, der sich rechtzeitig erinnert hatte, dass man damit viel Unheil anrichten« würde, da »unschuldige Menschen zu Schaden kommen würden«184. Bedenkt man die rigiden Moralvorstellungen der älteren Generation, wird verständlich, warum es zu dieser Zeit verstärkt zu Konflikten zwischen den Revolutionären des »gewöhnlichen, althergebrachten Typus« und einer »neuen Generation von Kombattanten und Expropriateuren« kam. »Wir sprachen verschiedene Sprachen und huldigten unterschiedlichen Göttern«, erinnerte sich der Menschewik Aleksandr Lokerman an seine Gefängniszeit in Ekaterinoslav. So soll die »neue Generation« das Wort »Intelligenzler« als eine Art Schimpfwort gebraucht und die »Alten« schikaniert und »expropriiert« – das heißt schlichtweg ausgeraubt – haben, weshalb die eingeschüchterten Intelligenzler absichtlich versuchten, grob und schlicht zu wirken. Einige der »Neuen« sollen sich aus Brotkrümeln Spielzeugrevolver gebastelt und damit »wie Kinder« gespielt haben. Sie sollen sich zudem wenig um die alten revolutionären Verhaltensregeln gekümmert und die Gefängniswärter per Handschlag begrüßt haben. Dies soll jedoch einige nicht daran gehindert haben, schon aufgrund eines nichtigen Streits Kassiber mit falschen Denunziationen gegen bestimmte Wärter zu verfassen. Die in Freiheit verbliebenen Genossen versuchten daraufhin für gewöhnlich, den betreffenden Bewacher zu ermorden.185 Mit Ausbruch der Revolution und dem massiven Anwachsen der Revolutionsbewegung verschwammen die Grenzen zwischen gewöhnlicher und revolutionärer Kriminalität, wobei der alte moralische Rahmen (mitsamt all seinen Aporien) nur noch für eine vergleichsweise kleine Gruppe von Berufsrevolutionären seine Gültigkeit zu bewahren schien. Das »Ausufern« der Gewalt und die konstitutionellen Konzessionen, die der Autokratie abgerungen werden konnten, verminderten – trotz des »Staatsstreichs« vom 3. Juni 1907 – nachhaltig die landesweite Akzeptanz des Terrorismus. Die terroristische »Welle« hielt länger an als die revolutionären Unruhen, verflachte jedoch 1911, wenngleich vereinzelte Akte des individuellen Terrors bis 1916 begangen wurden. Der zentrale SR-Terror endete hingegen schon früher: Gegen Ende der 1910er Jahre war die Kampforganisation praktisch handlungsunfähig. Der Grund hierfür lag nicht nur in der nachlassenden Unterstützung im In- und Ausland, die sich bereits 184 »Erochin chotel brosit’ bombu prjamo v vagon tramvaja, no byl ostanovlen drugim tovariščem, vovremja vspomnivšim, čto ėtim možno nadelat’ mnogo bed, tak kak postradajut ni v čëm ne povinnye ljudi.« Zit. n. Krov’ po sovesti 397. 185 Ebd. 403–405. Geifmans Unterscheidung zwischen einem »alten« und »neuen Typus« von Terroristen beruht offenbar direkt auf Lokermans Sprachgebrauch. Vgl. Dies.: Thou Shalt Kill 259.

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1906 abzuzeichnen begann186 und Anfang 1909 fast vollständig endete.187 Ein weiterer gewichtiger Grund bestand in den für die PSR katastrophalen Folgen der Azef-Affäre. Die um die Jahreswende 1908/09 zur Gewissheit gewordene Vermutung, dass eines der angesehensten Mitglieder der Partei, Evno Azef, ZK-Mitglied und Leiter der Kampforganisation, ein Polizeispitzel gewesen war, löste in den Reihen der Partei eine »Spionage-Angst« aus und verstärkte zentrifugale Tendenzen.188 Revolutionäre abseits der Revolutionsbewegung Bis 1905 verlief der gewöhnliche »Weg in die Revolution« über radikale Netzwerke. Zukünftige Revolutionäre durchliefen für gewöhnlich zunächst so etwas wie einen Prozess der Radikalisierung. Dieser konnte beispielsweise durch den Kontakt mit illegaler Literatur angestoßen werden. Bei der richtigen Prädisposition genügte manchmal die »richtige« Interpretation der terroristischen Botschaft oder der mehr oder weniger zufällige Kontakt mit einem Radikalen. Hinzu kamen häufig weitere individuelle Faktoren wie beispielsweise der kulturelle und altersbedingte Wunsch, sich für eine große Sache »aufzuopfern«, persönliche und kollektive Verfolgungsgeschichten, etwa im Falle von Juden, das Verlangen nach Gemeinschaft und sogar der Wunsch, Abenteuer zu erleben. Nachdem der Kontakt zu radikalen Zirkeln geknüpft worden war, vollzog sich in ihrem Rahmen die politische Sozialisation: Das neue, oftmals noch sehr junge Mitglied begann sich innerhalb des revolutionären moralischen Rahmens zu orientieren und sich somit sowohl als Teil der Bewegung als auch als Mitglied einer konkreten politischen Organisation zu verstehen. Nach dem Ausbruch der Revolution war dieser Prozess nicht mehr der Königsweg, was sich in den Selbstzeugnissen der »neuen« Revolutionäre unmittelbar niederschlug. In diesem Kapitel soll eine kleine Anzahl solcher Texte vorgestellt und mit dem revolutionären Abschiedsbrief kontrastiert werden. Dadurch soll das Konzept des revolutionären »Martyriums« in seiner Besonderheit besser verständlich gemacht werden. Im November 1905 kam es erneut zu einer Meuterei (der dreizehnten von insgesamt 41) bei der zarischen Flotte, nachdem auf Anordnung des Admirals Čuchnin beschlossen wurde, eine große Matrosenversammlung mit Gewalt zu verhindern. Was diesen Fall besonders machte, war die Tatsache, dass sich die halbe Schwarzmeerflotte sowie einige Festungs- und Infanterieeinheiten den

186 Häfner: Russland 97. 187 Gorodnickij: Boevaja organizacija 201. 188 Morozov: Partija socialistov-revoljucionerov 494 ff. Unter der Führung von Boris ­Savinkov verübte die BO keine neuen Attentate.

250  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Meuterern anschlossen.189 Dem dürfte unter anderem die Beteiligung von Pëtr Schmidt dienlich gewesen sein, der seit seiner berühmten, später von Stalin so effektvoll plagiierten Grabrede im Oktober landesweite Bekanntheit erlangt hatte. Der Marineoffizier Schmidt war kein Revolutionär; es waren nicht seine politischen Überzeugungen,190 sondern seine beachtliche persönliche Tapferkeit und sein gewaltsamer Tod, die ihn später zu einer idealen Projektionsfläche für revolutionäre Phantasien werden ließen. Die letzten von Schmidt verfassten Briefe weisen jedoch wesentliche Unterschiede zu den Abschiedsbriefen derjenigen Menschen auf, die sich lange genug im »Untergrund« aufgehalten hatten, um bereitwillig den eigenen Tod zu einem perfekten revolutionären »Mythos« zu verklären. Schon vor seiner Beteiligung am Sevastopoler Novemberaufstand schrieb Schmidt in einem seiner Briefe mit Verweis auf Joh 15,13 – eine von den Popu­ listen gern zitierte Bibelstelle – von seiner Bereitschaft, sein Leben für die Arbeiter zu lassen.191 In seinem letzten Brief übernahm er, wenn auch mit bemerkenswerten Einschränkungen, bewusst und endgültig die Rolle des revolutionären »Märtyrers«. Sein eigenes Ende imaginierte er als einen leichten und glücklichen, das Leben transzendierenden und den Tag der Befreiung näher bringenden Tod: »Ich bin vollkommen glücklich und ruhig. In meiner Sache gab es viele Fehler und Unregelmäßigkeiten, aber mein Tod wird alles vollenden, und dann wird meine Sache, gekrönt durch die Hinrichtung, tadellos und vollkommen sein. Ich bin durchdrungen von der Wichtigkeit und Bedeutung meines Todes und begegne ihm deshalb munter, freudig und feierlich.«192

Nicht nur der für einen revolutionären Text eher seltene Ausdruck »meine ­Sache« anstelle von »unsere« oder »gemeinsame Sache« zeigte Schmidt als einen der Revolutionsbewegung fernen Menschen. Im Gegensatz zu einem »klassischen« revolutionären Abschiedsbrief, zählte Schmidts letzter Brief eher zum Genre des Liebesbriefes. Schmidt bedankte sich bei Zinaida Ivanovna für die Liebe, die sie 189 Bushnell: Mutiny Amid Repression 91, 97. 190 Schmidt konnte man sich einmal als konstitutionellen Monarchisten, ein andermal als radikalen Sozialisten vorstellen. Maksakov, Vladimir: Predislovie. In: Ders. (Hg.): Lejtenant P. P. Šmidt. Pis’ma, vospominanija, dokumenty. Moskau 1922, V-XVI , hier XI ff. 191 »O, ja sumeju umeret’ za nich [für die Arbeiter, die Schmidt zu einem ›Abgeordneten auf Lebenszeit‹ gewählt hatten, d. Verf.]. Sumeju dušu svoju položit’ za nich.« Pis’ma Lejtenanta Šmidta k Z. I. R. In: Maksakov, Vladimir (Hg.): Lejtenant P. P. Šmidt. Pis’ma, vospominanija, dokumenty. Moskau 1922, 67–217, hier 171. 192 »Ja soveršenno sčastliv i pokoen. V moëm dele bylo mnogo ošibok i besporjadočnosti, no moja smert’ vsë doveršit, i togda, uvenčannoe kazn’ju, moë delo stanet bezuprečnym i soveršennym. Ja proniknut važnost’ju i značitel’nost’ju svoej smerti, a potomu idu na neë bodro, radostno i toržestvenno.« Rizberg, Zinaida: Lejtenant Šmidt v moich vospominanijach. In: Maksakov, Vladimir (Hg.): Lejtenant P. P. Šmidt. Pis’ma, vospominanija, dokumenty. Moskau 1922, 3–64, hier 64.

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ihm geschenkt habe, und bat sie, Russland so schnell wie möglich zu verlassen, den (schon bald toten) Schmidt zu vergessen und ein neues glückliches Leben anzufangen. In anderen Briefen trat dieses persönliche, melodramatisch hervorgehobene Moment noch deutlicher hervor: »Mein Täubchen, wenn mir mein Ende beschieden sein sollte, so vergiss mich, vergiss mich schnell. Dann soll alles, was sich in unserem Briefleben ereignet hat, all das soll von dir weichen wie ein Traum, soll deine verwaiste Seele nicht beschweren, vergiss mich dann, lebe. […] Wenn ich aber am Leben bleiben sollte, dann vergiss mich nicht, sei dann bei mir, selbst in Leiden und Unglück werden wir glücklich sein. […] Dein Peterchen.«193

Auch in anderer Hinsicht war Schmidt kein Mensch, der sich innerhalb des moralischen Rahmens der Revolution orientierte. Er machte keinen Hehl daraus, dass er große Hoffnung auf eine Begnadigung hegte. Diese Hoffnung hat Schmidt allem Anschein nach fast bis zum Ende nicht verlassen. Sie erwies sich jedoch vollends als trügerisch, als Schmidt mit drei weiteren, am Aufstand beteiligten Seeleuten am frühen Morgen des 6. März 1906 zur Hinrichtung auf die Insel Berezan’ gefahren wurde. Matrosen, die mit ihm in den letzten Stunden vor seinen Tod zu tun hatten, berichteten, dass Schmidt einmal mit ­Bedauern von seinem Tod gesprochen habe, dann wieder mit Gleichgültigkeit und Apathie. Auch in anderer Hinsicht erfüllte Schmidt nur bedingt die Rolle des »bewussten Revolutionärs«, die er zeitweise mit solchem Enthusiasmus zu übernehmen getrachtet hatte. Im Gegensatz zu seinen mitverurteilten Genossen legte er die Beichte ab, empfing die letzte Kommunion, unterhielt sich lange mit dem Priester, empfing mit dem traditionellen Handkuss dessen Segen und bekreuzigte sich, dem Osten zugewandt, noch lange, bis er schließlich an einen Pfahl gebunden und erschossen wurde. Praktizierende Christen waren zu dieser Zeit zwar keine marginale Randerscheinung mehr, sie passten jedoch weiterhin schlecht in das tradierte Bild und irritierten die atheistischen Genossen.194 Ein ähnliches Muster lässt sich im Falle des Kronstädter Aufstandes von 1906, der von Sozialrevolutionären und Sozialdemokraten mitgetragen wurde, beobachten. Nach seiner Niederschlagung wurden zwischen dem 20. Juli und 21. September insgesamt 36 Menschen auf Beschluss von Feldgerichten hingerichtet. Von der letzten Gruppe, der insgesamt 19 Menschen angehörten, sind 193 »Golubka moja, esli suždeno mne prekratit’ žizn’, zabud’, zabud’ skorej menja. Pust’ togda vsë, čto proteklo v našej s toboj žizni-perepiske, pust’ vsë ėto otojdët ot tebja kak son, i ne nalagaet stradanij na tvoju osirotevšuju dušu, zabud’ togda, i živi. […] Esli že ja ostanus’ žit’, to ne zabyvaj menja, togda bud’ so mnoj, i v samoj tjažesti i nevzgodach budem sčastlivy. […] Tvoj Petrusja«. Zit. n. Pis’ma Lejtenanta Šmidta k Z. I. R. 217. 194 So auch den Memoiristen. Moišeev, Pëtr: Poslednie dni lejtenanta Šmidta, Častnika, Gladkova i Antonenko. In: Byloe 13 (1910) 3–24, hier v. a. 7, 14, 23.

252  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Abschiedsbriefe überliefert, in denen die Unterschiede zwischen »alten« und »neuen« Revolutionären deutlich hervortreten. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass drei von neunzehn zum Tode verurteilten Matrosen vor ihrem gewaltsamen Ableben Texte verfasst haben, die sich der Tradition des revolutionären Abschiedsbriefs zuordnen lassen. Der Bolschewik Andrej ­Kukarcev etwa schrieb von der Sinnhaftigkeit des Todes für die Freiheit: »Mein letzter Abschiedsbrief, ich gehe der Hinrichtung durch Erschießen entgegen. […] Ich sterbe für die Volkssache, wir erkämpften die Freiheit unseres Volkes, das schon sein ganzes Leben leidet, so wie ihr auch.«195 Noch näher am besagten Modell orientierte sich der Bolschewik Nikolaj Komarnickij. In seinem Brief erscheinen die zum Tode Verurteilten als Menschen, die »ruhig« und entschlossen ihrem Ende entgegensehen; nur ihre Genossen weinen und bitten um Andenken an die Helden der Revolution, die schon bald »mit einem Lächeln« vor das Erschießungskommando treten und mutig für die »Volkssache« sterben werden: »Es bleiben nur noch wenige Stunden bis zur Erschießung. Alle sind ruhig, der Gedanke vom baldigen Übergang in die Ewigkeit schreckt uns nicht. Beim Fenster steht ein Wachposten und weint. Diensthabende kommen mit Tränen in den Augen, um Abschied von uns zu nehmen und bitten als Andenken um Bändchen und Kokarden. […] Wir haben keine Angst, wir folgten der gerechten Sache, mit einem Lächeln werden wir zur Hinrichtung schreiten.«196

Die Priester, die die Matrosen in ihren letzten Stunden vor dem Tod begleiten sollten, bezeichnete Komarnickij als Heuchler, indem er, wie schon so viele Revolutionäre vor ihm, den alten Gegensatz »Kirche  – Christus« bzw. »Kirche – Frühchristentum« aktualisierte. Zugleich verwies er auf die Diskrepanz zwischen dem Gebot »Du sollst nicht töten« und der Rolle der Gefängnispriester im Strafsystem des Zarenreichs: »Fette Popen mit Kreuzen kommen, um uns zu segnen… Weg da, niederträchtige Mordkomplizen. Eure Hände sind voller Blut. Christus hat nicht dazu aufgefordert, zu morden.«197 Seine Genossen bat Komarnickij, Rache zu nehmen an allen, die das Blut des »Volkes« »saugen«. Auch Timofej Glebko unternahm in seinem Abschiedsbrief den Versuch, seine Eltern politisch aufzuklären und ihnen die Gründe für den Kronstädter 195 »Poslednee moë proščal’noe pis’mo, a ja idu na smertnuju kazn’ čerez rasstrel. […] Ja pogibaju za narodnoe delo, my dobivalis’ svobody svoego naroda, kotoryj stradaet vsju žizn’, kak i vy.« Zit. n. Proščal’nye pis’ma matrosov pered kazn’ju. In: Egorov, E. (Hg.): Vosstanija v Baltijskom flote 1905–6 gg. Leningrad 1926, 135–138, hier 135. 196 »Ostaëtsja tol’ko neskol’ko časov do rasstrela. Vse spokojny, mysl’ o skorom perechode v večnost’ nas ne pugaet. U okna stoit časovoj i plačet. Služaščie so slezami na glazach prichodjat proščat’sja i prosjat na pamjat’ lentočki i kokardy. […] My ne boimsja, my šli za pravoe delo, – s ulybkoj pojdëm na kazn’« Zit. n. ebd. 135–136. 197 »Žirnye popy s  krestami prichodjat blagoslovljat’ nas… Proč’, podlye součastniki ubijstva. Vaši ruki v krovi. Christos ne velel ubivat’« Zit. n. ebd. 137.

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Aufstand näher zu bringen. Er bat sie um Vergebung für das ihnen zugefügte Leid, beteuerte aber, dass er seinem Tod »ruhig«198 entgegensehe. Wie viele der 19 Matrosen tatsächlich Abschiedsbriefe verfasst haben, wie viele davon überliefert wurden und welche Textpassagen der Zensur oder anderen Überlegungen zum Opfer fielen, als sie von der Istpart im Jahre 1926 herausgegeben wurden, lässt sich schwer sagen. Zwei der veröffentlichten Briefe (der letzte wurde nur in verkürzter Form abgedruckt) zeigen jedoch, dass bei Weitem nicht alle revolutionären Matrosen sich als unerschrockene, den Tod und den Feind verachtende Kämpfer für die Befreiung des »Volkes« präsentieren wollten oder konnten. Aus Maskaevs Brief sprach beispielsweise eine lähmende Todesangst, die so gar nicht in das von Nikolaj Komarnickij gezeichnete Bild passen wollte: »Der letzte Brief an euch, mehr werdet ihr nicht bekommen, lebt wohl… jetzt wird man uns, 20 Matrosen, erschießen… lebt wohl, alle Verwandten, Genossen. Kann nicht mehr, der Arm kontrolliert nicht mehr [sic]. Lebt wohl… Lebt wohl… Lebt wohl…«199 Noch emotionaler äußerte sich der Ukrainer S­ evast’janov, er imaginierte die ihm bevorstehende Todesszene auf folgende Weise: »Ach, wie das Herz schlägt, wie man uns an den Pfahl mit den Händen nach hinten bindet, die Soldaten stehen mit Gewehren, zielen direkt auf uns, unsere Augen sind mit einem Sack bedeckt. Ach, wie schrecklich ist es, das anzuschauen, schrecklich ist dieses Bild. Verzeiht mir meine lieben Eltern, Papa und Mama. Verzeiht… ich sterbe. Weine bitterlich…«200

Die Meutereien und Aufstände zeigen, wie die Güter der Revolution für einen sehr breiten Kreis von Menschen an Attraktivität zu gewinnen begannen. Die revolutionären Parteien wuchsen erst jetzt zu richtigen Massenorganisationen an. Dabei begannen auch bis dahin revolutionsferne Menschen die Sprechweise und die Moralvorstellungen der Bewegung zu übernehmen. Ihre Selbstzeugnisse wiesen jedoch oftmals große Unterschiede zum spezifischen Konzept revolutionärer Authentizität auf. Letzteres sah vor, dass der zum Tode Verurteilte in einem Abschiedsbrief Auskunft über seine Motivation, seine innigsten Wünsche und Überzeugungen ablegte und diese anschließend mit dem Tod bezeugte. Die Einheit von »Wort« (Abschiedsbrief)  und »Tat« (»heroischer« Tod

198 »Proščajte, otec i mat’. Syn vaš Timofej, umeršij 26 let ot rodu, spokojno ožidajuščij sebe smerti.« Zit. n. ebd. 138. 199 »Poslednee pis’mo pišu vam – bol’še ne doždëtes’ ot menja – proščajte… sejčas rasstreljaut nas, 20 matrosov… proščajte vse rodnye, tovarišči. Bol’še ne mogu, ruka ne vladeet. Proščajte… proščajte… proščajte…« Zit. n. ebd. 135. 200 »Och, b’ëtsja moë serdce, kak nas privjazyvajut k  stolbu ruki nazad i stojat soldaty s ruž’jami, metjatsja prjamo v nas, glaza naši zakryty meškom. Och, kak ėto smotret’ strašno, strašnaja ėto kartina. Prostite, prostite dorogie moi roditeli, tjatijka i mamyjka. Prostite… umiraju. Zalivajus’ ja gor’kimi slezami…« Zit. n. ebd. 138.

254  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre auf dem Schafott) bildete dabei ein mächtiges Propagandainstrument. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wirken jedoch die »unpolitischen« Abschiedsbriefe auf den heutigen Leser »authentischer«, da sie ohne Rückgriff auf ideologisch aufgeladene Tropen, denen wir heute instinktiv misstrauen, Auskunft über die Todesangst der Verfasser geben. An der Schwelle zum »Reich der Freiheit« In den 1870er Jahren waren Figuren wie »Reich des Sozialismus«, »Reich der gemeinsamen Arbeit« oder »Reich des Guten und der Wahrheit« weit verbreitet. Dies änderte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die Revolutionäre begannen, vergleichbare Figuren mit dem antiquiert wirkenden utopischen Sozialismus in Verbindung zu bringen. Im Gegensatz zu den narodniki sprachen Anhänger des »wissenschaftlichen« Sozialismus vergleichsweise selten vom »Reich der Freiheit«. Viel häufiger tauchten derartige bildliche Ausdrücke als Quellenbegriffe und in Anführungszeichen auf, wenn Sozialdemokraten über das historische Erbe des narodničestvo schrieben.201 Durch das Ausbleiben der traditionellen Figuren änderte sich jedoch nicht das ihnen zugrundeliegende Konzept. Noch immer kämpfte eine unterdrückte Mehrheit in einem »endzeitlichen«, das heißt in letzter Konsequenz die dialektisch fortschreitende Geschichte abschließenden Kampf gegen eine repressive Mehrheit. Noch immer wartete am Ende dieses Kampfes die Transformation der gesamten Welt. So sprachen folgerichtig sowohl das Manifest der Russländischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1898) als auch das Parteiprogramm der RSDRP (1903) von der »großen historischen Mission« des Proletariats.202 Das Parteiprogramm kannte folglich auch ein »gemeinsames Endziel« der Sozial­ demokraten aller Länder, zu dem unterschiedliche, sich aus lokalen Gegebenheiten ergebende Zwischenziele führen.203 Der »Kampf« des Proletariats trug dabei einen universalistischen Charakter der sich  – so die dahinter stehende kasuistische Logik – aufgrund der Aufhebung der Klassenantagonismen in der Zukunft schon im Hier und Jetzt zeige. Fëdor Dan schrieb dazu: 201 Martov, Julij: Rabočij klass i buržuaznaja revoljucija. In: Za dva goda. Sbornik statej iz ›Iskry‹. Bd. 1. St. Petersburg 1906, 202–210, hier 203. Dazu tendierte auch der ehemalige narodnik Axelrod. Siehe Aksel’rod, Pavel: Bor’ba socialističeskich i buržuaznych tendencij v  russkom revoljucionnom dviženii. 2. veränd. Auflage. St. Petersburg 1907, 53, 58. Ders.: Rabočij klass i revoljucionnoe dviženie v Rossii. St. Petersburg 1907, 100. 202 Manifest Rossijskoj social-demokratičeskoj rabočej partii. In: Institut MarksizmaLeninizma pri CK KPSS (Hg.): Kommunističeskaja partija Sovetskogo Sojuza v rezoljucijach i rešenijach s’’ezdov,, konferencij i Plenumov CK . Bd. 1. 9. veränd. Auflage. Moskau 1983, 15–17, hier 16; Programma Rossijskoj social-demokratičeskoj rabočej partii, prinjataja na II s’’ezde partii. In: Ebd. 59–65, hier 61. 203 Ebd. 61.

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»In einer Reihe langer, hartnäckiger Kämpfe wuchs das Klassenbewusstsein und wurde der revolutionäre Geist der Arbeiterklasse gehärtet. Das Proletariat, Opfer aller Arten von Last und Ausbeutung, konnte stolz von sich sagen, dass nur allein seine Klasseninteressen nicht den Stempel der Klassenbeschränktheit tragen, dass, indem es sich die Befreiung der gesamten Menschheit zum Endziel setzt, es auf jeder Etappe seines Kampfes die Freiheit für alle trägt.«204

Auch das Parteiprogramm der Sozialrevolutionäre kannte ein »finales Hauptziel« des Proletariats.205 Wenn der Kapitalismus einen Lebenswandel förderte, der als unvereinbar mit der wahren Natur des Menschen gedacht wurde, so versprach der Sozialismus ein Leben, in dem der Mensch wieder kreative Ganzheit erlangen könne. Im Kapitalismus, so hieß es in einer populären Erläuterung des Parteiprogramms, »entarten«206 die Menschen. Im Sozialismus hingegen würden »alle Kräfte des Menschen – die Kräfte seiner Seele und seines Körpers – sich entfalten können«. Der Mensch werde »tatsächlich Glück und Freiheit« erlangen können, indem er »alle seine Kräfte, alles, was ihm die Natur gegeben hat« nutzt. In diesem Sinne wurde der Sozialismus als ein universalistisches Projekt gedacht und als »große Sache der Befreiung aller Menschen« verstanden.207 Die Abhängigkeit revolutionärer Zeitvorstellungen vom heilsgeschichtlichen Denken war jedoch weitaus mehr als eine Eigenheit sozialistischer Ideologien. Ihre Implikationen reichen bis auf die Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen, wie beispielsweise am Briefwechsel zwischen Dzierżyński und seiner 204 »V rjade dolgich, upornych bitv roslo klassovoe soznanie i zakaljalsja revoljucionnyj duch rabočego klassa. Žertva vsech vidov gnëta i ėkspluatacii, proletariat gordo mog zajavit’, čto ego klassovye trebovanija odni tol’ko ne nesut na sebe pečati klassovoj ograničennosti, čto stavja sebe konečnoj cel’ju osvoboždenie vsego čelovečestva, on i v každom etape svoej bor’by nesët svobodu dlja vsech.« Dan, Fëdor: V vodovorote revoljucii. In: Za dva goda. Sbornik statej iz ›Iskry‹. Bd. 1. St. Petersburg 1906, 262–268, hier 265. Nach der Revolution waren es unter anderem die Menschewiken, die in Vechi-Manier Parallelen zwischen Religion und Bolschewismus zogen. Einem Sektenführer gleich, wie es in einem Nekrolog des Socialističeskij Vestnik von 1924 halb spöttisch, halb bewundernd hieß, habe Lenin »fanatisch an seine historische Mission« geglaubt: »Ego genij sostojal v tom, čto on mog ulovit’ vse kolenbanija stichii […] [ideja] voploščalas’ dlja nego v nëm samom. Ibo takim voždëm takoj stichii i možet byt’ čelovek, kotoryj fanatično verit v svoju istoričeskuju missiju, v svoju istoričeskuju prednaznačennost’ i potomu v svoju nepogrešimost’. Lenin v vysočajšej stepeni obladal vsemi ėtimi kačestvami voždja sekty«. Hier zitiert nach Volobuev, Oleg: Lenin. In: Žuravlëv, Valerij (Hg.): Revoljucionnaja mysl’ v Rossii XIX – načala XX veka. Moskau 2013, 251–257, hier 256. Ein solcher Vergleich hat sicherlich den Nachteil, dass er komplexe Zusammenhänge zu sehr vereinfacht. Die Konzentration auf Lenins Fanatismus versperrt die Sicht auf seine politische Flexibilität, die Charakterisierung des Bolschewismus als »Sekte« marginalisiert die Tatsache, dass die Bolschewiken lange Zeit keine ideologisch homogene Gruppe waren, und kaschiert die destruktiven Momente im moderaten Marxismus. 205 Programma partii socialistov-revoljucionerov. In: Polnyj sbornik platform vsech russkich političeskich partij. St. Petersburg 1906, 15–24, hier 21. 206 Naša programma. (Оbščedostupnoe izloženie). St. Petersburg 1908, 14. 207 Ebd. 15.

256  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre Schwester Aldona (vgl. oben S. 210–212) sichtbar wird. Während Aldona sich um die Seele des Bruders sorgte und bedauerte, dass jener vom Widersacher Gottes verführt worden sei, klagte Dzierżyński, dass seine Verwandten sich auf der falschen Seite der historischen Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital befänden. Er bedauerte seinerseits, dass er als Einziger seiner Familie den allein richtigen Weg der Revolution eingeschlagen habe, zumal der Sieg der einen Seite den Tod der anderen bedeute.208 In dieser Hinsicht blieb sein politisches Denken von christlichen Denkmustern geprägt. Er beteuerte immer wieder, dass der Sozialismus »unsterblich«, seine »Entwicklung« »grenzenlos«209 sein werde und diejenigen, die dem »Weg des Proletariats« folgten, »die ganze Welt«210 gewinnen würden.211 Die dogmatische Feststellung, dass die »Klasseninteressen« des Proletariats nicht »klassenbeschränkt« seien und deshalb die »Befreiung der Menschheit« zur Folge haben würden, entsprach nicht nur einem universalistischen Denken, sondern auch der zutiefst elitären Selbstsicht der revolutionären Intelligenzija als Führerin des »Volkes«. Ein Revolutionär zu sein, bedeutete »im Kampf für

208 RGASPI f. 76, o. 1, d. 32, l. 47–48. 209 Ebd. 47. 210 CK VLKSM (Hg.): Feliks Deržinskij. Dnevnik zaključënnogo. Pis’ma. Moskau 1967, 211. Der berühmte Schlusssatz des Manifests der Kommunistischen Partei (»Sie haben eine Welt zu gewinnen«), den Dzierżyński hier zitiert, war selbst wiederum eine polemische Anspielung auf Mk 8,36. Die in dieser Arbeit zitierten Stellen aus den Briefen an Aldona finden sich auch in dieser sowjetischen Ausgabe, allerdings in einer zensierten Form. Sämtliche Verweise auf Jesus Christus und die Evangelien wurden hier getilgt. Zensiert wurde auch die Anspielung auf den roten Terror aus dem letzten Brief an die Schwester vom 15. April des Jahres 1919. Dort klagte Feliks, dass er jetzt nicht wüsste, was er schreiben solle, nachdem »so viel Blut geflossen« sei. RGASPI f. 76, o. 4, d. 37, l. 86. 211 Doch es waren nicht die religiös imprägnierten Zukunftsvorstellungen allein, die Dzierżyński zum revolutionären Kampf motivierten. Er begriff sich zugleich als eine Persönlichkeit, die über menschliche Würde verfüge. Diese werde jedoch mit Füßen getreten. (Vgl. z.Bsp. Feliks Deržinskij 23). Zugleich war er tief von romantischer Literatur geprägt. (Rayfield, Donald: Stalin and His Hangmen. The Tyrant and Those Who Killed for Him. London 2004, 61). Ohne diese Vorstellungen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung hätte der persönliche Bezug zum marxistischen Denken gefehlt. So aber konnte sich der Sozialist als aktiver Akteur im teleologischen Geschichtsprozess sehen und verorten. Die Vorstellung, ein gutes Leben im Einklang mit den eigenen Moralvorstellungen zu führen, produzierte ein Gefühl der moralischen Genugtuung auch dann, wenn die Eroberung der »Welt« noch in weiter Ferne zu liegen schien. Dadurch, dass der Revolutionär nicht für sich, sondern für die »Unterdrückten« zu kämpfen glaubte, bestand die Gefahr, die eigenen politischen Vorstellungen mit den Wünschen und Interessen der Massen gleichzusetzen. Die Autorität der sozialistischen Denker, auf die sich die revolutionären Praktiker beriefen, suggerierte zudem die »Wissenschaftlichkeit« des von ihnen durchgeführten sozialen Experiments. Die situationsabhängige, flexible Auslegung der marxistischen Ideologie prägte zwar das politische Handeln, sie war jedoch nicht ausschlaggebend dafür, in die Sozialdemokratie einzutreten und darin zu verbleiben.

Das »Untergrundrussland« als Massenbewegung    257

das gesetzte Ziel alles Private an die letzte Stelle«212 zu rücken. Das Leben für die Revolution war wichtiger als das »gewöhnliche Leben«. In der Praxis folgte daraus jedoch nur allzu oft, dass die Revolutionäre zu glauben begannen, dass sie allein die »Interessen der Massen« richtig deuten könnten. Dieser Umstand wird insbesondere in den bolschewistischen Propagandatexten der Kriegsjahre 1914–1917 deutlich. Hier dominierte das Modalverb »müssen«, mit dem die Agitatoren das »Proletariat« über dessen eigene Interessen und Forderungen »aufklärten«. So hieß es unter anderem: Das »gequälte Volk muss laut sagen: »Genug des Blutes«; die »Arbeiterklasse muss« dem Patriotismus und Chauvinismus die »Brüderlichkeit der Arbeitenden aller Welt« gegenüberstellen; am Jahrestag des Blutsonntags »muss das Proletariat verkünden, dass es keinen Glauben [mehr] an das Vaterland« habe; das »Proletariat muss den Ersten Mai feiern« und an den »Sieg« glauben; ihren Protest »müssen« die »Arbeiter nicht anarchisch, sondern organisiert durchführen«; die »Arbeiterklasse muss sich organisieren«, gegen die Instrumentalisierungsversuche der Bourgeoisie »muss das Proletariat energisch erklären: Hände weg!«213 und so weiter. Anspielungen auf die Auferstehung Christi, metaphorische Annäherungen an den zentralen christlichen Glaubensinhalt oder Vergleiche zwischen einem weltlichen Phänomen und dem christlichen Osterfest sind in den europäischen Kulturen nichts Ungewöhnliches. Ihr gehäuftes Auftreten in den Texten einer soziokulturellen Gruppe deutet jedoch auf eine besondere, das heißt die Gruppenidentität betreffende Bedeutung der Passions- und Ostererzählung hin. Sowohl den Marxismus als auch das narodničestvo zeichnete die Vorstellung aus, dass am Ende eines teleologischen Geschichtsprozesses die »Befreiung der Menschheit« stehe. Die Abhängigkeit der sozialistischen Geschichtskonzeptionen von älteren theologischen Geschichtsdeutungen scheint auch der »eigentliche« Grund dafür zu sein, warum die Ostermetaphorik in den Texten der Sozialisten so weit verbreitet war. Dieses Phänomen lässt sich schon in den vorrevolutionären Texten beobachten. So hieß es, wie bereits erwähnt, über den toten Balmašev, dass jener »wiederauferstehen« werde. Auch Sozonov und Kaljaev sollten, wie oben ausführlich dargestellt, zusammen mit Millionen anderer Opfer der Autokratie »auferstehen« und »Ehre« erfahren. Doch auch in Briefen, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren, verglichen Revolutionäre ohne sich dessen ganz im Klaren zu sein, die Revolution mit dem Oster 212 »Žizn’ revoljucionera, kogda bor’ba za postavlennuju cel’ otodvigaet vsë ličnoe na poslednee mesto, ne dala vozmožnosti pogovorit’ otkrovenno i polučit’ ot Vas opredelënnyj otvet« hieß es in einem Brief des Bolschewiken Boris Ivanov an eine Genossin, in die er sich nach eigenen Worten verliebt hatte. Ivanov, Boris: Vospominanija rabočego bol’ševika. Moskau 1972, 24. 213 Kobjako, A. (Hg.): Bol’ševiki v gody imperialističeskoj vojny. 1914 – fevral’ 1917. Sbornik dokumentov mestnych bol’ševistskich organizacij. Moskau 1939, 23, 25, 26, 43, 44, 76, 89 [Hervorhebung d. Verf.].

258  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre fest. Der Exilierte Jarovoj, der sich zum Zeitpunkt der Revolution in jakutischer Verbannung befand, schrieb im April 1917 voller Enthusiasmus einen Brief an den Bolschewiken Vjačeslav Karpinskij nach Genf. In diesem Text verschmolz das Lebenswirkliche mit dem Imaginären, der erst einsetzende und eigentlich noch sehr kalte jakutische Frühling mit der lang erhofften sozialistischen »Wiedergeburt« der Welt. Die Februarrevolution läutete somit das Ende der »alten« und den Beginn einer neuen, sozialistischen Ära ein: »Seit März erwachen wir zu neuem Leben. Alles Alte wird gnadenlos beiseitegeschoben. Ein Strahl aus Licht und Wahrheit blinzelte auch durch unser Fenster herein. Ohne Unterlass erfolgt die Arbeit zur Herstellung von Existenzbedingungen für den Menschen und Bürger. Das Leichentuch ist gewebt, [unls.] zittert. Auf allen Lippen: ›Aus dem Weg, alles was alt und verfault ist, die junge Rus’ schreitet in geschlossenen Reihen voran…‹«214

Der Brief endete mit einer emphatischen Begrüßung des errungenen Sieges: »Es lebe die europäische Revolution, es triumphiere der Sozialismus!«215 Die neue nachrevolutionäre politische Praxis (»Herstellung von Existenzbedingungen für den Menschen und Bürger«) war geprägt von sozialen und demokratischen Vorstellungen. Diese wurden jedoch vor einem unrealistischen Erwartungshorizont, der zudem von der Brutalisierung des Weltkrieges216 geprägt war, vollzogen. Die Revolution sollte den Weg für eine Erneuerung der Menschheit ebnen. Gewalt war in diesem Prozess nicht von der Freude über den Triumph zu trennen: Das »Alte« und das »Verfaulte« musste entweder sterben oder zur Seite treten, um dem »Neuen« Platz zu machen. Jarovoj war mit diesen Gedanken, Hoffnungen und Erwartungen nicht allein. Die Vorstellungswelt der revolutionären Bewegung begann schon Anfang des Jahrhunderts auf die Hoch-217 und die Populärkultur218 einzuwirken, wobei 214 »S marta mesjaca oživaem s  novoj žizn’ju. Vsë staroe otmetaetsja bespoščadno. Luč sveta i pravdy zagljanul i v  naše okno. Bez ustali idët rabota po sozdaniju uslovij suščestvovanija čeloveka i graždanina. Savan sotkan, [unls.] drožit. Na ustach u vsech: ›Proč’ s dorogi vsë, čto staro i gnilo, molodaja Rus’ idët i spločënnymi rjadami…‹«. RGASPI f. 33, o.1, d. 277, l. 1. 215 »Da zdravstvuet evropejskaja revoljucija, da vostoržestvuet socializm.« Ebd. 2. 216 Zur Brutalisierungsthese im sowjetischen Kontext siehe Plaggenborg, Stefan: Weltkrieg, Bürgerkrieg, Klassenkrieg. Mentalitätsgeschichtliche Versuche über die Gewalt in Sowjetrußland. In: Historische Anthropologie 3 (1905) 493–505. 217 Rosenthal: Eschatology 105–139. 218 Zwischen 1901 und 1905 liefen auf den Rennbahnen des Reiches Rennpferde mit so exotischen Namen wie »Barrikade«, »Bombe«, »Opfer«, »der Streikende«, »Verschwörer«, »Idee«, »Partei«, »der Radikale«, »Terror« und »Provokateur«. Mogil’ner: Na putjach k otkry­tomu obščestvu 6. Dabei wäre sicherlich kein Berufsrevolutionär auf die (aus Sicht der Radikalen geradezu absurde)  Idee gekommen, sein Pferd mit dem »Schimpfwort« »Provokateur« zu belegen. Vielmehr zeigen diese Beispiele die enorme kulturelle Strahlkraft, die der Untergrund auf die Massenkultur hatte.

Das »Untergrundrussland« als Massenbewegung    259

selbst die Geistlichkeit von der Sogwirkung der Revolution erfasst wurde.219 Nach der Februarrevolution wurde die Zusammenführung revolutionär-säkularer und christlicher Denkmuster zu einem neuen Massenphänomen.220 Auf dem Land erhielt der Zusammenbruch des Ancien Régime religiöse Konnotationen. Den Erinnerungen eines Zeitzeugen zufolge küssten die Menschen in seinem Dorf einander »wie zu Ostern«, das heißt drei Mal auf die Wangen oder auf den Mund.221 Doch auch in der Stadt verglichen Menschen unterschiedlichster politischer Anschauungen den Zusammenbruch der Zarenherrschaft mit dem Osterfest und sprachen in diesem Zusammenhang von der »Wiederauferstehung des russischen Lebens«222. Für einige Monate wurde die Ostermetaphorik zu einem distinktiven Element der öffentlichen Diskussionen. In Zeitungen unterschiedlichster politischer Richtungen wie auch in den Erinnerungen der Zeitgenossen erschien die Revolution als ein »Osterfest«, das wundersam die »Wiedergeburt« Russlands eingeläutet habe.223 Solche Vergleiche waren per se nicht problematisch, sie zeugten jedoch von unrealistischen Erwartungen224 und verstärkten diese zusätzlich durch die expressive und unpräzise Art ihrer Artikulation. Anders als die moderate

219 Schulze Wessel: Revolution und religiöser Dissens 79–116. 220 Vergleichbares hatte sich schon während der ersten Revolution gezeigt. Hier streikten von Mai bis Juli 1905 40 000 Arbeiter. Dave Pretty hat gezeigt, dass die Mehrheit der schon in den 1890er-Jahren politisch aktiv gewordenen Arbeiter in der Region zum einen oder anderem Zeitpunkt ihres Lebens eine im Vergleich zur vorherrschenden Norm bemerkenswert intensive Religiosität demonstriert hatten; sie waren zudem selbstdisziplinierter und gebildeter als ihre Arbeitsgenossen und verfügten über eine positive Einstellung zu harter Arbeit. Aus unterschiedlichen Gründen, ob nun persönlicher, religiöser oder soziokultureller Natur, zum Beispiel aufgrund der Zugehörigkeit zu einer stigmatisierten Gruppe, etwa den Juden oder den Altgläubigen, fühlten sich viele dieser frühen politischen Aktivisten als Außenseiter. All dies habe es ihnen erlaubt, eine millenarische Doktrin wie den Kommunismus leichter anzunehmen. Für einige Arbeiter habe sich deshalb der Übergang zum Sozialismus (in der Regel zum Marxismus) als ein Prozess gestaltet, der Züge einer religiösen Konversion getragen hätte. Der Sozialismus versprach ihnen so etwas wie eine »Apokalypse, in der sie selbst sowohl Richter als auch Errettete« sein konnten. Pretty: The Saints of the Revolution 276–304. Ähnliches stellt Zelnik für die 1870er Jahre fest. Siehe Zelnik: To the Unaccustomed Eye 317–318. 221 Igrickij, I. (Hg.): 1917 god v derevne. Vospominanija krest’jan. Moskau, Leningrad 1929, 40. Hier zitiert nach Černov, Viktor: Velikaja russkaja revoljucija. Vospominanija predsedatelja Učreditel’nogo sobranija. 1905–1920. Moskau 2007, 142. 222 Figes / Kolonitskii: Interpreting the Russian Revolution 38. 223 Kolonitskii, Boris: Antibourgeois Propaganda and Anti-›Burzhui‹ Consciousness in 1917. In: The Russian Review 2 (1994) 183–196, hier 193 ff. 224 »People expected the Revolution to bring not merely social and political changes but also a miracle – a rapid and universal purification and ›resurrection‹. The path toward this ›bright future,‹ this ›resurrection,‹ had been opened thanks to the miraculous elimination of the ›dark forces.‹« Kolonitskii: Antibourgeois Propaganda 194.

260  Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre

Abb. 5: Sozialrevolutionäres Plakat aus der Zeit der Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung (1917). »Im Kampfe erwirbst du dein Recht [Wahlspruch der PSR , d. Verf.] // Vergossenes Blut verpflichtet!! // Tausende eurer Genossen haben ihr Blut für Land und Freiheit vergossen. Wenn ihr nicht wollt, dass auch eure Kinder vom gleichen blutigen Kelche trinken, so wählt die Partei der Sozialrevolutionäre, die immer für Land und Freiheit gekämpft hat.« Aus den Beständen des Staatlichen Zentralen Museums für Zeitgeschichte Russlands (GCMSIR GIK 13101/25 - 1).

Das »Untergrundrussland« als Massenbewegung    261

Linke225 vermochten es die Bolschewiken, solche Erwartungen zu bedienen. Ihre radikalsten Vertreter versprachen, wie Martov im Mai 1917 nicht ohne Gereiztheit bemerkte, ein »von der Ergreifung der Macht ausgehendes Wunder (čudo ot zachvata vlasti)«226. Geleitet von eigenen unrealistischen Vorstellungen und einem elitären Selbstverständnis, unternahmen sie einen in seinem Ausmaß geschichtlich einmaligen Versuch, die Menschheit zu ihrem Glück zu zwingen. Die Folgen dieses Experiments sind bis heute zu spüren.

225 Die Liberalen und die moderate Linke bemühten sich um demokratische und gerechte Wahlen zur Konstituierenden Versammlung. Dabei ging es ihnen darum, wie Figes herausstellt, den eigenen, in der imaginierten Nachfolge von 1789 stehenden hohen politischen Idealen gerecht zu werden. Dies führte unter anderem dazu, dass die Landfrage nicht umgehend geregelt wurde, so dass letztlich lokale bäuerliche Gemeinden eine »wilde« Umverteilung des Landes vornahmen. SR-Aktivisten, die auf den lokalen Bauernversammlungen sowie der Allrussischen Bauernversammlung (4.–25. Mai) anwesend waren, warben vergeblich um Geduld. Aus ganz ähnliche Gründen kam es zu einer Entfremdung zwischen der organisierten Arbeiterschaft, die immer weitreichendere – zum großen Teil unrealistische – wirtschaftliche Forderungen stellte und den moderaten sozialistischen Parteien, die 1917 noch die überwiegende Mehrheit in den Sowjets gestellt hatten. Anders als die »Moderaten« waren Bolschewiken, Anarchisten und Linke SR bereit, die immer populärer werdende Forderung nach der sogenannten Arbeiterkontrolle über das Fabrikmanagement zu unterstützen. Auch in der Nationalitätenfrage enttäuschte die Provisorische Regierung die hohen Erwartungen der Provinzbevölkerung. Erst nach dem Kornilov-Aufstand begannen auch die moderaten Sozialisten, auf eine schnelle Lösung der Landfrage, die Einberufung der Konstituante und vor allem die Lösung der Kriegsfrage zu drängen. In einer Situation, in der die Macht im Zentrum zwischen der Provisorischen Regierung und dem Arbeiter- und Soldatenrat sowie zwischen einer Vielzahl von kleineren und größeren Machtzentren in den Provinzen aufgesplittert war, eigneten sich populistische Losungen am besten, um die überhöhten Erwartungen zu kanalisieren und im Chaos des mnogovlastie auf gewaltsame Weise die Macht zu konsolidieren. Figes: Tragödie eines Volkes 379–409; Smith: The Russian Revolution 29–39; Happel, Jörg: Die Revolution in der Peripherie. In: Haumann, Heiko (Hg.): Die Russische Revolution. 2. überarb. Auflage. Köln u. a. 2016, 91–104. 226 Brief Julius Martovs an Nadežda Kristi vom 22. Mai 1917. Antonova, N. / Bordjugova, G. u. a. (Hg.): Revoljucionnaja Rossija. 1917 v pis’mach Lunačarskogo i Ju. Martova. Moskau 2007, 197.

7. Schluss Entwicklungsetappen der revolutionären Bewegung und ihres moralischen Rahmens In den 1860er Jahren kam es vor allem in den großen Städten des Russländischen Imperiums zur Bildung kleiner revolutionärer Zirkel und der Herausgabe illegaler anti-autokratischer Pamphlete. Die Mitglieder dieser Zirkel waren in der Regel junge Männer, Adelige und vor allem sogenannte raznočincy. Der Prozentanteil von Frauen stieg jedoch während der 1860er Jahre an. Einige von ihnen begannen, Ende der 1870er Jahre führende Rollen zu spielen. Zu den Grundlagen des Denkens der Radikalen gehörte die Vorstellung von der Autonomie des Individuums, die es gegen kirchliche und staatliche Autoritäten sowie gegen den Zugriff der besitzenden Klassen zu verteidigen galt. Von grundlegender Bedeutung war außerdem die Vorstellung, dass das eigene Leben entsprechend den eigenen »natürlichen« Veranlagungen, Wünschen und innigsten Überzeugungen gelebt werden sollte. Bedingt durch die Sozialisation in einem religiösen Umfeld sowie unter dem Einfluss radikaler Publizisten und Černyševskijs Roman »Was tun?« wurden die »eigentlichen« und »egoistischen« Wünsche der »entwickelten Persönlichkeit« mit dem Wunsch nach Selbstaufopferung für eine das einzelne Individuum übersteigende »Sache« interpretiert. Von Aleksandr Herzens und Černyševskijs sozialistischen Schriften beeinflusst, glaubten viele Radikale, dass Russland die kapitalistische Phase seiner Entwicklung umgehen könne. Dazu sollte das progressive Potenzial, das in der Dorfkommune »entdeckt« wurde, realisiert und ein eigenständiger Weg zum Sozialismus gefunden werden. Die Autokratie musste dabei entweder zu grundlegenden Reformen gezwungen oder ganz beseitigt werden. Vom sogenannten Frühsozialismus erbten die russischen Revolutionäre ein unklar umrissenes Konzept der sozialistischen Zukunft. Seinen Kern bildete die Vision, dass am Ende eines teleologischen Geschichtsprozesses die »Befreiung« der Menschheit von jeglicher »Knechtschaft« warte. Diese Vision wurde nicht selten mit Hilfe religiöser Semantiken artikuliert, was den »expressivistischen« Ganzheitsvorstellungen der Radikalen entsprach. Solche säkularisierten Heilsvorstellungen waren, für sich gesehen, eine nicht zu unterschätzende Motivationsquelle für das Handeln der Radikalen, sie barg aber noch kein Gewaltpotenzial. Erst als das Glück der Gemeinschaft, das durch den Übergang zur neuen, gerechten sozialistischen Ordnung ermöglicht werden sollte, zu einem an Potenz nicht mehr zu überbietenden Hypergut wurde, das sich mit sehr

264 Schluss spezifischen Autonomie- und Authentizitätsvorstellungen verzahnte, wurde der moralische Rahmen geschaffen, in dem sich die Revolutionäre fortan orientieren sollten. Als »spezifisch« können diese Vorstellungen bezeichnet werden, da der autonomen Entfaltung von den eigenen Veranlagungen, Wünschen und Überzeugungen entsprechenden Lebensentwürfen enge Grenzen gesetzt waren. Radikale lehnten den als Zumutung empfundenen Machtanspruch des Staates und religiöser Autoritäten ab, schufen jedoch innerhalb ihrer Netzwerke ein geistiges Klima, in dem erwartet wurde, dass das Individuum selbstgesetzte Ziele den gruppenbestimmten Zielsetzungen unterordnet. Die Verschiebung der »Ich-Wir-Balance« zugunsten des »Wir« führte dazu, dass das gute oder gelingende Leben in der »öffentlichen« Sphäre verortet wurde und das »Private« einen untergeordneten Status erhielt. Die reservierte, wenngleich nicht vollständig kompromisslose Haltung des autokratischen Staates zu den Emanzipations- und Partizipationsbestrebungen seiner Untertanen sowie die Ablehnung kirchlicher und autokratischer Bevormundung seitens der Radikalen führten zu einer ganzen Reihe von inneren Konflikten. Die wütenden und tatkräftigen Reaktionen auf Vorfälle wie die Verhaftung Černyševskijs oder die Schließung des Sovremennik können als Marker für das Vorhandensein eines »modernen Selbst« gedeutet werden. Die Unvereinbarkeit von Autonomie- und Authentizitätsvorstellungen mit der Lebenswirklichkeit im Ancien Régime generierte Widerstand. Dieser steigerte sich ab einem bestimmten Punkt zum Terrorismus. Bereits Anfang der 1860er Jahre kam es zu regen Diskussionen um den Nutzen politischer Attentate, die jedoch mit der Ausnahme von Karakozovs Versuch, den Zaren zu ermorden (1866), nicht zur Entstehung terroristischer Praktiken führte. Anders als die Mehrheit der Forscher (Venturi, Pomper, Budnickij) gehe ich nicht davon aus, dass die ablehnende Haltung der Revolutionäre gegenüber der »nečaevščina« die Entstehung einer terroristischen Bewegung verhindert habe. Dieser These widerspricht die durchaus ambivalente Beurteilung der Person Nečaevs und seines Wirkens. Vielmehr scheint es so zu sein, dass in den 1860er Jahren die Zahl an Sympathisanten, auf die sich die Terroristen hätten verlassen können, relativ gering war.1 Ein Sympathisanten- und Helfernetzwerk war jedoch essentiell für das Funktionieren einer terroristischen Gemeinschaft, da es deren Mitglieder nicht nur mit Spendengeldern versorgte, sondern ihnen auch ein Gefühl der Sinnhaftigkeit ihres politischen Handelns vermittelte. Nicht weniger wichtig war die Tatsache, dass die revolutionäre Bewegung in den 1860ern noch lange nicht an einem Punkt angelangt war, an dem friedliche Mit-

1 In dieser Hinsicht dürfen die Folgen der »nečaevščina« aber durchaus nicht unterbewertet werden. Die negativen Reaktionen im In- und Ausland könnten die Entstehung solcher »Sympathisantenkreise« verzögert haben.

Schluss  265

tel des Widerstands für ausgeschöpft erklärt wurden. Ein Gefühl der Ohnmacht begann sich erst in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre auszubreiten. Als Mitte der 1870er Jahre junge Radikale mit der Losung »Ins Volk!« aufs Land ausströmten, um ihre Ideen von Sozialismus und Fortschritt unter der Bauernschaft zu verbreiten, reagierte die Autokratie mit aller polizeilichen und administrativen Härte. Ein großer Teil der radikalen Jugend war von M ­ ichail Bakunin beeinflusst. Dieser hatte im Anhang zu seinem Buch Staatlichkeit und Anarchie (1873) argumentiert, dass das russische Dorf reif für einen sofortigen »Volksaufstand« sei. Pëtr Lavrov, ein zweiter bedeutender Ideologe der Zeit, verneinte diese Möglichkeit. Auch er rief jedoch zum »Gang ins Volk« auf, um die Bauern auf eine kommende Revolution vorzubereiten. Im Frühjahr 1874 nahm die Bewegung kurzzeitig Massencharakter an. Nicht wenige erprobten dabei Praktiken radikaler Selbstbeschränkung und Selbstbeherrschung wie Fasten oder Schmerzenserduldung. Diese wurden von ihnen aus einem religiösen Kontext entlehnt, wobei die Rezeption wiederum von familiären, schulischen und literarischen Vermittlungsinstanzen beeinflusst gewesen war. Das asketische Ideal hatte deshalb eine unmittelbare Auswirkung auf die Art und Weise, wie Selbstbeherrschung praktiziert und artikuliert wurde.2 Die Artikulation erfolgte auch hier mit Bezug auf religiöse Semantiken. Die Begründung konnte dabei auf mehrere Weisen erfolgen. Einige Radikale glaubten dem »harten Leben« auf dem Land physisch und psychisch nicht gewachsen zu sein. Inspiriert von Rachmetovs Selbstgeißelungsversuchen übten sie sich deshalb in Erduldung von Schmerzen und Hunger. Für andere wiederum stellte Selbstbeschränkung in Bezug auf Nahrung, Kleidung und Komfort einen Versuch dar, die »Bringschuld« (Lavrov) der Bessergestellten zu begleichen und endlich ein »natürliches« Leben in Verbundenheit mit dem »einfachen Volk« zu führen. Das am eigenen Körper erfahrene Leid interpretierten sie dabei oftmals als tiefe moralische Genugtuung einer autonomen, in Einklang mit ihren »natürlichsten« Bedürfnissen handelnden Person. Andere wiederum griffen zurück auf die Theorie des sogenannten rationalen Egoismus, wie sie von Černyševskij und später von Pisarev formuliert wurde. Selbst so radikale Formen wie die Erduldung großer Schmerzen oder der Verzicht auf Nahrung wurden dabei als »egoistisches« Handeln eines »kulturell entwickelten« Individuums interpretiert.

2 Der Punkt ist also nicht, dass die Übung in Selbstbeschränkung und Selbstbeherrschung nur in einer religiösen Tradition Sinn ergeben würde. Für jemanden, der seine Familie und seine gesellschaftliche Stellung aufgab, um ein selbstbestimmtes politisches Leben zu führen, konnte Selbstbeschränkung und Selbstdisziplinierung sicherlich von Nutzen sein. Auch Engels betonte den Nutzen, den der »plebejisch-proletarische Asketismus« in der Anfangsphase der Arbeiterbewegung, habe. Engels, Friedrich: Der Deutsche Bauernkrieg. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Marx-Engels-Werke. Bd. 7. Berlin (Ost) 1960, 327–413, hier 360.

266 Schluss Jahre später deuteten die Memoiristen ein solches Verhalten nicht selten  – selbstironisch oder aber in propagandistischer Absicht  – als Ausdruck einer quasireligiösen Einstellung. Bekannt wurde etwa die auf Kravčinskij zurückgehende und von einigen Memoiristen übernommene Bezeichnung der Revolutionsbewegung der 1870er Jahre als »Kreuzzug« für den Sozialismus, der angeblich »religiösen Bewegungen«3 geglichen habe. Einen weiteren wichtigen Aspekt jener Jahre stellte der auf Lavrovs Beitrag zum politisch-moralischen Denken zurückgehende narodničestvo dar.4 Lavrov zufolge könne der Kampf um die sozialistische Zukunft nur gewonnen werden, wenn »energische, fanatische Menschen« eine Legende schufen, die »ihre eigene wahre Würde, ihre eigentliche Leistung bei Weitem übersteigen würde«5. Dieser Gedanke wurde anschließend von zahlreichen anderen narodniki geäußert und schließlich praktisch umgesetzt. Dadurch kam es zu einer verstärkten »Mythisierung« der Revolutionsbewegung, wobei dem Rekurs auf Martyriumsvorstellungen, die aus religiösen Zusammenhängen dekontextualisiert und im neuen, sozialistischen Kontext aktualisiert wurden, eine wichtige Rolle zufiel. Dadurch veränderte sich das Authentizitätsdenken der Bewegung nachhaltig. Durch die Zusammenführung des Ideals der Selbstverwirklichung mit der Idee der bewussten Legendenbildung verschwammen die Grenzen zwischen Propaganda und Aufrichtigkeit nicht nur in den rein agitatorischen Texten, sondern auch in den Selbstzeugnissen der Revolutionäre. Mit der Festigung eines rigiden moralischen Rahmens wurden die Antworten auf die Frage, was es bedeutet, in Übereinstimmung mit sich selbst zu leben, stark verengt. Die Suche nach den »authentischen« Gefühlen begann ihre Bedeutung zu verlieren. Es ist auffallend, dass die Radikalen in ihrem Bezug auf religiöse Texte und Vorstellungen nur ganz bestimmte Aspekte aufgriffen, andere wiederum ausblendeten oder vehement kritisierten. Der reduktionistische Charakter der Rezeption der Evangelien war darin begründet, dass nur bestimmte Güter und Tugenden mit der atheistischen Ausrichtung der meisten Revolutionäre und ihrem Streben nach politischer Partizipation vereinbar und unter den Bedingungen 3 Lukaševič: V narod! 20. Stepnjak: Podpol’naja Rossija 19. 4 In einer Reihe von Artikeln aus den 1870er Jahren drückte Pëtr Lavrov seine explizit negative Haltung zum »Christlichen Sozialismus« aus. Er verneinte die Aktualität der Ideen der Saint-Simonisten, Étienne Cabets, Weitlings, Buchez’ und anderer. Seiner Meinung nach bestanden keine wesentlichen Gemeinsamkeiten zwischen dem Christentum, seinen zentralen Gütern und Tugenden und dem Sozialismus. In seinem signifikanten Beitrag zum revolutionären Martyriumsdenken sah er jedoch keinen Widerspruch zu dieser Einschätzung. Siehe Lavrov, Pëtr: Religioznye socialisty. In: Šachmatov, B.: Vstan’, čelovek! Moskau 1986, 55–79; Ders.: Socializm i istoričeskoe christianstvo. In: Ebd. 80–93; Ders.: Christianskij ideal pered sudom socializma. In: Ebd. 94–120. Hier stellt sich die prinzipielle Frage, ob eine Weltanschauung, die sich als säkular begreift, notwendigerweise den vollständigen Bruch mit ihren religiösen Ursprungsquellen eingehen muss, um dem eigenen Anspruch zu genügen. 5 Lavrov: Istoričeskie pis’ma 121.

Schluss  267

einer autokratischen Ordnung aktualisierbar waren. So schien beispielsweise die Tugend der Demut schlichtweg inkompatibel mit dem Anspruch zu sein, als ein aktiver, selbstbestimmter, regierungskritischer Akteur am historischen Geschehen aktiv teilzunehmen. »Demut (smirenie)« wurde in aller Regel mit »Unterwürfigkeit (pokornost’)« gleichgesetzt und als solche verdammt. Die Aneignung dieser Tugend komme, wie ein Memoirist schrieb, dem Verrat an der Revolution, dem Ausverkauf der eigenen »Seele«6 gleich. Verbreitung fand deshalb das Bild des militanten und leidenden Christus, während die Bilder des demütigen und vergebenden Christus in revolutionären Selbstdarstellungen praktisch nie auftauchten. Der Vorstellung, dass das Individuum seine Lebensziele frei wählen dürfe und ein Leben in Einklang mit sich selbst führen solle, war sicherlich schlecht vereinbar mit einem autokratischen Monopol auf politische Entscheidungsfindung, einer hierarchischen Gesellschaftsordnung und verbrieften Vorrechten für bestimmte Gruppen. Da gutes Leben vor allem in der »öffentlichen« Sphäre lokalisiert wurde, geriet das Streben nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in einen prinzipiellen Konflikt mit der autokratischen Ordnung. Dieser Konflikt wurde dadurch potenziert, dass das gute Leben als ein elitäres Projekt gedacht wurde, das der Verwirklichung eines an Bedeutung nicht zu überbietenden Hyperguts gewidmet war. Die enge Verknüpfung eines solchen elitären Lebensentwurfes mit einem teleologischen Geschichtsverständnis, der Orientierung an einem einzelnen Hypergut und der Verortung des guten Lebens im Bereich des »Öffentlichen«, mündete schließlich in einem blutigen Feldzug der Revolutionäre gegen die Autokratie. Solange die Hoffnung vorherrschte, dass sich das höchste Gut mit Hilfe von Propaganda und Organisation verwirklichen ließe, blieben terroristische Akte eine Randerscheinung. Nach dem gescheiterten »Gang ins Volk« und den politischen Prozessen der 1870er Jahre, die maßgeblich zur Entstehung von mit den Anliegen der Revolutionäre sympathisierenden Kreisen führte, wurde diese Hoffnung brüchig. So kam es zu einer Intensivierung der Diskussionen um den Einsatz von revolutionärem Terror. Innerhalb der Zemlja i Volja, der größten revolutionären Organisation ihrer Zeit, kam es zu einer Aufsplitterung in derevenščiki und politiki. Letztere hielten die Erringung einer konstitutionellen Reform und anderer politischer Rechte für unabdingbar und tendierten dazu, Terror als legitimes und notwendiges Kampfmittel zu betrachten. Ein derevenščik musste sich mit der Hoffnung begnügen, die Früchte seiner Arbeit, wenn überhaupt, erst in entfernter Zukunft ernten zu können. Ein Terrorist

6 So Ašenbrenner mit ironischem Verweis auf die Versuchung Jesu durch Satan. Ašenbrenner, Michail: Šlissel’burgskaja tjur’ma za 20 let, ot 1884 po 1904 (vospominanija). In: Byloe 1 (1906) 54–93, 59.

268 Schluss hingegen lebte nicht nur in der Überzeugung, dass er seine Lebensziele selbst bestimme, sondern auch an ihrer zeitnahen Verwirklichung arbeite. Sowohl die Suche nach der Unmittelbarkeit der Gefühle als auch die Versuche, die »Zivilisation« hinter sich zu lassen und zur »natürlichen« Lebensweise der Dorfkommunen »zurückzukehren«, verloren dabei ihre Relevanz. Die Suche nach den Ursprüngen des Selbst war obsolet geworden, denn Selbstverwirklichung ereignete sich unmittelbar im Hier und Jetzt. Terrorismus bedeutete in diesem Sinne »die Verwirklichung der Revolution im Gegenwärtigen«7 (Nikolaj Morozov). Zwischen intrinsischer Motivation (politisch-moralische Einstellungen) und staatlichen Repressionen bestand also ein enger Zusammenhang, den sowohl solche Historiker verkennen, die den revolutionären Terror vor allem oder ausschließlich als Antwort auf staatliche Gewalt deuten, als auch Historiker, die rein ideologisch-psychologische Faktoren überbewertet haben.8 Die Umsetzung der terroristischen Agenda, die zunächst noch dem Prinzip der Spontanität folgte, aber schon bald den Charakter eines planmäßigen »Feldzuges« annahm, führte zu zahlreichen Prozessen. Die Strafverfolgung schuf situative Kontexte (z. B. das Warten auf die Hinrichtung in der Haft), die von den Revolutionären, die dabei sicherlich auch französische Vorbilder vor Augen hatten,9 propagandistisch ausgedeutet werden konnten und neue Praktiken und Ausdrucksformen hervorbrachten. Die kurz vor der Hinrichtung geschriebenen Briefe Valerian Osinskijs (1852–1879), Dmitrij Lizogubs (1849–1879) und ­Solomon Wittenbergs (1852–1879) begründeten die Tradition des revolutionären Abschiedsbriefes. Dieser zeichnete sich dadurch aus, dass der zum Tode Verurteilte seine Zuversicht beteuerte, dass die Revolution bald siegen werde, keine Worte der Reue fand und sich selbst als »ruhig«, »gefasst« oder gar als »glücklich« bezeichnete. Der Tod auf dem Schafott wurde somit als würdiger, besondere 7 »Političeskoe ubijstvo – ėto osuščestvlenie revoljucii v nastojaščem.« Zit n. Krov’ po sovesti 92. 8 Zu den ersteren wären vor allem sowjetische Historiker zu zählen. Zu den letzteren könnte man Anna Geifman und Richard Pipes rechnen. Um die These zu unterstützen, dass revolutionärer Terror eher Ausdruck einer ideologischen Einstellung und des Wunsches nach Selbstzerstörung (sic!) gewesen sei, als eine Reaktion auf staatliche Gewalt, stellte Pipes die polemische Frage, wie die Entstehung der Roten Armee Fraktion in einem demokratischen Land wie der Bundesrepublik möglich gewesen sei. Pipes, Richard: The Degaev Affair. Terror and Treason in Tsarist Russia. New Haven 2003, 29. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass nicht nur Hypergüter illusorisch, sondern auch die Wahrnehmung und intersubjektive Bewertung der (auch aus der Demokratie nicht wegzudenkenden!) staatlichen Gewalt inadäquat sein können. Problematisch ist außerdem Pipes Verweis (ebd. 136) auf Solženicyns odiöses Zweihundert Jahre zusammen, zumal Solženicyn seinen »Zeugen« Dejč sinnenstellend zitiert, um die mentale Instabilität der (jüdischen) Revolutionäre zu »beweisen«. Vgl. Solženicyn, Aleksandr: Dvesti let vmeste (1795–1995). Bd. 1. Moskau 2001, 224 und Dejč, Lev: Rol’ evreev v russkom osvoboditel’nom dviženii. 2. Auflage. Moskau, Leningrad 1925, 38. 9 Zu Abschiedsbriefen aus der Zeit der Französischen Revolution siehe Schlinzig, Marie Isabel: Abschiedsbriefe in Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts. Berlin 2012, 191.

Schluss  269

Abb. 6: Der eigene Tod als performativer Akt: Die »stumme« Botschaft der Terroristen regte die interpretative Phantasie der Mitstreiter und Sympathisanten an. Aus Process socialistov Valer’jana Osinskogo, Sofii Lešern-fon-Gercfel’d i Varfolomeja Vološenko. [Genf] 1879, 13.

Achtung verdienender Abschluss eines guten Lebens für die »Befreiung« der Menschheit imaginiert. Während der Abschiedsbrief Auskunft über die Güter und Wünsche des Revolutionärs gab, suggerierte der anschließende gewaltsame Tod, dass der Verstorbene tatsächlich in Einklang mit seinen innigsten Bedürfnissen, Wünschen und moralischen Überzeugungen gelebt habe. Dabei steigerte die subjektiv empfundene Adäquatheit der medialen Selbstdarstellung der zum Tode verurteilten die Überzeugungskraft der revolutionären Botschaft. Der Faszination dieser Authentizitätskonzeption erlagen weite Teile der Intelligenzija. In diesem Zusammenhang sprachen Revolutionäre nicht selten von ihrem »Glauben« an die kommende Revolution, betonten mit Verweis auf Jak 2,17, dass der Glaube ohne Taten tot sei oder evozierten die für den »Glauben« gestorbenen »Märtyrer«. Der Begriff »Glaube« war nicht zufällig gewählt. Er sollte die obščestvennost’ von der moralischen Integrität des Terroristen überzeugen, indem er auf die Gültigkeit von Gütern und Tugenden verwies, die von den Revolutionären aus einem religiösen Kontext entlehnt und neu interpretiert worden waren.

270 Schluss Der zentrale Begriff, der im Zusammenhang von »Glaube« und gewaltsamen Tod immer wieder fiel, war der des »Martyriums«. Die Figur des Terroristen vereinigte in sich, wie Fel’dman und Odesskij gezeigt haben,10 die Figur des Tyrannenmörders mit der des christlichen Märtyrers. Beide verhielten sich komplementär zueinander. Im Gegensatz zu einem antiken Tyrannenmörder konnte der Terrorist aber auch versuchen, den Ort seiner Tat zu verlassen. So handelte etwa Kravčinskij, der zwar für sein Attentat den Dolch als Symbol der Tyrannenbekämpfung gewählt hatte, nach der Ermordung Mezencevs aber eine erfolgreiche Flucht unternahm.11 Insbesondere bei Sprengstoff-Attentaten waren jedoch die Überlebenschancen wesentlich geringer: Der Terrorist starb oftmals zusammen mit seinem Opfer. Außerdem konnte der Großteil der gefassten Terroristen mit der Hinrichtung rechnen. Die Interpretation des »Selbstopfers« ahmte weniger antike Muster nach, sondern erfolgte im Rahmen der christlichen Tradition, was wiederum mit dem moralischen Empfinden der »Gesellschaft«, an die sich der Terrorist mit seiner Tat auch immer wandte, zusammenhing: Um seinen Status als Agent des Guten nicht zu verlieren, musste der Täter gleichzeitig Opfer sein. Das »Martyrium« blieb bis zum Ende des Zarenreichs eine wichtige Motivationsund Inspirationsquelle für russische Radikale. Sozialistische Martyriumsvorstellungen orientierten sich dabei eng am christlichen Vorbild: Der Revolutionär sollte sich demnach vor Gericht und vor Zuschauern zu seinen politischen Überzeugungen bekennen. Durch das Erstaunen über die Standhaftigkeit des Revolutionärs und das Mitleid, das sein Tod erzeugen mochte, sollte der Beobachter zum Nachdenken über das Anliegen der Revolutionäre gebracht werden. Der Ursprungskontext hatte somit sowohl Einfluss auf die Art und Weise, wie »Selbstaufopferung« praktiziert wurde, als auch auf die Form ihrer Artikulation.12 10 Diesen Nexus übernahmen die russischen Revolutionäre aus dem Ideenfundus der Französischen Revolution. Die penetrante Bemühung antiker Vorbilder zur Zeit der Konventsherrschaft war eng verknüpft mit dem Kult um die »Märtyrer der Revolution«. Fel’dman /  Odesskij: Poėtika terrora 60–61. 11 Kravčinskij insistierte später, dass sein eigener Tod der Revolution keinen Nutzen gebracht hätte. Fel’dman, David / Odesskij, Michail: Poėtika terrora. Puškin, F. Dostoevskij, Andrej Belyj, B. Savinkov. In: Obščestvennye nauki i sovremennost’ 2 (1992) 81–93, 89. Verhoeven hat argumentiert, dass Karakozovs Schuss den Bruch mit der Tradition des Tyrannenmordes und den Übergang zum modernen Terrorismus markiert, da hier nicht die Person des Herrschers, sondern die Institution des Zaren angegriffen wurde. Dies.: Odd man Karakozov 179. Ähnlich argumentieren Fel’dman und Odeeskij. Dies. Poėtika vlasti 126. Allerdings bestreiten die Forscher die Einmaligkeit des »Schusses« und verorten den Übergang zum modernen Terrorismus im gesamteuropäischen Kontext der Jahrhundertmitte. 12 Die Tatsache, dass nicht etwa die Zurückstellung eigener Interessen und Bedürfnisse hinter die Interessen und Bedürfnisse des Anderen als eine legitime Form der »Selbstaufopferung« gedeutet wurde, hatte etwas mit der reduktionistischen Interpretation der Evangelien zu tun. So gewann beispielsweise der Bruch mit der Familie seine Signifikanz erst durch die radikale Interpretation von Mt 10,37–38 und Lk 14,26.

Schluss  271

Bis zum 1. März 1881 wurden um die drei Dutzend Revolutionäre hingerichtet. Um sie herum entstand eine Kultur der exaltierten Verehrung, der bei der Werbung um Sympathien und Finanzmittel, der Gewinnung neuer Anhänger und der Selbstdisziplinierung eine größere Bedeutung zukam als rein theoretischen Texten. Versteht man das öffentliche Martyrium im frühen Christentum als »das Bekenntnis zum christlichen Glauben vor den staatlichen Behörden und vor Gericht in Anwesenheit der Zuschauer, die sich üblicherweise dabei einfinden«13, so machten sich die Revolutionäre genau jene verbreitete Interpretation für ihre Anliegen zunutze. Auf diese Weise sollte der Sozialismus »tiefe Wurzeln in die Gesellschaft« (Ivan Koval’skij) schlagen. Die logische Konsequenz, die die Regierung aus dem Erfolg dieser Strategie zog, war das Verbot von öffentlichen Prozessen und Hinrichtungen. Im August 1881 folgte das Verbot, Prozess­mitschriften zu veröffentlichen. Das narodovol’čestvo führte die »Selbstmythisierung« zu einem Punkt, an dem die Grenzen zwischen dem »Öffentlichen« und »Privaten«, zwischen propagandistischen Floskeln und subjektiven, mit dem eigenen Tod verbürgten Überzeugungen endgültig aufgeweicht, wenn auch nicht vollständig aufgegeben wurden. Dies zeigte sich nicht zuletzt in den an die Angehörigen verfassten Briefen, in denen Propaganda und Intimität eine außergewöhnliche Symbiose eingingen. Dabei vermieden die Verfasser in der Regel gängige revolutionäre Klischees, was in einigen Fällen aus Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Verwandten, in anderen Fällen mit Blick auf die Gefängniszensur geschah. Es lässt sich die Tendenz beobachten, dass verurteilte Revolutionäre, die nicht davon ausgingen, dass ihre Briefe jemals veröffentlicht werden würden, auch seltener mittels starker Wertungen Auskunft über ihre Position im moralischen Rahmen der Revolution gaben. Nach der nahezu vollständigen Zerschlagung der Narodnaja volja in den ersten Herrschaftsjahren Alexanders  III . zerfiel die Revolutionsbewegung in unbedeutende, miteinander oft nicht einmal im Kontakt stehende Zirkel. Der von ihr geschaffene »Mythos« wirkte jedoch fort, wobei Ereignisse wie die »Tragödie von Jakutien« oder die »Tragödie von Kara« und die Hinrichtungen der 1880er Jahre sowie ihre nachträgliche propagandistische Instrumentalisierung in der radikalen Literatur eine entscheidende Rolle spielten. Seit den 1880er Jahren begannen ehemalige narodniki dezidiert marxistische Positionen zu vertreten. In den 1890er Jahren wurde der Marxismus schließlich kurzzeitig zur dominanten ideologischen Strömung, deren Vertreter 1898 nominell die Russländische sozialdemokratische Arbeiterpartei gründeten. Im Sommer 1903 wurden innerhalb der RSDRP zwei Hauptströmungen erkennbar, der Menschewismus und der Bolschewismus, die sich 1917 endgültig organisatorisch und ideologisch trennten. Die institutionelle Konsolidierung der das 13 Stritzky: Einleitung 15.

272 Schluss Erbe des narodničestvo stärker betonenden sozialistischen Gruppen erfolgte im Winter 1901/1902. Personelle Fluktuationen zwischen dem Lager des Marxismus und dem des neonarodničestvo waren keine Seltenheit, was daran liegt, dass zu dieser Zeit so etwas wie ein verbindender moralischer Rahmen existierte. Wer sich innerhalb dieses Rahmens orientierte, verstand sich – unabhängig von seiner politischen Ausrichtung  – als Kämpfer gegen eine ungerechte, die Würde des Menschen verachtende politische und ökonomische Ordnung. Einigkeit bestand zudem darüber, dass diese Ordnung früher oder später durch eine sozialistische abgelöst werden würde, in der der »befreite« Mensch Glück und – bedingt durch die Aufhebung der Entfremdung vom Produkt seiner Arbeit – Ganzheitlichkeit erfahren werde. Für die Entscheidung, sich der einen oder anderen Richtung anzuschließen, mögen sicherlich ideologische Präferenzen eine gewichtige Rolle gespielt haben. Hinzu konnten jedoch auch nicht-politische Gründe kommen, wie zum Beispiel persönliche Sympathien und Antipathien. Ein nicht weniger wichtiger Aspekt betraf die Selbstsicht der Revolutionäre: Wer die alte Tugend der individuellen »Selbstaufopferung«14 stärker hervorhob und sich vom terroristischen Konzept des »Martyriums« angezogen fühlte, konnte im neonarodničestvo eine politische Heimat finden. Wer hingegen das Bauerntum mit dem rückständigen »Asiatentum (aziatčina)« in Verbindung brachte und den Bauern das »fortschrittliche« europäische Proletariat entgegensetzte, tendierte in der Regel zur Sozialdemokratie. Hinzu kam, dass die Sozialrevolutionäre Partei weltanschaulich offener war und sogar gläubige Menschen zu ihren Parteimitgliedern zählte, während zumindest die bolschewistische Fraktion großen Wert auf eine atheistische Aus-

14 Auch die Tugend der radikalen Selbstbeschränkung wurde von den Marxisten und Populisten geübt. Siehe dazu zum Beispiel RGASPI f. 76, o. 4, d. 4 oder GA RF f. 5831, p. 1, d. 369, l. 1–2. Die Quellen legen jedoch nahe, dass gerade im sogenannten Silbernen Zeitalter radikale Selbstbeschränkung ihre Anziehungskraft einzubüßen begann. Darauf deuten sowohl ihre vergleichsweise seltene Thematisierung in den Texten der Bewegung hin als auch die Beobachtungen älterer Revolutionäre. So schrieb beispielsweise Vera Figner, dass der »Asketismus, welcher der früheren Generation eigen gewesen war« verschwunden sei. Ins Auge seien ihr die »große Nachsicht gegenüber den verschiedenen Schwächen der Parteimitglieder und ihre großen Bedürfnisse in Bezug zum materiellen Lebensstandard (Wohnung, Kleidung, Essen, Unterhaltung)« gefallen. Nachdem sie von Boris Savinkov erfahren hatte, dass sich Revolutionärinnen Lockenwickler in die Zellen bringen ließen, soll sie mit Empörung reagiert haben. Savinkov teilte jedoch Figners Auffassung nicht. Siehe dazu Rindlis­ bacher: Leben für die Sache 255 ff. Als Kopf der Kampforganisation (1909–1911) pflegte Savinkov selbst einen aufwendigen Lebensstil, der nicht nur rein konspirative Gründe hatte. So gab er sich beispielsweise während einer schweren persönlichen und innerparteilichen Krise dem Glücksspiel (Karten, Roulette, Pferderennen) hin. Letzteres stellte einen Tabubruch dar. Siehe dazu Kruglyj stol ›Boris Savinkov v istoričeskom i v sovremennom obščestvenno-političeskom diskursach‹, 19. Januar 2016, URL : http://www.youtube.com/watch?v=g0JrE2tezOg (am 28.03.17).

Schluss  273

richtung ihrer Mitglieder legte, was sich auch in statistischen Daten niederzuschlagen scheint. Da die Diskussionen über den Nutzen des revolutionären Terrors über die 1880er und 1890er hinweg nicht abbrachen und zudem personelle Kontinuitäten zwischen dem »alten« und dem »neuen« narodničestvo bestanden, konnte es 1902 zu einer Wiederaufnahme des »terroristischen Kampfes« kommen. In seiner Anfangsphase (1902–1905) erzielte der sozialrevolutionäre Terror beträchtliche Erfolge und sicherte der PSR Sympathien und Gelder. Dabei knüpften ihre Terroristen mit einigen Ausnahmen direkt an die von den politiki und narodovol’cy vorgeprägten Strategien der »Selbstmythisierung« an. Der Terrorist sollte im Einklang mit seinen Wünschen und Überzeugungen handeln, wofür die Einheit von Wort (Bekennerschreiben) und Tat (Ermordung des Feindes) bürgen sollte. Er sollte im Gegenzug für sein »Selbstopfer« nichts verlangen und über die Genugtuung Rechenschaft ablegen, die ihm das Leben und Sterben für das Gute bereiten würden. Daraufhin feierten die Genossen den toten Terroristen als »Helden«, »Märtyrer« und »heilige Persönlichkeit«. Diese Form »öffentlicher« und parteiinterner Anerkennung scheint fundamental für das Funktionieren der terroristischen Gemeinschaft gewesen zu sein. Mit der Ersten Revolution wuchs die revolutionäre Bewegung zu einer Massenbewegung an, wobei im verstärkten Maße Menschen in die Parteien eintraten, die mit den moralischen Überzeugungen der Revolutionäre nicht vertraut waren, was sich sowohl in ihren Konflikten mit den »alten« Revolutionären, als auch in den Abschiedsbriefen derer, die der autokratischen Justiz zum Opfer fielen, niederschlug. Die Folge des »Anwachsens« der Revolution war der Massenterror der Jahre 1905–1911, der tausende von Todesopfern forderte. Durch den inflationären Gebrauch der Begriffe »Märtyrer« und »Martyrium« und die große Zahl an nicht intendierten Terroropfern wurde das Konzept des revolutionären »Martyriums« entwertet. Die konstitutionellen Eingeständnisse der Regierung, das »Ausufern« des Terrors und die Folgen der »azefščina« führten dazu, dass die terroristische Bewegung Sympathien im In- und Ausland zu verlieren begann und die sogenannte Zweite terroristische Welle schließlich abebbte. Die nach 1907 einsetzende Krise verstärkte zentrifugale Tendenzen in beiden Parteien und begrenzte die Handlungsfähigkeit der Revolutionäre.15 Immer 15 Ein Teil der Menschewiken, die sogenannten Liquidatoren, forderten zu dieser Zeit einen signifikanten Abbau der illegalen Parteistrukturen zugunsten der Arbeit unter legalen Bedingungen, um später einmal eine sozialdemokratische Partei westeuropäischen Typs gründen zu können. Innerhalb der bolschewistischen Fraktion wurde Lenins Führungsposition von Aleksandr Bogdanov und der Vorwärts-Gruppe demonstrativ in Frage gestellt. Innerhalb der PSR bildete sich die fraktionelle Gruppe der Initiativen Minderheit heraus, die eine extrem kritische Haltung zum Marxismus einnahm und die Rolle des Individuums und des revolutionären Terrors im historischen Geschehen betonte. Diese Fraktion trat 1909

274 Schluss mehr Parteimitglieder landeten in den zarischen Gefängnissen, was die in Freiheit verbliebenen Mitglieder zusätzlich demoralisierte und eine noch stärkere Durchdringung der Organisationen mit Polizeimitarbeitern ermöglichte. In den Reihen der Revolutionäre herrschten, wie ein bolschewistisches Flugblatt aus der Kriegszeit klagte, »Müdigkeit, Renegatentum und allgemeine Flucht der Intelligenzija«16. Diese Situation begann sich erst Anfang der 1910er Jahre zu bessern, wobei insbesondere die Bolschewiken ihre Positionen stärken konnten, während die Sozialrevolutionäre größte Schwierigkeiten hatten, ihre Kräfte zu reorganisieren. Einen gewichtigen Einschnitt bildete der Beginn des Ersten Weltkriegs, der die sozialistische Bewegung Europas in »Internationalisten« und Befürworter einer wie auch immer formulierten »Burgfriedenspolitik« spaltete, wobei der russländische Sozialismus keine Ausnahme bildete. Während des Krieges befanden sich die meisten führenden Köpfe der sozialistischen Parteien Russlands im Ausland. Die Februarrevolution traf sie unerwartet.17 In der älteren Literatur wurde oftmals die These geäußert, dass der um 1890 einsetzende rapide Industrialisierungs- und Modernisierungsprozess »neue Werte« wie Individualismus und Selbstverwirklichung forciert habe, denen die Intelligenzija ablehnend gegenübergestanden habe.18 Eine solche These ließe sich jedoch nur dann aufrechterhalten, wenn die Komplexität und Diversität historiaus der Partei aus. Eine andere Gruppe, die »počinovcy«, stellten die Prinzipien der Partei nicht infrage, forderten aber ähnlich wie die menschewistischen »Liquidatoren« die illegalen Strukturen stärker einzudämmen. 16 »Razgrom našich organizacij, polnoe otsutstvie rabočej pressy, ustalost’, renegatstvo i pogolovnoe begstvo intelligencii, ›razočarovavšejsja‹ v revoljucionnych idealach i ušedšej na službu k buržuazii […] – vot čto prišlos’ perežit’ proletariatu v čërnye 1908–1910 gg.« Zit. n. Bol’ševiki v gody imperialističeskoj vojny 112. 17 Die Leninfraktionen rückte im Großen und Ganzen nicht von den Antikriegsbe­ schlüssen der Zweiten Internationale (1907, 1910, 1912) ab. Vom Krieg erhoffte sich Lenin Revolutionen in ganz Europa, die in Russland zur Errichtung einer bourgeoisen Demokratie führen sollten. Er vertrat dabei die Minderheitenmeinung, dass Russland den Krieg verlieren müsse, um die Autokratie stürzen zu können. Die menschewistische Fraktion wurde durch die Kriegsfrage gespalten. Die »Patrioten« sprachen sich für einen Sieg der Entente aus, während die »Internationalisten« einen baldmöglichen, gerechten europäischen Friedensschluss forderten. Die »Vaterlandsverteidiger (oboroncy)«, die dazu aufforderten, den »Verteidigungskrieg« gegen Deutschland zu unterstützen, kritisierten aber anders als die »Patrioten« nicht die Annexionsbestrebungen des Reiches. In sozialrevolutionären Kreisen dominierte zunächst das »oborončestvo«, das erst gegen Ende des Krieges an Unterstützern zu verlieren begann. Tjutjukin / Lel’šuk: Bol’ševiki 251–256; Tjutjukin: Men’ševiki 237–241; Erofeev, N.: Socialisty-revoljucionery (seredina 90-ch XIX v. – oktjabr’ 1917 goda). In: Zeveleva, A. / Sviridenko, Ju. u. a. (Hg.): Političeskie partii Rossii. Istorija i sovremennost’. Moskau 2000, 169–209, hier 196–202; Rindlisbacher: Leben für die Sache 289 ff. Read: Lenin 92–141. 18 Siehe zum Beispiel Rosenthal, Bernice Glatzer: Occultism as a Response to a Spiritual Crisis. In: Menzel, Birgit u. a. (Hg.): The New Age of Russia. Occult and Esoteric Dimensions. München, Berlin 2012, 390–420, hier 391.

Schluss  275

scher Variationen unberücksichtigt bleibt. Im moralischen Rahmen der russländischen Revolutionäre spielte die Würde des autonom denkenden und handelnden, nach einem eigenen, unverwechselbaren Weg suchenden Individuums eine entscheidende Rolle. Die Kultur des »Silbernen Zeitalters«, nietzscheanische Einflüsse und die postrevolutionäre Krise verstärkten diese Vorstellungen zusätzlich. Die systematische Verletzung der menschlichen Würde (»čelovečeskoe dostoinstvo«) durch die autokratische und kapitalistische Ordnung sollte gerächt und das ungerechte System durch ein neues, sozialistisches ersetzt werden. Als Sozialisten waren die Revolutionäre jedoch davon überzeugt, dass ein selbstbestimmtes Leben nur in der Gemeinschaft möglich sei, da nur jene die negativen Seiten des Individualismus beschränken könne. Dabei scheint es kein Zufall zu sein, dass sich gerade unter den ungewöhnlichen, durch ihren revolutionären Eifer auszeichnenden Persönlichkeiten so viele Menschen befanden, die selbst oder deren Eltern zu stigmatisierten Gruppen (Juden, Altgläubige, Polen) gehört hatten, wenngleich bedacht werden sollte, dass neben der Verfolgungstradition eine Vielzahl anderer Faktoren eine Rolle gespielt hatte. Der demokratische Teil der Bewegung ging von der Notwendigkeit eines schrittweisen und reformorientierten Fortschritts hin zum Sozialismus aus.19 Demokratische Sozialisten kamen außerdem immer wieder zu dem Schluss, dass der Sozialismus die Persönlichkeit des Menschen nicht auf radikale Art und Weise verändern könne. Für sie ließ sich die Entwicklung des »neuen Menschen« nur als langwieriger und vor allem individueller Prozess begreifen, der von einer Vielzahl von Faktoren (zu denen nicht zuletzt die Natur des Menschen zähle)  abhänge.20 Aus diesem Grund stellte der »Schützengraben-KasernenQuasisozialismus« (Julius Martov) der Bolschewiken für die moderate Linke einen Angriff auf die der europäischen Kultur eigene Idee der »Individualität«21 des Menschen dar. Im »radikalen« Flügel herrschte jedoch die Vorstellung, dass das moderne sozialistische Denken bereits valide Antworten auf die ökonomischen, sozialen und ethischen Fragen der Zukunft gefunden habe. Sie setz 19 Morozov: Partija socialistov-revoljucionerov 15. 20 So zum Beispiel Michail Goc. GA RF f. 6243, o. 1, d. 1. 37. 21 So Martov in einem Brief an Kristi vom 30.12.1917. »Dlja menja socializm vsegda byl ne otricaniem individual’noj svobody i individual’nosti, a naprotiv, vysšim ich voploščeniem, i načalo kollektivizma predstavljal sebe prjamo protivopoložnym ›stadnosti‹ i nivelirovke. Da ne inače ponimajut socializm i vse, vospotannye na Markse i evropejskoj istorii. Zdes’ že rascvetaet takoj ›okopno-kazarmennyj‹ kvazi-socializm, osnovannyj na vsestoronnem ›oproščenii‹ vsej žizni, na kul’te daže ne ›mozolistogo kulaka‹, a prosto kulaka, čto čuvstvueš’ sebja kak budto by vinovnym pered vsjakim kul’turnym buržua.« Aronson, Grigorij (Hg.): Martov i ego blizkie. Sbornik. New York 1959, 47–48. Hier zit n. Martov i ego blizkie, URL : http://socialist.memo.ru/books/perli/martov/martov04.htmhttp://socialist.memo.ru/books/ perli/martov/martov04.htm (am 04.04.17). Martov begrüßte die Entmachtung der alten besitzenden Klassen, blieb aber bis zu seinem Tod ein Gegner von »sozialistischen Experimenten«. So Tjutjukin, Stanislav: Men’ševizm. Stranicy istorii. Moskau 2002, 434.

276 Schluss ten die »Interessen« der Gemeinschaft mit den eigenen »Interessen« gleich und interpretierten sich als eine Kraft, die den politischen Willen der Gemeinschaft adäquat repräsentiere. Dies entsprach sicherlich dem elitären Denken der Revolutionäre, die das »Leben für die Sache« als eine »höhere Lebensform« bewerteten als das »gewöhnliche Leben«. Moralische Dilemmata Der moralische Rahmen der Revolutionsbewegung war durch zwei fundamentale Probleme charakterisiert. Die Vorstellung, dass das menschliche Leben ein hohes, Achtung verdienendes Gut sei, und der Wunsch, die Revolution und damit das Gute mittels terroristischer Praktiken näherzubringen, standen im Konflikt zueinander. Dieser wurde dadurch verkompliziert, dass zu den Opfern der Anschläge nicht nur hohe Repräsentanten des Staates, sondern oftmals auch zufällig am Tatort anwesende Passanten zählten, in einigen Fällen auch Frauen und Kinder (beide Gruppen verdienten nach allgemeiner, auch in Revolutionskreisen verbreiteter Auffassung einen besonderen Schutz), sowie Arbeiter, Bauern und Soldaten. Die Revolutionäre versuchten, dieses Dilemma auf verschiedene Arten zu lösen, beziehungsweise zu kaschieren. Eine gangbare Option bestand darin, eine utilitaristische Rechnung aufzustellen. So wurde etwa argumentiert, dass die Leidenssumme aller zukünftigen, im Sozialismus lebenden Generationen niedriger sein werde als die Leidenssumme der Generation, die den revolutionären Terror durchleben müsse und von der nahenden Revolution mit großer Wahrscheinlichkeit in einen blutigen Bürgerkrieg gestürzt werde.22 Eine andere Legitimierungsoption bestand darin, auf den eigenen Opferstatus zu verweisen und die Leiden der Opfer terroristischer Anschläge aus dem Diskurs auszuschließen. Dabei wurde oftmals mit Hilfe religiöser Semantiken die Person des Terroristen verklärt. Es muss jedoch betont werden, dass der Rückgriff auf religiöse Semantiken und religiös imprägnierte Konzepte im Besonderen nicht die einzige Möglichkeit des Umgangs mit den Aporien der Gewalt war. Anstelle eines Appells an den sozialistischen »Glauben« oder den Wert des »Martyriums« konnte beispielsweise die nebulöse »moralische Kraft« der Revolution evoziert werden und ihre wie auch immer zu verstehende »Erhabenheit«23. Was religiöse Bilder als Motivationsquelle betrifft, so standen auch diese nicht selten neben Bildern, die auf (rein) säkulare Zusammenhänge verwiesen. Ein anderes Problem ergab sich aus der graduellen Unterscheidung zwischen einem »höheren Leben« für die »Befreiung« der Menschheit und dem »gewöhnlichen Leben« für die Familie. Diese Unterscheidung war ihrerseits eng verbun 22 Lavrov: Social’naja revoljucija i zadači nravstvennosti 448. 23 Zaključenija s’’ezda 7.

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den mit der Evaluierung der »Ich-Wir-Balance«, die das narodničestvo unter anderem auch aus dem Ideenfundus des »Christlichen Sozialismus« übernommen hatte.24 Die Realisierung der als »öffentlich« verstandenen Interessen wurde als ein sehr persönliches Anliegen interpretiert, das »persönliche Glück« hinter das »Glück der Gemeinschaft« zurückgestellt. Am radikalsten wurde diese Kritik an einem als destruktiv empfundenen, den privaten Interessen Vorrang gewährenden Individualismus im narodničestvo der 1870er und 1880er Jahre ausgelegt. Sexualität und Familie galten vielen Revolutionären dieser Zeit nicht nur als unvereinbar mit dem revolutionären Leben, sondern auch als zweitrangig gegenüber der großen kollektiven Aufgabe oder gar als schädlich für die Revolutionsbewegung. Ehen und eheähnliche Verhältnisse zwischen aktiven Revolutionären und Menschen, die der sozialistischen Bewegung fernstanden, blieben schon aus rein praktischen Gründen eine große Seltenheit. Revolutionäre, die in dieser Zeit politisch aktiv waren, betrachteten später die etwas größere Betonung sexueller Erfüllung und familiärer Verpflichtungen innerhalb der Revolutionsbewegung des Fin de siècle oftmals mit Skepsis. Problematisch wurde die Betonung des Primats der Revolution vor allem dann, wenn gemeinsame Kinder versorgt werden mussten. In den meisten Fällen fiel diese Aufgabe der Mutter zu,25 während der Vater weiterhin politisch aktiv blieb. Zum Tode verurteilte Revolutionäre artikulierten in der Regel in der einen oder anderen Weise ihre »Schuld« vor den nahen Verwandten. Die Vorstellung von einer Hierarchie der Lebensentwürfe brachte jedoch ein weiteres Problem mit sich. Das Paradoxe an der Revolutionsbewegung war, dass sie sich als Trägerin des Protestes gegen die herrschenden Eliten verstand, aber im Kampf für die Gleichheit aller ein ausgeprägt elitäres Denken entwickelte. Die Revolutionäre kämpften für eine Welt, in der das »gewöhnliche Leben« eines von ökonomischen und politischen Zwängen befreiten, in die Gemeinschaft gut integrierten Bauern und Arbeiters zum eigentlichen Ort des »guten Lebens« werden sollte, verstanden aber diesen Kampf als eine Tätigkeit, der eine unvergleichlich höhere Stellung zukommen sollte. Dass ein solches Selbstverständnis Paternalismus implizieren konnte und sogar musste, liegt auf der Hand. Die Revolutionäre waren gespalten zwischen der Angst vor dem und der Bewunderung für das »Volk«. Sie sahen sich gezwungen, ihr Leben für dessen Wohlergehen aufzuopfern, fürchteten aber zugleich, von ihm missverstanden zu werden. Es 24 Sehr plakativ wurde dieser Sachverhalt von John Goodwyn Barmby, einem wichtigen Unterstützer Robert Owens, zum Ausdruck gebracht: »[…] I believe […] that the devine is communism, that the demoniac is individualism«. Hier zit. n. Billington: Fire in the Minds of Men 255. 25 Dies änderte sich auch in den Jahren 1894 bis 1917 nur geringfügig. Beate Fieseler zeigt, dass trotz großer Schritte hin zur Gleichberechtigung, traditionelle Rollenbilder weiterhin bestehen blieben. Fieseler, Beate: Frauen auf dem Weg in die russische Sozialdemokratie, 1890–1917. Eine kollektive Biographie. Stuttgart 1995.

278 Schluss gab zudem die Angst, dass die »Volksmassen« sich gegen den Sozialismus und für die Autokratie oder eine ähnliche repressive Ordnung entscheiden könnten. Die Vorstellung, dass der Revolutionär ein selbstloser, disziplinierter, sich selbst gegenüber schonungsloser, der Sache der Befreiung bis zum letzten Atemzug ergebener Mensch sein müsse, war in der Praxis ein nur äußerst schwer zu verwirklichendes Ideal. Insbesondere das sowjetische Bild des »stählernen« Bolschewiken gehört in den Bereich des ideologisch verzerrten Wunschdenkens. Die Selbstzeugnisse der Teilnehmer der Revolutionsbewegung geben genügend Hinweise auf massive Selbstzweifel26 und auf das Hadern mit der eigenen geistigen und physischen Verausgabung, die bei einem Leben im Untergrund, im Gefängnis oder der Verbannung früher oder später eintreten mussten. Die hohe Zahl an Gnadengesuchen, die trotz der rigiden Ächtung dieser Praxis durch die revolutionäre Gemeinschaft nicht abnahm, sowie die hohe Zahl an Revolutionären, die sich aus der aktiven »Politik« zurückzogen,27 scheinen diese Vermutung zu bestätigen. Viele revolutionäre Biographien weisen ein Missverhältnis zwischen Wünschen, Gütern und Bestrebungen auf. Dies lag daran, dass das Verhältnis zur Familie, zur Arbeit, zum Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung, Genuss und Komfort von einem einzigen Hypergut abhängig gemacht wurde. Das gute, gelingende Leben lag weniger in der Verwirklichung einer verhältnismäßigen, kohärenten Relation der Einzelgüter und Wünsche zueinander als im Vermögen, persönliche, in diesem Falle als gesellschaftlich zweckfrei empfundene Wünsche den politischen Erfordernissen unterzuordnen. Die Orientierung an einem einzigen Hypergut, von dem streng genommen nicht einmal klar war, ob es tatsächlich zur eigenen Lebenszeit erreichbar sein

26 Dieser »Teufel des Unglaubens (bes neverija)«, wie Michail Goc sich ausdrückte, suchte die Revolutionäre besonders während langer Gefängnisaufenthalte und im Exil heim. Dabei stellten sich tückische Fragen: Wie kann sich jemand seiner sozialistischen Überzeugungen sicher sein, der nie die Zeit gehabt hatte, systematisch zu lesen, der zwar Marx studiert, aber Ricardo nie verstanden und Mill nur in der Černyševskij-Interpretation kannte? Für die Selbstzweifel, die einen Revolutionär in einer solchen Situation geplagt haben mögen, fand Goc folgende eindrucksvollen Worte: »Du erkennst selbst, dass deine Überzeugungen nicht sehr fest in dir sitzen, dass du sogar dir selbst gegenüber Angst hast, dies einzugestehen; du hast Angst, dass du dein ganzes Leben als nutzlos anerkennen wirst müssen, als verloren, als zerschlagen auf der Suche nach Phantasmen, du hast davor umso mehr Angst, als du die Unmöglichkeit begreifst, die Sache zu bessern, von vorne anzufangen, da die Jugend nicht zurückgeholt werden kann?..« GA RF f. 6243, o.1, d. 1, l. 174–176. 27 Die im enzyklopädischen Werk Dejateli revoljucionnogo dviženija enthaltenen Biographien legen die Schlussfolgerung nahe, dass ein Großteil der Revolutionäre die aktive Revolutionstätigkeit früher oder später aufgab und sich Berufe suchte, mit denen sich ein Lebensunterhalt verdienen ließ. Dies lag sicherlich zum einem daran, dass sich alte Zirkel und revolutionäre Organisationen auflösten, der Anschluss an neue verpasst, Familien gegründet wurden und ein Leben in der Illegalität mit zunehmendem Alter als Belastung empfunden werden musste.

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werde, musste früher oder später als Belastung empfunden werden. In diesem Sinne kann man von einem »labilen Selbst« sprechen. Der geschlossene Rahmen der Revolution scheint in der Praxis schwer umsetzbare und für Identitätskrisen anfällige Lebensentwürfe hervorgebracht zu haben. Wenn man die These ernst nimmt, dass die Evaluierung des moralischen Rahmens zu einer »Umwertung der Werte« und damit zu einer Identitätskrise führen kann, so musste auch hier die Selbstverortung innerhalb eines großen, teleologischen Geschichtsprozesses und der Rekurs auf große religiöse Bilder (Christusbilder, Paradies, Hölle) stabilisierend gewirkt haben.28 Die von Anna Geifman vorgebrachte These, dass gerade Menschen mit einer labilen Persönlichkeitsstruktur oder gar psychischer Devianz von der terroristischen Bewegung angezogen wurden, scheint mir dieses Problem hingegen zu vereinfachen. Eine solche Annahme setzt ein reziprokes Verhältnis zwischen Werten, Emotionen, Ideologie, politischem Handeln und der menschlichen Psyche voraus und missachtet die Tatsache, dass auch Menschen, die ein Außenstehender als rational und psychisch gesund einschätzen würde, ungewöhnliche moralische Einstellungen entwickeln und selbstgefährdende terroristische Akte begehen können. Die Revolutionsbewegung kannte zwei große Krisen. Die erste war bedingt durch die Zerschlagung der Narodnaja Volja und des sie unterstützenden Umfeldes in einzelne, untereinander oft nicht mehr vernetzte Zirkel im Zuge der Gegenreformen Alexanders III . Die zweite Krise wurde hauptsächlich durch den Misserfolg der Ersten Revolution verursacht. Trotz der Schwere der Krisen überlebten die Moralvorstellungen der Bewegung bis zur Revolution von 1917 und teilweise darüber hinaus. Diese relative Persistenz des moralischen Rahmens hatte mehrere Gründe. Ein offensichtlicher lag in den sich von 1860 bis 1917 nur langsam verändernden politischen Rahmenbedingungen. Die Vorstellungen von einem selbstbestimmten und erfüllten Leben, die innerhalb der Revolutionsbewegung vorherrschten, waren jedoch aufs Engste mit der Theorie und Praxis politischer Partizipation verbunden. Die systematische Bekämpfung jeglicher Forderungen nach politischer Teilhabe durch die Regierung wurde von den Revolutionären nicht nur als eine Form der Unterdrückung des »Volkes«, sondern als Unterdrückung der eigenen Person aufgefasst. So lassen sich die heftigen, gewalttätigen Reaktionen der Revolutionäre schon auf kleinste Missachtungen ihrer persönlichen Würde – wie etwa das Duzen durch einen Poli-

28 In Zeiten, in denen die Bewegung halb zerschlagen und demoralisiert war, hieß es in einem bolschewistischen Agitationstext, waren es die »unermüdlichen Kämpfer, die der alten Fahne treu blieben, die heilig den Funken des revolutionären Enthusiasmus hüteten, die Gebote der Revolution wahrten, wissend, dass aus dem Funken das Feuer entflammen wird«. Zit. n. Bol’ševiki v gody imperialističeskoj vojny 112.

280 Schluss zisten – verstehen. Zwischen dem Streben, jegliche Form der Fremdbestimmung zu überwinden, um selbstgesetzte Ziele verfolgen zu können, und den geringen Partizipationsmöglichkeiten, die der Autokratie abgerungen werden konnten, bestand eine permanente Spannung. Ein teleologisches Geschichtsverständnis in Verbindung mit einem elitären Denken und einer Neubewertung der »IchWir-Balance« zugunsten des »Wir« erlaubte die Gleichsetzung von selbstgesetzten Zielen mit öffentlichen Interessen. Daraus ergab sich ein politisches Potenzial von enormer Sprengkraft. Ein anderer Grund lag in den Sprachkonventionen, die sich seit den späten 1860er Jahren herauskristallisiert hatten. Der Rekurs auf religiöse Semantiken wirkte stabilisierend, indem er eine kritische Evaluation des eigenen Rahmens verhinderte und die Bedeutung der eigenen Arbeit überhöhte. Ohne diese »Melodie der Exaltiertheit«29, wie der Historiker Žuravlëv es nannte, wäre es fraglich, ob die Ideologie des radikalen, reformismusfeindlichen Flügels für die Revolutionäre selbst wie auch für einige Schichten der Bevölkerung so eindringlich und überzeugend geklungen hätte. Kontinuitätslinien über 1917 hinaus Bis 1917 blieben die in den 1860er/1870er Jahren entstandenen Moralvorstellungen für alle Teilnehmer der Revolutionsbewegung bindend. Das Vorhandensein eines verbindlichen und verbindenden Rahmens erklärt, warum der Übergang von einem politischen Lager in ein anderes keine Seltenheit war. Wenn man nach der langfristigen Bedeutung des moralischen Rahmens der Revolutionäre über die Zäsur von 1917 hinweg fragt, so wird man zunächst einmal feststellen müssen, dass mit der Institutionalisierung der Revolution das Problem der Rechtfertigung revolutionärer Gewalt nicht einfach verschwand. Darüber hinaus bestanden auch personelle Kontinuitäten, etwa in Gestalt linker Sozialrevolutionäre, die eine Anstellung in der VČK fanden. Es verwundert deshalb nicht, dass die erstmals von den narodniki kreierten Sprachmuster vereinzelt auch von Tschekisten verwendet wurden. Nur sprachen sie nicht mehr vom »Allerheiligen« des individuellen Terrors, sondern von der »heiligen Sache, der Sache des Kampfes mit der Konterrevolution (svjatoe delo, delo bor’by s kontr-revoljuciej)«. Auch hier fungierte die endzeitliche Aufhebung 29 »Est’ osnovanija dumat’, čto idealy christianstva […] našli, možet byt’ dlja mnogich neožidannoe, otraženie i voploščenie v revoljucionnoj ideologii, s eë veroj v ›carstvo spravedlivosti i truda‹ kak svoeobraznogo analoga (ili antitezy) upovanija na Rus’ Svjatuju. Otsjuda – i vera revoljucionerov v svoë osnovoe prednaznačenie, v messianskij charakter svoej dejatel’nosti. Bez ėtoj melodii ėkzal’tacii chor revoljucionnoj ideologii i praktiki ne zvučal by dlja opredelennoj časti obščestva toj ėpochi tak moščno i vnutrenne ubeditel’no, kak ėto imelo mesto v istoričeskoj real’nosti.« Žuravlëv, Valerij: Ot sostavitelej. In: Ders. (Hg.): Revoljucionnaja mysl’ v Rossii XIX – načala XX veka. Moskau 2013, 5–8, hier 8.

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aller Gewalt als Legitimationsgrund für eine »neue Moral (moral’ novaja)«30. Das »helle Reich der Arbeit, der Freiheit und der Wahrheit« machte jegliche Opfer zu »rettenden Opfern«31. Mit dem gleichen Verweis auf das kommende »Reich der Arbeiterklasse (carstvu rabočego klassa)«, in welches man nicht »in weißen Handschuhen (v  belych perčatkach)«32 wie einst in den Frühtagen der Revolutionsbewegung eintreten könne, verteidigten die Bolschewiken die Verfolgung ihrer ehemaligen Verbündeten im Kampf gegen die Monarchie. In diesem Sinne bestand zwischen dem vor- und dem nachrevolutionären Terror eine »genetische Verwandtschaft«33. Der Einwand, dass sich beide Formen des Terrors diametral unterscheiden würden, da sie mindestens eine unterschiedliche Subjekt-Objekt-Relation aufweisen,34 ist wenig überzeugend. Nicht die kommunikative Funktion, die Institutionalisierung des Terrors als solche oder dessen Begründungslogik standen im Konflikt mit vorrevolutionären Vorstellungen, sondern vielmehr die neue Beliebigkeit, mit der Menschen aus Fleisch und Blut zu »Klassenfeinden« erklärt werden konnten, und die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der dies geschah. Einer der Gründe für diese neue Beliebigkeit bestand darin, dass Klassen und Klasseninteressen im Jahre 1917 eine wesentlich größere Bedeutung bei der Artikulation und Legitimation von Gewalt zukam als jemals zuvor. Schuld an dieser Entwicklung waren alle sozialistischen Parteien, einschließlich der gemäßigten.35 Dort, wo vor 1917 Aufrufe »alle zu vernichten und zu töten, die nur einen europäischen Kittel«36 trugen, eine ausgesprochene Seltenheit blieben, 30 Beide Zitate nach Iz materialov Kievskoj Črezvyčajki. In: Belyj Archiv 2–3 (1928) ­113–116, hier 113. 31 »Žertvy, kotorych my trebuem – žertvy spasitel’nye, žertvy ustilajuščie put’ k svetlomu Carstvy Truda, Svobody i Pravdy.« Zit. n. Ebd. 32 Zit. n. Morozov, Konstantin: Sudebnyj process socialistov-revoljucionerov i tjuremnoe protivostojanie (1922–1926). Ėtika i taktika protivoborstva. Moskau 2005, 470. 33 Budnickij: Terrorizm 358. 34 »Esli čut’ uproščat’, to oppozicionnyj terrorizm – ėto produkt obščestva, a gosudarstvennyj terror – produkt vlasti. Obščestvo i vlast’, oppozicionnyj terrorizm i gos. terror, bezuslovno, tesno vzaimosvjazany v svoem protivostojanii i drug na druga sil’no vlijajut, no ėto po prirode svoej raznye ob’’ekty.« Morozov, Konstantin: Partija socialistov-revoljucionerov kak partija demokratičeskogo socializma. In: Novye profsojuzy i demokratičeskie levye. Istoričeskie korni i idejnye orientiry. Materialy meždunarodnoj naučno-praktičeskoj konferencii. Kiew 2014, 33–42, hier 35. Morozov verkennt jedoch, dass das Umschlagen des individuellen Terrors in den Staatsterror (zu dessen Trägern auch die Linken SR gehört) schon deshalb möglich war, weil die Rechtfertigungsstrategie eine ähnliche gewesen ist: der Schutz der Revolution und damit die Aufhebung jeglicher Gewalt in der Zukunft. 35 Figes: Tragödie eines Volkes 553–554. Figes kommt zum Schluss, dass der Begriff »buržuj« beinahe arbiträr verwendet wurde. Arbeiter konnten Bauern, die ihrer Meinung nach Brot horteten, als »buržui« bezeichnen. Mit dem gleichen Kampfwort bezeichneten Bauern ihre eigenen »Feinde«. »Diese Gesellschaft«, so Figes, »stand mit sich selbst auf Kriegsfuß – auch wenn alle glaubten, sie kämpfen gegen den burschui.« Ebd. 554. 36 Džabadari: Process 50-ti 26.

282 Schluss wurden Kampfparolen gegen eine beliebig definierbare soziale Gruppe beinahe zu etwas Alltäglichem. Die sozialen Trägerschichten der Revolution waren sich darin einig, dass der »Schädel des Kapitals«37 endlich gespalten werden sollte, wie es in einem Aufruf aus dem Jahre 1917 hieß. Doch wer tatsächlich unter die Kategorien »Kapitalist« oder »Bourgeois« fiel, hing stets von den konkreten politischen Umständen ab. Eine beispiellose Radikalisierung erfuhr nicht nur die »Freund-Feind«-Dichotomie, sondern auch die Dichotomie »Privates-Öffentliches«. Dort, wo in vorrevolutionären Diskursen das Spannungsverhältnis zwischen »Familie« und »Revolution« nie vollständig zugunsten der Letzteren aufgehoben wurde, fraßen sich die Revolution und der Bürgerkrieg buchstäblich durch die russländischen Familien. Nun konnte auch die »eigene Schwester«, »falls es die Revolution erforderlich« machte, »auf das Schafott«38 gebracht werden, wie Grigorij Ratner, ein ehemaliger Sozialrevolutionär und späterer Bolschewik, bei dem Prozess gegen die PSR von 1922 unverblümt zu Protokoll gab. Dies waren keine leeren Worte: Ratners Bruder Alexandr wurde 1918 von Rotarmisten erschossen, seine Schwester saß als ZK-Mitglied auf der Anklagebank. Es sind genügend Fälle dokumentiert, in denen bolschewistische Aktivisten die eigenen Familienmitglieder oder sehr nahe Freunde den »Erfordernissen der Revolution« opferten. Der Terrorist und spätere Tschekist Ivan Pavlov nahm beispielsweise an der Hinrichtung eines Jugendfreundes teil. Er scheute zwar davor zurück, ihn eigenhändig zu erschießen, warf aber dann doch den noch röchelnden Freund in den Fluss. In gleicher Weise verfuhr ein Kollege Pavlovs mit einem Jugendfreund, den man aufgrund der Aufdeckung einer Affäre mit einer »Klassenfeindin« zum Tode verurteit hatte.39 Je weiter der Ausbau der bolschewistischen Diktatur voranschritt, je omnipräsenter der Feind in Form von vermeintlichen Spionen, Saboteuren und Verrätern war, desto obsoleter wurde der Konflikt zwischen dem Gut des menschlichen Lebens und dem Glück der Gemeinschaft im Diskurs der Zeit. In dieser Situation büßte das Konzept des Martyriums seine Funktion als Modulator moralischer 37 Kolonitskii: Antibourgeois Propaganda 195. 38 »Zdes’ provodilas’ takaja meščanskaja moral’. Kakoj užas: on, Ratner, vstupil v partiju, ubivšuju ego brata, prišël sjuda i vedët svoju sestru na ėšafot. Kakoj užas? Ėto obyvatel’skaja meščanskaja moral’. Esli trebuet revoljucija, to možno svesti na ėšafot i sobstvennuju sestru. Esli trebuet revoljucija, to semejnye otnošenija ne suščestvujut.« Hier zit. n. Morozov, Konstantin (Hg.): Obščij spisok socialistov i anarchistov – učastnikov soprotivlenija bol’ševistskomu režimu (25 oktjabrja 1917 – konec 30-ch godov), URL : http://socialist.memo.ru/lists/ slovnik/index.htm (am 09.10.17). 39 Bol’ševik, podpol’ščik, boevik 127–128. Jahre später kommentierte er den Mord recht lakonisch: »Segodnja strašno ob ėtom vspominat’ i eščë tjaželee pisat’. No iz pesni slov ne vykineš’. Tak bylo nado«. Ebd. 127. Die Ermordung der Brüder seiner Frau, deren adelige Herkunft in der Familie ein Tabuthema war, erwähnte er, wie Burdenkov schreibt, in seinen Memoiren mit keinem Wort.

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Konflikte ein. Umso wichtiger wurden jedoch religiös imprägnierte Zukunftsvorstellungen für die gesamte frühe sowjetische Gesellschaft. Aus den revolutionären Tugenden der Selbstbeschränkung und der Opferbereitschaft wurden das öffentliche Leben zu einem großen Teil bestimmende Zwangs­verpflichtungen. Für die inhaftierten und zu langjährigen Haft- und Lagerstrafen verurteilten Anarchisten, Menschewiken, Sozialrevolutionäre und später auch für ehemalige Träger des Regimes, die linken SR , die Maximalisten und die Trotzkisten, ging der »Kampf für den Sozialismus« hingegen weiter. Dabei beriefen sie sich auf alte revolutionäre Tugenden, sangen alte Kampflieder und machten von den in vorrevolutionärer Zeit erprobten Widerstandesmethoden wie etwa dem Hungerstreik Gebrauch. Zu Lagerstrafen verurteilte Kommunisten behielten ihren »Glauben« an das »Reich der Gerechtigkeit« und meinten, zwischen einer »ursprünglichen« (guten) leninschen Partei und der »korrupten« Partei Stalins unterscheiden zu können.40 Nicht wenige ehemalige Teilnehmer der Revolutionsbewegung, die sich mit den neuen Verhältnissen arrangiert hatten, nahmen die Entwicklungen im nachrevolutionären Russland insgeheim mit Sorge wahr. Der Priestersohn ­Michail Novorusskij (1861–1925), der zusammen mit Lenins Bruder Aleksandr Ul’janov Mitglied der »terroristischen Fraktion der Partei des Volkswillens« gewesen war und fast zwanzig Jahre in der Schlüsselburg verbracht hatte, spottete Anfang der 1920er Jahre in seiner Autobiographie über den »Dogmatismus des Glaubens« der Bolschewiken, den er mit dem »Dogmatismus des Mittelalters« verglich. Den Grund für die »neue Religion« des Kommunismus, die anstelle des »himmlischen Paradieses« den »Glauben an die Erde« und anstelle des »Jüngsten Gerichts« die »sofortige Niederwerfung der alten Welt«41 gesetzt habe (der Nachklang der Vechi-Debatten ist hier unverkennbar), sah er in der Rückständigkeit des Landes. Der »Kollektivismus« der Revolutionsbewegung, hier verstanden als Kritik an der vermeintlich bourgeoisen Betonung von Eigeninteressen, verklammerte die Identität mit der Gemeinschaft und setzte somit dem Streben nach Autonomie und Authentizität engere Grenzen. So gab es eine ganze Reihe von Beschränkungen, die zwar immer wieder in Zweifel gezogen und offen oder heimlich gebrochen wurden, aber dennoch ihre Gültigkeit behielten: Diese reichten von kommerzieller Tätigkeit bis hin zu offen ausgelebten künstlerischen Ambitionen. Skandalös wurde die künstlerische Tätigkeit beispielsweise dann, wenn sie sich offen in die Richtung L’art pour l’art bewegte oder aber Moralvorstellungen der Revolution in Frage stellte, wie der große Skandal um Savinkovs Romane beweist. Die Restriktionen waren aber zu keiner Zeit so rigide, dass es sinnvoll 40 Adler, Nanci: Keeping Faith with the Party. Communist Believers Return from the Gulag. Bloomington 2012, 19. 41 GA RF f. 1733, o. 2, d. 2, l. 7.

284 Schluss wäre, von einer totalitären Bewegung zu sprechen. Letzteres wäre nur unter der Bedingung einer vollständigen Abschottung möglich. Die Revolutionäre verstanden sich aber bewusst als Teil der russländischen Gesellschaft beziehungsweise als Teil von deren »progressivem Flügel«. Was nun der Stalinismus leistete, war die Schaffung eines für jeden Sowjetbürger verbindlichen moralischen Rahmens. Diese titanische Leistung war einmalig in der neuzeitlichen russländischen Geschichte. Nie zuvor und nie danach waren die Wahlmöglichkeiten so eingeschränkt, die Polarisierung zwischen »wir« (Kommunisten) und »sie« (Kapitalisten) so plakativ und die staatliche und gesellschaftliche Kontrolle so rigide. Sowjetische Identitäten waren nur deshalb unausweichlich, haben dem Individuum nur deshalb »Bedeutung und Zweck«42 gesichert, wie Jochen Hellbeck in einer Analyse eines Egodokuments aus den 1930er Jahren geschrieben hat, weil die neuen enthusiastischen Träger und Nutznießer des sowjetischen Projekts größtenteils einer jungen Generation angehörten, die das Zarenreich nicht mehr erlebt und spätestens ab 1935 keine Referenzmöglichkeiten mehr zur »Außenwelt« hatte. Es mag sein, dass für diese Menschen die Opposition »private Identität« und »öffentliche Normen«43 nicht existierte. Dies traf jedoch nicht auf diejenigen zu, die zum Beispiel aufgrund ihrer familiären Verhältnisse mit anderen Wertvorstellungen vertraut gewesen waren und galt wohl auch nicht für die Kinder ehemaliger Revolutionäre. In ihrem Tagebuch aus den 1930er Jahren brachte Nina Lugovskaja, die Tochter eines Sozialrevolutionärs, ihren Unmut über den Versuch der Schuladministration zum Ausdruck, ihre Schulkameradin über »private und außerschulische Bekanntschaften«44 auszufragen und setzte dieses Vorgehen mit 42 Hellbeck: Fashioning the Stalinist Soul 371. 43 Wörtlich heißt es: »In search of  a positive identity, he invariably orientated himself toward the program of the Soviet state as the source of his individual existence. His selfdefinition as the Bolshevik concept of man, Podlubnyi did not accept the notion of a positive, legitimate private identity divergent from public norms. He envisioned writing as a purgatory from which he would ultimately emerge clean, fully identical with the public values and thereby ridden of any alternative ›selfish‹ sphere. Through confession and self-improvement, he sought to constitute himself as a good Soviet citizen«. Ebd. 44 »Okazyvaetsja zavuč sprosil Musju: ›A net li u tebja podrugi Ljali?‹ i zapisala eë familiju, školy i gruppu. Ėto uže sliškom. Kakoe pravo imejut oni lezt’ v ličnye i vneškol’nye znakomstva? Kakoj užas tvoritsja!« Lugovskaja, Nina: Choču žit’… Iz dnevnika škol’nicy. 1933–1937. Po materialam sledstvennogo dela sem’i Lugovskich. Moskau 2003, 188. Ich sehe keinen Grund von einer Omnipräsenz des »sowjetischen Selbst« auszugehen, so wie es Halfins und Hellbecks Arbeiten vermuten lassen. Der Anspruch der Bolschewiken ihre Weltsicht durchzusetzen, scheint »total« gewesen zu sein, das heißt jedoch nicht, dass der Widerstand der ihnen geleistet wurde unbedeutend war. Hinzu kommt, dass auch unter Stalin Individualisierungsdiskurse bestehen konnten, welche die Innerlichkeit des Menschen und die Einmaligkeit der menschlichen Persönlichkeit betonten. Dazu: Krylova, Anna: Soviet ­Modernity: Stephen Kotkin and the Bolshevik Predicament. In: Contemporary European History 2 (2014) 167–192.

Schluss  285

»donositel’stvo« (in revolutionären Kreisen des Zarenreichs ein Kardinalverstoß gegen geltende Verhaltensnormen) gleich. Auch in anderer Hinsicht musste das »stalinistische Selbst« als eine Karikatur auf vorrevolutionäre Ideale erscheinen: Der Marxismus und das narodničestvo standen in einer romantischen Tradition, die das kreative Potenzial der Arbeit betonte. Marx zufolge wird der Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft nicht nur vom Produkt seiner Arbeit entfremdet, sondern vom Arbeitsprozess selbst, da ihm die Produktionsmittel nicht gehörten und er über den Ablauf des repetitiven und monotonen Arbeitsprozesses nicht entscheiden könne. Unter diesen Bedingungen kann der Mensch nach Marx seinem genuinen Bedürfnis nach dem kreativen Ausdruck seiner Arbeit nicht nachkommen.45 Von der Aufhebung privater Besitzrechte auf das Land, der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der Bildung weitverzweigter Assoziationen erhofften sich sowohl die Marxisten als auch die neonarodniki nicht nur die Schaffung gerechter sozialer Verhältnisse, sondern auch die Schaffung von Bedingungen, in denen sich das Individuum künstlerisch entfalten und entsprechend seinen »inneren« Wünschen und Neigungen, soweit diese nicht mit den »Interessen der Gemeinschaft« in Konflikt gerieten, leben könne.46 Der Stalinismus kehrte den Authentizitätsgedanken, als dessen Träger die Revolutionsbewegung gelten kann, ins Absurde: Menschen, die sich sowjetische Identitäten zu eigen machten, tendierten, wie die Forschung zur »sowjetischen Subjektivität« der 1920er und 1930er Jahre gezeigt hat, dazu, ihre eigenen Wünsche und Interessen als »authentischen« Ausdruck der gemeinschaftlichen Interessen zu betrachten, welche von der Partei als der Trägerin des kollektiven Willens bestimmt worden waren. So konnte beispielsweise der Besuch von Versammlungen, bei denen immer wieder die gleichen schematischen, ideologischen Reden gehalten wurden, als Ausdruck des eigenen Bedürfnisses nach der Einheit mit dem Kollektiv gewertet werden. Diese Entwicklung war im revolutionären Projekt zwar angelegt, wurde aber erst von den Bolschewiken vollends ins Absurde getrieben. Die Revolutionsbewegung hatte von ihrer Entstehung an destruktive und illiberale Tendenzen. Die Entwicklung der Revolutionsbewegung nach 1917 scheint jedoch anzudeuten, dass sich ohne die Oktoberrevolution in Russland früher oder später eine demokratische Linke gebildet hätte,47 zumal »bernsteinia 45 Siehe dazu auch Fraser, Ian: Dialectics of the Self. Transcending Charles Taylor. Exeter 2007, 24 ff. 46 Deshalb bewerteten die überlebenden Exil-SR die Zwangskollektivierung als ein Kapitalverbrechen und betonten immer wieder das »kreative Potenzial (tvorčeskij potencial)« der vermeintlich »wahren« (sprich, nicht bolschewistischen) Kollektivierung. Stalinskij, Evgenij: Stalin i derevnja (po povodu kollektivizacii zemli). In: Volja Rossii 1 (1930), 61–75, hier 71. 47 Siehe dazu auch Luks, Leonid: Zeithistorische Streitfragen. Essays und Repliken. Münster u. a. 2012.

286 Schluss nische« Ideen innerhalb des sozialrevolutionären Lagers bereits vor 1917 verbreitet gewesen waren.48 In die Emigration getrieben, traten die Menschewiken und Sozialrevolutionäre der 1923 auf demokratischen Grundsätzen gegründeten Sozialistischen Arbeiterinternationale (SAI) bei. Im Jahre 1951 begrüßten die überlebenden Menschewiken und Sozialrevolutionäre die in Frankfurt am Main formulierten Grundsätze der Sozialistischen Internationale und verfassten 1952 eine gemeinsame Erklärung, in der es unter anderem hieß: »Nun können keine Zweifel mehr daran bestehen, dass ›Sozialismus‹ ohne Freiheit die schlimmste Form der Knechtschaft und der unmenschlichen Barbarei bedeutet.« Bis zur Erkenntnis, dass es »zwischen Sozialismus und Demokratie«49 keine Wahl geben könne, musste die russische Revolutionsbewegung einen langen und steinigen Weg zurücklegen. Ausblick: Revolution und religiöse Imprägnierung Die vorliegende Untersuchung hat folgende Ergebnisse gebracht: Direkte und indirekte Verweise auf religiöse Texte und Konzepte waren in den Texten russischer Revolutionäre keine Randerscheinung. Sie fanden sowohl in ihren Selbstzeugnissen als auch in ihren publizistischen Texten weite Verbreitung.50 Den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit bildeten vornehmlich religiöse Semantiken als Bestandteile sogenannter starker, der Artikulation der eigenen Identität dienender Wertungen. In diesen Fällen schmückten religiöse Semantiken nicht einfach einen Text literarisch aus. Sie verwiesen vielmehr auf moralische Vorstellungen, die ursprünglich in religiösen Kontexten artikuliert worden waren, und nun das revolutionäre Selbst konstituierten.51 Im Verlauf des revolutionären Kampfes gegen die Autokratie wurden diese Vorstellungen in politische Praktiken übersetzt. 48 Siehe dazu Morozov: Partija socialistov-revoljucionerov 15 f. 49 »Teper’ uže ne možet byt’ somnenija v  tom, čto ›socializm‹ bez svobody označaet chudšij vid rabstva i besčelovečnogo varvarstva. Teper’ uže poterjali smysl vse starye spory o vzaimootnošenii meždu socializmom i demokratiej. Demokratija dlja nas javljaetsja neot’’emlemoj čast’ju samogo socializma, ona vchodit v samoe opredelenie socializma.« Zit. n. Morozov: Partija socialistov-revoljucionerov kak partija demokratičeskogo socializma 37–38. 50 Dabei darf nicht vergessen werden, dass eine solche »semantische Dichte«, wie sie in dieser Arbeit generiert worden ist, in kaum einem von den Revolutionären selbst produzierten Text zu finden sein wird. Dies ist dem Untersuchungsgegenstand geschuldet und soll nicht zur Annahme verleiten, dass die Radikalen tatsächlich immer nur von der »heiligen Sache«, dem »Reich des Sozialismus« und dergleichen geschrieben hätten oder gar ihre Alltagssprache von religiös konnotierten Ausdrücken dominiert gewesen sei. 51 An dieser Stelle soll betont werden, dass ich nur bestimmte, auf religiöse Kontexte verweisende Aspekte der revolutionären Moral untersucht habe. Unberücksichtigt oder nur am Rande besprochen bleiben Themen wie Liebe, Geschlecht, Sexualität, Bildung, Ästhetik oder die Beziehung zwischen Recht und Moral.

Schluss  287

Die Vorstellung, dass nach dem Ende des Kapitalismus ein Zeitalter der »Gerechtigkeit« und der »Wahrheit« hereinbrechen werde, in dem die Menschen, »befreit« von jeglichem Leid und jeglicher Unterdrückung als ganzheitliche, schöpferische, gut in die Gemeinschaft integrierte Wesen Glück erfahren könnten, bildete den utopischen Kern der meisten Sozialismen im Russländischen Reich. Diese Vorstellung konnte in ihrer teleologischen Ausrichtung sicherlich nur in einer vom jüdisch-christlichen Gedankengut geprägten Kultur entstehen. Diese Nähe erklärt, warum russische Revolutionäre das Christentum und den Sozialismus immer wieder miteinander verglichen oder den Sozialismus gar als ihre »progressive«, »szientistische« Religion gedeutet haben.52 Dies konnte in einigen wenigen Fällen sogar bis zum Versuch reichen, eine Art Ersatzreligion auf sozialistischer Basis zu kreieren.53 Die (sicherlich auch durch diskursive Konventionen bedingte)  Selbstverortung innerhalb eines teleologischen Geschichtsprozesses, an dessen Ende die »Erlösung« von jeglichem Leid stand, verlieh dem Individuum ein Verständnis für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebensentwurfes. Doch nicht religiös imprägnierte Vorstellungen als solche, sondern erst ihre Übersetzung in politische Praktiken in einem Kontext von individuellem Streben nach Selbstbestimmung und staatlicher Bevormundung hatte maßgeblichen Einfluss auf die lange Lebensdauer der Revolutionsbewegung und ihrer Mythen und zum Teil auch auf ihr enormes Gewaltpotenzial. Hinzu kam die fatale Gleichsetzung von »öffentlichem Interesse« und selbstgesetzten Zielen, die sich zum Teil aus dem Elitendenken der Revolutionäre ergab und teils aus der Verschiebung der »Ich-WirBalance« zugunsten des »Wir« und der exklusiven Verortung des guten Lebens in der »öffentlichen Sphäre«.

52 »Was ist Religion?« fragte der bekannte Sozialrevolutionär Egor Lazarev in einem von der Forschung bisher nicht ausgewerteten Notizbuch. »Die Beziehung einer sterblichen Persönlichkeit zur Unsterblichkeit, zum Ewigen und Unsterblichen, zu dem großem, allmächtigen, unnahbaren Absolut, das von allen Menschen GOTT genannt wird.« GA RF f. 5824, o. 2, d. 64, l. 61. Diesen »Gott«, den das religiöse Gefühl erzeuge, könne keine Wissenschaft austilgen, denn er werde vom Bewusstsein der Unausweichlichkeit des Todes selbst erzeugt. Sich selbst bezeichnete Lazarev als zutiefst religiös, denn er erkenne die »Gesellschaft der einander Gleichen (obščestvo sebe podobnych)« als seinen Gott an. Der Sozialismus als eine »vollkommene Gesellschaft, die eine möglichst vollkommene Persönlichkeit erzieht«, sei in der Lage den Menschen glücklich zu machen, indem es das »sterbliche Leben« des Individuums mit der »praktischen Unsterblichkeit der menschlichen Gesellschaft« vereine. Ebd. 59, 55, 53. Die Seiten wurden (offensichtlich von den Archivmitarbeitern) falsch durchnummeriert. 53 So soll beispielsweise der alte narodnik Viktor Danilov (1851–1916) nach dem Beginn der Revolution von 1905 seine Familie, die er in der sibirischen Verbannung gegründet hatte, verlassen haben und durch die Petersburger Straßen in einem »originellen Wanderkostüm, einer Mischung aus Mantel und Popensoutane« gezogen sein. Sich selbst soll er dabei als »Jünger Jesu von Nazareth« bezeichnet und eine »neue Religion« auf szientistischer Basis gepredigt haben. Pekarskij, Ė.: Otryvki iz vospominanij. In: Katorga i ssylka 4 (1924) 79–99, hier 97.

288 Schluss Zwischen dem »revolutionären Selbst« und dem »stalinistischen Selbst« bestehen direkte Kontinuitätslinien. Das frühe sowjetische Projekt pervertierte jedoch den Autonomie- und Authentizitätsgedanken, der dem revolutionären Projekt in verkappter Form zugrunde lag. Die Gemeinschaft sollte nicht mehr die Beliebigkeit der Identitätsentwürfe einschränken und das Aufkommen von destruktiven Formen des Individualismus ausschließen. Sie diktierte vielmehr (nicht zuletzt in Abhängigkeit von den Vorlieben des Führers) die moralischen Rahmenbedingungen, in denen sich der sowjetische Mensch zu orientieren hatte. Anders als die jungen Adepten des Regimes und alten Parteibonzen empfanden viele Veteranen der Revolutionsbewegung und ihre Kinder die neue Gesellschaftsordnung als eine Karikatur des vorrevolutionären Ideals. Die Folgen der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges potenzierten die illiberalen Tendenzen des russischen Sozialismus auf eine so radikale Art und Weise, dass das bolschewistische, sich selbst brutal disziplinierende Subjekt als ein distinktives Novum betrachtet werden sollte, das sich relativ weit von seinen Ursprungsquellen entfernt hatte. Eng verbunden mit der Vorstellung von geschichtlicher »Erlösung« war die ebenfalls aus einem religiösen Kontext übernommene Tugend der »Selbstaufopferung«, die in den Idealvorstellungen der Revolutionäre bis zum Tod für die »gemeinsame Sache« reichen sollte. Der Ursprungskontext hatte sowohl Einfluss auf die Art und Weise, wie »Selbstaufopferung« praktiziert wurde, als auch auf die Form ihrer Artikulation. Die Tatsache, dass Sich-Opfern überhaupt erst  – so die in radikalen Zirkeln des 19. Jahrhunderts verbreitete normative Vorstellung  – mit dem vollständigen Bruch mit der (wohlhabenden) Familie begann und im Galgentod ihren emblematischen Ausdruck fand, zeugt von der selektiven Rezeption religiöser Glaubensinhalte. Auch hier spielten religiös konnotierte Ausdrücke, insbesondere solche, mit deren Hilfe Vorstellungen des Sich-Opferns artikuliert wurden, eine große Rolle. Im Laufe der Revolutionsgeschichte zwischen 1866 und 1917 mussten Revolutionäre das Gut des menschlichen Lebens immer wieder gegen das zukünftige Glück der Gemeinschaft abwägen.54 Die Selbst- und Fremdinterpretation als »Märtyrer« half dabei, die elitäre Gruppenidentität zu stabilisieren und fundamentale moralische Dilemmata diskursiv zu verschleiern. Je prekärer die Lebenssituation eines Revolutionärs wurde, desto wichtiger wurde die Selbstverortung innerhalb einer sinnstiftenden Geschichte. Es ist also nicht verwunderlich, dass der mithin expressivste Rückgriff auf religiöse Semantiken in revolutionären Abschiedsbriefen zu finden ist. 54 Bei einer solchen Güterabwägung ging es um ein fundamentales »physisches« Gut, das eine grundsätzliche Voraussetzung für das Erstreben aller anderen Güter darstellt. Die revolutionäre Bewegung hat, trotz zahlreicher Versuche, keine validen Antworten auf dieses Problem gefunden.

Schluss  289

All diese Beobachtungen lassen sich nur schwer unter dem Konzept der »politischen Religion« subsumieren. Dies ist sowohl den weitreichenden Implikationen und definitorischen Problemen des Konzepts geschuldet als auch der Tatsache, dass sich die Art und Weise, wie bestimmte religiöse Vorstellungen das politische Denken und Handeln der Individuen mitgeprägt haben, schwer auf einen Nenner bringen lässt. Um dem Phänomen der religiösen Bezüge im Sozialismus einen Namen zu geben, scheint mir der Begriff der »religiösen Imprägnierung«55 vorteilhafter zu sein. Er hat den Vorzug, dass die Ebene des direkten Vergleichs von Politik und Religion verlassen wird. Dadurch kann der Blick für die Vieldeutigkeit religiös konnotierter sprachlicher Ausdrücke und an religiösen Mustern angelehnter Praktiken freigemacht werden und die Dynamik von religiöser Prägung und bewusster Instrumentalisierung des Religiösen betont werden. Von der Vorstellung ausgehend, dass das eigene Selbst beinahe grenzenlos veränderbar sei, unternahmen die Revolutionäre den Versuch, zu »neuen Menschen« zu werden. In der Praxis bedeutete dies oftmals die Unterordnung der als gesellschaftlich zweckfrei empfundenen Bedürfnisse unter die Erfordernisse des revolutionären Kampfes. Die Orientierung an einem einzigen Hypergut limitierte nicht nur Formen der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, sondern barg besonders in Zeiten des gesellschaftlichen Stillstandes und unter den Bedingungen von Haft- und Verbannungsstrafen die Gefahr einer Sinnund Identitätskrise. Die Evokation der »heiligen Sache« oder des »Reiches der Freiheit« half dabei, über die Unzulänglichkeiten des eigenen moralischen Rahmens hinwegzusehen, indem sie allein durch die Wortwahl bestimmte Vorstellungen vom Guten akzentuierte und moralische Dilemmata ausblendete. Religiöse Semantiken stifteten Sinnhaftigkeit dort, wo revolutionäre Gewalt, instrumentelle Vernunft und neue modernespezifische Unsicherheiten ein Gefühl des Verlustes erzeugten. Sie erfüllten diese Funktion nicht aufgrund einer Rückbindung an religiöse Glaubensvorstellungen, sondern weil sie – rein sprachlich – die »expressivistische« Idee des Schöpferischen im Menschen realisierten. Aufgrund ihrer Dekontextualisierung aus traditionellen religiösen Sinnzusammenhängen und Rekontextualisierung im Politischen erzeugten religiös konnotierte Wortschöpfungen ein Gefühl der welterschütternden Neuartigkeit des sozialistischen Projektes. Durch diese zweifache Funktion – Akzentuierung positiver und Ausblendung negativer Faktoren – bot das sozialistische Projekt seinen Partizipanten Zuversicht in einer sich ständig verändernden, konflikt 55 Für die Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit der russischen Revolutionsbewegung siehe Schulze Wessel, Martin: Religion und Politik. Überlegungen zur modernen Religionsgeschichte Russlands als Teil einer Religionsgeschichte Europas: In: Graf, Wilhelm Friedrich / Kracht, Klaus Große (Hg.): Religion und Gesellschaft: Europa im 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2007, 125–150, hier 142; Ders.: Revolution und religiöser Dissens 75.

290 Schluss reichen Welt. Denn wenn der Verlust metaphysischer Begriffe, die damit zusammenhängende Abschwächung der Vorstellung, dass die Welt ein geordnetes Ganzes sei, und die nachhaltige Erschütterung eines »sicheren Bewusstseins für die Rangordnung von Gütern«56 als Herausforderung der Moderne begriffen werden können,57 so kann man den Gebrauch religiöser Semantiken in ansonsten säkularen Zusammenhängen als eine »expressivistische« Antwort auf diese Herausforderung verstehen.

56 Reese-Schäfer: ›Nach innen geht der geheimnisvolle Weg‹ 631. 57 Gantschow, Alexander: Das herausgeforderte Selbst. Zur Lebensführung in der Moderne. Würzburg 2011, 237.

8. Dank ‫ֿפַאר יוסף און ריווע‬ Mein Dank gilt den Antragstellerinnen und Antragsstellern, Kollegiaten und Kollegiatinnen sowie den Post-Docs und den Koordinatorinnen des DFG -geförderten Internationalen Graduiertenkolleg Religiose Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Besonders möchte ich meinem Doktorvater Martin Schulze Wessel, sowie Xaver Bischof, Laura Hölzlwimmer, Kateryna Kudin, Simon Hadler, Franziska Davies, Carmen Reichert, Johannes Gleixner und Klaus Buchenau für ihre Unterstützung, Anregungen, Kritik und Korrekturvorschläge danken. Mein Dank gilt außerdem Victoria Frede aus Berkeley, Jürgen Zarusky, Verena Brunel und Tino Jacobs aus München, Boris Belenkin und Alexander Gelvikh aus Moskau, Il’ja Kalinin aus Sankt Petersburg und Stephan Rindlisbacher aus Bern. Ohne die Unterstützung und das Verständnis meiner Familie hätte ich dieses Projekt nicht abschließen können. Es sei dem Andenken meiner ermordeten Urgroßeltern gewidmet.

Abkürzungen EK Exekutivkomitee GA RF Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii (Staatsarchiv der Russländischen

Föderation) Narodnaja volja (Wille des Volkes) Partija socialistov-revoljucionerov (Partei der Sozialrevolutionäre) Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii (Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte) RSDRP Rossijskaja social-demokratičeskaja rabočaja partija (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands) SD Sozialdemokraten SR Sozialrevolutionäre ZK Zentralkomitee VČK Vserossijskaja črezvyčajnaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej i sabotažem (Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage) NV PSR RGASPI

Quellen- und Literaturverzeichnis Archivquellen Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii, GA RF (Moskau) Fond 63: Otdelenie po ochrane obščestvennoj bezopasnosti i porjadka v Moskve (ochrannoe otdelenie) pri Moskovskom gradonačal’nike Fond 94: Verchovnaja rasporjaditel’naja komissija po ochraneniju gosudarstvennogo porjadka i obščestvennogo spokojstvija Fond 102: Deportament policii Ministerstva vnutrennich del Fond 109: Tret’e otdelenie Sobstvennoj Ego Imperatorskogo Veličestva kanceljarii Fond 124: Ugolovnye otdelenija Pervogo departamenta Ministerstva justicii Fond 1167: Kollekcija veščestvennych dokazatel’stv, iz’’jatych žandarmskimi učreždenijami pri obyskach Fond 1721: Teplov Aleksej L’vovič Fond 1733: Novorusskij Michail Vasil’evič Fond 1741: Kollekcija nelegal’nych izdanij (listovok i brošjur), otloživšichsja v policejskich i sudebnych organach dorevoljucionnoj Rossii Fond 1775: Kulikovskij Pëtr Aleksandrovič Fond 5824: Lazarev Egor Egorovič Fond 5831: Savinkov Boris Viktorovič Fond 6243: Goc Michail Rafailovič Fond 6225: Debogorij-Mokrievič Vladimir Karpovič Fond 8305: Alekseev Nikolaj Aleksandrovič

Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii, RGASPI (Moskau) Fond 17: Materialy Vserossijskoj perepisi členov RKP(b) 1922 g. i svedenija o vstupivšich v RKP(b) i vybyvšych iz partii v 1922–1924 gg. Fond 33: Biblioteka RSDRP imeni G. A. Kuklina v Ženeve (1902–1917) Fond 76: Dzeržinskij Feliks Ėdmundovič Fond 328: Burcev Vladimir L’vovič Fond 559: Adoratskij Vladimir Viktorovič

The Hoover Institution Archives. The Boris I. Nicolaevsky Collection (Stanford) Series No. 19: Potresov Aleksandr Nikolaevich Series No. 59: Komitet pomoshchi politicheskim katorzhanam Series No. 95: Burtsev Vladimir L’vovich Series No. 277: Partiia Sotsialistov-Revoliutsionerov (II), 1889–1936. Records of the PSR and its predecessors

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Vorträge und Diskussionen ›Besy‹ F. M. Dostoevskogo. Opyt istoričeskoj kritiki. Vorlesung, gehalten von Konstantin Morozov im März 2013, URL : http://volistob.ru/post/lekciya-konstantina-morozova-besyfm-dostoevskogo-opyt-istoricheskoy-kritiki-prochitannaya-v (am 09.07.16). Johnson, Eric: Going to the People. Problems of Revolutionary Identity in the Mid-1870s. Vortrag auf dem Workshop: Cultural Orders. An Interdisciplinary Workshop for the Study of Literary Discourse, Historical Identity, Art, Religious Culture, Linguistic Systems, and Collective Memory in Russia, the Soviet Union, and post-Soviet Eastern Europe in Berkeley (am 22.04.2016). Kruglyj stol ›Boris Savinkov v istoričeskom i v sovremennom obščestvenno-političeskom diskursach‹, URL : http://www.youtube.com/watch?v=g0JrE2tezOg (am 28.03.17).

Namensregister Abramov, Jakov  199 Adoratskij, Vladimir  209–210 Alexander II . (Zar von Russland)  60, 73, 77, 151, 153–155, 157, 160, 162, 171, 175, 179 Alexander III . (Zar von Russland)  157–159, 170, 172, 175, 197, 201, 215, 279 Alisov, Pëtr  162 Amandola, Giovanni  11 Anučin, Dmitrij  186–187 Aptekman, Osip  133, 144, 147 Argunov, Andrej  237 Armfel’d, Natalija  195–196 Arsen’ev, Il’ja  89 Ašenbrenner, Michail  68, 178, 267 Augustinus von Hippo  39 Avksent’ev, Nikolaj  205 Avvakum (Protopope)  125 Axelrod, Pavel  202 Azef, Jevno  213, 226, 249, 273 Babeuf, François Noël  91 Babuškin, Ivan  222 Bakunin, Michail  11, 82, 87, 97, 110, 265 Balamez, Andrej  141 Balmašev, Stepan  213, 216–220, 257 Barannikov, Aleksandr  107 Barmby, John Goodwyn  277 Basilius von Caesarea  102 Batjuškova, Varvara  195–196 Bebel, August  204 Belinskij, Vissarion  11 Benevskaja, Marija  240 Berdjaev, Nikolaj  11–12, 26 Berdo, Jan  82, 242 Bernstein, Eduard  13 Bicenko, Anastasija  240 Blanc, Louis  79 Blanqui, Louis-Auguste  92 Blinov, Nikolaj  109 Bobarykova, Julija  89, 92 Bogdanov, Aleksandr  273 Bogdanov, Stepan  144 Bogdanovič, Nikolaj  225–226

Bogolepov, Nikolaj  216 Bogoljubov, Archio (Emel’janov, Aleksej)  105, 116 Bogučarskij (Jakovlev), Vasilij   55, 186 Bonč-Bruevič, Vladimir  24, 90 Brandtner, Ljudvig  130, 269 Breško-Breškovskaja, Ekaterina  80, 89, 118, 216, 227 Broch, Hermann  9 Bry, Carl Christian  9 Buch, Nikolaj  78, 91, 126 Buchez, Philippe   266 Büchner, Ludwig  124 Bucinskij, Dmitrij  103, 124 Bucinskij, Dmitrij  136, 144 Bulgakov, Sergej  12 Buonarroti, Filippo Michele  91 Burcev, Vladimir  54–55, 159 Cabet, Étienne  266 Camus, Albert  247 Čechov, Anton  198 Černavskij, Michail  115 Černov, Viktor  236–237 Černyščevskij, Nikolaj  12, 18, 25, 63–64, 66–67, 69–70, 75, 79, 91, 105, 144, 263–265, 278 Chalturin, Stepan  179, 198 Considerant, Victor  65 Čuchnin, Grigorij  249 Cvilenev, Nikolaj  196 Dan (Gurvič), Fëdor  224, 254–255 Danilevskij, Nikolaj  71 Danilov, Viktor  287 Debogorij-Mokrievič, Vladimir  78, 111, 129, 138, 140 Degaev, Sergej  158, 161, 178 Dejč, Lev  112, 114, 138–139, 141, 149, 203, 268 Descartes, René  39 Dilthey, Wilhelm  51 Dobroljubov, Nikolaj  12, 24, 25, 67, 79, 105

316 Namensregister Dostoevskij, Fëdor  84 Drejer, Pëtr  173–174 Dulebov, Egor  225 Džabadari, Ivan  109, 208 Dzierżyńska (verh. Bułhak), Aldona  210–213, 256 Dzierżyński, Feliks  210–212, 255–256

Ivanov, Ignatij  141 Ivanov, Il’ja  247 Ivanov, Ivan  82–84, 141 Ivanova-Borejšo, Sofija  115 Ivanovskaja, Praskov’ja  158, 198 Ivanovskij, Vasilij  62 Ivašev, Vasilij  79

Efremov, Vasilij  136–137 Egorov, Nikolaj  234, 238 Elizaveta Fëdorovna (Großfürstin)  235 Engels, Friedrich  265

Jakubovič, Pëtr  186 Janovič, Ljudvig  81, 82 Jasneva-Golubeva, Marija  93 Johannes Chrysostomos  102 Jurkovskij, Fëdor  141

Feochari, Stepan  121 Feoktistov, Evgenij  71 Feuerbach, Ludwig  206, 208 Figner, Vera  28, 60, 106, 109, 113, 158, 158, 167, 186, 234, 272 Fourier, Charles  69 Frank, Semën  12 Frolenko, Michail  135 Frumkina, Fruma  243 Galilei, Galileo  134, 135 Garfield, James  184 Gausman, Al‹bert  188–189, 193 Gel’fman, Gesja  159 Gerškovič, Chaim  230–231 Geršuni, Grigorij  213, 216–218, 226 Glebko, Timofej  252–253 Gobet, Aron  141 Goc, Michail  67, 68, 99, 108, 151, 171, 204, 278 Gol’denberg, Grigorij  161, 184 Gol’denberg, Lazar’  84 Golovina, Nadežda  125 Gorinovič, Nikolaj  138, 141 Gračevskij, Michail  185 Hartman, Lev  105 Hegel, G. W. F.  10, 59, 208 Herzen, Aleksandr   11, 18, 54, 60, 62, 65, 72, 78–79, 91, 94, 125, 183, 263–264 Heyking, Gustav von  129, 138 Hryniewiecki, Ignacy  154, 155 Illič-Svityč (Svityč), Vladislav-Ignatij  119, 120 Ilovajskij, Dmitrij  175 Išutin, Nikolaj  73, 75–76, 94 Ivanov, Boris  257

Kablic, Iosif  199 Kačura, Foma  225 Kaljaev, Ivan  213, 227–230, 232–235, 238, 241, 247, 257 Kamenev, Lev  202 Kaminskaja, Berta  108, 109 Karakozov, Dmitrij  69, 74, 76, 86–87, 91, 94, 160, 264 Karpinskij, Vjačeslav  258 Karpovič, Pëtr  216, 219, 239–240 Katkov, Michail  152 Kautsky, Karl  206 Kel’siev, Vasilij  74 Kennan, George  194 Kerenskij, Aleksandr  90, 205 Kibal’čič, Nikolaj  118, 159, 183 Kletočnikov, Nikolaj  148, 153, 173–174 Kogan-Berntštejn, Lev  188, 191–192 Kogan-Berntštejn, Matvej  192 Kolenkina, Marija  115, 127 Komarnickij, Nikolaj  252–253 Komisarov, Osip  78 Konaševič, Vasilij  185 Konstantin Nikolaevič (Großfürst)  76 Kornilov, Lavr  261 Kornilova-Moroz, Aleksandra  124 Kotljarovskij, Michail  129 Koval’skij, Ivan  118–121, 127–128, 145, 159, 163, 195, 271 Kovalik, Sergej  74, 163 Kraft, Pavel  216 Kravčinskij, Sergej  100, 120, 123, 128–129, 130, 136, 181, 194, 219, 266, 270 Kristi, Nadežda  261 Kropotkin, Pëtr  167, 244–245 Kukarcev, Andrej  252 Kulikovskij, Pëtr  117

Namensregister  317 Kuznecov, Aleksej  84 Kuznecov, Aleksej  89 Kvjatkovskij, Aleksandr (der Ältere)  147, 148, 152, 154, 156, 164, 165–168 Kvjatkovskij, Aleksandr (der Jüngere)  166 Langhans, Martyn  167 Lassalle, Ferdinand  79, 105, 144, 204 Lavrov, Pëtr  14, 43, 98, 105, 144, 181–183, 195, 236, 265, 266 Lazarev, Egor  287 Lefrançais, Gustave  207 Lenin (Ul’janov), Vladimir  11, 13, 90, 202, 206–207, 221–222, 273–274, 283 Lešern fon Gercfel’dt, Sof’ja  129–130, 269 Liebknecht, Wilhelm  204 Lizogub, Dmitrij  131–132, 135, 149, 268 Logovenko, Ivan  132 Lokerman, Aleksandr  248 Lopatin, German  84, 158 Lugovskaja, Nina  284–285 Lukaševič, Aleksandr  100, 104, 107 Lunačarskij, Anatolij  11, 163 Majnov, Ivan  106 Malinka, Viktor  139 Mandelstam, Michail  228 Markov, Boris  226 Martov (Cederbaum), Julij  202, 220, 261, 275 Marx, Karl  10, 42, 64, 87–88, 105, 201, 275, 278, 285 Maskaev, Ivan  253 Mel’nikov, Michail  218 Mezencev, Nikolaj  120, 194, 270 Michajlov, Adrian  103, Michajlov, Aleksandr  147–148, 162–164, 174, 177–178, 188, 234, 237 Michajlov, Timofej  159, 176, 178, 232 Michajlovskij, Nikolaj  14, 59, 84, 119, 142, 198 Michelet, Jules  79 Mill, John Stuart  144, 278 Minakov, Egor  185 Misch, Georg  51 Mjačin, Konstantin  246 Morejnis (verh. Morejnis-Muratova), Fani  142, 197–198, 208 Morozov, Nikolaj  106, 123, 131, 148, 151, 184, 191 Murav’ëv, Nikolaj  172

Muravskij, Mitrofan  118–119, 163, 234 Musil, Robert  9 Myškin, Ippolit  140, 163, 185, 196 Napoleon I. (Kaiser der Franzosen)  59 Natanson, Mark  84–85 Nečaev, Sergej  73, 82, 86, 88, 94, 97, 107, 110, 122, 139, 141, 149, 229, 264 Neustroev, Konstantin  185, 186–188 Nietzsche, Friedrich Wilhelm  233 Nikitenko, Aleksandr  140 Nikolaus II . (Zar von Russland)  172, 209, 212, 215, 227 Novickij, Vasilij  130 Novorusskij, Michail  283 Obodovskaja, Aleksandra  104 Obolenskij, Ivan  225 Ogarëv, Nikolaj  65, 72, 82 Okladskij, Ivan  153, 161 Ol’chin, Aleksandr  121 Orlov, Vladimir  62, 88 Orsini, Felice  80, 91 Ošanina, Marija (geb. Olovennikova)  158 Osinskij, Valerian  128–131, 135, 137–138, 147, 149, 153, 162, 198, 268–269 Ostaškin, Pavel  188 Owen, Robert  93, 277 Paulus (Apostel)  75, 237 Pavlov, Ivan  246–247, 282 Pavlov, Vladimir  234 Perovskaja, Sof’ja  153, 156, 159- 160, 167, 170, 222 Pestel’, Pavel  9 Pirogov, Nikolaj  171 Pisarev, Dmitrij  67, 91, 105, 123–124, 265 Platon 39 Plechanov, Georgij  13, 147, 149, 201–202, 219–220 Pleve, Vjačeslav  167, 212, 214, 220, 226, 231 Pobedonoscev, Konstantin  197 Pochitonov, Nikolaj  185 Podoksënov, Pëtr  246 Pokotilov, Aleksej  109 Polivanov, Pëtr  109 Polovcov, Valerian  88 Popov, Michail  107–108, 147, 196, Potresov, Aleksandr  171, 202, 207, 224 Presnjakov, Andrej  152, 154, 156, 179, 180, 198

318 Namensregister Pribylëva-Korba, Anna  162, 167, 174, 184 Prokof’eva, Marija  213 Proudhon, Pierre-Joseph  79 Pryžov, Ivan  89 Puškin, Aleksandr  91, 219 Ratner, Aleksandr  282 Ratner, Evgenija  282 Ratner, Grigorij  282 Ricardo, David  278 Rips, Michail  55 Rizberg, Zinaida  250–251 Romanenko, Gerasim  179, 184 Rousseau, Jean-Jacques  66 Rudinkin, Andrej  226 Rudnev, Vadim  205 Ryleev, Kondratij  126 Rysakov, Nikolaj  154, 159, 161, 176, 178 Saint-Simon, Henri   42, 79 Šaraškin, Nikolaj  117 Šaraškin, Nikolaj  180 Savinkov, Boris  56, 213–214, 227, 234, 240, 242, 247, 272, 283 Ščedrin, Nikolaj  185 Schelling, F. W. J.  59 Schiller, Friedrich  63, 67 Sečenov, Ivan  108 Šelgunov, Nikolaj  14, 92 Serebrjakov, Ėsper  148, 149, 161 Sergej Aleksandrovič (Großfürst)  172, 214, 216, 227, 231, 247 Serno-Solov’evič, Aleksandr  79, 86, 92–94 Serno-Solov’evič, Nikolaj  92 Sevast’janov, Michail  253 Sigida, Nadežda  116 Sipjagin, Dmitrij  216, 220, 225 Šmidt, Pëtr  250–251 Smirnov, Jakov  180 Sologub, Fëdor  199 Solov’ëv, Aleksandr  103, 147, 195 Solženicyn, Aleksandr  268 Sozonov, Egor  212–214, 226–227, 239, 241, 257 Spasowicz, Włodzimierz  87 Spielhagen, Friedrich  105, 144 Spiridonova, Marija  28, 230 Spiridovič, Aleksandr  218

Stalin (Džugašvili), Iosif  202, 224, 250, 283–284 Stefanovič, Jakov  139, 149 Steklov, Jurij  222 Stepnjak (siehe Kravčinskij)  Strel’nikov, Vasilij  158, 197 Sudejkin, Georgij  121, 158, 161, 185 Svetlickij, Konstantin  188 Sviridenko (Antonov), Vladimir  130, 269 Tagancev, Nikolaj  243 Tavleev, Vasilij  139 Teplov, Aleksej  97, 115 Tichomirov, Lev  138, 158, 177–179, 181 Tkačëv, Pëtr  90 Tolstoj, Lev  236 Trepov, Dmitrij  226 Trepov, Fëdor  115–118, 120–121, 155–156 Trockij (Bronštejn), Lev  203 Trubnikova, Marija  79 Ul’janov, Aleksandr  159, 283 Ul’janov, Vladimir I. (siehe Lenin) Uspenskij, Pëtr  89, 92, 94, 139, 141 Utin, Nikolaj  79 Velio, Ivan  167 Višnjak, Mark  205 Volchovskij, Feliks  84 Voltaire (Arouet)  10 Waryński, Ludwik  155 Weber, Max  40 Weitling, Wilhelm  266 Werfel, Franz  9 Wittenberg, Solomon  132–135, 142, 144, 149, 161, 163, 186, 268 Zaičnevskij, Pëtr  70, 71, 86, 92, 94 Žarkov, Aleksandr  148, 180 Zasulič, Vera  28, 85, 117, 119, 126–127, 149, 202–203, 216 Zavališin, Fëdor  157, 175 Želechovskij, Vladislav  115, 127 Željabov, Andrej  148, 153, 155, 159–161, 163, 167, 172, 178, 184, 222, 232 Želvakov, Nikolaj  197 Zotov, Nikolaj  188–189, 191–192, 194